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Full text of "Zeitschrift für Kinderforschung 18.1913"

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THE UNIVERSITY 


OF ILLINOIS 


LIBRARY 


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LIBRARY 
OF THE 
UNIVERSITY OF ILLINOIS 


Zeitschrift für Kinderforschung 


mit besonderer Berücksichtigung 
der pädagogischen Pathologie 


Im Verein mit 


Dr. G. Anton Dr. E. Martinak Chr. Ufer Karl Wilker 


Geh. Med.-Ratu. Prof. 0.ö. Prof. d. Philosophie Rektor d. Süd-Mädchen- Dr. phil. 
an der Univ. Halle u. Pädag. a. d. Univ. Graz Mittelschulei. Elberfeld in Jena i. Thür. 


herausgegeben von 


J. Trüper 


Direktor des Erziehungsheims und Jugendsanatoriums auf der Sophienhöhe bei Jena 


Achtzehnter Jahrgang 





Langensalza 


Hermann Beyer & Söhne 
(Beyer & Mann) 
Herzogl. Sächs. Hofbuchhändler - 
1913 


jl 





Alle Rechte vorbehalten. 


377,08 


KI 
v,18 


Inhalt. 


A. Abhandlungen: 


Braunshausen und Ensch, Psychologische Profile . . . 2 2.2... 

Egenberger, Psychische Fehlleistungen . . . . . 122. 193. 241. 295. 

Freye, Herbarts Pflegesohn P 

Lehm. Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen und schwer- 
schwachsinnigen Kindern . . ea 13. 61. 

Lobsien, Die experimentelle Ermüdungsforschung 132. 201.248. 305. en» 

Mönkemöller, Die Psychopathologie der Pubertätszeit . ’ 

Petersen, Schulreform . . $ x 

Reuschert, Charles Michel de l'Épée . OR 

Soennecken, Ist für Schulneulinge im allgemeinen und für Hilfsschüler im 
besonderen Fraktur oder Antiqua zunächst geeignet? . 

Tschudi, Pubertät und Schule . . 

Weigl, Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode 374. 455. 

Ziehen, Ärztliche Wünsche zur ES OR EETAS der k 


psychopathischen Konstitutionen . . .. 4l. 


B. Mitteilangen: 


Was uns allen dringend nötig ist!. . 
Beobachtungen an schwachbefähigten ` Kindern bei der Behandlung der 
26. 


Nibelungensage . a , 
Zum Problem des Sprachverständnisses TE . 30. 
Zeitgeschichtliches . . |. 33. 89. 160. 223. 278. 325. 413. 
Die XIV. Konferenz des Vereins für Erziehung, Unterricht und Pegh 
Geistesschwacher 


Über die Grundlagen des modernen Taubstummenunterrichtes . 

Die Rachensprache der Kehlkopflosen nah Amen 

Beitrag zur geistigen Entwicklung eines dreijährigen Knaben 2 ame ALS 

Bildungsgang eines taubblinden Mädchens . 7 ET ae 

Tuberkulose und Schule . . 

Ein Schülerbericht aus Trüpers Erziehungsheim auf der Sophienhöhe bei Jena 259. 

Bemerkungen zu den engen Majorscher Schriften in dieser Zeitschrift, 
Jg. XVII, Heft 9 u. 12. . 

Aufruf betreffend Sammlung von Fragebogen, Führungslisten, Individualitäts- 
bogen u. dergl., die in Schulen verwandt werden . ; 

Selbstbekenntnis eines NE Dee Set kan en we TR D 

Züchtigung fremder Kinder . ; en a eg 

Die Selbstmorde Jugendlicher . . 

Erster ungarischer Landeskongreß für Kinderforschung i in Budapest . 

Bitte betreffend städtische Heilkurse für Stotterer . : te 

Lokale Hilfsverbände zur Lösung des Schwachsinnigenproblems. 

Kurse in der Kinderfürsorge ; 

Psychologische Profile Ds Rossolimo . A e ta 

Drei Originalbriefe eines ehemaligen jugendlichen Gefangenen ana 469. 

Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers »Grundzüge der erzieheri- 
schen Behandlung sittlich en und ae: Mädchen in An- 
stalten und Familiene. . . Br EEE Ale 


IV Inhalt, 





Der erste heilpädagogische Seminarkursus in Essen zur KEN von Hilfs- 
schullehrern und -leitern 


C. Zeitschriftenschau: . . . . 36. 91. 164. 226. 279. 328. 417. 


D. Literatur: 


Abb, Pädagogische Psychologie 

Archiv für Pädagogik 

Arendt, Kleine weiße Sklaven. 

Arendt, Kinderhändler $ . 

Bayer, "Über Vererbung und Rassenhygiene WERE 

Braunshausen, Die experimentelle Gedächnisforschung 

Cellörier et Dugas, L’Annee Pédagogique . . 

Deutsche Anstalten für Schwachsinnige, Epileptische und psychopathische 
Jugendliche : = 

Deutsche Heil- und Pflegeanstalten für Psychischkranke in Wort und Bild 

Die Irrenpflege in Österreich in Wort und Bild. . . . . R 

Eingegangene Literatur . el a a ne ABT 193: 

Enzyklopädisches Handbuch der Heilpädagogik. Ye Kunde 

Fuchs, Hilfsschulfragen . 

G rünbaum, Der Kindergarten, seine soziale und pädagogische Bedeutung 

Handbuch für Jugendpflege . 5 ; 

Hastreiter, Was jeder junge Mann zur rechten Zeit erfahren sollte P 

Hoppe, Die Tatsachen über den Alkohol . are 

Horrix, Die Ausbildung des Hilfsschullehrers 

Internationaler Guttemplertag . ; 

Jugendpflege im Guttemplerorden 1913... . $ 

Kalender für heilpädagogische Schulen und Anstalten > 

König, Der Alkohol in der Schule 

Kraemer, Experimentelle Untersuchungen zur Erkenntnis des Lernprozesses 

Krukenberg, Jugenderziehung und Volkswohlfahrt : 

Lay, Psychologie nebst Logik und Erkenntnistheorie 

Leonhard, Die Prostitution, ihre hygionisdho, sanat; sittenpolizeilicho und 
gesetzliche Bekämpfung . . EN rt 

Major, Psychasthenie im Kindesalter ; 

Müller, Zur Analyse der Gedächnistätigkeit und des Vorstellungsverlaufes 

Neter, Das einzige Kind und der N, 

Neumann- Neurode, Kindersport . 

‚ Nögrädy, Kind und Spiel . 

Rühle, Das proletarische Kind . 7 

Schoenebe rger, Psychologie und Pädagogik des Gedächtnisses A 

Schweighofer, Alkohol und Nachkommenschaft . . . . g 

Sellmann, Der Kinematograph als Volkserzieher?. . . . 

Seyfert, Die Unterrichtslektion als didaktische Kunstform . 

Siefert, Psychiatrische Untersuchungen über ei 

Stritter, Seelsorge unter geistig Abnormen . 

Theuermeister, Unser Körperhaus 

Wentscher, Der Wille. . . 3 

Wilker, Alkohol und Jugendpflege TE 

Wilker, Alkoholismus, Schwachsinn und Vererbung ; in ihrer Bedeutung für 
die Schule. . . s 

Zerwer, Säuglingspflegefibel 3 A 

Ziehen, Die Erkennung der psychopathischen Konstitutionen . . 

Ziehen, Erkenntnistheorie auf BAM, kernel und physikalischer 
Grundlage . 





Zur Jugendnot in den gebildeten Volksschichten. 
(Ein offener Brief.) 


Sophienhöhe bei Jena, im August 1912. 


Sehr geehrter Herr! 


Wiederholt bin ich gebeten worden, in meinem Erziehungsheim 
ethisch gefährdete Jünglinge aus gebildeten Kreisen im Alter von 16 
bis zu 25 Jahren aufzunehmen, und, da ich ihre Aufnahme leider 
grundsätzlich ablehnen muß, doch Vorschläge zu machen, wo sie am 
besten unterzubringen seien. Ich stehe aber im allgemeinen auch 
ratlos da. 

Dabei habe ich die Beobachtung gemacht, daß die größte Anzahl 
dieser jungen Leute jenseits des Pubertätsalters durch die Trinkunsitten 
und alle ihre Folgeerscheinungen zugrunde geht oder doch zugrunde 
zu gehen in Gefahr ist. So schrieb mir in diesen Tagen wieder ein 
Vater von seinem einzigen hochbegabten Sohne: »Er studierte gar 
nicht, trieb oberflächliche Romanlektüre, trank und gab die Keusch- 
heit auf.«e Und das bekomme ich nicht nur in diesem einen Brief 
zu lesen. Genau so oder ganz ähnlich klagen mir jahraus jahrein 
viele Eltern. 

Es ist aber ungemein schwer, für derartige moralisch verkommene 
oder doch aufs höchste gefährdete junge Leute gerade der oberen 
Schichten unseres Volkes ein geeignetes Unterkommen zu finden, das 
ihnen für das zunächst aufzugebende Lebensziel einen festen Rück- 
halt, einen neuen Lebensinhalt und innere wie äußere Gesundung 
gewährleistet. 

Um nun einen ungefähren Überblick zu gewinnen, wie groß die 
Zahl der oft als »verkrachte Existenzen« bezeichneten ehemaligen 

Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 1 


2 Zur Jugendnot in den gebildeten Volksschichten. 





Gymnasiasten, Seminaristen, Akademiker usw. ist, wollen wir den Ver- 
such machen, eine Statistik zu gewinnen, indem wir an alle Herbergen 
und an alle in Betracht kommenden Anstalten usw. die freundliche 
Bitte richten, uns anzugeben, wie viele derartige Leute bei ihnen 
untergebracht sind oder bei ihnen passieren. Gerade in Norddeutsch- 
land soll die Zahl ganz beträchtlich sein. Unter den Ernte- Aushilfs- 
arbeitern, unter den Gelegenheitsarbeitern bei Kanalbauten und ähn- 
lichen Einrichtungen trifft man sie bekanntlich in großer Zahl. 

Daß eine derartige Statistik nicht unbedingt zuverlässig sein kann, 
ist gewiß, denn sie wird bei weitem hinter der Wirklichkeit zurück- 
bleiben. Aber ebenso gewiß ist, daß durch sie die Grundlagen ge- 
liefert werden können, die erforderlich sind zur Erkenntnis von der 
Notwendigkeit, heilerzieherische Einrichtungen für solche Fälle zu 
schaffen, die uns aber auch die Augen öffnen werden dafür, daß die 
Jugendpflege nicht vor den Toren der höheren Schulen, Seminare und 
Universitäten halt machen darf. 

An dieser Arbeit mitzuhelfen möchte ich auch Sie, sehr geehrter 
Herr, durch dieses Schreiben höflichst bitten. Jede Mitteilung, die 
zur Aufhellung des großen Elends dienen kann, ist uns willkommen, 
sei es statistisches Material oder seien es Berichte von Einzelfällen 
oder auch über bereits vorhandene Fürsorgeeinrichtungen. Viele 
sorgenvolle Eltern werden es Ihnen danken! Die Ergebnisse werden 
wir in unserer »Zeitschrift für Kinderforschung« veröffentlichen. 


In vorzüglicher Hochachtung 
J. Trüper, Herausgeber der Ztschr. f. Kdf. 





rar 


en 508 





A. Abhandlungen. 


1. Die Psychopathologie der Pubertätszeit. 


Vortrag, gehalten auf dem Allgemeinen deutschen Fürsorgeerziehungstag in Dresden 
am 25. Juni 1912. 


Von 


Oberarzt Dr. Mönkemöller, Hildesheim. 


Von den natürlichen Umwälzungen, die der Mensch auf körper- 
lichem und geistigem Gebiete durchmachen muß, ragt in die Fürsorge- 
erziehung die Pubertät gebietend hinein. Ist sie doch schon äußerlich 
bedeutsam als Markstein, der ihre erste Phase, die Schullaufbahn 
der Zöglinge, von der zweiten scheidet, die sie praktisch dem Leben 
gewinnen soll. Sie gibt den letzten Schuljahren ihr eigentümliches 
Gepräge und erschwert oft die Vollendung des Lehrwerkes. Sie steht 
auf ihrem Höhepunkte, wenn es gilt, gerade die schwierigeren Objekte 
der Fürsorgeerziehung aus dem Schutze der Anstalt loszulösen. 

In der Pubertät spielt sich zunächst die Entwicklung zur Ge- 
schlechtsreife ab. Die kindlichen Organe machen die Umwandlung 
in die Erwachsener durch und die Geschlechtsorgane erlangen ihre 
Funktionsfähigkeit, während sich die Stoffwechselvorgänge ändern. 

Gleichzeitig vollzieht sich aber auch die Entwicklung des 
Gehirns in einem rascheren Tempo als bisher und seine 
feineren Elemente bilden sich weiter aus. Jetzt erlangt der Mensch 
die Fähigkeit, auf Grund selbständiger Überlegung zu handeln. Er 
geht zum abstrakten Denken über und beginnt eigene Urteile zu bilden. 
An Stelle des kindlichen Egoismus treten altruistische Gefühle. 

In dieser Zeit wird die geistige Individualität des Menschen ge- 
boren. Die Einflüsse der Vererbung beginnen sich in erhöhtem Maße 
fühlbar zu machen. Das Wirken der persönlichen Neigungen, der 


Anlagen, der Lebensauffassung drückt dem Geiste sein Gepräge auf. 
1* 


4 A. Abhandlungen. 








Die Einheitlichkeit, die alle Kinder in gewissem Maße umfaßt, wird 
aufgelockert. An ihre Stelle tritt der erwachsene Mensch in seiner 
ganzen Eigenart. 

Diese Periode beginnt ungefähr mit dem 13. Jahre und dauert 
bis zum 16. Zu beachten ist dabei, daß die sexuelle Pubertät 
durchaus nicht mit der geistigen zusammen zu fallen braucht. 
Ebenso sind die zeitlichen Verhältnisse dem Wechsel unterworfen. 
Sie sind an körperliche, klimatische, nationale Faktoren gebunden. 
Von größter Bedeutung ist es, daß gerade bei psychisch nicht ganz 
einwandfreien Persönlichkeiten, wie sie so leicht in die Fürsorge- 
erziehung verschlagen ' werden, Unregelmäßigkeiten im zeitlichen Ab- 
laufe der Pubertät keine Seltenheit sind. 

Daß solch ein gewaltiger Umwandlungsprozeß nur zu leicht unter 
störenden Begleiterscheinungen von statten gehen kann, liegt in der 
Natur der Sache begründet. Es kann um so leichter dazu kommen, 
als gelegentlich manche ungünstigen Faktoren die Wucht dieser be- 
deutungsvollen Entwicklung vergrößern. Dazu gehört ein abnorm 
rasches Wachstum, Entwicklungshemmungen des Schädels, körperliche 
Leiden, vor allem schwere Infektionskrankheiten, allgemeine Ernährungs- 
störungen und eine fehlerhafte Zusammensetzung der Blutmischung. 
Unbestimmte geschlechtliche Gefühle schaffen den Nährboden für 
onanistische Exzesse. 

Äußere Schädlichkeiten verstärken das Gewicht dieser un- 
günstigen Beeinflussung. Gerade in dieser Übergangsperiode beginnt 
das Kind aus dem Schutze des Elternhauses herauszutreten. Ihm wird 
eine größere Selbständigkeit verliehen. Versuchungen und Kämpfe 
treten an eine Persönlichkeit heran, die ihnen oft nicht gewachsen ist. 
Die Anforderungen an die Arbeitskraft werden wesentlich gesteigert. 
Der Kampf ums Dasein schlägt seine ersten Wellen. Drohend be- 
ginnt für das männliche Geschlecht der Alkohol seine unheilvolle 
Tätigkeit. Das Weib findet dafür im Fortpflanzungsgeschäft eine 
reichlich fließende Quelle der Schädigung. 

Spielt sich bei unseren Zöglingen diese Entwicklung in einer Zeit 
ab, in der sie noch nicht in den Hafen der Fürsorgeerziehung ein- 
gelaufen sind, so häuft sich nur zu oft die Macht der schädlichen Ein- 
flüsse. Das unregelmäßige Leben zu Hause, die schlechte Ernährung, 
die oft mit Unterernährung gleichbedeutend ist, die mangelnde Er- 
ziehung, das ungebundene Leben, die vorzeitige geschlechtliche Be- 
tätigung, der Verfall in die Kriminalität mit seinen Aufregungen — 
alles das sind Faktoren, die einem normalen Ablaufe dieses Entwick- 
lungsprozesses hindernd im Wege stehen. 


Mönkemöller: Die Psychopathologie der Pubertätszeit. 5 





So bergen die Umwälzungen während der Entwicklungszeit die 
wesentlichsten Entstehungsbedingungen für geistige Erkrankungen in 
sich. Sie haben ein um so leichteres Spiel als dieser Revolutions- 
prozeß oft schon normalerweise unter Erscheinungen verläuft, die 
in einem anderen Zusammenhange und in anderer Gruppierung als 
Krankheitserscheinungen gedeutet werden müßten. 

Ich brauche Ihnen nicht das oft skizzierte und allbekannte Bild 
vor Augen zu führen, das der Herr der Schöpfung in den Flegel- 
jahren, das das Weib in den Backfischjahren darbietet. Gewaltig er- 
schüttern die innerlichen Umgestaltungsprozesse die Psyche des 
werdenden Erwachsenen, ohne daß er sich klar ist darüber, was die 
neuen Organgefühle, Vorstellungen, Triebe bedeuten sollen. Noch 
fühlt er sich der neuen Rolle, die er spielen soll, nicht gewachsen, 
oder er sucht schon die Stellung einzunehmen, zu deren Behauptung 
ihm die Mittel erst noch verliehen werden sollen. So stellt sich bald 
eine gesteigerte Reizbarkeit ein, die mit störrischem Wesen einhergeht. 
Gern beherrscht eine zerflossene, weichliche Stimmung das Feld. Un- 
begründetes Weinen paart sich mit dumpfem Vorsichhinbrüten. Oder 
es kommt zu zornmütiger Erregung, die in unpassenden Momenten 
und in zweckloser Kraftvergeudung ihre Entladung sucht. Dann 
wieder gewinnt eine gehobene Stimmung und ein frisches und fröh- 
liches Draufgängertum die Oberhand. Überschwenglichkeit paart sich 
mit geziertem Wesen. Dazu gesellen sich noch vereinzelte Krankheits- 
symptome, die dafür sprechen, daß das gesamte psychische Leben: er- 
schüttert ist: religiöse Schwärmerei, Zerstreutheit, schreckhaftes Auf- 
fahren aus dem Schlafe, versunkenes Hindämmern und kurze Be- 
wußtseinsverluste. 

Alles das läuft in der Regel ab, ohne sich in Taten umzusetzen, 
die der Mitwelt eine nähere Beschäftigung mit diesen Lebensäußerungen 
des in vulkanischer Tätigkeit begriffenen Organismus nahelegten. Nur 
zuweilen macht sich die lebhafte Tätigkeit der Einbildungskraft, die 
Abhängigkeit von der schwankenden Stimmung, die geschlechtliche 
Erregbarkeit in unvermittelten Handlungen Luft, wie dieser Alters- 
periode überhaupt eine lebhafte Impulsivität des Auftretens und 
das Handeln aus dem Augenblicke heraus anhaftet. 

So verkörpert diese Zeit, in der die Eigenschaften des Kindes 
mit denen des Erwachsenen in buntem Wechsel und ohne organische 
Verbindung nebeneinander hausen, einen außerordentlich labilen 
Zustand, in dem die krankhaften Züge oft das Feld zu beherrschen 
scheinen. Wenn diese nun auch in der Regel nach Ablauf dieser 
Zeit wieder vom Schauplatze abtreten, bleibt dieser Übergang doch 


6 A. Abhandlungen. 





darum so bedeutsam, weil er nicht selten bisher verborgen ge- 
bliebene pathologische Anlagen zum Leben erstehen läßt. 
Ihm ist auch die Macht verliehen, bestehende Krankheitszustände 
schärfer auszuprägen oder eine deutliche Verschlechterung auszulösen. 

Und darin liegt seine Bedeutung für die Fürsorgeerziehung, die 
einer solchen Menge von Persönlichkeiten gerecht werden muß, die 
nach Vererbung und Veranlagung schlechter gestellt sind als ihre 
Altersgenossen. Denn das Vorhandensein solcher unfertigen Krank- 
heitszüge beweist ja immer, daß eine gewisse Anwartschaft auf 
eine geistige Krankheit besteht. Ob es dazu wirklich kommen soll, 
wird durch die verschiedensten Umstände bedingt, in erster Linie 
durch das Maß der erblichen Belastung und die sonstigen ursächlichen 
Faktoren, die im geistigen Leben des Einzelnen schlummern. Die Un- 
zulänglichkeit der persönlichen Anlage wird durch den Ansturm der 
Pubertät an das Tageslicht gezogen. Die geistigen Schwächlinge, die 
im Kampfe um das Dasein später im Hintertreffen zu stehen be- 
stimmt sind, schreiben sich jetzt selbst das Zeugnis ihrer Minder- 
wertigkeit durch die eigentümliche Richtung, die sie ihrem Lebens- 
wege geben und durch die mangelnde Widerstandsfähigkeit und geringe 
Kraft, mit der sie sich in den neuen Verhältnissen zurechtfinden. 
Und wenn diese Minderwertigkeit bisher nur verschwommen blieb 
und sich nicht in eine bestimmte Diagnose einkleiden ließ, 
deutet dieser Entwicklungsabschnitt der allgemeinen krankhaften Ver- 
anlagung den Weg, den die Weiterentwicklung der Krankheit zu 
nehmen hat. 

So bleibt die Pubertätsentwicklung immer ein gewichtiger Prüf- 
stein der geistigen Leistungsfähigkeit. Es ist kein Wunder, 
daß in dieser Periode der Prozentsatz der geistigen Erkrankungen 
rasch und bedeutend steigt. Das weibliche Geschlecht wird um so 
empfindlicher betroffen, als die erbliche Anlage bei ihm mehr ihre 
Opfer fordert als beim Manne. Zudem sind die körperlichen Um- 
gestaltungsprozesse tiefgehender als bei jenem. Die mannigfachen 
Faktoren des Geschlechtslebens greifen tiefer in das geistige Leben ein. 
Nur zu oft wird ihr Gewicht durch schwere Ernährungsstörungen — 
Blutarmut und Bleichsucht — verstärkt. 

Im allgemeinen haben die akuten Störungen psychischer Art in 
dieser Zeit noch günstige Heilungsaussichten. Leider setzt jetzt aber 
auch die Krankheit ein, die an Zahl und Bedeutung alle anderen in 
den Schatten stellt: das Jugendirresein, die Dementia praecox. 
Im allgemeinen nimmt man an, daß ihr ein innerlicher Vergiftungs- 
prozeß zugrunde liegt. Da ihre Wurzeln zum überwiegenden Teile 


Mönkemöller: Die Psychopathologie der Pubertätszeit. 7 








in die Pubertät hineinragen, liegt die Annahme sehr nahe, daß sie 
mit den Umwälzungen im Stoffwechsel, die sich in dieser Zeit ab- 
spielen, in irgend einem Zusammenhange steht. Daß beide auf einem 
ähnlichen Boden erwachsen sein müssen, läßt sich auch daraus schließen, 
daß wir in manchen Formen des Jugendirreseins viele Züge wieder- 
finden, die auch den gesunden Entwicklungsjahren eigen sind, nur 
daß sie hier ins maßlose vergröbert sind und gern eine groteske Ge- 
staltung annehmen. j 

Auch hier werden die schwierigsten Probleme ebenso mühelos 
wie unzureichend gelöst. Auch hier ist das Urteil im Nu fertig. 
Auch hier ist man mit den Schlüssen schnell bei der Hand, wenn sie 
sich auch meist als Kurz- und Trugschlüsse erweisen. Abgerissen 
und sprunghaft geht die Gedankenbildung von statten. Eine be- 
ständige, leichte Erregung macht sich in albernem Lachen, in einer 
affektierten Sprechweise, in läppischen Scherzen Luft. Der angehende 
Jüngling sucht durch rauhes Auftreten seine Männlichkeit zu erweisen. 
Er bricht die Witze vom Zaun, berauscht sich an tönenden Redens- 
arten und bringt dieselben Schlagwörter bei jeder Gelegenheit an. 

Außerdem kündigen hier aber schon sehr bald intellektuelle 
Störungen das fortschreitende Zerstörungswerk an, das diese tückische 
Krankheit im Gefolge hat und das mit der vorzeitigen Verblödung 
oder doch mit einer deutlichen Einbuße der gesamten geistigen Fähig- 
keiten endet. Oder es kommt zu einer Verfälschung des ganzen Ge- 
dankeninhalts und zu unbestimmten Verfolgungs- und Größenideen. 

Es kann nicht meine Aufgabe sein, auf die verschiedenen Ge- 
staltungsformen dieses proteusartigen und krausen Krankheitsbildes 
einzugehen. Ist es in seine ausgeprägteren Stadien eingetreten, dann 
entgeht auch dem Laien nicht, daß es sich um eine schwere Geistes- 
krankheit handelt. 

Man muß sich nur bei jeder psychischen Veränderung, die in 
die Zeit der Geschlechtsreifung fällt, bewußt bleiben, daß sie in den 
Bereich dieses folgenschweren Verblödungsprozesses geraten kann. 

Praktisch wichtiger für die Schullaufbahn und erst recht im 
Reiche der Fürsorgeerziehung sind die schleichend und unauffällig 
verlaufenden Formen dieser Krankheit. 

Die Kinder werden still und in sich gekehrt. Energielos brüten 
sie vor sich hin und schließen sich von ihren Mitschülern ab. Dabei 
werden sie widerstrebend in ihrem ganzen Wesen. In dumpfer Ver- 
bissenheit fügen sie sich nur schwer der Autorität. Ihr ganzes 
Verhalten, ihre Sprechweise nehmen etwas läppisches an. Der Fleiß 
läßt nach, die Aufmerksamkeit wird abgestumpft, das Gedächtnis 


8 A. Abhandlungen. 








schwindet zusehends, die Pflichttreue den Aufgaben gegenüber sinkt 
auf das bescheidenste Maß. In der Schule sitzen sie in schlaffer 
Haltung da, ganz in ihre Träume versunken, oder kichern ohne jeden 
Grund vor sich hin und treiben Allotria. Lassen die Leistungen 
immer mehr nach, so entziehen sie sich den drückenden Anforde- 
rungen, indem sie einfach die Schule schwänzen und sich planlos 
herumtreiben. Mit der Wahrheit nehmen sie es immer weniger genau. 
Ungeniert betteln sie fremde Leute an. Ohne alle Gewissensbisse ver- 
greifen sie sich am fremden Eigentum und vernaschen das unredlich 
erworbene Gut. Immer größer wird die Gemütsstumpfheit, die Inter- 
essen schrumpfen ein, Mitgefühl, Lebensfreude, Strebsamkeit — alles 
geht im Strudel der Krankheit unter, wenn nicht robustere Krank- 
heitserscheinungen die Herrschaft an sich reißen. 

Nur zu oft wird dieser unerklärliche Stillstand in der Ent- 
wicklung übersehen oder doch falsch gedeutet. Auf den höheren 
Schulen sucht man diesen Ausfall durch erhöhte Arbeit zu decken 
und durch die Presse und andere Hilfsmittel wett zu machen. Anstatt 
das Ziel zu erreichen, treibt man diese Opfer der Pubertät in die 
ausgesprochene Psychose hinein. 

Oder man macht für diesen Nachlaß in den Leistungen die 
Schule verantwortlich, während man bei genauem Zusehen erkennen 
muß, daß es sich um schlecht veranlagte Persönlichkeiten handelt. 
Bei ihnen stellen die gesteigerten Anforderungen nur ein wenig be- 
deutungsvolles ursächliches Moment dar, während es in Wirklichkeit 
die Pubertät ist, die bei einer so morschen Grundlage in ihrem 
geistigen Zerstörungswerke nur zu leichtes Spiel hat. 

Bei einem verhältnismäßig recht großen Prozentsatze der Fälle 
von Jugendirresein sehen wir nämlich, daß schon lange vor seinem 
Ausbruche gewisse Eigentümlichkeiten bestanden: zurückhaltendes 
Wesen, Widerspenstigkeit, Zerfahrenheit und Gespreiztheit. Man kann 
kaum die Annahme zurückweisen, daß man in diesen auffälligen 
Symptomen, die sich nicht selten bis in die früheste Kindheit zurück- 
führen lassen, schon die ersten Alarmzeichen der Krankheit zu sehen 
hat. So lassen sich sogar manche Krankheitssymptome der Idiotie, 
das Grimassieren, das Speicheln, das dauernde Beibehalten derselben 
Haltung ohne großen Zwang dahin deuten, daß sie eine Frühform der 
Dementia praecox darstellen. 

Wie die Pubertät hier den längst begonnenen Vernichtungsprozeß 
von neuem zu entzünden vermag, so bringt sie auch die verhältnis- 
mäßig seltenen psychischen Abweichungen des Kindesalters zur 
stärkeren Ausprägung. Erst jetzt verleiht sie ihnen eine solche Schärfe 


Mönkemöller: Die Psychopathologie der Pubertätszeit. 9 





der Symptome, daß die krankhafte Veranlagung für ihren Träger 
drückend und für die Allgemeinheit störend wird. Die Psychosen 
treten in ihr Mannesalter. 

Das gilt in erster Linie von der angeborenen geistigen 
Schwäche, der Imbezillität, von ihr, die unter den psychopathi- 
schen Elementen der Fürsorgeerziehung das erste Wort hat und in 
ihren verschiedenen Abstufungen und Schattierungen sich am meisten 
dem Zwecke der Erziehung störend in den Weg stellt. 

Das Symptom, das ihr den Namen verleiht und besonders von 
Laien in praktischer Beziehung meist in den Vordergrund gestellt 
wird, die Intelligenzschwäche, prägt sich oft erst in den Ent- 
wicklungsjahren deutlich aus oder kommt doch dann der Umgebung 
mehr zum Bewußtsein. Das liegt wohl in erster Linie daran, daß 
diese geistigen Invaliden nun höheren Anforderungen gegenübergestellt 
werden, und daß eine Erweiterung ihres Wirkungskreises selbständiges 
Denken und eigenes Schaffen von ihnen verlangt. Wenn sie nun in 
ihrer Unzulänglichkeit versagen, erweitert sich die Kluft, die sie von 
ihren gesunden Kameraden trennt, die in harmonischer Entwicklung 
rascher zum Ziele eilen. Manchmal erlahmt jetzt auch die kümmer- 
liche Schaffenskraft, die sie noch durch die Schullaufbahn durch- 
geschleppt hatte. Es kommt zu einem förmlichen Stillstand der 
geistigen Entwicklung. Oder es läßt sich sogar ein deutliches Zu- 
rücksinken von dem schon erreichten Niveau feststellen. Dieser 
Rückbildungsprozeß unterscheidet sich in nichts vom Jugendirre- 
sein. Zu diesen Formen von Dementia praecox, die sich auf die 
Imbezillität aufpfropfen, gesellen sich noch gelegentlich die wunder- 
lichen Formen der Willenssperrung, das widerstrebende Wesen und 
die merkwürdigen Gewohnheiten in Haltung und Bewegung. Dann 
geht es mit der erziehlichen Beeinflußbarkeit reißend zu Tal. Es 
bleiben die traurigen geistigen Ruinen übrig, an denen sich Behand- 
lung und Erziehung vergebens abmühen. 

Von größter Wichtigkeit für die ganze Stellung der Mitwelt gegen- 
über, für die Brauchbarkeit zu einem Berufe, für den Verfall in die 
Kriminalität ist eine andere Beeinflussung der Imbezillität, die in der 
Pubertät wurzelt. In den Kinderjahren ist, von manchen Ausnahmen 
abgesehen, der Durchschnittsimbezille leidlich lenkbar. Er fügt sich 
sogar oft williger den Einflüssen der Erziehung als normale Kinder, 
wie er sich eben jedem geistigen Übergewichte beugt. Er ist meist 
zufrieden, wenn man ihn in Ruhe läßt. Anders, wenn die Unruhe 
der Pubertät über ihn kommt, der er in seiner Unzulänglichkeit noch 
ratloser und widerstandsloser gegenübersteht wie seine gesunden 


10 A. Abhandlungen. 








Altersgenossen. In ihm ringen die Impulse dann noch mehr nach 
Betätigung. Sein schwacher Geist vermag ihrer noch weniger Herr 
zu werden. Mit Ethik und Moral, die ihn unterstützen sollten, ist es 
sowieso bei ihm schlecht genug bestellt. Dafür hat sich sein Körper 
um so kräftiger entwickelt und verleiht ihm die Muskelkräfte, um 
seinen Drang in Taten umzusetzen. Da ihm wegen seines engen 
geistigen Horizontes höhere Ziele verschlossen sind und er sich nur 
zu oft geärgert und verspottet sieht, überläßt er sich ohne Hemmung 
jedem Triebe und jeder Begierde. Die Initiative wächst. An Stelle 
des passiven Schwachsinnigen tritt der aktive Imbezille, dessen 
Schaffenslust der Mitwelt wenig Freude macht. Dann erfolgt nur zu 
leicht der Ausschlag ins Kriminelle. Der asoziale Imbezille, der 
in der zweiten Phase der Fürsorgeerziehung so gefürchtet ist, dem 
sich das Stigma der Unerziehbarkeit immer mehr aufprägt, tritt erst 
jetzt sein Debut an. 

Daß die Pubertät an dieser Ausgestaltung der kriminellen 
Persönlichkeit den Löwenanteil hat, geht auch daraus hervor, daß 
sich manche Schwachsinnszustände, die sich in dieser Periode ent- 
wickeln, zuerst lediglich durch kriminelle Ausschläge kund 
geben. Das ist insofern bedeutsam, als man bei einer solchen krimi- 
nellen Umgestaltung von Kindern, die sich bis dahin einwandsfrei ge- 
führt haben, nie den Verdacht außer acht lassen darf, daß es sich um 
die ersten Vorboten der Dementia praecox handelt. 

Um so mächtiger muß der Einfluß der Pubertät auf Persönlichkeiten 
sein, die sich schon in ihren Kinderjahren die Anwartschaft auf die 
Verbrecherlaufbahn sichern. Das sind die Kinder mit der allgemeinen 
ethischen Verödung, mit der schweren Ausprägung der moralischen 
Defekte, mit dem eiskalten Egoismus, für die man seinerzeit den Begriff 
der Moral insanity prägte. Besteht eine solche krankhafte Grundlage 
mit besonderer Hervorkehrung der asozialen Seite, so muß man in der 
Geschlechtsentwicklung besonders die Augen offenhalten, weil sich 
jetzt diese asozialen Triebe in rücksichtslosester Weise entfalten. 

Die gleiche Umwandlung droht auch den psychopathischen 
Konstitutionen, oder wie sonst die schönen Namen lauten, mit 
denen man die unbeliebten und der Erziehung abholden Elemente 
schmückte, die der Fürsorgeerziehung neben der Imbezillität das Herz 
am meisten schwer machen. 

Das trifft alle die Zwittergeschöpfe, die sich auf der Grenze 
zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit behaupten, obgleich sie 
bei genauerer Betrachtung der geistigen Krankheit mit Leib und 
Seele verschrieben sind. Meist sind sie die Schmerzenskinder der 


Mönkemöller: Die Psychopathologie der Pubertätszeit. 11 








Fürsorgeerziehung, weil ihre Intelligenz zufriedenstellt und sich ihre 
nahe Verwandtschaft mit der Geisteskrankheit dem Laien nie wider- 
spruchslos erschließt. So wagt man nicht, ihnen die Entschuldigung 
des Vollblutimbezillen zu geben. 

Das gilt für alle die Kinder, die sich durch die große Ungleich- 
mäßigkeit in der Entwicklung ihrer geistigen Funktionen kennzeichnen. 
Die Vielgestaltigkeit der Symptome, die für sie das charakteristische 
ist, ohne sie einer bestimmten Krankheitsgattung zuzuweisen, nehmen 
sie auch in die Pubertät mit hinüber. Es bleiben auch die Haupt- 
züge ihres abnormen Verhaltens. Bald leben sie gleichgültig dahin, 
bald schweben sie über den Wolken, bald schleichen sie trübe durch 
ihr Kinderleben. Entweder lassen sie sich nur von ihren Trieben 
leiten und sprunghaft verläuft ihr ganzes Dasein, oder sie entbehren 
des inneren Haltes und fallen willenlos der Verführung zum Opfer. 
Dann wieder leiden sie an einem Übermaß von Phantasie oder bleiben 
der Spielball ihrer zügellosen Affekte. 3 

Alle die krampfhaften Charaktereigenschaften, die in normalen 
Zügen des Geisteslebens ihr Paradigma haben, sind beim Kinde in 
Andeutungen oft vorhanden, ohne daß man ihnen immer eine tiefere, 
pathologische Bedeutung beilegen dürfte. Das ändert sich mit der 
Pubertät. 

Alle die Züge prägen sich jetzt, wenn die Tendenz zur patho- 
logischen Entwicklung zum Durchbruche gelangt, so stark aus, daß 
das ganze normale Geistesleben überwuchert wird. Während solche 
Kinder vorher meist unter der Masse leidlich unauffällig untertauchten, 
setzen sie sich jetzt leicht in scharfen Gegensatz zu ihren Alters- 
genossen. Die widerspruchsvolle Charakteranlage wird dermaßen er- 
schüttert, daß das geistige Gleichgewicht von nun an dauernd labil 
bleibt. Der ganze klinische Verlauf dieser pathologischen Zustände 
artet in widerspruchsvolles Wesen und größte Zerfahrenheit aus. 

Zu bemerken ist noch, daß die phantastische Lügensucht 
gerade in den Entwicklungsjahren auch bei Kindern aufkeimt, bei 
denen sich diese Veranlagung bis dahin noch nicht ausgeprägt hatte. 
Diese Neigung, die sich gerne auf sexuellem Gebiete ergeht, ver- 
schwindet nach einiger Zeit wieder ganz vom Schauplatze. 

Einen einschneidenden Abschnitt macht die Pubertät auch in der 
Epilepsie. Nicht selten setzt sie erst in der Zeit der beginnenden 
Geschlechtsreife ein. Meist läßt sich leicht erkennen, daß die neuro- 
pathische Veranlagung schon längst vorhanden war. Man sieht bei 
genauerer Nachforschung, daß sie sich durch kleine Anfälle, durch 
Schwindelsymptome oder periodisch auftretende Kopfschmerzen kund- 


12 A. Abhandlungen. 





gegeben hatte. Besonders hoch in Rechnung zu setzen sind als solche 
Vorläufersymptome motivlose, kurzdauernde Verstimmungszustände 
oder Wutanfälle. 

Hier tun neben den sonstigen Einflüssen der Pubertät die geistige 
Überanstrengung, Schädelverletzungen und psychische Schädigungen 
ihren Dienst als Gelegenheitsursachen, um das Krampfleiden ins Leben 
zu rufen. Nicht selten findet man, daß in den ersten Kinderjahren 
schon Anfälle aufgetreten waren, wenn diese auch wahrscheinlich mit 
den echten epileptischen Krämpfen nicht auf eine Stufe gestellt 
werden dürfen. Das beweist wieder die gewaltige Kraft der Pubertät, 
die diese anscheinend längst erloschene Neigung zu solchen Ent- 
ladungen wieder zum Auflodern zu bringen vermag. 

Das Weib hat in dieser Zeit, was diese Ausgestaltung des epi- 
leptischen Krankheitsbildes anbetrifft, stark das Übergewicht. Der 
höchste Punkt der Erkrankungsziffer liegt hier im 16. Lebensjahre. 
Die Pubertätsentwicklung wirkt bei ihm weit verhängnisvoller als 
beim männlichen Geschlechte, in erster Linie wohl infolge der tief- 
gehenden Erschütterungen, ohne die der Menstruationsprozeß sich 
selten anzubahnen pflegt. Das zeitigt bei der Epilepsie eine in prak- 
tischer Beziehung wichtige Form, die als menstrualer Typus bezeichnet 
wird. Man findet ihn am meisten bei jungen Mädchen, bei denen 
das erste Auftreten der Menstruation mit dem Hereinbrechen der 
epileptischen Anfälle zeitlich zusammenfiel: dann stellen sich diese oft 
längere Zeit gleichzeitig mit dem Eintritte der Periode ein. 

Für unsere besonderen Verhältnisse wieder muß daran erinnert 
werden, daß der epileptischen Entartung in diesem Zeitabschnitte 
eine verhängnisvolle Strandungsklippe droht. Fast ausnahmslos stellt 
sich ja bei dieser unheilvollen Krankheit mit der Zeit eine allgemeine 
geistige Verödung ein. Daran beteiligen sich in erster Linie auch das 
Ethos, die Moral. Ein grenzenloser Egoismus macht sich breit und 
eine verdrossene Reizbarkeit wetteifert mit der Sucht zu einer gewalt- 
tätigen Handlungsweise. Während in den Kinderjahren diese all- 
mähliche Schädigung noch nicht so sehr auffällt und den Hoffnungen 
der Eltern auf eine Weiterentwicklung noch immer Nahrung läßt, 
macht ihnen die Pubertät meist einen Strich durch die Rechnung. 
Der geistige Zusammenbruch geht jetzt in beschleunigtem Tempo vor 
sich. Er vollzieht sich in gleicher Weise in der liebevollen Pflege 
des Elternhauses wie in der konsequenten Erziehung der Anstalt oder 
in den kümmerlichen Verhältnissen des Proletariats. Wie schon 
bei normal verlaufender Entwicklung in der Pubertät gelegentlich 
eine Neigung zum Mystizismus auffällt, greift bei den Epileptikern 


Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 13 





jetzt manchmal eine dumpfe und ungesunde Frömmelei Platz. In 
merkwürdigem Gegensatze dazu steht gerade in diesen Jahren oft 
ein unverträgliches Wesen und eine verbissene Verdrossenheit, um so 
mehr, als den Epileptikern jetzt zum Bewußtsein kommt, wie ihnen 
die Krankheit den Weg in das Leben versperrt. 

So ist es kein Wunder, daß sie, die mit der Kriminalität durch 
die verschiedensten Äußerungsformen ihrer Krankheit in den engsten 
Beziehungen stehen, dieses Wechselverhältnis gerade in diesen Jahren 
mit frischen Kräften antreten. Die wachsende Körperkraft verleiht 
den außerordentlich rohen Handlungen, die so oft eine Entladungsform 
dieser Krankheit darstellen, die nötige Unterlage. (Schluß folgt.) 


2. Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwach- 
sinnigen und schwerschwachsinnigen Kindern. 
Von 
Kurt Lehm, Dresden. 

(Mit 4 Abbildangen.) 

Von den Arbeitsergebnissen der Hilfsschulkinder auf ihre geistige 
Eigenart zurückzuschließen, ist ein Weg, der, soweit mir die ein- 
schlägige Literatur bekannt ist, noch nicht oft begangen wurde. Und 
doch kann er für die gesamte Hilfsschulmethodik, für die Hilfsschul- 
erziehung von hohem Werte sein. Ja, ich bin sogar der Meinung, 
daß auch die Hilfsschullehrpläne den Ergebnissen solcher Forschungen 
manchen Gewinn entnehmen könnten zugunsten der Hilfsschulkinder. 

Freilich hat es mit Arbeitsergebnissen der Hilfsschulkinder und 
daraus abzuleitenden Schlüssen seine Bedenken. Arbeitsergebnisse 
sind abhängig von der Gunst der Stunde, von dem jeweiligen geistigen 
und körperlichen Zustande des Kindes, und sie können, wofern sich 
irgendwelche Abweichungen von der Norm einstellen, sehr beein- 
trächtigt werden, so daß der Rückschluß dadurch auch fraglich wird. 

Will man aber die Forderung einwandfreier körperlicher, seelischer, 
geistiger Ruhe bei Hilfsschulkindern zum Zweck der Erforschung ihrer 
Arbeitsergebnisse immer aufrecht erhalten, dann dürfte man — es ist 
das auch bei normalen Kindern so — eine Prüfung nie vornehmen 
können. Doch läßt sich dieser gefährliche Prüfungsfaktor ausschalten, 
um einigermaßen gesicherte Resultate zu erfahren, indem man Tages- 
oder Wochenleistungen notiert und auf diese Weise einen Überblick 
über den Arbeitsgang der Klasse bekommt, oder daß man nach Er- 
ledigung methodischer Einheiten die Ergebnisse zusammenstellt. Mög- 
lich ist dieses Verfahren aber nur, wenn die Klassen nicht überfüllt 


14 A. Abhandlungen. 





sind, da die Prüfung der ganzen Klasse auf denselben Gegenstand hin 
unter Umständen Langeweile auslöst, hinwiederum aber sind solche 
Einzelrepetitionen auch ganz unerläßlich; die Schwachen unter den 
Schwachen haben von einer Chorrepetition nicht viel oder gar keinen 
Vorteil, sie wollen und müssen einzeln vorgenommen sein. Für jedes 
Fach wird sich natürlich ein besonderes Prüfungsverfahren ergeben. 
Daß ich die Prüfungen nicht unter den Wertmesser stelle, wie es in 
der Normalschule mit ihren periodisch wiederkehrenden Prüfungen 
der Fall ist, möchte ich, um Mißverständnissen vorzubeugen, nicht 
unerwähnt lassen; immerhin aber sind die laufenden Aufzeichnungen 
ein nicht zu unterschätzendes Hilfsmittel bei Erteilung der Zensuren, 
da sie nicht nur über den Stand der Leistungen orientieren, sondern 
auch das Arbeitsvermögen, die Kraft des Kindes kennzeichnen, 
auf besondere Merkmale aufmerksam machen. 

Auf eine andere Schwierigkeit solcher Sammlungen sei noch hin- 
gewiesen, sie liegt in dem Wort Sammlung inbegriffen: eine Samm- 
lung erfordert Zeitaufwand. Und will man gründlich gehen, so 
möchten sich die Beobachtungen auf Jahre erstrecken und es müßten 
für einen gewissen Zeitabschnitt dieselben Kinder zur Verfügung 
stehen, man müßte für weitere Betrachtungen über denselben Gegen- 
stand dann wieder eine andere Kindergruppe haben usf. Es müßte 
bei vorzunehmenden Vergleichen sich dann herausstellen, ob die an- 
fänglich gemachten Beobachtungen sich wieder einstellen, so daß man 
dann mit einigem Recht Verallgemeinerungen ableiten könnte. 

Ich habe mir nun vorgenommen, in diesen Zeilen über Lernweisen 
und Lernzeiten bei Hilfsschulkindern zu schreiben. Ich tue es auf 
Grund von Aufzeichnungen die zum Teil bis 1908 zurückdatieren und 
sich auf Sprechen, Lesen, Schreiben erstrecken. Ich lege die Tatsachen 
vor, mache aufmerksam auf eigenartige Erscheinungen, weise auf Mittel 
hin, durch die üble Erscheinungen gemildert, beziehentlich beseitigt 
werden können. Ich gebe dabei der Hoffnung Raum, daß diese Zeilen 
eine Anregung sein möchten zu dem eingangs erwähnten Versuch, 
von den Arbeitsergebnissen der Hilfsschulkinder auf die geistige 
Eigenart zu schließen. Anspruch auf erschöpfende Behandlung des 
Themas machen meine Ausführungen keineswegs, sie wollen nur 
Wege zeigen, in welcher Richtung etwa die Beobachtungen und Auf- 
zeichnungen sich bewegen können. 

Ich beginne mit dem Sprechunterricht. 

Dafür reichen meine Aufzeichnungen bis Ostern 1910; zu dieser 
Zeit erhielt ich die Vorklasse, den Stundenplan setzte ich wie folgt 
fest; er ist im wesentlichen bis heute so geblieben und hat sich bewährt. 


Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 15 





‘la Std. "a Std. 1 Std. 
Montag 
Dienstag Anschauen 
Mittwoch Ci EN 
Donnerstag Sprecher _ Religon Formen, Tätigkeitsübungen. 
Freitag } Anschauen 
Sonnabend Religion 


Wo in diesem Plan das Rechnen auftritt, was im Formen getan 
wird, wie die Tätigkeitsüäbungen einander ablösen, wie Anschauungs- 
und Religionsunterricht gehandhabt werden, darüber zu sprechen tut 
hier nicht not; über die Stellung des Sprechunterrichts in diesem Plan 
will ich weiter unten Erörterungen vornehmen. 

Zum Führer durch den Sprechunterricht in der Vorstufe nahm 
ich folgende Schrift: Der Sprechunterricht bei geistig zurückgebliebenen 
Kindern. Ein Leitfaden für Lehrer an Hilfsklassen für Schwachbegabte, 
an Idiotenanstalten und für die Familie. Von K. Kölle, Direktor der 
Erziehungsanstalt für Schwachsinnige, Schloß Regensberg, Kt. Zürich, 
1896. Ich muß etwas ausführlich zitieren, um mein Verfahren ver- 
ständlich zu machen. 

Kölle schreibt: »Das Sammeln von möglichst viel Begriffen ist 
die Hauptaufgabe beim Sprechunterricht der Schwachsinnigen.... Die 
Begriffe sind Verstandesregeln, die durch Übung gewonnen werden 
können. Diese Übungen gehen bei dem normalen Kinde von selbst 
vor sich, das idiotische Kind bedarf der Anleitung. 

Die Tätigkeit des Idiotenlehrers beim Sprechunterricht müßte 
demnach folgende sein: 

1. Begriffsbildung, d. h. hier Ausdruck eines Begriffes durch 
ein Wort. 
2. Satzbildung. 
3. Lautentwicklung. 
An dieses wird sich anschließen: 
4. Die Schreib- und 
5. die Leseübung. 

Alle diese Tätigkeiten sind nicht für sich abgesondert und allein 
zu üben, sondern sie ergänzen sich gegenseitig und gehen deshalb 
nebeneinander her. Lautentwicklung, Lese- und Schreibunterricht 
haben deshalb auf dieser ersten Stufe nicht einen eigenen metho- 
dischen Gang, der sich nach der allerdings oft nur scheinbar leichteren. 
Erlernung der einzelnen Elemente richtet, sondern sie werden ganz 
so eingeübt, wie es der Unterricht der Begriffsbildung bedarf. Um-. 


16 A. Abhandlungen. 





gekehrt richtet sich die Erlernung der Begriffe wieder oft nach der 
leichteren Aussprache der Worte. Ebensowenig darf sich der Lehrer 
entmutigen lassen, wenn die Resultate bei den einzelnen Übungen 
im Anfang oft sehr geringe sind. Es wird z. B. selten gelingen, das 
idiotische Kind zu einer reinen Aussprache der Laute zu bringen. 
Das kommt oft sehr spät und die verschiedenen Übungen ergänzen 
sich immer wieder. Lesen und Schreiben sind zunächst ziemlich 
nebensächlich, allein sie sind ein methodisches Mittel, den Lehrer bei 
den vielen Übungen und Wiederholungen vor Ermüdung zu schützen, 
so z. B. wenn bei der Lautentwicklung ein Laut von einem Kinde 
öfters gesprochen werden soll. Es gehört schon ein gesunder Kehl- 
kopf dazu, wenn man 6—8 Schülern, oft noch schwerhörigen, einen 
Laut 10—15mal vorsprechen will und das stündlich, täglich, ein 
ganzes Jahr hindurch. 

Dem Sprechunterricht sind natürlich die bekannten Übungen der 
Vorschule vorausgegangen, also die verschiedenen Tätigkeitsübungen, 
die Unterscheidung von Formen und Farben... Das Sammeln von 
möglichst viel Begriffen ist die Hauptaufgabe beim Sprechunterricht 
‚der Schwachsinnigen. Sind die Gegenstände im Zimmer alle benannt, 
so können die vorhandenen Tabellen benutzt werden. Besser ist es 
‚aber, wenn Gegenstände in natura vorgeführt werden. Dabei nimmt 
man am besten Rücksicht auf die Einübung der Laute. 

Die Vokale werden zuerst geübt und sofort beim Aussprechen 
auch geschrieben. Die Buchstaben geben die Anschauung und den 
Begriff der Laute »A«, »B« usw. Sie werden bald dem Gedächtnis 
eingeprägt und das Lesen dient als Sprechübung. 

Da beim Einüben weiterer Begriffe auf die Lautentwicklung Rück- 
sicht genommen werden soll, so wird die Auswahl von Gegenständen 
am besten nach folgender Tafel getroffen: 

1. Die Vokale: aeiou 
Später schließen sich noch an: ä ö ü au äu ai ei eu. 
Die Konsonanten: 
b (p) m £ (v ph) w 
d (t) l n r s (ĵf) sch z x 
g (k q c) ng h ch. 


Da die Vokale in jedem Wort geübt werden, so ist es nicht ge- 
rade nötig, Gegenstände zu sammeln, an denen dies besonders ge- 
schieht« usw. 

Den Hauptwert legt Kölle auch bei den Sprechübungen auf die 
Begriffsbildung. Begeistert bin ich damals an die Arbeit gegangen 


wo 


Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 17 


und habe ein ganzes Jahr nach seiner Vorschrift gearbeitet. Nur in- 
sofern wich ich ab bezw. mußte ich abweichen, als ich das Buch- 
stabenlesen ausschaltete. Der Gedanke aber, eine begriffliche Methode 
für den ersten Sprechunterricht gefunden zu haben, machte mich 
außerordentlich glücklich. Ich befaßte mich zunächst mit folgender 
Auswahl aus Kölles Wortgruppen: Ball, Band, Baum, Papier, (oben), 
Perle, Mann, Mantel, Fahne, Dach, Wage, Wagen, Faden, Lampe, 
Löffel, Nadel, Nagel, Rad, Reifen, Leiter, Deckel, Tafel, Tür, Tisch, 
Trommel, Trompete, Nest, Reiter, Sand, Salz, Schaufel, Schuh, Ring, 
Garn, — Kohle, Ofen, schwarz, Feuer, heiß; Hose, Jacke, Weste, 
Kragen, Schürze, Kleid, Schleife; Kopf, Haar, Nase, Mund, Kinn, 
Hals, Arm, Hand, Finger, Bein, Fuß, Zehe, Zähne, Zunge; Bank, 
Diele, Decke, Wand usw. 

Kölle bringt die Wörter nicht in dieser Folge, aber ich konnte 
seinen Gang nicht einhalten, weil die Sprachgebrechen der Kinder 
dazu in Widerspruch standen; bald gefiel mir auch das bunte Durch- 
einander nicht mehr, ich begann zu konzentrieren. Da ich aber bei 
den täglichen Wiederholungen über die Fortschritte des einzelnen 
Kindes mir doch kein klares Bild machen konnte, so begann ich auf- 
zuzeichnen. In nachstehenden Tabellen sei eine Auswahl aufgeführt. 
Sie erweisen die Materialschwierigkeiten der rein begrifflichen Methode 
beim ersten Sprechunterricht, heben die Lernzeiten hervor und lassen 
sprechtechnische Gesetze erkennen. j 


























Wort: Ball JE Band 
Zeit: | 18.4.10 | 19.4.10 |8.1.12| 21.4.10 27.4.10 | 8.6.10 |8.1.12 
Kind: | 
A. all B — alm an, ana, anda — — 
B. — — — œ œ œ - 
C. Bai Bala -- Bam Ban and — 
D. Ba |l- (7.7.10) t Băd and (gedehnt, |wieam27.4.| F 
mitsprechen) | 
E. — | — 0 -— — | — 0 
F. _ _ _ = — _ — 
G. — —- — Ban d Ban - d — 
H. — — — Bam an, Ban — — 
I. — — 0 |— ! Nach B —! —! 0 
J. — - O  |— !einatmend —| | —! 0 
K. Balm Balaball | 0 Bam Han - Hand | -— | 0) 
Ban - Band | 
L. — — — — — — 
— = richtig gesprochen. œ = fehlte. 
7 = gestorben. ~ = kurz und leicht, fast verschwindend. 
0 = Aus der Klasse ausgeschieden. ! = falsche Atemführung. 


Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 2 



































18 A. Abhandlungen. 

Wort: Baum Papier oben 

Zeit: |26.4.10) 3.5.10 18.1.12] 29.4.10 |9. 6.10] 30.4.10 |17.9.10 |s. 1.12 

Kind: | | 
À. om B, sam | — bier _ omem | öbe | — 
B. œ œ u œ œ œ obban | — 
C. Bo B, aum, Bau| — Papie u omen o - bem — 
D. Bümm |B, äm (9.6.10) 7 Mabber — momem | o-be | 
E. — — I Q “n = ZA Edi | o0 
F. — — | 0 — — — — 0 
G. aum B, aum -— bier — obm ben — 
H. | Bömm |— au, sehr | — | Päpie*) — obm ben -— 

| gepreßt | 
I. —! | —! 0 —! — =! | —! 0 
J. —! —! 0 Papi! |! — —! | —! 0 
K. Baub | Baul, Baun 0 — — — 0 
L. — — — bier*) | — omben obem — 
*) a sehr kurz, kaum vernehmbar. — **) r nur angedeutet. 
Wort: Mann Mantel 














psn pommpoppe E 


Wort: 
Zeit: 
































Kind: 
A. 
B. 
C. 
D. 
E. 
F: 
G. 
H. 
I. 
J. 
K. 
L. 


Lhampe ! 
Lambdem | Lambde, — 











10.1.12] 6.5.10 
| 

Bār-le | Berle — œ Mantlel = 
Bär - le — œ Man - tel — 
Bär - le — = Nadl Man - tel — 
Bär - le $ — Mantl Mankl + 
= 0 — -— —- 0 

— 0 — --— -- | 0 
Bä-r-1-le Bär - le _ Mantl Man-tel | — 
Bärle = -— Mantel | — 

e = dunkel Mantēl 
Per - le 0 Wann — E 0 
Per - le ! 0 Mhand ! [Mhanthel !/Mantelmantel.... 0 
Bär - le 0 -— _ — 0 
Bärle — _ œo Mantl = 
Lampe Nadel 
30. 6. 10 22.12.10 10.1.12| 7.6.10 | 29.6.10 /10.1.12 

la, ela,elam| Lhambe — Näche Na - del _ 
— -= — Nadl — — 

— — — Nade -- — 

am - be Lam - be + Nadl Na - del t 
— _ 0 — — 0 

— — 0 — — 0 

— — — Nadle Na - del — 

= — — Nadil Na - dēl — 

— — 0 — — 0 
Lhampe ! |Lampelampe ... 2 Nhadel ! |Nadelnadel...| 0 
— — — 0 

— — Nagl — | Nagel 





Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bsi schwachsinnigen Kindern. 








19 









Löffel 











Reifen 






























































30.8.10 |12.1.12| 22.6.10 20.8.10 | 12.1.12 
Kind: 
A. Sittl Lö - fe — Heidse Rei - fen — 
B. Läddl — — œ Rei - fen — 
C. Lödde Lö - fel — Reide — — 
D. Mebbl Le - fe } Mebm R-ei-fe + 
E. Löffl — — — 0 
F. — — 0 — — 0 
G. Lägge Lö - fel — Reipm Reiwen — 
H. Läfde — — Reifen _ — 
L — — 0 — — 0 
J. Lhöffel ! —! 0 — | — ! Rh 0 
K. — — 0 _ — 0 
L. Leffle | Löffl = Reife = = 
Wort: Fahne Dach Wage 
Zeit: |10. 5. 10/20. 6. 10112.1.12[10. 5. 10/20. 6. 10/8. 1. 1224. 5. 10| 13.9.10 [12.1.12 
Kind: | | 
À. Hame (Fah-ne| — chad | Dachd | — | Wawe; Wake — 
B. œ œ — Dă ıDä-ch|i — | Wake — — 
C. Fame |Fah-ne| — Dă Dă — | Wadel | Wa- ge — 
D. Bahne | F, Fa F Dă |Da-ch| +t Wahe | Wa -ge i 
E. — — 0 — — 0 — | - 0 
F. _ 0 — | — 0 — — | 0 
G. |Hahne | Fhane | — | chach |Da-ch| — | Wade jübtnoch g,k|Wa-ke 
H. | Fahnö — — Dă |Da-ch| — œ — — 
(dunkel) 
$ —— — 0 Dä — 0 Hvase | — 0 
J. JjFhahne! — 0 Gach | D, Da 0 Vhare | Wha-ghe.| 0 
K. — — 0 == _ 0 Wach Wage- 0 
| | wage... 
L. Bane |F-ahne, — Dah |Da-ch! — [Waache] — — 
Wort: Wagen Faden 
Zeit: 28. 5.10 T7111 15. 1.12 2.6.10 24.6.10 15.1.12 
Kind: | 
A. Wadn Mare,Wa-ken — Haned, Ha-den Fafden — 
B. œ — —— Fa - den = — 
C. Wadn — — Fade Fa - den — 
D. Magn t (81.8.10 f Baden Fafe (30.8.10) + 
| Wa- gen) | 
E. -= — 0 = — 0 
F. _ 0 0 = re 0 
G. Wachdn Wa -then | Waachen Hadn | Fha *) | Faten 
H. Wagn _ _ — — — 
I. Hvagn = 0 = A: 0 
2 Whachn | — 0 Fhaden — 0 
K. - = 0 = — | 0 
L. — — — Hade Fanden — 





*) h als Gleitlaut. 





2* 





















































































20 A. Abhandlungen. 
Wort: Leiter Deckel 
Zeit: | 28.6.10 | 9.9.10 4.7.10 | 7.9.10 | 21.10.10 [19.1.12 
Kind: 
A. Heită Later — Ebbel Kedl De - ke — 
B. Leită — — Dakl kel De - kel — 
C. Leike — — Dedd& kel De - kel — 
D. Heid Lei - ter t Dödd& g De - ge t 
E. — — 0 — — — 0 
F. — — 0 _ _ — 0 
G. Leita Lei - ter — Dedd! k | kel = 
H. Leiter Leiter — Dackel De - kel Deckel | Deckel 
(dunkel) (dunkel) | (dunkel) | 
I. — — 0 Kekel De - kel Deckl 0 
J. Lheita ! Leiter- 0 Khekhel ! | Deckēl- Deckel- 0 
leiter... . | deckäl... | deckel... 
K. — — 0 Deckl De - kel — 0 
L. Leita Lei - ter _ Deddl De - kel De - kel _ 
Wort: Tafel Tür 
Zeit: 11.7.10 2.10.10 | 22.1.12 15.8. 10 6.12.10 22. 1.12 
Kind: | 
A. Habl | Fadel | — Kike r — 
B. Dahlfel Tafe | Tafal — Tüa Tü - re — 
C. Dafl Dafle — Dü Dü - re — 
D. Babl Da - fe t Düa Dü - he + 
E. — — 0 — — 0 
F. — — 0 — — 0 
G. Dawl Dabel — Düh Dü - he — 
H. [Dafel (dunkel) Dafeel — Düah Tü - ree — 
i; Daf! | Tafl 0 =- — 0 
J. Dhafhel ! | Dafeldafel... 0 Thü ! Türetüre... | 0 
K. Dadl Dafel 0 — o 0 
L. Dafl Ta - fel — Tüar |  Tü-re — 
Wort: Tisch Trommel 
Zeit: 18. 8. 10 6.9.10 | 26. 1.12| 22.8.10 21. 10. 10 26. 1.12 
Kind: | 
A. Dschidsch Di-sch | — Bomml Dēr - ommel | Dörommel 
B. Di Di - sch — Gomml De&rommel — 
C. Di Di - sch — Dumml Derommel = 
D. Did Di - sch rt Bomml . ommel F 
E. Dis Die - sch 0 — — 0 
F. Dis Die - sch 0 — — 0 
G. Dis Di - sch Tiesch Romml Rommel Rommel 
H. Dis Di - sch — Sommeel Rommeel | — und 
Zommel 
I. Thisch ! — 0 Thrhomml ! | Thrommel ! 0 
J. Thisch ! Thisch ! 0 Thrhomml ! | Thrommel ! 0 
K. Dis — 0 Domml Derommel 0 
L. Dis Di-sch | — Domm! Derommel — 


























































































Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 21 
Wort: Trompete Reiter 
Zeit: | 29.8.10 | 29. 11. 10 26. 1. 12 5.9.10 29.11.10 |29. 1.12 
Kind: | 
A. Bomkeene | De - rombede |Dörombede Heite Rei — 
B. | Brombreede | Derom - bede | — Reita — — 
C. Romlm |Derom-be-de — Reigar Rei - ter — 
D. Bobeene om - be - de + Nader Rei - ter E 
E. _ — 0 — — 0 
F. — — | 0 — — 0 
G. Romrede |Rom-be-de| Rompete Reidar Reite — 
H. Dombeeder |De- rom-beda| — und — 
| Zompete Reită Reitér 
E Thromberhe — 0 Rheither ! — 0 
J. Ghrombede | =! 0 Rheither ! (Reiter Reiter... 0 
K. Dombde Durombede 0 Reitä Rei - ter 0 
L. | Brombreede | Drom - bede | — Reită Rei - ter -— 
Wort: Salz Schuh 
Zeit: 16. 9. 10 25.11.10 | 29.1.12 3.10. 10 | 22.11.10 | 29.1.12 
A. Sa Sal Sals Suh | — — 
B. Sal Sals -= Suh | — k = 
C. Sal Sal - s 5 Suh | — | = 
D. Hads Hads, dsa, dsal T Duh | Duh + 
E. = — | 0 Su | — NA) 
F. 0 0 o Da Re: N 0 
G. Hald Sal Salt Huh | Sch-huh | — 
H. Sal Sals — Suh Sch | — 
I. Sals | _ 0 0 0 0 
T. Shals! | Salzsalz.... | 0 0 0 0 
K. Salt Sals 0 0 0 0 
L. Sals — — Suh — Suh 
Kragen 
Zeit: | 13.10.11 15.12.11 | 29.1.12 | 17.11.11 | 20.12.11 |30. 1. 12 
Kind: 
A. Gonn Dann Garin Gagn iGagen |K-ragen 
B. Gran Gar -n — Gragren Gra - gen = 
C. Gann Gar Gar-n Kagn Ka - gen — 
D. Gag Ga-r t Găchn Ger - agen t 
E. Garin — 0 — — 0 
F. 0 0 0 0 0 0 
G. Thann Ga -r Gann chache karen Drāchen 
H. Gann Garin Gar-n Krachn Kra - gen — 
L 0 0 0 0 0 0 
J. 0 0 0 0 0 0 
K. 0 0 0 0 0 0 
L. Dran Ka, ra Darn Drāchn | Kra-ken p = 








2 B. Mitteilungen. 


















Schleife 
17.12.11 


Wort: f; Schürze 


20.12.11 













21.11.11 28.11.11 








Kind: 
A. Dördsche | Schör-se | Schärze Heie eife — 
B. Schatze Schür - ze — Lerfă Schuleife — 
C. Sasse Bör - se u Lende Suleife — 
D. Matze ü -ze t Meebe Sch - lei - fe t 
E. Sörze _ 0 Sleife — 0 
F. 0 0 0 0 0 0 
G. Hatte ü Sür-se | Schirze Leibe eife Hleife 
(Zunge hinten) 
H. Sörsi Schür - ze — Leifă Sleife — 
L 0 0 0 0 0 0 
J. 0 0 0 0 0 0 
K. 0 0 0 0 0 0 
L. Sörze Sür - ze — Leife Schl - eife | — 








(Schluß folgt.) 


B. Mitteilungen. 


1. Was uns allen dringend nötig ist! 
Von Dir. Dr. H. Schmidt-Hainichen i. S. 

Zur Abfassung folgender Zeilen veranlaßten mich Tatsachen, die ich 
in unserm Öffentlichen Schulwesen seit längerer Zeit beobachte. Nicht nur 
in meiner derzeitigen Stellung als Direktor eines größeren Schulwesens, 
sondern auch schon früher in verschiedenen Stellungen als Lehrer und als 
Besuchender an größeren und kleineren Schulen habe ich efnen Mißstand 
bemerkt, der vermutlich so allgemein verbreitet ist, daß eine Abhilfe 
dringend notwendig ist. 

Es trägt sich wöchentlich mindestens einmal zu, daß mir Kinder zur 
Bestrafung vorgeführt werden. Ich soll über sie schwerere Strafen ver- 
hängen, für die der Lehrer entweder die Verantwortung ablehnt, oder die 
ich ihm gar nicht zumuten will. Gewöhnlich handelt es sich um Sitt- 
lichkeits- oder Eigentumsvergehen, Vagabundieren und Roheiten aller Art. 
Ist der Knabe noch nicht 12 Jahre alt, erledigen sich diese Fälle dadurch 
sehr rasch, daß ich in Gemeinschaft mit seinem Lehrer irgend eine päda- 
gogische Strafe unter denen herausgreife, die uns vom Gesetze ganz deut- 
lich vorgeschrieben sind, d. h. wir wägen sorgfältig ab nach Grund und 
Fulge, Vergehen und Strafe, Veranlassung und Ausführung, wie es Mensch- 
lichkeit und pädagogisches Gewissen fordern. Wir kommen so gewöhn- 
lich auf eine erzieherische Strafe, von der wir einen günstigen Erfolg für 
das sittliche Leben des Kindes erwarten. Eine gleichzeitige Mitteilung an 
die Eltern verfehlt dabei ihren guten Zweck in den seltensten Fällen. 
Der Strafweg unseres Sächs. Gesetzes umfaßt nach der Verordnung zu 
$ 22 folgende Strafen, die wegen ihrer wohldurchdachten Anordnung und 
erprobten Wirksamkeit hier aufgeführt sein mögen. Zulässige Strafmittel 
in der Volkschule sind: 


1. Was uns allen dringend nötig ist! 23 





Erinnerungen und Verweise. 

Vorhaltung im Beisein des Ortsschulinspektors, Direktors, des Lehrer- 

kollegiums oder aller Schüler. 

Anweisung von Strafplätzen oder Zurücksetzung in der Klassen- 

ordnung. 

Zurückbehalten und Nacharbeiten in der Schule. 

Schriftliche Anzeige an die Eltern. 

Nur nach mehrfach fruchtlos gebliebener Anwendung eines der vor- 
genannten Strafmittel oder wegen frecher Widersetzlichkeit oder grober 
Unsittlichkeit ist eine mäßige körperliche Züchtigung, aber stets nur in 
angemessener, schicklicher und die Gesundheit nicht gefährdender Weise 
gestattet. ; 

Anders liegen die Dinge, wenn das Kind bereits über 12 Jahre alt 
ist und es dem Gerichte oder der Polizei in die Hände fällt. Da 
zeigt sich fast immer die Tatsache, daß Behörden, die eine Strafe für ein 
Kind festsetzen sollen, gar kein Verständnis für pädagogische 
Einsichten und erzieherische Erwägungen besitzen. Woher 
sollten diese auch kommen? Der Vollstreckungsbeamte hat es meist 
mit Dieben, Landstreichern usw. zu tun, also mit dem Abschaum der 
Menschheit, bei denen vielfach gewiß Grobheit, scharfe Behandlung 
oder Gewalt durchaus am Platze ist. Es fällt nun dem Beamten schwer, 
dem Kinde und seinem Fehltritte gegenüber von seinen Gewohnheiten 
beim Verhöre oder in der Behandlung abzuweichen. Vor allen Dingen 
fehlt es ganz und gar an der Erkenntnis, daß die kindliche Lüge, 
das Vagabundieren und die Diebereien anders zu beurteilen sind als beim 
Erwachsenen; — und — sollten solche Erkenntnisse vorhanden sein, so 
wird es von den Behörden meistens als sehr unbequem, ja vielfach als ganz 
unmöglich empfunden, von ihrem gewohnten Schema in der Beurteilung oder 
Strafe abzuweichen und pädagogischen Gründen Raum zu geben. Der 
beste Beweis dafür ist mir die Tatsache, daß alle Anzeigen der Polizei 
an die Schule ein- und dasselbe Gepräge tragen und u. a. nach Fest- 
setzung des Tatbestandes alle mit der stehenden Formel schließen: »X. er- 
klärt, er wisse, daß man nicht stehlen darf!« — oder: »der Knabe hat die 
nötige Strafeinsicht !« 

Dieser Umstand — nämlich die Strafeinsicht — spielt ja dabei für 
die Strafbemessung eine bedeutende Rolle. Es soll z. B. einem 13jährigen 
Knaben Begnadigung zuteil werden, nachdem er seit langer Zeit den so- 
genannten Strafaufschub genossen hat. Man hat aber beobachtet, wie der 
Knabe wieder seinen Nachbar in der Schule bestahl. Er hat IIIb in der 
Gesamtzensur, ist zweimal sitzen geblieben und steht somit hinter seinen 
l1jährigen Mitschülern geistig weit zurück. Der Lehrer müßte nun auf 
die Frage nach der Strafeinsicht antworten: »Der Junge ist nach seiner 
Begabung und seinem sittlichen Urteile und Willen noch nicht so reif wie 
seine i11jährigen Mitschüler!« Statt dessen urteilt er: »Der Knabe kennt 
das 7. Gebot, — er weiß auch, daß Diebstahl gerichtlich bestraft wird.« 
Das weiß aber übrigens ein pfiffiger Sechsjähriger auch schon — und 
niemand denkt daran, ihn verantwortlich zu machen, wenn er meinetwegen 


24 B. Mitteilungen. 











durch den Zaun kriecht und heruntergefallene Äpfel aufliest, um sie zu 
essen. Das Mißverständnis liegt hier in der juristischen Ver- 
wechslung von Strafeinsicht und sittlicher Reife. Die sogenannte 
Strafeinsicht Jugendlicher ist oft nur ein wertloses Ergebnis ihres mecha- 
nischen Gedächtnisses. 

Nun ist es eine schwierige Sache, den Laien, Eltern und Bebörden 
für solche pädagogischen Erkenntnisse ein Verständnis beizubringen, — 
gewöhnlich lassen sie sich nicht überzeugen. Ja, sogar ältere Lehrer 
kannten bei Vergehen von Kindern nur Prügel und eine harte Sitten- 
zensur als ratio sufficientis. Dadurch kann aber kaum eine sittliche Besse- 
rung erzielt werden. Auf Grund meiner pädagogischen Diagnose, ja schon 
meinem Gefühle folgend, würde ich zu ganz anderen Maßnahmen greifen; 
aber es gelingt nicht immer, eine gute Diagnose zu stellen, ja, es 
ist oft ganz unmöglich. 

Da steht einer vor mir, ein schmaler, blasser, abgelumpter Barfüßer. 
Man hat ihn mir vorgeführt, weil er zum vierten Male beim Vagabun- 
dieren erwischt wurde. Er antwortet mir auf meine Fragen trotzig, kurz 
und gleichgültig. Es hat ihn diesmal sein Schicksal erreicht, als er auf 
seiner Zigeunerfahrt im Garten eines Bauern seinen Hunger stillen wollte, 
der sich nach dem weiten Morgenmarsche eingestellt hatte. Was ist zu 
tun? — Der Besitzer und die benachrichtigte Polizei dringen auf Strafe. 
Was tun? — Hiebe? Nein, das würde nichts helfen, denn sie haben be- 
reits ihre Wirkung versagt. Der tiefer denkende Lehrer ahnt oft, daß in 
dem Knaben Vorgänge sich abspielen, deren Art und Weise wir nicht im 
entferntesten kennen. Warum vagiert der Knabe? Ein Direktor einer 
Besserungsanstalt antwortete in einem solchen Falle: »Wenn alles nichts 
nützt, kommt der Knabe in eine Besserungsanstalt! Was wollen Sie denn 
weiter tun?« Es wurde ihm die treffende Antwort gegeben: »Ich suche 
vor allen Dingen zu erforschen, warum der Junge vagiert!«!) 

Damit bin ich am eigentlichen Sitze des Übels angekommen: wir 
können keine genaue pädagogische Diagnose stellen! Es nützt 
mir nichts, wenn ich über die Heldentaten des vagabundierenden Knaben 
ein Aktenstück anlege und feststelle, daß er bereits viermal als Jandwirt- 
schaftlicher Sommerarbeiter vermietet war. Erst die genaue und einwand- 
freie Beantwortung der Frage, ob der Knabe durch die landwirtschaftliche 
Lohnarbeit bildungsunfähig geworden oder in seiner sittlichen Entwicklung 
gehemmt worden ist, gewähren die Möglichkeit, genaue Richtlinien für 
Strafen zu geben, das pädagogische Gewissen zu schärfen und die Volks- 
bildung und Volkssittlichkeit zu heben. 

Ein Lehrer gab mir einst den Rat, doch den Schularzt darüber zu 
befragen. Dieser war ehrlich genug, mir einzugestehen, er könne mir 
nicht helfen. Die Regeln zur Festsetzung eines Krankheitsbildes für den 
Körper sind übrigens auch andere als bei Krankheiten der seelischen Ent- 
wicklung. Es ist z. B. ganz unmöglich, psychisch fehlerhafte Vorgänge zu 

1) Vergl. Dr, A. Spitzner, Die pädag. Pathologie im Seminar-Unt. Gotha, 
Thienemann, 1901. 8.10. 


1. Was uns allen dringend nötig ist! 25 


einheitlichen Gruppen zu verknüpfen, so daß jede Erscheinung auf einen 
anderen Fehler im Gesamtbilde hinweist.- Das ist bei Kindern vollends 
gar nicht möglich; da kann die Diagnose sich immer nur auf einen 
hervorragenden Fehler beziehen, der bald mit diesem, bald mit jenem 
anderen verbunden sein könnte. Am ersten könnte man eine gewisse 
Sicherheit bei den Krankheitsbildern der eigentlichen Kinderpsychosen für 
möglich halten. Allein auch diese zeigen eine so außerordentliche Ver- 
schiedenheit der Symptome, daß ihnen nicht viel Vertrauen geschenkt 
werden darf. Die Unsicherheit wird selbstverständlich noch viel größer, 
wenn man in den Fehlersaal der heranwachsenden Jugend tritt, in welchem 
jeder Patient sich gewissermaßen trotz seiner Fehler, die er mit anderen 
Jugendlichen teilt, immer noch als ein Unikum darstellt. 

Demnach ist eine der wichtigsten Aufgaben der angewandten psycho- 
logischen Pädagogik, die Grundzüge zu einer einwandfreien, pädagogischen 
Diagnose zu liefern. Das ist eine Aufgabe, die noch gelöst werden muß. 
Sie ist leicht, wenn man sich hütet, das pädagogische Krankheitsbild mit 
dem psychiatrischen zu verwechseln. Die Diagnose in der Psychiatrie 
besteht nur aus Klassifikation. Gewiß ist in jeder Klassifikation auch 
ein Stückchen Diagnostik enthalten; wenn ich weiß, zu welcher Klasse 
ein pädagogischer Fehler gehört, habe ich damit schon ein gewisses Er- 
kennungszeichen für andere; daneben ist die psychiatrische Diagnostik aber 
überwiegend auch Symptomatologie. 

Diese Bedeutung hat das Wort Diagnostik in der pädagogischen Patho- 
logie nicht. Sie ist nicht damit erschöpft, daß ein hervorragender Fehler 
als Sammelname für den ganzen Fehlerkomplex gefunden wäre, d.h. man 
kann nicht aus einer einzigen Eigenschaft des Kindes ein Charakterbild 
entwerfen. Sie darf ferner nicht aus dern äußeren Verhalten des Kindes 
auf Feblerhaftigkeiten schließen, das hat keinen Wert für die pädagogische 
Pathologie. Sie muß vielmehr ein Verfahren einschlagen, das schon überall 
da angewendet wird, wo Beobachten und Denken, Erfahrung und Theorie zu- 
sammenwirken, um den Tatsachenbestand nach seinem Ursprunge 
und seiner Veranlassung zu verstehen. Die Tatsachen müssen vor allen 
Dingen auf die psychischen Motive zurückgeführt werden, die uns die 
wahren Anfangsursachen der Fehlerhaftigkeit in dem inneren Getriebe des 
geistigen Geschehens anzeigen. Erst mit der richtigen Anwendung 
und Verwertung des psychologischen Wissens hat man für eine Fehler- 
gruppe diejenige Diagnostik gewonnen, die auch zur Erkenntnis für 
jeden anderen Fehler aus derselben Familie hinreicht und befähigt. Es 
handelt sich also nicht um ein Hineinzwingen eines Fehlers in eine 
Schablone, sondern darum, die Differenzen zwischen der geistigen Gesund- 
heit und den davon abweichenden Zuständen im Kinde, also das 
Quantum seiner Bildsamkeit, zu bestimmen. Daraus erhellt 
wieder, daß die pädagogische Diagnose unbedingt den Zusammenhang mit 
der psychiatrischen und psychologischen Diagnostik wahren muß, wenn sie 
in ihrem Gebrauche auf einige Sicherheit rechnen will. 

Zur Leistung dieser Arbeit gehört allerdings ein reiches, zu be- 
arbeitendes Erfahrungsmaterial. Nur reich erfahrene Leiter von Erziehungs- 


26 B. Mitteilungen. 





heimen wie der Herausgeber dieser Zeitschrift — Schullehrer und -Leiter 
lernen die Kinder nur sehr einseitig kennen —, denen die Vorgeschichte 
aller ihrer Zöglinge bis ins Einzelne bekannt ist, können dieses Problem 
sicher lösen. Es genügt uns Praktikern zunächst ein kleines Schriftchen, 
das in wenig knappen Sätzen die Grundsätze der Theorie und 
die Regeln ihrer praktischen Anwendung auf die abnormen Kinder 
enthält. 


2. Beobachtungen an schwachbefähigten Kindern bei 
der Behandlung der Nibelungensage. 
Von Fr. Rössel, Hamburg. 
(Mit 7 farbigen Abbildungen [in Heft 2].) 

Dieser Versuch wurde in Trüpers Erziehungsheim auf der 
Sophienhöhe bei Jena ausgeführt. 

Da in einer Anstalt die Erziehungsarbeit nicht mit dem Unterrichte 
aufhört, sondern sich über den ganzen Tag erstreckt, war es möglich, im 
Verkehr mit den Kindern beim Spiel, bei der Arbeit, auf Spaziergängen, 
bei Tische und im Schlafsaal die einzelnen Naturen von allen Seiten ge- 
nau kennen zu lernen. Deshalb konnten auch die Äußerungen der Kinder 
auf ihren Wert hin genau kontrolliert werden, und ein Hineintragen von 
Inhalt seitens des Lehrers war weit mehr ausgeschlossen, als es unter 
anderen Umständen hätte der Fall sein können. 

Die Klasse vereinigte die in der Anstalt vorhandenen Schwachbefähigten 
in sich und war innerhalb des Klassenaufbaues die intellektuell am tief- 
stehendste. Denn bekanntlich sind im Erziehungsheim Kinder aller In- 
telligenzgrade vorhanden bis hin zu den Überbegabten, für die heute vielfach 
(z. B. auf der Tagung des Bundes für Schulreform in Dresden) Sonder- 
schulen gefordert werden. Diese Klasse bestand aus neun Kindern, acht 
Knaben und einem Mädchen. Das Alter bewegte sich zwischen neun und 
vierzehn Jahren. Die Gruppierung der Klasse war nach dem intellektuellen 
Stande des Kindes erfolgt. Sie gehörten durchschnittlich zu den Imbezillen. 

1. W. Sch., psychopathische Konstitution; er ist das einzig lebende 
Kind von 13 Geschwistern; ein guter und lieber Knabe. 

2. W. N., debil; rechtsseitige Lähmung, schreibt und zeichnet mit der 
linken Hand. Er ist aufgeweckt und trotz seiner Lähmung geschickt. 

Seine Charaktereigenschaften lassen mitunter zu wünschen übrig. 

3. W. J., imbezill; besonders stark treten Hemmungen auf. Gutmütig, 
doch mitunter auch jähzornig. 
4. N. St., Imbeziller leichterer Art; behaftet mit starken nervösen 

Störungen auf motorischem Gebiete. Er ist beständig in Bewegung. 

5. F. v. R, »ein Musiksimpel und Schwätzer«; imbezill; passive Natur. 

6. St. Kl., imbezill; Neigung zu Hemmungen; ein stiller und zu- 
friedener Knabe. 

7. 0. B., imbezill; zeigt hysterische Züge; sehr pedantisch. 

8. H. Spr, stark imbezill; Neigung zu ideenflüchtigem Geplauder; im 
Verkehr mit seinen Kameraden oft zänkisch und unverträglich. 


2. Beobachtungen an schwachbefähigten Kindern usw. 27 








9. A. Br.; ein imbezilles Mädchen, mongoloider Typus; ein stilles und 
gutmütiges Kind mit guten Charaktereigenschaften. 

Alle Kinder zeigten im allgemeinen ein geordnetes und regelmäßiges 
Betragen und bewegten sich auf günstigen Entwicklungsbahnen. 

Die Örtlichkeit der Geschichte war bald gefunden. In der Um- 
gebung stehen verschiedene Burgen, die wiederholt das Ziel unserer Nach- 
mittagsausflüge waren. Hier sahen wir die dicken Burgmauern von denen 
Siegfried eine beim Wettkampfe durchwarf, den hohen Bergfried, auf dem 
der Wächter saß und das Kommen von Fremden anmeldete, die Burg- 
gräben, über die die Zugbrücke ging, im Tale unten die Wiesen, die 
Felder, den Fluß. Der Heimweg führte uns oft durch einen dichten 
Wald, in dem die Waldschmiede stand, auch eine Waldwiese war bald 
gefunden, auf der der Wettlauf zwischen Siegfried und Hagen stattfand 
und auf der Siegfried den Tod erlitt. In kurzer Zeit war reges Interesse 
geweckt. Die geringe Anzahl der Kinder ermöglichte eine Aussprache aller, 
und da der Lehrplan nicht zum Hasten drängte, kamen oft lebhafte und 
interessante Gespräche zustande. Alles wollten sie wissen, z. B. von der 
Ausrüstung Siegfrieds, von seinen Erlebnissen in der Schmiede, von dem 
Kampfe mit der Brunhilde usw. Fragen wie: Wie groß war er? Wie 
sahen seine Schuhe aus? Was war das für ein Stock, den er auf der 
Wanderung trug? Hatte er auch eine Mütze? Wie breit war der Bach, 
über den er springen konnte? Wie dick war die Burgmauer, die er mit 
dem Stein durchwarf? Wie groß war Siegfried? War er so groß wie 
Herr N? u. a. m. beweisen, wie sehr die Kinder damit beschäftigt waren, 
sich ein möglichst klares Bild von den Gestalten und Vorgängen zu ver- 
schaffen. Durch die Klarstellung solcher Fragen wird der Erwerb von Be- 
ziehungsvorstellungen, die den meisten Imbezillen im großem Umfange 
fehlen, wirksam gefördert. Da die Beziehungsvorstellungen zu jeder 
höheren psychischen Tätigkeit unbedingt notwendig sind, wurden solche 
Fragen eingehend besprochen, und die Maßverhältnisse an bekannten Per- 
sonen und Sachen eingehend erläutert. Fleißiger Gebrauch der Kreide, 
vor allem seitens der Kinder, bot eine wirksame Unterstützung bei der 
Klärung dieser Vorstellungen. Auch das Modellieren und Zeichnen wurde 
in weitgehendstem Maße hierzu herangezogen. Wir formten Hammer. 
Amboß, eine Waldschmiede, Helme, Schwerter, Schmuckgegenstände aus 
dem Nibelungenschatze (Ringe, Armspangen, Kronen), Kähne, Schiffe, 
Türme u.a.m. Bald kamen auch die Knaben und wollten Holzschwerter. 
Selbstverständlich wurden sie hergestellt, und zwar soweit es ging durch 
die Kinder selbst. Schilde verfertigten sie sich aus Pappdeckeln, Helme 
aus starkem Papier, Lanzen waren ebenfalls bald gefunden, und es dauerte 
gar nicht lange, da hatte fast jeder eine vollständige Ausrüstung. 

Im Zeichnen entstanden Serien von Bildern. Hier war ein Maßstab 
gegeben, um zu sehen, wieweit die Kinder sich in die Situationen zu ver- 
setzen vermochten. Die zeichnerische Begabung spielte dabei natürlich 
eine große Rolle. Ebenso ist es ohne weiteres klar, daß der Grad des 
Schwachsinns von grundlegender Bedeutung für den Ausfall der Dar- 
stellungen war. Einige Kinder brachten sehr wirkungsvolle, plastisch 


28 B. Mitteilungen. 





wirkende Bilder, andere mußten erst ihre Zeichnungen erklären, ehe sie 
zu verstehen waren. Mancher, der die letzteren sieht, wird geneigt sein, 
sie als sinnlose Schmierereien zu betrachten, während doch bei genauerem 
Zusehen ein Gedankeninhalt festzustellen ist. Kann aber aus der Dar- 
stellung ohne weiteres oder durch mündliche Erklärungen erkannt werden, 
daß das Kind den Kernpunkt der Aufgabe erfaßt hat, daß es sich bei 
seiner Arbeit etwas gedacht hat, so ist die Zeichnung sowohl für das Kind 
als auch für den Lehrer wertvoll. Es ist wichtig, daß durch solche Dar- 
stellungen, auch durch Modellieren von Szenen, das Eindringen in die 
sachliche Grundlage und in die Verarbeitung des Stoffes gezeigt werden 
kann, weil die sprachlichen Äußerungen allein noch lange keinen Anhalt 
für ein richtiges Verständnis abgeben. 

Wiederholt wurden noch von den Kindern kleine individuelle Züge 
angebracht, die im Unterricht keine Erwähnung fanden. Ein Knabe 
zeichnete z. B. in ganz unbeholfenen Strichen die Waldschmiede Nun 
hatte er gehört, daß es Siegfried in der Schmiede recht schlecht ging. 
Dies spann er in seiner Phantasie weiter aus, und auf der Zeichnung sehen 
wir Siegfrieds Bett unter der Treppe stehen, während der Meister und 
die Gesellen im oberen Stockwerk in Zimmern schlafen. (Abb. 1.) 

Nachdem die Kinder Siegfrieds Tod und Kriemhildes Trauer miterlebt 
hatten, war die Gelegenheit günstig, durch ein Bild den Inhalt zu ver- 
tiefen. Hier war die Einführung eines Bildes gerechtfertigt. Die sach- 
liche Grundlage war vorhanden und die Personen waren ihrem Wesen 
nach bekannt, so daß eine geeignete Grundlage für das Verständnis des 
Bildes gegeben war. Es wurde das ausgezeichnete Bild von Emil Lauffer- 
Prag: Kriemhilde an der Bahre Siegfrieds betrachtet. Der Inhalt der Bilder 
wurde lebendig erfaßt. Die Kinder, nicht nur die besseren, sondern auch 
die tiefer stehenden, fanden alle beteiligten Personen heraus. Auch Gunter, 
Brunhilde, Ute, Gernot und Giselher, Gestalten, die nicht so hervortretend 
wie Hagen und Kriemhilde dargestellt sind, wurden ohne Mühe erkannt. 
Von jeder Person wußten sie etwas Charakteristisches zu sagen: Hagen 
fürchtet sich nicht, er ist trotzig, Kriemhilde ruft ihm zu, du bist der 
Mörder; ein stark Imbeziller sagte: ich weiß schon, König Gunter hat 
Angst, er schämt sich vor seiner Schwester, deshalb versteckt er sich 
hinter Hagen; Mutter Ute ist sehr erschrocken; Brunhilde denkt, jetzt ist 
mein Plan in Erfüllung gegangen. Einer interessierte sich besonders für 
das Schwert Balmung mit dem grünen Edelstein und ein anderer meinte, 
der schöne Schmuck Kriemhildes wäre gewiß aus dem Nibelungenschatz. 

Diese Äußerungen wurden ohne jede Hilfe gebracht. Sie dürfen des- 
halb als ein günstiges Zeichen für das Eindringen in das Verständnis des 
Stoffes angesehen werden. 

Oftmals kann man bei schwachsinnigen Kindern die Beobachtung 
machen, daß sie sich mit dem dargebotenen Stoffe abfinden, ohne nach 
dem Fortgange zu fragen, ohne daß sich aus dem geweckten Gedankenkreis 
Probleme ergeben. Aufzeichnungen sollen auch hier eine Abweichung 
zeigen. Die Geschichte war fortgeschritten bis zum Aufbruch der Bur- 
gunden von der Burg Pöchlarn nach dem Hunnenlande. Da wurde die 


2. Beobachtungen an schwachbefähigten Kindern usw. 29 





Frage gestellt: Was wollt ihr noch alles erfahren? Es kamen folgende 
Antworten: Ob Kriemhilde den Hagen bestrafen wird? Wie es den Bur- 
gunden im Hunnenlande gefallen wird? Wie es ihnen ergehen wird? 
Ob sie doch noch nach Hause zurückkehren werden? Wie es dann weiter 
geht? Ob Giselher die Dietelinde heiraten wird? Was das für ein Fest 
sein wird? Ob es da auch sein wird wie bei der Doppelhochzeit in Worms? 
Ob Rüdiger ein Schiff für die Rückfahrt über die Donau bauen wird? 

Der handlungsreiche Stoff bot viel Gelegenheit zur Aufführung 
von dramatischen Szenen. Die Burgunden sind auf ihrer Reise nach 
dem Hunnenlande bis an die Donau gekommen. Hagen ruft dem Fähr- 
mann zu: Ferge hol über! der Fährmann weigert sich. Es entspinnt sich 
ein Zwiegespräch zwischen Hagen und dem Fährmann. — Zwei Knaben 
führen dies auf. Der eine steht an der Tür, der andere an der gegen- 
überliegenden Wand. Die Hände benutzen sie als Schalltrichter und nun 
rufen sie sich mit lauter Stimme zu, was Hagen und Ferge miteinander 
verhandeln. Oft ließen sich drei bis vier Szenen nacheinander darstellen. 

Beim dramatischen Aufführen assoziieren sich die Vorstellungsreihen 
mit Bewegungsvorgängen, und somit bekommt der Stoff einen viel festeren 
Halt. Die Kinder sind in Tätigkeit, sie hören nicht nur die Geschichte, 
sondern sie begleiten sie mit eigenen Erlebnissen. Natürlich bereiteten 
derartige Veranstaltungen den Kindern große Freude, und die so ent- 
standenen Lustgefühle gaben immer willkommene Impulse für die Ge- 
dankentätigkeit. 

Vorzugsweise wurden zur Darstellung Kinder mit Hemmungen und 
solche mit Neigung zu ideenflüchtigem Geplauder herangezogen. Die ganze 
Stimmungslage und das Milieu brachten es von allein mit sich, daß die 
Kinder ohne Schwierigkeiten über ihre Hemmungen hinwegkamen, be- 
sonders nachdem die kleinen Aufführungen zum ersten Male gelungen 
waren. Die andere Gruppe war durch die Schaffung einer scharf be- 
grenzten Situation gezwungen, sich auch an das inhaltlich Dazugehörende 
zu halten. Die; äußeren Umstände und die Worte der Mitspielenden 
gaben den eigenen Gedankenreihen die Stärke, die zur Unterdrückung ab- 
schweifender Vorstellungen nötig war. 

Die sprachliche Gestaltung des Stoffes bot überhaupt manches 
Interessante, sowohl bei den denkend und sprachlich gehemmten Kindern 
als auch bei den zur Ideenflucht neigenden. Die sachliche Grundlage, ge- 
wonnen aus heimatlichen Vorstellungen und durch eigene Tätigkeit, die 
Handlung, die sie ebenfalls vielfach mit eigenen Handlungen begleiten 
konnten, brachten die Vorstellungen in Bewegung und lösten die schwer- 
fällige Zunge. Alles drängte dahin, selbst davon zu erzählen. Mit Lob 
wurde nicht gespart, es stärkte die Lustgefühle und weckte das Selbst- 
gefühl. Die Hemmungen wurden so überwunden und die Ängstlichkeit 
schwand mehr und mehr. Ein Knabe mit sehr starken Hemmungen war 
für gewöhnlich nicht dazu zu bringen, daß er in Gegenwart von Fremden 
auch nur ein Wort sprach. Bei der Nibelungengeschichte kam es mehr- 
fach vor, daß er in Anwesenheit von Hospitanten große Abschnitte, ohne 
zu stocken, wiedererzählte. (Schluß folgt.) 


30 B. Mitteilungen. 





3. Zum Problem des Sprachverständnisses. 
Von J. Heidsiek - Breslau. 


1. Geschichtliches. Von Zeit zu Zeit berichten die Tagesblätter 
über Personen, die infolge eines Unfalls oder eines heftigen Schrecks 
plötzlich die Fähigkeit zu sprechen einbüßten. Im Jahre 1861 unter- 
breitete Broca der Société anatomique zu Paris zwei derartige Fälle, aus 
deren Sektionsbefund der verdienstvolle Forscher glaubte schließen zu 
dürfen, die Fähigkeit zum artikulierten Sprechen sei an die Unversehrtheit 
der dritten linken Frontalwindung gebunden. Broca bezeichnete diese 
Sprachstörung als Aphemie, hat, soviel ich weiß, den Ausdruck Aphasie 
niemals gebraucht und auck an keiner Stelle die Vermutung ausgesprochen, 
seine Patienten könnten die motorischen Sprachvorstellungen eingebüßt 
haben. Auf diese unglückliche Idee kam erst Wernicke (1874), dessen 
Patienten sich umgekehrt verhielten, die bei erhaltenem Ausdrucksvermögen 
die hörbare Rede nicht verstanden, trotzdem ihr Gehör scheinbar ein 
normales war. Da der nachträglich gefundene Hirndefekt sich seiner topo- 
graphischen Lage nach nicht deckte mit der von Broca festgestellten Läsion, 
so glaubte Wernicke ein neues Sprachzentrum aufgefunden zu haben, und 
zwar einen Hirnbezirk, an dem die Sprachklänge haften sollten. W. be- 
zeichnete diese Störung als sensorische Aphasie, im Gegensatz zu 
Brocas Aphemie, die von jetzt ab als motorische Aphasie angesprochen 
wurde. Die Störungen im Ausdruck sollten auf den Verlust der Sprech- 
bewegungsvorstellungen, die Störungen des Sprachverständnisses auf 
den Verlust der Sprachklänge zurückzuführen sein. 

So hatte man zunächst wenigstens zwei Sprachzentren, ein sensorisches 
und ein motorisches, ein Sprach- und ein Sprechzentrum, ein Zentrum für 
das Sprachverständnis, ein anderes für den Sprachgebrauch. Damit war 
nun auch die Jagd auf die Entdeckung weiterer Sprachzentren eröffnet, 
ein lustiges Treiben begann, und es ist gar nicht abzusehen, zu welchen 
Überraschungen diese ergötzliche Passion noch führen kann. Lichtheim 
konstruierte ein wunderschönes Schema, dessen symetrischer Wohlgestalt 
zuliebe die Zahl der Aphasien im Handumdrehen um ein halbes Dutzend 
sich vermehrte. Man beobachtete, daß schwere Sprachstörungen meist 
Schreib- und Lesestörungen im Gefolge haben. Und schon waren auch 
die noch fehlenden Zentren da. Hier haben sich die Sprachklänge 
»etabliert«, dort sind die Sprechbeweguggsvorstellungen »deponierte; 
drüben »lagern« die optischsensorischen Schriftbilder, nicht weit 
davon findet man das »Magazin« der Schreibbewegungsvorstellungen. 
Die verschiedenen »Sprachkomponenten« sind so sauber geordnet, wie 
die Medikamente in der Apotheke, und diese Komponenten bewegen sich 
auf den Linien des Schemas, wie die Puppen im Marionettentheater an 
ihren Drähten. Mit der Geschicklichkeit fixer Jongleurs hantiert man 
mit den Sprachzentren, so daß es dem Leser sprachpathologischer Schriften 
nur so vor den Augen flimmert. Auf Grund zauberhafter Schemata werden 
Sprachstörungen postuliert, die niemals zur Beobachtung kamen; aber die 
unglücklichen Kranken, die meist infolge eines Schlaganfalles die Sprache 


3. Zum Problem des Sprachverständnisses. 31 








einbüßten, werden solange inquiriert, bis man das sehnlichst Gesuchte glaubt 
gefunden zu haben. Man durchwühlt das Gehirn, rückt der Seele brutal 
auf den Leib und übersieht, daß bei diesem Übereifer aller Sinn für 
psychologische Denkweise in die Brüche geht. Mit heißem Bemühen sind 
die Psychologen und Pädagogen den munteren Schritten der Hirnphysiologen 
gefolgt, sie haben sich mit einem wahren Heißhunger über ihre zahlreichen 
Publikationen hergemacht, aber die Ausbeute ist eine derartig geringfügige, 
daß alles Vertrauen zu dieser neuen Wissenschaft so gut wie dahin ist. 
Treffend sagt Hellpach in seinen Grenzwissenschaften der Psychologie: 
»Über die Frage des Verhältnisses zwischen Psychologie und 
Gehirnanatomie herrscht ein völliges Chaos. Es sind nicht einmal 
zwei Gegenparteien mit scharf umrissenen Standpunkten vorhanden, 
sondern jeder einzelne beinahe gibt eine andere Antwort, vertritt eine 
besondere Schattierung.« Heute ist in Fragen der Lokalisation der Wirr- 
warr so groß, daß man sich nicht nur streitet über die topographische 
Lage der verschiedenen Zentren, sondern auch darüber, welches denn 
eigentlich die sensorischen und welches die motorischen sein könnten, ob 
diese beiden Arten von Zentren nebeneinander oder übereinander geschichtet 
gedacht werden müssen, ob beide für unser geistleibliches Dasein von 
gleicher Bedeutung sind, oder ob sie ihrem Werte nach verschieden ein- 
zuschätzen seien. Dieser Streit wird fortbestehen, solange man nicht ein- 
sieht, daß es sich nur um ein Spiel mit Worten handelt, solange man die 
Ausdrücke »sensorisch« und »motorisch« kritiklos verwendet, ohne klare 
Begriffe damit zu verbinden, ohne sich zu vergegenwärtigen, daß es weder 
rein sensorische noch rein motorische Bewußtseinsinhalte gibt, daß dagegen 
alles Leben aus einer Summe sensomotorischer Akte besteht, die sich kon- 
stituieren aus Reiz und Reaktion. 

2. Das Verständnis für Naturlaute. Die Natur ist nicht stumm, 
sondern die Dinge der Außenwelt haben ihren Eigenton, durch den sie 
sich uns auf die mannigfachste Weise bemerkbar machen, so daß wir be- 
haupten können, in gewissen Grenzen und im weitesten Sinne des Worts 
ein Verständnis für die Stimme der Natur zu haben. Je nach Art der 
wahrgenommenen Töne und Geräusche sehe ich im Geiste kosende Tauben, 
quakende Frösche, Hunde, Ziegen, bewegte Baumkronen, Wagen oder 
Schlitten, ein Klavier, eine Geige usw. Mit diesen Sachvorstellungen 
tauchen im Bewußtsein des Normalsinnigen nicht selten auch die ent- 
sprechenden Begriffswörter auf; allein notwendig ist dies nicht, denn an 
uns selbst können wir beobachten und an Kindern und Sprachkranken 
nachweisen, daß das Verständnis für Naturlaute unabhängig von der Sprache 
bestehen kann, daß sich Begriffe ohne Worte bilden und behaupten. 

Dies Verständnis für Naturlaute erwirbt sich der Mensch auf dem 
Wege der Erfahrung und zwar so, daß er sich auf allen Stufen der Ent- 
wicklung durch den Augenschein zu überzeugen sucht, woher die frag- 
lichen Gehörseindrücke kommen und in welchem Zusammenhang sie zu 
den Dingen der Außenwelt stehen. 

Das Hörvermögen oder die Empfänglichkeit für akustische Eindrücke 
ist zwar eine angeborene Fähigkeit und als solche weder lehrbar noch 


32 B. Mitteilungen. 








lernbar; aber zu einem Zeichen oder Merkmal für den horchenden Geist 
wird das akustische Phänomen erst dadurch, daß es in assoziative Ver- 
bindung tritt mit dem Träger oder Erzeuger des Gehörten. Fragen wir 
also nach den Bedingungen, unter denen von einem Verständnis für Natur- 
laute geredet werden darf, so lautet die Antwort: wenn wir hörbare Ein- 
drücke auf ihre Quelle zurückführen können; wenn Naturlaute zu Begriffs- 
zeichen geworden sind und in uns Bilder wachrufen, zu denen das 
akustische Ereignis eine Teilvorstellung bildet. 

Wo das hier beschriebene Verständnis für Naturlaute fehlt, wo zwar 
gehört, das Gehörte aber nicht gedeutet werden kann, da reden wir von 
Seelentaubheit. 

3. Das Verständnis für musikalische Klänge. Nur der Voll- 
ständigkeit halber sei auch jener Klasse schallhafter Reize gedacht, die wir 
als musikalische Klänge bezeichnen, und die dem Menschen den ersten 
ästhetischen Genuß bereiten. Das Kind auf vorsprachlicher Stufe ergötzt 
sich bereits an den Weisen der Spieluhr, es unterscheidet Musik von 
andern Gehörseindrücken und richtet seine Aufmerksamkeit bald auf jenen 
Kasten, dem erfahrungsgemäß die melodischen Töne entqueilen. Und diese 
Tonfolgen selbst wirken derart anregend auf den motorischen Apparat 
des Kindes, daß es sich vergnügt im Kreise dreht und den Takt der 
Musik durch rhythmische Bewegungen andeutet und begleitet. Außerdem 
dürfte es fast die Regel sein, daß sprachlose Kinder schon harmonische 
Tonfolgen produzieren, und jene pathologischen Fälle, in denen Personen 
gewisse musikalische Fähigkeiten bekunden, obwohl sie weder Sprache 
verstehen noch sprechen gelernt haben, zählen zu den allerbekanntesten 
und sind in Taubstummen-Anstalten durchaus keine Seltenheit. 

Wo aller Sion für Harmonie und für den Wohlklang musikalischer 
Intervalle fehlt, da reden wir von Amusie. 

4. Das Verständnis für Sprachlaute. Sämtliche Schallgattungen 
des menschlichen Stimmapparates als Singen, Sprechen, Flüstern, Lachen, 
Weinen, Schreien, Niesen, Husten usw. lassen sich insofern als Naturlaute 
ansprechen, als wir den Menschen in konkreto und in abstrakto an seiner 
Stimme erkennen und ihn von allen anderen tönenden Wesen mit fast 
absoluter Sicherheit unterscheiden. Den vornehmsten Gebrauch macht der 
Mensch jedoch von seiner Stimme, sobald er sie zwecks Gedankenäußerung 
zu artikulierten Lauten moduliert. In diesem Augenblick hört seine 
Stimme auf, bloß Naturlaut zu sein, sondern sie wird gleichzeitig zum 
Ausdrucksmittel und zum Offenbarungswerkzeug geistiger Vorgänge. 

Wenn nun von den Hirnphysiologen und von den Wortführern auf 
dem Gebiete der Sprachpathologie behauptet wird, Naturlaute und Sprach- 
laute seien in gleicher Weise geeignet, Bedeutungsinhalte oder Sach- 
vorstellungen in uns wachzurufen, es seien beispielsweise zum Verständnis 
des Wortes »Glockes und des Klanges der Glocke durchaus übereinstimmende 
psychophysische Prozesse erforderlich, so handelt es sich bier meines Er- 
achtens um einen Irrtum, der für das Problem des Sprachverständnisses 
und damit für die ganze Lehre von den zentralen Sprachstörungen ver- 
hängnisvoll geworden ist. Die einfachsten Erwägungen führen dahin, daß 


4. Zeitgeschichtliches. 33 





Naturlaute und Sprachlaute ihrem Wesen und ihrer Wirkung nach ganz 
verschieden zu bewerten sind. Der Klang gehört zur Glocke, wie Duft, 
Farbe und Form zur Rose gehören. Im Naturlaut treten die Dinge selbst 
an uns heran; im Klange präsentiert sich unserem Ohr die Glocke von 
einer Seite, die zum Wesen der Glocke selbst gehört. Sprachlaute dagegen 
sind rein symbolischen Charakters, ihnen fehlt jede Wesensverwandtschaft 
mit dem, was sie zu bezeichnen berufen sind. Naturlaute gehören der 
Außenwelt an, Sprachlaute der Innenwelt. Mit Ausnahme von einigen 
tierischen Stimmlauten, die wir einigermaßen nachzubilden vermögen, ver- 
halten wir uns den Naturlauten gegenüber passiv, den Sprachlauten gegen- 
über aktiv. Naturlaute verstehen wir unmittelbar; sie rufen Sachvorstellungen 
in uns wach, so wie sie auf uns eindringen. Diese Zauberkraft wohnt 
den konventionellen Sprachlauten nicht inne; sie sind vermittelnde Symbole, 
die als solche gelernt und verstanden werden müssen. Naturlaute 
sind relativ einfache und monotone akustische Signale, die uns nur wenig 
besagen und die im eigentlichen Sinne des Wortes nicht gelernt zu werden 
brauchen. Der Sperling schwadroniert überall in derselben Tonart, und 
überall wird er au seiner Stimme erkannt. Der einfache Satz aber: »Die 
Spatzen machen heute wieder einen Heidenlärm«, besagt demjenigen, der 
die deutsche Sprache nicht kennt, rein gar nichts. Stellt man aber diesen 
Satzklang jenen Schallgebilden gegenüber, an denen alle Menschen den 
Sperling erkennen, so gehören wahrlich keine physikalischen Kenntnisse 
dazu, um einzusehen und zu begreifen, daß hier jeder Vergleich so 
gut wie unmöglich ist. Für das Heulen des Windes, für das Bellen des 
Hundes und andere Naturlaute seiner Umgebung hat darum der Eskimo 
und der Südseeinsulaner das gleiche Verständnis wie der gebildete Europäer; 
die Worte »Sturmgebraus«e, »Hund« und »Hundegebell« versteht jedoch 
nur derjenige, der mit der deutschen Sprache vertraut ist. Zum Ver- 
ständnis der Sprache gehört demnach mehr als zum Verständnis von 
Naturlauten. Diese nüchterne Wahrheit findet die Zustimmung aller 
Sextaner, sie steht jedoch in Widerspruch zu einer herrschenden Lehre, 
und darum sind zur Klärung des Sachverhalts eingehendere Betrachtungen 
erforderlich. (Forts. folgt.) 


4. Zeitgeschichtliches. 


Die Teilnehmer an den pädagogischen Übungen des philosophischen Seminars 
der k. k. Universität Graz haben im Einverständnis mit Professor Dr. Martinak 
an Dr. Fr. W. Foerster in Zürich aus Anlaß des ihm zugefügten Unrechts, das 
ihn zur Niederlegung seiner Lehrämter bewog, eine Vertrauenskundgebung gerichtet. 

Eine »Faculte& internationale de pedologie«, begründet von Fräulein 
Dr. Ioteyko, wird im November in Brüssel eröffnet. Die Studiendauer ist auf 
3 Jahre berechnet. Das dritte Studienjahr soll den Vurbereitungen zur Erwerbung 
des »docteur en sciences pedologiques« dienen. 

In Wien werden vom Oktober 1912 an Fachkurse für Volkspflege für 
Frauen und Mädchen abgehalten. Dauer der Kurse: 2 Jahre. Zuschriften an: 
Ilse von Arlt, Sechshauserstraße 27, Wien XIV. 


Ein Ausbildungskursus für Jugendvereinsleiter findet Ende Sep- 
tember und Anfang Oktober in Hamburg statt. Anfragen an das Bureau für Jugend- 
wohl und Kinderschutz, Hamburg, Stadthausbrücke 11. 


Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 3 





34 B. Mitteilungen. 


Es sei nochmals hingewiesen auf den III. Deutschen Jugendgerichtstag, 
der vom 10.—12. Oktober in Frankfurt a. M. stattfindet. Von Referenten seien 
genannt: Foerster (Zürich), Freudenthal (Frankfurt), Graf Gleispach (Prag), 
Allmenröder (Frankfurt), Backhausen (Hannover). Anmeldungen und Zu- 
schriften an die Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge, Berlin C. 19, 
Wallstraße 89. 

Auf dem ersten internationalen Kongreß für christliche (katholische) 
Erziehung, der vom 8.—11. September 1912 in Wien tagte, sprach u. a. Seminar- 
Oberlehrer Habrich (Xanten) über Experiment und Spekulation in der pädagogi- 
schen Psychologie, Prof. P. Theodore Kost, S. V. D. (Mödling bei Wien) über 
das Bildungs- und Erziehungswesen der katholischen Missionen. 


Ein internationaler Kongreß für Neurologie, Psychiatrie und 
Psychologie findet 1914 in Bern statt. 

Für den nächsten Verbandstag des Verbandes der Hilfsschulen 
Deutschlands wurde vorläufig folgende Tagesordnung aufgestellt: in der Vor- 
versammlung werden erörtert »Die soziale Fürsorge für die schulentlassenen Hilfs- 
schüler«e und »Das Heimatprinzip im Hilfsschulunterricht« (anderweitige Thema- 
stellung vorbehalten), in der Hauptversammlung »Der erworbene jugendliche 
Schwachsinn«, » Wichtige Fragen der Hilfsschulorganisation« und »Maßnahmen für 
die Kinder, welche auch die Hilfsschule nicht ausreichend zu fördern vermag«. 


Der preußische Minister des Innern hat eine neue Verfügung über Für- 
sorgeerziehung erlassen (vom 19. Juni 1912), nach der die Einleitung der F.-E. 
nicht durch bereits vorliegende Verwahrlosung bedingt sein muß. Es braucht nur 
die Gefahr der Verwahrlosung vorzuliegen (z. B. verwerflicher Lebenswandel der 
Mutter usw.). Auch bei Kindern, die durch das Zusammenleben mit ihren sitten- 
losen oder verbrecherischen Eltern der Verwahrlosung ausgesetzt sind, kann die 
F.-E. eingeleitet werden, wenn besondere erziehliche Maßnahmen geboten erscheinen, 
wenn die armenrechtliche Unterbringung die Kinder dem schädlichen Einfluß der 
Eltern nicht entziehen würde und wenn bei über l4jährigen die Hilfsbedürftigkeit 
infolge der Erwerbsfähigkeit ausgeschlossen ist. Es wird noch besonders darauf 
hingewiesen, daß auf wirtschaftlicher Notlage der Eltern beruhender drohender 
Verwahrlosung in erster Linie durch ausreichende Unterstützung seitens der Armen- 
verwaltungen vorgebeugt werden soll. Wesentlichste Aufgabe des Eingreifens muß 
es immer bleiben, eine geordnete Erziehung herbeizuführen. 

Das österreichische Kultusministerium hat an alle Landesschulbehörden 
einen Erlaß betreffend die Unterweisung der Lehramtszöglinge über die 
Alkoholfrage gerichtet. Die Unterweisung hat in der Somatologie und in der 
Schulhygiene zu erfolgen. 

Nach einem von der russischen Duma angenommenen Gesetzentwurf soll in 
allen russischen Mittelschulen Antialkoholunterricht erteilt werden. 

Dem psychoneurologischen Institut in St. Petersburg ist ein Institut zum 
Studium des Alkoholismus angegliedert worden. 

Das Heilerziehungsheim der Deutschen Zentrale für Jugend- 
fürsorge in Templin (Mark) nimmt Knaben im Alter von 8 bis zu 15 Jahren 
gegen ein monatliches Pflegegeld (einschließlich Schulgeld) von voraussichtlich 
60 Mark auf. Freistellen sollen mit der Zeit nach Möglichkeit geschaffen werden. 
Der Aufnahme geht eine psychiatrische Untersucbung in Berlin voraus. An- 
meldungen mit Lebenslauf und Krankheitsbericht des Kindes sind zu richten an die 
Geschäftsstelle der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge, Berlin C. 19, Wallstr. 89. 


Ferienklassen, in denen die Kinder, die nicht in Ferienkolonien unter- 
gebracht sind, spielen oder spazieren gehen, sind in Genf eingerichtet. 

In Waldenburg (Schlesien) ist ein Nachtasyl für schwächliche 
Arbeiterkinder eingerichtet, denen es im Elternhause an gesunden Schlafräumen 
fehlt. Die Kinder erhalten zugleich Abendbrot und erstes warmes Frühstück. 

Von der städtischen Armenpflege ist in Nürnberg eine Kindergarten- 
schule im Armenhause begründet worden. 


4. Zeitgeschichtliches. 35 





Einen Schulausflug, bei dem Alkohol getrunken werden muß, soll man 
in einer Gemeinde nahe Pforzheim veranstalten. Wenigstens bewilligte der Ge- 
meinderat die Mittel dazu nur unter der Bedingung. nachdem zuvor ein Schulausflug 
ohne Alkoholgenuß stattgefunden hatte und sehr schön verlaufen war. Wann wird 
die Kunde von der Schädlichkeit jeglichen Alkoholgenusses für Kinder bis in diese 
entlegene Gegend gedrungen sein ? 


Als einzige Möglichkeit, das Übel des Kinematographenschundes an der 
Wurzel zu fassen, empfiehlt der preußische Minister des Innern, von Dailwitz, 
Jugendliche ausschließlich zu besonderen Jugendvorstellungen zuzulassen, ihnen aber 
den Besuch von sonstigen Vorstellungen in Begleitung Erwachsener usw. in keinem 
Falle zu gestatten. 


In Hagen i. W. soll im Oktober ein Reformkino gegründet werden. Ein 
Verein für wissenschaftliche und unterhaltende Kinematographie hat die Sache in 
die Hand genommen; Kirchen- und Schulbehörden bringen dem Unternehmen ihr 
Interesse entgegen. 

Die Gemeindevertretung von Eickel (Ruhrkohlenrevier) beschloß einstimmig, 
ein Kinematographentheater einzurichten und zu betreiben, um so erfolgreich 
gegen den Kinoschund und -schmutz zu wirken. 


Aus Anlaß des Festes des 100jährigen Bestehens der Firma Krupp in Essen 
wurden Stiftungen in Höhe von 14 Millionen Mark ins Leben gerufen. Es be- 
finden sich darunter 500000 Mark zur Erleichterung der Unterbringung von Frauen 
und Kindern in den Kruppschen Kranken- und Erholungshäusern. 500000 Mark 
für die Stadt für allgemeine Wohlfahrtszwecke, wobei an die Schaffung eines 
größeren Sport- und Spielplatzes für die Essener Jugend gedacht ist (doch 
kann die Stadt auch andere Vorschläge machen!), die Zinsen von 500000 Mark, um 
Essener Bürgern, insbesondere auch ihren Frauen und Kindern, die Aufnahme in 
die städtischen Krankenhäuser durch Gewährung von Freibetten und auf andere 
Weise zu erleichtern. 

Stiftungen, Geschenke usw.: Für kranke Kinder der Stadt Würzburg 
100000 Mark; für die Kleinkinderschule in Eltville 25000 Mark; für kranke und 
erholungsbedürftige Kinder unbemittelter Eltern in Mülheim 10000 Mark; die 
gleiche Summe für den gleichen Zweck in Parchim; je 1000 Mark für eine Milch- 
spende und für die Kleinkinderbewahranstalt in Freiberg; aus Anlaß des Kaiser- 
besuches in Dresden planen die städtischen Kollegien die Stiftung eines Fonds von 
50000 Mark, der jährlich um 30000 Mark erhöht werden und außer für die Ver- 
besserung der Wohnungsverhältnisse für die Einrichtung von Spielwiesen dienen soll. 


Der Verein abstinenter Philologen deutscher Zunge hat einen Schriftenzettel 
über Veröffentlichungen zur Frage »Alkohol und Jugend« neu heraus- 
gegeben. Er kann bezogen werden vom Schriftführer des Vereins: Professor Dr. 
R. Ponickau, Leipzig-Gohlis, Cöthenerstraße 52. 


Im Verlage von Carl Marhold in Halle a. S. erschien aus Anlaß des All- 
gemeinen Fürsorgeerziehungstages in Dresden (23.—25. Juni 1912) eine ausführliche 
Darstellung der »Deutschen Fürsorgeerziehungsanstalten«e. Der erste Band 
umfaßt 725 Seiten mit 732 Abbildungen, Plänen und Grundrissen und kostet in 
Halbfranz gebunden 30 Mark. Herausgegeben wird das verdienstvolle Werk von 
Direktor Pastor Seiffert in Straußberg. 

In unserer Sammlung »Beiträge zur Kinderforschung und Heil- 
erziehung« (Langensalza, Hermann Beyer & Söhne [Beyer & Mann]) sind in 
letzter Zeit u. a. folgende Hefte erschienen: Ludwig Singer, Geschichte der 
österreichischen Schulreform (26 S., 40 Pf.); Marx Lobsien, Über den 
Einfluß des Antikenotoxin auf die Hauptkomponenten der Arbeits- 
kurve (28 Seiten, 45 Pf.); Richard Schauer, Beobachtungen über die 
typischen Einwirkungen des Alkoholismus auf unsere Schüler (27 S., 
45 Pf.); G. Anton, Über die Formen der krankhaften moralischen Ab- 
artung (18 S., 30 Pf.); Adolphe Ferrière, Biogenetik und Arbeitsschule 
(72 8., 1,60 M). 

3* 


36 C. Zeitschriftenschau. 





Die Zeitschrift für Lichtbilderei und Kinematographie »Bild und Film« 
(Verlag der Lichtbilderei G. m. b. H. in M. Gladbach), die sich in kurzer Zeit durch 
ihr energisches Eintreten für eine Kinoreform große Sympathie erworben hat, 
wird vom 1. Oktober an monatlich erscheinen. Schon um der dadurch erreichten 
schnelleren Berichterstattung willen (z. B. über die Filmzensur) ist das aufs leb- 
hafteste zu begrüßen. 

Die Herausgeber und der Verlag (B. G. Teubner) des »Säemann« haben ähn- 
lich unseren »Beiträgen zur Kinderforschung und Heilerziehung« zur Publikation 
größerer Beiträge eine Sammlung von »Säemann-Schriften« ins Leben gerufen. 
Es erschienen bisher: Kosog, Unsere Rechtschreibung und die Notwendigkeit ihrer 
Reform; Potpeschnigg, Aus der Kindheit bildender Kunst; Reichhold, Archi- 
tektur und Kunsterziehung. 

Der Vortrag von Dr. Mönkemöller über die Psychopathologie der 
Pubertätszeit, der am 24. Juni 1912 auf dem allgemeinen deutschen Fürsorge- 
erziehungstag gehalten wurde und dort großen Anklang fand, erscheint außer als 
Abhandlung in diesem Heft gleichzeitig auch als Heft 104 der »Beiträge z. Kinder- 
forschung und Heilerziehunge im Verlage von Hermann Beyer & Söhne (Beyer 
& Mann) in Langensalza. 29 S. Preis 50 Pf. 

Druckfehler-Berichtigung: Auf Seite 542 und entsprechend vorn im 
Inhaltsverzeichnis sowie im Inhaltsverzeichnis des ganzen Jahrgangs XVII der 
»Zeitschrift für Kinderforschung«, S. VII, ist der Name des Oberarztes der Alster- 
dorfer Anstalten bei Hamburg, Dr. med. H. G. W. Kellner, versehentlich falsch 
gedruckt. Es muß heißen Kellner anstatt Keller. 








C. Zeitschriftenschau. 


I. Psychologie. 
1. Ergebnisse der Beobachtungspsychologie. 

Nieden, Kinderseelenkunde — Kinderpsychologie. Ihr Wesen, ihre Bedeutung 
und ihre Erkenntnisquellen. Deutsche Blätter für erziehenden Unterricht. 39, 41 
(5. Juli 1912), S. 409—412; 42 (12. Juli), S. 417—420. 

Einige allgemeine Betrachtungen, die sich zum Teil gegen Übertreibungen und 
Einseitigkeiten wenden. Sie betreffen zum Teil die Ausbildung der Kindergärtnerinnen. 
(Verschiedentlich lassen sich Bedenken nicht unterdrücken.) 

Queck-Wilker, Hanna, Ein erstes Lebensjahr. Deutsche Elternzeitschrift. III, 7 
(1. April 1912), S. 105—109; 8 (1. Mai), S. 127—129; 9 (1. Juni), S. 141—144; 
10 (1. Juli), S. 157—160; 11 (1. August), S. 173—176; 12 (1. Sept.), S. 189—192. 

Beobachtungen an einem Kinde nach Tagebuchaufzeichnungen. Nach Monaten 
angeordnet. Mit zahlreichen Abbildungen nach photographischen Aufnahmen. 


2. Ergebnisse der Pathopsychologie und Psychopathologie. 
Major, Gustav, Die Psyche der jugendlichen Verbrecher. Wissenschaftliche 
Rundschau. 1912, 21 (1. August), S. 425—430; 22 (15. August), S. 445—452. 
Im wesentlichen Mitteilung von zum Teil bereits früher veröffentlichten Kranken- 
geschichten, die ziemlich zusammenhanglos aneinandergereiht sind. 
Briefe über den Geruchssinn der Taubblinden. Evs. 8, 2 (April 1912), S. 121—128. 
Briefe von Wilhelm Wade, Frau E. M. Barrett, Helen Keller und einer Taub- 
stummenlehrerin, die die Ausbildung des Geruchssinns bei manchen Menschen, 
namentlich den Taubblinden, behandeln. 


C. Zeitschriftenschau. 37 





II. Anormalenpädagogik. 
1. Tatsachen. 
Bratz, Was kann Erziehung gegen ererbte Anlagen erreichen? Zeitschrift für 
Schulgesundheitspflege. 25, 7 (Juli 1912), S. 510—527. 

Zum Teil auf eigene Beobachtungen und Untersuchungen gestützt. — Die er- 
erbte Geistesverfassung des Menschen stellt sich als ein Mosaik dar, in das die Einzel- 
teile aus den Erbmassen der Ahnen teils als kleinste Elementarstückchen, teils als 
größere synthetische Komplexe im Erbgange auf verschlungenen Wegen gelangt 
sind. Die Erziehung ist für die geistige Entwicklung durchaus nicht wirkungslos. 
Bei eingehendster Berücksichtigung der Ergebnisse moderner Erblichkeitsforschung 
erweist sich eine Erziehung gegen ererbte Anlagen doch als sehr wohl erreichbar. 
Schott, Psychiatrie und Fürsorgeerziehung in Württemberg. Allgemeine Zeitschrift 

für Psychiatrie. 69, 1912, 4. 

Unter 80 Zöglingen der Rettungsanstalt Schönbühl fand sich erbliche Belastung 
bei 48°/,. Trunksucht der Eltern lag bei 42°/,, der Umgebung bei 650/9 vor. 
60—70°/, waren Psychopathen, etwa 40°), minderbegabt. — Der Verfasser fordert: 
psychiatrische Untersuchung und dauernde Kontrolle des Zöglingsmaterials, psychia- 
trische Kurse für die Erzieher, kriminalistische Kurse für Juristen, Anstaltsleiter 
und Amtsärzte, Einrichtung von Beobachtungsstationen unter psychiatrischer Leitung. 
Büttner, Georg, Über wortblinde Kinder. Neue Bahnen. 23, 10 (Juli 1912), 

S. 457—462. 

Im wesentlichen nur Referat über Warburgs Arbeit in der »Zeitschrift für 
Kinderforschung«, Jg. VI, 4 (Januar 1911), 8. 97—113, ohne daß das aus der Arbeit 
deutlich hervorgeht. 

Treiber, P., Orthographie und Veranlagung bei anormalen Kindern. Zeitschrift 
für die Behandlung Schwachsinniger. 32, 7 (Juli 1912), S. 125—131. 

Glaubt, durch Wiedergabe einiger Diktate und Briefproben sprachkranker 
Kinder dargetan zu haben, wie eng die Rechtschreibung mit den Anlagen eines 
Menschen zusammenhängt. 

Marcus, Kollman, Orthopädische Fürsorge für Kinder. Archiv für Orthopädie. 
X1, 2/3. 

Die Bezeichnung soll den Ausdruck Krüppelfürsorge ersetzen. Die Aufgaben 
der Fürsorge werden gekennzeichnet, wobei mehr Wert auf ambulante Behandlung 
als auf Behandlung in Krüppelheimen gelegt wird. In Posen ist die Fürsorge vor- 
züglich organisiert; sie wird als Muster für andere Städte dargestellt. 

Astrand, Gustav, Das Blindenwesen in Schweden. Eos. 8, 2 (April 1912), 
8. 108—118. 

In Schweden kamen 1900 6,7 Blinde auf 10000 Einwohner (ständige Abnahme). 
Die Fürsorge begann vor 100 Jahren und erfolgte wie in den anderen germanischen 
Ländern. — Die Arbeit enthält zahlreiche wertvolle Daten. 

Büttner, Georg, Schwachbegabte an höheren Schulen. Eos. 8, 2 (April 1912), 
S. 128—137. 

Besprechung der Tatsachen an der Hand der vorhandenen Literatur. 

Major, Gustav, Psychopathen. Neue Bahnen. 23, 11 (August 1912), S. 521—525. 

Die Definition für psychopathisch veranlagte Kinder ist mißglückt. Der Ver- 
fasser hält sich auch gar nicht streng an sie. Er betont, daß für Psychopathen 
eigene Heilerziehungsheime nötig seien. Er regt an, Material über Psychopathen 


38 C. Zeitschriftenschau. 





in den Schulen aufzustellen, das er zu sammeln und zu einer Denkschrift zu be- 
arbeiten bereit sei (ob Major dazu die geeignete Person ist, läßt sich nach dem von 
Rössel geführten Beweis seines Plagiates von Ziehen u. a. wohl stark bezweifeln). 
Auch erklärt sich Major bereit, seine »Gedanken und Erfahrungen zur Verfügung 
zu stellene. Das ganze ist aber noch sehr unklar. Ein Ausfall gegen die Schul- 
ärzte ist vollkommen deplaziert. Mit welchem Recht darf Major S. 523 schreiben : 
>In meiner Anstalt, die ich früher in Berlin leitete ....«? Unseres Wissens war 
er nur einige Zeit Direktor des Erziehungsheims Kinderschutz in Zehlendorf, das 
ihm kaum gehört haben kann. Gegen derartige Ungenauigkeiten, wie sie sich öfter 
bei Major finden, und gegen die seltsamen Überhebungen in diesem Aufsatz muß 
aufs schärfste protestiert werden. 

Porada, Warum erreichen die Erziehungsanstalten für Schwachsinnige nicht immer 
ihren Zweck? Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger. 32, 7 (Juli 1912), 
S. 131—134. 

Besprechung einiger Mißstände, besonders in der Vorbildung der Heilerzieher 
und des Pflegepersonals. 


2. Konsequenzen. 


Major, Gustav, Zur Prophylaxe des jugendlichen Schwachsinns. Die Gesundheits- 
warte. X, 5, S. 110—116; 6, S. 133—146; 7, S. 160—165. 

Zusammenstellung der Ursachen (lückenhaft; ohne Quellenangaben). Angaben 
prophylaktischer Maßnahmen (viele Irrtümer und Ungenauigkeiten: die Vasektomie 
ist dem Autor ganz unbekannt; die Alkoholfrage ist ihm nur lückenhaft. die Arbeit 
der Abstinenten, nicht der Abstinenzler, kaum bekannt usw.; dazu finden sich ganz 
unglaubliche Druckfehler und Satzungeheuer). 

Büttner, Georg, Vom Formen in der Hilfsschule. Eos. 8, 1 (Jänner 1912), 
S. 51—53. 

Sucht kurz darzulegen, daß das Formen für die Hilfsschulen besonders ge- 
eignet ist. 

Friedl, Josef, Der Sprach- und insbesondere der Sprechunterricht bei Taub- 
stummen. Eos. 8, 1 (Jänner 1912), S. 45—50. 

An den geringen Sprecherfolgen der taubstummen Kinder trägt die Organisation 
der Anstalten und Internate die Schuld. Zur Förderung des Sprecherfolgs werden 
zehn Grundsätze aufgestellt. 

Heidsiek, J., Ausgangspunkte und Abc-Fragen der Taubstummenbildung. Blätter 
für Taubstummenbildung. 25, 7 (1. April 1912), S. 97—100; 9 (1. Mai), S. 129 
bis 132; 12 (15. Juni), S. 180—184. 

Untersucht den Begriff der Taubstummheit, die Stellung des Taubstummen 
und das Sprachproblem im allgemeinen, die sprachliche Sonderstellung des Taub- 
stummen (gegen das Sinnenvikariat). 

Schneider, M., Methode und Erfolg. Blätter für Taubstummenbildung. XXV, 9 
(1. Mai 1912), S. 137—139; 10 (15. Mai), S. 149—153; 11 (1. Juni), S. 162—166. 

Beschäftigt sich im wesentlichen mit der neuesten Schrift Vatters über »die 
reine Lautsprachmethode« und verteidigt seine eigene Methode gegen diesen. 


3. Erfolge. 


Pralle, Heinrich, Unter Sorgenkindern. Neue Bahnen. 23, 10 (Juli 1912), 
S. 462—467. 


C. Zeitschriftenschau. 39 





Bericht über den Handfertigkeitsunterricht im Hamburger Seehospital (mit 4 Ab- 
bildungen). Die Handarbeit will in erster Linie der Beschäftigung dienen, weniger 
ausgesprochen pädagogischen Zielen. 

Clemenz, Ein neues Anstaltsgebäude der Alsterdorfer Anstalten. Zeitschrift für 
die Erforschung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns.. V, 3—5, 
S. 254—262. 

Die gesamten Kosten für Bau und Einrichtung betragen 200000 M (1540 M 
pro Pflegling). Als neue Einrichtung finden sich Rampenbauten an der Außenseite 
des Hauses, die z. B. bei Feuer für die schnelle Entfernung der Patienten sehr 
wertvoll werden können. Beachtenswert für Kinderheime u. ä. 

Meltzer, Zur Weihe der Königlichen Landesanstalt Großhennersdorf am 5. No- 
vember 1911. Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger. 32, 5 (Mai 1912), 
S. 99—106. 

Kennzeichnet die Aufgaben dieser Anstalt, die für bilduugsunfähige schwach- 
sinnige und geisteskranke Kinder bestimmt ist. 

Jacobi, Eugenie, Krüppelpflege im Oberlinhaus in Nowawes. Eos. 8, 1 (Jänner 
1912), S. 43—45. 

Ganz kurzer Bericht, der über die hauptsächlichsten Einrichtungen orientiert. 
Roller, Karl, Die Schulen des London County Council. Neue Bahnen. 23, 10 

(Juli 1912), S. 450—457. 

Berücksichtigt auch die Freiluftschulen, die Blindenanstalten (für 300 Blinde), 
die Taubstummenanstalten (für 650 Taube), die 91 Hilfsschulen (für etwa 7000 Kinder), 
die 37 Krüppelschulen (für etwa 2700 Kinder). 

Schenk, Alwin, Die Fürsorge für die Geistesschwachen in den Vereinigten Staaten 
von Amerika. Eos. 8, 1 (Jänner 1912), 3. 33—43. 

Reisebericht. (Vergl. Zeitschrift für Kinderforschung, XVII, 1 ff.) 

Jacobi, Eugenie, Hamburgs Zentralbibliothek für Blinde. Deutsche Schulpraxis. 
32, 32 (11. August 1912), S. 254. 

Kurze Besprechung der Einrichtung mit Daten über Bücherbestand, aus- 
geliehene Werke usw. 

K., Die neue Provinzial-Taubstummenanstalt in Königsberg i. Pr. Blätter für Taub- 
stummenbildung. 25, 13/14 (1. Juli 1912), S. 219—222. 

Kurze Beschreibung der am 18. Oktober 1911 eröffneten Anstalt (mit 2 Ab- 
bildungen). 

Wagner, Georg, Ein Besuch der Leipziger Hilfsschule für Schwachbefähigte. 
Schul- und Kirchenbote. 47, 15/16 (1. August 1912), S. 245—247. 

Anerkennender Reisebericht, der auch einige Kindertypen schildert. 
Kirschenheuter, Franz, Ein Sportfest in der königlichen Landesblindenanstalt 

zu Budapest. Eos. 8, 2 (April 1912), S. 118—121. 

Bericht und Hinweis auf den großen Wert. 

Dreßler, Zur Neuordnung des Berliner Hilfsschulwesens. Die Hilfsschule. V, 5 
(Mai 1912), S. 125-131. 

Kritische Besprechung der einen Fortschritt bedeutenden Neuordnung vom 

Standpunkt des Berliner Hilfsschullehrers aus. 

Ehricke, A., Zur Methodik der Fortbildungskurse. Die Hilfsschule V, 5 (Mai 
1912), S. 131—135. 

Angaben über deu Kursus der Stadt Essen, der sich in mehrfacher Hinsicht 
von den bisherigen Kursen unterscheidet. 


40 C. Zeitschriftenschau. 


Büttner, Georg, Von der Gartenarbeit in der Hilfsschule. Zeitschrift für die Be- 
handlung Schwachsinniger. 32, 7 (Juli 1912), S. 134—143. 

Bespricht die verschiedenen Vorteile der Gartenarbeit, im wesentlichen sich 
stützend auf Urteile namhafter Autoren (Trüper, Wintermann, Raatz, Kielhorn, 
Bayerthal, Langermann, Dolch u. a.). 

Ziegler, K., Ist die elementare, objektiv beschreibende Aufsatzform in der Schwach- 
sinnigenschule unter allen Umständen zu verwerfen? Zeitschrift für die Behand- 
lung Schwachsinniger. 32, 4 (April 1912), S. 79—83; 5 (Mai), S. 85—94. 

An der Hand seiner Erfahrungen als Hauslehrer eines jetzt 17 Jahre alten 
schwachbegabten Jungen, die eingehend dargestellt werden, kommt Verfasser zu der 
Ansicht, daß man die elementaren objektiv beschreibenden Darstellungsübungen nicht 
unbedingt ablehnen soll. Vielfach ist ohne sie gar nicht auszukommen. 

Ziegler, K., Über einen Fall sehr geringer Rechenfähigkeit. Die Hilfsschule. V, 7 
(Juli 1912), S. 181—192. 

Zeigt, daß es auch bei der hochgradigsten Rechenunfähigkeit noch Möglich- 
keiten zu rechnerischer Beschäftigung gibt. Namentlich läßt sich mit dem mechani- 
schen Zählverfahren in hoffnungslosen Fällen noch manches erreichen. 

Albrecht, Werkunterricht im Rechnen. Die Hilfsschule. V, 7 (Juli 1912), 
S. 192—194. 

Beispiel für werkunterrichtliche Darstellung der »6« in der Hilfsschule. 
Wendig, Otto, Beobachtungen und Erfahrungen in einer D-Klasse. Blätter für 

Taubstummenbildung. XXV, 11 (1. Juni 1912), S. 166—170; 12 (15. Juni), 
S. 177—179. 

Die Abteilung zählte 11 Kinder, die für gewöhnlich als schwachbefähigt be- 
zeichnet werden. Mit seiner Uuterrichtsmethode erzielte der Verfasser schöne Er- 
folge. Er hofft, seiner Klasse eine Lautsprache zu schaffen, die den Verkehr von 
Mund zu Mund gestattet. 

Querll, W., Der Erfolg ist ein Beweis. Blätter für Taubstummenbildung. 25, 13/14 
(1. Juli 1912), S. 215—219. 

Unterrichtsresultat einer Artikulationsklasse von 12 gut begabten Schülern 
1911/1912. Am Ende des ersten Schuljahrs verstanden die Kinder durchschnittlich 
558 Worte, sie gebrauchten sicher 280 Worte. 

Sanders, Luzie M., Wie meine Kinder erzogen wurden. Eos. 8, 1 (Jänner 
1912), S. 20—24. 

Aus »The Association Review«. — Einfacher Bericht einer tauben Mutter über 
die Erziehung ihrer beiden tauben Töchter. Überraschende Erziehungserfolge 
wurden erzielt. 

Rothfeld, Städtische Fürsorge auf dem Gebiete orthopädischen Turnunterrichts. 
Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 25, 5 (Mai 1912), S. 350—354. 

Daten aus einem zusammenfassenden Bericht in den Mitteilungen der Zentral- 
stelle des deutschen Städtetages. Die Erfolge werden überall als zufriedenstellend, 
zum Teil sogar als günstig bezeichnet. 

Klotz, Rudolf, Zur Ätiologie der Rachitis, auf Grund ihrer therapeutischen Be- 
einflussung durch Hypophysenmedikation. Münchener Med. Wochenschrift. 59, 21 
(21. Mai 1912), S. 1145—1148. 

Mit Hypophysenchrombehandlung wurden überraschende Erfolge erzielt (in 
5 bis 6 Wochen). Das therapeutische Resultat läßt die Annahme berechtigt er- 
scheinen, daß es sich bei der Rachitis um Störungen im Phosphorstoffwechsel (nicht 
im Kalkstoffwechsel) handelt, 


C. Zeitschriftenschau. 41 





Katscher, Leopold, Die Linkskulturbewegung. Wissenschaftliche Rundschau. 
1912, 22 (15. August 1912), S. 456—457. 

Ganz kurze Darstellung der Frage und Würdigung ihrer Bedeutung. 

Meyer, H. Th. Matth., Der Kongreß für Rassenhygiene. Der Säemann. 1912, 5 
(Mai), S. 221—223. 

Ders., Der zweite Kongreß für Familienforschung, Vererbungs- und Regenerations- 
lehre am 11., 12. und 13. April 1912 zu Gießen. Zeitschrift für Schulgesundheits- 
pflege. 25, 6 (Juni 1912), S. 444—447. 

Kurze Berichte über pädagogisch wichtige Vorträge und Mitteilung der andern 
verhandelten Themata (verschiedene störende Fehler!). 

Lourie, A., Stoffwechselversuche und Therapie bei der mongoloiden Idiotie. Zeit- 
schrift für die Behandlung Schwachsinniger. 32, 5 (Mai 1912), S. 94—99. 

Vorzügliche Erfolge mit Cal. phosph., bezw. Cal. glycer. phosph. Therapie. 
Beschreibung von vier Fällen. (Vorläufige Mitteilung.) 

Sauer, Versammlung des Vereins preußischer Taubstummenlehrer zu Würzburg. 
Blätter für Taubstummenbildung. 25, 16 (15. August 1912), S. 242—246. 

Kurzer Bericht. 

Eltes, Matthias, Dr. v. Näray-Szabö. Eos. 8, 1 (Jänner 1912), S. 30—32. 

Zur Feier seines 25jährigen Dienstjubiläums werden seine Verdienste um die 
ungarische Heilpädagogik gewürdigt. 

Schumann, Paul, Samuel Heinicke über die Denkart der Blinden. Eos. 8, 1 
(Jänner 1912), S. 25—30. 

Entnommen aus den »Gesammelten Schriften Samuel Heinickes«. Geschicht- 
licher Beitrag. 

Kirmsse, Max, Josef May und die Anwendung der Lautsprache im k. k. Taub- 
stummeninstitut zu Wien. Eos. 8, 1 (Jänner 1912), S. 1—11. 

Beitrag zur Geschichte der österreichischen Taubstummenbildung. Es werden 
in ihr vier Epochen unterschieden: 1779—1792 die französische Methode dominiert 
(Gebärdensprache); 1792—1819 die deutsche (Lautsprache); 1819—1867 die ge- 
mischte (Gebärden- und Lautsprache, gegründet auf die Schriftsprache); 1867 bis 
zur Gegenwart die reine Lautsprachmethode. 

Schumann, Paul, Frankfurt und Leipzig. Eos. 8, 1 (Jänner 1912), 8. 11—20. 

Weist an der Hand von Briefen Kosels nach, daß dieser die Frankfurter An- 
stalt nach dem Vorbild der Leipziger gründete und auch durchaus nach der Leipziger 
Methode verfuhr (kontraktliche Bindung). 

Wegwitz, Franz, Zu Johann Friedrich Jenckes 100. Geburtstag, den 27. Juni 
1912. Blätter für Taubstummenbildung. 25, 13/14 (1. Juli 1912), S. 194—196. 

Wollermann, E., Was Sicard von seinem Meister de l'Epée sagt. (Übersetzung 
aus Cours d'instruction d'un sourd-muet von Sicard). Ebenda. S. 210—214. 

Beides Beiträge zur Geschichte des Taubstummenw esens. 


Ill. Kinderschutz und Jugendfürsorge. 
1. Tatsachen. 
Frauen- und Kinderarbeit, Zeitschrift für Jugenderziehung. II, 23 (15. August 
1912), S. 713—715. 
Kurzer Auszug aus dem vom schweizerischen Industriedepartement veröffent- 
lichten Bericht der eidgenössischen Fabrik- und Bergwerkinspektoren für 1910 und 
1911. Ohne zusammenfassende Daten. 


42 C. Zeitschriftenschau. 





Rambousek, Kinderarbeit in der Haarnetz-Hausindustrie. Zeitschrift für Kinder- 
schutz und Jugendfürsorge. IV, 5 (Mai 1912), S. 155—156. 

Im Prager Handelskammersprengel sind in dieser Industrie etwa 10000 schul- 
pflichtige und 2000 vorschulpflichtige Kinder beschäftigt. Oft Arbeit bis in die 
Nacht hinein; Wachhalten der Kinder durch starke Alkoholika, Kaffee usw. Die 
ganze in Betracht kommende Volksklasse der betreffenden Territorieu ist in geistiger 
und körperlicher Beziehung in der Entwicklung gehemmt. — Angestrebt muß werden: 
schulärztliche Aufsicht der arbeitenden Kinder; Garantieren eines regelmäßigen 
Schulbesuchs; Hebung der wirtschaftlichen Lage. 


Zizek, F., Die Kinderarbeit in Österreich. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugend- 
fürsorge. IV, 5 (Mai 1912), S. 157. 
Kurze Wiedergabe der wichtigsten Zahlen. 
Roggenburg, Kinderschutz und Lehrerschaft. Zeitschrift für Kinderschutz und 
Jugendfürsorge. IV, 5 (Mai 1912), S. 164—165. 
Führt drei Beispiele vor, die anregen sollen, wichtigen Fällen so lange nach- 
zugehen, bis ein Erfolg erzielt ist. 


2. Massnahmen. 


Matthias, A., Erziehung und Märchenlesen. Deutsche Elternzeitschrift. III, 8 
(1. Mai 1912), S. 125—127. 

Die Märchen gehören nur in gesunde Häuser. Für kranke und nervöse Kinder 
eignen sie sich nicht. 

Stülpnagel, Ein Wort zur Jugendpflege. Der Tag. Nr. 141 (19. Juni 1912). 

Vermißt ausreichende Unterstützung der Ferienkolonien und ähnlicher Einrich- 
tungen bei der Jugendpflege. Die Gemeinden sollten für die Großstadtkinder Garten- 
land zu eigener Betätigung beschaffen. 

Brunner, Karl, Die dramatische Kunst des Kinematographen. Zeitschrift des 
deutsch-evangelischen Vereins zur Forderung der Sittlichkeit. 26, 6 (15. Juni 
1912), S. 41—42. 

Spricht den Kino-Dramen jede Berechtigung ab. 


Samuleit, P., Die Kino-Frage vor der Deutschen Lehrerschaft. Volksbildung, 
1912, 12. Deutsche Blätter für erziehenden Unterricht. 39, 44 (23. Juli 1912), 
S. 441—442. 

Bericht über die Erörterungen dieses Problems auf der Berliner Pfingsttagung 
des Deutschen Lehrervereins. i 
Zieting, Gedanken zu dem Verbandsthema »Soziale Fürsorge für die aus der Hilfs- 

schule Entlassenen«. Die Hilfsschule. V, 4 (April 1912), S. 103—105. 

Einige Bemerkungen allgemeiner Art und Wiedergabe eines Fragebogens, den 
der Hilfsschulverband der Provinz Brandenburg seinen Mitgliedern im Hinblick auf 
das Verbandsthema übersandt hat. 

Achinger, C., Haus- und Klasseniektüre. Evangelisches Schulblatt. 56, 6 (Juni 
1912), S. 254—274. 

Wichtig als Beitrag zum Kampf gegen die Schundliteratur. 

Bergold, Fr., Woher sollen die Rettungshäuser die erforderlichen Geldmittel 
nehmen? Der Rettungshaus-Bote. 32, 9 (Juni 1912), S. 197—202. 

Eine großzügige Agitation soll das Publikum für die Rettungshäuser gewinnen. 
Wie das einzuleiten ist, wird angedeutet. 


C. Zeitschriftenschau. 43 





Rother, Wie kann der Fürsorger die Pflegeeltern beeinflussen? Der Rettungs- 
haus-Bote. 32, 9 (Juni 1912), S. 208—210; 10 (Juli), S. 220—222. 

Anweisungen zur Beeinflussung der Pflegeeltern. 

Negenborn, Schularzt und Aushebung. Der Tag. Nr. 154 (4. Juli 1912). 

Tritt ein für Nachahmung der schweizerischen Rekrutenprüfung, um so un- 
brauchbare Elemente vom Heere fernzuhalten. 

Schultze, Ernst, Der Lebensnery der Volksbibliotheken. Zeitschrift für Philo- 
sophie und Pädagogik. 19, 8 (Mai 1912), S. 332—339. 

Der eigentliche Lebensnerv ist die Bücherauswabl. Einige allgemeine Ge- 
danken darüber. 

Silbernagel, Alfred, Internationale Jugendfürsorge. Zeitschrift für Jugend- 
erziehung. 2, 17 (15. Mai 1912), S. 518—525. 

Kurzer Überblick über die bisher in dieser Angelegenheit getanen Schritte. 
Umschreibung des Aufgabenkreises. Andeutung der Organisation. 

Ludin, Alfred, Wie gewinnt man das Volk für gute Literatur? Zusammenfassungen 
und Vorschläge. Zeitschrift für Jugenderziehung. 2, 17 (15. Mai 1912), S. 525 
bis 530; 18 (1. Juni), S. 565—569. 

Übersichtliche Darstellung von Vorschlägen betreffend Ausstattung und Ver- 
trieb von Lesestoff, Vorschläge zur Erziehung zu guter Literatur durch Schule und 
Haus. Befürwortet wird der Zusammenschluß aller in Betracht kommenden Faktoren. 
Hättenschwiller, A.. Die Berufswahl im Mittelstande. Zeitschrift für Jugend- 

erziehung. 2, 19 (15. Juni 1912), S. 581—586; 20 (1. Juli), S. 617—622. 

Weist hin auf die vielen Schwierigkeiten und auf die daraus erwachsenden Auf- 
gaben. Insbesondere muß die Jugendfürsorge sorgen, daß der Zustrom zu den un- 
gelernten Berufen aufhört. Angabe guter Literatur zu dieser Frage. 

Presler, O., Berufswahl. Der Säemann. 1912, 6 (7. Juni 1912), S. 266—272. 

Weist nachdrücklich hin auf die dem Staat erwachsenden Aufgaben bei der 
Organisation der Berufswahlbeihilfe. 

Lazar, Erwin, Ärztliche Probleme in der Fürsorgeerziehung. Zeitschrift für 
Kinderschutz und Jugendfürsorge. IV, 5 (Mai 1912), S. 150—155. — Heilpäda- 
gogische Schul- und Elternzeitung. III, 4 (April 1912), S. 67—73; 7 u. 8 (Juli- 
August), S. 125—128. 

Beide Arbeiten stimmen bis auf geringfügige stilistische Abweichungen überein. 
Erörtert, wann und wie der Arzt in die F.-E. eingreifen soll, zum Teil an einzelnen 
Fällen aus der Praxis. Das wichtigste Moment für Anwendung der F.-E. ist im 
psychischen Zustand des Kindes zu suchen. Zur Untersuchung ist ein gründlich 
psychiatrisch geschulter Arzt nötig. Anweisungen über Aufgaben und Tätigkeit des 
Arztes in der F.-E. 

Tews, J., Kinderlesezimmer. Deutsche Blätter für erziehenden Unterricht. 39, 38 
(14. Juni 1912), 3. 388—389. 

Aus »Volksbildung«, Jg. 42, 10. — In der Kinderlesehalle soll das Kind finden, 
was es in der Regel an anderer Stelle nicht finden kann (alle möglichen Hilfsmittel 
zum Nachschlagen usw.). 


3. Erfolge. 
Tormann, Franz, Jugendwandern in Verbindung mit militärischen Übungen. 
Deutsche Schulpraxis. 32, 18 (5. Mai 1912), S. 142—143. 
Bericht über eine längere Wanderfahrt (2 Tage) mit Volksschülern. 


44 C. Zeitschriftenschau. 





Wilker, Karl, Hat die Fürsorgeerziehung in Preußen Erfolge oder nicht? Evan- 
gelisches Schulblatt. 56, 5 (Mai 1912), S. 217—224. 
Auf Grund zahlreichen Zahlenmaterials, das in einer Statistik des preußischen 
Ministeriums des Innern niedergelegt ist, muß man zu der Ansicht gelangen, daß 
die F.-E. nicht so erfolglos ist, wie oft angenommen wird. 


Katscher, Leopold, Fortschritte der Jugendgärtnerei. Zeitschrift für Jugend- 
erziehung. 2, 16 (1. Mai 1912), S. 494—497. 
Kurzer Überblick über die bisherige Entwicklung. 
Hepp, J., Aus der Praxis der Schülergärten. Ebenda. S. 497—499. 
Bericht über die Züricher Schülergärten. 
P., Jugendgerichtstag in Winterthur. Zeitschrift für Jugenderziehung. 2, 18 
(1. Juni 1912), S. 557—564. 
Kurzer Bericht, hauptsächlich aus den Thesen bestehend. 


Katscher, Leopold, Eine Jugendgerichtskonferenz. Zeitschrift für Jugend- 
erziehung. 2, 20 (1. Juli 1912). S. 622—625. 

Kurzer bemerkenswerter Bericht über eine im Frühjahr 1912 in London ver- 
anstaltete Konferenz. Die Versammlung beschloß, der Regierung eine Denkschrift 
zu überreichen, in der die Notwendigkeit besonderer Jugendrichter in den Groß- 
städten, besonderer Jugendgerichtsgebäude und Verwahrungsheime gefordert werden 
soll. Sie war ferner der Ansicht, daß Fälle von Überfällen Erwachsener auf Kinder 
unter 16 Jahren vor dem Jugendgericht in Gegenwart der Mutter des Kinder ver- 
handelt werden sollten. 

Gaßmann, E., Schweizerischer Jugendgerichtstag in Winterthur. Schweiz. Blätter 
für Schulgesundheitspflege. X, 6 (Juni 1912), S. 81—87; 7 (Juli), S. 97—102. 

Eingehender Bericht. 

Ullmann, H., Die Jugend und die Parteien. Der Säemann. 5 (Mai 1912), S. 198. 
bis 202. 
Weist hin auf die Gefahren einer parteipolitischen Jugendpflege, die uns droht.. 


Vidal, Überwindung der Stillhindernisse durch die Mutterberatungsstellen. Münch. 
Med. Wochenschrift. 59, 24 (11. Juni 1912), S. 1327—1329. 

Die Mutterberatungsstellen müssen sich auch mit anscheinenden Kleinigkeiten 
befassen. Aus der beigefügten Tabelle ergibt sich, daß es möglich ist, bei richtiger 
Beaufsichtigung der Kinder »die Säuglingssterblichkeit auf ein praktisch ganz be- 
deutungsloses Maß zu reduzieren«. 


Herzfelder, Henriette, Das Recht des unehelichen Kindes im neuen schweize- 
rischen Zivilgesetzbuch. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. IV, 
5 (Mai 1912), S. 137—142. 

Besprechung des wichtigen am 1. Januar 1912 in Kraft getretenen Gesetzes- 

vom Jahre 1907. 

Enquete, betreffend die Regelung des Kinematographenwesens. Zeitschrift f. Kinder- 
schutz und Jugendfürsorge. 1V, 5 (Mai 1912), S. 160—163. 

Bericht über vom Ministerium des Innern in Wien im April 1912 veranlaßte 

Verhandlungen. 

Galli, Briefe aus Italien. Münch. Med. Wochenschrift. 59, 30 (23. Juli 1912), 
S. 1681—1682. 

Enthält beachtenswerte Notizen über neue städtische Einrichtungen zum Schutze 
der Jugend in Rom. (Säuglingsheim, städtische Kindergärten, Kinderklubs, Freiluft- 


C. Zeitschriftenschau. 45 





schulen, Ferienkolonien.) Es ist in Rom in wenigen Jahren ein wohlgefügter 

Komplex von Jugendfürsorgeinstitutionen entstanden. 

Koebner, Franz, Das Wandermuseum der Zentrale für Säuglingsfürsorge in 
Bayern. Münch. Med. Wochenschrift. 59, 33 (13. August 1912), S. 1814—1815. 

Übersicht über die einzelnen Gruppen des jüngst der Öffentlichkeit über- 
gebenen Museums. 

Metzler, J., Eine amerikanische Waisenaustalt. Pädagogischer Anzeiger für Ruß- 
land. 4, 7 (Juli 1912), S. 398—401. 

Schilderung eines Besuches in der Waisenanstalt der Stadt New York in Has- 
tings-on-Hudson. Vorhanden sind 10 einzelne Wohnhäuser für je 20 Kinder. 
Greef, Aus der Praxis der Jugendschriften- Kommissionen. Evangelisches Schul- 

blatt. 56, 8 (August 1912), S. 341—347. 

Stellt einige Richtlinien für die Beurteilung von Jugendschriften auf, die sich 

in der Praxis bereits mehr oder weniger bewährt haben. 


IV. Jugend- und Schulhygiene. 

Schlesinger, Eugen, Schüleruntersuchungen an höheren Schulen. Internatio- 
nales Archiv für Schulhygiene. VIII, 1 (Januar 1912), S. 1—30. 

Das Material soll die Zweckmäßigkeit der Anstellung von Schulärzten auch an 
höheren Schulen dartun. Die Untersuchungen erstrecken sich auf über 900 Schüler 
des 1., 4., 7. Schuljahrs. Die Ergebnisse werden verglichen mit denen von Unter- 
suchungen an Volksschülern.. Die Ergebnisse mögen im Original nachgelesen 
werden. Betont sei, daß in den Volksschulen vorwiegend die unteren Klassen, in 
den höheren die mittleren (Pubertätsjahre!) schulärztlicher Überwachung bedürfen. 
Die Ergebnisse selbst sind zahlenmäßig in verschiedenen Tabellen niedergelegt. 
Büttner, Georg, Die behinderte Nasenatmung mit ihren körperlichen und geistigen 

Schädigungen bei Schulkindern. Die Gesundheitswarte. X, 7, S. 151—160. 

Zusammenstellung der Ursachen, der Krankheitserscheinungen, der hervor- 
gerufenen Störangen und der zur Behandlung in Betracht kommenden Faktoren. 
Bei frühzeitiger Anordnung zweckdienlicher Maßnahmen sind auch die Erfolge groß. 
Hartmann, K. A. Martin, Zur Förderung der Sexualpädagogik. Deutsches Philo- 

logen-Blatt. 10, 6. März 1912. 

Empfehlung von Rohleders »Grundzüge der Sexualpädagogik«. Abdruck des 
dazu von Hartmann verfaßten Geleitworts. 

Mayer, Adolf, In usum Delphini. Zeitschr. f. Jugenderziehung. II, 23 (15. Aug. 
1912), S. 709—713. 

Beitrag zur Frage der sexuellen Belehrung. Die »Aufklärung« soll von seiten 
der Eltern, nicht von seiten der Schule erfolgen. 

Grassmann, Karl, Sexualpädagogische Fragen. Münchener Med. Wochenschrift. 
59, 33 (13. August 1912), S. 1815—1819. 

Bekämpft die extremen Forderungen der neusten Sexualpädagogik, verwirft alle 
obligatorischen direkten Unterweisungen von seiten der Schule. 

Hartmann, K. A. Martin, Die Pflicht der Schule gegenüber den Gefahren des 
jugendlichen Tabakrauchens. Auf Grund neuerer Untersuchungen. Deutsches 
Philologen-Blatt. 28, 31. Juli 1912. 

Es steht wissenschaftlich fest, daß das Rauchen für den jugendlichen Orga- 
nismus schädlich ist; es erschwert die erziehliche und unterrichtliche Arbeit be- 


46 D. Literatur. 





deutend. Es ist deshalb gegen das Rauchen anzukämpfen, aber nicht durch die 

bekannten Rauchverbote der Schulordnungen, sondern durch Appell an die Einsicht 

der Eltern und Schüler. — Der Aufsatz ist auch als Sonderdruck erschienen und 
vom Verfasser (Leipzig-Gohlis, Fechnerstr. 6) zu beziehen. 

Borowka, W., Bericht über die schulhygienische Literatur Rußlands für die Jahre 
1909 und 1910. Internationales Archiv für Schulhygiene. VIII, 1 (Januar 1912), 
S. 75—107. 

de Biehler, Mathilde, und Eugène Piasecki, La littérature polonaise concer- 
nant l'hygiène scolaire pendant l'année 1910. Ebenda. &. 108—135. 

Oker-Blom, Max, und J. Lydecken, Die schulhygienische Literatur in Finn- 
land in den Jahren 1907—1910. Ebenda, S. 136—144. 

Feltgen, Ernst, Bericht über die zur Schulhygiene in Beziehung stehenden Ver- 
öffentlichungen in Luxemburg aus den Jahren 1909, 1910 und 1911. Ebenda. 
S. 145—152. 

Mehr oder weniger eingehende Literaturberichte; nur zum Teil kritisch. Ver- 
schiedentlich sind Autoren-Namen falsch angegeben. 


D. Literatur. 





Handbuch für Jugendpflege. Herausgegeben von der Deutschen Zentrale 
für Jugendfürsorge. Schriftleitung Dr. jur. Fr. Duensing -Berlin. Langen- 
salza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1912. 12 bis 15 Lieferungen 
zu je 4 Bogen, Preis je 80 Pf. 

Wir haben in der letzten Zeit verschiedene Handbücher erhalten, die über 
pädagogische Teilgebiete unterrichten. Und zwar führen sie alle als erstes Wort 
in ihrem Titel das Wort: »enzyklopädische. Wir hatten derartige alphabetisch 
angeordnete Nachschlagewerke nötig; sie sind uns in kurzer Zeit unentbehrliche 
Werke unsrer wissenschaftlichen Bibliothek geworden. 

Nun gilt es heute, ein neues Handbuch anzuzeigen. Das Epitheton »enzy- 
klopädisch«e führt es zwar nicht, obgleich das in einer Zeit übermäßigen Hastens 
und Eilens vielleicht nicht so unvorteilhaft sein dürfte: vielen Menschen ist es bald 
zur Gewohnheit geworden, das Lexikon oder ein enzyklopädisches Handbuch als 
einziges Buch zu benutzen und zu »lesen«. Dieses neue Handbuch führt den 
schlichten, aber bedeutsamen Titel: Handbuch für Jugendpflege. Es kommt 
zu rechter Zeit als rechtes Werk! Denn heute drängt alles mit oft fast beängstigen- 
dem Ungestüm nach einer Organisation der Jugend in Jugendvereinen, -verbänden 
und -bünden oder ähnlichen Institutionen. Man kann das angesichts der bisherigen 
Lage in unserem Volke begrüßen und gutheißen, man kann aber auch gewichtige 
Bedenken demgegenüber haben. Unleugbar besteht die große Gefahr, daß wir über 
dieser unserer (gewiß nicht entbehrlichen und gering zu bewertenden) Organi- 
sationsarbeit und -tätigkeit die Jugend selbst eigentlich ganz vergessen. Dazu 
kommt noch ein weiteres Moment: namentlich seit dem bekannten Januar - Erlaß 
des preußischen Kultusministers vom Jahre 1911 und durch ihn wurden weitere 
Kreise auf die dem Kundigen schon lange nicht mehr verborgene Jugendnot hin- 
gewiesen und zu eigener Mitarbeit auf dem Gebiete der Jugendpflege angeregt oder 
gar gedrängt. Manchem dieser Mitarbeiter und Arbeiter war und ist aber noch 
der und die Jugendliche recht fremd. Die Psyche des Knaben, des Mädchens 


D. Literatur. 47 





jenseits des Pubertätsalters ist — wir haben wiederholt darauf hinweisen müssen — 
uns noch fremd, noch unerforscht oder doch so gut wie fremd und unerforscht. 
Was wir wissen, das muß aber dem auf dem Gebiete der Jugendpflege tätigen 
möglichst klar und vollständig bekannt gemacht werden. Dazu kommt, daß gerade 
die führenden Persönlichkeiten (gemeint sind hier natürlich die in der praktischen 
Arbeit führenden und tätigen Männer und Frauen) über ein ziemlich umfang- 
reiches Wissen auf verschiedenen Gebieten (Pädagogik, Psychologie, Medizin, Rechts- 
pflege usw.) neben gründlichem Können verfügen müssen. Man hat dies durch 
verschiedenartige Kurse zu übermitteln gesucht. Aber wertvoller und für weite 
Kreise zugänglicher als derartige Kurse mit dem gesprochenen Wort sind Bücher 
mit möglichst anregendem geschriebenen Wort. 

Ein solches Buch zu schaffen ist nicht leicht. Das Werk in die Hand ge- 
nommen zu haben ist ein großes Verdienst sowohl der Deutschen Zentrale für 
Jugendfürsorge in Berlin, und speziell von Dr. Frieda Duensing, wie des 
Verlages Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 

Drei Lieferungen (192 Seiten) dieses neuen Buches liegen bisher vor. Diese- 
drei Lieferungen berechtigen heute schon zu dem Urteil, daß Herausgeber und 
Verlag beflissen sind und gewesen sind, ein wahrhaft gediegenes Werk zu 
schaffen, das aller Voraussicht nach einzig in seiner Art sein und bleiben wird. 
Das gilt auch besonders hinsichtlich des bei der vorzüglichen Ausstattung ganz. 
gering zu nennenden Preises, der hoffentlich zu weitester Verbreitung des Hand- 
buchs wesentlich beiträgt. 

Der Inhalt des Werkes ist in zwei Hauptteile gegliedert. Der erste behandelt 
die allgemeinen Grundlagen, der zweite Träger und Formen, Inhalt und Ziel der 
Jugendpflege. Man ersieht schon aus dieser kurzen Angabe, daß die Anlage eine | 
gründlich durchdachte und, wie man aus dem Studium des Inhaltsverzeichnisses 
leicht merkt, fein durchgeführte ist. Weiter lassen aber auch die ersten Lieferungen 
erkennen, daß für die Bearbeitung der einzelnen Abschnitte nur erstklassige Autoren 
gewonnen wurden. Sohnrey, Jaeger, Rosa Kempf, Curtius, Marie Martin, 
Th. Ziehen, Boruttau, Kisskalt, Vieregge, Köhne, Röder u. a. gaben für 
die bisher vorliegenden Lieferungen Beiträge. Auf einzelne Abschnitte zurückzu- 
kommen wird sich Gelegenheit bieten, wenn uns das Werk abgeschlossen vorliegt. 
Und das wird hoffentlich nicht allzu lange mehr dauern. 

Einstweilen mag es genügen festzustellen, daß Behörden wie Private, daß- 
Pädagogen und Theologen, Mediziner und Juristen in diesem Handbuch einen Weg- 
weiser durch das gesamte Gebiet der Jugendpflege finden, wie sie ihn sich kaum 


besser wünschen können. 
Jena. Dr. Karl Wilker. 


Kalender für heilpädagogische Schulen und Anstalten. Herausgegeben 
von Fr. Frenzel, J. Schwenk, Dr. Meltzer. Achter Jahrgang, 1912--1913. 
Halle a. S., Carl Marhold, 1912. XVI und 254 S. Preis 1,20 Mark. 

Der Kalender, in dessen Herausgeberkollegium als Vertreter der Medizin 

Dr. Meltzer neu eingetreten ist, enthält wie immer ein reiches statistisches 

Material, und zwar nicht nur aus deutschen Anstalten, sondern auch aus solchen 

Ungarns, Österreichs, der Schweiz, der nordischen Länder und Nordamerikas. An- 

regend und wertvoll sind auch die von Max Kirmsse zusammengestellten histori- 


schen Daten. 
Jena. Dr. Karl Wilker. 


48 D. Literatur. 





Internationaler Guttemplertag. Hamburg 1911. 3. bis 14. Juni. Verlag von 
Deutschlands Großloge II des Internationalen Guttempler - Ordens, Hamburg 30. 
346 und 80 8. Preis 3 M. 

Von allen alkoholgegnerischen Organisationen ist der Internationale Guttempler- 
orden die anerkannt bedeutendste. Die Berichte über seine Veranstaltungen, und 
namentlich dieser Bericht, verdienen daher wohl unsere Beachtung. Einmal gewinnt 
man aus seinem Studium ein Bild von der großzügigen Arbeit, die sich zu einem 
nicht geringen Teil ja auch mit praktischer Jugendpflege befaßt; zum andern ent- 
bält der Bericht aber auch eine Fülle wertvoller Vorträge im Wortlaut. Hinzu- 
weisen ist hier besonders auf Kraepelins Ausführungen »Zur Psychologie des 
Alkoholse, auf Laitinens Untersuchungen »Über den Einfluß kleiner Alkoholgaben 
auf den Verlauf der Tuberkulose im tierischen Körper, mit besonderer Berück- 
sichtigung der Nachkommenschaft«, auf die Vorträge von Weygandt (Die Not- 
‚wendigkeit einer alkoholfreien Jugenderziehung) und Temme (Jugendpflege und 
Alkohol). Im Anhang finden sich zahlreiche gerade für den Lehrer sehr wertvolle 
‚graphische Darstellungen. 

Wenn wir aber heute noch ganz besonders auf diesen Bericht hinweisen, so 
geschieht das deshalb, weil infolge des (Geheimerlasses des bayrischen Kultus- 
ministers gerade das Jugendwerk des Guttemplerordens viel besprochen wird. Von 
besonderem Werte ist da diese gewissermaßen authentische Darstellung der Gut- 
:templerarbeit, die ein Jahr vor dem erwähnten Erlaß gegeben wurde. Möge der 
Bericht in weite Kreise richtige Anschauungen von einer im höchsten Maße volks- 
‚erzieherischen Arbeit tragen! 

Jena. Dr. Karl Wilker. 


Eingegangene Literatur. 


M. Bresgen, Die Furcht, ihre Herkunft und Heilung. sowie ihre Bedeutung für 
Erkrankung und Genesung. S.-A. aus der Zeitschrit »Fortschritte der Medizin«. 
Halle, Carl Marhold. 6 S. 

A. Schüz, Kunst, Wissenschaft und Religion im Bunde. (Zur Erinnerung an 
Julius Koch.) Unterhaltungsbeilage der Deutschen Reichspost, Jg. 41, Nr. 127, 
3. Juni 1912. 

Robert Gaupp, J. L. A. Kochs Psychiatrische Lehren in ihrer Bedeutung für 
die Entwicklung der klinischen Psychiatrie. Ein Beitrag zur Festschrift beim 
100jährigen Jubiläum der ältesten württemberg. Staatsirrenanstalt Zwiefalten 
(29. Juni 1912). 46 S. 

Annual Reports of New York University 1910—1911. University Building, Was- 
hington Square, East, New York City, 1912. 111 8. 

Book of the Inauguration. Ebenda. 112 S. 





Verantwortliche Schriftleitung für Abhandlungen und Mitteilungen: Dir. J. Trüper, 
Sophienhöhe b. Jena; für Zeitschriftenschau und Literatur: Dr. Karl Wilker, Jena, 
Weißenburgstraße 27. 


Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 






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A. Abhandlungen. 


1. Die Psychopathologie der Pubertätszeit. 


Vortrag, gehalten auf dem Allgemeinen deutschen Fürsorgeerziehungstag in Dresden 
am 25. Juni 1912. 


Von 
Oberarzt Dr. Mönkemöller, Hildesheim. 
(Schluß.) 


Auch für die Hysterie stellt die Pubertät den Zeitpunkt dar, 
der ihre Stellung zur Mitwelt und die Tragweite der Krankbeit für 
ihren Träger selbst entscheidet. Dabei ist es nicht überflüssig, daran 
zu erinnern, daß es sich hier um das klinische Krankheitsbild der 
Hysterie handelt und nicht um die Mischung von Willensschwäche, 
Übertreibung und Launenhaftigkeit, wie sie von Laien noch immer 
gern mit diesem Namen belegt wird. Vorübergehende hysterische Er- 
scheinungen sind in der Jugend gar nicht so selten. Wir finden 
diese hysterische Beeinflussung des Kindes unter anderem in den be- 
kannten Schulepidemien, bei denen manche Nervenkrankheiten 
auch auf Kinder übertragen werden, die in ihrem späteren Leben der 
Hysterie in vollstem Maße abgeschworen haben. 

Das Krankheitsbild der Hysterie in seiner typischen Aus- 
bildung tritt uns aber vor der Vollendung der geschlechtlichen Ent- 
wicklung nur ausnahmsweise entgegen. Beim weiblichen Geschlechte 
bringt wieder das Erwachen des Menstruallebens den Stein ins Rollen. 
Natürlich gedeiht auch hier die Krankheit nie auf völlig gesundem 
Boden. Wir sehen schon vorher, wie die allgemeine hysterische Ver- 
anlagung an leichte körperliche Krankheiten anknüpft, um deren 
Symptome in übertrieben schwerer und hartnäckiger Ausprägung bei- 
zubehalten. So wird auch eine Fülle der verschiedensten körperlichen 

Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 4 





50 A. Abhandlungen. 





Symptome produziert, nur daß es sich immer lediglich um Einzel- 
erscheinungen handelt. Meist aber tritt uns hier nur der allgemeine 
hysterische Charakter entgegen: die Beeinflußbarkeit durch fremde 
Personen, die hysterische Selbstsucht, die Gier nach dem Außergewöhn- 
lichen und die Neigung, sich selbst in den Mittelpunkt des Interesses 
zu stellen, die sich mit einer starken Überreizung der Phantasie 
verbindet. 

Erst die Pubertät verleiht dieser allgemeinen hysterischen Ver- 
anlagung die Kraft der schweren Nervenkrankheit, die sie mit einer 
Geisteskrankheit identisch macht. Wenn jetzt das geschlechtliche 
Moment in das Krankheitsbild eintritt, wird es um einen Faktor be- 
reichert, der gerade hier eine herrschende Stellung einnimmt. Jetzt 
setzen oft die schweren hysterischen Krampfzustände ein, nun erst 
nimmt das Krankheitsbild die schillernde Vielgestaltigkeit an, über die 
es zu verfügen vermag. Die einzelnen Symptome gewinnen an Wucht 
und Nachhaltigkeit. Während die Aussichten der Kinderhysterie im 
allgemeinen nicht schlecht sind, drückt die durch die Pubertät be- 
dingte Verschlimmerung die Heilungsaussichten gewaltig herunter. 

Ethik und Moral leiden jetzt jähen Schiffbruch. Dafür haben 
wir wieder in den physiologischen Vorgängen der Pubertät einen 
Parallelvorgang, der uns diesen ethischen Zusammenbruch ver- 
ständlich macht. 

Auch bei Mädchen, die sich sonst nicht in das Psychopatho- 
logische verirren, tritt hier nämlich manchmal eine moralische Ver- 
schlechterung auf. Sie entwickeln einen starken Hang zum Intri- 
guieren. Sie verfallen der Lüge, es kommt zum Verleumden anderer 
Personen, ja sogar zu Diebstählen. Diese triebartigen Anwandlungen 
einer vorübergehenden moralischen Verschlechterung erfahren bei 
hysterisch Veranlagten eine wesentliche Steigerung. 

Auch hier beginnen sich die Fäden, die in überreichem Maße die 
Hysterie mit der Kriminalität verbinden, zu spannen. Der hysterische 
Lügner und Betrüger hüllt sich jetzt in sein phantastisches Gewand. 
Verleumdung, Beleidigung, Hehlerei treten ihre Herrschaft an. Rück- 
sichtslos erschließen sich die krankhaften Seiten des Geschlechtslebens. 

Auch die unbestimmten Krankheitserscheinungen, die wir nach 
Schädelverletzungen auftreten sehen, fallen gelegentlich in dieser 
Periode schwerer ins Gewicht. Gerade in der Vorgeschichte unserer 
Fürsorgezöglinge finden wir eine nicht geringe Menge von Unfällen, 
denen eine ursächliche Bedeutung nicht ganz abgesprochen werden 
kann. Der kindliche Organismus in seiner großen Ausgleichsfähigkeit 
vermag sich ja mit gar vielem abzufinden, sogar mit den schweren 


Mönkemöller: Die Psychopathologie der Pubertätszeit. 51 





und fortgesetzten Mißhandlungen, die unsere Alkoholistensprossen über 
sich ergehen lassen müssen. In diesem Zeitpunkte, der auch von dem 
gesunden Nervensystem seinen Tribut erhebt, bricht die Leistungs- 
fähigkeit des Kindes gelegentlich zusammen, und die für diese 
Krankheit so bezeichnende Ermüdbarkeit senkt sich auf ihre Träger 
herab. 

Für ein weiteres Erbteil so vieler unserer Fürsorgezöglinge ist 
noch die Pubertät die kritische Zeit, für den Hang zum Alkoholismus. 
Wenn die Trunksucht der Eltern ihre Schatten in das geistige Leben 
der Nachkommen wirft, so vermag sie das in dem verschiedenartigsten 
Gewande: sie kann die Form des Schwachsinns, der Epilepsie, der 
allgemeinen Psychopathie wählen. Für diese alle gilt die gleiche Er- 
fahrung, daß sie, wenn sie in den Bann der Pubertät geraten, ihr 
einen besonders schweren Zoll zahlen müssen. Ob auch die Sucht 
nach der Aufnahme geistiger Getränke direkt als solche vererbt 
werden kann, oder ob sie von den Nachkommen der Alkoholisten nur 
als eine Teilerscheinung der allgemeinen geistigen Entartung über- 
nommen wird, ist nicht zu erweisen. Tatsache ist, daß, wenn diese 
Neigung zum Ausbruch kommt, sie sich gern in die letzten Phasen 
der Geschlechtsentwicklung verwebt. 

Für die Fürsorgeerziehung, unter deren Pflegebefohlenen der 
elterliche Alkoholismus als erblich belastender Faktor weitaus an erster 
Stelle steht, ist das um so eher zu berücksichtigen, als sich diese 
Sucht vorher kaum bemerkbar macht. Obendrein fällt sie gerade in 
die Periode, in der die Zöglinge wieder mehr in die Welt heraus- 
treten. Die verschiedenen Berufe, die den regelmäßigen Alkoholgenuß 
als einen selbstverständlichen Bestandteil ihrer Tätigkeit betrachten, 
unterstützen das beginnende Vernichtungswerk. 

Unter den ausgesprochenen Psychosen, die sich außer dem Jugend- 
irresein in dieser Zeit zu entwickeln beginnen, ist hauptsächlich das 
manisch-depressive Irresein zu nennen. Mehr wie andere hat 
es seine Vorbilder in häufigen Begleiterscheinungen der normalen 
Pubertät, die wieder oft nur eine stärkere Ausprägung der im Kindes- 
alter bestehenden allgemeinen Gemütslage darstellen. Wir alle 
kennen die stillen und schweren Charaktere, die von den kleinen Sorgen 
des Kindesalters heftiger angefaßt werden wie ihre Altersgenossen; wir 
kennen auch die wohlgemuten, stets zu allen möglichen Streichen 
aufgelegten Naturen, bei denen die geringsten Anlässe die Stimmung 
über die Mittellinie emporschnellen lassen. 

Wieder kommt es in den Entwicklungsjahren zu einer schärferen 
Ausprägung dieser Schwankungen in der Stimmung, ohne daß man 

. 4* 


52 A. Abhandlungen. 





gleich versucht zu sein braucht, an eine ernsthafte geistige Störung 
zu denken. 

Die vorübergehende Verkörperung der manischen Stimmungs- 
Jage haben wir in den Flegeljahren. Überwältigend erfüllt die be- 
neidenswerten Vertreter dieser Zeit das Bewußtsein der zunehmenden 
Kraft und größeren Leistungsfähigkeit. Die wachsenden Interessen 
beflügeln ihre Schritte. Der geistige Horizont erweitert sich und mit 
ihm das Selbstgefühl. Leicht werden die Hemmungen der Vernunft 
über den Haufen geworfen. Da die sittliche Reife noch fehlt und 
Verbote und Strafandrohungen bei dem herrschenden Widerspruchs- 
geiste dieser Altersperiode das Gegenteil von dem erzielen, was sie 
erreichen sollen, kommt es zu übermütigen Streichen, die sich nur zu 
gern über die Grenzen des sittlich und gesetzlich Erlaubten heraus- 
wagen. Eine rastlose Unstetigkeit des ganzen Wesens vervollständigt 
die Ähnlichkeit mit dem Triebhandeln der Manie. 

Die Kehrseite der Medaille bilden vorübergehende Verstimmungs- 
zustände. Gerade in dieser Umbildungsperiode versinken manche 
Kinder förmlich in Gefühlsseligkeit. Sie versenken sich mit Wollust 
in ihre kleinen Leiden, sie schwelgen im Gefühle alles des Schweren, 
das sie zu tragen haben. Es kommt sogar zu Lebensüberdruß bei 
weichen Naturen, die sich nicht verstanden glauben. Sie spielen auch 
gelegentlich mit wenig nachhaltigen Selbstmordideen. 

Der Eintritt der Geschlechtsreife verschüchtert diese sensitiven 
Wesen noch mehr. Kommt es zu sexuellen Ausschreitungen, so 
können sich die Gewissensbisse und die allgemeine Abspannung zu 
heftigen Angstzuständen verdichten. 

Spielen sich diese Vorgänge auf krankhafter Grundlage ab, 
so kann es zu dauernden krankhaften Verstimmungen nach beiden 
Seiten hin kommen. So brauchen nur erbliche Veranlagung und un- 
günstige äußere Einflüsse ihr Spiel zu treiben. Dann stellen sich die 
schweren Hemmungszustände ein im Denken und Handeln, die Ver- 
sündigungsideen der Melancholie oder die gehobene Stimmung, der 
Bewegungsdrang, die Ideenflucht der Manie. 

Auch wenn man den physiologischen Stimmungsschwankungen 
einen recht großen Spielraum einräumen darf, ist nie aus dem Auge 
zu lassen, daß diese Erscheinungen die ersten Anfälle später regel- 
mäßig wiederkehrender Störungen sein können. Sie erfordern schon 
deshalb ernste Beachtung, weil der Schlüssel für manche Schülerselbst- 
morde, die man nur zu gern der Schule anhängen will, in diesen 
krankhaften Zuständen zu finden ist. 

Besonderen Anfechtungen ist in dieser Beziehung wieder das 


Mönkemöller: Die Psychopathologie der Pubertätszeit. 53 








weibliche Geschlecht ausgesetzt. An manche Frauen stellt jelde 
Menstruation in psychischer Beziehung hohe Anforderungen und um- 
kleidet sich mit allen möglichen geistigen Krankheitssymptomen, wenn 
auch nur in leichtester Andeutung. Den meisten von ihnen macht 
aber die erste menstruelle Entladung besonders viel zu schaffen. 
Manchmal kommt es vorher zu periodisch auftretenden, in 3—4 wöchent- 
lichen Terminen ablaufenden kurzen Anfällen von Niedergeschlagen- 
heit, bei denen sogar das Bewußtsein getrübt sein kann. Das Ein- 
treten der Menstruation läßt sie meist wie mit einem Schlage ver- 
schwinden. 

Gefährlicher sind die länger dauernden Veränderungen der 
psychischen Persönlichkeit, die in die Zeit vor dem ersten Eintritte 
der Menstruation fallen. Sie stellen sich gerne dann ein, wenn diese 
verspätet eintritt. Schwere Störungen im Gedankenablaufe gehen mit 
einer ausgesprochenen psychischen Verstimmung einher. Quälende 
Angst und ein ungeheurer innerer Druck beherrschen das geistige 
Leben und können sich mit Zwangsvorstellungen und Sinnestäuschungen 
verbinden. 

In dieser Zeit kommt es gerade bei Mädchen, die sich fern von 
der Heimat unter ungünstigen Dienstverhältnissen befinden, zu einer 
besonders starken Steigerung dieser Unlustgefühle. Das spannende 
Druckgefühl sucht sich durch triebartige Handlungen zu entlasten. 
Das Heimweh, unter dessen Maske diese Zustände meist einher- 
gehen, auch wenn die Sehnsucht nach der Heimat ganz in den Hinter- 
grund tritt, treibt sie von dem Orte fort, an dem sie sich gerade be- 
finden. Es kommt zum böswilligen Verlassen des Dienstes und zur 
Vagabondage. Das Verlangen, der quälenden Angst Herr zu werden, 
sucht sogar in schweren Verbrechen das Ventil zur Lösung der 
inneren Spannung. In diesem Zustande sind Mordtaten begangen 
worden und die Tatsache, daß nicht selten als Entlastungsmittel die 
Brandstiftung gewählt wurde, hat sogar seinerzeit zur Aufstellung der 
Lehre einer besonderen Feuersucht, der Pyromanie, geführt. 

Den übrigen psychischen Krankheiten ermangelt in dieser Zeit 
noch das Bürgerrecht. Ganz vereinzelt treten akute Verwirrtheits- 
zustände auf, die unter heftigen Sinnestäuschungen einhergehen 
und meist auf das Konto erschöpfender-Krankheiten zu setzen sind. 
Dann fällt noch in diese Zeit die sogenannte originäre Paranoia, 
eine außerordentlich seltene Krankheitsform. Schon in den Kinder- 
jahren sich schleichend entwickelnd, wird sie durch die Pubertät in 
ihrem Wachstum stark gefördert. Ganz langsam entwickeln sich Größen- 
ideen, die meist auf die Abstammung Bezug haben. Still und ver- 


54 A. Abhandlungen. 





sonnen grübelt das Kind über sein Schicksal nach, wird mißtrauisch 
gegen seine Eltern, zieht sich von der Welt und seinen Altersgenossen 
zurück und versenkt sich in phantastische Lektüre, bis sich schließlich 
ein kompliziertes Wahnsystem ausgebildet hat. 

In praktischer Beziehung ist es wichtiger, daß auch manche 
Nervenkrankheiten, die ja nicht selten zu den Geisteskrankheiten 
in einem sehr intimen Verhältnisse stehen, jetzt von diesem verwandt- 
schaftlichen Rechte einen regeren Gebrauch machen. Die allgemeine 
Nervosität, die als ererbtes und von frühester Jugend auf über- 
kommenes Krankheitsbild weitergeschleppt wird, pocht auf ihre Rechte. 
Jetzt gibt auch die erworbene Nervenschwäche, die Neur- 
asthenie, ihre Visitenkarte ab. Falsche Erziehung, geistige Über- 
anstrengung, sexuelle Ausschreitungen setzen auf der Grundlage der 
angeborenen Schwäche des Nervensystems dessen Leistungsfähigkeit 
herab. Schlaflosigkeit, Kopfdruck, Verdauungsbeschwerden paaren 
sich mit einer reizbaren Schwäche und dem Unvermögen zu geistigen 
Leistungen. 

Wie Epilepsie und Hysterie haben jetzt auch andere Nerven- 
krankheiten schwere Krisen durchzumachen, die leicht mit einer Ver- 
kehrung ins Kriminelle endigen. So umkleidet sich der Veitstanz, 
die Chorea, mit psychischen Krankheitssymptomen. Es kann bei einer 
allgemeinen, leichten Erregung und einem stärkeren Hervortreten des 
Trieblebens bleiben. Die allgemeine psychische Verschlechterung 
gipfelt aber auch ab und zu in heftigen Erregungszuständen, die sich 
durch einen sinnlosen Zerstörungstrieb auszeichnen und sogar in 
schweren Gewalttaten ihren Austrag finden. 

Auch die Zwangsvorstellungen und Zwangshandlungen 
schießen jetzt in Blüte. Beim Kinde sind sie in leichterer Form keine 
große Seltenheit. Aber erst die Pubertät beschwört das ganze Heer 
der Zwangskrankheiten herauf. Jetzt erst gelangen die schweren 
Formen zur Ausbildung. Wie alle psychischen Umwandlungen dieser 
Zeit gewinnen sie jetzt eine aktive Gestaltung und drängen dann 
wieder leicht in die kriminelle Laufbahn. 

Wie diese ganze Periode unter dem Zeichen der Geschlechts- 
entwicklung steht, so machen wir oft die traurige Erfahrung, daß 
die ungeordneten und exzessiven Äußerungen des Geschlechtstriebes 
sich in alle die sonstigen geistigen Störungen hineinverweben. Wieder 
sind es meist die Minderwertigen, die auch hierin der krankhaften 
Veranlagung opfern. Manchmal nehmen diese geschlechtlichen Ab- 
weichungen eine Sonderstellung ein. Denn diese Zeit ist deshalb 
so bedeutsam, weil es sich jetzt entscheidet, welchen Weg die ge- 


Mönkemöller: Die Psychopathologie der Pubertätszeit. 55 


schlechtliche Betätigung des Einzelnen nehmen soll. Die krankhaft 
Veranlagten fangen an, die angeborene Anlage in die Tat umzusetzen. 

Dem Geschlechtstrieb wohnt in dieser Zeit eine außerordentliche 
Gewalt inne. Die normale Form der Betätigung steht ihm noch nicht 
offen. Der jugendliche Charakter ist noch nicht genügend gefestigt, 
um diesen Anreizungen standzuhalten. So drängt der ungeheure Trieb, 
der manchmal deutlichen periodischen Schwankungen unterworfen ist, 
stürmisch zur Lösung. Es kommt zu maßlos gesteigerter Onanie und 
zur Masturbation mit Altersgenossen. Oder der sexuelle Drang sucht 
in den läppischsten Formen seine Befriedigung. Bei den Mädchen 
tritt dafür der frühzeitige Hang zur Prostitution kompensierend ein. 

Es ist eine Fülle von krankhaften Erscheinungen, die sich in 
diese Periode hineindrängen kann. Eine bestimmte Psychose, die 
man lediglich der Pubertät zurechnen könnte, gibt es nicht. Wohl 
aber vermag diese Umwälzung den verschiedenen Krankheitsprozessen 
das gleiche Gepräge zu verleihen, das sie wenigstens äußer- 
lich eint. 

Überschauen wir alles das, was sich an Psychopathologischem in 
diese Zeit hinein verirren kann, so muß es bei oberflächlicher Be- 
trachtung überwältigend und niederdrückend wirken. Und es könnte 
nur zu leicht scheinen, als ob die Psychiatrie sich wieder in dieser 
wichtigen Phase der Fürsorgeerziehung eine ungebührlich einflußreiche 
Stellung sichern wollte Das liegt ihr ferne. Ihre Pflicht nur ist es, 
immer wieder darauf hinzuweisen, wie tief die Wege des Psycho- 
pathologischen in diese schwerste und verantwortlichste aller Erziehungs- 
formen hineinführen, und daß die Kenntnis dieser Vorgänge ihr Werk 
nur erleichtern kann. Zudem bleibt eine solche Zusammenstellung 
dieser krankhaften Prozesse immer ein sehr konzentrierter Extrakt. 
In ihm drängt sich alles das zusammen, was an Bedeutung und 
Wichtigkeit der Symptome sich in der Praxis verteilt, in Einzelfälle 
auflöst und durchaus nicht immer in so ausgesprochenen und kräftigen 
Symptomen seine Ausgestaltung sucht. Es soll auch nur darauf hin- 
gewiesen werden, daß es zu dieser Verkehrung ins schlechte kommen 
kann. Es braucht aber durchaus nicht dazu zu kommen. Man darf 
auch die krankhaften Vorgänge dieser Sturm- und Drangperiode nicht 
ohne weiteres mit dem Maße messen, das man an die geistigen 
Krankheitsvorgänge anderer Altersperioden anzulegen gezwungen ist, 

Bei der Labilität und Veränderlichkeit, die hier oft das einzige 
Konstante sind, darf man immer darauf rechnen, daß sich ein gutes 
Teil dieser auffälligen Symptome wieder ausgleicht, sobald einmal 
dieser geistige Umbildungsprozeß zum Abschluß gelangt, sobald der 


56 A. Abhandlungen. 





Organismus zur Ruhe gekommen und der Charakter gebildet ist. Aber 
trotzdem bleibt noch an dauernder Schädigung recht viel übrig. 
Die Pubertät als krankheitsschaffender Faktor stellt einen so 
bedeutungsvollen Wendepunkt dar, daß sie immer die ernsteste Be- 
achtung verdient. 

Das gilt wahrlich nicht in letzter Linie für die Fürsorgeerziehung. 
Auf den ersten Blick scheinen die Aufgaben, die ihr zufallen, doppelt 
und dreifach schwer. Empfängt sie ja doch ein Material in ihre 
Obhut, das aus den schwierigsten Verhältnissen heraus gerissen ist 
und sich meist in diesem drangvollen Umkristallisierungsprozesse be- 
findet, das unter dem Drucke erblicher Belastung und kümmerlicher 
Veranlagung seufzt und wenn nicht die Keime so doch wenigstens 
die Veranlagung zur geistigen Krankheit in sich birgt. Die Fürsorge- 
erziehung verlangt von ihnen die Unterordnung unter fremdes Gebot, 
den Verzicht auf Freiheit und Ungebundenheit, die Abkehr von ihren 
bisherigen Anschauungen, eine Umbildung der sittlichen Gefühle, die 
Unterdrückung des Trieblebens, den ernsten Willen zur Arbeit. Alles 
das sind Forderungen, deren Erfüllung den schwankenden Gemütern 
gerade in dieser Blütezeit der Impulsivität ganz und gar gegen den 
Strich geht. Sie wird ihnen um so drückender, als der gewaltige 
krankhafte Einschlag die Aussichten mehrt, daß diese vorübergehende 
pathologische Färbung in eine dauernde krankhafte Verkehrung aus- 
läuft. Die Gefahr scheint gar nicht fern zu liegen, daß dieses straffe 
Regime ungewollt Schwierigkeiten schafft, die der labilen Psyche 
unüberwindbar sind, daß sie da züchtigt, wo die Verantwortungs- 
fähigkeit für Tun und Lassen nur karg bemessen zu sein scheint, und 
daß sie statt zu fördern verschlimmernd auf diese schwankenden Zu- 
stände einwirkt. 

Das sind aber Befürchtungen, die bei näherer Betrachtung ge- 
waltig zusammenschrumpfen. Immer wieder muß man sich vor Augen 
halten, daß sich auch solche geistigen Erschütterungen restlos aus- 
zugleichen vermögen, bei denen es kaum noch zu erwarten war. Das 
liegt eben daran, daß diese psychischen Schwankungen sich im Schutze 
des Elternhauses austoben, dessen stetige Ruhe und zielbewußte Leitung 
das geistige Gleichgewicht aufrecht erhält, das alle sonstigen Fährlich- 
keiten nach Möglichkeit abwehrt und dem Tasten des sich zur Selb- 
ständigkeit durchringenden Geistes die Wege weist. Damit ist aber 
auch für die Fürsorgeerziehung gesagt, wie sie sich mit dieser Gefahr 
abzufinden hat. Wie sie dazu berufen ist, die Pflichten des Eltern- 
hauses zu übernehmen, so hat sie diese Aufgabe erst recht in dieser 
kritischen Zeit zu lösen. 


Mönkemöller: Die Psychopathologie der Pubertätszeit. AT 


Wenn bei den Zöglingen, die in die Fürsorgeerziehung eintreten, 
nicht selten gerade in dieser Periode der Ausschlag ins Krankhafte 
erfolgt, so liegt das in erster Linie daran, daß sie ohne jede ziel- 
bewußte Leitung, nur auf die schwache innere Kraft gestützt, diesen 
Kampf durchfechten müssen, allen Schädlichkeiten preisgegeben in 
körperlicher und geistiger Beziehung vernachlässigt. Wie zerrüttend 
ein solches Milieu wirken muß, liegt auf der Hand. Wenn daher die 
Fürsorgeerziehung schon im allgemeinen ein dringendes Interesse daran 
hat. den Kampf gegen die Verwahrlosung so frühzeitig wie möglich 
aufzunehmen, so-ist es das allermindeste, wenn sie verlangt, daß 
wenigstens die Umwälzungsprozesse der Pubertät den Anfechtungen 
des zerrissenen Milieus des Elternhauses entzogen werden. Sie muß 
darauf bestehen, daß sich gerade die innere Umgestaltung, das Aus- 
wachsen zur gereiften Persönlichkeit unter ihrer umsichtigen Leitung 
vollzieht. 

Dadurch verliert auch der Gedanke viel von seinem Schrecken, 
daß so viel Psychopathologisches in dem Fürsorgeerziehungsmateriale 
steckt. Auch dessen Anwartschaft auf eine Wendung zum Schlechten 
wird recht wesentlich gemindert, wenn dem krankhaften Nährboden 
die schädigenden Gelegenheitsursachen entzogen werden. Will die 
Fürsorgeerziehung diese Aufgabe lösen, dann kommt es bei diesen 
pathologischen Elementen allerdings um so mehr darauf an zu wissen, 
daß man es eben mit Objekten zu tun hat, die in diesem Stadium 
eine besondere Rücksichtnahme erheischen. Und darum kann man 
sich nicht früh genug über die Wertung des Geisteszustandes klar 
werden. Man darf nicht abwarten, bis die Pubertät dafür gesorgt hat, 
daß diese Abkehr vom Normalen sich auch dem widerstrebendsten 
Auge erschließt. 

Wenn sich schon vorher aus den verschiedensten Gründen die 
Schaffung einer lückenlosen Vorgeschichte und womöglich 
eine psychiatrische Feststellung des Geisteszustandes belohnt 
macht, ist sie für diese Phase gar nicht zu entbehren. 

Damit soll durchaus nicht gesagt sein, daß der Erzieher diese 
suspekten Zöglinge nun immer mit Glacöhandschuhen anfassen solle, 
sobald diese Klippen des Erziehungswerkes in Sicht kommen. Im 
Gegenteil! Zuerst scheint zwar bei vielen dieser Vertreter der Minder- 
wertigkeit, wenn sie nun in das Empfindsame, Reizbare, Schwärmerische, 
Unausgeglichene dieses inneren Gärungsprozesses versinken, eine zarte 
Hand am Platze zu sein. Und doch wäre das eine falsche Medizin! 

Man soll sich in diesen Fällen immer bewußt bleiben, daß diese 
psychische Verstimmung eine schlimme Wendung nehmen kann. 


58 A. Abhandlungen. 





Dementsprechend soll man solche von vornherein mehr gefährdete 
Zöglinge unausgesetzt im Auge behalten. Beobachtet man sie, wenn 
diese Zeit gekommen ist, mit verständnisvoller Sorgfalt, dann ist es 
noch immer Zeit, im richtigen Augenblicke sachverständige Hilfe in 
Anspruch zu nehmen und die Behandlung nach den durch die Lehren 
der Psychiatrie gebotenen Grundsätzen einzurichten. Läßt man diese 
Vorsicht nicht aus dem Auge und ist man imstande, diese Vorgänge 
richtig zu deuten, dann braucht man, auch wenn die Lebensäußerungen 
eine etwas bunte Gestaltung annehmen, nicht von den straffen und 
zielbewußten Grundsätzen abzugehen, ohne die eine erfolgreiche Für- 
sorgeerziehung nicht bestehen kann. 

Man darf natürlich, wenn diese Zeit gekommen ist, nun auch 
nicht säumen, Zöglinge, die aus dem physiologischen Rahmen gar zu 
sehr herausfallen, in das ihnen zukommende Regime zu versetzen. 
Man sollte vor allem auch für die Degenerierten, deren Asozialismus 
jetzt das erlaubte Maß überschreitet, Zwischenanstalten schaffen. Wenn 
ich bei meinen Untersuchungen an schulpflichtigen Zöglingen 
keinen oder höchstens doch ganz vereinzelte Fälle aufzufinden ver- 
mochte, die eine solche Zwischenanstalt beanspruchten, so beweist das 
am besten die Bedeutung, die die Pubertät für die Aussonderung dieser 
pathologischen Elemente in sozialer Beziehung hat. 

Man braucht es im übrigen nicht zu tragisch zu nehmen, wenn 
die Psyche jetzt keinen zu erfreulichen Anblick gewährt. Man kann 
sich leichter damit abfinden, wenn die Besserung auf ethischem Gebiete 
nicht die gewünschten Fortschritte macht, oder wenn sogar eine un- 
erklärliche Verschlechterung die Mühe der Erziehung so übel zu 
lohnen scheint. 

Man soll sich auch gerade in dieser Zeit besonders davor hüten, 
die Aussichten für die Zukunft zu schlecht zu stellen. Wenn 
im Kindesalter und erst recht in der Pubertät die Labilität groß ist, 
ist auch die Erholungskraft des kindlichen Gehirns um so bedeutender. 
Psychische Störungen gleichen sich leichter aus, wenn auch immer 
die geistige Erkrankung auf eine Schwäche des Nervensystems hin- 
deutet, die in gewissem Grade ein Mene Tekel für spätere Erkrankungen 
bleibt. So sollte das Verdikt der Unerziehbarkeit auch bei minder- 
wertigen Zöglingen in diesem Zeitpunkte nur in den schwersten Fällen 
und nur mit der größten Vorsicht gefällt werden. 

Es. gewährt auch einen gewissen Trost, wenn man weiß, daß 
manche in sonstigen Lebensaltern in ihren Heilungsaussichten sehr 
ungünstige Formen von Geisteskrankheit, wenn sie in der Pubertät 
ausbrechen, einen günstigen Verlauf nehmen können. Man hat sogar 


Mönkemöller: Die Psychopathologie der Pubertätszeit. 59 





Fälle beobachtet, in denen die Psychosen in der Jugend sozusagen 
ein kritisches Ereignis darstellen, das die früheren Hemmnisse der 
geistigen Entwicklung beseitigt, daß solche Kinder geistig regsamer, 
für die Umgebung erträglicher und sozialer werden. Allerdings tut 
man gut daran, seine Hoffnungen auf eine solche Spätentwicklung 
nicht zu hoch zu spannen. 

Man kann es, wenn man in seinem Urteile ganz sicher ist, ver- 
antworten, solche psychisch schlechter gestellten Persönlichkeiten in 
besonders schweren Fällen nicht die Zickzacksprünge entgelten zu 
lassen, zu denen sie die Veranlagung und der Drang dieser Periode 
treiben, wenngleich eine solche Rücksichtnahme in dem schwierigen 
Milieu der Anstalt nur mit großer Mühe durchzuführen ist. 

Im allgemeinen aber verlangt gerade diese Periode, 
was immer wieder hervorgehoben werden muß, eine kräftige und 
energische Leitung, die sich von der Sentimentalität dieser Epoche 
nicht anstecken zu lassen braucht. Der Freiheitsdrang muß gezügelt 
werden, wenn er nicht ausarten soll. Geht die Erziehung mit Ruhe, 
Gleichmäßigkeit und Zielbewußtsein vor, dann kann sie sich 
ruhig auch der strengeren Mittel bedienen, ohne eine psychische 
Schädigung befürchten zu müssen. 

Sie braucht nicht auf das Straf- und Züchtigungsrecht zu ver- 
zichten, wenn sie sich auch daran erinnern muß, daß mit dem Ein- 
treten der Männlichkeit die Strafen, deren man ja auch im all- 
gemeinen nach Möglichkeit entraten soll, eine gewisse Um- 
wandlung verlangen. Selbstverständlich muß die Erziehung 
sich dabei wohl bewußt bleiben, daß bei manchen Krank- 
heitsformen, auf die ich jetzt nicht einzugehen brauche, 
und in gewissen Situationen die Strafe unter keinen Um- 
ständen angewandt werden darf. Beherzigt sie das, dann braucht 
sie sonst auch vor dem Minderwertigen selbst in diesem kritischen 
Zeitpunkte nicht halt zu machen. 

Das gilt auch für das Verhalten in der Schule. Man darf es 
in den letzten Schuljahren dem Schüler nicht zu übel nehmen, wenn 
er sich schwerer zu konzentrieren vermag, wenn er unaufmerksamer 
wird und träumt, wenn er in seinen Fortschritten nachläßt und dafür 
mit um so kümmerlicheren ethischen Leistungen aufwarte. Man tut 
gut daran, wenn man solche Schüler, bei denen sich dieses Nachlassen 
in unauffälliger Weise bemerkbar macht, einer besonderen Beobach- 
tung würdigt und nie den Gedanken an ein beginnendes psychisches 
Leiden auszuschalten trachtet. 

Man soll sich auch davor hüten, bei minderwertigen Schülern, 


60 A. Abhandlungen. 








die nur mit Mühe und Not durch die einzelnen Klassen geschleppt 
werden müssen, so lange zu warten, bis die Pubertät den völligen 
Zusammenbruch ins Werk setzt. Besser ist ein rechtzeitiger Verzicht 
auf den normalen Ablauf der Schullaufbahn und unbekümmerte In- 
anspruchnahme der Hilfsschule auch in einer Zeit, die schon für 
diese Umsattelung etwas vorgeschritten erscheint. In solchen Fällen, 
in denen die physiologische Einwirkung der Pubertät einen patho- 
logischen Werdegang zu nehmen droht, kann man das Maß seiner 
Ansprüche herabsetzen. Sonst aber braucht man sich vor dem Ge- 
spenste der Überbürdung auch in dieser kritischen Zeit nicht zu 
fürchten. Dafür bürgt schon die Art des Materials und des Lehr- 
ganges, der von den Aufgaben höherer Schulen nicht beschwert ist. 
Man kann dem Geiste ruhig alies das zumuten, was von einem 
normalen Schüler entsprechend seiner allgemeinen Veranlagung ver- 
langt werden kann. Es ist sogar sehr gut, wenn ihm ein nicht zu 
knapp bemessenes Pflichtpensum abgezwungen wird, um eine Ab- 
lenkung von dem gärenden Gedankeninhalte dieser Zeit herbeizuführen. 

Gilt das schon von der Arbeit auf geistigem Gebiete, so ist die 
körperliche Arbeit geradezu ein wichtiges Gebot. Auf diese Weise 
kann sich die steigende Muskelkraft auf legalem Wege austoben, der 
Tatendrang findet hier die zweckmäßigste Befriedigung und gleichzeitig 
ist sie das beste Mittel, geschlechtlichen Verirrungen durch die ein- 
tretende Ermüdung einen Damm entgegen zu setzen. 

In diesem Übergangsstadium, in dem die Abhängigkeit des 
geistigen Befindens von körperlichen Vorgängen unbestreitbar ist, 
muß eine Kräftigung des Körpers durch gute Nahrung, den Aufenthalt 
in frischer Luft, durch eine sorgfältige Hautpflege, durch Turnen und 
gymnastische Übungen das erste Gebot sein. Gerade die Über- 
wachung der ganzen Lebensführung, wie sie die krankhafte Aus- 
gestaltung der erblichen Anlage verhüten soll, läßt sich kaum besser 
wie in der Anstaltsbehandlung durchführen. 

Man muß sich in diesen Geburtsjahren des Geschlechtstriebes 
auch damit abfinden, wenn sich jetzt die Onanie als Inventarstück 
dieser Periode erweist. Man muß sich oft darauf beschränken, den 
Kindern über diesen schwierigen Zeitpunkt wegzuhelfen und vor allem 
das weibliche Geschlecht vor dem Chronischwerden der sexuellen 
Neigungen zu behüten. Wie verwerflich sie auch sind und wie sehr 
es schmerzt, daß man im Kampfe dagegen oft so wenig ausrichtet, — 
man trägt die Exzesse leichter, wenn man weiß, daß es sich in der 
Regel um ein ausgleichbares Übel handelt, das mit der Zeit nach dem 
Vorübergehen dieser Periode selbst Valet sagt. 


Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 61 





Der therapeutische Gesichtspunkt, der die Fürsorgeerziehung be- 
seelen soll, bei ihren Schutzbefohlenen in diesem Zeitpunkte die 
schlummernde Anlage vor schädlichen Gelegenheitsursachen zu be- 
wahren, muß sie auch bestimmen, manchen den Eintritt in die Familien- 
pflege länger zu verwehren. Nimmt die Geschlechtsentwicklung eine 
etwas auffallendere Gestaltung an, dann tut man am besten daran, 
diese Stürme im Hafen der Anstalt austoben zu lassen und ihnen erst 
später mehr Freiheit und größere Selbstbestimmungsfähigkeit zu ge- 
währen. 

Mit Rücksicht auf die Gefahren, die den erblich Belasteten gerade 
in dieser Zeit vom Alkohol drohen, kann auch nicht früh genug mit 
dem Kampfe gegen diesen Erbfeind der Degenerierten vorgegangen 
werden. Vor allem muß eine energische und anschauliche Aufklärung 
über seine Schädlichkeit erfolgen. 

Eine kritische und richtige Behandlung verwahrloster Persönlich- 
keiten, die dem Maße der geistigen Minderwertigkeit — auch auf 
diesem Gipfel ihrer krankhaften Laufbahn — gerecht wird, ohne den 
Zügel der straffen Erziehung schleifen zu lassen, wird für immer 
eines der schwierigsten Probleme der Fürsorgeerziehung bleiben, das 
an das Taktgefühl, an den pädagogischen Scharfblick und das psychi- 
atrische Verständnis der Erzieher zuweilen recht hohe Anforderungen 
stellt. Sie bleibt aber auch ein sehr dankbares Arbeitsfeld. Wer die 
Probleme gerade dieser Zeit richtig erfaßt und überschaut, 
der wird auch das gesteckte Ziel am leichtesten erreichen, 
der wird hier gerade die schönsten Erfolge feiern. 


2. Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwach- 
sinnigen und schwerschwachsinnigen Kindern. 
Von 
Kurt Lehm, Dresden. 

(Mit 4 Abbildungen.) 

(Fortsetzung statt Schluß.) 

Einige Ausführungen zu vorstehenden Tabellen. 

Gern hätte ich die Zahl der Tabellen vermehrt, doch erschien sie 
mir für Zweck und Umfang dieser Arbeit hinreichend. Auch wird 
man in den Tabellen die Ergebnisse des Jahres 1911 vermissen. 
Diese habe ich ausgeschaltet aus zwei Gründen: es änderte sich der 
Schülerbestand bis auf sechs Schüler, auch brachte er mir — ich 
greife damit voraus — dieselben Erscheinungen in der sprachlichen 
Entwicklung wieder, ich hätte also in der Hauptsache nur Wieder- 


62 A. Abhandlungen. 


holungen bieten können. Andrerseits verfuhr ich auch von Ostern 
1911 an methodisch in anderer Richtung, so daß dadurch die weiteren 
Tabellen nicht mehr auf derselben Grundlage sich befunden haben 
würden, wie ja bereits die Ergebnisse von 1912 unter diesem neuen 
Einfluß stehen. Diese Gründe sollen auch dem folgenden Teil meiner 
Abhandlung die Disposition geben. 

a) Welche Erscheinungen in der sprachlichen Entwicklung und 
Wesenheit der beobachteten schwerschwachsinnigen Kinder ergaben sich? 

b) Welches methodische Verfahren erwies sich der geistigen 
Eigenart der schwerschwachsinnigen Kinder entsprechend ? 

Wenn ich im folgenden vom Sprechunterricht rede, möchte ich 
diesen Begriff zunächst nur auf Laut- und Wortsprechen begrenzen. 
Vom Satzsprechen gedenke ich in einer besonderen Abhandlung ein- 
mal zu schreiben. 

Die Klasse im Jahrgang 1910—1911 hatte zwölf Schüler, darunter 
befanden sich zwei ziemlich gute Wortsprecher. Die Klasse im Jahr- 
gang 1911—1912 setzte sich aus fünfzehn Schülern zusammen, dar- 
unter befanden sich drei Kinder, die die behandelten Wörter fast 
fehlerfrei sprachen. Es erwiesen sich somit die Vorschüler dieser 
beiden Jahrgänge in der großen Mehrzahl als Sprachkranke: fünf Ge- 
sunde, zweiundzwanzig Sprachkranke. Es ist damit die zwingende 
Notwendigkeit besonderen Sprechunterrichts für die Vorstufe wie für 
die folgenden Klassen dargetan. Aus dem Jahrgang 1910/11 gehörten 
auch dem Jahrgang 1911/12 an die in den Tabellen mit A, B, C, G, 
H, L bezeichneten Schüler. 

Nach Maßgabe der Tabellen seien nun einmal die in der Klasse 
1910/11 herrschenden Sprechübel zusammengestellt. Die zu sprechen- 
den Wörter wurden entstellt durch Weglassung von Vokalen und 
Konsonanten, durch Hinzufügung von Lauten, die in den Wortverband 
nicht hineingehörten, durch Nachklingen, durch Vorausnahme, durch 
Austausch gegen ähnlich klingende Laute, durch falsche Atemführung, 
durch fehlerhafte Heraushebung gewisser Lautelemente und andrerseits 
durch bedenkliche Verflüchtigung, durch Anwendung von Übergangs- 
lauten: ein ganzes Heer von Sprechfehlern, und dabei waren die 
Kinder in ihren Sprechorganen gesund. 

Dieser Über- oder soll ich sagen Ohnmacht stand ich zunächst 
ziemlich ratlos gegenüber. Die Vokale nahm ich durch nach Köllescher 
Weisung, probierte aber auch die Konsonanten durch, wobei ich fand, 
daß die meisten von allen Kindern ziemlich richtig gesprochen wurden, 
so daß es mir nicht recht einleuchten wollte, daß die einzelnen Kon- 
sonanten an Begriffswörtern erst erlernt werden sollten. Gleichwohl 


Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 63 
blieb ich Kölle treu, stieß aber bei den Begriffswortübungen auf 
erhebliche sprechtechnische Schwierigkeiten. Das Unterfangen, das 
fehlerhaft gesprochene Begriffswort bei allen Kindern in täglicher 
Übung zu möglichster Vollkommenheit herauszuarbeiten ohne Hinzu- 
nahme neuer Begriffswörter, unterließ ich bald. Dauerübungen in 
derselben Richtung halfen nicht über die Klippe. 

Ich versuchte auf andere Weise zum Ziel zu gelangen. Ich 
arbeitete das einzelne Wort bis zu einer zunächst erreichbaren Voll- 
kommenheit aus, nahm neue Begriffe hinzu, griff aber tagtäglich auf 
die vorher geübten Wörter zurück, um aufzufrischen und weiter aus- 
zubauen. Da ich bei diesen Übungen schon nach einigen Tagen die 
Übersicht über den Stand des einzelnen Kindes verlor, nahm ich 
meine Zuflucht zu Aufzeichnungen und fand in ihnen einen Weg- 
zeiger zu ganz individuellem Verfahren, machte dabei auch für metho- 
dische Maßnahmen wichtige Entdeckungen. Ich ersah daraus z. B., 
daß ich im Anfang einen großen Fehler begangen hatte, indem ich 
zu rasch über die Vokale hinweggegangen war, und weiter wurde 
mir klar, daß der neu zu behandelnde Konsonant mit jedem Vokal 
in Verbindung gebracht, nicht ohne weiteres den betreffenden Vokal 
wiedererkennen ließ, da durch die silbische Verbindung der Vokal 
mancherlei Klangabänderungen erfährt: so war es gekommen, daß ich 
bei der Mehrzahl der Schüler vor jedem Worte Laut- und Silben- 
übungen hatte vornehmen müssen, um mich dann schließlich dem 
Wort selbst zuwenden zu können. Und das war wieder ein steiniger, 
ziemlich unvermittelt zur Höhe führender Pfad, und diese Art der 
Begriffserwerbung schien mir für meine Schüler nicht angenehm. Es 
dauerte bei manchen Wörtern Tage, Wochen, ja Monate, ehe ich das 
Ziel einigermaßen erreichte. 

Ich suchte einen andern Weg für den Sprechunterricht ausfindig 
zu machen, ich hielt mich an die Artikulationsfibel von Rehs und Witt. 
Leider reichte für die Vorübungen der Stoff nicht aus; auch erwiesen 
sich die einzelnen Gruppen zu wenig in sich geschlossen. Ich er- 
gänzte nach andern phonetischen Fibeln, fand aber bei allen denselben 
Fehler: Lesefibeln, nicht Sprechfibeln sind sie. Eine wertvolle 
Entdeckung machte ich aber bei den Silbenübungen: Sie sind eine 
Wohltat für die an Gedächtnisstörungen leidenden Kinder. 
Die wenig umfänglichen Silben überblicken sie, merken sie; voran 
die einzelnen Laute, dann kleine Lautvereinigungen, die Silben, so 
dringen die Sprachelemente als Pioniere der klingenden Sprache vor 
ins Lautbewußtsein. Nötig sind solche Übungen auch in der Normal- 
schule, denn dem Elementaristen muß die Klangwelt der Sprache auch 


64 A. Abhandlungen. 











erst erschlossen werden. Bitternot sind solche Übungen aber den 
Schwachen und Schwächsten der Elementaristen, den C-Schülern des 
Differenzierungssystenis. Ich bin der Überzeugung, daß die Zahl der 
Schüler, die in der achten Klasse wegen ungenügender Leistungen in 
Deutsch sitzen bleiben müssen, erheblich geringer werden wird, wenn 
den grundlegenden Übungen der Laut- und Silbenerfassung und 
Wiedererzeugung viel mehr Raum gewährt wird. 

Diese Überzeugung ist nicht das Ergebnis einer gedanklichen 
Verallgemeinerung, sie ist in der Erfahrung begründet, die sich in 
einer Reihe von Jahren bei der Arbeit im Deutschunterricht der 
Elementarklasse wiederholte. In dem bei Wunderlich - Leipzig er- 
schienenen Buche »Wie ich meine Kinder das Lesen lehre« habe ich 
mein Verfahren dargelegt; ich bin damit alljährlich unter reichlicher 
Einwirkung auf die Schwachen schnell und sicher zum Ziele gelangt 
und hatte alljährlich die Freude, meine Kinder unvermittelt fest vor 
die Tatsache stellen zu können, dies meist zwischen Michaelis und 
Weihnachten schon: Jetzt könnt ihr das ganze Buch auslesen; jetzt 
fangen wir die Fibel an. Und da hub ein freudiges Jauchzen an, 
und die Freude steigerte sich bis zur letzten Seite. Das war Lesen, 
Hineinlesen ins Buch, nicht Auswendiglesen. Doch dies nicht etwa 
mir zu Lob, ich schreibe es um der Sache, vor allem um der Kinder 
und unter ihnen um der mir sehr am Herzen liegenden Schwachen 
willen. 

Mein Buch nahm ich jetzt zur Hand für den ersten Sprech- 
unterricht in der Vorklasse. Nach meinem bisherigen Verfahren lag 
ein Fehler in der methodischen Einheit » Wortbildung«, insofern 
nämlich die Wörter unvermeidlich schwere Lautverbindungen bringen 
mußten. Die Wortauswahl traf ich nun immer unter Bedacht darauf, 
welches Silbenmaterial meinen Kindern für glattes Sprechen zur Ver- 
fügung stand. Hätte ich mich aber ganz und gar nach meinem Buche 
richten wollen, so wären wesentliche Schallträger und Lautsinnbildner 
sehr spät ins Übungsbereich gezogen worden, die Um- bezw. Doppel- 
laute ä ö ü oi ai au. Ich schaltete sie sehr bald ein und konnte auf 
diese Weise das Silbenmaterial und den Wortschatz bedeutend ver- 
mehren. Nachdem alle Laute behandelt und die Wörter mit ein- 
fachen Silbenverbänden durchgenommen waren, begann ich die Ein- 
führung in die Wörter mit Konsonantenhäufungen und verfuhr dabei 
nach der aus der Elementarunterrichtspraxis als zweckmäßig erfundenen 
Methode: Konsonantenfolgen in der Wortmitte, am Wortende, am 
Wortanfang. Die Übungsgruppe Kl, Gl gestaltete sich so: 


Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 65 








a a 

e e 

i i 

o o 

u u 

KI ? au GI ? au 

ei ei 

ä ä 

ö ö 

oi oi 
Wortmaterial: a) klagen b) Klasse c) klaps 

klar klatschen klitsch 

Klara Kleister klatsch 

kleben Klemmer Klotz 

klein Klapper 

Kleid Klumpen 

klug 


USW. 


Dieser Weg war insofern vermittelnder, als die Kinder in etwa 
halbjähriger Übung an Silben und Wörtern und Dingen ohne Kon- 
sonantenhäufungen sich sprachlich stärken konnten, und dabei eine 
gewisse Elastizität der Sprechwerkzeuge erreicht wurde. Nun konnten 
sie mit Vertrauen an die Konsonantenhäufungen herantreten. Die 
ersten ergaben sich aus silbisch günstig gestalteten Wörtern z. B. Im 
aus Selma usw. Auf Konzentration konnte ich allerdings nicht in 
dem Maße zukommen, wie ich es gern gehabt hätte. Immerhin war 
das Verfahren für die Kinder und für mich befriedigend. Wie sich 
auch die Konzentrationsfrage doch noch in Einklang mit dem Sprech- 
unterricht bringen läßt, darüber schreibe ich dann noch. In diesem 
Zusammenhange scheint es mir zuvor wichtiger, noch eine sprech- 
technisch-methodische Frage zu behandeln. 

In den Tabellen ist durch Ausrufezeichen auf Schüler mit falscher 
Atemführung hingewiesen, ferner sind Fälle von Wort- und Silben- 
zerreißung ersichtlich. Diese Übel wollten sich auch nicht beseitigen 
lassen. Da beschloß ich, mir Rat bei einem Sprechmeister zu holen 
und absolvierte einen sechswöchigen Stimmbildungskursus bei Professor 
Eduard Engel-Dresden. Die viele Mühe, die dieser Kursus brachte, 
ist mehrfach aufgewogen worden. Zunächst merkte ich bald, daß für 

Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 5 


66 A. Abhandlungen. 
mich ein großer Vorteil aus dieser Arbeit erwuchs: Das viele, viele 
Vorsprechen in der Vorstufe verursacht mir keinerlei Beschwerden 
mehr, und die Art und Weise der Lautwiedergabe wirkt sprachlich 
erziehend, die Auffassung erleichternd, auf die Kinder. Vor dem 
Kursus erging es mir manchmal wie Kölle, meine Stimme schien mir 
oft nicht ausdauernd genug. Professor Engel hat meine Stimme ge- 
stählt, Ermüdung kenne ich nicht mehr, ja, das Vorsprechen, die 
immerwiederkehrende Durchnahme der Elemente ist mir aufs neue 
Gelegenheit, den Gesundungsweg zu beschieiten. Und diesen Weg 
gehen meine Kinder mit. Sie erwerben eine sichere Artikulations- 
basis, Vokalklang- und Vokaldauer, richtige Stimm- und Atemführung. 

Einige Worte zu den drei Punkten. Ausführliches über die 
Engelsche Methode in der Hilfsschule habe ich geboten im fünften 
Band der Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des jugend- 
lichen Schwachsinns (Fischer-Jena) unter der Überschrift: Sprachliche 
Erziehung in der Hilfsschule unter besonderer Berücksichtigung der 
Methode von Professor Engel-Dresden. 

a) Vielfach machte ich bei den Sprechübungen die Bemerkung, 
daß die Kinder nicht wußten, wie sie die Zunge einstellen sollten; 
und doch ist die Zunge das Hauptsprechwerkzeug. Von ihr hängt 
die ganze Vokalbildung ab, und die von Engel geforderte Grund- 
stellung — vorderer Zungenrand an den Oberrand der Unterzähne — 
läßt sich auch bei Hilfsschulkindern erreichen. Die Zungenlage be- 
seitigt die durch das Zurückziehen der Zunge bei aeiouäöü 
oi ai au entstehenden Schallräume vor der Zungenspitze, erweitert 
dafür aber das hintere Schallrohr, das durch das Zurückdrängen der 
Zunge verengt wird und infolgedessen die Entfaltung der Laute, der 
Stimme hemmt. 

b) Nach Einübung dieser Grundstellung bekamen die Vokale bei 
meinen Hilfsschülern andre Klangfarbe. Die Kinder merkten es selbst 
und freuten sich darüber. Das schwerstimmkranke Kind A (Tabelle) 
hat auch unter diesem Erkennen gestanden und hat Arbeitsfreude in 
dieser Methode gefunden. Mit einem einmaligen Nachsagen eines 
Vokales war es freilich nicht getan, jeder Vokal wurde in lang- 
klingendem Tone gesprochen und dann in Vokalverbänden geübt, so 
daß nach und nach die Doppelreihe der Engelschen Vokalschule 


entstand 
aeiou 


ä ö ü oi ai au 
Freudig überrascht war ich damals bei Beginn des Engelschen 
Kurses, als ich auf diese Übungsgruppe kam. Sie war mir bekannt 


Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 67 


aus langjähriger Arbeit in Elementarklassen, und wenngleich ich, wie 
ich schon vorher angedeutet habe, diese Laute in andrer Gruppierung 
behandelte, so war es mir doch höchst erfreulich, in der Engelschen 
Grundschule eine stofflich ähnlich meiner Arbeit gruppierte Einheit 
vorzufinden; jedoch trat, wie ich auch bemerkt habe, ein andres Ver- 
fahren hinzu. Es handelte sich nicht nur darum, daß die Selbst-, 
Um- und Doppellaute einzeln gesprochen wurden, sondern daß man 
sie zu Lautketten vereinte, daß die Gruppen also so gesprochen 
werden müssen: 
E 
ä ö ü oi ai au 

Es entspricht der Lernweise schwachsinniger Kinder, wenn man 
nicht eine ganze Lautkette auf einmal vornimmt, sondern aufbaut von 
zwei zu drei Gliedern usw. Es ergibt sich dann nach und nach bei 
täglicher Übung eine wohltuende und für die Übenden in mancher 
Beziehung nützliche Vokallänge. 

c) Vokallänge und Vokalklang sind bedingt durch richtige Atem- 
führung und Stimmeinstellung. Früher hatte ich mit meinen Sprech- 
schülern besondere Atemübungen vorgenommeu, u. a. nach Gutzmann. 
Nun sind diese Übungen ohne Zweifel von mancherlei Vorteil. Für 
Schwachsinnige bezw. Schwerschwachsinnige tritt aber durch die Kom- 
plikation, daß sie beim Sprechen nun auf diese oder jene Atemübung 
achten sollen, eine Erschwernis ein. Nach Prof. Engels Methode sind 
besondere Atemübungen nicht nötig, es ergeben sich bei Aufbau der 
Sprechübungen ganz natürlich der Drang nach größerem Atemvolumen 
und die Einsicht in die ökonomische Verteilung des Atems. Mit den 
Vokalübungen setzt bei den Kindern von selbst die richtige Atem- 
führung ein, und damit bessert sich die Stimme. Das ist das letzte 
Rätsel gewesen, vor dem ich bisher bei den Sprechübungen in der 
Vorstufe gestanden habe. Doch wer weiß, vor welch neue Rätsel die 
Tage nach Ostern uns schon wieder stellen. 

Das bisher Dargelegte überschauend bezw. weiterführend, ergeben 
sich folgende Tatsachen: 

Die seit 1910 beobachteten beiden Vorstufeklassen der Hilfsschule 
waren von vielen sprechkranken Kindern besucht; 1910/11 waren es 
s31/,%,, 1911/12 80°/, des Klassenbestandes. 

Von diesen sprachkranken Kindern kamen 1910/11 bezw. 1911/12 
zu guter bezw. leidlicher Aussprache der geübten Wörter 60 bezw. 
T5 %,. 

5* 


68 A. Abhandlungen. 








Zu einer verständlichen Aussprache aller geübten Wörter hatten 
es unter den Sprachkranken noch nicht gebracht 231/, bezw. 5°%),. 

Das Unterziel des Wortsprechens wurde 1910 bis 1912 erreicht 
von sechs Kindern in einem Jahreskursus, von neun Kindern in zwei 
Jahreskursen; sieben Kinder haben das Ziel mit zwei Jahreskursen 
noch nicht erreicht. Unter diesen sieben Schülern befinden sich drei, 
die auf eine vierjährige Hilfsschulzeit zurückblicken. Sie besuchten 
zwei Jahre die Unterstufe — Vorstufe hatten wir damals noch nicht 
— in wohlgefüllter dritter Klasse. Für sie waren diese beiden Jahre 
in Bezug auf sprachliche Förderung, wenn auch nicht nutzlos, so doch 
nicht in dem Maße nutzbringend, als es dann im Sonderunterricht 
möglich sein konnte Wenig gegliederten Hilfsschulen sollten 
auf jeden Fall besondere Sprechstunden zugebilligt werden. 
Wie wichtig der Sprechunterricht für die Hilfsschule ist, das wird 
jetzt auch gesetzlich anerkannt. Der Entwurf für ein Schulgesetz 
für das Königreich Sachsen bringt in $ 21 — Hilfsschulle — 
folgenden Passus: »Auf die körperliche Ausbildung, die Förderung 
der Handgeschicklichkeit und die Pflege der Sprache ist be- 
sonderes Gewicht zu legen.« 

Nun kann ja freilich der Einwand erhoben werden: es ist der 
Erfolg vierjähriger Arbeit doch recht gering; es wäre wohl ratsam, 
solche Kinder, die sprachlich so tiefstehend sind, daß sie bei Schul- 
eintritt sich nicht mit ein paar Worten verständlich machen können, 
die wohl gar zur Geste greifen, entweder gar nicht erst aufzunehmen 
in die Hilfsschule oder sie doch bald wieder zu entlassen zugunsten 
andrer, sprachlich befähigterer Kinder. 

Ich bin anderer Meinung. Die eben dargestellte vierjährige Arbeit 
an schwerschwachsinnigen, sprachlich bedenklich zurückstehenden 
Kindern läßt mich die Ansicht aussprechen, es möchte mit solch be- 
dauernswerten Geschöpfen nicht nach der Schablone verfahren werden, 
falls sie sonst nicht unterrichtstörende Eigenschaften haben. Einmal 
weiß man nicht, ob sich das Kind doch nicht noch sprachlich ent- 
wickelt, wenn die Entwicklung auch langsam vorschreitet; weiter kann 
man nicht wissen, ob das sprachkranke Kind nicht auf anderen Ge- 
bieten Fortschritte machen wird; es kann sogar der Fall sein, daß ein 
sprachlich besser gebildetes Kind hinter dem sprachkranken in andern 
Leistungen zurückbleibt. Und es ist doch die Sprache ein so köst- 
liches Gut für jeden Menschen, daß die Hilfsschule an ihrem Teil 
das Beste dransetzen muß, um auch den sprachlich schwergeschädigten 
Kindern das erreichbar Mögliche zu verschaffen, daß sie soweit kommen, 
daß sie sich mit wenig Worten (ich denke nicht an grammatisch gut 


Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 69 





gebaute Sätze) verständlich machen und fortfinden können. Schaltet 
man solche Kinder vom Hilfsschulunterricht aus — wer nimmt sich 
ihrer zu sprachlicher Erziehung an? Das Elternhaus? Sollte es in 
sprachlicher Erziehung mehr vermögen als die Schule? Oder soll der 
Zufall dieser Ärmsten Lehrer sein? Ja, wenn diese Kinder in der 
ganzen Hilfsschulzeit nur — es ist das viel — die nötige Umgangs- 
sprache verstehen lernten, wenn sie es weiter vermöchten, ganz kurz 
zusammengehörige Sachganze sprachlich zu bezeichnen, z. B. ein Stück 
Butter — ein Pfund Mehl — ich heiße NN usw., so wäre ihnen der 
Lebensweg immerhin einigermaßen erleichtert, und die Hilfsschule 
könnte sich mit Beruhigung sagen: wir haben das Erreichbare erstrebt 
und erreicht. 

Und so habe ich mir vorgenommen, nicht mehr nach der ein- 
gangs erwähnten Kölleschen Begriffssammlung zu verfahren, sondern 
folgende Gruppen — Lebensbilder — zu bearbeiten und mich zu 
ihrer lebenspraktischen Verwertung mit dem Elternhause in Ver- 
bindung zu setzen: 

a) Gegenstände und Tätigkeiten in der Küche. 

b) Gegenstände und Tätigkeiten in der Wohnstube. 

c) Gegenstände und Tätigkeiten in der Schlafstube. 

d) Gegenstände und Tätigkeiten beim Reinemachen. 

e) Gegenstände und Tätigkeiten bei der Wäsche. 

f) Die einfachen Grußformen im Elternhause. 

g) Die einfachen Grußformen auf der Straße. 

h) Die einfachen Grußformen in der Schule. 

i) Gegenstände und Tätigkeiten in der Schulstube. 

j) Teile des Schulhauses vom Keller bis zum Boden. 

k) Gegenstände und Tätigkeiten im Schulgarten. 

1) Gegenstände, Lebewesen und Tätigkeiten auf der Straße. 

m) Was die Kinder beim Kaufmann holen, und was sie da sagen 

müssen. 

n) Was die Kinder beim Fleischer holen, und was sie da sagen 

müssen. 

o) Was die Kinder beim Bäcker holen, und was sie da sagen müssen. 

p) Was die Kinder im Büdchen holen, und was sie da sagen müssen. 

q) Was die Kinder im Milchladen holen, und was sie da sagen müssen. 

r) Der Körper des Kindes, seine Tätigkeiten, seine Bedürfnisse. 

s) Die Kleidung des Kindes. (Aus was? wozu? woher? Sommer, 

Winter?) 
t) Tätigkeiten und Gegenstände beim Flicken. 
u) Ordnung (Bürste, Kamm, Schwamm und Seife). 


70 A. Abhandlungen. 





v) Spielbezeichnungen und in Spielen gebräuchliche Ausdrücke. 

w) Die für das Zimmerturnen und die Atemübungen gebräuch- 

lichen Kommandos. 

x) Familienfeste (Geburtstag, Kindtaufe). 

y) Kinderfeste (besonders Weihnachten; was das Christkind 

bringt usw.). 

z) Vom Wetter und den Jahreszeiten. 

Diese und ähnliche Stoffe gedenke ich nach zwei Richtungen hin 
konzentrisch unterrichtlich zu verwerten. Die einzelnen Kapitel werden 
nicht mit einem Male erschöpft; aus jeder Gruppe werden zunächst 
im Nacheinander die einfachsten Wörter und Sachganzen herausgegriffen. 
Dann beginnt der zweite Turnus; da werden schwerere Wörter und 
Sachganzen drangenommen; dann schließt sich ein dritter, wenn nötig 
vierter Gang an. Am Jahresende kann jede Gruppe in ihrer jeweilig 
erreichten Grenze wiederholend zu einem Sach- und Sprachganzen 
aufgebaut werden. Es soll sich demnach der Sprechunterricht nach 
folgendem Entwurfe abwickeln. 

Phonetische Materielle 





Seite des Sprechunterrichts 

1. Gang: Wörter ohne Konsonanten- 
häufung. 

2. Gang: Wörter mit Konsonanten- 
häufung in der Mitte. 

3. Gang: Wörter mit Konsonanten- 
häufung am Ende. 

4. Gang: Wörter mit Konsonanten- 
häufung am Anfang. 


Diesem Lehrgang werde ich eine besondere Behandlung der Selbst-, 
Um- und Mitlaute vorangehen lassen. — Die Zukunftspläne haben 
sich bis zur Erledigung der Korrektur dieser Arbeit zur erfolgreichen 
Tat verwirklicht. Zu Ostern hoffe ich in einem besonderen Heft eine 
»Stoffsammlung für den Sprechunterricht in den Unterklassen der 
Hilfsschule« vorlegen zu können. 

Wird auf diese Weise ein bestimmter Gang, eine bestimmte 
Methode für die Jahresarbeit gewonnen, so wird auch der Gang der 
einzelnen Stunde in gewissen Beziehungen dadurch mitbestimmt. Auch 
sie muß der Forderung auf Berücksichtigung der phonetischen und 
materiellen Seite der Sprache und der sprachlichen Eigenart der 
Kinder entsprechen. Sie muß also aufweisen 

a) sprechtechnische Vorübungen, 
b) deren Anwendung im Sachunterricht. 


Die Sachstoffe unter a—z. 


Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 71 








Aus diesem Grunde habe ich seither schon immer den Sprech- 
unterricht dem Anschauungsunterricht vorangestellt, wie auch aus dem 
eingangs vorgelegten Stundenplan zu ersehen ist. Habe ich die Kinder 
auf die lautlichen und silbischen Schwierigkeiten vorbereitet, die der 
Stoff des Anschauungsunterrichts bringt, so erwächst den Kindern 
ein freudiges Empfinden, wenn sie das neue Ding richtig sagen können, 
während die Lust an der Sache wesentlich gedämpft wird, wenn nun 
erst die Einzelexerzitien beginnen. 

1. Lautübungen, 
2. Silbenübungen, 
3. Wortübungen, 
4. Satzübungen. 

Das ist die Übungsreihe, die der Lernweise der sprachlich ge- 
schädigten schwachsinnigen und schwerschwachsinnigen Kinder ent- 
spricht. Es heißt eben, das Gute, das Kölle bietet, zu verbinden mit 
dem, was solche Kinder aus ihrer Eigenart heraus verlangen: be- 
sondere sprechtechnische Vorübungen. Ob man nun bei den sprech- 
technischen Übungen nach Methode X, Methode Y oder Z verfährt 
ist Nebensache, die Hauptsache ist, daß diese Methode dann auch in 
der ganzen Schule auf allen Stufen beibehalten wird. Welche Methode 
aber auch zur Anwendung komme, es ist im einzelnen zu beobachten 

a) bei den Lautübungen: 

Suche eine schöne Klangfarbe, Klangstärke, Klanglänge der 
Selbst-, Um- und Doppellaute zu erreichen; pflege sie ganz 
besonders unter Beachtung der Zungenlage. 

b) bei den Silbenübungen: 

l. Der Konsonant werde im Einzelstudiun gut gebildet. 

2. Bei der silbischen Verbindung behalte der Selbst-, Um- oder 
Doppellaut die Führung. In gewissen Fällen ist es gut, 
den Konsonanten auffassen zu lassen als eine kurze Unter- 
brechung des Vokalklanges. 

e) bei den Wortübungen: 

1l. Ordne nach der Sprechschwierigkeit in konzentrischen Kreisen 
innerhalb bestimmter Stoffgruppen. 

2. Den Vorübungen schließe sich mit dem Wortsprechen die 
Anschauung an. l 

d) beim Satzsprechen: 

1. Es setze möglichst bald ein. 

2. Der methodische Gang sei so aufgebaut, daß die ersten Sätze 
nur aus Begriffswörtern bestehen z. B. Feuer brennt, Hunde 
beißen, Mutter wäscht usw. 


72 A. Abhandlungen. 





Zu Punkt b sei noch ein illustrierendes Beispiel gegeben von 
der Wirkung des wie ein Oberton über den Konsonanten liegenden 
Selbstlautes. Es handelt sich um ein Kind, das ich nur perioden- 
weise beobachten konnte, das darum auch in den Tabellen nicht er- 
wähnt ist. 





Der er Der Schüler sprach Zum en 
eure euer öre ___> 
Papier bier Päpier —— > 
Zigarre Harre Zigarre — > 
Flasche Slasche f, äfla 
blau kau b, bl, aüblau 
Leo ole Leo 
Laterne Lerterne Läterne —— > 
Essenkehrer Ehrerkessen Essenkehrer ——— > 
Waschlappen Lappwasch Wäschlappen —— > 





Für dieses Kind bildeten die langgehaltenen Vokale Ruhepunkte 
im Sprechen und Aussichtspunkte nach den nächsten Lauten, Über- 
legungsstationen, und diese sind für unsere gedankenschwachen Kinder 
recht nötig. 

Nun ist es auch eine allgemeine Erfahrung, daß Hilfschulkinder 
zum großen Teil zu Energielosigkeit hinneigen, und man täuscht sich 
wohl nicht zu selten, wenn man diesen Grund für Unaufmerksamkeit 
und Mißerfolge gelten läßt. Und doch kann es vorkommen, daß man 
in dieser Annahme einen Fehlschluß tut, wie es mir mit letzt- 
erwähntem Kinde erging. Es sollte das Wort Zwieback gesprochen 
werden. Zwiegagg bekam ich zu hören. Das b wurde erläutert, die 
Mundstellung beobachtet, der Luftstrom an der Hand gespürt, die 
Silbenverbindung ba, iba, iback geübt, und doch blieb es bei Zwiegagg, 
offenbar war die falsche Aussprache ein Nachklang aus der Zeit des 
Kleinkinderstammelns. Und jetzt war der Schüler zehn Jahre alt. Lag 
Energielosigkeit vor? Freundliche und ernstliche Ermunterungsworte, 
Angriffe aufs Ehrgefühl blieben ohne Erfolg. Die Lösung ergab sich 
schließlich dadurch, daß ich das ie in dem Worte Zwieback auffallend 
lang vorsprach und sprechen ließ. Es kam dabei zur Überlegung, 
und das Wort gelang. Wochen waren in vergeblichem Mühen ver- 
gangen, und die Vokallänge brachte schließlich leichten Erfolg, — 
Im Anschluß hieran sei erwähnt, daß die Sprechübungen im be- 
sonderen für Hilfsschüler einen hohen Wert insofern haben, als sie 
zur Selbstbeobachtung, Selbsterziehung und zur Energiegewinnung 
anleiten. (Schluß folgt.) 


1. Die XIV. Konferenz des Vereins für Erziehung, Unterricht usw. 73 





B. Mitteilungen. 


1. Die XIV. Konferenz des Vereins für Erziehung, 
Unterricht und Pflege Geistesschwacher 


wurde zu Bielefeld am Abend des 8. September 1912 durch eine Be- 
grüßungsansprache des Vereinsvorsitzenden, Erziehungsinspektors Piper 
(Dalldorf), eröffnet. Er gedachte darin mit warm empfundenen Worten der 
Verstorbenen, erwähnte kurz die Neugründungen von Anstalten, deren 
eine ganze Anzahl zu verzeichnen waren, und machte Mitteilungen über 
Direktoratwechsel, Jubiläen, Geschenke für die Vereinskasse usw. Auf die 
Verlesung der Neuerscheinungen der Literatur wurde verzichtet; das 
Literaturverzeichnis wird dem später erscheinenden gedruckten Bericht bei- 
gefügt. In den Vorstand wurde (nach Wiederwahl der ausscheidenden 
Mitglieder) Lehrer Gürtler (Chemnitz-Altendorf) zugewählt, nachdem von 
Oberarzt Dr. Meltzer mit Recht betont war, daß außer den Direktoren 
auch ein Lehrer dem Vorstand angehören müsse. 

Die Verhandlungen selbst nahmen am 9. September mit den üblichen 
Begrüßungsansprachen ihren Anfang. Besonders erwähnt sei, daß Stadt- 
schulrat Dr. Wehrhahn (Hannover) für das brüderliche Zusammenarbeiten 
des von ihm vertretenen Verbandes der Hilfsschulen Deutschlands mit dem 
Verein für Erziehung, Unterricht und Pflege Geistesschwacher eintrat — 
schöne Gedanken und Worte, die leider durch das erste Referat in ihrer 
Wirkung arg bedroht schienen. 

»Die erziehlichen Aufgaben des Heilpädagogen« lautete das (bereits 
höchst unklare) Thema, das sich Dr. Theodor Heller (Wien) zum Vor- 
wurf genommen hatte. Der Vortrag selbst wurde, da der Referent ab- 
wesend war, zur Verlesung gebracht — leider, wie man ehrlicher Weise 
hinzuzufügen gezwungen ist. Denn einmal war dieser Vortrag ein arges 
>Sammelsurium« (diese Bezeichnung fiel in der Diskussion), in das z. B. 
Freudsche Theorien, Ergebnisse der Immunitätsforschung usw. hinein- 
verarbeitet waren. Zum andern und in der Hauptsache waren es Aus- 
fälle gegen die Hilfsschulerziehung und gegen die Fürsorgeerziehung, die 
das Referat vorbrachte. Positives war nirgends zu merken. Die Wirkung 
des Vortrags war denn auch die, daß Dr. Wehrhahn die anwesenden 
Hilfsschullehrer bat, auf eine Diskussion verzichten zu wollen; daß Direktor 
Schwenk diese Bitte wiederholte; daß Inspektor Piper eine Debatte ab- 
lehnte. Ein Teil der Anwesenden war freilich sehr für eine Aussprache, 
die von Dr. Krenberger (Wien) eingeleitet wurde, der nach einer energi- 
schen Ablehnung der Hellerschen Ausführungen die Anregung gab, die 
von Jean Paul herrührende Bezeichnung »Heilpädagogik« auszumerzen. 
Im Auslande findet man diesen Begriff sowieso nicht. Und im übrigen 
gilt der Satz: »Wir können unsere armen Schwachsinnigen nicht heilen, 


74 B. Mitteilungen. 





wir können ihnen nur Besserung bringen.e Dr. Meltzer sprach in ähn- 
lichem Sinne und sah besonders in dem von Heller aufgestellten Leitsatz 3 
eine große Gefahr, da dieser höchst apodiktisch bestimmte: nur der Heil- 
pädagoge kann berufen sein, Fürsorgeerziehung zu üben. Demgegenüber 
betonte Meltzer unter lebhafter Zustimmung der Versammlung: »Nicht 
der Beruf entscheidet, sondern die Persönlichkeit!« Die erregte 
und unangenehme Debatte fand mit der Annahme einer Resolution ihren 
Abschluß, durch die sich der Verein für Erziehung, Unterricht und Pflege 
Geistesschwacher einstimmig mit den Ausführungen Hellers »nicht ein- 
verstanden« erklärte und daher »auf eine Debatte verzichtete«. 

Dem Unerfreulichen folgt das Erfreuliche! Oberarzt Dr. Kleefisch 
(Essen-Huttrop) bot in seinem Vortrag »Mittel und Wege der Zustands- 
` erforschung Geistesschwacher« eine ganz vorzügliche Arbeit. Er betonte, 
daß die Feststellung und Bezeichnung körperlicher und geistiger Zustände 
bei schwachsinnigen Kindern vielfach zu ungenau sei, um ein richtiges Bild 
vom Zustand des Kindes zu bieten und die entsprechende Behandlung zu 
gewährleisten. Die quantitative Einteilung in Idiotie, Imbezillität, Debilität 
genüge heute nicht mehr — eine Bemerkung, die viel erörtert wurde und 
zwar in zustimmendem wie in ablehnendem Sinne Zunächst muß der 
Arzt eins der aus dem Sammelbegriff Idiotie bereits abgegrenzten Krank- 
heitsbilder nach pädiatrisch-psychiatrischen Gesichtspunkten feststellen. 
Wegen ihrer großen Bedeutung für die geistige Entwicklung sind vor 
allem auch die Sinnesorgane genau zu untersuchen. Augenstörungen werden 
z. B. bei 50 °/, der Kinder, mangelhaftes Gehör bei 22 °/, der Schulkinder 
angegeben. Der Vortragende gab eingehende Schilderungen verschiedener, 
zum Teil von ihm selbst mit großem Fleiß und Geschick ausgearbeiteter 
Untersuchungsmethoden, bei denen vor allem der Grundsatz durchgeführt 
war, die sprachliche Äußerung der schwachsinnigen Kinder möglichst ganz 
auszuschalten. Der Praktiker muß es bei der Untersuchung fertig bringen, 
bisweilen nicht nur kindlich, sondern sogar schwachsinnig zu denken — 
ein Hinauf-, keineswegs ein Hinabsteigen! Wie man das Kind aus sich 
herauszulocken vermag, das zeigte der Vortragende an verschiedenen Bei- 
spielen. Bei der ärztlichen Untersuchung der Kinder ist aber auch den 
neurologischen Gesichtspunkten mehr Aufmerksamkeit zu schenken; vor 
allem müssen im Ausdrucksvermögen (Gebärde, Sprache, Schrift) gestörte 
oder gelähmte Kinder aus den Idioten (»Allgemeinbegriff«!) ausgeschieden 
werden. Insbesondere sind auch die umschriebenen intellektuellen Aus- 
fallserscheinungen genauer zu studieren und nach Agnosie und Apraxie zu 
untersuchen. Zum Schluß trat Kleefisch dafür ein, neuaufgenommene 
Kinder einer besonderen Aufnahmestation zu überweisen; durch regelmäßige 
Konferenzen und Besprechungen die Arbeitsgemeinschaft zwischen Arzt und 
Lehrer inniger zu gestalten; die Vorbildung der in Betracht kommenden 
Arzte und Lehrer so zu gestalten, daß sie sich besser als bisher bei ihrer 
gemeinsamen Arbeit verstehen lernen. 

Die Debatte über diesen Vortrag verlief anregend und anerkennend. 
Sie gab Anlaß neben einem Antrag auf Ausdehnung des Schulzwanges auf 
bildungsfähige Schwachsinnige einen Antrag Pipers anzunehmen, der aller- 


1. Die XIV. Konferenz des Vereins für Erziehung, Unterricht usw. 75 


dings auch schon auf der XIII. Konferenz in Wiesbaden 1910 angenommen 
war, aber wohl in Gefahr geriet, in den Vereinsakten zu verstauben. Hoffent- 
lich bleibt er nun vor diesem traurigen Los bewahrt! Er lautet: »Die 
Konferenz beschließt, den Kultusminister zu bitten, dahin zu wirken, daß 
ein Seminar zur Ausbildung von Lehrkräften an Anstalten und Schulen 
von Schwachsinnigen eingerichtet werde.«e — Leider fand bei der Be- 
sprechung eine Anregung Kirmsses gar keine Berücksichtigung, die eine 
Einbeziehung der in Betracht kommenden Anstalts- und Schulärzie in 
diesen Antrag bezweckte. 

Der angekündigte Vortrag Kölles (Möhringen) über den ersten Rechen- 
unterricht Schwachsinniger mußte gleichfalls verlesen werden, wobei leider 
manches unverständlich blieb. Nach Kölle soll die erste Zahlenreihe nur 
die Zahlen 1, 2 und 3 umfassen, nicht mehr die Zahl 4, da diese schon 
nicht mehr als Einheit, sondern immer als 2 + 2 geschaut wird. — Eine 
von einem Herforder Lehrer konstruierte Rechenmaschine, die mancherlei 
Vorteile vor den bisher gebrauchten Systemen aufwies, wurde vorgeführt — 
gewissermaßen eine Entschädigung für den nicht zur Verlesung eingesandten 
Vortrag Israels (Chemnitz-Altendorf), der selbst am Erscheinen verhindert 
war, über »Beschäftigung und Spiel in der untersten Vorschulklasse«. 

Den Höhepunkt der diesjährigen Konferenz bildete der Besuch der 
Anstalt Bethel am 10. September. Den ersten Vortrag nach einer 
ebenso herzlichen wie erfreulichen Begrüßung durch einen Chor der 
Kranken hielt hier ein Arzt der Anstalt, Dr. med. Blümcke, über 
»Krämpfe im Kindesalter, ihre Bedeutung und Beziehung zum jugendlichen 
Schwachsinne. Er gab einleitend einige vortreffliche Gedanken über die 
Zusammenarbeit von Medizin, Pädagogik und Theologie; wies hin auf die 
Notwendigkeit prophylaktischer Maßnahmen (Abstinenz- und Sittlichkeits- 
vereine) und ging dann zu seinem Thema über. Krämpfe im Kindesalter 
können durch endogene oder exogene Schädigungen veranlaßt werden. Im 
allgemeinen decken sich die Ursachen, die Schwachsinn hervorrufen, mit 
denen, die Krämpfe bedingen. Ein besonderer Wert kommt den Krampf- 
erscheinungen bei der Diagnosenstellung als objektives Symptom zu, da 
man bei den jugendlichen Patienten ja nicht mit den subjektiven Krank- 
heitserscheinungen rechnen kann. Die Bedeutung der Krämpfe liegt in 
den Folgen, die die von ihnen begleitete Grundkrankheit für den Intellekt 
haben kann. Es sind daher auch die Krämpfe verschieden zu bewerten. 
Ungünstig ist die Prognose hinsichtlich des Schwachsinns namentlich bei 
in frühester Jugend beginnenden epileptischen Konvulsionen, die nach 
einem Latenzstadium oft durch heftige Erregungen in der Pubertätszeit 
wieder ausgelöst werden. Eine günstigere Prognose gestatten Krämpfe als 
Ausdruck spasmophiler Diathese oder Kindertetanie. Besonderes Augenmerk 
ist sonach dem frühzeitigen Beginnen der genuinen Epilepsie zuzuwenden, 
die mit Krampfanfällen anfängt und früher oder später mit Schwachsinn 
endet. Der Redner ist dafür, mit dem Begriff der »Zahnkrämpfe« ganz 
aufzuräumen. Er ist der Ansicht, daß jeder plötzliche Krampfanfall in 
den ersten Lebensmonaten organisch bedingt ist. Niemals wird aus Hysterie 
Epilepsie; auch der Name »Hysteroepilepsie« ist nach Blümckes Ansicht 


76 B. Mitteilungen. 


völlig entbehrlich. Ist Schwachsinn vorhanden, so bieten Krämpfe in der 
Anamnese bisweilen wertvolle Fingerzeige für die Beurteilung des Kranken 
sowie für seine (ärztliche und erzieherische) Behandlung. Bemerkt sei 
noch, daß der Redner unter den belastenden Faktoren am stärksten ver- 
treten den Alkoholismus der Eltern fand: so konnte er bei 100 Kranken 
einer der Epileptikeranstalten in Bethel 38 mal erbliche Belastung durch 
chronischen Alkoholismus der Eltern feststellen. 

Die klaren und außerordentlich anregend vorgetragenen Ausführungen, 
die durch kurze Krankenvorstellungen (zum Teil sehr seltene Fälle) er- 
gänzt wurden, fanden allgemein lebhaften Beifall und viel Anerkennung. 
Die Debatte blieb auf einen kurzen Protest Meltzers beschränkt: der 
Redner hatte an einer Stelle auch Major zitiert. Dagegen legte Meltzer 
Verwahrung ein, da Major des Plagiats überwiesen sei, also kaum mehr 
als Autor zitiert werden dürfe — eine Verwahrung, die auf vielen Seiten 
lebhafte Befriedigung und Beifall erweckte. 

Das zweite Referat dieses Tages hatte Direktor Schwenk (Idstein) 
übernommen. Es handelte von »Arbeitskolonien für Schwachsinnige« und 
stützte sich wesentlich auf in Idstein gewonnene Erfahrungen. Hier 
wurden durch die Arbeitskolonie bedeutende Überschüsse erzielt: im Durch- 
schnitt der Jahre 1909—1911 13811 Mark. Besonders geboten ist die 
Errichtung von Arbeitslehrkolonien für ehemalige Hilfsschüler; von den 
aus der Hilfsschule Entlassenen könnten jährlich rund 700 in derartigen 
Kolonien untergebracht werden. Vorläufig würden diese Kinder zweck- 
mäßig bereits bestehenden Anstalts- Arbeitslehrkolonien überwiesen. — 
Auch an diesen Vortrag schloß sich keine weitere Debatte an. 

Lebhaft erörtert wurde dagegen Pipers Vorschlag, die nächste Kon- 
ferenz 1915 gleichzeitig mit der Tagung des Hilfsschulverbandes in 
München abzubalten; falls mit dem Hilfsschulverband keine Einigung in 
dieser Hinsicht zu erzielen ist, soll die nächste Konferenz 1914 in Stutt- 
gart stattfinden. Einer Anregung Kirmsses, wegen verschiedener huudert- 
jähriger Gedenkfeiern erst 1916 die gemeinsame Tagung zu veranstalten, 
konnte nicht stattgegeben werden, da für 1915 bereits alle Vorbereitungen 
und Anordnungen getroffen oder im Gange sind. Wohl aber bot sich bei 
der Erörterung dieser Fragen endlich einmal Gelegenheit, der hundert- 
jährigen Wiederkehr von Seguins Geburtstag zu gedenken. 

Nach dem gemeinsamen Mittagessen in der Anstalt, zu dem die 
Konferenzteilnehmer eingeladen waren, gab Pastor Friedrich von Bodel- 
schwingh einen kurzen Überblick über »die verschiedenen Arbeitsgebiete 
der Anstalten in Bethel«. Begeistert und voll Liebe und Wärme. Und 
immer erinnernd an den Vater, diesen selten großen Mann, an dessen Grab 
in strömendem Regen alsdann ein Kranz niedergelegt wurde. Und über 
die Gräber dieses stillen Waldfriedhofes trugen die Hörner die Choral- 
melodie. Ein unvergeßlicher Augenblick am Grabe eines Unvergessenen, 
Unvergeßlichen! 

Die Anstalten selbst wurden in verschiedenen Gruppen unter sach- 
kundiger Führung besichtigt. Da wir eine ausführliche Abhandlung über 
Bethel planen, soll hier auf eine nähere Beschreibung dieses groß an- 


1. Die XIV. Konferenz des Vereins für Erziehung, Unterricht usw. 17 








gelegten Werkes verzichtet werden. Nur mag betont sein, daß wohl alle 
Besucher hocherfreut waren, hier etwas kennen gelernt zu haben, was all- 
gemeiner Anerkennung für alle Zeiten gewiß sein darf. 

Den Beschluß der Tagung bildete ein Lichtbildervortrag unseres un- 
ermüdlich tätigen und fleißigen Geschichtsschreibers des Schwachsinnigen- 
wesens, Max Kirmsses, der in großen Zügen mit der Entwicklung der 
Schwachsinnigenfürsorge in Deutschland und einigen anderen Ländern, 
insbesondere mit unseren »großen Männern« bekannt machte. 

Außer den Anstalten in Bethel wurde noch die Anstalt Witte- 
kindshof bei Volmerdingsen (Bad Oeynhausen) besucht. Diese west- 
fälische evangelische »Blödenanstalt« wurde am 2. Mai 1887 durch Pastor 
Krekeler gegründet. Ihr jetziger Leiter ist der ehrwürdige Pastor Stieg- 
horst, der es sich als treusorgenier Anstaltsvater sehr angelegen sein 
ließ, seine vielen Gäste aufs beste zu bewirten, aber auch ihnen Bestes 
zu zeigen. Über 700 Schwachsinnige weilen in der Anstalt; etwa 150 
Kinder besuchen die beiden Schulen. Wir wohnten dem Unterricht in 
den Knabenklassen, der von Lehrern in den oberen, von Lehrerinnen in 
den unteren Klassen erteilt wurde, bei, sowie dem von Schulschwestern 
erteilten Unterricht in den Mädchenklassen. Und wir müssen gestehen, 
daß wir mit dem Gehörten vollauf zufriedengestellt waren. Sollen wir 
noch eine persönliche Bemerkung einfügen, so ist es die: die Lehrerinnen 
und namentlich die Schulschwestern schienen uns dem schwachsinnigen 
Kinde näher zu kommen, schienen vor allem weniger mit rein abstrakten 
Begriffen zu arbeiten als die Lehrer vielfach. Die Leistungen der Knaben- 
Vorschulklasse im Lesen, Legen und Schreiben lateinischer Antiqua (L E-O) 
erregten besondere Aufmerksamkeit. Ausstellungen von Lehrmitteln und 
Schülerarbeiten in der Mädchen- und Knabenschule boten viel Interessantes, 
wenn auch hie und da die Befürchtung ausgesprochen wurde, daß die 
eine oder andere Arbeit »zu schön« für Arbeiten schwachsinniger Kinder sei. 

So gab auch dieser letzte Tag den Konferenzteilnehmeru Anregungen 
in Hülle und Fülle — 

Der Besuch von Bethel, der Besuch von Wittekindshof — beide be- 
wiesen so recht, daß gerade in diesen gemeinsamen Besuchen ein wert- 
voller Bestandteil der Konferenzen des Vereins für Erziehung, Unterricht 
und Pflege Geistesschwacher zu suchen ist. Möge er auch bei den 
künftigen Konferenzen gebührende Berücksichtigung finden! t) 

Jeua. Dr. Karl Wilker. 

1) Das den Konferenzteilnehmern gewidmete und überreichte Prachtwerk über 
»Deutsche Anstalten für schwachsinnige, epileptische und psychopathische Jugend- 
liche,« redigiert von Direktor Pastor Stritter und Oberarzt Dr. Meltzer (Halle a. S., 
Carl Marhold, 1912), wird demnächst unter »Literatur« ausführlich gewürdigt. Es 
mag aber hier schon bemerkt werden, daß auf der Konferenz mehrfach und von 
verschiedenen Seiten, so namentlich von Oberregierungsrat Müller (Chemnitz-Alten- 
dorf), der Wunsch ausgesprochen wurde, daß in einem recht bald erscheinenden 
weiteren Bande ein Bild der Anstalten gegeben werde, die in diesem Bande noch 
keine Berücksichtigung erfuhren. 


78 B. Mitteilungen. 








2. Beobachtungen an schwachbefähigten Kindern bei 
der Behandlung der Nibelungensage. 
Von Fr. Rössel, Hamburg. 
(Mit 7 Abbildungen.) 
(Schluß.) 


Ferner seien einige Erzählungen nach Stenogramm angeführt. Kleine 
Hilfen zur flüssigeren Gestaltung wurden gegeben. W. J. erzählt: 

»Als die Recken um die Wachtfeuer rumsaßen, auf einmal kam ein 
Wachtposten reingerannt. Recken kommen. Da stand Rüdiger und Hagen 
auf und sahen, was es für welche waren, ob sie vorbeireiten oder auf das 
Lager zureiten. Da kam Hagen schnell zurück, macht euch auf, Dietrich 
von Bern kommt. Unterdessen ist Dietrich mit seinen Rittern zu dem 
Lager der Burgunden gekommen und er rief, Herr Gernot, Herr Gunter, 
Herr Hagen, Herr Dankwart seid willkommen. Aber wißt ihr nicht, daß 
die Kriemhilde was Böses im Sinn vor hat? Da sagte Hagen: Laßt sie 
nur weinen. Siegfried wird doch nicht mehr aufstehen, der ist lange 
begraben. Als das Hagen gesagt hatte, wurde Dietrich von Bern ernst 
und sagte, ich will nicht mit dir Streit anfangen, wie Siegfried erschlagen 
wurde, aber hütet euch ja, Kriemhilde hat was Böses im Sinne. Und du, 
Hagen, nimm dich besonders in acht, dir wird sie am ersten was tun. 
Da sagte Volker, wir können nicht mehr umkehren, wir wollen hinreiten 
und sehen, was weiter geschieht.« 

Derselbe Knabe erzählte folgendes: 

»Wie Rüdiger mit sich selbst kämpft. Da kam Kriemhilde und 
Etzel zu Rüdiger und Kriemhilde sagte: Rüdiger, weißt du noch, was du 
mir in Worms versprochen hast? Du hast mir versprochen, jedes Leid 
zu rächen, wenn mir etwas passiert. Bekämpfe die Burgunden. Und 
Rüdiger sagte: Nein, Kriemhilde, ich tue es nicht, das sind meine besten 
Freunde, die auf Pöchlarn bei mir zu Besuch waren. Die bekämpfe ich 
nicht. Aber Kriemhilde sagte: Du mußt sie bekämpfen, du hast mir in 
Worms versprochen. Da sagte König Etzel: Rüdiger, wenn du die Bur- 
gunden bekämpfst, dann wirst du großer König, so ein König wie ich. 
Du mußt die Burgunden bekämpfen, und du mußt mir gehorchen. Und 
du mußt kämpfen, die Burgunden haben viele Hunnen erschlagen. 

Als Rüdiger allein war, da dachte er für sich, soll ich die Burgunden 
bekämpfen oder nicht. In seinem Herzen ging es immer so: sollst du 
die Burgunden bekämpfen oder sollst du sie nicht bekämpfen. Endlich 
rüstete er sich und zog auf die Nibelungen los, weil er seinem König ge- 
horchen mußte.« 

Ein anderer Knabe, N. Str., der an schweren Aufmerksamkeits- 
störungen litt, erzählte dies: 

»Im Saale waren noch Etzel, Kriemhilde und der Gotenkönig Dietrich 
von Bern und die ganzen Goten und Markgraf Rüdiger mit seinen Recken. 
Da fürchtete sich Kriemhilde und ging zu Dietrich von Bern und sagte: 
Rette mich, denn wenn Hagen kommt, bin ich verloren, der wird mich 
umbringen, weil ich das angestiftet habe. Da stieg Dietrich von Bern 


2. Beobachtungen an schwachbefähigten Kindern usw. 79 





auf einen Tisch und schrie: Halt, Ruhe, bis ich raus bin mit meinen 
Helden. Da sagten die Burgunden ja. Und da ging Dietrich von Bern, 
an der einen Hand die Kriemhilde und an der anderen den Etzel, hinter- 
her die Goten und auch Rüdiger ist mit seinen Rittern herausgegangen. 
Kaum waren sie draußen, da ging der Kampf von neuem an. Da war 
Geschrei, die Toten lagen rum und die Nibelungen haben nicht aufgehört, 
bis alle lagen. Und nachher, weil die Luft so dumpfig war, machten sie 
die Fenster auf und schmissen die Toten hinaus. Aber die Burgunden 
konnten nicht hinaus, sonst möchte Etzel wieder anfangen, weil so viele 
Hunnen erschlagen waren.« 

Eine sehr anschauliche Schilderung gibt F. v. R. in folgendem: 

»Die Schilder krachten und die Schwerter und Lanzen zersplitterten 
und im Saale lagen viele Erschlagene. Und das Essen war umgeschmissen 
und die Decken flogen herab und die Suppe und alles das war um- 
geschmissen und die Tische und Stühle sind umgefallen und im Saale 
war eine unangenehme Luft, überall war Blut und die Vorhänge sind 
auch runter geflogen.« 

Zum Schluß möge noch eine der besten Erzählungen von W. Sch. 
Platz finden: 

»Wie Hagen und Volker Schildwacht stehen. Hagen sagte: Ihr 
Könige legt euch hin und schlaft. Ich stehe draußen Wache, daß die 
Hunnen nicht kommen und uns überfallen. Volker stand auf und sagte: 
Hagen, ich will dir Gesellschaft leisten, daß du nicht alleine bist. Hagen 
war einverstanden. Sie rüsteten sich und gingen hinaus an die Türe. 
Und da war es erst still. Auf einmal gabs ein Geklirr und die Hunnen 
schlichen auf dem Burghof herum. Als die Hunnen aber an die Treppe 
kamen, da sahen sie die beiden. Und da erschraken sie und liefen davon. 
Da bindet Volker seinen schweren Helm und die Rüstung ab, geht hinein 
und holt die Fiedel und spielt ein Lied. Da dachte er an seine Heimat, 
an den Sachsenkönig und wie er mit seiner Braut auf dem Rheine ge- 
fahren ist. Beim Sachsenkönig spielte er ganz laut. Da hörte man die 
Schilder krachen und Speere anprallen und das Pferdegetrappel, und wie 
er seine ersten Narben erwarb, da hatten sie den Sieg.« 

Von besonderer Wichtigkeit war, daß die Geschichte auch außerhalb 
der Schulstunden weitergesponnen werden konnte. Wurde schon in der 
Geschichtsstunde manche Szene dramatisch dargestellt, so waren andere Ab- 
schnitte geeignet, die Nachmittage mit Spielen aus der Geschichte 
auszufüllen. Über die Wichtigkeit des Spieles im kindlichen Leben braucht 
kein Wort mehr verloren zu werden. Um so bedauerlicher ist es, daß 
das Spiel des schwachsinnigen Kindes auf einer sehr niederen Stufe zu 
stehen pflegt. Sein Spiel wird beherrscht von Eintönigkeit und Gedanken- 
losigkeit. Die Phantasie des normalen Kindes schafft neue Spiele, stattet 
vorhandene mit neuen Ideen aus und weiß immer belebende Momente hin- 
einzutragen. Das fällt beim schwachbegabten Kinde weg. Das Spiel kann 
jederzeit abgebrochen werden, ohne daß, wie es bei normalen Kindern der 
Fall ist, ein Ausbruch des Unmutes und des Bedauerns auftritt. Bei 
erethischen Kindern artet das Spiel bald in ein wüstes Durcheinander aus. 


80 B. Mitteilungen. 





Sie versetzen sich nicht in das Spiel hinein, verlieren ihre Rolle, ver- 
gessen den Gedanken des Spieles und tollen ziel- und zwecklos umher. 

Nun war es möglich, Szenen zu Spielen auszugestalten. Bei Sieg- 
frieds Aufenthalt in der Schmiede wird gefragt: Können wir nicht einmal 
etwas aus der Siegfriedgeschichte spielen? Zuerst sind die Kinder über- 
rascht, aber bald kommen sie mit allerhand brauchbaren Vorschlägen. Wir 
einigen uns schließlich auf das Thema: Siegfried in der Waldschmiede. 

Aber wie wollen wir das spielen? Die Kinder müssen ein passendes 
Gelände im Grundstück suchen, sie müssen einen Herd aus Steinen aufbauen, 
sie suchen sich Blechstücke und alte Radreifen als Eisenstangen, holen 
Hammer und Schürzen. Ein kleines Feuerchen auf dem Herd darf nicht 
fehlen. Bald sind die Rolien ausgeteilt, und das Spiel kann beginnen. 
Nur zu bald war der Nachmittag für die Kinder vorüber. Es waren für 
sie wertvolle Stunden. 

Im Anschluß an die Jagd im Odenwalde spielten sie Jagdspiele. 
Eine Hälfte stellte die Tiere dar, die andere die Jäger. Die führenden 
Gedanken waren im Unterrichte besprochen, beherrschten auch das Spiel 
und verhinderten so ein Wirrwarr. Die Wettkämpfe sind schon oben er- 
wähnt worden. Wir spielten Steinstoßen, Weitspringen, Wettlaufen und 
Lanzenwerfen. Wie wurden da die Kräfte angespannt, um der erste und 
beste zu sein, um dem Helden Siegfried zu gleichen. 

Es liegt auf der Hand, daß solche Veranstaltungen für schwach- 
befähigte Kinder großen Wert haben. Es ist zu überlegen, was gespielt 
werden soll und was dazu notwendig ist. Jeder strengt seine schwachen 
Kräfte an, um das auszuführen, was gemeinsam gewonnen wurde. 

Die Zielvorstellung, erwachsend aus vollwertigen Vorstellungen regelt 
und ordnet und hat die Kraft, fremde Reize und Vorstellungen zu unter- 
drücken. So kann sich ein sinngemäßes Spielen aufbauen. Das Kind steht 
dem Stoffe nicht passiv gegenüber, sondern kann sich in ihm betätigen. 
Dabei liegen in diesen Veranstaltungen viele Erziehungsmittel, die ver- 
schiedenen Kindesnaturen individuell zu beeinflussen. Schüchterne und 
Schwerfällige werden vorwärtsgetrieben, Flatterhafte und Zänkische müssen 
in den gegebenen Grenzen bleiben und können nicht so leicht Unzuträg- 
lichkeiten ins Spiel bringen, Egoistische müssen sich der Allgemeinheit 
unterordnen usf. Ferner haben die Kinder Gelegenheit zu disponieren und 
zu kalkulieren, um auf diese Weise handelnd Urteilskraft zu stärken und 
Urteile zu gewinnen. — 

Noch kurz soll über die Einwirkung auf das Gemüt berichtet werden. 
Wenn auch festgestellt werden kann, daß die durchschnittliche Teilnahme 
größer war, als es sonst der Fall zu sein pflegte, darf andererseits nicht 
verschwiegen werden, daß bei einem Teil der Kinder der erwünschte Ein- 
schlag ausblieb. Die Klasse schied sich hier in zwei Teile. Die eine 
Gruppe lebte und webte bald in dem Stoffe. Diese Kinder gingen in ihm 
auf und betrachteten auch viele andere Erscheinungen des täglichen Lebens 
vom Gesichtspunkte der Siegfriedgeschichte aus. Dicke Bäume auf Spazier- 
gängen wurden oft daraufhin angesehen, ob sie wohl Siegfried umreißen 
könnte; oder: ob er wohl über diesen Bach springen könnte? ob er diesen 
Steinblock schleudern könnte? usw. Sie erlebten die Geschichte wirklich 





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Zeitschrift für Kınderforschung. 18. Jahrg, Hefi 12. Tafel II. 





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2. Burg in Worms. 
Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 


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4. Hagen schlägt dem Fährmann Ferge den Kopf ab. 
Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 


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Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrg., Heft 1/2. 





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o Kampf der Burgunden mit den Hunnen. 
Verlag von Hormann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 


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2. Beobachtungen an schwachbefähigten Kindern usw. 81 





innerlich und machten die Schicksale des Helden zu ihien eigenen. Sie 
begleiteten Siegfried Wochen und Monate hindurch auf seinen Fahrten. Er 
war ihr Liebling geworden. Nun sehen sie, wie sein Untergang vorbereitet 
wird, können aber noch nicht daran glauben und sprechen immer wieder 
aus, es wird schon noch irgend etwas dazwischen kommen, was das Ver- 
hängnis abwenden kann (aus dem Gespräch zweier Knaben außerhalb der 
Schulzeit). Der Jagdzug beginnt, der Wettlauf findet statt, und Siegfried 
trinkt an der Quelle. Wie nun Hagen wirklich dem ahnungslosen Sieg- 
fried den Speer in den Rücken wirft, da fühlten diese Kinder das Furcht- 
bare der Tat und konnten sich die Tränen nicht erwehren. 

Gemütsbewegungen traten auch auf, als Rüdiger von Pöchlarn gegen 
die Burgunden kämpfen mußte. Das Miterleven der vergnügten Tage auf 
der Burg Pöchlarn und der Verlobung Giselhers mit Dietelinde ließ sie 
das Schreckliche eines Kampfes auf Tod und Leben mit dem besten 
Freunde wenigstens etwas fühlen. 

Eigenartig verhielt sich die zweite Gruppe, die sich aus den stärker 
Imbezillen zusammensetzte. Die Kinder zeigten zweifellos auch großes 
Interesse, beteiligten sich lebhaft an allen Veranstaltungen, hatten sichtlich 
großen Gewinn, entwickelten aber doch nicht die Gefühlsbetonung, die zu 
einer Verquickung mit dem Ich notwendig gewesen wäre. Die eigene 
Person stand dem Erleben des Helden mehr oder weniger fremd gegen- 
über, nicht gerade teilnanmlos, aber doch so, daß sie ihr Ich nicht mit 
dem Helden und seinen Schicksalen identifizieren konnten. Es mag aber 
auch sein, daß gewisse Eindrücke auf das Gemüt der Beobachtung ent- 
gangen sind, denn gerade beim Gefühl und Gemüt ist es außerordentlich 
schwierig, echte Regungen zu erkennen und sie von verbalistischen Auße- 
rungen zu trennen. — 

Während der Behandlung wurde der Eindruck immer mehr verstärkt, 
daß die Nibelungensage im Unterrichte schwachbefähigter Kinder, debiler 
und leicht imbeziller, einen recht brauchbaren Unterrichtsstoff bildet. Der 
Zeitpunkt der Einführung wird naturgemäß verschieden sein. Das muß 
der Lehrer auf Grund des geistigen Zustandes und der Urteilsfähigkeit 
der Klasse selbst bestimmen. Es wäre verkehrt, wenn man bestimmen 
wollte, in der und der Klasse muß die Geschichte geboten werden. Wenn 
der Lehrer eine Klasse von Anfang an führt, so wird es ihm nicht schwer 
werden, auch den rechten Zeitpunkt zu treffen. Die Hauptmomente bei 
vorliegendem Versuche mögen noch einmal kurz hervorgehoben werden. 

Die landschaftliche Umgebung bot einen sehr geeigneten 
Schauplatz für die Geschichte. Eigenes Schaffen und Handeln 
der Kinder begleiteten sie. Es wurde so ein konkretes Anschauungs- 
material erworben. Auf diesem vollwertigen und individuellen Vor- 
stellungsschatze vollzog sich die Entwicklung der handlungsreichen, 
packenden Geschichte, die von einem Teil der Kinder wirklich erlebt wurde. 
So wird auch der Geschichtsunterricht »Arbeitsunterricht«, wie das päda- 
gogische Schlagwort der Gegenwart es fordert. 

Da die Anzahl der Kinder nicht groß war und kein Druck des Lehr- 
plans zum Hasten drängte, konnte die Individualität der ıinder in weit- 
gehendstem Maße berücksichtigt werden, so daß keiner zu kurz kaın. 


Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 6 


82 B. Mitteilungen. 


Von wesentlicher Bedeutung war, daß dem Lehrer die Möglichkeit 
gegeben war, auch außerhalb der Schulzeit bei Spiel, Arbeit und Ausflügen 
auf die Kinder einwirken zu können. Der ungezwungene Verkehr gab oft 
Gelegenheit, Unklarheiten zu beseitigen und den Stoff nach manchen Seiten 
hin zu vertiefen. 

Es waren alle inneren und äußeren Bedingungen erfüllt, die für das 
Erfassen und Einleben in ein Stoffgebiet notwendig sind. Nicht isoliert 
stand die Geschichte im Stundenplane, sondern im Mittelpunkt und in inniger, 
vielseitiger Verknüpfung mit dem Leben der Kinder. Das aber ist bei 
schwachbefähigten Kindern noch mehr erforderlich als bei normalen, wenn 
wir ihre kranke Psyche heilen oder doch bessern wollen. 

Abb. 1. Siegfried in der Waldschmiede, von W. J. 

„ 2. Burg in Worms, von OQ. B. 

3. Der Isenstein, von W. Sch. 
4. Hagen schlägt dem Fährmann Ferge den Kopf ab, v. W. Sch. 
„ 5. Der Bayernherzog reitet den Burgunden nach, von W. N. 
6. Kampf der Burgunden mit den Hunnen, von W. J. 
7. Hagen nach dem Kampfe mit den Hunnen im Saale, von W. Sch. 


3. Zum Problem des Sprachverständnisses. 
Von J. Heidsiek - Breslau. 
(Schluß.) 

5. Das mechanische Sprachverständnis. Der Zweck aller Rede 
ist Gedankenmitteilung. In der Unterhaltung ist die Aufmerksamkeit auf 
diesen Zweck eingestellt, wir beschäftigen uns mit Sachverhalten, wir 
folgen dem Sinne der Rede und übersehen dabei Parallelvorgänge, die 
zum Verständnis der sprachlichen Symbole an sich erforderlich sind. Auf 
diese, im Unterbewußtsein sich vollziehenden Prozesse kommt es uns hier 
aber an, und daher lautet die Frage: Unter welchen Bedingungen kann 
ich versichern, ein Wort oder sonst eine Lautreihe verstanden zu haben, 
unbekümmert darum, ob diese Lautreihe Bedeutungsinhalte in mir wach- 
ruft oder nicht? Die Frage dreht sich also um das mechanische Sprach- 
verständnis und betrifft einen ähnlichen Vorgang, wie wir ihn beim 
mechanischen Lesen beobachten können. Wie ich eine mir vollständig 
fremde aber in bekannten Schriftzeichen gedruckte oder geschriebene 
Sprache den Buchstaben nach lesen kann, ohne mit dem Gelesenen einen 
Inhalt zu verbinden, ebenso kann ich auch mechanisch Wörter und Sätze 
durch das Ohr auflassen und verstehen. Ein Beispiel möge den Sach- 
verhalt verdeutlichen. Zwei Herren stellen sich mir vor, Lehmann und 
Przybyszewski. Beide Personen haben ihre Namen aus gleicher Entfernung 
gleich laut und deutlich gesprochen; Wirkung und Erfolg sind jedoch ganz 
verschieden. Wenn ich den einen Namen sofort verstehe, den andern 
dagegen nicht, so hätte die Erklärung, der eine Name sei mir bekannt, 
der andere dagegen fremd, für uns gar keinen Wert. Es ist eine all- 
bekannte Erfahrung, daß fremdklingende Eigennamen im ersten Augenblick 
nur selten richtig aufgefaßt, verstanden und behalten werden. Uns kommt 


3. Zum Problem des Sprachverständnisses. 83 


es aber gerade darauf an, zu erfahren, was man in diesem Zusammenhange 
unter Bekanntschaft, unter Auffassen und Behalten, was man unter Ver- 
stehen versteht. 

Das Gefühl der Gewißheit, eine Lautreihe verstanden zu haben, be- 
steht bei mir nur dann, wenn ich die gehörte Lautreihe sofort leise oder 
laut, innerlich oder nach außen hin hörbar nachsprechen kann. Wenn 
ich einem ungeschickten Redner zuhöre, der sich in gewagte Satz- 
konstruktionen verwickelt, so eile ich dem Vortragenden in der Voll- 
endung des Satzes nicht selten voraus, ganz so, wie ich vielfach weiterlese, 
bevor ich das Blatt umgeschlagen habe. Selbstbeobachtungen, die ich seit 
mehr als 20 Jahren nach dieser Richtung hin anstellte, haben mich zu 
der Überzeugung gebracht, daß ich beim stillen Lesen und beim Anhören 
einer Rede nicht nur sehe und höre, sondern daß meine Artikulations- 
organe ausnahmslos daran beteiligt sind. In derselben Reihenfolge, in der 
Sprachklänge mein Ohr berühren, lösen sie Bewegungstendenzen aus, die 
nach den Sprachwerkzeugen ausstrahlen und sich als Artikulations- 
empfindungen bemerkbar machen. Treten in dieser Succession zwischen 
Reiz und Reaktion Störungen ein derart, daß die sprachlichen Klangbilder 
jene Bewegungstendenz überrennen und den motorischen Apparat der 
Sprachwerkzeuge nicht genügend erregen, so hört das Verständnis für 
Lautfolgen auf. Dieser Fall tritt regelmäßig ein, wenn wir eine uns voll- 
ständig fremde Sprache hören. Ich habe Russen, Ungarn, Türken, Japanern 
und Vertretern anderer Sprachgemeinschaften aufmerksam zugehört in dem 
Bestreben, wenigstens einen kleinen Satz mechanisch aufzufassen und zu 
wiederholen, aber der Erfolg war zumeist ein negativer. Und nicht nur 
mit Sätzen erleben wir dies Mißgeschick, sondern schon bei einzelnen 
Wörtern können wir in ähnliche Verlegenheit geraten. Polnischen Namen 
wie Przybyszewski, Strzewieszyce, Skrzdylewski, Brzytwa, Przyrembel, 
Przyzodzice usw. ist unsere Zunge nicht gewachsen, und darum sind wir 
ihnen gegenüber scheinbar schwerhörig oder worttaub. Namen dagegen 
wie Müller, Lehmann, Krautwurst, Meyer, Silberstein, Baumgarten u. a. 
machen uns nicht die geringsten Schwierigkeiten, wir bilden sie innerlich 
nach, so wie wir sie erklingen hören: wir verstehen und behalten sie. 

6. Sprachserständnis und Sprachgebrauch. Jede Sprache hat 
ihren besonderen Laut- und Silbenbestand, die im Zusammenhange der 
Rede in den verschiedensten Kombinationen wiederkehren und die der 
Mensch während seiner bildsamsten Entwicklungsperiode, wenn auch mehr 
oder weniger unbewußt, so doch mühsam erlernt. Dies Lernen besteht 
in der gedächtnismäßigen Aneignung von Reiz und Reaktion, von gehörten 
und innerlich nachgebildeten Lauten, vielleicht auch nur in dem 
Haften jener mechanischen Bewegungstendenz, die sich als Innervations- 
gefühl und als das Ergebnis aus Reiz und Reaktion charakterisiert. Kein 
Mensch eignet sich zunächst die Sprachklänge isoliert an, um diese 
auf einer späteren Stufe mit Artikulationsbewegungen zu beantworten und 
zu verknüpfen, sondern Reiz und Reaktion folgen sich auf dem Fuße, 
wenn auch in der Ausführung zunächst höchst unvollkommen, und ohne 
daß der Sprachschüler über den mechanischen Vorlaut dieser Prozesse 

6* 


84 B. Mitteilungen. 


sich Rechenschaft geben könnte. Die Bahn vom Ohr zu den Artikulations- 
organen muß als vorgebildet angesehen werden, und sowohl beim Sprach- 
verständnis als auch beim Sprachgebrauch ist eine Erregung dieser Bahn 
vorauszusetzen. Der Name Przybyszewski ist nicht ohne Klang, aber er 
ist mehr als Klang, und ohne dies Mehr ist kein nachweisbares Ver- 
ständnis möglich. Ich persönlich habe kein Verständnis und kein Ge- 
dächtnis für die Klangbilder der Sprache allein, und bis heute ist mir 
auch keine sonst sprachtüchtige Person begegnet, die eine Lautsprache 
tatsächlich verstanden hätte, ohne sich in dieser Sprache wenigstens dürftig 
ausdrücken zu können. Bei dem gereiften und normalen Menschen 
ist zum Sprachverständnis eine zentrale Erregung notwendig, 
die über die Hörsphäre hinausreicht und zu einer inneren 
Laut-, Wort- und Satzbildung führen muß. Der Unterschied 
zwischen Sprachverständnis und Sprachgebrauch ist demnach kein so 
grundsätzlich verschiedener, wie vielfach angenommen wird. Hier wie 
dort handelt es sich um gleiche Prozesse, wenn auch in verschiedener 
Reihenfolge. Wer eine Sprache im mündlichen Verkehr wirklich 
versteht, der hat die Pein des Erlernens bereits überwunden 
und ist selbst dann im Besitze dieser Sprache, wenn irgend 
eine Störung sein Artikulationsvermögen beeinträchtigt oder 
gar aufhebt. 

7. Das Problem im Dunkel der Wissenschaft und im Lichte 
des Laienverstandes. Um zunächst das Problem noch klarer vor- 
zuführen, sei hier ein Zitat aus dem Werke Bastians »Über Aphasie und 
andere Sprachstörungens angeführt und in Parallele gestellt zu Beob- 
achtungen aus dem Alltagsleben. 

In sachlicher Übereinstimmung mit den meisten Autoren sprach- 
pathologischer Arbeiten schreibt Bastian: »Es leuchtet ein, daß, wenn ein 
Kind vermittelst der Sprache denkt, es das gleiche auch vermittelst der 
im Gedächtnis behaltenen Klänge an Worten tun kann. Dies 
sind seine linguistischen Symbole für Gedanken, die jedoch im Geiste mit 
anderen Sinneseindrücken, ganz besonders mit denen des Gesichtssinnes, 
innig verbunden sein müssen. Man kann wohl sagen, daß die meisten 
Kinder schon im vierten oder fünften Monat die Namen behalten, mit 
denen man viele Gegenstände belegt.« 

Darauf habe ich folgendes zu entgegnen: Zunächst widerspricht es 
meiner Erfahrung, daß ein Kind von vier bis fünf Monaten schon Sprache 
verstehen soll, Allein das wäre nebensächlich. Es handelt sich hier viel- 
mehr um diejenigen psychischen Daten, aus denen das innere Wort be- 
steht und die beim Verstehen der Sprache in Betracht kommen. Es soll 
einleuchten, daß ein Kind im vorsprachlichen Alter, »wenn es ver- 
mittelst der Sprache denkt, es das gleiche auch vermittelst der im 
Gedächtnis behaltenen Klänge von Worten tun wird.«e Das ist durch- 
aus nicht einleuchtend. Es ist zunächst nicht nur nicht einleuchtend, 
sondern es ist ein Widerspruch in sich selbst, daß ein Kind auf vor- 
sprachlicher Stufe vermittelst der Sprache denkt, und ebensowenig ist 
es einleuchtend, daß dieses sprachlose Kind schon in zwei Sprachen 


3. Zum Problem des Sprachverständnisses. 85 


denken soll. Es denkt zunächst »vermittelst der Sprache<; sodann denkt 
es »vermittelst der im Gedächtnis behaltenen Klänge von Worten«. Die 
Wortklänge sind seine »linguistischen Symbole für Gedankene. Welches 
sind nun seine linguistischen Symbole, wenn das sprachlose Kind ver- 
mittelst der andern Sprache denkt? Aus welchen Faktoren konstituiert 
sich überhaupt diese andere Sprache? Das alles ist nichtsweniger als 
einleuchtend, sondern es ist im höchsten Grade dunkel und unverständlich. 
Bis dahin galt das Wort oder der Satz als ein linguistisches Symbol für 
Gedanken. Bastian und seine Glaubensgenossen zerlegen das linguistische 
Symbol in linguistische Symbole. Neben dem Wort sollen Wortklänge 
linguistische Symbole von ganz besonderer Güte sein, Symbole, die ihre 
Zauberkraft besonders bewähren bei klugen Haustieren, bei unmündigen 
Kindern und gewissen Sprachkranken. Merkwürdig dabei ist nur, daß die 
Forscher nicht den geringsten Versuch machen, diese geheimnisvolle Kraft 
an sich selbst zu erproben, daß sie nicht selber zu leisten versuchen, was 
sprachlose Kinder und »der kluge Hans« mit Hilfe von Sprachklängen 
scheinbar zu leisten vermögen. Nicht an Kindern, Kranken und Wesen 
niederer Art läßt sich das Problem des Sprachverständnisses lösen, sondern 
nur an gereiften und sprachtüchtigen Personen. 

Wenn ein mir befreundeter kluger Geschäftsmann telephonisch Auf- 
träge erteilt, so läßt er seine Worte regelmäßig wiederholen. Der Herr 
»klingelt« seinen Diener an mit den Worten: »Karl, sagen Sie dem Ober- 
gärtner: heute und morgen möglichst zurückhalten«. Der Diener in seinem 
beschränkten Untertanenverstande wird nicht 2 >< 24 Stunden den Atem 
zurückhalten und darüber nachgrübeln, was die eben gehörten »Klänge« 
zu bedeuten haben, sondern a tempo wird er antworten: »Ich habe dem 
Öbergärtner auszurichten: heute und morgen möglichst zurückhalten.« 
Damit ist das Gespräch beendet und mein Freund hat die Gewißheit, ver- 
standen zu sein. Der Herr ist psychologischen und sprachphilosophischen 
Theorien gegenüber ein reiner Barbar, aber er hat psychologischen Instinkt, 
und Hirnphysiologen und Sprachpathologen könnten von ihm lernen. Dieser 
Herr weiß, was zum Verständnis der Sprache notwendig ist. Wenn der 
Diener sagen würde, er habe den Auftrag zwar verstanden, er habe 
»Klänge von Worten« gehört und »im Gedächtnis behalten«, die Worte 
selbst aber könne er im Handumdrehen noch nicht wiederholen, so würde 
der Herr mit einem solchen Sprachheiligen kurzen Prozeß machen. Der 
Laienverstand sagt uns hier, daß, um den Sinn der Worte zu verstehen, 
zunächst diese Worte an sich verstanden werden müssen, daß das sinn- 
volle Sprachverständnis ein mechanisches Sprachverständnis 
zur Voraussetzung hat. Könnte jemand den Sinn der Rede verstehen, 
ohne Worte verstanden zu haben, so wäre das ein Sprachverständnis ohne 
Sprachverständnis, eine Kunst, von der sich ein normaler Mensch nur 
schwer überzeugen läßt. — Damit sollen natürlich die akustischen Elemente 
der Lautsprache weder in Abrede gestellt noch unterschätzt werden; aber 
unbegreiflich erscheint mir, daß sie, wie fast alle Sprachpathologen behaupten, 
getrennt und unabhängig von motorischen Vorgängen gedacht und vor- 
gestellt werden können. Es ist mir rein unfaßlich, wie ich einen sprachlich 


86 B. Mitteilungen. 





formulierten Gedanken, einen Laut, ein Wort, eine Redensart, ein Ge- 
dicht usw. innerlich erklingen lassen soll, ohne dabei innerlich zu sprechen. 
In meinem Bewußtsein gibt es außer dem Klange, der dem Laute inhäriert, 
kein zweites Klangbild, sondern der Laut ist eine schallhuft influierte 
Bewegungsvorstellung, er ist eine unteilbare Einheit, eine psychophysische 
Modalität, in der sensorische und motorische Elemente untrennbar ver- 
bunden sind. Wenn ich Worte höre und verstehe, so bilde ich diese 
Worte innerlich nach; im andern Falle bleiben die Worte diffuse 
Schallreize, für die ich weder Verständnis noch Gedächtnis 
habe. Zum Verständnis der Rede ist kein merkliches Mitsprechen, wohl 
aber eine innere psychomotorische Wortbildung unbedingt erforderlich. 
Könnte der Diener den Auftrag nicht sofort wiederholen, so würde er es 
nach Verlauf einiger Sekunden erst recht nicht können. Den Reizworten 
muß unmittelbar und kontinuierlich die Reaktion folgen, unbekümmert um 
den Sinn der Worte. Die Wortklänge als Schallreize müssen unverzüglich 
im Hörer Bewegungsimpulse auslösen, die denjenigen gleich oder ähnlich 
sind, durch die jene Wortklänge entstanden. Der Diener darf nicht Schall 
und Wortklänge, sondern er muß Worte hören; Schallreize müssen in 
ihm Wortgestalt annehmen. Des Herrn Worte müssen im Stimm- 
und Arikulationsorgan des Dieners ihr Echo und ihre Resonanz 
finden: des Herrn Worte müssen des Dieners Worte werden. Auf 
dieser im normalen Menschen vor- und ansgebildeten Mechanik, die näher 
zu ergründen Sache der Physiologen und Physiker ist, beruht die Möglich- 
keit des Verständnisses und des lautsprachlichen Verkehrs. 

8. Das Sprachverständnis der Tiere. Die Hirnphysiologen sind 
zwar genötigt, die bisher angeführten Erfahrungstatsachen anzuerkennen, 
aber solche Ergebnisse der Selbstbeobachtung passen nicht recht in die 
hypothesenreiche Lehre von der Aphasie, und um dieses überkünstliche 
Bauwerk zu retten und einige Sprachstörungen möglichst umständlich er- 
klären zu können, zerlegen sie den Sprachlaut in seine Elemente und 
machen geisterhafte und kernlose »Sprachklänge« zum Träger und Ver- 
mittler des Gedankens. Aber nicht nur mit pathologischen Fällen suchen 
sie ikre Theorie zu stützen, sondern sie verweisen nebenbei immer wieder 
auf kluge Haustiere und kleine Kinder, die Verständnis für Sprache be- 
sitzen sollen, obwohl sie nicht sprechen und bei denen man darum jene 
innere Laut- und Wortanschauung nicht voraussetzen dürfe. 

Da ist zunächst der kluge Dackel, der »jedes Wort versteht«. »Der 
alte Oberförster« hat es selbst erzählt, und der joviale Herr will ewig in 
der Hölle braten, wenn es nicht wahr ist. Oberförsters Dackel versteht 
rein alles, er versteht »vermittelst der im Gedächtnis behaltenen Klänge 
von Worten«, er versteht ohne Bewegungsvorstellungen. Wenn wir 
von dem redseligen Don absehen, so scheint es freilich gewagt, in den 
Freß- und Bellwerkzeugen des Hundes gleiche oder ähnliche Innervations- 
gefühle voraussetzen zu wollen, wie wir sie an uns und in uns erleben. 
Aber kann man devn ernstlich von einem Sprachverständnis der Tiere 
reden? Auf seiner gegenwärtigen Entwicklungsstufe kann man in Gegenwart 
des klügsten Hundes noch die diskretesten Fragen behandeln; man kann 


3. Zum Problem des Sprachverständnisses. 87 





Bello in allen Sprachen der Welt einen Hundsfott und Schweinhund 
nennen, das Todesurteil über ihn aussprechen und andere Teufeleien be- 
schließen, ohne sein seelisches Gleichgewicht auch nur im geringsten zu 
stören. Der Hund versteht seinen tausendfach gehörten Namen, er reagiert 
auf irgend ein bekanntes Hetzwort und holt die Hausschuhe heran, wenn 
der Herr die Stiefel in die Ecke schmeißt. Damit ist sein Können und 
Wissen aber auch schon zu Ende. Ganz übersehen wird in der Regel 
noch dabei, daß das Tier mehr auf begleitende Gebärden als auf Worte 
achtet, daß ferner das Verständnis versagt, sobald die Experimente unter 
veränderten Situationen stattfinden. — Berichte über Wundertiere tauchen 
von Zeit zu Zeit immer wieder auf, aber die Erfahrung hat hinlänglich 
gelehrt, daß auch der klügste »Hans« mit seinen Sprachkenntnissen vor 
einer ernsten Prüfungskommission nicht zu bestehen vermag. Der Hund 
versteht die Sprache seiner Rasse, er versteht die Sprache des Hundes, 
nicht aber die Sprache des Menschen: Nur gleichartig organisierte 
Wesen verstehen sich. 

9. Das Sprachverständnis der kleinen Kinder. Aber das 
Kind! Es versteht, ohne zu sprechen; hier ist die Sache doch augen- 
scheinlich. Gewiß liegen die Dinge hier anders; denn das Kind von zwei 
bis drei Jahren versteht unzweifelhaft mehr, als es selbst zu sprechen 
vermag; aber trotzdem handelt es sich auch hier um jene Augenscheinlichkeit, 
mit der die Sonne um die Erde sich dreht. Erstens ist das Kind mit 
uns wesensgleich und besitzt menschliche Anlagen, die nur noch der Ent- 
wicklung harren und die sich nur graduell von den Fähigkeiten des Er- 
wachsenen unterscheiden. Zweitens sollten die Hirnphysiologen nicht 
unberücksichtigt lassen, daß die Behauptung, das Sprachverständnis eile dem 
Sprachgebrauch voran, in dieser Allgemeinheit nicht einmal richtig ist. 
Bevor sich bei dem Kinde Anzeichen von Sprachverständnis bemerkbar 
machen, hat es schon monatelang seine Artikulationsorgane geübt und 
vielleicht mehr Laute hervorgebracht, als es in seinem Leben je sprachlich 
verwendet. Drittens wird das Sprachverständnis des Kindes nicht selten 
überschätzt (wie bei den Tieren) und ganz übersehen, daß das Verstehen 
erst dann überraschende Fortschritte macht, wenn das Kind ernstlich zu 
sprechen anfängt. Viertens aber deuten selbst die mißlungenen sprach- 
lichen Nachbildungen darauf hin, daß auch beim Kinde präformierte Bahnen 
vom Ohre zu den Stimm- und Artikulationsorganen führen, und daß wir 
auch da unbewußt bleibende Innervationen voraussetzen dürfen, wo es 
noch an der nötigen Übung und Geschicklichkeit fehlt, das Wort der Vor- 
lage gemäß zu gestalten. Überhaupt ist zu berücksichtigen, daß die Vor- 
stellung einer Bewegung noch weit entfernt ist von der Ausführung und 
der vollendeten Bewegung selbst. Ich sehe einem Reckturner zu; es 
»kribbelt mir in den Fingern«; ich fühle ausgedehnte Innervationen in 
verschiedenen Organen meines Körpers, würde aber die Übung nicht nach- 
machen können. Der musikalische Kunstkritiker beurteilt den Sänger 
durchaus sachgemäß, obwohl er selbst nicht singen kann. Ähnlich verhält 
es sich, wenn das Kind die innerlich gebildeten Worte auszusprechen 
sucht. Die Versuche mißlingen meist ebenso jämmerlich, als wenn ein 


85 B. Mitteilungen. 





Marienbader Kurgast die Kunststücke eines Akrobaten nachzumachen ver- 
suchte. An Verständnis für die Bewegungen, an Innervationen und Be- 
wegungsvorstellungen fehlt es in allen diesen Fällen nicht, aber es fehlt 
an der Fertigkeit und Möglichkeit der Ausführung. 

Nicht als Sprachmeister, sondern als Sprachschüler kommt das Kind 
zur Welt. Die Anlage zum Sprechen, der psychophysische Sprach- 
mechanismus ist ihm angeboren; wäre dies nicht der Fall, so würden alle 
»Sprachärztes der Welt sich vergebens bemühen, das Kind zum Sprechen 
zu bringen. Die Verbindung der Stimm- und Gehörsnervenfasern innerhalb 
des Zentralorgans mag beim Kinde zunächst eine unvollkommene sein, 
mag zunächst anatomische und physiologische Mängel aufweisen, aber der 
Apparat als solcher muß in seiner Anlage als vorhanden gedacht werden, 
wenn anders der Mensch nicht stumm bleiben soll. Richtig ist, daß bei 
dem Kinde das Sprachverständnis dem Ausdrucksvermögen voraneilt. Daraus 
aber folgern und schließen zu wollen, Sprachschall allein sei ausreichend zum 
Sprachverständnis, ist eine kühne aber ungenügend durchdachte Hypothese. 

10. Aphasische Sprachtaubheit. Daß zum Verständnis der Rede 
motorische Erregungen unerläßlich sind, dafür liefern solche Personen 
einen überzeugenden Beweis, die trotz normalen Gehörs weder Sprache 
verstehen noch sprechen gelernt haben. Für Sprachstörungen dieser Art 
gibt es die mannigfachsten Bezeichnungen. Ich wähle den Ausdruck 
»aphasische Sprachtaubheit«, um damit das Wesen des Gebrechens einiger- 
maßen zu charakterisieren und zwar im Gegensatz zu einer zweiten Form 
von Sprachtaubheit, die peripherer Natur ist und die zurückgeführt werden 
muß auf eine physiologisch noch nicht geklärte Störung in der Hör- 
mechanik ausschließlich für Sprachklänge Es handelt sich bei apha- 
sischer Sprachtaubheit um Sprachkranke, die auf die feinsten Geräusche 
achten, die volles Verständnis für Naturlaute haben, die alle Personen 
ihrer Umgebung an der Stimme erkennen, die nicht selten durch gewisse 
musikalische Leistungen überraschen, die aber trotz dieser weitgehenden 
akustischen Fähigkeiten dennoeh stumm geblieben sind und kaum ein 
Wort verstehen. Werden diese Personen unter Anwendung aller dem 
Taubstummenlehrer zur Verfügung stehenden Mittel zum Sprechen gebracht, 
so assoziieren sich auch bei ihnen die Sprachklänge mit den Artikulations- 
bewegungen. Diese zunächst sprachtauben Kinder verstehen nach und 
nach die Sprache auf dem Wege des Gehörs. Dies Verständnis erstreckt 
sich jedoch nur auf solche Lautfolgen, die die Kinder künstlich 
sprechen gelernt haben. Allen anderen Sprachgebilden gegen- 
über sind sie nach wie vor sprachtaub. 

Diese Kinder leiden in Wirklichkeit nicht an einer Hörstörung, 
sondern an einer Sprachstörung, und zwar an Aphasie schwerer Art. Nicht 
um eine »Inaktivitätslethargie des Ohres« handelt es sich, sondern um 
eine Inaktivitätslethargie des psychischen Sprachmechanismus: es fehlt an 
Innervation, es fehlt an der nötigen Erregbarkeit und Belebung des inneren 
Worts. Und hier zeigt sich nun deutlich, daß das Sprachverständnis nicht 
ausschließlich eine Leistung des Gehörs ist. Zum Sprachverständnis 
— auch zum mechanischen — gehört, daß der Perzeption der Sprach- 


4. Zeitgeschichtliches. 89 





klänge durchs Ohr eine physiologische oder verbale Apperzeption im 
psychischen Sprachzentrum folgt, daß Schallreize ganz bestimmter Art im 
Hörer Wortgestalt annehmen und mit einem motorischen Kern eine un- 
trennbare Verbindung eingehen. Wo diese Erregbarkeit im psychischen 
Sprachmechanismus eine derart herabgesetzte ist, daß es zu keiner Verbal- 
apperzeption kommt, da besteht bei normalem Gehör Sprachtaubheit. 

11. Der langen Rede kurzer Sinn. Kurz zusammengefaßt haben 
unsere Untersuchungen über das Problem des Sprachverständnisses in seinen 
mechanischen Formen zu folgenden Ergebnissen geführt: 

a) Die an unser Ohr dringenden Naturlaute werden unmittelbar gedeutet 
und rufen in unserm Bewußtsein die zugehörigen Sachvorstellungen 
und Situationen wach. 

b) Eine gleiche Wirkung ist dem Sprachschall nicht eigen. Um den Sinn 
der Worte zu verstehen, müssen zunächst die Worte an sich ver- 
standen werden: das sinnvolle Sprachverständnis hat ein mechanisches 
Sprachverständnis zur Voraussetzung. 

c) Zum mechanischen Sprachverständnis ist erforderlich, daß der Klang- 
perzeption durchs Ohr eine Verbalapperzeption im psychischen Sprach- 
mechanismus folgt, daß Sprachklänge im Stimm- und Artikulations- 
organ des Hörers ihre physiologische Resonanz finden und wenigstens 
zu einer inneren Wortbildung führen. 

d) Das innere Wort (der Sprachlaut) ist eine schallhaft influierte Be- 
wegungsvorstellung. 

e) Die logische Zergliederung der inneren Wortanschauung in motorische 
und sensorische Elemente führt zu psychologischen Scheinbegriffen, 
denn isoliert sind diese Elemente weder denk- noch vorstellbar. 

Wenn dieses Resultat nicht gar zu grobe Irrtümer enthält, dann ist 

die Lehre von den Sprachstörungen einer ernsten Revision bedürftig; dann 
ist vor allen Dingen zunächst aufzuräumen mit jenen wissenschaftlichen 
Gespenstern, die nun schon seit Jahren Verwirrung in der Lehrerwelt 
angerichtet haben, nämlich mit den Sprachtypen, mit dem Typus der 
sprachlichen Sensoriker und Motoriker. 


4. Zeitgeschichtliches. 

Der Göttinger Psychiater Professor Dr. August Cramer, der auch in unseren 
Kreisen bekannt und geschätzt ist, starb am 6. September 1912 im Alter von 
52 Jahren. Er hat sich namentlich auch um die Schaffung der am 3. Juni ein- 
geweihten ersten deutschen Provinzial- Heil- und Erziehungs - Anstalt für psycho- 
pathische Fürsorgezöglinge große Verdienste erworben. 

Wilhelm Wundt wurde zu seinem 80. Geburtstag zum ersten Ehrenmitglied 
des Instituts für experimentelle Pädagogik und Psychologie des Leipziger Lehrer- 
vereins ernannt. 

In der schweizerischen Landesausstellung 1914 wird eine umfassende 
Gruppe der Erziehung, dem Unterricht und der Berufsbildung gewidmet sein. Im 
Programm sind sogar praktische Vorführungen im Schulgarten, in der Schulküche, 
in Spielen und Turnen usw. vorgesehen. 

Die internationale Bauausstellung in Leipzig 1913 wird sich außer 
mit schulhygienisch wichtigen Fragen auch in einer besonderen Gruppe mit dem 
Bauen im Spiele des Kindes befassen. 


90 B. Mitteilungen. 





Ein erster heilpädagogischer Kursus findet vom 19. Februar bis 12. März 
1913 in Hannover statt. Anfragen an: Rektor Murtfeld, Hannover, Wörthstr. 1. 

Die nächste Versammlung des Deutschen Vereins für Schulgesund- 
heitspflege findet 1913 in Breslau statt. 

Stiftungen, Schenkungen usw.: 100000 Mark für Jugendfürsorge- 
zwecke in Lindau und drei Vorortgemeinden; 40000 Mark zur Erbauung eines 
Waisenhauses in Altenburg. 

Der Regierungspräsident von Cassel hat alle an der Jugendpflege aktiv 
Beteiligten aus staatlichen Mitteln gegen alle Haftpflichtansprüche versichert. 

Die Regierung in Minden in Westfalen hat angeordnet, daß in den Schulen 
auf dem Lande und in kleineren Städten, in denen kein besonderer Hilfsschulunter- 
richt erteilt wird, für die schwachbegabten Kinder besondere Personalbogen ge- 
führt werden, die für die betreffenden Kinder nach der Schulentlassung in Militär-, 
Gerichts- und anderen Angelegenheiten besonders wertvoll werden können. 

In Bremerhaven soll der schulärztliche Dienst auf die Fortbildungs- 
schulen ausgedehnt werden. 

Die neuen gesetzlichen Bestimmungen in Holland verbieten die Beschäfti- 
gung von Kindern unter 13 Jahren in gewerblichen Betrieben. Jugend- 
liche dürfen nicht vor 6 Uhr morgens, nicht nach 7 Uhr abends und nicht länger 
als 10 Stunden beschäftigt werden. 

Der preußische Minister des Innern hat den Regierungspräsidenten eine Ver- 
fügung zugehen lassen, durch die eine weitergehende Zentralisierung der Film- 
zensur angestrebt wird. Danach bleibt die Prüfung aller von Fabrikanten oder 
gewerbsmäßigen Verleihern vorgelegten Films dem Polizeipräsidenten von Berlin 
vorbehalten. Diesem steht ein auf literarischem, künstlerischem und erzieherischem 
Gebiete erfahrener Berater zur Seite. 

Eine »Gesellschaft zur Hebung der Lichtspielkunste hat sieh gebildet, 
um -- die Auswüchse der Kinoschundbekämpfung zu bekämpfen. 

Die Kinematographenbesitzer Stuttgarts hatten untereinander bei hohen 
Konventionalstrafen Beschlüsse gefaßt, durch die ihre Kinos auf ein höheres 
Niveau gehoben werden sollten, aber — wie die Polizeidirektion mitteilt — keines- 
wegs gehoben wurden, sondern durchaus auf dem tiefen Niveau blieben. 

In den württembergischen Lehrerseminaren wurden im Oktober von 
unserm Mitherausgeber Dr. Karl Wilker Vorträge über »Die Bedeutung der 
Alkoholfrage für den künftigen Lehrer« gehalten. 

Eine Statistik der Anstaltsgeistlichen über die Insassen des Zentral- 
gefängnisses in Gollnow (Reg.-Bez. Stettin) für die Jahre 1908—1911 er- 
gibt: 15,2°/, sind unehelich geboren. Zur Zeit ihrer ersten Bestrafung standen von 
den Eingelieferten jährlich durchschnittlich 


18 im Alter von 12 Jahren 51 im Alter von 17 Jahren 
24 Er} ” 3 13 ” 35 k$] ” „ 18 n 
20 ” ” ” 14 kad 37 ”„ „ ”„ 19 kk] 
29 ” „ 9 15 kh 33 s. 29 19 20 "235 


32 ” ” „” 16 ” 21 ” „ ” „ 

Von den Gewohnheitsverbrechern (zehnmal und öfter bestraft) waren 46,3°/, 
im jugendlichen Alter bereits verbrecherisch geworden; 8,3°/, waren ehemalige 
Fürsorgezöglinge. Von allen Straftaten wurden 72,80/, in Trunkenheit oder infolge 
von Trunksucht begangen (darunter 68,7°/, der Sittlichkeitsdelikte). 

Die Zahl der Analphabeten unter den französischen Rekruten be- 
lief sich nach dem Bericht der Korpskommandeure im Jahre 1911 auf 5,65°/,. 

Der Bericht über die Verhandlungen der XII. Jahresversammlung 
des Deutschen Vereins für Schulgesundheitspflege und der IV. Ver- 
sammlung der Vereinigung der Schulärzte Deutschlands vom 28. bis 
30. Mai 1912 in Berlin, herausgegeben von Prof. Dr. Selter und Dr. Stephani, 
ist als Beiheft (im Umfang von 234 S. mit 17 Textbildern, 1 Tabelle und 1 Tafel) 
zu Jg. 25, Nr. 8 (August 1912) der »Zeitschrift für Schulgesundheitspflege« im 
Verlag von Leopold Voß in Leipzig und Hamburg erschienen. 


C. Zeitschriftenschau. 91 





Die auch in Deutschland rühmlichst bekannte »Zeitschrift für Jugenderziehung, 
Gemeinnützigkeit und Volkswohlfahrt« (A. Trüb & Co., Aarau) führt vom 15. Sep- 
tember 1912 an (Beginn des III. Jahrgangs) den Titel »Zeitschrift für Jugend- 
erziehung und Jugendfürsorge«. Die Zeitschrift soll sich nunmehr zu einem 
Zentralorgan der gesamten Jugendfürsorgebestrebungen der Schweiz entwickeln, ohne 
aber die rein ng a Fragen zu vernachlässigen. Der Bezugspreis mußte 
infolge mannigfacher Eıweiterungen von 8 Mark auf 9 Mark für das Jahr erhöht 
werden (jährlich 24 Nummern im Umfang von je etwa 2 Druckbogen und mehr). 


C. Zeitschriftenschau. 


I. Psychologie. 
1. Ergebnisse der angewandten Psychologie. 
Die Plastiken Jugendlicher und die Psychologie. Die Hilfsschule. V, 8 (August 
1912), S. 221—223. 
Bericht über einen Teil der Ausstellung des Instituts für angewandte Psycho- 
logie. Aus der »Vossischen Zeitung«. 
Weigl, Franz, Seelenkunde und Berufswahl. Bayerische Caritas-Blätter. 1912, 6 
(Juni), S. 121—125. 
Zeigt, wie die moderne Psychologie (namentlich in Amerika) für die Berufs- 
wahl nutzbar zu machen ist. Einzelne Beispiele. 


II. Anormalenpädagogik. 
l. Tatsachen. 
Büttner, Georg, Verschiedene Sprachstörungen und ihre Behandlung in der 
Schule. Evangelisches Schulblatt. 56, 9 (September 1912), S. 398—409. 
Bespricht Stottern (am eingehendsten), Stammeln, Lispeln, Näseln. 
Hischer, Karl, Lehrerfreude. Heilpädagogische Schul- und Elternzeitung. III, 7 
u. 8 (Juli-August 1912), S. 128—130. 
Zwei kurze Schülertypen, deren rechnerisches Talent ganz zufällig zutage kam. 


2. Konsequenzen. 


Bornemann, L., Gründet Hilfsschulen einklassig! Evangelisches Schulblatt. 56, 9 
(September 1912), S. 385—397. 

Die statistischen Zahlen werden besprochen. Im engen Anschluß an Dörpfeld 
werden einklassige und angegliederte Hilfsschulen gefordert. Bei mehrklassigen 
Schulen soll der Lehrer seine Klasse durchführen. Vielfach polemisierend! 
Ziegler, K., Behandlung schwachbegabter Kinder im Elternhause. Heilpädagogische 

Schul- und Elternzeitung. III, 7 u. 8 (Juli-August 1912), S. 135—146. 

Ratschläge an den Vater eines Hilfsschulkindes, hauptsächlich die außer- 
schulische Erziehung betreffend, daneben aber auch die Hilfsschularbeit würdigend. 
In Briefform. 


8. Erfolge. 


Griesinger, A., Fürsorge für die Schwachbefähigten nach dem Schulaustritt mit 
besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in Frankfurt a. M. Die Hilfsschule. 
V, 8 (August 1912), S. 209—221. 


92 C. Zeitschriftenschau. 





Lehnt die bisherige Einteilung in nicht, teilweise und völlig erwerbsfähige ab 
und rubriziert statt dessen in stetige Arbeiter (von den 1903—1909 in Frankfurt 
entlassenen 133 Hilfsschülern 36,84°/,). unstetige Arbeiter (46,67°/,) und nicht er- 
werbsfähige (16,54 °/,). Für die Unterbringung der schulentlassenen Schwach- 
befähigten werden wertvolle Winke gegeben. 

Scharff, Meine Erfahrungen mit Professor Engels Stimmbildungsmethode bei der 
Behandlung von Sprachgebrechen. Evangelisches Schulblatt. 56, 9 (September 
1912), S. 409—413. 

Die Methode verdient nach den erzielten auffallenden Erfolgen den Vorzug 
vor der Gutzmannschen. 

Gürtler, R., Jahresversammlung der Vereinigung zur Förderung des sächsischén 
Hilfsschulwesens. Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger. 32, 8 (August 
1912), S. 145—148. 

Kurzer Bericht über die am 22. Juni stattgehabte Versammlung. 


III. Kinderschutz und Jugendfürsorge. 
2. Massnahmen. 
von Buchka, Jugendgerichte. Der Tag. Nr. 196 (22. August 1912). 

Skizziert die Bestimmungen des Verfahrens gegen Jugendliche im liegen- 
gebliebenen Entwurf der neuen Strafprozeßordnung, denen sich das zu erwartende 
Jugendgerichtsgesetz im wesentlichen anschließen dürfte. 

Elwert, Dritter Deutscher Jugendgerichtstag. Der Tag. Nr. 207 (4. September 1912). 

Deutet an, welche Forderungen zu dem bevorstehenden Jugendgerichtsgesetz 
auf der genannten Tagung erhoben werden dürften. Betont besonders die Not- 
wendigkeit prophylaktischer Maßnahmen. 

Naab, P. Ingbert, Die moderne Jugendbewegung. Der Tag. Nr. 220 (19. Sep- 
tember 1912). 

Tritt ein für die konfessionellen Jugendvereine, denn auch in der Jugend- 
bewegung werden »die ewig geltenden Wahrheiten der Kirche Christi, die bei einem 
großen Teil der Menschheit und auch bei einem großen Teil der Jugend immer 
ihren Einfluß bewahren werden,« den endgültigen Sieg davontragen. 

Gloor, Adolf, Was für Lesestoff sollen unsere Schülerbibliotheken enthalten ? 
Zeitschr. f. Jugenderziehung u. Jugendfürsorge. III, 1 (15. Sept. 1912), S. 17—21. 

Sucht die Frage auf Grund praktischer Erfahrungen und Versuche zu be- 
antworten. 

Zimmer, Hugo Otto, Kinderlesezimmer. Der Säemann. 1912, 9 (17. September), 
S. 418—421. : 

Durch die Kinderlesezimmer soll den Kindern ihr verlorenes Heim wieder- 
ersetzt werden. Sie müssen also mehr Jugendheime als Lesezimmer sein. Dabei 
kommt es vor allem auf die richtigen Menschen als Leiter an. 

Weimer, Die schulentlassene Jugend. Deutsche Schulpraxis. 32, 34 (25. August 
1912), S. 269—272. 

Aus des Verfassers »Haus und Leben als Erziehungsmächtee. — Kurze 

Orientierung über Jugendfürsorgebestrebungen. 


3. Erfolge. 


Lüthi, Lina, Aus dem Arbeitsgebiet einer Polizeiassistentin. Zeitschrift für Jugend- 
erziehung. II, 24 (1. September 1912), S. 743—747. 


C. Zeitschriftenschau. 93 





Die Verfasserin ist Polizeiassistentin in Zürich. Sie betont, daß sich ihre 
Tätigkeit nur fruchtbringend gestalten könne, wenn Wohnen und Essen der Mädchen 
geordnet werde. Einzelne Fälle aus der Praxis werden kurz mitgeteilt. Dringend 
erwünscht ist ein eigentliches Obdachlosenheim. 

Silbernagel, Alfred, Internationale Organisation der Jugendfürsorge. Zeitschrift 
für Jugenderziehung und Jugendfürsorge. III, 1 (15. September 1912), S. 3—14. 

Mitteilung über die zum Zwecke der Gründung eines internationalen Komitees 
und einer internationalen Union getanen Schritte, insbesondere über eine im Juni 
1912 in Paris stattgefundene Konferenz. Zusammenstellung der Urteile maß- 
gebender Persönlichkeiten darüber. Ein Komitee zur Unterstützung der vom 
schweizerischen Bundesrat in dieser Angelegenheit eingeleiteten interstaatlichen 
Aktion wurde noch nicht gebildet. Die Antworten der Staatsregierungen sollen 
erst abgewartet werden. 

F. R., Kinderhorte. Zeitschrift für Jugenderziehung und Jugendfürsorge. III, 1 
(15. September 1912), S. 14—16. 

Im wesentlichen Besprechung einer besonders guten Horteinrichtung, die einer 
Großberliner Volksschule angegliedert werden soll. 

Lohr, Anton, Genügt unsere Zwangserziehung? Bayerische Caritas-Blätter. 1912, 6 
(Juni), S. 134—139. 

Auf Grund des amtlichen Berichtes über die Zwangserziehung in Bayern 1911. 

Es wird dargetan, daß die Hauptursache der Verwahrlosung der Alkoholismus ist. 


IV. Jugend- und Schulhygiene. 

Wimmenauer, Über die Bestimmung des Ernährungszustandes bei Schulkindern. 

Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 25, 9 (September 1912), S. 601—619. 
Der Aufsatz bringt als Bemerkungen zu den Münchener Untersuchungen von 

Oppenheimer und Landauer eine Erörterung der Frage nach der Bestimmung des 

Ernährungszustandes bei Schulkindern überhaupt. Zur Beurteilung kommen in Be- 

tracht Inspektionsmethode und (verschiedene) Maßmethoden. Erstere wird in Mann- 

heim vorgezogen. Eine Untersuchung von 1175 Knaben und 767 Mädchen der 

Volksschule ergab 18,6°/,, bezw. 13,8°/, schlecht ernährte Kinder. Die Feststellung 

des Ernährungszustandes durch Wiegen und Messen wird durch ein Beispiel er- 

läutert. — Die kritischen Bemerkungen sind sehr beachtenswert! 

Poelchau, G., Die Unterernährung der Schuljugend und ihre Bekämpfung durch 
Merkblätter, welche Ratschläge über die Ernährung enthalten. Zeitschrift für Schul- 
gesundheitspflege. 25, 8 (August 1912), S. 533—561. 

Ein Merkblatt des Verfassers wird im Wortlaut wiedergegeben. Vorauf gehen 
einige allgemeine Bemerkungen zu dem Thema. 

Wallenstein, J., Über die hygienische Aufklärung und Belehrung unserer Schul- 
kinder. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 25, 8 (August 1912), S. 593—595. 

Der Verfasser teilt kurz seine bereits 1909 vorgetragenen, aber nicht publi- 
zierten Erfahrungen mit der Belehrung der Kinder in hygienischen Fragen mit. 

Diese Belehrung sollte nur durch den Schularzt erfolgen. 

Riedel, Das orthopädische Schulturnen in Lübeck. Zeitschrift für Schulgesundheits- 
pflege. 25, 9 (September 1912), S. 619—621. 

Für das Turnen werden vorwiegend Kinder mit schwachem Rücken oder 

Neigung zu Rückgratsverkrümmung ausgewählt; ausgesprochene oder fixierte Wirbel- 

säulenverkrümmungen werden ausgeschieden. 


94 D. Literatur. 


Rothfeld, Schulturnen und Schularzt. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 
25, 8 (August 1912), S. 562—574. 

Untersucht die Frage, ob Befreiung vom Turnen den entlastungsbedürftigen 
Kindern wirklich Nutzen gewährt. An ihre Stelle soll möglichst »Turnschonung« 
treten oder aber Überweisung in die allgemeine Sonderturnstunde. Der Verfasser 
legt besonderen Wert darauf, das jetzige Schulturnen möglichst förderlich zu ge- 
stalten, nicht aber es kurzerhand abzuschaffen. 

Franke, Kurt, Die Schulwanderungen im Lichte der körperlichen Erziehung der 
Schuljugend. Heilpädagogische Schul- und Elternzeitung. II, 7 u. 8 (Juli- 
August 1912), S. 130—134. 

Erörtert kurz den guten Einfluß der Schulwanderungen auf gesunde und kranke 
Kinder. Tritt ein für Ferienwanderungen der Schüler. 

Cohn, Moritz, Eine einfache Methode zur Bestimmung einer richtigen Bestuhlung 
sämtlicher Klassen eines ganzen Schulbezirks. Zeitschrift für Schulgesundheits- 
pflege. 25, 9 (September 1912), S. 621—623. 

Die Methode wird in einem Breslauer Schulbezirk angewandt. Sie besteht im 
wesentlichen im Anbringen von 3 horizontalen Linien in jeder Klasse, die die Durch- 
schnittskörperlängen angeben, muß aber im Original nachgelesen werden. 
Hoffmann, A., Gesundheitspflege und Gesundheitslehre in der Hilfsschule. Zeit- 

schrift für die Behandlung Schwachsinniger. 32, 8 (August 1912), S. 149—157; 
9 (September), S. 163—173. 

lm wesentlichen Bericht über die Internationale Hygiene-Ausstellung 1911. 
Es werden für die Praxis Nutzanwendungen daraus gezogen. Zum Teil werden auch 
eigene Erfahrungen (Gesundheitslehre ausgebaut zu einer Lebenskunde) mitgeteilt. 


D. Literatur. 





Bayer, Heinrich, Über Vererbung und Rassenhygiene. Ein allgemein 
orientierender Vortrag. Jena, Gustav Fischer, 1912. IV und 50 Seiten. Mit 
5 Tafeln und 2 Abbildungen im Text. Preis 2 Mark. 
Der Vortrag ist in erster Linie für ärztliche Leser bestimmt, doch kann er 
als eine gut geratene Einführung allen empfohlen werden, die dem Probleme inter- 
essiert gegenüberstehen. Dr. Karl Wilker. 


Schweighofer, Josef, Alkohol und Nachkommenschaft. S.-A. aus der 
Wochenschrift: »Das österreichische Sanitätswesen.« Wien I, Alfred Hölder, 
1912. 25 Seiten und 23 Tafeln. Preis 1 K 60 h. 

Diese Arbeit ist eine der wertvollsten Erscheinungen der letzten Zeit. Der 
Verfasser, Direktor der Landesheilanstalt für Geisteskranke in Salzburg, hat mit 
staunenswertem Fleiß und Eifer ein großes Material zu der Frage zusammengetragen. 
Graphische Darstellungen sind der Arbeit in reicher Zahl beigegeben. Man kann 
die degenerierenden Wirkungen des Alkohols an einem Kulturvolke bis in Einzel- 
heiten hinein verfolgen und muß daraus unbedingt die gleichen Folgerungen wie 
der Verfasser ziehen: Eintreten für die Abstinenzbewegung! Dr. Karl Wilker. 





Verantwortliche Schriftleitung für Abhandlungen und Mitteilungen: Dir. J. Trüper, 
Sophienhöhe b. Jena; für Zeitschriftenschau und Literatur: Dr. Karl Wilker, Jena, 
Weißenburgstraße 27. 


Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 


Verlag von Hermann BEYER & Söhne (Beyer & Many) in Langensalza. 


Beiträge zum Kinderiorschung und Heilerziehung, 


Beihefte zur »Zeitschrift für Kinderforschunge. 
Im Verein mit 


Dr. G. Anton Dr. E. Martinak Chr. Ufer Karl Wilker 


Geh. Med.-Rat u. Prof. o. ö. Prof. d. Philosophie Rektor d. Süd-Mädchen- Dr. phil. 
an der Univ. Halle u. Pädag. a. d. Univ. Graz Mittelschule i. Elberfeld in Jena i. Thür. 


herausgegeben von 
J. Trüper 


Direktor der Erziehungsheimes und Jugendsanatoriums auf der Sophienhöhe bei Jena. 
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27. Die Impressionapilität der Kinder unter dem Einfluss des Milieus. Von 
Dr. Adolf Baginsky, Professor an der Universität Berlin und Direktor des 
Kaiserin Friedrich-Kinderkrankenhauses. 21 8. Preis 40 Pf. 
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ruhende Entwicklungsanomalie der Bindesubstanzen. Von Dr. M. Fiebig, 


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für geistig abnorme Kinder Wien-Grinzing. 18 S. Preis 35 Pf. 
30. Die Fürsorge für die schulentlassene Jugend. Von Dr. Felisch, Geh. 
Admiralitätsrat. 17 S. Preis 30 Pf. 
31. Farbenbeobachtungen bei Kindern. Von Dr. Karl L. Schaefer, Professor 
an der Universität Berlin. 16 S. Preis 30 Pf. 


32. Über die Möglichkeit der Beeinflussung abnormer Ideenassoziation dureh 
Erziehung und Unterricht. Von Hugo Landmann, Oberlehrer am Trüperschen 
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des praktischen Unterrichts. Von Dr. A. Pabst, Direktor des Handarbeits- 

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A. Abhandlungen. 


1. Schulreform. 
Von 
Dr. Peter Petersen, Hamburg. 


In das Leben der Schule läuten mit immer stärkerem Schwingen 
die Reformglocken hinein. Vieldeutig ist ihr Geläut, eine bunte Sub- 
jektivität müht sich um die Erfassung der Töne, Gesellen aller Tempe- 
ramente ziehen die Stränge; selten sind es frohe Osterglocken, oft, 
uns viel zu oft, klingt es wie Geläut von Sturmglocken an unser Ohr. 
Und doch sah wohl die pädagogische Welt nie zuvor eine so große 
Schar der besten Männer und Frauen einer Zeit im Dienste der Schul- 
reform, nie hörten wir von solchem Aufgebot geistiger Energie, besten 
Willens zu ihrer Lösung. Aber die große Zahl gibt auch zahllose 
Lösungen, ja, sie entdeckt noch eine Menge neuer Fragen hinzu; und 
das Wirrsal der Probleme, die von Woche zu Woche schwerer fallende 
Übersicht der Zeitfragen ist Schuld daran, daß der einheitliche Zug 
der Bewegung oftmals abhanden kommt, daß andererseits die Reform 
an manchen Orten, besonders bei gewissen Fragen revolutionär auf- 
braust und über die Grenzen der Besonnenheit schäumt. 

Reform ist nicht Revolution! 

Heute ist doch nur eine in rationalistisch-utopistischen Gedanken- 
kreisen rückständig verbliebene, streng marxistische Richtung Gegner 
dieser These und die letzte Pflegerin naturrechtlicher Anschauungen. 
Uns anderen hat die Geschichte mit scharfem Griffel aufgezeichnet, 
warum der Glaube der Aufklärung trügerisch war. Revolution ist die 
gewaltsame Unterbrechung der geschichtlichen Entwicklung mit der 
Tendenz, das Alte durch ein absolut Neues zu ersetzen. Solche Ge- 
danken machen einem Jahrhundert Ehre, das an eine allvermögende 

Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 7 


98 A. Abhandlungen. 


Vernunft glaubt, unserem Empirismus und Realismus nicht mehr. 
Alles, was die Gegner rationalistischer Systeme vor etwa 100 Jahren 
auf dem Grunde der Prinzipien aus der Betrachtung des Rechts, des 
Staates, der Literatur usw. einzuwenden hatten, darf uns über das 
Wesen der Reform aufklären. 

Ihr wahres Prinzip hat sich, zunächst unter romantischem Ein- 
fluß, unter der Pflege der »historischen Schule« siegreich heraus- 
gerungen: das Prinzip der Kontinuität belehrt uns über die Macht 
der irrationellen Bestandteile des Staatslebens, wie über die Macht der 
Tradition, der Sitte, der religiösen Überlieferungen und Gebräuche, 
des Instinktes, der triebartigen Empfindungen. Das glänzendste Bei- 
spiel bietet in der französischen Geschichte die napoleonische Zeit mit 
dem Wiederaufleben der Zeit vor 1789 und die Restauration mit 
ihrem Unvermögen, die durch das Kaisertum geförderten Anlagen und 
Grundrichtungen des französischen Geistes zu tilgen und zu ersetzen. 
— In Deutschland hatte Hegel den Rationalismus und seine Rechts- 
anschauung zum Siege geführt und das Wesen des »selbstbewußten 
Geistes«e in der Abstraktion von der Materie, in ihrer Negation ge- 
sehen. Auch hier führte erst die Einfügung der historischen Kon- 
tinuität auf den rechten Weg der Geschichte. Die Fortbildung der 
menschlichen Gesellschaft kann einmal sich bewußt frei gestalten, dem 
Wesen der Persönlichkeit analog, daneben aber in ununterbrochener 
Einheit, eine Tatschöpfung, gemäßigt durch die sich anknüpfende 
Überlieferung. So hat auch Ranke, der große Kenner der Geschichte, 
der an ihren lautersten Quellen trank, von der »Kontinuität des Lebens 
in den Staaten« gehandelt. 

Wer auf den reichen Blättern der Geschichte weiterliest, wird 
mühelos tausend Beweise für die Wahrheit dieses Prinzips finden und 
als Lohn solchen Forschens den echten geschichtlichen Sinn erwerben, 
der zugleich zur rechten Fragestellung anleitet. Nimmt er dann 
tätigen Anteil an der Schulreform, so wird er eine weise »Lehr- 
meisterin des Lebens« sich zur Seite finden; sie wird ihm rechte 
Antwort geben, auch versöhnende, freundliche; denn die Göttin der 
Hoffnung zeigt selbst dem Fragenden die Erfüllung durch die nebel- 
umschleierte Zukunft. 

Reform ist nicht Renaissance! 

Renaissance ist Erneuerung eines alten Ideals in Zeiten, denen 
es versagt ist, ganz aus eigener Kraft, aus sich selbst ein neues zu 
schaffen. Was das Volk entgegenbringt, ist nur die Sehnsucht nach 
neuem Leben, ein Drang unruhig und ungestüm, die Leidenschaft zum 
Ideal neben der Verehrung und stillen Anbetung; die Kraft zum 


Petersen: Schulreform. 99 





Selbstschaffen fehlt. Allein, ist erst das vorgestellte Ideal gepackt, da 
reißt die sehnende Gewalt des Volkes es an sich und mit sich fort zu 
neuen Gebilden und baut auf dem Alten wie in neuen Formen mit 
neuen Mitteln unter einem eigenen Ideal der Schönheit. Neu wird 
die Lebensführung, wie seine Anschauung anders wird, und das Ideal 
der Persönlichkeit wandelt sich in stürmischem Umschwung zu rück- 
sichtslosem Lebensgenuß und Brutalität wie zu Adel und feinfühliger 
Lebenshaltung. 

So wirkt eine Renaissance gewiß auch umbildend — reformierend 
— nach völkischer Eigenart auch mannigfach verschieden. Dennoch 
ward allen das künstliche Element zum Fluch. Es gebricht dem 
Künstlichen an Durchschlagskraft bis zu den Massen des Volkes, und 
erst wo von unten herauf der Geist im Ansturm wogt und sucht und 
prüft, schließlich erkennt und nun gewaltig will und für sein Wollen 
alles einsetzt, da entwickelt sich die unwiderstehliche Stoßkraft des 
Ganzen und reißt widerstrebende Dämme fort. 

Die große Renaissance führte die Kunst zu einer Höhe, vor der 
wir noch heute bewundernd stehen, entfaltete reiche Literaturen und 
Gedankensysteme, traf aber die Massen nicht, versagte daher voll- 
kommen den religiösen Fragen gegenüber, die stets ein Massenproblem 
sind, und ging unter, als deren Lösung urwüchsiger, grundtiefer Kraft 
gelang. Der Klassizismus unsrer großen Dichter zeigt heute als Aus- 
läufer den Alexandrinismus, philologische Entartung; die unbändige, 
phantasievolle Romantik feierte ein kurzes Jubeljahr. Nur wo diese 
Perioden an Saiten der Volksseele rührten, die lange, lange stumm 
und ungeschlagen dagelegen hatten, wurden sie fruchtbare Anreger — 
weil sie das Volk in der Tiefe, im Ganzen trafen, neue Seiten seiner 
eigenen Tüchtigkeit, in ihm selber schlummernde Werte weckten. 

Reform ist organisches Neubilden! 

Niemand weiß, was dies heißt in seinem letzten Grunde: Die 
Idee des Nationalismus charakterisiert das 19. Jahrhundert. Dennoch 
fühlt nicht nur ein jeder, sondern weiß, was es ist um diese Idee. 
Er sieht sie nach und nach alle Völker ergreifen, bald beherrschen 
und ihrer Politik, der inneren wie der äußeren, eigentümliches Ge- 
präge verleihen. Der Historiker kann weiter gelangen und in »Über- 
gangszeiten« die Herauswicklung dieser Idee aus der kosmopolitisch- 
universalistischen, ihrem Gegenteil, aufzeigen. Er kann etwa darlegen, 
wie diese zerfällt unter dem Druck eines großen Eroberers, der, selbst 
noch ganz im Banne der alten, die neue Idee, den Nationalismus, als 
seinen Feind, schließlich seinen Besieger erzeugen muß. Aus den 


Schriftwerken jener Tage lösen wir die Glieder ab, aus denen wir die 
7* 


100 A. Abhandlungen. 








Kette fügen, die von einer Idee zur andern hinüberleitet. In jeder 
haben wir aber eine Neubildung aus der Völker eigener Kraft vor 
uns, die keiner Anlehnung, keiner künstlichen Stütze bedarf, jedoch 
rückwärts mit der Geschichte verbunden ist. 

Derart ist in unseren Tagen die Idee der Schulreform. 

Sie ist geboren aus tiefempfundenen Bedürfnissen, die sich mit 
voller Konsequenz aus der Entwicklung unseres Volkes in den letzten 
Jahrzehnten einstellen mußten, die innerlich, organisch mit seinem 
wirtschaftlichen, sozialen und völkischen Aufstieg verbunden sind. Sie 
wird demnach von der großen Mehrheit des Volkes und seinen besten 
Vertretern getragen und ist von ihnen ins helle Licht der Kritik ge- 
stell. Heute ringt sie schon im Bewußtsein eingeborenen Rechtes 
nicht mehr um Anerkennung, sondern um Erfüllung. Und nun stehen 
wir im grellen Licht des Tages mit den tausend Fragen, und wie Ge- 
blendete suchen wir die Pfade zum Ziel. Da mahnt wohl eine rück- 
wärts schauende Orientierung mit Recht, nicht den Zusammenhang 
mit der Vergangenheit der pädagogischen Entwicklung zu verlieren. 
Fruchtbar ist doch nur, was sich organisch fortbildet, was kontinuier- 
lich fortschreitet und nicht revolutionär das Alte gänzlich verwirft zu- 
gunsten des glitzernden, unerprobten oder nur wenig erprobten Neuen. 
Wer dann noch sich vor Vermengung pädagogischer Fragen mit 
anderen, besonders politischen, wozu die Gegenwart leider so gern 
neigt, hütet, der trägt voll dazu bei, daß in der Schulreform die be- 
freiende Tat bald einsetzen kann, und hilft ferner zur Schaffung eines 
Zieles mit, dem Männer jedes Alters, jeder Partei gleich begeistert 
zustreben können. 

Und das sei allein Ziel der Reform, dem der Ergraute und der 
Greis neben dem Jünglinge zuschreiten können, beide führend, die 
Weisheit, Besonnenheit und reichere Erfahrung des Älteren, die leiden- 
schaftsstarke, vom Gefühl getriebene, idcalische Kraft des Jüngeren. 
Das letzte Ziel, das Hochziel aller fortschreitenden Bewegung inner- 
halb menschlicher Kultur war stets die Wahrheit als innere Wahrheit 
des Lebensgehaltes, um sie können jung und alt ringen — gemeinsam. 
Auch der Weg zur Wahrheit der Idee kann gemeinsam sein, wofern 
er die Schönheit ist: die Schönheit in ehrenvoller Führung des Streites 
bei jedem Mittel und in jeder Haltung. Die Schönheit des Wortes, 
die allein der edlen Sache würdig ist, sei jedem Führerin auf dem 
Wege. Der Stützen gibt es viele, wie Treue, Arbeit, Fleiß, Beharr- 
lichkeit, Besonnenheit, Geduld. Aber auf Einigkeit im letzten Ziele, 
im Herausarbeiten des letzten Punktes richte jeder einzelne sein 
Augenmerk! Was nützt dem einzelnen sein stählernes Gemüt und 


Reuschert: Charles Michel de l'Epée. 101 





seine stählerne Kraft, wenn er in seiner Starrheit einsam verharrt? 
Er wird wie ein unnützer, kraftloser Stahlspan im Haufen wirkungslos 
liegen. Wenn aber der große Zug, wenn die magnetische Kraft ihn 
durchströmt, dann reckt er sich auf und reiht sich ein, Glied an Glied, 
und bildet mit die Einheit, der allein der Sieg beschieden ist. 


2. Charles Michel de l’Epee. 


Der Begründer der ersten Taubstummenanstalt. Ein Erinnerungsblatt 
zu seinem 200jährigen Geburtstage. 
Von 
Emil Reuschert, Königl. Taubstummen-Lehrer in Berlin. 


Der Jahrgang 1712 war für die pädagogische Entwicklung Frank- 
reichs von weitgehendster Bedeutung, gehörten ihm doch zwei Männer 
an, die durch ihre kühnen, epochemachenden Ideen die erziehende 
Menschheit vor neue, große Aufgaben stellten, so daß ihre Namen 
schon zu ihren Lebzeiten auf aller Lippen waren. Ich meine Jean 
Jacques Rousseau und Charles Michel de l’Épée. 

Wenn man berücksichtigt; daß die Namen auch bis auf den 
heutigen Tag noch nichts von ihrer Lebenskraft eingebüßt haben, so 
kann man ermessen, wie nachhaltig das Auftreten der beiden Männer 
auch noch auf die späteren Generationen gewesen ist. Dabei darf 
nicht vergessen werden, daß es sich nicht etwa bloß um einen Ein- 
fluß im engeren Kreise handelte, sondern daß ihre Anregungen über 
die Grenzen ihrer Heimat weit hinaus gingen, wodurch sie für alle 
Zeiten zu einem Weltruf gelangt sind. 

Rousseaus Gedenktag hat Freunden und Feinden wieder einmal 
Gelegenheit gegeben, in einer wahren Flut von Aufsätzen zu dem 
Freiheitskämpfer und Gefühlsapostel Stellung zu nehmen. Nun wollen 
wir hier auch seinem oben genannten Altersgenossen ein Erinnerungs- 
blatt weihen. Auch er strebte eine Emanzipation an und schöpfte 
bei seinem schweren Werke immer wieder neue Kraft aus dem un- 
versiegbaren, reinen Borne seines reichen Gemütslebens. Und wie 
verschieden waren doch sonst diese beiden Menschen! 

Charles Michel de l’Epse wurde am 24. November 1712 als Sohn 
eines königlichen Architekten zu Versailles geboren. Er besuchte das 
»Collöge des Quatre-Nations« mit vorzüglichem Erfolge, um sich dann, 
einer inneren Neigung folgend, dem geistlichen Stande zu widmen, 
obwohl ihn seine Eltern von seinem Vorhaben abzubringen suchten. 
Der junge Priester wurde ein eifriger Gottsucher. In seinen Ge- 
wissensnöten wandte er sich jansenistischen Studien zu, was jedoch 


102 A. Abhandlungen. 





nicht im Sinne der Jesuiten war. Als er sich dann weigerte, ein 
Glaubensformular Alexanders VII. zu unterzeichnen, wurde er seines 
Amtes entsetzt. Nach diesem Schicksalsschlage ging er zum Rechts- 
studium über, und 1733 empfing er seine Ernennung zum Parlaments- 
advokaten. In seiner juristischen Laufbahn fand er indessen nicht 
die innere Befriedigung; deshalb begrüßte er es mit Freuden, als er 
durch Fürsprache des Monsignore Bossuet, Bischofs von Troyes, wieder 
ein kirchliches Amt und den Titel eines Kanonikus von Pougy er- 
hielt. Als aber sein Gönner seine schützenden Arme über ihn nicht 
mehr ausbreiten konnte, setzten die Verfolgungen wieder ein, die 
schließlich zu seiner Amtsenthebung führten. Fortan zog sich de l'Épée 
zu Paris in das stille Leben eines Privatgelehrten zurück. 

Ein Zufall sollte seinem Leben später Richtung und Inhalt geben. 
In der Rue des Fosses Saint-Viktor zu Paris wohnten in ihrem väter- 
lichen Hause zwei taubstumme Schwestern. Der Pater Vanin des 
gegenüberliegenden Ordenshauses der »Brüder von der Christlichen 
Lehre« hatte damit begonnen, die beiden stummen Mädchen durch 
Bilder zu unterweisen, ohne jedoch eine bestimmte Methode anzu- 
wenden. Zum großen Leidwesen der schwergeprüften Eltern hatte 
indes der glücklich begonnene Unterricht durch den Tod des mild- 
tätigen Ordensbruders bald ein Ende gefunden. 

Im Jahre 1760 kam de l’Ep6e gelegentlich einmal in das Haus, 
sah die beiden Taubstummen und erfuhr durch die weinende Mutter 
das Elend der Familie. Gerührt durch die Klagen der Frau und das 
Unglück ihrer Kinder, faßte er den Entschluß, sich der armen Wesen 
anzunehmen. Das war für ihn zunächst nichts Leichtes; denn er 
hatte von anderen Unterrichtsversuchen an Taubstummen bisher nichts 
erfahren. So trat er ohne jegliche Vorkenntnisse, aber voll Mut und 
Gottvertrauen an sein neues Liebeswerk heran. Seine reichen Gaben 
wurden ihm nun zu großen Aufgaben. Ohne jeden Einfluß von 
anderer Seite her gelang es ihm durch unermüdliche wissenschaftliche 
Forschungen, einen Weg zu finden, auf dem er dem durch das Ge- 
brechen gefesselten Geiste seiner Pflegebefohlenen beikommen konnte, 
um ihn dann aus seiner Gefangenschaft zu erlösen und zu freier Ent- 
faltung zu bringen. Weil er nicht auf den Vorarbeiten anderer fußen 
konnte, so zeigt das von ihm geschaffene Unterrichtssystem eine so 
scharf ausgeprägte Eigentümlichkeit, daß es in der Geschichte der 
Taubstummenbildung als etwas vollständig Neues auftritt, das von den 
bis dahin angewandten Unterrichtsverfahren vollständig abweicht. Es 
ist nicht uninteressant, dem Forscher auf seinen Gedankengängen zu 
folgen. Wir tun es an der Hand seiner beiden Hauptschriften: 


Reuschert: Charles Michel de l'Épée. 103 


1. Institution des sourds et muets par la voie des signes möthodi- 
ques. 228 Seiten. Paris 1776. Deutsche Übersetzung von Taub- 
stummenlehrer G. Brand in Stade 1910. Selbstverlag. 

2. La véritable manière d’instruire les sourds et muets, 345 Seiten. 
Paris 1784. 

Abbé de l’Épóe weist zunächst darauf hin, daß der Taubgeborene 
auf natürlichem Wege ohne besondere unterrichtliche Einwirkung in 
den Besitz der Gebärdensprache gelangt. Er sagt: »Jeder Taub- 
stumme, den man uns bringt, hat schon eine Sprache, die ihm ge- 
läufig und um so ausdrucksvoller ist, als sie die Sprache der Natur 
ist, die alle Menschen besitzen. In dieser Sprache bringt er es durch 
häufige Anwendung zu einer solchen Fertigkeit, daß er sich mit Personen, 
mit denen er zusammen lebt, ja selbst mit solchen, die nur vorübergehend 
sich ihrer bedienen, bald verständigen kann. Er drückt in dieser 
Sprache seine Bedürfnisse, Wünsche, Neigungen, Besorgnisse, seine 
Freude, seinen Kummer und Schmerz aus und irrt sich nicht, wenn 
andere Personen ihm gegenüber ähnliche Gefühle auf gleiche Weise 
äußern. Er empfängt in ihr Aufträge, führt sie treu aus und legt 
Rechenschaft darüber ab. Es ist die Sprache der Zeichen. 

Man kann ihn deshalb auch unterrichten. Um zum Ziele zu ge- 
langen, handelt es sich bloß darum, ihm die französische Sprache noch 
zu verschaffen. Welches wird die kürzeste und leichteste Methode 
sein? Wird es nicht diejenige sein, welche sich in der Sprache aus- 
drückt, an die er sich gewöhnt hat und in der man ihm auch sagen 
kann, was er zu wissen nötig hat?« 

Nach seiner Meinang konnte es nur darauf ankommen, die natür- 
liche Gebärdensprache, die der kleine Taubstumme von Hause aus 
mitbringt, im Unterrichte nach dem Plane der Landessprache künst- 
lich umzugestalten und auszubauen. »Wenn man seine Sprache 
adoptiert und sie nach einer faßlichen Methode in Regeln zwingt, 
wird man ihn leicht dahin führen können, wohin man will.« 

Im gewöhnlichen Leben erlernt ja der Vollsinnige die Lautsprache 
durch das Hören und Nachahmen des sprachlichen Vorbildes. »Gehör 
und artikulierte Laute sind das Vehikel für die Erwerbung der Kennt- 
nisse, mit denen unser Geist bereichert wird. Nun sind aber die 
Wörter der Lautsprache mit den Begriffen, die sie darstellen, nur 
durch ein willkürliches, konventionelles Band verbunden. Die einzelnen 
Begriffe haben aber nicht mehr Verwandtschaft mit den Lauten wie 
mit den Schriftzeichen; darum kann man im Unterrichte auch die 
Begriffe mit der Schriftform der Sprache verbinden.« 

Wie gestaltete sich nun sein Unterricht? Die Anfänger erlernten 


104 A. Abhandlungen. 





zuerst durch Vor- und Nachschreiben die einzelnen Buchstaben des 
Alphabets. Mit jedem Buchstaben wurde zugleich das handalpha- 
betische Zeichen eingeübt. Dadurch konnten die Schüler die Buch- 
staben mit Hilfe des Fingeralphabets lesen, und sie wurden jum- 
gekehrt auch in den Stand gesetzt, im Fingeralphabet diktierte-Wörter 
niederzuschreiben. Das Handalphabet blieb aber bei ihm auf die 
Einübung der Schriftzeichen beschränkt und diente dann nur noch 
zur Einübung der Rechtschreibung, besonders bei der Einführung von 
Eigennamen. Einen weitergehenden Gebrauch desselben als Unter- 
richts- und Verkehrssprache verwarf er, und hierin stellte er sich in 
` entschiedenen Gegensatz zu Jacob Rodriguez Pereira (1715—1780), 
einen aus Portugal eingewanderten Juden, der in Frankreich gleich- 
falls Taubstumme unterrichtete. Er wendete sich gegen ihn und dessen 
Anhänger (besonders seinen taubstummen Schüler Saboureux de Fontenay) 
mit folgender Argumentation: »Wenn ein Daktylologe mit seinen 
Schülern von der Tappiserie (Tapete) in einem Zimmer sprechen will, 
in dem keine ist, wird er ihnen durch sein Fingeralphabet ein T, a, p, 
usw. diktieren. Die Schüler werden dieses Wort ohne Zweifel 
schreiben und, wenn man will, auch sprechen; sie würden es sogar 
nach einem Diktat auch griechisch oder arabisch wiedergeben; aber 
nie kann man wissen, ob sie auch die Sache verstanden haben, die 
wir uns vorstellten, als wir ihren Namen sprachen oder schrieben, be- 
sonders wenn sie nach dem Schreiben unbeweglich bleiben wie eine 
Hermessäule?« Es liegt auf der Hand, daß das Schreiben nach dem 
Diktat der Daktylologie bei dem schreibenden Taubstummen keine 
anderen Kenntnisse voraussetzt als die 24 Buchstaben des Hand- 
alphabets. Abbé de l’Epse meinte also, daß es sich nur um ein 
mechanisches Nachschreiben handle. Er fährt dann fort: »Wenn ich 
das Zeichen für etwas mache, was man an die Wand legt, was man 
oben, unten und an den Seiten mit Nägeln befestigt, und wenn dann 
mein Taubstummer dieses Wort schreibt, ohne daß ich ihm einen 
einzigen Buchstaben diktiere, kann man da noch zweifeln, daß er mit 
diesem Wort den Sinn verbindet, den wir ihm beilegen?« 

Abb6 de l’Ep6e fertigte nun Karten an, von denen jede den 
Namen eines Körperteiles trug. Bei dem Vorzeigen einer Karte wurde 
auf den entsprechenden Körperteil gezeigt, um die Bedeutungs- 
assoziationen zwischen den Normalwörtern und den durch direkte 
Anschauung gewonnenen Vorstellungen herzustellen. Die Übungen 
wurden solange fortgesetzt, bis die Anfänger nach dem Mischen der 
Karten Wort und Sache zu verbinden wußten, und zwar hatte sich 
der Lehrer seine Arbeit insofern erleichtert, als er nach einem Helfer- 


Reuschert: Charles Michel de l'Épée. 105 








system die jüngeren durch die älteren Schüler in Form von Spielen 
unterweisen ließ, wobei es, wenn sich Fehler einstellten, nicht ohne 
Lachen abging. 

Damit die Wörter auch in allen ihren Teilen richtig erfaßt wurden, 
mußten die Schüler aus einem Setzkasten, in dessen Fächern auf 
Täfelchen die einzelnen Buchstaben geordnet waren, die Vokabeln zu- 
sammenstellen und dann wieder auflösen. 

Die hier geschilderten Übungen waren indes nach seiner Ansicht 
noch nicht ausreichend, die Sprache zum bleibenden Eigentum seiner 
Schüler zu machen; denn er hatte gefunden, daß »alles was schnell 
vorgeht, nicht genug Eindruck macht, um im Gedächtnis zu haften.« 
Wie wir in unserer Kindheit die Wörter unzähligemal gehört haben, 
ehe sie zu einem sichern Besitztum wurden, so sollen die taubstummen 
Schüler sie auf bleibenden Tabellen zunächst immer vor Augen haben. 
Zu diesem Zwecke waren an den Zimmerwänden große Tafeln be- 
festigt, auf denen in drei senkrechten Kolonnen 600 Haupt-, 600 Zeit- 
und 400 Eigenschaftswörter in alphabetischer Reihenfolge angebracht 
waren. Der Rest der Tafel war für die übrigen Wortarten bestimmt. 
In jeder Stunde sollten nun je 12 Vokabeln der beiden ersten Reihen 
und 6 der dritten Reihe durch Gebärdenzeichen erklärt und eingeübt 
werden, so daß der tägliche Gewinn ein Wortschatz von 60 Vokabeln 
sein sollte. Der Stoff der ganzen Wandfläche (1600) müsse danach 
in einem Monate (?) erledigt sein. 

Von Anfang an wurde auch die Konjugation der Zeitwörter ge- 
übt. Für die Wortarten, die Fälle, Ein- und Mehrzahl, die Zeiten, 
die Modusformen, die Personen usw. erhielten die Schüler besondere 
von ihrem Lehrer erfundene Gebärdenzeichen. Dann wurde das so 
gewonnene Sprachmaterial dazu benutzt, nach dem Diktat durch 
methodische Zeichen Sätze niederzuschreiben. Nebenher wurden in 
der oben beschriebenen Weise immer neue Wortmassen dem Ge- 
dächtnis zugeführt. Abbé Sicard, de l’Ep6e’s Lehrgehilfe und späterer 
Nachfolger, schreibt darüber: »Waren die Wörter einmal befestigt, so 
hatten die Taubstummen keine Mühe mehr, für die Zeichen die Wörter 
zu schreiben und für die Wörter die Zeichen zu geben. Ganze Seiten 
der abstraktesten Bücher wurden kopiert. Aber verstanden sie den 
Sinn von dem was sie schrieben ?« 

Das Lesen bestand in einer bloßen grammatischen Wortanalyse. 
In einem Briefe an Samuel Heinicke schildert de l’Epse die Eigenart 
seines Verfahrens folgendermaßen: 

»Wenn Sie unsere Methode gekannt hätten, so hätten Sie nicht 
dem Lehrer von Wien die Frage vorgelegt, ob der Taubstumme, 


106 A. Abhandlungen. 





welcher die geschriebenen Wörter sieht: ‚Bringen Sie dieses Buch‘ 
(apportez ce livre) und weiter: ‚Ich möchte, daß Sie dieses Buch mit- 
brächten‘ (je voudrais que vous apportassiez ce livre) nicht durch diese 
Formveränderung verwirrt und irritiert würde. 

Er wird keineswegs irritiert (und Sie werden mich entschuldigen, 
wenn ich weiter auf die Grammatik eingehe, sehr geehrter Herr): denn 
unser Taubstummer, welcher in der Hand einen Stock zum Zeigen 
hat, wird mit demselben auf die Linie der für diesen Zweck ein- 
gerichteten Tafel zeigen, wo die Gegenwart der Wirklichkeitsform 
»bringen« steht, während er das Wort »mitbrächte« unter der 2. Person 
der Mehrzahl des Imperfekts im Konjunktiv des französischen Zeit- 
wortes »tragen« (porter) angeben wird, welches ein transitives Zeit- 
wort der 1. Konjugation ist; derselbe wird auch hinzufügen, daß es 
in der 2. Person steht, weil man zu jemandem spricht, und in der 
Mehrzahl, weil wir in unserer Sprache als Höflichkeitsform die 2. Person 
der Mehrzahl anwenden (wo die Deutschen die 3. Person der Mehr- 
zahl gebrauchen); ferner wird er angeben, daß es im Imperfektum 
steht, dieweil nach der Gedankenordnung. welche aus dem Zeitworte 
(je voudrais) hervorgeht, die Handlung verrichtet sein sollte, also ver- 
gangen ist, obgleich sie in Wirklichkeit in der Zukunft liegt, nach 
der Voraussetzung des Wollens (ich möchte — ich würde wollen), 
welche ihr vorangeht. Auch wird er angeben, daß es im Konjunktiv 
steht, weil der Satz nicht in direkter Rede ausgedrückt und weil ein 
Zeitpunkt einem andern zugefügt ist. Außerdem wird er angeben, 
daß es transitiv gebraucht ist, weil der Satzgegenstand die Tat aus- 
führt; endlich daß es die 1. Konjugation ist, weil es im Infinitiv auf 
»er« (porter). endigt. Unser Taubstummer wird bestimmt alles das 
ohne Hilfe des Lehrers zeigen (?), und ohne Zweifel werden Sie zu 
der Überzeugung gelangen, daß derselbe die Regeln der Konjugation 
beherrscht. 

Wenn Sie unser Buch gelesen und verstanden hätten, aber es ist 
französisch geschrieben, so würde Ihr Brief an den Lehrer in Wien 
nicht die drei folgenden Behauptungen enthalten, welche der Wahr- 
heit entgegen stehen: 1. das Gehör kann nicht durch das Gesicht er- 
setzt werden; 2. sogar mit Hilfe der Schrift und der methodischen 
Zeichen kann der Geist der Taubstummen keine abstrakten Begriffe 
auffassen; 3. die auf diese Weise angelernten Zeichen und Wörter 
müssen bald vergessen werden.«e (W. Reuschert, Deutscher Taub- 
stummenlehrer-Kalender. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne [Beyer 
& Mann], 1889.) 

Es läßt sich nicht leugnen, daß befähigte Schüler auch nach 


Reuschert: Charles Michel de l'Épée. 107 








dieser Methode Erfreuliches gelernt haben. Wie wäre es sonst mög- 
lich gewesen, daß die wohlhabende, gebildete Welt nach Paris wall- 
fahrtete, um dort in der Taubstummenanstalt die Wunder dieses Unter- 
richtes anzustaunen? Freilich werden viele Schüler vieles nach dem 
Diktat nur mechanisch nachgeschrieben haben, was die Besucher als 
verstandesmäßig aufgenommen ansahen. Das läßt sich auch aus Sicards 
obigen Worten schließen, der doch gewiß ein kompetenter Zeuge war. 
I:sımerhin muß aber auch heute noch jeder unbefangene Beurteiler 
anerkennen, daß de l’Épée nach bestem Wissen und Gewissen treu 
gearbeitet hat, und daß seiner Arbeit auch die Früchte nicht gefehlt 
haben. Am Ausgangspunkt einer Entwicklung stehend, hat er für 
den Anfang immerhin genug getan. In der Folgezeit ist die Taub- 
stummenbildung in ihrer äußeren und inneren Ausgestaltung natürlich 
weiter geschritten und de l'Épée ist von anderen des Faches als 
Methodiker und Lehrer überholt worden. Als Mensch und Erzieher 
ist er aber bis auf den heutigen Tag noch nicht übertroffen worden, 
und er kann allen, die auf dem Gebiete werktätiger Nächstenliebe 
beschäftigt sind, noch heute als leuchtendes Vorbild vor Augen ge- 
stellt werden. Zwar läßt sich gar nicht bestreiten, daß jetzt nach 
dieser Seite hin ungeheuer viel geschieht und daß auch die meisten 
von denen, die in heilpädagogischen Anstalten lehrend und erziehend 
tätig sind, mit Einsicht, Hingebung und Treue ihres Amtes walten; 
aber meist steht doch ihrer wenn auch mühseligen und aufreibenden 
Arbeit als Gegenleistung die Gewährung eines Gehaltes oder sonst 
einer Versorgung gegenüber. Viele würden wohl, wenn sie im Reich- 
tum geboren wären, nicht zu diesem Berufe übergegangen sein; denn 
die Abnormenlehrer rekrutieren sich bekanntlich nicht aus den Reihen 
der Millionärsöhne. Andrerseits werden große Summen von Wohltätern 
geopfert, aber meist doch nur aus ihrem Überflusse heraus. Die 
reichen Leute, die ihr gesamtes Vermögen hingeben und dann auch 
noch ihr ganzes Leben opfern und tagaus, tagein bis zum Tode sich 
einem so mühevollen Berufe hingeben, wird man wohl mit der Laterne 
suchen können. Abbé de l’Ep6e tat beides. Er opferte in seiner 
1770 gegründeten Taubstummenanstalt seinen Zöglingen seine ganze 
Habe und gab zugleich sein Herzblut für sie bin, und zwar mit 
Freuden. Dadurch ist er zu einem der größten Philanthropen aller 
Länder und Zeiten geworden. In seiner Fürsorge seinen Pflege- 
befohlenen gegenüber kannte er keine Grenzen. Selbst Hunger und 
Frost schreckten ihn nicht ab. Das zeigt uns auch die kleine Ge- 
schichte, die der Dichter Bouilly erzählt, die er von Augen- und 
Ohrenzeugen erfahren hat. Der Abte hatte ungefähr 14000 Fr. jähr- 


108 


A. Abhandlungen. 





licher Einkünfte; er unterhielt sein Institut fast ganz auf eigene 
Kosten, und deshalb erlaubte er sich für seine eigene Person nie, 
mehr als 2000 Fr. zu verzehren. Alles Übrige betrachtete er als 
Erbteil seiner Zöglinge Während des strengen Winters von 1788, 
als er schon sehr alt und kränklich war, versagte er sich einige Zeit 
das Holz. Seine Haushälterin wurde es gewahr; an der Spitze von 
40 Taubstummen, die alle in Tränen schwammen und ihn durch 
Zeichen baten, sich für sie zu erhalten, zwang sie ihn, seinen jähr- 
lichen Aufwand für sich selbst um 300 Fr. zu überschreiten. Der 
würdige Greis konnte sich nachher darüber nie zufrieden geben, und 
oft, wenn er mit den Unglücklichen spielte, die er seine Kinder 
nannte, sagte er: »Ich habe euch um 300 Fr. gebracht.« 

So schenkte sich der fromme Priester äußerlich arm und wurde 
innerlich dadurch um so reicher. Dieses Leben im Dienste der leiden- 
den Menschheit, das nur noch Genüge fand, sich seinen unglücklichen 
Mitmenschen nützlich zu erweisen, läuterte seinen Charakter dermaßen, 
daß sich so leicht niemand dem bezaubernden Einflusse seiner Per- 
sönlichkeit entziehen konnte. Als Kaiser Joseph II. nach einem Be- 
suche des Pariser Taubstummeninstituts im Begriffe war, dieses zu 
verlassen, und der Direktor ihn bis zur Tür begleiten wollte, sagte er, 
noch ganz unter dem Eindrucke des soeben Wahrgenommenen stehend, 
die denkwürdigen Worte: »Herr Abbé, Ihre Zeit ist zu kostbar, um 
sie an eitlen Zeremonieen zu verlieren. Sie sind Gott Rechenschaft 
darüber schuldig.« (Kaiser Josephs II. unvergeßliche Gedanken, Aus- 
sprüche und Bestrebungen v. Leistener.) Eine ihm daraufhin an- 
gebotene einträgliche Prälatur in Österreich schlug Abbé de l'Épée 
aus, erbot sich aber, zur Einführung der Taubstummenbildung in den 
Habsburger Landen zwei ihm überwiesene Lehrer in seiner Kunst zu 
unterrichten. Weltpriester Stork und May waren die beiden Aus- 
erwählten, die dann nach ihrem Lehrkursus 1779 die Taubstummen- 
anstalt zu Wien begründeten. Ebenso entsandte auch der Kurfürst 
von Mainz, Freiherr von Erthal, einen jungen Geistlichen nach Paris, 
damit dieser die Unterrichtsmethode de l'Épée’s dort kennen lernen 
und dann in seine Heimat verpflanzen sollte. Im Jahre 1780 be- 
suchte der russische Gesandte de l'Épée, wünschte ihm im Namen 
seiner Monarchin Glück und bot ihm ein ansehnliches Geldgeschenk 
an: »,Mein Herr‘, sagte der Abbé, ich emfange keine Geldgeschenke. 
Sagen Sie Ihrer Majestät, daß, wenn meine Bemühungen Anspruch 
auf ihre Achtung machen dürfen, sie mir es dadurch beweisen kann, 
daß sie mir einen Taubstummen zuschickt.« Zu den Besuchern des 
Pariser Instituts gehörte auch der Hohenzollernprinz Heinrich, der 


Braunshausen und Ensch: Psychologische Profile. 109 


Bruder des großen Friedrich von Preußen. Er hatte fortan ein so 
reges Interesse an der Sache, daß er sich mehrfach bemühte, den 
Methodenstreit zwischen de l’Epse und Samuel Heinicke zu schlichten. 
Daß unter den obwaltenden Umständen ganz Frankreich auf seinen 
großen Sohn stolz war, kann man sich denken, allen voran der König 
und die Königin, die ihm öfters ihre Sympathien zu erkennen gaben. 
Ein großes Bild von Gonzague Privat im großen Studiensaale des 
Instituts erinnert noch an einen Besuch des Königs Louis XVL, der 
Königin Marie-Antoinette und der Hofgesellschaft. 

Abbé de l’Epse starb 1789, beweint und beklagt von seinen un- 
tröstlichen Schülern. Seine Gebeine haben in der prachtvollen Kirche 
St. Roche eine Ruhestätte gefunden. Die Kirche hat nämlich de l'Épée 
später wieder für sich reklamiert. Übrigens hatte der Abbé nach der 
Begründung seiner Anstalt auch die priesterlichen Funktionen für die 
Insassen derselben mit stillschweigender Genehmigung des Erzbischofs, 
bei dem er allerdings nie eine gute Nummer hatte, wieder aufgenommen. 


- 


3. Psychologische Profile. 
Eine Untersuchung nach der Methode Rossolimos 
von 
Dr. N. Braunshausen u. A. Ensch (Luxemburg). 


In der von R. Sommer herausgegebenen »Klinik für psychische 
und nervöse Krankheiten« hat Dr. Rossolimo (Moskau) eine Methode 
zur quantitativen Untersuchung psychischer Vorgänge beschrieben, die 
er die Methode der psychologischen Profile nennt, und die bei der 
steigenden Bedeutung des Problems der Intelligenzprüfung einer er- 
wartungsvollen Aufnahme von vornherein sicher sein kann. 

Die Methode des russischen Privatdozenten unterscheidet sich 
von den fast allerorts anerkannten Binetschen Tests dadurch, daß sie 
zunächst für alle Altersstufen eine und dieselbe Art von Prüfungen 
aufweist. Rossolimo behauptet in seinem erwähnten Aufsatz, daß er sie 
gleicherweise bei Erwachsenen wie bei Kindern verschiedenen Alters, bei 
Normalen wie bei Anormalen, mit Erfolg zur Anwendung gebracht habe. 

Ein weiteres Kennzeichen der Rossolimoschen Methode liegt in 
dem Bestreben, möglichst alle psychischen Fähigkeiten der Versuchs- 
person, auf Grund einer systematischen Zusammenstellung zu prüfen. 
Aufmerksamkeit, Wille, Gedächtnis, Merkfähigkeit, Einbildungskraft, 
Findigkeit, werden mit geeigneten Tests untersucht, so daß als Resultat 
wirklich eine Art Durchschnitt durch das geistige Leben der Versuchs- 
person, eine Art Profil derselben, zustande kommt. 


110 A. Abhandlungen. 


Ein Vorzug der Methode liegt in der großen Zahl der Experi- 
mente (10) für jede einzelne Fähigkeit, da auf diese Weise Zufälliges 
am sichersten ausgeschieden wird. Auch die Art der Berechnung 
gewährt praktische Vorteile, wenngleich die einfache Beurteilung nach 
richtig und falsch nicht allen Fällen gerecht wird. 

Endlich sind die Experimente so gewählt, daß sie das Schulwissen 
fast ganz ausschließen, so daß sie das, was Binet in jahrelangem Er- 
proben gesucht hat, reiner bieten als es Binet selbst gefunden hat. 

Freilich stehen diesen Vorzügen auch Nachteile gegenüber, aber 
das Ganze erscheint in seinen Hauptzügen so richtig ersonnen, und 
die von Rossolimo erzielten Resultate wirken so günstig, daß ein Ver- 
such mit seiner Methode wohl gerechtfertigt erscheint. 

Wir haben sie bei drei Zöglingen der staatlichen Erziehungs- 
anstalt in Luxemburg angewandt und möchten im folgenden über die 
dabei gewonnenen Resultate sowie über die gemachten Beobachtungen 
berichten. 

Als Ziel unsrer Untersuchung schwebte uns in erster Linie die 
Beantwortung der Frage vor, ob es möglich sei, mit der erwähnten 
Methode die Zöglinge gleich bei ihrem Eintritt in die Anstalt so zu 
prüfen, daß die Erzieher von vornherein einen richtigen Überblick 
über die psychischen Fähigkeiten und Eigenschaften derselben haben 
könnten. Es ist klar, daß eine solche Kenntnis die Grundlage für die 
Behandlung des einzelnen werden muß, und daß sie manche Fehlgriffe 
von vornherein verhindern kann. 

Die genannte Anstalt nimmt Zöglinge verschiedenen Alters auf, 
die ihr wegen Vergehen von den Gerichten zugewiesen oder wegen 
Landstreicherei von der Polizei zugeführt werden. Die Methode von 
Rossolimo, die keine Rücksicht auf Altersstufen nimmt, schien darum 
besser geeignet, hier zur Anwendung zu kommen und etwaige Minder- 
wertigkeiten des Erkennens oder des Wollens aufzudecken. 

Als Prüfungsmaterial gebrauchten wir dasjenige von Rossolimo, 
das teils bei Zimmermann erworben, teils nach den Angaben des 
Urhebers der Methode angefertigt wurde. Von den Zöglingen der An- 
stalt ließen wir uns drei zu unsern Versuchen vorführen, die nach 
dem Zeugnis der Lehrer als wenig, mittelmäßig und gut begabt galten, 
ohne daß wir selbst aber die Beziehung dieser Urteile auf die ein- 
zelnen kannten. 

Wir lassen nun die gewonnenen Profile folgen, indem wir zu- 
nächst jedes für sich allein, in dem Verhältnis seiner Einzelteile 
unter sich, betrachten. 

Das erste Profil betrifft den Zögling R. J., 11 Jahre und 3 Monate 
alt. Es zeigt folgenden Verlauf der Kurve: 


R. J. 








Konzen- 
tration 


Umfang 


"umy T 


Braunshausen und Ensch: Psychologische Profile. 


Psychologisches Profil nach Rossolimo. 


111 





O 1 2a ran 
mit Auswahl ....... 
bei Ablenkung ...... 





| rom "I OA TI] 


für 
optische 
Wahrn. 
4 
© für Ele- 
S mente 
= |der Rede 
D 
E 
E3 


AREA 







fähigkeit 


OBOROT ZOSS Y 












binations- 


gegenüber Automat. ... 
gegenüber Suggestion . . 





Meth. d. Wiedererk. . . . 
Meth. d. Beurteilung 
Reproduktionsmeth. 

für Farben ........ 





lin. Figuren (Wiedererk.) 
farb. Figuren en 
Bilder z 
Bilder (Reproduktion) . . 
Gegenstände ....... 








Boahet; ARs sa a aea a 
Silb. opt. (Wiedererk.). . 
Silb. ak. (Wiedererk.) . . 
Worte ODE. aus 








Zahlen-Ziffern opt... . . 
Zahlen: ak! 3.4.4.0 0% 
Zahl der Bilder ats 
Zahl der Zeichen ah: 
Zahl der Gegenstände . . 








Bilder (gewöhnl).... . - 
Bilder (widersinnig) . . . 





BRGOr Sai 0. 
Inhaltslose Fig.. ..... 
Einfache Teile ...... 








NIE Bimdigkeit - i - 2-0: : 3 


VIII. Einbildungskraft ........ 











IX. Beobachtungsfähigkeit. . .... 





























112 A. Abhandlungen. 





Auffällig ist hier zunächst der tiefe Stand der Aufmerksamkeits- 
kurve. Über 3 richtige Lösungen gelangt die Versuchsperson sogar 
bei den einfachsten Figuren nicht hinaus. Eine gleichzeitige Kon- 
zentration der Aufmerksamkeit auf zwei sogar sehr einfache Eindrücke 
oder Tätigkeiten ist ihr überhaupt nicht möglich. 

Daher nimmt es uns auch nicht wunder, wenn sie gegen Automa- 
tismus und Suggestion fast wehrlos ist, denn in allen diesen Fällen 
spielt der Wille eine erste Rolle. Wir haben es also jedenfalls mit 
einem willensschwachen Subjekte zu tun. 

Dagegen scheint die Versuchsperson ein scharfes Auge für un- 
mittelbar aufgenommene, konkrete Eindrücke zu haben. Die Genauig- 
keit in der Auffassung linearer Figuren ist, bei der Methode des 
Wiedererkennens, sehr groß. Dasselbe gilt für die Kombination von 
farbigen Bildern und inhaltlosen Figuren, die sehr eindrucksvoll auf 
das Auge wirken. Sogar ein gewisser Scharfsinn zeigt sich, wenn 
konkrete Eindrücke, wie bei den Prüfungen für Einbildungskraft, er- 
gänzt werden sollen oder, wie bei der Findigkeit, eine manuelle 
Fertigkeit mit ins Spiel kommt. 

Daneben zeigt die Gedächtniskurve wieder einen unglaublichen 
Tiefstand. Sie erhebt sich nur einigermaßen, wenn es sich um das 
Behalten von anschaulichen Bildern oder Zahlen von Bildern und 
Gegenständen handelt. Die optische Darbietung der Elemente der 
Rede konnte nur für Buchstaben und Ziffern angewandt werden, 
da die Versuchsperson des Lesens und Schreibens nur in geringem 
Maße kundig ist. 

Jedesmal aber, wenn es sich um eine abstraktere Tätigkeit handelt 
oder um die Kombination von komplexeren psychischen Elementen, 
versagt die Versuchsperson völlig. 

Schon bei der Zeitfeststellung für die kürzeste Wahrnehmungs- 
dauer zeigte sich übrigens, daß sie erst bei einer Öffnung des Tachisto- 
skops (wir benutzten ein einfaches Falltachistoskop von Zimmermann), 
die ca. 60 Tausendstel Sekunden entspricht, die dargebotenen Figuren 
aufzufassen imstande war. 

Also schwaches Gedächtnis und schwacher Wille bei einigermaßen 
entwickelter Fähigkeit, konkrete Eindrücke unmittelbar zu erfassen 
und zu verwerten, so stellt sich das psychische Bild unsres Zög- 
lings dar. 

Ein zweites Profil betrifft den 141/4 Jahre alten L. P. Hier die 
erhaltene Kurve: 


Braunshausen und Ensch: Psychologische Profile. 








Psychologisches Profil nach Rossolimo. 













Konzen- 
tration 


"wznv 


Umfang 





einfach =. 0.40% % 


113 























F gegenüber Automat. ... 
z gegenüber Suggestion . . 
F 

z Meth. d. Wiedererk. . . . 
> Ge- Meth. d. Beurteilung .. 

Z | nauigkeit | Reproduktionsineth. 
= für Farben ........ 
lin. Figuren (Wiedererk.) 

für farb. Figuren si 

optische | Bilder 2 
Wahrn. | Bilder (Reproduktion) . . 


Gegenstände ....... 











Buchst. ‚opt. run 4-0. s 
Buchst: als...‘ 4 22. oc 








= Silb. opt. (Wiedererk.). . 
a für Ele- Silb. ak. (Wiedererk.) . . 
© AED N n A OT 
G mente Worte ak 
= [der Rede, Worte ak... ....... 
E Worte opt. (assoz.). ... 
s Worte ak. (assoz.) .... 
z Bätze opt. =... =. ce 
BALSO AE o or rie 
Zahlen-Ziffern opt... .. 
für Zahlen ak. ........ 
Zahlen Zahl der Bilder ..... 







Zahl der Zeichen ze: 
Zahl der Gegenstände .. 




















Bilder (gewöhnl.). ... . 
Bilder (widersinnig) . . . 









binations- 
fähigkeit 





Bilder rs un iR 
Inhaltslose Fig... .. . - 
Einfache Teile ...... 








VIL Eindigkeit: a 43.005025. 4% 





OS8IZOT J-ZONSV ` X FA 





VIII. Einbildungskraft ........ 














IX. Beobachtungsfähigkeit.. . . - . 
Zeitschrift für Kinderforschung. 





18, Jahrgang. 














114 A. Abhandlungen. 





Die Kurve der Aufmerksamkeit, die bei leichteren Prüfungen 
ziemlich hoch ist, sinkt und sinkt, je mehr Hindernisse für die Kon- 
zentration, durch Auswahl und Ablenkung, dazwischen treten. Auch 
der Widerstand gegen Automatismus und Suggestion ist gering. 

Mit der Methode des Wiedererkennens läßt sich eine ziemlich 
große Genauigkeit in der Auffassung von Figuren nachweisen. Sobald 
aber die Aufgabe schwieriger wird, wie bei der Beurteilungs- und 
Reproduktionsmethode, fällt die Kurve steil ab. Das Gedächtnis für 
Figuren und Bilder, wofern es sich nicht um Reproduktion handelt, 
ebenso wie das Behalten einer Anzahl von Gegenständen oder Zeichen 
ist eher gut zu nennen. Sobald aber Elemente der Rede behalten 
werden sollen, sinkt das unmittelbare Gedächtnis auffallend tief, 
einerlei ob es sich um sinnvolle oder sinnlose Eindrücke handelt. 

Die sogenannten Assoziationsprozesse zeigen ein günstiges Bild. 
Nur die Deutung widersinniger Bilder und das Hervorheben oder 
Verstehen einzelner Merkmale durch die Beobachtungsfähigkeit lassen 
erkennen, daß es sich nicht um eine reine Erhöhung der eigentlichen 
Abstraktionsprozesse handelt. Das Zusammensetzen von Bildern und 
Figuren ebenso wie die Prüfungen für Findigkeit, durch welche der 
Hochstand der Kurve in diesem Teil bedingt ist, sind ja stark an 
äußerliche Anschaulichkeit geknüpft. 

Die Wahrnehmungsdauer beim tachistoskopischen Sehen betrug 
ca. 15 Tausendstel Sekunden. 

Als Gesamtbild ergibt sich also eine Herabsetzung der Willens- 
stärke, eine gewisse Fähigkeit im Auffassen und Kombinieren von 
äußeren Eindrücken, zugleich genügendes Behalten dieser letzteren, 
nicht aber der mehr komplexen oder abstrakten Elemente der Sprache. 

Ein drittes Profil bezieht sich auf den 14!/,jährigen M. J. 

(Siehe 3. Profil, S. 115.) 

Wenn wir mit einem Blick den Verlauf der Kurve überfliegen, 
so fällt gleich auf, daß die Gedächtnis- und Assoziationsprozesse sich 
auf einer ziemlichen Höhe halten, während die Genauigkeit der Merk- 
fähigkeit und die Willensmomente sich wenig über das Minimum 
erheben. 

Wir haben es also hier jedenfalls mit einer besser organisierten 
Intelligenz zu tun, wenn auch die einzelnen Seiten nicht ganz gleich- 
mäßig sind und besonders das Willensleben Defekte aufzuweisen scheint. 

Die Verhältnisse der drei Profile zueinander werden deutlicher, 
wenn wir für jedes die Zurückführung auf 11 Hauptgruppen vor- 
nehmen. So verschwinden manche Unregelmäßigkeiten; die Kurven 
werden übersichtlicher und der Vergleich zwischen ihnen leichter. 


Braunshausen und Ensch: Psychologische Profile. 115 


M. J. Psychologisches Profil nach Rossolimo. 








gegenüber Automat. ... 
gegenüber Suggestion . . 







Meth. d. Wiedererk. . . . 
Meth. d. Beurteilung 

Reproduktionsmeth. ; 
für Farben ........ 















PROW ‘OT (OTLA "II 





lin. Figuren (Wiedererk.) 
farb. Figuren Pr 
optische | Bilder = 
Wahrn. | Bilder (Reproduktion) . . 
Gegenstände ....... 













Silb. opt. (Wiedererk.). . 
für Ele- Silb. ak. (Wiedererk.) . . 









tuFgonpoH 


Zahlen-Ziffern opt. ... 
à ni r RR E 

Zahl der Bilder ..... 
Zahlen | Zahl der Zeichen ... 
Zahl der Gegenstände . . 























Bilder (gewöhnl). .... 
Bilder (widersinnig) . . . 
















binations-| Inhaltslose Teile ..... 
igkeit | Einfache Teile ...... 












ossozorq-'zossy ‘KI—'A 




















116 A. Abhandlungen. 





Die folgende Figur zeigt die so reduzierten Profile nebeneinander. 
(Siehe Profile S. 117.) 

Hier wird die Übereinanderlagerung der drei Kurven ganz augen- 
scheinlich. Mit seltenen Abweichungen liegt die Kurve von R. am 
tiefsten, dann folgt die von L. und über beiden die von M. Allen 
dreien aber ist eine Senkung in der Gegend der Aufmerksamkeits- 
wie der Willensprozesse gemeinsam, was auf psychische Anomalie 
schließen läßt. Auch die charakteristischsten der Kombinationsprozesse, 
die sich gerade auf das beziehen, was man gemeiniglich Intelligenz 
nennt, bleiben stark im Rückstand. 

Das Bild wird noch klarer, wenn wir die Mittelwerte für die 
drei Hauptgruppen der Prozesse, Wille, Gedächtnis, Kombination, be- 
rechnen und graphisch nebeneinander stellen. Die Lage ist dann 
folgende: 





Aufmerksamkeit und Wille 


| 

| 

| 

Merkfähigkeit und Gedächtnis . . . . | 
| 





Kombinationsprozesse . . 2 2.20... | 














Ziehen wir nun nach der Anweisung von Rossolimo die letzten, 
zusammenfassenden Formeln aus den Profilen heraus, so erhalten wir 
folgende Zahlen: 

Für R. ist P. 42 = 18 + 41 + 5,3 + 31,7%; 
Für L. ist P. 53= 42 + 47 + 6,6 + 38,1%; 
Für M. ist P. 66 = 42 + 6,1 + 6,6 + 22,5°%,- 


Nach Rossolimo zeugt eine Durchschnittshöhe des Profils von 
1 bis 4 von Stumpfsinn oder Imbezillität verschiedenen Grades, die 
jedoch die Möglichkeit spezieller pädagogischer Beeinflussung nicht 
ausschließt. Dieser Gruppe gehört unsre Versuchsperson R. an, deren 
Profil allerdings den höchsten Graden der Gruppe angehört, so daß 
wir ihn nach unsrer Untersuchung als einen Imbezillen bezeichnen 
dürften, der aber pädagogischer Beeinflussung nicht unzugänglich ist. 

















a WE 














Da, ee EEE 





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RENNER: 


























1 j 
[i . [i 

1 Nn I e a > i N ‘a Dre are . u‘ i 

a ES E A E EE E E ae E N EE E EI EN ae NE EE 
» N ar TA S . I T I S let A . j . 1 j 


46 
5 


Braunshausen und Ensch: Psychologische Profile. 





Profil nach Rossolimo. 


Aufmerksamkeit . |... | 





ar Dre 


Merkfähigkeit. ....... 


nmehmungen ....... 


Gedächtnis für opt. Wahr- 











Gedächtnis für Zahlen” 


Auffassung ........ 


Kombination .... 





Findigkeit . ........ 


Einbildung .. 





Beobachtung ......... 


e 


118 A. Abhandlungen. 





In die Gruppen 4 bis 6 reiht Rossolimo die intellektuell Debilen 
ein, zu welchen demnach unsre Versuchspersonen L. und M., aller- 
dings in verschiedenem Grade, zu rechnen wären. M. nähert sich 
schon mehr dem Normalen. 

Wird noch das Verhältnis der drei Prozeßgruppen eines Profils 
hinzugenommen, so ergibt sich, daß keine unsrer Versuchsperson dem 
ganz normalen Typus entspricht, da Rossolimo für diesen eine Stetig- 
keit der Kurve verlangt, die höchstens um einen Grad von Stufe zu 
Stufe steigt. Auch soll die Vergeßlichkeit bei Normalen 20°/, nicht 
übersteigen, während sie in unserm günstigsten Fall 22,5°, beträgt. 

Unsre Untersuchung führte uns also zu dem Schluß, daß die 
drei Zöglinge nicht als geistig vollwertig zu betrachten sind, daß be- 
sonders Defekte der Willensprozesse ihre Minderwertigkeit bedingen, 
und daß in ihrer gesamten psychischen Veranlagung R. von L. über- 
troffen wird und dieser wieder von M. 

Sehen wir nun, wie dieses Resultat zu der Wirklichkeit stimmt. 
Die nachträglich gelieferten Auskünfte der Anstalt ergeben folgendes 
Bild. 

R. ist wegen Landstreicherei im Erziehungshaus untergebracht 
worden. Einem Zeugnis über Anstaltsführung entnehmen wir: »Mit R. 
wurden seit seiner Internierung die verschiedensten Versuche an- 
gestellt, in der Schule, im Turnunterricht, bei der Hausarbeit, um ihm 
irgendwelche nützlichen Kenntnisse zu vermitteln oder ihn zu prak- 
tischer Arbeit anzuleiten. Doch waren alle Anstrengungen erfolglos. 
Nur selten beteiligt sich R. am gemeinsamen Spiele seiner Mitschüler. 
Kurz er ist ein schwachsinniger Mensch. Wohl aber versteht er es, 
mit den Zöglingen liederliche Reden zu führen. Er erzählt ihnen, 
wie er auf seiner Wanderschaft bettelnd und stehlend das Land durch- 
streifte. Etliche Male von einem Zögling befragt, welches Handwerk 
er erlernen werde, gab er zur Antwort: Ich lerne Nichtsmacher.« 

L. ist seit vier Jahren wegen Diebstahls in der Erziehungsanstalt 
untergebracht. Der Bericht über seine Aufführung betont vor allem 
seine Widerspenstigkeit. »Er ist trotz aller Mühe und Sorgfalt, die 
auf ihn verwendet wurden, nicht an die Hausordnung zu gewöhnen. 

. Wird er mit einer Strafe bedroht oder tatsächlich bestraft, so 
erfolgt absolut keine Besserung, er wird noch halsstarriger.« 

M. wurde ebenfalls wegen Diebstahls vor 6 Monaten der Anstalt 
zugeführt. Er wird als geweckter und aufgeklärter Junge geschildert, 
der immer mit den größeren Zöglingen verkehrt, »da die kleinen ihm 
zu dumm scheinen«. Die ihm zugewiesene Arbeit versteht er sogleich 
und verrichtet sie fleißig. Er erweckt den Eindruck, daß, »wenn er 


Braunshausen und Ensch: Psychologische Profile. 119 


wirklich so brav ist wie er seinen Vorgesetzten vorplaudert, er mit 
der Zeit ein rechtschaffener Mensch werden wird«. 

Wie eısichtlich, hatten unsre Schlußfolgerungen in den Haupt- 
zügen das Wirkliche getroffen. Und wenn wir die Zöglinge bei ihrem 
Eintritt in die Anstalt zu beurteilen und zu klassieren gehabt hätten, 
so wäre unser Urteil für die praktischen Zwecke der Hausordnung 
wertvoll gewesen. 

Wir müssen demnach die Methode von Rossolimo als sehr brauch- 
bar für den Zweck bezeichnen, den wir bei ihrer Anwendung ver- 
folgten. Sie eignet sich vortrefflich, um eine psychische Prodiagnose 
zu stellen. Davon überzeugt man sich noch bei der Untersuchung 
selbst, da die Beobachtung der Versuchsperson bei den Prüfungen 
eine Fülle interessanter Einzelheiten in ihrem Verhalten offenbart, die 
in den Zahlen der Profile keinen Ausdruck finden, die aber doch den 
Gesamteindruck des Versuchsleiters bestimmen. 

Wenn wir also glauben, die Methode der psychologischen Profile 
empfehlen zu können, wenn wir vielfach den Scharfsinn bewundern, 
mit dem Rossolimo seine Prüfungen ersonnen hat, um die eigentliche 
Begabung und nicht das Schulwissen zu prüfen, wenn wir seine Idee 
im ganzen vortrefflich finden, so sind uns doch bei der Untersuchung 
einzelne Mängel aufgestoßen. 

Zunächst ist die zur Prüfung erforderliche Zeit zu lang. Wenn 
Rossolimo 3!/, Stunden angibt, allerdings bei maximalem Tempo der 
Geschwindigkeit, so ist in der Praxis sogar diese schon hohe Zahl 
noch zu niedrig gegriffen. Zudem ist bei einzelnen Prüfungen die 
Zahl der Experimente unnötigerweise auf 10 ausgedehnt, so daß sich 
leicht hier eine Beschränkung einführen ließe. Bei den Gedächtnis- 
prüfungen wird das sogar notwendig sein, da 10 Eindrücke sogar von 
normalen Erwachsenen in der Regel nicht behalten werden und ein 
Hinausgehen über die normale Zahl des Behaltens das Resultat über- 
mäßig herabdrückt, wie schon die ersten Gedächtnisexperimente von 
Binet und Henri nachgewiesen haben. 

Dann sind verschiedene Prüfungen, wenigstens für unsre Ver- 
hältnisse, zu leicht oder nicht geeignet, so daß einzelne von ihnen 
geändert oder weggelassen werden könnten. 

Ferner sind die @edächtnisexperimente über Gebühr und Not- 
wendigkeit zahlreich. Wir betrachten die optische und die akustische 
Darbietung der Elemente der Rede als überflüssig, zumal schon eine 
eigne Rubrik für die optischen Eindrücke als solche besteht. Nun 
bietet zwar die Verschiedenheit der Darbietung für die Elemente der 
Rede auch Unterschiede in ihrer Auffassung, aber es ist bekannt, daß 


120 A. Abhandlungen. 





etwa der visuelle Typus, dem man Silben akustisch darbietet, sie 
direkt in visuelle Bilder umsetzt, so daß er doch nach seinem eignen 
Typus behält. Demnach will es uns scheinen, daß man sich mit einer 
akustischen Darbietung der Elemente der Rede begnügen könne, da es 
ja nicht auf eine Aufsuchung des Vorstellungstypus ankommt und da 
die Methode so zugleich besser auch für die Fälle paßt, wo etwa 
Lesen und Schreiben nicht oder nur mangelhaft eingeübt sind. 

Wir halten es auch für überflüssig, eine eigne Rubrik für Zahlen 
anzusetzen, da die konkrete Zahlendarbietung zu leicht scheint und 
die Zahlgebilde als solche wohl mit den Elementen der Rede geprüft 
werden können. 

Endlich sind unter den Prüfungen über Kombinationsfähigkeit 
manche, die ihrem Zweck nicht entsprechen, während andere, die etwa 
die eigentliche Abstraktionsfähigkeit untersuchen könnten, vollständig 
fehlen. Hier müßten Ergänzungen eintreten, die einen lückenloseren 
Überblick über die psychischen Dispositionen, von den geringsten bis 
zu den höchsten, ermöglichen würden. 

Von diesen Erwägungen aus haben wir eine Kürzung und teil- 
weise Ergänzung des Rossolimoschen Verfahrens vorgenommen, die 
uns geeignet scheint, in Erziehungs- und ähnlichen Anstalten praktisch 
angewandt zu werden, ohne sonderlichen Zeitverlust, ohne spezielle 
Apparate und doch ohne die relative Sicherheit der Ergebnisse zu 
gefährden. 

Für jede einzelne Prüfung werden nur fünf Experimente ver- 
wendet, so daß schon von vornherein die Hälfte der Zeit gewonnen 
wird. Dabei werden aber für jede einzelne Fähigkeit zwei zusammen- 
gehörige Serien von Experimenten aufgestellt, so daß die Berechnung 
doch auf Grundlage einer zehnstufigen Skala erfolgen kann. 

Durch Ausscheidung der Rubrik für Zahlengedächtnis erhalten 
wir zehn Hauptgruppen von Fähigkeiten, für welche das Profil auf- 
gestellt wird. 

An Stelle der Beobachtungsfähigkeit, deren einzelne Prüfungen 
uns eher unter die Bezeichnung Findigkeit zu gehören scheinen, setzen 
wir die Prüfung der Abstraktionsfähigkeit und zwar durch 5 sog- 
Generalisationsfragen — etwa: Was sind Hund, Katze, Pferd usw. 
zusammen? — und 5 Erzählungen für Generalisation nach dem 
Muster, das Ziehen in seiner »Intelligenzprüfung« bietet. 

So würde sich folgendes Schema ergeben, in dem paarweise Serien 
von 5 Prüfungen unter jede Hauptrubrik fallen: 

una f 1. Konzentration — bei Auswahl. 
I. Aufmerksamkeit \2 U miana 


VI. 


VIL 


VIL 


X. 


. Wille í 


. Einbildungskraft í 


Braunshausen und Ensch: Psychologische Profile. 121 


1. Automatismus. 
2. Suggestion. 


1. 5 Figuren nach der Methode des Wieder- 


. Merkfähigkeit erkennens. 


2. 5 Figuren nach der Methode des Beurteilens. 


5 lineare Figuren — Wiedererkennen. 
. Gedächtnis für optische | 5 farbige Figuren — id. 
Wahrnehmungen 5 Bilder — id. 

5 Gegenstände —- Reproduktion. 

5 Ziffern — id. 
. Gedächtnis für akustische | 5 Silben — id. 
Eindrücke 5 Wörter — id. 
5 Sätze - id. 


1. 5 Serien von Bildern, die eine Ge- 
Deutende Auffassung schichte ergeben. 
2. 5 Bilder mit widersinnigem Inhalt. 


1. Kombinieren von Figuren aus Qua- 
draten und Dreiecken. 


nn a 2. Inhaltslose Figuren aus ihren Teilen 
zusammenzusetzen. 
1. Mit Bildern — den Bildern für Beobachtungs- 
Findigkeit fähigkeit nach Rossolimo entnommen. 


2. Mechanische Fertigkeit. 

1. Ergänzen nach Figuren. 

2. Ergänzen nach Sätzen. 
inathierasg J 1 Generalisationsfragen. 

REN í 2. Erzählungen für Generalisation. 


Wir behalten uns vor, nach diesem abgekürzten Verfahren weitere 


Versuche anzustellen. Es scheint uns aber nicht unangebracht, daß 


auch 


andere Forscher die Rossolimosche Methode erproben, bezw. die 


von uns vorgeschlagene Änderung derselben, da der Kern der Methode 


nach 


statt 


unsern Erfahrungen sich als sehr beachtenswert erwiesen hat. 


Berichtigung: In der Tabelle auf S. 117 ist unter der Rubrik »Auffassunge 
5,5 zu lesen 7,5. 


122 A. Abhandlungen. 





4. Psychische Fehlleistungen. 
Von 


R. Egenberger, München. 


Man steht vor psychischen Fehlleistungen, wenn psychische Vor- 
gänge in ihrem Eintreten oder in ihrem Flusse gehemmt oder gestört 
sind, so daß das normale Endresultat nicht erreicht wird. Das Falsche, 
die Fehler sind die Symptome einer leichteren oder schwereren 
Störung, und nach der Art und Gattung der Fehler, erhält meist die 
Störung ihren Namen. Im allgemeinen ist über psychische Fehl- 
leistungen sehr wenig bekannt. Sie sind wohl die Quelle vielen Ärgers 
und Verdrusses, sind Gegenstand des Jammerns und Klagens, sollten 
aber mehr ein Gegenstand unseres Nachdenkens sein und der päda- 
gogisch-psychologischen Forschung unterstellt werden. Ihre Erforschung 
setzt voraus, daß die zutage tretenden Fehlleistungen in möglichst 
großem Umfange beobachtet und gesammelt werden. Ihre richtige 
Beurteilung macht es erforderlich, sie in ihrem objektiven Zusammen- 
hange kennen zu lernen. Fehlleistungen sind Experimente, die zu 
veranstalten sich die Natur selbst erlaubt. Eine endgültige Erklärung 
derselben aber zu finden, dürfte nicht so leicht sein; man muß sich 
meistenteils damit begnügen, die Arten der Störungen zu beschreiben. 
Die Bedeutung und das Wesen der Fehlleistungen aufzudecken, ist 
Sache der Psychiatrie und Psychologie; die Bekämpfung der Hem- 
mungen und Störungen ist eine Angelegenheit der Medizin und Päda- 
gogik. Die Sammlung und Beschreibung der Fehlleistungen ist eine 
Pflicht der Schule und des Arztes; denn niemand mehr als der Lehrer 
und der Arzt haben in diesem Maße Zugang zu diesem Materiale. 

Die kindliche Geistesbeschaffenheit ist für Fehlleistungen sehr 
geeigenschaftet; die peripheren und zentralen Organe sind nicht voll 
entwickelt und funktionstüchtig, sie sind nicht reif; die Entwicklung 
setzt zu früh ein oder hinkt nach. Die Entwicklung der Sinnes- 
gebiete, der Sprache, die Begriffsbildung setzt mit Erscheinungen 
primitiver Art ein und macht einen jahrelangen Vervollkommnungs- 
prozeß durch. Daß bei diesem allmählichen Entwicklungsprozesse 
Fehlleistungen in Erscheinung treten, ist sehr begründet, und zwar ist 
das Kind für die meisten durchaus nicht moralisch verantwortlich zu 
machen, wie es auch nicht für geisteskrank erklärt werden kann. 
Beim Kinde sprechen wir von Fehlleistungen, meinen damit vorüber- 
gehende, natürlich bedingte Erscheinungen, wobei wir die Norm in 
der Vollkommenheit des Erwachsenen finden. Das ist der normale Fall. 

Treffen wir dagegen bei dem einen oder anderen Kinde bleibende, 


Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 123 





konsequent wiederkehrende Fehlleistungen, Fehlleistungen, die die 
Bildsamkeit des Kindes in Frage stellen und nur schwer oder gar 
nicht zu beheben sind, dann haben wir unter Umständen Störungen 
vor uns, welche auf krankhafte Grundlagen, auf Entwicklungshem- 
mungen, Degeneration oder Minderwertigkeit hinweisen. 

Wir haben es also mit Fehlleistungen zu tun, die allgemein und 
nur vorübergehend sich zeigen und Fehlleistungen, die eine wirkliche 
Störung bedeuten und nur wenige Individuen befallen. Was bei einem 
dreijährigen und sechsjährigen Kinde eine leicht begreifliche Fehl- 
leistung ist, das ist, wenn es sich bei einem zehnjährigen Kinde zeigt, 
vielleicht ein recht bedenkliches Symptom. Man muß lernen, Bedenk- 
liches vom Unbedenklichen zu scheiden. Unter psychischen Fehl- 
leistungen muß man mehr das Bedenkliche, die Störung verstehen 
und zur Betrachtung heranziehen, obwohl ich andrerseits nicht ver- 
kenne, daß auch die sich von selbst behebenden Fehlleistungen, 
leichterer und selbstverständlicher Natur, sich sehr für das Studium 
eignen. 

Die Fehlleistungen betreffen alle Gebiete unserer Geistestätigkeit, 
wir treffen sie an im Bereiche des Sprechapparates und der Sprache, 
der Urteile, im Bereiche der Assoziation, als Lese- und Schreibstörungen. 


Fehlleistungen im Gebiete der gesprochenen Sprache. 


Bei dem einen Kinde treffen wir Störungen im Gebiete der 
Artikulation, beim andern Fehlleistungen ‘hinsichtlich der Sprachformen 
und gar nicht selten tritt uns ein ungenügender sprachlicher Ausdruck 
entgegen, der deswegen in Erscheinung treten muß, weil es den Vor- 
stellungen und gedanklichen Vorgängen an Klarheit, Ordnung und 
Promptheit gebricht. Man darf also unterscheiden: Störungen der 
Artikulation und des Sprechens und Störungen des Denkens. Fehlt 
es an der Schärfe und Folgerichtigkeit des Vorstellungs- und Ge- 
dankenablaufes, so muß sich das am sprachlichen Ausdruck nach- 
weisen lassen. 

Schwachbegabten gebricht es schon an der nötigen Zahl der 
Worte; sie haben für viele sinnlichen Eindrücke überhaupt keine 
sprachlichen Bezeichnungen, z. B. von den Farbenbenennungen kennen 
schwachbegabte Kinder meist weiß, schwarz, seltener sind die Be- 
nennungen rot und grün, und gelb, blau; violett, rosa, orange, lila 
fehlen meist ganz. 

Selbst von dem Lehrer, bei dem sie jahrelang in der Klasse sind, 
kennen sie den Namen nicht. Straßennamen, Personennamen, Namen 
von Geschäften, Stoffen, Werkzeugen mangeln ihnen beständig. Vororte, 


124 A. Abhandlungen. 





in welche man gewandert ist, sind bald vergessen. Mitbewohner des 
Hauses, Nachbarn kennen sie dem Namen nach nicht. 

Die Wortarmut bekundet sich namentlich dadurch, daß ähnliche 
Gegenstände mit einem Worte bezeichnet werden. Wie es einen 
Mangel der inhaltlichen Differenzierung gibt, ebenso auch einen Mangel 
der sprachlichen Differenzierung, z. B. ein Kind bezeichnet Fenster- 
haken, Meterstab, Spazierstock, Zeigestab, Lineal nur mit dem einen 
Worte: Stecken. Bei kleinen Kindern finden wir das immer. Ein 
Kind bezeichnete mit »gau« alles Eßbare, mit »heiß« alles was Gefahr 
oder Schmerz brachte, mit »papa« alles Männliche und mit »mama« 
alles Weibliche. Es war imstande, mit vier Namen, das wichtigste, 
was ihm begegnete, zu nennen. 

Ein neunjähriges geistesschwaches Kind hatte folgenden Sprach- 
schatz: papa für alle Männlichen, mama für alle Weiblichen; hupela 
für alle Flüssigkeiten und alle Nahrungsmittel; popolo, dundala oder 
mimi für das, was ihm begehrlich erschien; päpä für alles, was es 
nicht begehrt und nicht will. Dazu kam ein Schimpfnamen: hundela, 
den es jenen entgegenschleuderte, welche ihm zu nahe treten wollten. 
Nur einen Ausdruck benutzte es für einen Gegenstand; die Choko- 
lade bezeichnete es nicht mit popolo usw., sondern mit cholad. 

Ein siebenjährig®& geistesschwaches Mädchen unterschied sprach- 
lich Speisen usw. nicht, sondern sie behalf sich so, daß sie bei Speisen, 
Getränken, Bildern, Gegenständen, welche sie besitzen wollte, einfach 
sprach: Mali a, d. h. Marie auch (ich will das haben). Dazu brachte 
sie noch zwei Wörter mit zur Schule, mit denen sie fleißig schimpfte; 
das waren: lekmosch und lump. — 

Wortfindung. 

Die Störung der Wortfindung betrifft das Suchen, Finden und 
die Auswahl der Wörter; Gegenstände und Tatbestände können ent- 
weder gar nicht benannt werden, oder es wird ein falscher Ausdruck 
benutzt, oder an die Stelle eines Ausdruckes tritt eine längere Um- 
schreibung; das Wort ist vergessen; an Stelle des richtigen Wortes wird 
ein verstümmeltes, verändertes, neugebildetes, verwirrtes Wort gesetzt. 

Die Ähnlichkeitsassoziationen spielen hier eine bedeutende Rolle; 
die Verwechslungen werden durch alle möglichen Grade der Verwandt- 
schaft herbeigeführt; hauptsächlich sind es Ähnlichkeitsassoziationen 
optischer, akustischer und begrifflicher Natur. 

Fehler der Wortfindung sind sehr oft Assoziationsstörungen. 
Zwischen dem Richtigen und dem falschen Ersatze bestehen aber 
immerhin noch einige assoziative Verknüpfungen. 

Die Assoziation, welche von der Sache zum Worte führt, tritt 


Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 125 





um so eher in Erscheinung und in Tätigkeit, je lebendiger und 
plastischer die Vorstellung sich darbietet. Der Schwachsinn aber 
zeigt, daß selbst für körperliche Dinge, die wirklich vors Auge treten, 
die sprachliche Bezeichnung sehr oft mangelhaft ist. 

Am sichersten gesprochen werden solche Wörter, welche tagtäg- 
lich benutzt werden müssen. Diese hat auch der Schwachsinnige. 

Eigennamen sitzen äußerst locker; man braucht sie nicht oft 
und bezeichnet damit eine ganz bestimmte Person und einen be- 
stimmten Gegenstand. In der täglichen Sprache kann man sie nur 
selten anwenden. Man vergleiche die Bezeichnungen: Feile, Ludwig 
Frank und die Wörtchen: schön, gehen! Letztere sind geläufig, liquid 
und fehlen nur bei ganz schweren Schwachsinnsfällen und bei be- 
stimmten Sprachstörungen. 

Fremdwörter sind ebenfalls locker sitzende Wörter, welche von 
Sprachunkundigen äußerst leicht verfehlt werden. Influenza, Artillerie, 
Elektrizität sind Wörter, die Schwachsinnige sich äußerst schwer an- 
eignen. 

Wortzusammensetzungen fallen auch schwer und verleiten 
insbesondere dazu, irgend einen Teil der Zusammensetzung zu ver- 
ändern, so daß anscheinend Neubildungen zutage treten. 

Untersucht man die Sprache Schwachbegabter, so muß man zwei 
Richtungen verfolgen: 1. wieviel Sprache vorhanden ist; 2. ob der 
Wortvorrat jederzeit leicht zur Verfügung steht und mit Sicherheit 
dem sprachlichen Ausdrucke dient. 

Für sinnliche Gegenstände, die sich in der Umgebung des Kindes 
befinden, sind vielleicht die sprachlichen Bezeichnungen zum großen 
Teile vorhanden, aber in vielen Fällen sind selbst diese Bezeichnungen 
nicht da; noch öfters aber ist der Fall gegeben, daß ein Name dem 
Kinde sofort als bekannt erscheint, wenn es denselben hört, es kann 
den Gegenstand zeigen, aber spontan den Namen zu nennen gelingt 
nicht. Also auch das Konkrete macht Schwierigkeiten. Auch beim 
Konkreten geht die Scheidung und Benennung nicht ins Detail, auch 
hier fehlt die präzisere Differenzierung. Abstraktes ist etwas Weit- 
tragendes und Zusammenfassendes, Loslösung vom Einzelfall. Hiezu 
ist der Schwachbefähigte zu wenig beweglich, er bleibt am Einzelfall 
kleben. Krankheit ist ihm eben Kopfweh, eine überstandene Krank- 
heit; Krankheit ist für ihn soviel, als daß er krank gewesen ist. Im 
Schwachbegabten herrscht die Tendenz, haften zu bleiben an dem 
Dinge; Abstraktes verlangt das Loskommen vom Einzelnen. Man darf 
nun aber nicht glauben, daß der Schwachbefähigte allgemeine Be- 
griffsnamen und Gattungsnamen nicht anwende. Gerade die Gattungs- 


126 A. Abhandlungen. 





namen führt er beständig im Munde, nur bezeichnet er auch die Art 
beständig mit dem Gattungsnamen. Das ist die Ökonomie des Schwach- 
begabten, welcher für einige Dutzend Artnamen nur einen Gattungs- 
namen ‘anwendet; auch wendet er einen Artnamen im Sinne eines 
Gattungsnamen an. Alles fliegende Getier wird als Vogel oder 
Schmetterling angesprochen; eine Menge verschiedener Insekten nennt 
er Käfer; Zeitung, Brief, Marke, Eisenbahnbillett wird als Papier 
bezeichnet. 

Daß der Schwachbegabte ein Feind der Vielgestaltigkeit ist, be- 
weist die Anwendung weniger Pronomen. Der Lehrer wird mit Du 
angeredet; die Pronomen da, der, die, wir, sie, ich werden beständig 
verwendet, öfters als das bei anderen Kindern der Fall ist, aber sonst 
werden andere Pronomen selten, viele nie angewendet. Immerhin gibt 
es auch Fälle, daß trotz der großen Anwendbarkeit und Dehnbarkeit 
der Pronomen diese nicht oder ganz wenig benutzt werden. Das ist 
wohl erklärlich; die Pronomen bewirken eine künstliche Vereinfachung 
des Ausdruckes, sie sind ein Siegel (Symbol). Das muß aber besonders 
gelernt sein. Hat der Schwachbefähigte das Wort Vater, dann bringt 
er immer wieder dieses Wort, denn den Vater mit er, ihn, ihm, sein 
zu zitieren, ist eine Mannigfaltigkeit, auf die sich ein Schwach- 
befähigter nicht ohne weiteres einlassen kann. Das Hinweisen und 
Sichbeziehen auf einen Gegenstand, ohne diesen Gegenstand jedesmal 
ausdrücklich zu nennen, gelingt dem Schwachbefähigten nicht; auch 
den Lehrer versteht er nur halb, wenn er sich dieser Sprechweise 
bedient, und das Lesen in einem Lesebuche ist dem Schwachbegabten 
fast unmöglich gemacht, weil hier die seltensten Pronomen auftreten, 
die dem Schwachbegabten aber den Gegenstand nicht vorstellbar 
machen. Der entsprechende Name zaubert das Bild leichter herbei, 
als das flüchtige Pronomen. Beim Pronomen ist erst ein Umdenken 
notwendig, der Weg vom Pronomen zum Vorstellungsinhalt ist weiter. 
Das Nennen des Gegenstandes ist unmittelbarer. 

Dem Schwachbefähigten stehen die sogenannten Begriffswörter 
näher, als die Formwörter. Von den Formwörtern eignet er sich nur 
die notwendigsten an und bringt diese immer wieder, oft in jedem 
Satze z. B. nachher, zuerst, weil, so viel, dann, während andere Kon- 
junktionen z. B. dagegen, deshalb, sowohl usw. nicht gesprochen werden. 
Die Formwörter dienen einer feineren Unterscheidung in der Be- 
zeichnung der Beziehungen und Verhältnisse, sie drücken die Be- 
stimmtheit, den Grad, die Zahl, die Modifikation, die Möglichkeit aus. 
Ein Schwachsinniger, dem der Zahlbegriff fehlt, verfügt auch über die 
Numeralien nicht. Wer die Farbe nicht unterscheidet, bringt die 


Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 127 





Farbennamen nicht, wer akustische Eindrücke nicht differenziert, hat 
auch die speziellen Bezeichnungen nicht in seinem Sprachschatz, soferne 
er nicht mit leerem Schalle operiert. Wenn schon soviele konkrete 
Begriffswörter fehlen, dann ist es begreiflich, daß Präpositionen, Ad- 
verbien usw. nur in einigen Exemplaren vertreten sind. Die Ab- 
hängigkeit, den Ursprung, die Zugehörigkeit einer Sache durch einen 
bestimmten Kasus auszudrücken, ist ihm oft unmöglich. -— Das alles 
hat die Unterrichtssprache zu berücksichtigen. 

Man sollte meinen, wer Sprache hat, kann auch bezeichnen, wo 
er Schmerzen hat, was er sieht. Ja selbst in dem Fall, in welchem 
ein Schwachsinniger die meisten Wörter kennt und sprechen kann, ist 
es durchaus nicht selten, daß das richtige und treffende Wort im ent- 
sprechenden Moment nicht zur Verfügung steht. Bei geistiger Ge- 
sundheit stellt sich angesichts einer Tätigkeit, angesichts eines Gegen- 
standes, eines Merkmales dasjenige Wort ein, welches der treffendste 
Ausdruck für die gegebene Sache ist. Zwischen Sache und Wort 
muß eine feste Assoziation bestehen. Die fehlt sehr oft dem Schwach- 
sinnigen; bei diesem besteht Lockerung der Assoziation oder Störung der 
Assoziation. Beim geistig Gesunden wird die richtige Assoziation 
wirksam; der Schwachbegabte, der ohne diese festen, sicheren 
Assoziationen ist, gelangt durch Verwandtschaft und Ähn- 
lichkeit am Richtigen vorbei oder unmittelbar daneben. 
Zwischen dem Ähnlichen ist keine trennende Wand; das 
Ähnliche fließt in eins zusammen. Das ist ein Schwach- 
sinnszeichen; der gesunde Geist scheidet noch scharf 
zwischen dem Ähnlichen; der Schwachsinnige versagt aber 
gerade in der Differenzierung des Ähnlichen. Das ist eine 
wichtige Tatsache, die die Psychopathologie lehrt und dieser Satz muß 
in der Heilpädagogik beachtet werden und zwar sowohl beim Sprechen, 
beim Lesen, Schreiben, beim Singen; in der Fibel sowohl als im Lesebuch. 

Sehr viele Fehlleistungen sind also nichts anderes als Assoziations- 
störungen, und zwar tritt an die Stelle des Richtigen etwas Ähnliches, 
vermittels einer Assoziation. 

Wenn nun in der Pädagogik gelehrt wird, stets vom 
Ähnlichen auszugehen und auf das Ähnliche hinzuweisen, 
so ist das durchaus nicht immer ratsam. In der Hilfsschule 
und in den Unterklassen muß man vielmehr von den großen 
Unterschieden, von den großen Gegensätzen und großen 
Kontrasten ausgehen. Die feinsten Unterscheidungen 
zwischen Ähnlichem macht der Gelehrte; dem Kinde und 
dem Unbegabten fallen viele Unterscheidungen sehr schwer. 


128 A. Abhandlungen. 








Beispiele: 
Störung der Wortfindung bei Hö.: 
Im ganzen Kasten (= Tisch) sind viel (= zwei) Äpfel rum. 
(Zahlbegriffe fehlen ganz; das Wort »Kasten« bringt er, weil 


im Kasten auch Äpfel sind; gemeint waren aber die Äpfel, 
die wir auf dem Tische hatten.) 

Darf ich umkehren (= umblättern im Heft). 

Der Fisch im Wasser macht quack, quack, quack. 

Am Montag ist keine Schule, weil Hitzvakanz (= Weihnachts- 
vakanz) ist. 

Die Gans fließt (= schwimnt). 


Sp. J.: bei der Frau Milli (Milchfrau). 

Weis.: hinterm Bauch (statt: Rücken). 

Kop.: Briefmann (= Briefträger); das Oktoberfest ist hin (dahin, 
vorüber). 

Reis.: nunterglicht (hinunter geleuchtet). 

Blo.: Die Soldaten haben einen Schulranzen auf dem Rücken. 

Zeh.: Das Oktoberfest ist kaput (= vorüber). 

Des.: »Briefkasten« für Postkarte; »Briefkarte« für Brief; 

»Meine Schwester ist auf dem Gaul gefahren und ich hab mich 
in eine Gießkanne g'setzt« (Karussell. Gießkanne ist 
hier für Kanapee gesetzt. 

Zeh.: »Herr Lehrer, ein Fräulein (= Mädchen der V. Klasse) steht 
vor der Tür.«e (Nachdem er aufmerksam gemacht ist, daß das 
kein Fräulein sei, sagt er: »eine Mutter ist draußen«. 

Th. Meind: G. und W. stehen aufeinander (= beieinander). 

Wo man sieht warm es ist (= Thermometer). 

Lu.: Die Decke ist schnell heruntergefallen (= plötzlich). 


Fall Ber.: 
Bürste = abputzen Heft —= lesen 
Zündholz = Schachtl Lichtl drin Kalender — Bildl 
Baukasten — Spielkarten Buch = Heft 


Glas = Fenster 


richtig benennt sie: 


Uhr Kart'n Ofa (Ofen) Gummiball’n 
Tofi (Tafel) Papier Holz Schnur 
Falsches und Ersatz: 
Bogen Papier — Bildl Zwiebel — Fett 
Gummi = reiben Schirm = Apfi 


Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 





(zum Schreiben) 
Schere = Kerbi 
Riemen = obind’n 


129 


Schirm = aputz’n 
Schlittschuh = rute 
Ofenschirm = Ofa 


Kohle = Kern Schürhaken = Kois 
Salz —= Pfeffer Kohlenkiste = Eis 
Essig = Esse Blumentopf — Bluma 
Waschschüssel = von awasche Wirt = Wirtshausmann 
Schwamm = pus’n Wintermantel = Anzug 
Zeitung = les’n 


Sigmatismus: s, z werden nicht gut artikuliert, spricht s als sch; 
sie schiebt das Unterkiefergebiß hinter das Gebiß des Oberkiefers, 
so daß die Unterzähne am Gaumen anliegen. 

Verbindungen mit t: to tu konnte sie nicht sprechen, sie trennt die 


Silben so: tho thu. 
Verwechselt e, u, i, o und u. 


Kasse — Tasse 

ambn = Ranzen 

rena = reden (Näseln) 
Wachtelbock — Waffelbrot 


ritel = Schlüssel 
U = Uhrkette 
Wesser —= Messer 
satell = Schachtel 


chriegt — kriegt schlasch = Flasche 

Null = Nudl Teckel = Stock 

Bua = Buch Haum = Haube 

Hantua — Handtuch rogn = Kragen 

Hugi = Kugel pial = Spiegel 

ambn = Joppe ? wir waren gestern in Zale?? 


ambn = Mantel 


Kante = Tante 


Dieses Mädchen ist geistig ziemlich regsam. Sie stammt aus 


einer Familie, in welcher alle 3 Kinder sprachkrank sind. Ein Bruder 


leidet an Aphasie, einer ist Stotterer. 


Dieses Mädchen leidet aber, 


abgesehen von der aphasischen Störung, auch an Gehördefekten. Auf 
Anruf reagiert sie sehr oft nicht, ebensowenig, wenn man in weiterer 
Entfernung spricht, oder wenn sie den Mund des Sprechenden nicht 


sehen kann, z. B. wenn jemand im Weitergehen zu ihr spricht. 


Fall: Sp. A.: 
Findet den Ausdruck nicht für: 
Tinte Krawatte Krug Gießkanne 
Heft Stuhl Bierwagen Baum 
Billett Mantel Leiter Schürhaken 


Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 9 


130 A. Abhandlungen. 


Ersatz durch falschen Ausdruck: 
Hals für Lineal 
Fingerhut für Ring (Fingerring) 
Kleiderschürze für Bürste (Kleiderbürste) 
Schurz für Kragen 
Nachwirkung: Sie spricht: die Blume ist rot. Nun wird 
ihr Ruß vorgezeigt und sie spricht: Da ist rot (Ruß). 





Umschrieben: 
Schlittschuh = Schuh hin tun Geige = zum spielen 
Lederriemen = Schuh Bürste — zum Kleider bürsten 
Manchetten = Da her da Topf = Blumen nein tun 
Meterstab—zum Messen Bank = Griffel nein tun und zum 
Joppe = azog’n hinsitzen 
Dasselbe Wort spricht sie: 
Spontan: Nachgesprochen: 
Stecka inea (Lineal) 
Schlüßen Schließen (Schlüssel) 
strau fau (Frau) 
Bua Bua (Buch) 
Geldbeiel Geldbeutel 
won odn (Boden) 
estn beser (Fenste 
Man Wag’n (Wagen) 
richtig: 
Papier Uhr Messer Holz Handtuch 
Scher Spiagel Schachtl Korb Schüssel 
Hutsche Ofen Tür 
spontan: 
Tschapperl = Kappe Sdlasch = Flasche 
fa = fsa oder fda — Faden Manta = Mantel 
Feise = Seife Ofta = Ofen 
Kas= Kasten Kart'n = Karten 
Tisch = Stuhl Scham = Schwamm 
Buad = Buch Kerba = Korb 
Schlüs = Schlüssel Kunl = Kugel 
Dessn = Fenster Zwisel = Zwiebel 
Schur = Schnur Hef — Heft 


Kon = Brett Stecken = Stock 


Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 131 





Ker = Krug Ofa = Kohlenkiste 
Scha = Ofenschirm renta = reden 
Kuar = Gebetbuch 


u spricht sie wie um. 

l spricht sie wie n z. B. ib=in. 

l ersetzt sie gerne durch r. 

k, g sind ganz undeutlich. 

al, ol, ul, aul, eil liest sie manchmal richtig; dagegen liest sie el, il 
regelmäßig als en, in oder er, ir. Das liegt an der Enge des Ober- 
und Unterkiefers, welche bei e, u, i keine größere Bewegung der 
Zunge gestattet. Bei al usw. ist der Zunge die Einstellung erleichtert. 

Spricht kein au, dafür nur a. 

Zusammensprechen der Laute gelingt ihr lange nicht z. B. t—a, T—ee. 

Einschieben von überzähligen Zwischenlauten, Störung des Zusammen- 
sprechens und Zusammenschleifens. Es entstehen Zwischenlaute 
wie n, ng, u, l, nng, nd, ns, sd z. B. red = rnled, ri=rwi. 

Eingesprochene Wörter behält sie nicht, z. B. trotzdem »rot« Dutzende- 
male artikuliert wurde, spricht sie in der spontanen Sprache noch 
immer rlmo oder etwas ähnliches. 


Die Spontansprache ist ganz unartikuliert; nachsprechen tut sie 
schlecht. Im Artikulationsunterricht gelingt es zwar, daß sie laut- 
richtig spricht, aber sie streift die richtige und die erlernte Aussprache 
beim Spontansprechen völlig ab. Dies und der Umstand, daß sie für 
viele Dinge den Namen nicht findet, spricht für Erinnerungsaphasie 
(amnestische Aphasie). Die äußeren Sprachorgane sind zwar ihrer Ge- 
stalt nach intakt, aber die Sprechbewegungen sind völlig ungenügend 
und ungelenk. Die Zunge gerät bei g, ch, t, n, w immer wieder an 
die falsche Artikulationsstelle. Durch die ungeschickten und unexakten 
Sprechbewegungen kommen unverständliche Zusammenschleifungen zu- 
stande. Übrigens sind auch die Gehbewegungen, die Schreibbewegungen 
und die übrigen Handbewegungen äußerst unpräzis. Dieses und die 
unartikulierte Sprache weist auf motorische Aphasie hin. Eine Schwer- 
hörigkeit ist nicht nachzuweisen; einfaches Stammeln ist es auch 
nicht. 

Es würde zu weit führen, alle die einzelnen Sprachstörungen 
hier zu erörtern; denn hierüber besitzen wir zahlreiche, eingehende 
Abhandlungen. (Forts. folgt.) 


9* 


132 A. Abhandlungen. 





5. Die experimentelle Ermüdungsforschung. 


Von 
Marx Lobsien, Kiel. 
Erstes Kapitel. 
Einleitung. 

Wirft man einen Blick auf die überaus reiche Literatur, die die 
Ermüdungsforschung zum Gegenstande hat, dann erhebt sich die Frage: 
Woher dieses, zwar nicht immer in gleichem Umfange, aber doch 
immerfort sich hervordrängende Interesse? Es hatte seine Wurzel zu- 
nächst in der immer weiter umsichgreifenden Überzeugung, daß die 
Schüler, in erster Linie die der höheren Schule, überbürdet würden. 
Die Anforderung, die die Schule an die geistige und leibliche 
Leistungsfähigkeit stelle, gehe weit über das erlaubte Maß hinaus, 
wenigstens wenn man den Durchschnitt der Zöglinge bedenke, be- 
ruhe auf einer vollkommenen Verkennung der kindlichen Arbeits- 
fähigkeit, sei zugeschnitten auf eine weit das reale Maß über- 
schreitende Projektion einer Summe von geistigen und 
leiblichen Kräften, die zumeist nur eine geringe Subtraktion an 
der Leistungsfähigkeit des Erwachsenen und zwar des Erwachsenen 
mit hervorragender Befähigung bedeute. 

Man malte sich die Folgen dieser ständigen, dazu oft einseitigen, 
geistigen Hochspannung aus; man hatte sie im Sprechzimmer des 
Arztes, im Elternhause vor Augen: Das Schreckgespenst der Über- 
bürdung wurde von ängstlichen Gemütern ausgemalt; man sah den 
Ruin der Jugend und des Volkes vor Augen. Das Gefühl, hier ge- 
schehe etwas, dem unbedingt Einhalt geboten werden müsse, ver- 
dichtete sich zu der Überzeugung: Unsere Jugend ist überbürdet, 
eine Überzeugung, die einst Kraepelin zu der Meinung veranlaßte, es 
sei ein Glück, daß nicht alle Lehrer befähigt wären, die Kräfte der 
Jugend voll anzuspannen, andernfalls wäre es um sie geschehen. Seine 
Meinung fußte auf den damals eben veröffentlichten Untersuchungen 
Griesbachs, wohl vorschnell, denn die Griesbachschen Untersuchungen 
waren hernach insbesondere Gegenstand eifriger Kontroverse und teil- 
weise scharfer Absage. Freilich konnte dem Ansturm gegen das 
herrschende System nichts willkommener sein, als ein Bundesgenosse, 
der die schneidige Waffe der einwandfreien Messung der Ermüdung, 
des exakten Nachweises der Überbürdung führte. Leider ließ man 
von vornherein die Frage nicht scharf genug formulieren: Was ist 
denn unter Überbürdung zu verstehen? Ja, man muß sehen, daß man 
vielfach Ermüdung und Überbürdung identifizierte. 


` Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 133 





Neben diesem praktischen Antrieb, der auch heute noch vielfach 
für Inangriffnahme von Ermüdungsmessungen bestimmend ist, ging 
ein theoretischer, rein wissenschaftlicher einher, der zusammenhängt 
mit dem Auftreten der experimentellen Psychologie. Die Messung 
der geistigen Ermüdung erfordert ein experimentell-psychologisches 
Rüstzeug und die theoretische Erwägung, ob überhaupt möglich sei, 
mit den Mitteln des Experiments über Wesen und Wirkung der Er- 
müdung genauere Aufschlüsse zu erhalten, regte immer von neuem 
an, über brauchbare Methoden nachzusinnen. In erster Linie ging 
das Besinnen darauf hinaus, einen brauchbaren Maßstab zu finden, 
ein Bemühen, das sich immer mehr als ein ungemein schwieriges 
herausstellte, in demselben Maße schwierig, wie es sich einem ersten 
Überlegen leicht vortäuschte. i 


Einige allgemeine Erwägungen. 


Eine Messung vollzieht sich ganz allgemein dann am leichtesten, 
wenn ein bestimmtes, durch Übereinkommen oder durch gewohnheits- 
mäßigen Gebrauch festgelegtes, Quantum eines Quale nur einem un- 
bestimmten Quantum desselben Quale angelegt zu werden braucht. 
Solche direkte Beweisführung ist aber keineswegs immer möglich, 
man ist auf die indirekte angewiesen und damit auf ein Verfahren, 
das nicht nur erheblich komplizierter, sondern schon in seinen Voraus- 
setzungen oft wenig widerspruchslos und wenig eindeutig ist. Jegliche 
indirekte Messung ist nur unter der Bedingung möglich, daß Maßstab 
und zu Messendes, obgleich qualitativ verschieden, doch in solchem 
Verhältnis zueinander stehen, daß eine Veränderung hier sich dort in 
quantitativen Veränderungen, die skalenmäßig bestimmbar sind, auf- 
schreibt. Solche Beziehungen, sei ihre Natur welcher Art sie wolle, 
werden zumeist durch die Vulgärerfahrung nahegelegt und in gewissem 
Umfange bestätigt. Aufgabe der Forschung, speziell der experimen- 
tellen ist es, die Skalenwerte im einzelnen exakt festzulegen. 

Hier ist als Aufgabe gestellt, die Ermüdung zu messen. Mittels 
der direkten Messung ist das unmöglich. 

Die Ermüdung wird als leibliche und geistige Ermüdung unter- 
schieden, insofern sie vorwiegend physiologisch oder psychologisch 
in Erscheinung tritt. Die Scheidung ist nur vom Standpunkte der 
Vulgärerfahrung aus erlaubt, wie hernach näher gezeigt werden soll; 
in Wahrheit, so steht nach heutigen Forschungen fest, können beide 
nicht getrennt werden, hängen vielmehr aufs engste zusammen. — 
Weder die körperliche noch die geistige Ermüdung als solche ist 
meßbar. Wir kennen den Zustand lediglich aus seinen Äußerungen. 


136 A. Abhandlungen. 





aufstellen. Daß es kurz gesagt werde: Alle Ermüdungsmaße 
haben nur relativen, aber keineswegs absoluten Wert. Ich 
möchte deshalb diesen selbstverständlichen Gedanken betonen, weil man 
sehr oft — zum Schaden der Sache — dem Irrtum begegnet, als ob 
die gewonnenen Werte eine unmittelbare Übertragung auf das wirk- 
liche Einzelindividuum gestatten müßten. Aus dem Mißlingen solchen 
törichten Beginnens folgerte man oft ein Werturteil über das experi- 
mentelle Bemühen überhaupt. 

Ferner: Die Messung der Ermüdung geschieht genau genommen 
durch die Messung des jeweiligen Standes der Leistungsfähigkeit, 
oder durch eine Messung des Umfangs und Werts der geleisteten 
Arbeit als Prüfstein der Arbeitsfähigkeit im Zeitpunkte der Messung, 
sei sie physischer oder psychischer Art oder beides zugleich. Die 
Messung kann nun auf zweifach verschiedene Weise vorgenommen 
werden, Weisen die zwei verschiedenen Methoden entsprechen. Ent- 
weder man legt in gewissen möglichst genau normierten Zeitabständen 
für eine kurze Zeitspanne den gewählten Maßstab an, oder man legt 
ihn dauernd an, liest an ihm fortlaufend die Leistungsfähigkeit ab. 
Bezeichnet man mit Baade das angelegte Maß als Reagens, die ge- 
forderte Arbeit als Agens, dann wird man die beiden verschiedenen 
Weisen auch so charakterisieren können: Bei der ersteren findet 
fraktionierend eine Reagensprüfung statt, bei der letzteren sind Agens 
und Reagens eines und dasselbe. Die letzteren Methoden bezeichnet 
man wohl als diejenigen der fortlaufenden Arbeit, nach dem Vorgange 
des bekannten Psychiaters Kraepelin-München. Die Bezeichnung ist 
zwar nicht unzweideutig, denn auch bei der fraktionierten Reagens- 
anwendung ist doch das Agens eine fortlaufende Arbeit. Ich möchte 
vorschlagen, bei der Einteilung nicht sowohl auf die geforderte Arbeit 
als auf die Tatsache ihrer Maßbestimmung die Aufmerksamkeit 
zu lenken und dementsprechend zu unterscheiden: 1. Methoden frak- 
tionierender, 2. solche fortlaufender Messung. 

Richtet man nun seine Aufmerksamkeit auf die geforderte Arbeit 
oder auf die Art und Weise, sie zu messen, dann ergeben sich weitere 
Sonderungen. Zunächst, auf die Art der geleisteten Arbeit gesehen, kann 
man solche ins Auge fassen, die sich nicht von den gewöhnlichen 
unterscheiden, die praktisch tatsächlich gefordert werden, daneben 
dann aber auch solche, die durch die Absicht des Experimentators 
einer Reihe von Umständen entkleidet sind im Interesse einer ge- 
naueren, wenn möglich exakteren Messung. Es mag erlaubt sein, 
dieses Moment zu betonen und die ersten als lebensnahe, die 
letzteren als lebensferne, oder die ersteren als wirkliche, die 


Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 137 


letzteren als künstliche Arbeiten zu bezeichnen. Offenbar wird das 
Streben ernstlich darauf gerichtet sein müssen, möglichst solche Arbeiten 
für die Messung zu fordern, die denen entsprechen, die unter normalen 
Umständen den Prüflingen zugemutet werden. Es liegt aber auf der 
Hand, daß solche Arbeit sich einer einwandsfreien Messung nur sehr 
selten fügt, denn sie wird bestimmt durch ganze Reihen quantitativ 
verschieden abgestufter Bedingungen, die sehr oft nicht erkennbar, 
geschweige denn meßbar sind. Sie sind eben in das so vielgestaltige 
individuelle Arbeitsleben der Prüflinge eingetaucht, das einer objektiven 
Betrachtung die allergrößten Täuschungen bereiten kann. Je mehr 
sich das Agens den tatsächlichen realen Verhältnissen nähert, desto 
mehr entzieht es sich einer objektiven Beurteilung, desto mehr ist 
man auf eine sorgsame subjektive Analyse angewiesen, die wiederum 
nur möglich ist auf Grund von Selbstaussagen der Versuchspersonen. 
Diese aber sind nur dann einigermaßen wertvoll, wenn die Prüflinge 
imstande sind, sich selbst bei der Arbeit genauer zu beobachten, un- 
beeinflußt zu urteilen und sich sachgemäß zu äußern. Das aber sind 
Voraussetzungen, die bei jugendlichen Versuchspersonen nicht oft zu 
finden sein werden — am allerwenigsten bei fortlaufender Arbeit. 
Daraus folgt aber, daß die Methoden fortlaufender Messung sich immer 
von der tatsächlichen, lebensnahen Arbeit entfernen, daß sie möglichst 
konform und möglichst einfach gestaltete Arbeit fordern müssen, wenn 
sie wertvollere Ergebnisse erzielen wollen. In der Tat sehen wir sie 
auch operieren mit fortlaufendem Addieren, Silbenzählen, Buchstaben- 
abschreiben und ähnlichen Dingen. Man sieht so, daß die angewandte 
Maßmethode bestimmte Grenzen respektieren muß, über die sie nicht 
hinausgehen darf, Grenzen, die eben ihrer Natur vorgezeichnet sind. 
Den Methoden fortlaufender Messung erwächst aus der Beschränkung 
andrerseits aber ein ganz gewaltiger Vorzug, nämlich der, daß ihnen 
möglich ist, viel sorgsamer in die komplizierten inneren Arbeits- 
bedingungen einzudringen; das ist in so überaus verdienstlicher Weise 
Kraepelin und seiner Schule gelungen. Sie haben den komplexen 
Begriff der Ermüdung durchleuchtet und eine Reihe von Komponenten 
ans Tageslicht gefördert, von denen bis dahin höchstens die eine gaor 
die andere der Vulgärerfahrung sich offenbart hatte. 

Anders die Methoden der fraktionierenden Messung oder der 
Messung in gröberen Zeitabständen. Sie stellen stichprobenartig die 
Leistungsfähigkeit im Verhältnis zum Normalmaße fest. Ihr Verfahren 
ist von vornherein ein viel größeres, summarisches. Sie verzichten 
auf die Feststellung der feineren Komponenten, begnügen sich mit 
dem komplexen Begriff der Ermüdung und sind lediglich bemüht, 


138 A. Abhandlungen. 





jeweils ein möglichst genaues Maß zu gewinnen. In der Tat fällt 
und steht ihr Wert mit der Genauigkeit der jeweiligen Meßmöglich- 
keit. Diese vorausgesetzt, erstreckt sich das Wirkungsgebiet weit 
in die pädagogische und schulhygienische Praxis hinein. Daß aber 
die Methode der Messung ungleich schwieriger und bedenklicher ist, 
erhellt schon aus der Tatsache, daß sie bis heute heißumstritten ist. 

Richten wir nunmehr unsere Aufmerksamkeit wieder auf den 
Maßstab, der Verwendung findet. Es empfiehlt sich, physiologische 
und psychologische Maßmethoden zu unterscheiden. (Wollte man 
die Anwendung ins Auge fassen, dann müßte man folgende Fälle 
unterscheiden: 1. der physische Maßstab dient der Messung der phy- 
sischen, 2. der psychische der Messung vorwiegend psychischer Arbeit, 
3. sie dienen wechselseitig als Maßstab.) Eine strenge Sonderung ist 
allerdings nicht möglich, die Bezeichnungen wollen nur sagen, daß 
jeweils das besonders hervorstechende Merkmal der Namengebung in 
erster Linie gedient hat. — Ausgehend von Erfahrungen der experi- 
mentellen oder physiologischen Psychologie, teils auch von solchen 
des täglichen Lebens und der ärztlichen Praxis, kam man dazu, eine 
Reihe verschiedener Messungsweisen zu konstruieren, die in ihrer 
Gesamtheit nicht wohl zu einem systematischen Ganzen sich zusammen- 
fügen, das verrät, man sei einem festen Plane nachgegangen — wohl 
aber zu einigen Hauptgruppen sich anordnen lassen. Die physischen 
Methoden kann man unter folgende 5 Gruppen ordnen: 1. Messung 
der Muskelenergie, 2. Schwellenmethoden der Sinnesempfindlichkeit, 
3. physiologische Methoden engeren Sinnes, 4. Methoden der Messung 
taktiler Empfindung, 5. biologische Methoden. Die Bezeichnungen 
wollen nicht in dem Sinne verstanden sein, als ob sie immer mit 
voller Deutlichkeit von einander Abzugrenzendes bezeichneten, man 
wolle sich begnügen, wenn sie dem Sinne nach eine zulängliche 
Scheidung charakterisieren. Sie sind auch nicht geprägt worden von 
einem einheitlichen logischen Gesichtspunkte aus, sie bezeichnen keine 
möglichen Maßmethoden, sondern sie sind vorhandenen gebräuch- 
lichen Verfahrungsweisen angelegt worden, und es ließ sich nicht ganz 
umgehen, daß hier und da Zwang ausgeübt wurde. 

Diesen fünf Hauptgruppen lassen sich folgende Methoden im 
einzelnen zuordnen: Zu der Gruppe 1 sind drei Messungsweisen zu 
rechnen, die zu bezeichnen sind als dynamometrische, ergographische 
Blixsche und Fußhantelmethode Die zweite Gruppe, die der 
Schwellenmethoden, läßt sich sondern als Seh-, Hör- und Hautsinn- 
prüfung, welch letztere sich bezieht auf die Tast-, Druck- und 
Schmerzempfindlichkeit. Die physiologischen Maßmethoden sind ge- 


139 


telle Ermüdungsforschung. 


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140 A. Abhandlungen. 





richtet auf die Messung des Pulses (Druck-Sphygmometer — Volumen- 
Plethysmometer), der Atmung (Pneumometer), der Wirkung des elek- 
trischen Stromes, der Vibrationsempfindung, des Quinquaudschen 
Zeichens, der Körpergröße. Gruppe 4 geht der Messung des natür- 
lichen Bewegungsrhythmus und der Genauigkeit der Bewegungs- 
schätzungen nach. Endlich die letzte Gruppe erwägt die inneren 
physiologischen Ermüdungsursachen prüfend und messend. 

Die psychischen Maßmethoden lassen sich nicht streng von den 
physischen absondern; denn auch dort, wo man, wie bei der Messung 
der Muskelenergie oder der Hautsensibilität einen physischen Maßstab 
anlegt, spielen psychische Umstände, besonders die Willensanspannung, 
die Energie der Aufmerksamkeitskonzentration, eine sehr bedeutsame 
Rolle. Ich möchte die psychologischen Maßmethoden in zwei Gruppen 
sondern, die eine Gruppe, die eine psychische Fähigkeit ohne Rück- 
sicht auf ihre Bedeutung für den praktischen Unterrichtsbetrieb, also 
sozusagen ein mehr theoretisch-psychologisches Geschehen, das sich 
genauer für die Beobachtung abgrenzen läßt, als Reagens verwertet 
und solche, die sich mit ausgesprochener Absicht, so weit möglich, 
den gewöhnlichen Verhältnissen in der Schule zu nähern sucht. Es 
möge erlaubt sein, die ersteren als psychologische; Methoden 
strengerer Ordnung, die letzteren als pädagogisch-psycho- 
logische Maßmethoden anzusprechen. Zur ersten Gruppe gehören: 
Die Messung der Kombinationsfähigkeit, des Gedächtnisses, der 
Reaktionszeit, der Raum- und Zeitschätzung. Zu Gruppe 2 sind zu 
rechnen: Das Zählen von Buchstaben, das Abschreiben, das Durch- 
streichen bestimmter Buchstaben, das Niederschreiben von Ziffern, das 
Lesen, das Rechnen, das Diktatschreiben. Man sieht deutlich, daß 
sich unter den letzteren wieder eine Zweiteilung ermöglichen läßt, 
nämlich eine Gruppe solcher Methoden, die eine mechanische Be- 
tätigung in erster Linie verlangen, und eine zweite, die sich den tat- 
sächlichen Verhältnissen mehr nähern. Die ersteren kann man, ohne 
ein Mißverständnis befürchten zu müssen, als schulfremde oder 
mechanische, die andern als nichtmechanische pädagogisch - psycho- 
logische Methoden bezeichnen. 

(Siehe Übersicht S. 139.) 

Aus der Übersicht ersieht man, daß man eine große Anzahl ver- 
schiedener Wege eingeschlagen hat, der Ermüdung forschend nachzu- 
gehen. Die Zahl derselben ist aber mit der Übersicht keineswegs er- 
schöpft, sondern es lassen sich unter den Aufgeführten noch eine 
große Anzahl von Kombinationen herstellen. (Forts. folgt.) 


Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 141 





6. Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwach- 
sinnigen und schwerschwachsinnigen Kindern. 
Von 
Kurt Lehm, Dresden. 

(Mit 4 Abbildungen.) 

(Schluß.) 


Ich verlasse nun den Sprechunterricht und wende mich dem 
Leseunterricht zu, richte auch dabei das Augenmerk auf Lernweise 
und Lernzeiten bei Schwachsinnigen, bezw. Schwerschwachsinnigen, 
befasse mich aber nur mit den Elementen, den Schreib- bezw. Druck- 
buchstaben und halte Überschau bis Ostern 1908. In den Jahren 
1908/10 war die Löbtauer Hilfsschule dreiklassig, die Unterstufe der 
dritten Klasse umschloß auch die Schüler mit, die man ihrem geistigen 
Niveau entsprechend als Vorschüler bezeichnet und behandelt. 

Für meine weiteren Darlegungen nehme ich die beiden folgenden 
Schemata als Ausgangspunkt. Die Schemata weisen Jahreskurven auf 
und zeigen, mit welchem Erfolge zwei Kinder — eine der Grenze 
der Vorklasse nahestehende Schülerin und ein schwerschwachsinniger 
Knabe — an der Erlernung der Schreibschriftbuchstaben (66) ge- 
arbeitet haben. 

(Siehe Tafel A und B S. 142.) 

In Tafel A beobachtet man ein ziemlich gleichmäßiges Fort- 
schreiten von Jahr zu Jahr, bis die letzte Kurve in der Weihnachts- 
zeit einen jähen Sturz verzeichnet und plötzlich abbricht. Diese Kurve 
ist ein Beispiel dafür, welch unheilvollen Einfluß auf das Geistesleben 
schwachsinniger Kinder die geschlechtliche Lust ausübt. Das Mädchen 
wurde vor der Weihnachtszeit lässig und immer lässiger. Ich ver- 
mutete einen Entwicklungsvorgang, der die geistigen Kräfte des 
Mädchens beeinträchtigte; schließlich aber gab sich mir des Rätsels 
Lösung ganz unerwartet: das Mädchen pflegte geschlechtlichen Ver- 
kehr mit Knaben. Und wie im Lesen der Schreibschriftbuchstaben 
zeigte sich auch in allen andern Fächern ein überraschender Nieder- 
gang. Das Mädchen wurde Ende November 1911 ausgeschult. 

Einen ähnlichen Fall könnte ich noch tabellarisch skizzieren, 
sehe aber um der Raumfrage willen davon ab. Das Mädchen erlernte 
etwa drei Viertel der Schreibbuchstaben, schlug dann aber plötzlich 
um, so daß sie in ihrem Besitzstand fast auf Null ankam. Hier ver- 
ursachte der Eintritt der Menstruation den Rückgang. 

Ein anderer Fall bietet sich in Tabelle B. Hier handelt es sich 
wie schon bemerkt um einen schwerschwachsinnigen Knaben. Er 


142 A. Abhandlungen. 








= Jahreskurve Ostern 08/09 
----------- = Jahreskurve Ostern 09/10 
E AE = Jahreskurve Ostern 10/11 
= 1-12... = Jahreskurve Ostern 11/12 





Tafel B. 


hatte bis Ostern 1910 achtundzwanzig Schreibschriftzeichen lesen ge- 
lernt. Im Winter 10/11 begann ein allgemeiner Leistungsverfall, bis 
kurz vor Ostern 1911 das Erworbene fast spurlos verloren war. Der 
Schüler stumpfte mehr und mehr ab, vor einigen Wochen sah ich 
ihn in der Heil- und Pflegeanstalt wieder. Die letzte Kurve bedeutet 
den Abstieg zur Idiotie. 

An dieser Stelle möchte ich gleich einer Erfahrung Ausdruck 
geben, die sich auf das Lesenlernen in der Vorstufe bezieht: ich halte 
es für untunlich, Vorschüler mit der Erlernung von Schriftzeichen 
als Vorbereitung für das Wörterlesen zu behelligen. Ich könnte 
diese Meinung durch statistisches Material stützen. Ich muß aber 
mit dem Raum rechnen. Jedoch spricht folgende Erwägung dafür. 
Es kommen doch vielfach Kinder aus der Normalenschule zu uns, 
die sich die Schriftzeichen nicht merken. Dieses Nichtmerkenkönnen 


Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 143 





hat seine Ursache einerseits in eigenartigen Zuständen des Kindes, 
andrerseits in der Beschaffenheit der Schriftzeichen. Jedenfalls stehen 
die Kinder unter dem quälenden Druck ihres Unvermögens, und 
nun soll es, wenn sie Vorschüler sind, mit dem alten Elend, dem 
alten Leiden wieder losgehen? Es gibt doch bei Vorschülern noch so 
viel, sehr viel gut zu machen, daß die Leseexerzitien hinausgeschoben 
werden müssen. Und es bringt manchen Vorteil, wenn die Erlernung 
der Buchstaben der nächsten Klassenstufe zugewiesen wird. Ich hand- 
habe es so, und im Hinblick auf die Zusammensetzung der Hilfs- 
klassen bin ich zu diesem Verfahren gekommen. Jede Hilfsklasse, 
mag sie noch so gleichartig in ihrem Bestand sein, sie gliedert sich 
(der Grund liegt im Lerntempo der Kinder) in Ober- und Unter- 
abteilung. Wenn nun die Vorschüler in der nächsten Klasse als 
Unterabteilung, ohne daß sie als solche geführt werden, die Buch- 
staben erlernen, so haben sie den Vorteil, bei den weiter vorge- 
schrittenen Kindern zu sehen, wozu die Buchstaben erlernt werden, 
und profitieren dabei manches, wie es in der vierklassigen Normalen- 
schule der Fall ist, daß die Unterabteilung eine recht gut vorbereitete 
Oberabteilung wird. 

Dieses Verfahren gab nach meinen Aufzeichnungen folgende Er- 
gebnisse: Die leichteren Fälle kamen in einem Jahre in der Hilfs- 
schule zur Beherrschung der Schreib- und Druckbuchstaben und er- 
reichten, bei einer beträchtlichen Anzahl sogar mit Einschluß der 
Kapitel Konsonantenhäufung, Dehnung, Schärfung, die elementare Lese- 
fertigkeit des Wortlesens. Bei andern vergehen zwei bis drei Jahre, 
ehe sie zu diesem Ziel gelangen. 

Bei allen Kindern aber bedeutet diese Stoffverteilung in Ver- 
bindung mit dem methodischen Leselehrverfahren in der Hilfsschule 
eine Frleichterung, ein Aufatmen zuerst, und dann eine Kräftigung 
und Erstarkung. Das kranke Kind steht zunächst nicht mehr vor dem 
ganzen Laut- und Zeichenchaos, es darf mit seinem bisher erworbenen 
Eigentum operieren, da gesellt sich der Arbeit das Erkennen bei: ich 
kann auch etwas; damit entfaltet sich der Mut, an neue Aufgaben 
heranzutreten. Ich habe eine ganze Reihe von Fällen erlebt, in denen 
die Kinder mit Eintritt in die Hilfsschule ihre nächtliche Ruhe wieder- 
fanden, das Aufschreien und Träumen hörte auf. Dem Überspannen 
der Kräfte folgte ein Ausspannen, eine Erholungszeit, ein Zusich- 
kommen; dann setzte das Vorwärtsstreben ein. 

Weiter oben sagte ich, daß die Erfolge im Leseunterrichte auch 
durch die Eigenart der zu erlernenden Schrift bedingt sind. Dazu 
eine interessante Beobachtung aus meinen Aufzeichnungen, ehe ich 


144 A. Abhandlungen. 





auf die Frage der Schriftart näher eingehe. Unter den der Hilfsschul- 
unterstufe aus der Normalenschule zugewiesenen Kindern befanden 
sich mehrere aus der fünften und sechsten Klasse und sie konnten 
doch noch nicht lesen, trotzdem sich ihnen die Gelegenheit geboten 
hatte, in den höheren Klassen in Antiqua zu lesen. Von ihr wird 
mancherseits behauptet, sie sei die am leichtesten zu erlernende und 
am leichtesten zu lesende Schriftart. Diese Kinder nun hatten sich 
trotz vorgeschrittenen Alters und, man muß es annehmen, erhöhten 
Fassungsvermögens, nur die der bei uns eingeführten Offenbacher 
Schwabacher ähnlichen Formen gemerkt, im übrigen hatte die Antiqua 
versagt. 

Antiqua oder Fraktur? ist für das Lesenlernen in der Hilfsschule 
eine wichtige Frage. Zwar ist die Anzahl der Hilfsschüler dem 
Normaleschülerbestand gegenüber nicht groß, und man könnte der 
Meinung sein, diese Minderheit könnte bei lebens- und volkswirtschaft- 
licher Betrachtung der Schriftfrage ausscheiden. Doch hat einmal die 
Minderheit das Recht, bei Besprechung der das allgemeine Interesse 
beanspruchenden Fragen berücksichtigt zu werden und damit eine 
gewisse Wertung zu erfahren, andrerseits ist der vorliegende Fall für 
die Allgemeinheit insofern von Bedeutung, als auch die Hilfsschüler 
zu brauchbaren Gliedern der menschlichen Gesellschaft erzogen werden 
sollen und können und somit an ihrer Einbegrenzung in die Behand- 
lung dieser Schriftfrage nicht Anstoß zu nehmen ist. Und nun ein 
paar kurze Ausführungen zur Frage Antiqua oder Fraktur. 

Latein sei die Weltschrift, Fraktur sei dem Ausländer unbekannt, 
ja widerwärtig, behaupten die Antiquafreunde. Sie sagen aber nicht, 
daß die Nordgermanen sich der Bruchschrift bedienen, ebenso slavo- 
nische Stämme, die von uns ihre Gesittung erhielten. Wieland machte 
mit den »verwünschten lateinischen Lettern« bei der Prachtausgabe 
seiner Werke im Ausland schlechte Geschäfte. Wieland hat die Worte 
` gesprochen: Engländer und Franzosen haben mir gesagt, sie lesen 
deutsche Bücher lieber mit deutschen Lettern. Ähnlich erging es dem 
Dichter und Selbstverleger Jordan. Für Amerika ließ er sein Werk 
»Nibelungen«e in Antiqua drucken. Die Ausgabe ging nicht, er 
schickte die in Fraktur gesetzte Ausgabe hinüber und hatte Erfolg. 

Gustav Hein schreibt in der Zeitschrift des Allgemeinen deutschen 
Sprachvereins 1909: »Ausländer ziehen vor, ihr Deutsch in deutschem 
Gewande zu sehen.« Zugunsten der Antiqua wird auch meist die 
Frage beantwortet, welche Schrift leserlicher und darum schneller 
lesbar sei. Die Antiqua rühmt man dabei um ihrer Klarheit willen, 
hier aber handelt es sich darum, welche Schrift der Eigenart der 





Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 145 





deutschen Sprache am besten entspricht, welche Schrift der Charakte- 
ristik unsrer Wortbilder am meisten gerecht wird. Unsre Sprache 
weist viel mehr lange und zusammengesetzte Wörter auf als fremde 
Sprachen. Bei Macalay sind nach Ruprecht 3900 Buchstaben auf 
1000 Worte, bei Treitschke 6116 Buchstaben auf 1000 Worte gezählt 
worden. Weiter wird behauptet, die Fraktur sei augenschädlich. 
Hermann Cohn, der immer als augenärztlicher Gegner der deutschen 
Schrift genannt wird, hat in seinem Lehrbuche der Hygiene des Auges 
1892, S. 450 geschrieben: »Nach meiner Überzeugung ist der Nach- 
weis nicht geliefert und würde auch schwer zu liefern sein, daß 
gerade die deutschen Buchstaben für die Augen gefährlicher seien als 
die lateinischen.«e Es sind auch die Lehrervereine nicht allerorten 
der Antiqua zugetan. Es sei hier nur die Kundgebung des deutsch- 
österreichischen Lehrerbundes vom 31. März 1912 erwähnt, in der 7 
heißt: »Im Namen der mehr als 20000 freiheitlichen Lehrer, die i 
»deutsch - österreichischen Lehrerbunde« vereinigt sind, geben wir 
unserem tiefsten Bedauern Ausdruck über jenen Beschluß der Kom- 
mission des deutschen Reichstages, welcher auf Abschaffung der deut- 
schen Schriftzeichen gerichtet ist. Während Millionen Deutscher im 
Auslande auf Leben und Tod deutsche Eigenart, verteidigen, weiß der 
Deutsche Reichstag nichts Besseres zu tun, als die deutsche Schrift 
abzuschaffen. Wir hoffen, daß das Plenum des Reichstages das Selbst- 
verständliche tun und dem Beschluß der Petitionskommission die Zu- 
stimmung versagen wird.e Über die Schrift in der nachschulischen 
Zeit hört man auch nicht nur Loblieder auf die Antiqua. P. Weber 
sehreibt in den Hamburger Nachrichten: »Meine kaufmännische Er- 
fahrung an Lehrlingen lehrt mich ferner, daß die Schüler deutscher 
höherer Schulen, an denen vorzugsweise Kursiv-(Latein-)Schrift geübt 
wird (Oberrealschulen, Gymnasien), meistens mit einer schauderhaften 
Handschrift ins Leben treten, während die Schüler der Volks- und 
gehobenen Bürgerschulen, die meistens Bruchschrift schreiben, über 
eine sehr deutliche, oft sehr schöne Handschrift verfügen.« Ein ge- 
wichtiges Urteil in der Schriftfrage kommt den Korrektoren zu. In 
den Fach-Mitteilungen der Deutschen Korrektoren-Vereine vom 1. März 
1912 heißt es: »Jeder erfahrene Korrektor wird mir zustimmen, 
wenn ich behaupte, daß wir gerade mit den Lateinschreibern die 
größten Schwierigkeiten und deshalb von der Abschaffung der deut- 
schen Schreibschrift nichts besonders Gutes zu erwarten haben. Wohl 
gibt es auch massenhaft unleserliche Manuskripte in deutscher Schrift; 
aber daß man selbst bei schönen Handschriften viele Wörter ver- 
Zeitschrift für Kinderlorschung. 18. Jahrgang. 10 


146 A. Abhandlungen. 





schieden lesen kann — was für uns Korrektoren gerade das Schlimmste 
ist — das ist bei der deutschen Schrift nicht der Fall. Daß es in 
der lateinischen Schrift einen Unterschied zwischen n und u gebe, ist 
doch nur ein Schülermärchen. ... Ebenso besteht der Unterschied 
zwischen e und ce nur für Pedanten, manche Schönschreiber malen 
auch das 1 dem e so ähnlich wie ein Ei dem andern« usw. Die 
Stellung der Verleger zur Schriftfrage will ich hier nicht weiter be- 
rühren, aber darauf hinweisen, daß sie die deutsche Schriftkunst wieder 
mehr und mehr zu Ehren bringen. Indem ich dies schreibe, liegt 
mir eine Anzeige des Tempelverlages in Leipzig vor. Aus dieser 
Anzeige ist zu ersehen, daß der Tempelverlag seine Klassiker in einer 
neuen Fraktur erscheinen läßt, die einer der bekanntesten und be- 
deutendsten deutschen Buchkünstler, Professor E. R. Weiß gezeichnet 
hat. Aus der Rundfrage des Verlages über die Tempelfraktur seien 
einige kurze Stellen herausgehoben. Gerhart Hauptmann: »Die Fraktur 
von Weiß finde ich sehr schön und einheitlich, auch durchaus leicht 
lesbar, trotz einiger zu Anfang ungewohnteren Formen.«< Thomas 
Mann: »Aber die Weißsche Fraktur hat mich doch wieder gelehrt, 
wie viele Schönheitsmöglichkeiten in der deutschen Schrift erschlossen 
liegen und daß man in ihre, von manchem befürwortete Verdrängung 
durch die Antiqua nicht willigen darf.«e Viktor Ottmann: »Mir per- 
sönlich gefällt die Fraktur Ihrer Klassikerausgabe sehr gut, sie liest 
sich angenehm und bietet ein schönes Satzbild: ich glaube, daß vom 
Gesichtspunkt der Augenhygiene aus kaum ein Einspruch dagegen 
erhoben werden kann.s 

Nach diesen umfassenden Erörterungen gehen wir in den engeren 
uns eigentlich angehenden Kreis zurück, in die Schule, erst in die 
Normalen-, dann in die Hilfsschule, und beschäftigen uns zuerst mit 
der Frage: Alphabet, Schreibstundenzahl, Schriftschönheit? Lehrer 
Ries gab Ende 1911 eine diesbezügliche Aufklärung in der Ver- 
sammlung der Typographischen Gesellschaft von Frankfurt a. M. zur 
Erhaltung der deutschen Schrift. Er hatte sich Schreibhefte aus 
französischen Schulen schicken lassen und hat festgestellt, daß die 
französischen Kinder durch alle Klassen 3—4 Schreibstunden wöchent- 
lich haben und nicht weniger als drei verschiedene Arten von Latein- 
schrift schreiben lernen: Italienne, gewöhnliche und Rundschrift. 
Ebenso hat er im Schreibunterricht den Besuch eines Engländers ge- 
habt, der überrascht gewesen sei, wie schön die Kinder in ihren Auf- 
gabenheften trotz der geringen Zahl der Schreibstunden geschrieben 
hätten, und dies auch in einem schriftlichen Bericht über seinen Be- 
such veröffentlicht habe. Es ergibt sich darnach, daß sowohl die 


Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 147 
französischen als auch die englischen Kinder mehr Schreibstunden 
haben als unsre und trotzdem nicht so gute Ergebnisse erzielten. 

Kann man sich nach den bisherigen Darlegungen der Meinung 
nicht verschließen, daß es doch wohl nicht tunlich sei, die Fraktur 
in Druck- und Schreibschrift aus der Schule zu verbannen und damit 
aus dem deutschen Leben überhaupt, daß wir wieder etwas ärmer 
wären an Volksgütern auf Kosten eines zweifelhaft Besseren, so dürfte 
die Forderung: die Antiqua in die Unterklassen! immerhin noch Be- 
rechtigung haben, wenn die Fraktur mit methodischen Forderungen 
der Neuzeit in Widerspruch stände, wenn die Fraktur, ich denke 
dabei an die Offenbacher Schwabacher, für die unterrichtliche Be- 
handlung Schwierigkeiten böte, die bei der Antiqua nicht erstehen 
würden. 

Aber man kann nicht behaupten: »Die Fraktur paßt nicht in die 
Arbeitsschule. Mit der Fraktur kann man nichts anfangen. Die 
Antiqua ist für die unterrichtliche Behandlung, für die Erfassung 
durch die Kinder, für das Gedächtnis, für die Erlernung des 
Schreibens usw. günstiger als die Fraktur.« 

Beschäftigen wir uns zunächst mit der Druckschrift. Die moderne 
Arbeitsschule fordert Handbetätigung, werkliches Tun. Ich habe 
manches Buch über Leselehrmethoden in der Hand gehabt, manche 
Ausstellung gesehen, in der dem Leseunterricht ein Platz gegeben 
war; wenn aber Antiqua verwendet wurde, so erstreckten sich die 
werkunterrichtlichen Maßnahmen meist auf Stäbchenlegen. Die An- 
sicht, daß man nun Fraktur in solcher Weise nicht ausbeuten könne, 
hat dieser Schriftart für Verwendung im Werkunterricht entschieden 
geschadet. Damit ist ihr Unrecht widerfahren. Es gibt im Fraktur- 
alphabet eine große Anzahl Buchstaben, die sich mit Stäbchen »ge- 
brochen«, somit ganz der Schriftart entsprechend legen lassen z. B. 
a, b, d, e, ei, f, g, h, i, k, l, m, n, 0, p, T, S, t, u, v, w. Das Fraktur-a 
läßt sich recht gut mit vier kurzen und einem mittellangen Stäbchen 
legen usw. Dazu kommt noch, daß die Neuzeit eine ganze Reihe 
Arbeitstechniken in den Unterricht gebracht hat: Tonformen, Erbsen- 
legen, Fadenlegen. Ausschneiden. Wo eine Tätigkeit die erwünschte 
Wirkung nicht erbringt, hilft eine von den andern aus. 

Ebenso ist es mit der Schreibschrif. Da wird nun vielerseits 
das Bogenschreiben als ein wesentlicher Vorteil gegenüber dem Ge- 
brochenschreiben gepriesen. Ich kann dieser Ansicht nicht beitreten. 
Ich habe in den Elementarklassen so viele o und a gesehen in den 
Heften, auf der Tafel, die nichts weniger als »rund« geschrieben 
waren. Und denken wir daran, wie schwer selbst den Kindern der 

10* 


148 A. Abhandlungen. 








Oberklassen das Lateinschreiben noch wird, wie die Lateinschrift- 
zensuren nicht besser, oft aber schlechter sind als die Deutschschrift- 
noten. Hält man sich dabei vor, daß doch die Kinder der Oberklassen 
durch Zeichnen usw. im Formensehen und Formendarstellen besonders 
geübt sind, so sollte man doch den Rückschluß, den Elementaristen 
müsse Lateinschrift leichter fallen als Deutschschrift, für gewagt 
halten. Eben in der Formenflüchtigkeit sehe ich einen Nachteil der 
Lateinschrift für die Elementaristen. 

Und welche Erfahrungen machen wir in der Hilfsschule Wir 
bekommen Kinder aus der Normalenschule herüber, die neben anderen 
Mängeln auch durch das Schlechtschreiben oder das Unvermögen zu 
schreiben den Verdacht erwecken, hilfsschulbedürftig zu sein. Was 
von diesen Kindern geschrieben ist, sieht in den gebrochenen Schrift- 
zeichen i, n, m usw. leserlich aus; bei den Buchstaben, die Bogen 
enthalten, beginnt das planlose Schreiben. Die Rundbuchstaben sind 
zu wenig richtungsklar, richtungsfest; Hand und Geist irren ab. Weil 
sich mir nun alljährlich dieselbe Tatsache bot, daß die Vorschüler 
namentlich mit der Führung der Bogen nicht zurechtkamen, also auch 
Buchstabenformen und Bogenteile nicht schreiben konnten, so arbeitete 
ich einen Lehrgang aus, der den Zweck hat, den Kindern die ver- 
schiedenen Möglichkeiten des Bogenansatzes an Senkrechte, Wage- 
rechte, Schiefe faßlich zu machen (Tafel C), und diese Ansatzübungen 
finden dann Verwendung für Vorübungen zum kleinen und großen 
Schwabacher Schreibschriftalphabet (Tafel D). Buchstabenbenennung 
gebe ich in der Vorstufe noch nicht. Jede Einzelform durchwandert 
folgenden Arbeitsgang. Die vielmalige Wiederholung bei andrer Tätig- 
keit hat mich manchen freudigen Erfolg sehen lassen: 

a) Die Form wird in Plastilin dargestellt. Ein Faden wird ge- 
rollt, dann wird die Form zu legen versucht. Diese Übung ersetzt 
das Fadenlegen. Kinder, die anfänglich einen Faden nicht rollen 
können, bekominen Unterstützung. Die Form wird so oft geübt, bis 
sie sitzt. 

b) Die Form wird in Ton dargestellt. Ein Tonfaden wird ge- 
rollt. Dann wird die Form gelegt. Ungeschickte Kinder arbeiten eine 
Form mit Unterstützung, eine Form aber ganz selbständig, möge diese 
Form ausfallen wie sie wolle. Die ohne Unterstützung gearbeiteten 
Formen werden auf weiche Tonplatten gelegt und angedrückt. Die 
Platten mit den Formen werden auf der Rückseite durch Tintenstift 
mit Namen versehen, vorn wird neben die Form, neben die selb- 
ständige aber mißlungene das Zeichen, das sie darstellen soll, gesetzt, 
neben die mit Hilfe erarbeiteten ein M H = Mit Hilfe geschrieben. 


Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 149 





Dann werden die Platten beiseite getan zum Trocknen. Aus diesen 
Tonplatten kann man sich für Ausstellungen, besonders aber zum 
Zweck des Studiums über eigene Lernwege der Hilfsschüler eine 
Sammlung anlegen. Plastilin wird ja immer wieder eingedrückt. Man 
sieht hierbei, daß man sich nicht nur für die eine oder andere Form- 
masse entscheiden muß, daß sie uns vielmehr beide, Plastilin und 


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Tafel C. Tafel D. 


Ton, willkommene Arbeitsmaterialien sein können. Welche Dienste 
der Ton uns für die Schreibvorübungen noch leistet, ersehen wir aus 
dem nächsten Abschnitt. Nur sei einer sehr förderlichen Detailübung 
aus dem Plastilinformen Erwähnung getan. Manche Kinder sind an- 
fangs nicht imstande, die einfachste Form aus der Plastilinschnur zu 
legen. Ihnen bilde ich die erste Form selbst und halte sie dann an, 
auf diese Form gewissermaßen stockwerkartig aufzubauen. Diese Übung 
findet auch immer Beifall. Nun zur weiteren Behandlung der Ton- 
platten. 


150 A. Abhandlungen. 








c) Die Tonarbeiten sind gewöhnlich, in die Sonnen- oder Ofen- 
wärme gelegt, am andern Tage ganz oder ziemlich trocken. Nun 
kommt die Farbe an die Reihe. In der von mir bestimmten Be- 
wegungsrichtung fahren die Kinder mit dem von Deckfarbe gefüllten 
Pinsel in einem Zuge über die auf der Tonplatte liegende Tonform. 
Das kann solange wiederholt werden, bis die Farbe kräftig genug auf- 
getragen ist, und bis ich an der Sicherheit der Bewegungsdurchführung 
merke, daß die Form in ihrer Bewegungsfolge erfaßt ist. Diese Übung 
kann auch, falls die Tonformen für den Anstrich noch nicht trocken 
genug sind, nach der nächsten erst vorgenommen werden. 


d) Diese Übung bringt die Schriftform an der Tafel. Da ich in 
meinem Unterrichtszimmer leider nicht über Wandlinoleum verfüge, 
können nur zwei Kinder zur Übung an die Tafel treten. Die andern 
stehen im Kreise und sehen zu. Mit Buntkreide schreibe bezw. male 
ich die Form in breiten Bahnen an die Tafel. Die Kinder ziehen die 
Form mit weißer Kreide nach, dabei steigere ich das Übungstempo. 
Dann lasse ich die Kinder zurücktreten und die Form in der Luft 
nachfahren. Endlich wird die Tafel gewendet und die Form ohne 
Vorbild in die Luft und auf die Tafel geschrieben. Die Übungen 
werden nach Möglichkeit abwechselnd links- und rechtshändig aus- 
geführt. Ob das beidhändige Üben irgend welchen Einfluß auf die 
Hirnentwicklung hat, vermag ich nicht zu entscheiden, für das Formen- 
erfassen ist es aber sicherlich gut. 

e) Die nächste Übung besteht darin, daß ich den Kindern die 
Form auf den Tisch schreibe mit Kreide. Die Kinder legen die Form 
mit bunten Halberbsen nach. Dann wird die Kreide weggelöscht und 
die Anordnung der Erbsen aus dem Gedächtnis nach Maßgabe der 
Form vorgenommen. 


f) Mit dieser Übung wird dem Buntpapier sein Recht. Mit dem 
Lochapparat zum Selbsthefter stanze ich aus gummiertem Glanzpapier 
Konfetti. Auf Packpapier schreibe ich die Form mit Bleistift vor, die 
Kinder überkleben in der Bewegungsrichtung die Form mit Konfetti. 
Die fertigen Arbeiten sehen geschmackvoll aus. Die Übung macht 
den Kindern Freude, und man hat Gelegenheit, die Kinder an be- 
stimmte Farbenfolgen zu gewöhnen. 

g) Nun nehmen wir Heft und Stift. Die Geschickteren finden 
sich ins Liniensystem, die Mindergeschickten schreiben »ohne Linien«. 

h) Für die Sammlung wird die Form endlich auf Zettel ge- 
schrieben. Jedes Kind hat einen Briefumschlag. Dahinein kommen 
die beschriebenen Zettel. Am Jahresende heftet sie Nachbar Buch- 


Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 151 





binder mit der Drahtheftmaschine zu einem Block zusammen, der 
Namensaufschrift, Jahreszahl und sonstige Bemerkungen erhält. 

i) Eine Übung sei noch beschrieben, die zwischen f und g ein- 
geschaltet werden kann und das freie Schreiben vermittelt. Die Kinder 
bekommen kleine weiße Zettel, auf die ich mit Tinte die Schriftform 
schreibe. Die Kinder schieben diesen Zettel unter Streifen von durch- 
sichtigem Papier und ziehen die Form mit Bleistift darauf nach. 

Auf diese Weise führe ich die Kinder über die schwere Stelle 
des Bogenschreibens weg, möchte aber wahrhaftig nicht einer Schriftart 
das Wort Reden, die noch ein weiteres Drittel Bogen mehr enthält 
als die Fraktur nach Dresdner Duktus. Und die Antiqua ist bekannt- 
lich reicher an Bogen als die Fraktur, eben um etwa ein Drittel. Im 
kleinen Alphabet, das zuerst geübt werden soll, gestaltet sich das 
Verhältnis der Bogenzahl fast wie 1:2. Ich halte Antiquaschreib- 
schrift der Lernweise der Hilfsschulkinder weniger entsprechend als 
die Fraktur, namentlich für den ersten Lese- bezw. Schreibunterricht. 

Und noch ein kurzes Wort zum Schluß über das Verhältnis von 
Antiqua- und Frakturdruckschrift zum Werk- und Hilfsschulunterricht. 

Für den ersten Leseunterricht in der Hilfsschule müssen wir ein 
Alphabet fordern, das leicht erfaßt und im Gedächtnis behalten wird. 
Nun macht man dem Frakturalphabet die Schnörkel und Anhängsel 
zum Vorwurf und rühmt die vornehme Klarheit der Antiqua. Ich 
möchte diese Vornehmheit Kälte nennen. Unsre Fraktur, ich denke 
immer an die Offenbacher Schwabacher, hat etwas Zutrauliches an sich, 
es läßt sich leicht etwas in sie hineindichten. Die Winkel und Verstecke 
raunen unsern Schwachen Merkhilfen zu. An den glatten Rundungen 
der Antiqua sucht das Auge vergebens einen Anhalt, ein Merkzeichen; 
das Denken rutscht am Glasberg hinunter ins Meer des Vergessens. 
Auf wie manche Buchstabengeschichte müssen unsre Schwachen ver- 
zichten, denn mit den geometrischen Lateinbuchstaben ist weniger 
anzufangen als mit der Fraktur. Und Stäbchenlegen allein tut es 
nicht, um mit der Form den Laut behaltbar zu machen. Es muß 
die Buchstabengestalt in ein Milieu hineingestellt werden, das mit 
seinem Auftreten mit erwacht und den Laut erstehen läßt. Eigen- 
artig, dies nur nebenbei, berührt es mich auch immer, wenn ich 
Antiquarundformen gebrochen gelegt sehe wie beim R = K- Da 
rühmt man die Rundform und benutzt Eckenform. 

Es sei dem wie ihm wolle, mich hat die Erfahrung gelehrt, daß 
Fraktur (Schwabacher) für den ersten Hilfsschulleseunterricht weit ge- 
eigneter ist als Antiqua. Auf ihre Vorteile für die Lautentwicklung 
kann ich hier nicht näher eingehen, darüber Ausführliches ein andermal. 


152 B. Mitteilungen. 





Auch für unsre Hilfsschulkinder möchte ich am Schluß ein Wort 
von Goethes Mutter an ihren Sohn (Brief vom 25. Dezember 1807) 
geltend machen: 
Darum solange es geht — 
Deutsch, 
Deutsch geredet, geschrieben und gedruckt. 


B. Mitteilungen. 


1. Über die Grundlagen des modernen Taubstummen- 
unterrichtes. 

Von Karl Baldrian, Direktor an der n.-ö. Landes- Taubstummenanstalt 

in Wr.-Neustadt. 

Die moderne Taubstummenbildung fußt ungleich mehr als jede 
Bildungsbestrebung für Hörende auf dem vornehmsten Erziehungsmittel, 
dem Unterrichte, und zwar auf dem ganz eigenartigen, künstlichen Laut- 
sprachunterrichte der Taubstummenschule, der diese zu einer Sprachschule 
im wahrsten Wortsinne macht. 

Sollen die Grundlagen des modernen Taubstuinmenunterrichtes klar 
gelegt werden, so müssen die Ziele der dem Zöglinge künstlich zu ver- 
mittelnden Sprachbildung wie die Art der Mittel zur Erreichung dieses 
Zieles und deren Anwendung besprochen werden. 

Was ist nun Ziel des Lautsprachunterrichtes in der Taubstummenschule? 

Kein anderes als das, den Gehör- und deshalb Sprachlosen in den 
Besitz der Wortsprache in Laut- und Schriftform zu bringen. 

Und zu welchem Zwecke? 

Um ihm zu ermöglichen, daß er mit der hörenden, sprechenden Welt 
in laut- und schriftsprachlichen Verkehr treten könne, und daß er durch 
die Wortsprache gebildet werde. 

Der »Taubstumme« soll sich der Wortsprache der hörenden Menschen 
seiner Umgebung bedienen lernen. Das heißt, er soll selbst sprechen und 
reden und das gesprochene Wort anderer auffassen und erfassen oder ver- 
stehen lernen. 

Hat der »Taubstumme« sich die Fähigkeit erworben, mit Hörenden 


sprachlich zu verkehren, dann ist er im Besitze — wenn auch bloß im 
teilweisen Besitze der Lautsprache. 
Gleich hier muß gesagt werden — um keine falsche Meinung ent- 


stehen zu lassen —, daß der eigentliche Taubstumme, d. i. derjenige, der 
wegen vollständiger Gehörlosigkeit sprachlos geblieben ist, selbst bei guter 
geistiger Veranlagung und vollständig zweckentsprechenden Unterrichts- 
maßnahmen sich nicht jene Sprachbeherrschung erwerben kann, zu der 
unter gleichen Umständen der Hörende gelangt oder auch der Taub- 
stumme selbst gelangt sein würde, wenn er das Glück gehabt hätte, 
hörend geboren worden zu sein. 


1. Über die Grundlagen des modernen Taubstummenunterrichts. 153 





Dies hindert aber nicht im geringsten, den hohen Wert der auf künst- 
lichem Wege zu erreichenden unvollständigen Sprachbildung des »Taub- 
stummen« für die Praxis des Lebens wie für seine geistige und sitt- 
liche Bildung voll anzuerkennen und zu würdigen. 

Was eben die Natur versagt hat, kann auch die größte Kunst nicht 
voll ersetzen. 

Wie soll nun der Gehörlose und deshalb Stumme in den Besitz der 
Lautsprache gelangen, wenn ihm der natürliche Weg zur Erwerbung der- 
selben, der durch das Ohr nämlich, verschlossen ist? 

Mit anderen Worten: Wie gestaltet sich der künstliche Weg der 
Spracherlernung? Die Antwort auf diese Frage bringt folgende Ausführung: 

Der Taubstumme muß vor allem das Lautliche der Wortsprache auf 
denı Wege des Absehens und Abfühlens nachahmen und aus den Sprech- 
bewegungen des Redenden durch das Auge das entnehmen lernen, was 
zu ihm gesprochen wird. 

Das Lautliche der Sprache, das ist Bilden der Sprachlaute, ihrer 
Verbindungen zu Silben, Wörtern und Sätzen, wie das Absehen- oder 
Ablesen-Lernen der Laute, Silben, Wörter und Sätze vermittelt dem Taub- 
stummen der Artikulations- oder Lautierunterricht. 

Der Taubstumme ist nach beendigtem Artikulationsunterrichte nicht 
mehr »stumme«; er ist durch ihn »entstummt« worden und daher dann 
»taubsprechende. 

Parallel mit der Entstummung schreitet das Ablesen-Lernen des Ge- 
hörlosen fort, der im Absehen des gesprochenen Wortes im Verlaufe der 
Übungen zu stets wachsender Fertigkeit gelangt. 

Aber auch die Ablesefertigkeit hat ihre Grenzen und kann nie das 
Erfassen der Rede durch das natürliche Aufnahmstor, durch das Ohr, 
ganz ersetzen. 

Doch muß gesagt werden, daß intelligente Taubstumme eine erstaun- 
liche Virtuosität im Ablesen des Gesprochenen erlangen können. 

So vermittelt also der Artikulationsunterricht das Äußere der Laut- 
sprache, das für den Hörenden vornehmlich hörbar, für den Gehörlosen 
aber nur sichtbar und fühlbar ist. 

Damit aber der Entstummte auch das Innere der Sprache, deren Geist 
und Form, erkennen, verstehen und selbst anwenden oder gebrauchen lerne, 
ist es nötig, daß ein besonderer Taubstummen -Sprachunterricht, der Ele- 
mentarsprachunterricht der Taubstummenschule, dies anbahne. 

Dieser hat vor allem das Bedürfnis des kindlichen Geistes nach 
sprachlicher Äußerung zu berücksichtigen und daher das zu seinem Gegen- 
stande zu machen, was das Kind erlebt, was sich für und durch dasselbe 
ereignet, was in seiner Gegenwart und Umgebung geschieht und vorgeht. 
Dabei kommt es hauptsächlich darauf an, daß der Gedanke, dem das Kind 
allereinfachstes Sprachgewand geben will und soll, und die sprachliche 
Form im Bewußtsein des kleinen Sprach- Sprechschülers zu einem orga- 


1) Damit soll keineswegs gründliches Seelenstudium als entbehrlich hingestell 
werden. 


154 B. Mitteilungen. 








nischen Ganzen verwachse, daß beides, Denken und Sprechen, eine Ein- 
heit werde: das Denken in der Sprache, das Denksprechen und Sprach- 
denken. 

Ob nun der Vorgang im Elementarsprachunterricht im Kopfe des 
Unterrichtenden diesem oder jenem System entspricht und diesen oder 


jenen Namen führt — Anschauungsunterricht, verbundener Sach- und 
Sprachunterricht, Umgangssprachunterricht, freier Sprachunterricht oder 
sonst einen anderen — ist ganz und gar gleichgültig. Das sprachlose 


Kind lernt nicht eher und nicht leichter sprechen, ob der Lehrer sein 
Vorgehen nun so oder anders auffaßt und benennt.!) Es verlangt keine 
fein ausgeklügelte Systematik und Benennung des Unterrichtsverfahrens, 
wohl aber in diesem unter allen Umständen eines und das ist: Eingehen 
in die kindliche Anschauungs-, Denk- und Fühlart, d. i. psychologisch 
durchdachtes Darbieten interesseerweckenden Stoffes in einfachster Form, 
damit sich der kleine Sprach- und Sprechschüler Sprachinhalt und Sprach- 
gewand durch eigene Seelenarbeit mit Lust und Freude, den einzig wahren 
Triebkräften für die künstliche Sprachaneignung, erwerben könne. Die 
Kunst eines wahrhaft guten Unterrichtes liegt demnach darin, die besten 
Vorbedingungen für eine leichte und nachhaltig wirkende Spracherwerbung 
durch den Schüler selbst schaffen zu können. 

Der auf Grundlage der Anschauung aufgebaute Elementarsprachunter- 
richt hat durch 3—4jährige emsige Übung und Gewöhnung im Schüler 
der Taubstummenschule die Basis für jede weitere Spracherlernung und 
ein, wenn auch formell und inhaltlich beschränktes, doch freiverfügbares 
Verkehrsmittel für den sprachlichen Umgang mit der vollsinnigen Mensch- 
heit zu schaffen. 

Der Elementarsprachunterricht, der also zum lebendigen Gebrauche 
der Lautsprache zu führen hat, ist seiner inneren Natur nach einerseits 
Begriffs- und Denkunterricht, andererseits Sprachformenunterricht. 

Die stete Rücksichtnahme auf das Äußere der Sprache, das Lautlich- 
Technische, das der gehörlose Schüler wegen seines Gebrechens nicht selbst 
zu kontrollieren vermag, und auf ihr Inneres, das Begrifllich-Geistige wie 
Logisch-Sprachformelle, im gesamten Sprachunterrichte und Unterrichte der 
Taubstummenschule überhaupt, bildet das Wesentliche und Schwierige des 
modernen Taubstummenunterrichtes. 

Dabei kommt vornehmlich in Betracht, daß sowohl die Denk- als 
auch Ausdrucksweise des Taubstummen durch den Lautsprachunterricht 
umgestaltet werden muß. 

Der noch nicht in der Lautsprache und durch sie unterrichtete Taub- 
stumme denkt in Erinnerungsbildern sichtbarer Wirklichkeitserscheinungen 
und Vorgänge, die er durch hinweisende und nachahmende Zeichen, durch 
die Gebärde »andeutend«, oft auch »plastisch« wiederzugeben, also aus- 
zudrücken sucht. 

Des Taubstummen Denken wie sein Ausdruck hierfür haftet ursprüng- 
lich an der Wirklichkeit, ist deren Spiegelbild und entbehrt jeglicher wort- 
sprachlichen Einflüsse, da die Wortsprache für ihn solange nicht bestelıt, 
bis sie ihm künstlich angebildet wird. 





1. Über die Grundlagen des modernen Taubstummenunterrichts. 155 


Der Vollsinnige denkt in der Lautsprache und drückt sich in ihr 
und durch sie aus. 

Soll nun auch der Gehörlose in der Wortsprache und durch sie sich 
ausdrücken lernen, so muß er dahin gebracht werden, daß er 1. sein ur- 
sprüngliches Denken in Bildern der Wirklichkeitserscheinungen entweder 
ganz aufgebe oder doch wenigstens dieses mit den sprachlichen Trägern 
der Begriffe, den Wörtern und Sätzen, innig verbinde, und 2. daß er 
statt der Wiedergabe seines Denkinhaltes durch die darstellende Hand, 
die »sprechende« Miene und sein ganzes »Gebahren« das für ihn aller- 
dings nicht hörbare, sondern nur durch die Sprechmuskelempfindung wahr- 
nehmbare Sprechen wähle. 

Daß diese kurz angedeutete Umbildung des Denk- und Ausdrucks- 
vorganges im Taubstummen möglich ist, hat der moderne Taubstummen- 
unterricht an Tausenden von Gehörlosen gelehrt, und er zeigt es fort und 
fort an einer stetig wachsenden Zahl taubstummer Schüler und zwar 
immer eindringlicher durch stets höhere und schönere Erfolge in der 
Sprachausbildung »Entstummter«. 

Er zeigt aber auch und wird es ewig zeigen, daß dem Denkenkönnen 
des Taubstummen in der Sprache, also dem Sprachdenken, und dem 
Sprechen mit Denken, d. i. Denksprechenkönnen, eine bei den Individuen 
verschieden lang dauernde Periode vorangeht, in der das ursprüngliche 
Denken des Taubstummen mit dem Sprachdenken und die Gebärde mit 
dem Sprechen einen mehr oder minder intensiven Kampf — die Intensität 
desselber hängt von mancherlei Umständen ab, als da sind: Intelligenzgrad 
des Schülers, das Milieu, in dem er lebt, Konsequenz des Sprachlehrers 
u. dgl. — führen. 

Soll in diesem Kampfe die Lautsprache Siegerin werden, so muß so 
früh wie möglich der Lautsprachunterricht beginnen, damit das Denken in 
bloßen Erinnerungsbildern der Wirklichkeitserscheinungen, also ohne 
Assoziation mit den sprachlichen Begriffsträgern, wie die Gebärde im 
Taubstummen nicht durch allzugroße Übung zur tiefsten Gewohnheit werde 
und damit sobald als tunlich Sprachdenken und Sprechen in Anwendung 
und Gebrauch kommen. »Jung gewohnt, alt getan« und »früh übt sich, 
wer ein Meister werden will« sind auch für die Überwindung der physio- 
logisch-psychischen Schwierigkeiten bei der künstlichen Sprachaneignung 
Wahrworte von tiefster Bedeutung. 

In »Fleisch und Blut« wird aber Sprachdenken und Denksprechen 
nur dann »übergehen«, wenn sie in allen Lebenslagen, also nicht etwa 
bloß während des Unterrichtes, sondern auch und besonders im Verkehre 
mit allen Menschen in der Umgebung des Sprachlehrlings zur Anwendung 
kommen, anfangs sporadisch, je später aber, desto häufiger und umfangreicher. 

Ist dann endlich, nach ungefähr 6—8jähriger Übungszeit dem »Taub- 
stummen« die Denk- und Ausdrucksform der Vollsinnigen zur »zweiten 


Nature — seine »erste« ist das Denken in Bildern und die Gebärde — 
geworden, dann kann durch die Lautsprache der Sprachschüler in aus- 
giebigster Weise — weniger tiefgehend kann es auch schon in früheren 


Jahren geschehen — aus dem Gebiete der Sachlichkeit des Sprachstoffes 


156 B. Mitteilungen. 





in die unbegrenzten Regionen des rein Begrifflichen emporgehoben werden, 
wobei der Intelligenzgrad des Schülers den Haltepunkt angibt. Leider muß 
aus ökonomischen und sozialen Gründen — der Taubstumme, der durch 
seiner Hände Fleiß seinen Unterhalt finden soll, muß frühzeitig genug zur 
Erlernung eines Handwerks kommen — der Unterricht nach längstens 
Sjähriger Dauer abgebrochen werden, also zu einer Zeit, da die Laut- 
sprache im Geiste des Schülers erst recht lebendige Wurzeln geschlagen 
hat, da sie als Erklärungsmittel für Höheres im Geistes- und Sprachleben 
erst leicht und intensiv zur Anwendung kommen könnte. 

Aus dem Gesagten ergibt sich, daß die moderne Taubstummenschule 
im Vergleiche mit der »alten«, die ibre Schüler lehrte, sich durch Ge- 
bärde (und Schrift) auszudrücken, also keine Umbildung des Denkvorganges 
in solcher Tiefe, wie es durch die moderne Schule geschieht, zu erzielen 
suchte, ein ungleich schwierigeres Stück Arbeit zu vollbringen hat. 

Dafür kann sie aber auch nicht bloß Denken, sondern auch Fühlen, 
Wollen und Handeln ihrer Schüler und Zöglinge intensivst — auf laut- 
sprachlichem Wege — beeinflussen und bilden. 

Um Zweifel auszuschließen sei noch beigefügt, daß die moderne 
Taubstummenschule neben und mit der Pflege der Lautform der Wort- 
sprache auch die Schriftform derselben — Niederschreiben von Gedanken 
und Lesen in Schrift niedergelegter Gedanken — übt, aber vornehmlich 
im Dienste der Erlernung der Lautform der Sprache. 

Daß die Denkform in Bildern, ohne Verknüpfung des Gedachten mit 
Worten, und die in der Lautsprache grundverschieden sind, ist zwar nicht 
demonstrierbar — weil psychische Vorgänge überhaupt nicht darstellbar 
sind —, wohl aber unschwer »auszudenken«. 

Der wichtigste Anhaltspunkt für die Gedankenfolge hierbei liegt im 
Vergleiche der aus der Verschiedenartigkeit der beiden Denkformen sich 
ergebenden Unterschiede ihrer Ausdrucksformen: der Gebärde und des 
Sprechens in Sätzen. Beide sind durch sinnlich wahrnehmbare Vorgänge 
erkennbar und ohne Spekulation oder indirekte Schlußfolgerung analysierbar. 
Die Resultate der Analyse sind dort: Wort- und satzformenlose Aneinander- 
reihung von Gebärdenzeichen ohne bestimmte Folge, hier: Verwendung von 
Wortformen (Deklination, Konjugation, Komparation, Kopula) zur Dar- 
stellung der Beziehungen der Begriffe aufeinander (Urteile) und die An- 
wendung von Satzformen (Gebrauch der Konjunktionen) zur Bezeichnung 
der Gedankenbeziehungen (Schlüsse, Folgerungen) sowie die gesetzmäßig 
bestimmte Wortfolge. 

Zwei einfache Beispiele mögen durch Gegenüberstellung das Gesagte 
beleuchten: 


1. für Begriffsbeziehung: 


Lautsprachform: »Du bist brav.« Die Begriffe »du« und »brave« er- 
halten durch die Kopula den Ausdruck ihrer bestimmten Beziehung. Die 
bestimmte Wortfolge »Du, bist, brav« gibt den Charakter der Aussage 
wieder und unterscheidet sich von der Frage- oder Befehlsform (Bist du 
brav? Sei [du] brav!) 





1. Über die Grundlagen des modernen Taubstummenunterrichts. 157 





Gebärde: Zeichen für »du«, d. i. Hinweis auf die angesprochene 
Person und Zeichen für »brav«, d. i. Streicheln der eigenen rechten Wange 
mit der eigenen Rechten. Die beiden Zeichen können auch in umgekehrter 
Folge erscheinen, ohne daß der Sinn geändert würde. 

Erst die fragende Miene oder der warnend erhobene Zeigefinger der 
Rechten würden Frage oder Befehl ausdrücken helfen. 

2. für Gedankenbeziehung: 

Lautsprache: »Du darfst heute nicht spazieren gehen, weil du un- 
folgsam warst.« Die Angabe der in der Gebärde verwendeten Zeichen 
für diese Gedankenfolge läßt ohne weiteres erkennen, daß Wort- und Satz- 
formen in der Gebärde vollständig fehlen. 

Gebärde: Zeichen für »du« (wie oben) für »heute« d. i. konventionell ` 
geübte, wiederholte Abwärtsbewegung des Zeigefingers der Rechten, Zeichen 
für »spazieren gehen«, d. i. Nachahmen des Ausschreitens der Beine mittelst 
Zeige- und Mittelfinger der Rechten in der Luft, Zeichen für »nichte, d. i. 
die auch von Hörenden verwendete Handbewegung der Verneinung, Zeichen 
für »du« und für »unfolgsam«, d. i. Trotz anzeigende Rückbewegung des 
Kopfes. Es kommt daher weder »dürfen«, noch weniger die 2. Person 
dieses Verbs, auch nicht das Hilfszeitswort »sein«, also auch nicht eine 
Zeit- oder Personenangabe desselben, nicht das »Binde«wort »weil« und 
nicht die im Nebensatze auftretende Inversion zum Ausdrucke. 

Stellt man die Verschiedenartigkeit der laut- uud gebärdensprachlichen 
Ausdrucksformen einander gegenüber, so ergibt sich daraus wohl von 
selbst, daß die Umbildung der Ausdrucksfähigkeit in der höchst un- 
zureichenden Gebärdensprachform in die der fein systemisierten Laut- 
sprachform im Taubstummen ein äußerst schwierig zu lösendes päda- 
gogisches Problem bildet. 

Noch schwieriger gestaltet sich die Umformung der der Ausdrucks- 
form zugrunde liegenden Denkform, die erst durch konsequente Übung in 
der Umbildung der Ausdrucksform zur Wahrheit wird. 

Faßt man schließlich zusammen, was nötig ist, um den Taubstummen 
die Wortsprache der Hörenden zu lehren, so ergibt sich, daß die Grund- 
lagen hierzu sind: 

1. Der Artikulations- und Ableseunterricht, mit dem der erste 
Schreib- und Leseunterricht einhergeht, 

2. der sogenannte Begriffsunterricht, der sich mit der Erklärung 
des geistigen Inhaltes der Sprache befaßt, also nicht bloß mit der Klar- 
stellung der Begriffe, sondern auch mit der Urteils- und Schlußbiklung und 

3. der Sprachformenunterricht, der nicht als »Sprachlehre«, 
sondern als ein lebendiger Sprachformen-Anschauungsunterricht dem Schüler 
die sprachlichen Erscheinungen für den Ausdruck der Beziehungen der 
Begriffe und Gedanken zueinander erklärt und sie ihn anwenden lehrt. 

Nur eine völlige gegenseitige Durchdringung dieser drei gleichwichtigen 
Zweige des künstlichen Lautsprachunterrichtes in der Praxis kann eine 
gediegene Sprachbildung bewirken, die sicherste Gewähr und das zweck- 
dienlichste Mittel zur Erreichung einer menschenwürdigen Geistes-, Herzens-, 
Willens- und Charakterhebung und -veredlung des Gehörlosen. 


158 B. Mitteilungen. 





2. Die Rachensprache der Kehlkopflosen. 
Von Lehrer Karl Nickel, Beriin. 


Die rein mechanische Sprechtätigkeit vollzieht sich unter normalen 
Umständen derart, daß der in der Lunge in Spannung versetzte Exspirations- 
strom die Stimmbänder des Kehlkopfes in Schwingung versetzt. Die 
daraus resultierende Stimme erfährt durch Gestaltsveränderung des Ansatz- 
rohres ihre vokalische und zum Teil konsonantische Modifikation. Der 
Exspirationsstrom entweicht bei der Vokalbildung unter vollständigem 
Choanenverschluß hindernislos aus der Mundhöhle; bei den Konsonanten 
dagegen muß er behufs Hervorbringung des ihnen eigenen Geräusches in 
dem Mundkanal eine Enge passieren oder auf einen Verschluß stoßen. 
Das exakte Zusammenwirken der einzelnen Teile des Sprechapparates läßt 
dann die Darstellung der lautlichen Seite der Sprache wie aus einem Guß 
erstehen. Danach müßte schon bei Ausschaltung des stimmerzeugenden 
Faktors im menschlichen Sprechmechanismus die Darstellung von Lauten 
und Lautkomplexen als anatomische Unmöglichkeit erscheinen. 

Bei totaler Entfernung des Kehlkopfes lassen die Ärzte aus mancherlei 
Gründen das obere Ende der Luftröbre in der vorderen Wand des Halses 
nach außen münden. Dadurch wird jede Kommunikation zwischen Lungen- 
luft und Rachenhöhle aufgehoben, so daß der aus der Lunge tretende 
Exspirationsstrom nutzlos entweicht und für die Stimmbildung keine Be- 
deutung mehr hat. Auch bleiben in diesem Falle die Mund- und Nasen- 
höhle als natürliche Atmungswege für die Lungentätigkeit ausgeschaltet. 
Somit kommen zwei für die Lautbildung notwendige Faktoren: der 
Kehlkopf als stimmbildendes und die Lunge als lufterzeugendes Sprech- 
werkzeug in Wegfall. Mithin bleiben für die Erlernung der Rachensprache 
nur die modifizierenden Sprechwerkzeuge intakt. Ihnen fällt die Aufgabe 
der Lufterzeugung, der Rachenstimmbildung und der Lautgestaltung zu. 

Nach einem allgemeinen physikalischen Gesetz füllt die Luft jeden 
sich ihr bietenden Raum aus. Infolgedessen sind auch Nasen- und Mund- 
höhle dieser Patienten ständig mit Luft gesättigt. Die nun bei den Sprech- 
bewegungen des Artikulationsmechanismus nachdringende Luft wird ver- 
möge der Rachen- und Mundmuskeltätigkeit durch die Artikulationsstellen 
hindurchgepreßt und in dem am oberen Ende der Speiseröhre sich all- 
mählich bildenden Luftsack gesammelt. Dadurch gewinnt das zum Sprechen 
notwendige Luftvolumen, das naturgemäß anfangs gering ist, an Quantität. 
Dieses Luftquantum, das mit Hilfe der Schlundmuskulatur in Bewegung 
gesetzt wird, ruft eine Vibration der sich beim Sprechakte nähernden 
Schleimhautfalten der Rachenwände hervor und erzeugt auf diese Weise 
die »Pseudostimme«. Diese wird durch zweckentsprechende Stellung des 
Ansatzrohres lautlich modifiziert. Je mehr Luft geschluckt wird, um so 
größer wird der Luftsack (Windkessel), um so lauter und anhaltender die 
Rachenstimme. Wird z. B. von seiten des Patienten ein größeres Quantum 
verschluckter Luft unwillkürlich ausgestoßen und spricht derselbe während 
eines solchen Ruktus, so sind die Worte laut und deutlich zu vernehmen. 

Im August 1888 erregte die spontane Sprache eines Patienten von 


2. Die Rachensprache der Kehlkopflosen. 159 





H. Schmidt in Stettin bei fehlender Kommunikation zwischen Lungenluft 
und Rachenhöhle allgemeines Erstaunen. Nach Landoir wurde diese 
Sprache Pseudostimme genannt. Was nun dieser Patient instinktiv durch 
akkomodative Anpassung und Übung erreicht hatte, suchte man den er- 
folgreich Operierten durch zweckentsprechende Artikulations- und Sprach- 
übungen in denkbar vollkommenster Weise zu verschaffen. So mehrten 
sich die Fälle, in denen die Pseudostimme sprachlich vortrefflich angewandt 
wurde. Auch ich habe mehrere Patienten von Gluck-Sörensen in der Er- 
lernung der Rachensprache unterrichtet und alle sind wieder in ihr Be- 
rufsleben, das bei einigen Herren sogar weitgehende mündliche Verhand- 
lungen bedingt, erfolgreich eingetreten. 

Zur Frage der Methodik sei kurz folgendes erwähnt. Nachdem einige 
Vorübungen zum Sprechen mit dem Artikulationsmechanismus angestellt 
sind, schreite ich sofort zur Forcierung der Pseudostimme. Zunächst 
kommen solche einsilbigen Lautverbindungen zur Übung, deren Konsonanten 
im An- und Auslaut dem 1. und 3. Artikulationsgebiete angehören. Bei 
den sich anschließenden zweisilbigen Lautzusammensetzungen ist der An- 
fangskonsonant der 2. Silbe ein Explosivlaut des 2. Artikulationsgebietes. 
Neben diesen Silbenreihen, die an Umfang zunehmen und direkt zum 
Ziele steuernde Zusammensetzungen enthalten müssen, gelangen mehr- 
silbige konsonantenreiche Wörter zum Sprechen, mit denen gleichzeitig 
Sätze gebildet werden. Die Reihenfolge der Übung hat nach didaktischen 
Grundsätzen und nicht nach von Sprachforschern aufgestellten Systemen 
zu erfolgen. Die jeweilige Adaptationsfähigkeit und die Individualität des 
einzelnen Patienten erfordert auch hier die größtmöglichste Berücksichti- 
gung. Von Leseübungen während der Unterrichtsstunden nehme ich 
möglichst Abstand; sie erschweren die Kontrolle der beim Sprechakte auf- 
tretenden Fehler. Die Rachenstimme erlernt der Patient oft in ver- 
blüffender Weise recht früh, während die Stärke der Stimme und die Be- 
herrschung der technischen Sprechschwierigkeiten erst nach längerer Übung 
eintreten. Je fleißiger und gewissenhafter aber der Geheilte übt und jede 
sich ihm bietende Gelegenheit zum Sprechen ausnützt, desto früher wird ihm 
die Sprache geläufig werden. Vor Übertreibungen ist natürlich zu warnen. 

Um beim Sprechakte entstehende Nebengeräusche erfolgreich zu be- 
kämpfen, müssen die ersten Sprechübungen mit völliger Ausschaltung der 
Atembewegung der Brust gemacht werden. Dieses wird erreicht durch 
Festhalten der Inspirationsstellung. Daneben muß der Regulierung der 
zum Sprechen notwendigen Luft sowie der Herstellung der rechten Wechsel- 
beziehung zwischen Denk- und Sprechtätigkeit die größte Sorgfalt ge- 
widmet werden. So fördert man einerseits den Fluß der Sprache und 
beugt andererseits der Entstehung auffallender unnatürlicher Mitbewegungen 
der Mundmuskulatur vor, welche die Deutlichkeit und Natürlichkeit der 
Sprache sehr beeinflussen. Die Rachensprache steht zwar an Wohlklang 
unserer durch normale Sprechwerkzeuge erzeugten Sprache nach, setzt aber 
immerhin den Geheilten in den Stand, seiner beruflichen Tätigkeit voll- 
ständig nachgehen zu können. Selbst durch das Telephon können die sn 
Sprechenden verstanden werden. 


160 B. Mitteilungen. 





Durch die Erlernung der Rachensprache ist jedem Beteiligten ein 
Mittel in die Hand gegeben, sich seinem Lebensberuf und der mensch- 
lichen Gesellschaft als tätiges Glied zu erhalten. So verlieren die Kehl- 
kopfoperationen das schreckenbringende Moment, daß der Operierte dauernder 
Stummheit verfällt, und dankbaren Sinnes blicken die nunmehr Geheilten 
trotz der Größe des Unglücks, das sie betroffen, auf die Errungenschaft 
ärztlicher Kunst. 


3. Zeitgeschichtliches. 


Der erste selbständige Lehrstuhl für Pädagogik in Preußen ist durch 
die Ernennung von Alfred Rausch zum Dozenten für Bildungswesen und allge- 
meine Didaktik an der Universität Halle geschaffen. 

Eine »Wilhelm Wundt-Stiftung« in Höhe von 7000 Mark wurde Wundt 
zum 80. Geburtstag überreicht. Es soll damit ein Instrumentarium für psycho- 
logische Akustik und Phonetik für das Leipziger psychologische Institut beschafft 
werden. 

Den Wortlaut des Wundt zu seinem 80. Geburtstag vom Leipziger Lehrer- 
Verein überreichten Diploms über die Ernennung zum Ehrenmitglied des Psycho- 
logischen Instituts des Vereins in Leipzig nebst dem Dankschreiben Wundts ent- 
hält Heft 2 (November) des 24. Jahrgangs der »Neuen Bahnen«. Die Antwort 
Wundts ist besonders bedeutungsvoll, weil er darin mit klaren Worten seine 
Stellung zur experimentellen pädagogischen Psychologie kennzeichnet. 

Bringt materielles und soziales Aufsteigen den Familien Gefahren in rassen- 
hygienischer Beziehung? So lautet das Thema einer Preisaufgabe der Berliner 
Gesellschaft für Rassenhygiene. Als Preise sind 400 und 200 Mark für die 
beiden besten Arbeiten ausgesetzt. Nähere Auskunft erteilt Dr. Korff-Petersen 
in Charlottenburg, Marchstraße 15. 


An der Hochschule für Frauen in Leipzig (Königstraße 18) lesen unter 
anderm im laufenden Wintersemester 1912/1913: Privatdozent Dr. Brahn, »Ein- 
führung in die experimentelle Pädagogik«e und »Kinderpsychologische Übungen« 
(selbständige Beobachtungen an drei- bis sechsjährigen Kindern); Dr. Prüfer, »Die 
Erziehung des Kindes in den ersten sieben Lebensjahren«, »Besprechung moderner 
Erziehungsfragen«, »Friedrich Fröbels Grundzüge der Menschenerziehung von 1833«; 
Oberregierungsrat Dr. Dietrich, »Grundlagen der Fürsorgeerziehung« und »Übungen 
über ausgewählte Kapitel der Jugendfürsorge«; Sanitätsrat Dr. Taube, »Theoretische 
und praktische Säuglingspflege und Säuglingsfürsorge«. 

Ein Ausbildungskursus für Lehrer von Ausnahmekindern, ver- 
anstaltet von der National Association for the study and education of exceptional 
children, fand vom 8. Juli bis zum 17. August unter Leitung von Dr. päd. Maxi- 
milian P. E. Großmann statt. Wie wir einem uns zugegangenen Bericht entnehmen, 
sind die Kurse sehr erfolgreich verlaufen. Für das Winterbalbjahr ist ein mehr- 
monatlicher Kurs geplant, für den Sommer 1913 ein weiterer. 

Der Lehrerverband des dänischen Enthaltsamkeitsvereins veranstaltete einen 
Kursus in Gesundheits- und Alkohollehre, zu dem das Kultusministerium 
eine Beihilfe von 400 Kr. bewilligte. 


Der III. Deutsche Kongreß für Krüppelfürsorge findet zu Pfingsten 
1914 in Heidelberg statt. Zuschriften an die Geschäftsstelle der Deutschen Ver- 
einigung für Krüppelfürsorge E. V., Berlin W. 62, Bayreutherstraße 13. 

Ein internationaler Jugendfürsorgekongreß findet 1913 in Brüssel 
statt. Die einzelnen Sektionen werden sich befassen mit der Zuständigkeit der 
Jugendgerichte, mit der Schutzaufsicht für normale und anormale Kinder, mit der 
Berufsvormundschaft für uneheliche Kinder, mit der Vereinheitlichung der Methoden 
der Kindersterblichkeitsstatistik und mit der Propaganda der Kinderhygiene. Außer- 
dem wird gemeinschaftlich die Schaffung eines internationalen Jugendfürsorgeamtes 
besprochen. 


3. Zeitgeschichtliches. 161 


Die Stadtverwaltung von Köln plant für 1915 eine große Ausstellung, die 
unter der Bezeichnung »Das Kind« einen systematischen Überblick über die körper- 
liche und geistige Entwicklung des Kindes geben soll. 


Stiftungen, Schenkungen usw.: zur Errichtung eines Erholungsheims 
für lungenkranke Kinder erhielt der Kreis Neustadt (O.-Schl.) 150000 Mark. 

In Fulda wurde am 19. Oktober 1912 ein Krüppelheim für die Provinz 
Hessen-Nassau eingeweiht. 

Eine österreichische Gesellschaft für Schulhygiene hat sich auf An- 
regung und unter Vorsitz von Prof. Leo Burgerstein gebildet. Anmeldungen und 
Anfragen sind zu richten an Dr. Mathilde Gstettner, Wien VII, Neubaugasse 80. 
2 In Preußen können nach amtlicher Verfügung vorschriftsmäßig approbierte 
Arztinnen als Schulärztinnen an Mädchenschulen zugelassen werden. 


Der Reichskanzler bewilligte dem deutschen Zentralkomitee für Zahn- 
pflege in den Schulen eine einmalige Beihilfe von 5000 Mark, um eine Wander- 
ausstellung für Schulzahnpfiege einrichten zu können. 


Ein Merkblatt für Zahnpflege der Volksschulkinder ist im Selbst- 
verlag des Verfassers, Schularzt Dr. Carl Schmidt in Friedrichsfelde bei Berlin, 
erschienen und zum Preise von 1,50 Mark für 50 Stück zu beziehen. 


Die Notwendigkeit der Zahn- und Mundpflege in den Schulen wird 
in einem Erlaß der Regierung von Mittelfranken betont. Im Unterricht sollen Ge- 
sundheitsregeln über die Zahnpflege gelehrt werden. 


Das Pfleg- und Jugendfürsorgeamt in Leipzig hat am 9. Oktober 1912 
folgenden bemerkenswerten Erlaß bekannt gegeben: »Bei der Auswahl von Pflege- 
stellen für Kinder muß von uns gefordert werden, daß Familien nicht gewählt 
werden, in denen ein Familienmitglied zum Trunke neigt. Da Kindern alko- 
holische Getränke nicht verabreicht werden sollen, und da insbesondere kleine 
Kinder durch Alkoholgenuß schwer geschädigt werden können, ist es Pflicht aller 
bei der Kinderpflege und -aufsicht beteiligten Personen, der Verabreichung von 
Alkohol an Kinder entgegenzutreten.« 

Der Gemeinderat von Jena hat einstimmig beschlossen, in den städtischen 
Etat fortan eine bestimmte Summe einzustellen zur Aufklärung der Jugend 
über die Schädlichkeit des Alkoholgenusses. Und zwar sollen aufklärende 
Schriften in den oberen Klassen der Volksschulen, der Fortbildungsschulen und der 
städtischen Oberrealschule zur Verteilung gebracht werden. 

Ein Bewahrungsheim für Jugendliche ist in Frankfurt a.M. ein- 
gerichtet. Ein Einfamilienhaus in einem Vorort gewährt zunächst 13 Knaben oder 
Mädchen im Alter von 13 bis 16 Jahren Aufnahme. Die Einrichtung wurde er- 
möglicht durch eine Stiftung von 10000 Mark. 

Eine Kinderkolonie des sächsischen Volksheilstättenvereins für Lungen- 
kranke ist am Adelsberg in Oberhermersdorf eröffnet. Sie dient zur Aufnahme 
durch ihre Umgebung tuberkulös gefährdeter Kinder. Aufnahmegesuche sind an 
die Amtshauptmannschaft Chemnitz zu richten. 

Der Guttemplerverein für Ferienkolonien e. V. konnte im Sommer 
1912 rund 150 Kinder in Koloniepflege schicken. Außer 400 korporativen Mit- 
gliedern gehören dem Verein bald 1000 Einzelpersonen an. Zuschriften an die 
Geschäftsstelle, Hamburg 30, Eppendorferweg 265. 

Aus dem statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich, Jg. 33, 
1912 (Berlin, Puttkammer & Mühlbrecht, 1012. XXXIH u. 558 S. Preis 2 Mark) 
seien folgende Zahlen hervorgehoben: die Zahl der Geburten ist von 32,0 auf 
1000 Einwohner im Jahre 1909 auf 30,7 im Jahre 1910 zurückgegangen, die Zahl 
der Lebendgeborenen von 31,0 auf 29,8. Unehelicher Geburt waren 9,1°/, der 
Kinder. Im ersten Lebensjahr starben auf 100 Lebendgeborene 


1908 1909 1910 
überhäupt... 2. 2.3. 1.50 3,8 17,0 16,2 
eheliche Kinder. . . . . 168 16,0 15,2 
uneheliche Kinder. . . . 28.5 26,8 25,7 


Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 11 


162 B. Mitteilungen. 





Von den im Jahre 1910 wegen Verbrechen und Vergehen gegen die Reichs- 
gesetze Verurteilten waren 12 bis unter 18 Jahre alt 51325. Die Jugendlichen 
partizipieren an den Verurteilungen wegen Brandstiftung zu 30,6°/,, Diebstahl 24°/,, 
Raub und Erpressung 21°/,, Unzucht und Notzucht 17,5°/,, Hehlerei 15,7°/,, Sach- 
beschädigung 14,30/,. 


Aus dem jüngst erschienenen statistischen Jahrbuch für den Preußi- 
schen Staat, Jg. 9, 1911 (Berlin, Verlag des Königlichen Statistischen Landesamts, 
1912. XXXII und 636 Seiten. Preis geb. 1,60 Mark) verdienen folgende für uns 
beachtenswerte Zahlen mitgeteilt zu werden: die Zahl der Geburten auf je 
1000 Lebende hat von 32,7 im Jahre 1909 weiter auf 31,5 im Jahre 1910 abge- 
nommen. Die Säuglingssterblichkeit ist von 185 auf 1000 Lebendgeborene 
im Jahre 1904 auf 157 im Jahre 1910 zurückgegangen. Rechtskräftig ver- 
urteilt wurden in Preußen 1909 26458 männliche und 4923 weibliche Jugendliche, 
die zur Zeit der Tat im Alter von 12 bis unter 18 Jahren standen. Die absolut 
häufigsten Verbrechen und Vergehen Jugendlicher waren Diebstahl, Körperverletzung, 
Sachbeschädigung. Der Fürsorgeerziehung wurden überwiesen im Rechnungs- 
jahr 1909 8008 Minderjährige; unehelicher Geburt waren davon 1011, schlechten 
Neigungen (Landstreicherei, Betteln, Trunksucht, Unzucht, Diebstahl) ergeben 3683, 
geistig beschränkt 780, schwachsinnig, idiotisch oder epileptisch 172, mit dauernden 
körperlichen Gebrechen behaftet 799, gerichtlich bestraft 2317 (davon mit Gefängnis 
1690). Die Gesamtkosten aller in Fürsorgeerziehung befindlichen Minderjährigen 
betrugen 10102770 Mark gegen 9021932 Mark im Rechnungsjahre 1908 und gegen 
6776116 Mark im Rechnungsjahre 1905. 


Nach den Medizinalstatistischen Nachrichten, Jg. 4, 1912/13, Heft 2, starben 
von 1000 Lebendgeborenen im ersten Lebensjahre in Preußen 


1910 1911 
überhaupt . . hen TORSE 187,71 
in den Stadtgemeinden . RT a 10,0) 187,47 
in den Landgemeinden . . 160,44 187,89 
bei den Ehelichen in den Städten . . 141 174 
auf dem Lande . 153 179 
bei den Unehelichen in den Städten . 257 298 
no y s auf dem Lande. 283 328 


Über den Zugang an Jugendlichen in den 353 preußischen An- 
stalten für Geisteskranke, Epileptiker, Idioten, Schwachsinnige und 
Nervenkranke entnehmen wir den Medizinalstatistischen Nachrichten, Jg. 4, 
1912/13, Heft 1, folgende Daten (die Angaben beziehen sich auf Krankheitsfälle): 


Von je 100 


ia ce Zugang Davon waren 
Krankheitsform > des Zugangs waren 
überhaupt unter 16 Jahren anter. 16 Jahren 
mn [mm on mn m mn 
m. w. m. w. m. w. 
1. Einfache Seelenstörung 11397 12121 115 60 1,01 0,50 
2. Paralytische Seelen- 
störung. . 3 070 971 3 4 0,10 0.41 
3. Imbezillıtät und Idiotie 3051 1798 1064 596 34,87 33.15 
4. Epilepsie mit und ohne 
Seelenstörung . . . 3318 1339 394 174 11,87 12,99 
5. Hysterie . .... 697 2 043 42 35 6,03 1,71 
6. Neurasthenie. . . . 2419 1278 13 7 0,54 0,55 
Ta Chorea-a a. 1.00 8% 51 138 22 56 43,14 40,58 
8. Tabes . . 259 83 — 2 — 2,41 
9. Andere Krankheiten des 
Nervensystems . . . 2001 1205 58 58 2,90 4,81 
10. Andere Krankheiten . 1230 1301 41 33 3,33 2,54 


Zusammen 27493 22277 1752 1025 545 450 


3. Zeitgeschichtliches. 163 


Über die Taubstummen und Blinden in der Bevölkerung Preußens 
in den Jahren 1910 und 1905 macht Dr. Robert Behla in den Medizinalstatisti- 
schen Nachrichten, Jg. 4, 1912/13, Heft 1, interessante Mitteilungen, denen folgende 
für uns wichtige Zahlen entnommen seien: 


1910 1905 
L———— e e aa mn 
überhaupt m. w. überhaupt m. w. 
Gesamtzahl der Taubstummen 34804 18659 16145 33567 18096 15471 
bis 5 Jahre alt . . r 920 501 419 809 452 357 
über 5 bis 10 Jahre alt. . 3149 1720 1429 2735 1501 1234 
„10,15 5 „o . 3595 1968 1627 3321 1799 1522 
BO SOMAT TOG- -L381 2749 150 1229 
Auf 10000 Einwohner kamen 
Gesamtzahl der Taubstummen 8,7 9.4 7,9 9,0 9,8 82 
bis 5 Jahre alt . . ` 1,8 2,0 1,7 1,7 1.9 1,5 
über 5 bis 10 Jahre alt . b 6,8 7,4 6,2 6,3 6,9 5,7 
SER N A x 9,1 7,6 8,4 9.0 7,7 
DO et 7,8 84 GL 7,6 8,4 6,9 


5,54°/, der ermittelten Taubstummen war noch mit anderen Gebrechen be- 
haftet, und zwar war der größte Teil von diesen taubstumm und geisteskrank oder 
geistesschwach, kleinere Prozentsätze waren taubstumm und blind oder gar taub- 
stumm, blind und geisteskrank oder geistesschwach. In den 48 vorhandenen An- 
stalten waren 1910 5050 Zöglinge untergebracht, von denen 3001 in den Anstalten 
selbst wohnten. 


1910 1905 
nn mn nn a e e a, [| en (rn nn 
überhaupt m. w. überhaupt m. w. 
Gesamtzahl der Blinden . . 20953 10956 9997 21019 10979 10040 
bis 5 Jahre alt . . Da 403 239 164 378 198 180 
über 5 bis 10 Jahre alt er 637 370 267 527 303 224 
10.5.3555 ar ho 878 519 359 850 489 361 
a AD a aO ec 933 540 393 947 567 380 
Auf 10000 Einwohner kamen 
Gesamtzahl der Blinden 5,2 5,5 49 5,6 6,0 5,3 
bis 5 Jahre alt . . ; 0,8 0,9 0,7 0,8 0,8 0,7 
über 5 bis 10 Jahre alt . 1,4 1,6 1,2 1,2 1,4 1,0 
EIER | 1 Papa E ne En 1 2,0 2,4 1,7 21 2,4 1,8 
a AD OA 2,4 2,7 2.0 2,6 3,1 2,1 


18,57 °/, sämtlicher Blinden waren in Anstalten untergebracht. 3,58°/, waren 
noch von anderen Gebrechen heimgesucht. Sie verteilen sich auf die einzelnen 
Rubriken ähnlich wie die Taubstummen. 


Eine »Deutsche Bücherei« wird in Leipzig eingerichtet. Sie wird die ge- 
samte deutsche Literatur sowie die in Deutschland erscheinende fremdsprachige 
Literatur vom 1. Januar 1913 an sammeln und an Ort und Stelle zu unentgeltlicher 
Benutzung zur Verfügung halten. Die Einrichtung, die auch für unsere Zwecke 
vom größten Wert ist, ist dem Börsenverein der deutschen Buchhändler zu ver- 
Tr Die sächsische Regierung sowie die Stadt Leipzig unterstützen das neue 
nstitut. 


Die Deutsche Dichter-Gedächtnis-Stiftung in Hamburg - Großborstel, 
die unter den Organisationen zur Bekämpfung der Schundliteratur wohl 
einen der ersten Plätze einnimmt, versendet soeben ihren Jahresbericht für das 
Jahr 1911, der einen Überblick über die außerordentlich rege Arbeit gibt. Leider 
ist die Mitgliederzahl der Stiftung nur unwesentlich gestiegen (von 9077 auf 9552), 
und das trotz des sehr niedrigen Jahresbeitrags von nur mindestens 2 Mark. 

Eine Übersicht über »Die Psychologie Wilhelm Wundts« von Oswald 
Passkönig ist bei Siegismund & Volkening in Leipzig erschienen (Preis gebunden 
3,80 Mark). 

11* 


164 C. Zeitschriftenschau. 





Meumanns 1903 zuerst erschienene Arbeit über »Ökonomie und Technik 
des Gedächtnisses (des Lernens)« ist bei Julius Klinkhardt in Leipzig nunmehr 
in 3. erweiterter und verbesserter Auflage erschienen (Preis gebunden 4,80 Mark). 


Der stenographische Bericht über den II. Deutschen Kongreß für 
Krüppelfürsorge (München, 29. Mai 1912) ist soeben als Heft 3 des V. Bandes 
der Zeitschrift für Krüppelfürsorge im Umfang von etwa 180 Seiten erschienen 
und für Nichtbezieher der Zeitschrift zum Preise von 8 Mark durch den Verlag 
von Leopold Voss in Leipzig zu beziehen. 


Über die Verhandlungen der fünften österreichischen Konferenz 
der Schwachsinnigenfürsorge liegt uns ein ausführlicher Bericht vor, der den 
Titel trägt: Das schwachsinnige Kind im Lichte der neueren Forschungen, IH. Bd. 
Das Buch, das 196 Seiten umfaßt und 69 Kunstdruckabbildungen enthält, ist zum 
Preise von 3 K 20 h portofrei zu beziehen vom Verein »Fürsorge für Schwach- 
sinnige und Epileptische«e in Wien XVIII, Anastasius Grüngasse 10. 


C. Zeitschriftenschau. 


I. Psychologie. 
l. Ergebnisse der Beobachtungspsychologie. 

Compayre, Gabriel, Seine Majestät das Kind. Zeitschrift für Jugenderziehung 
und Jugenfürsorge. III, 2 (1. Oktober 1912), S. 33—39; 3 (15. Oktober), S. 68 
bis 71; 4 (1. November), S. 100—103. 

Wendet sich gegen manche Übertreibungen, die entstehen, wenn überall das 
Kind in den Mittelpunkt gerückt wird, und gegen manche Arten, das kindliche 
Seelenleben zu erforschen, ohne dabei aber die Bedeutung dieser Erforschung und 
der Beschäftigung mit dem Kinde überhaupt aus dem Auge zu verlieren. »Noch 
ist für Rettung und Schutz der Kinder viel, sehr viel zu tun.« 

Wilker, Karl, Eine kinderpsychologische Untersuchung für die Eltern. Deutsche 
ülternzeitschrift. IV, 1 (1. Oktober 1912), 8. 1—4. 

Fordert die Eltern auf, mitzuwirken an einer Untersuchung über die Entwick- 
iung der Anschauung von den ersten Anfängen an bis zur Grenze des Jugendalters. 
Die Aufgabe wird ganz genau gekennzeichnet. Zwei Fragebogen zum Ausfüllen 
sind beigefügt. 

Schreuder, A. J., Über den Entwicklungsgang der kindlichen Produktivität. Eos. 
3, 3 (Juli 1912), S. 161—169. 

Die Produktivität tritt selten ‘vor Anfang des dritten Lebensjahres in Er- 
scheinung. Man kann unterscheiden Produktion um der Beschäftigung willen, Spiel- 
zeugperiode (Wesensunterschied zwischen Knaben- und Mädchennatur: das Weib 
ist nicht erfinderisch), Periode der Verfertigung praktischer Gebrauchsgegenstände; 
endlich tritt das ästhetische Interesse auf. Man soll die spontane kindliche Pro- 
duktivität zu voller Betätigung kommen lassen unter Rücksichtnahme auf die In- 
dividualität. Wünschenswert ist eine spezielle Untersuchung, besonders um die 
Altersstufen für den Eintritt der verschiedenen Phasen festzustellen. 

Krause, Paul, Das 5. Lebensjahr. Ein Beitrag zur vergleichend-biographischen 
Kinderpsychologie. Deutsche Schulpraxis. 32, 38 (22. September 1912), S. 297 
bis 301. 

Mit verschiedenen Kinderzeichnungen. Keine vollständige Zusammenstellung, 
sondern nur einzelne Beiträge. 


C. Zeitschriftenschau. 165 


Rupprecht, Karl, Zur Psychologie jugendlicher Verhafteter. Münch. Med. 
Wochenschrift. 59, 41 (8. Oktober 1912), S. 2227—2229. 

Einzelne Antworten auf die Fragen nach dem bisherigen Ergehen, dem Grund 
der Verhaftung und der Absicht der künftigen Lebensgestaltung bei jugendlichen 
Verhafteten unter 17 Jahren, denen am 2. Tage ihrer Haft ein Fragebogen zur Be- 
antwortung vorgelegt wurde. 


2. Ergebnisse der experimentellen und angewandten Psychologie. 


Paßkönig, Oswald, Überblick über die neuere Psychologie, dargestellt an Wilhelm 
Wundts »Grundzügen der physiologischen Psychologiee. Pädagogisch - psycho- 
logische Studien. XIII, 7,8, S. 33—37; 10, S. 47—50; 11, S. 56—60. 

Gibt einen Überblick über den Inhalt des genannten Werkes. 

Schulze, R., Eine bedeutsame Kundgebung Wundts. Neue Bahnen. 24, 2 (No- 
vember 1912), S. 80—82. 

Enthält eine beachtenswerte Kennzeichnung von Wundts Stellung zur experimen- 
tellen pädagogischen Psychologie. 

Schmidt, Friedrich, Fortschritte der Psychologie und ihrer Anwendungen. Die 
Deutsche Schule. XVI, 9 (September 1912), S. 563—566. 

Würdigung der unter diesem Titel seit kurzem von Marbe herausgegebenen 

Zeitschrift in ihrer besonderen Bedeutung für den Lehrer und Pädagogen. 


Weigl, F., Untersuchungen über den Vorstellungsinhalt der in die Schule ein- 
tretenden Kinder. Pharus. 1912, 8, S. 116—128. 

Die Bedeutung der Untersuchung des kindlichen Vorstellungsschatzes wird 
kurz dargelegt. Die bisherigen Untersuchungen werden kurz besprochen, allerdings 
nur zum Teil und auch nicht immer mit genauer Quellenangabe. Es wird dann ein 
Schema zur » Aufnahme des Vorstellungsinhaltes der Kinder«, das der Verfasser aus- 
gearbeitet und mit bestem Erfolg für die Praxis benutzt hat, mitgeteilt; es scheint 
allerdings weit über die eigentlichen Ziele hinauszugehen. Wir müssen auf das 
Original verweisen. (Zur Feststellung religiöser Vorstellungen sollen »Abbildungen 
von Gott, Vater« zugrunde gelegt werden. Ist das Ernst?) 


Winde, Friedrich, Intelligenzprüfung durch den Klassenlehrer. Pädagogisch- 
psychologische Studien. XII, 10, S. 45—47. 

Der Verfasser ließ die Kinder seiner 6. Knabenklasse mit Hilfe angeschriebener 
Wörter eine Erzählung selbst gestalten. Für die Beurteilung waren verschiedene 
Gesichtspunkte maßgebend. Einzelne der Ergebnisse werden mitgeteilt. — Be- 
merkenswert ist, daß der Verfasser zu seinen Ergebnissen kam, ohne daß eine neue 
Person als Versuchsleiter zwischen ihn und seine Klasse trat. 

Croner, Else, Der Gedankenkreis des vorschulpflichtigen Kindes. Zeitschrift für 
Jugenderziehung und Jugendfürsorge. Ill, 4 (1. November 1912), S. 93—97. 

Ganz allgemeine Betrachtungen in bezug auf den Unterricht. Betont zwar 
selbst, daß es Differenzierungen geben wird und muß, verallgemeinert aber sehr. 
Neue Gedanken zur Analyse des kindlichen Gedankenkreises bringt die Arbeit nicht. 


Handrick, Johannes, Bericht über den V. Kongreß für experimentelle Psycho- 
logie. Pädagogisch-psychologische Studien. XIII, 6, S. 25—29; 7/8. S. 37—40: 
9, 8. 41—42. 

Knapper, aber übersichtlicher und zuverlässiger Bericht über den Kongre!; 

(16.—19. April 1912). 


166 C. Zeitschriftenschau. 





Schröbler, E., Bericht über den IV. internationalen Kongreß für Kunstunterricht, 
Zeichnen und angewandte Kunst. Die Deutsche Schule. XVI, 9 (September 1912), 
S. 556—563. 

Im ersten Teil wird referiert über die psychologische Grundlegung des Zeichnens. 


3. Ergebnisse der Pathopsychologie und Psychopathologie. 

Stier, Ewald, Die funktionellen Differenzen der Hirnhälften und ihre Beziehungen 
zur geistigen Weiterentwicklung der Menschheit. Deutsche med. Wochenschrift. 
38, 44 (31. Oktober 1912), S. 2061—2063. 

Aus umfangreichen Untersuchungen ergibt sich, daß für alle uns bekannten 
motorischen Zentren funktionelle Unterschiede der Hirnhälften bestehen, die mit dem 
funktionell überlegenen Zentrum der Handbewegungen gleichseitig gelegen sind. Der 
Verfasser schlägt vor, die Hirnhälften prinzipiell als superior und inferior zu be- 
zeichnen. Die Differenzierung der Hirnhälften dürfte stark sein bei den geistig vor- 
geschrittensten Menschen, sie dürfte gering sein bei geistig zurückgebliebenen oder 
tiefstehenden Menschen. Die Entwicklung einer Einhändigkeit tritt nicht ausnahms- 
los aber doch generell bei intelligenten Kindern früher und klarer zutage. Von den 
vom Verfasser untersuchten hörstummen Kindern waren 30—50°/, linkshändig. 
»Der Zusammenhang scheint mir dabei der zu sein, daß die Lateralisierung der 
Hirnfunktionen, die die Voraussetzung oder wenigstens günstigste Grundlage bildet 
für die Entwicklung derjenigen einhirnigen Zentren, die der Sprache und den anderen 
höheren geistigen Leistungen dienen, bei rechtshändig veranlagten Kindern durch 
die Erziehung gesteigert, bei linkshändig veranlagten generell abgeschwächt 
wird.« Für die Therapie der Hörstummheit ergibt sich: Aufgeben der unnützen 
und schädlichen Umgewöhnungsversuche bei linkshändigen Kindern. Vor zu früher 
ambidextrischer Ausbildung ist zu warnen. — Die Arbeit ist außerordentlich 
lesenswert. 

Schulze, Rudolf, Das psychogalvanische Reflexphänomen. Neue Bahnen. 24, 1 
(Oktober 1912), S. 33—38. 

Besprechung der hauptsächlichsten Ergebnisse von Veraguths Untersuchungen 
an der Hand von 10 Abbildungen. »Es ist nicht einzusehen, warum die neue 
Methode nicht auch der Psychologie noch wertvolle Dienste wird leisten können, 
nachdem sie in der Pathologie zur Unterscheidung gewisser Krankheitsformen, zur 
Entlarvung von Simulanten, schon praktische Erfolge zu verzeichnen hat.« 
Fürstenheim, Die Seele des Krüppels. Zeitschrift für Krüppelfürsorge. V, 3 

(Oktober 1912), S. 221—232. 

Manche Seelenzüge finden sich bei Krüppeln besonders häufig. Unterschieden 
werden organisch-seelische und seelisch-organische Seelenzüge. Anzustreben ist die 
Beschaffung vergleichbarer Seelenbilder der Krüppel. Der Verfasser hat eine Eigen- 
schaftstafel und eine schematische Übersicht über Krüppelseele und Krüppelleiden 
zusammengestellt. 


Goddard, Henry H., Eine Gruppe schwachsinniger Kinder mit besonderer Be- 
rücksichtigung ihres Zahlensinnes. Eos. 8, 3 (Juli 1912), S. 197—222. 

Die sieben Individuen, über die berichtet wird, besuchten eine Klasse, in der 
ein Lehrer das Rechnen besonders drillte. Es sollte ermittelt werden, in welchem 
Umfange sich die Kinder abstrakter Zahlen bedienten, inwieweit sie von Zahlen in 
konkreten Fällen Gebrauch machten, ob zwischen den konkreten in Zahlen aus- 
gedrückten Dingen Unterschiede bestanden. Es lieferte kein Kind den Beweis, daß 
es sich abstrakter Zahlen bediente. Auch konkrete Zahlen wurden nur langsam 


C. Zeitschriftenschau. 167 





kombiniert. Jede mit Rechnen und Zahlendrill verbrachte Zeit ist verloren, ehe 
nicht der Zahlensinn entwickelt ist. 


Weigl, Franz, Zur Verbreitung des »farbigen Hörens«. Die Gesundheitswarte. 
X, 8, S. 175—182. 

Von 71 an psychologische Selbstbeobachtung gewöhnten Personen hatten 
36,62 0/, die Erscheinung. Die Erscheinung ist wohl zurückzuführen auf sehr früh- 
zeitig und unbewußt eingegangene Assoziationen, mithin nicht pathologisch. Die 
hellen (höchsten) Vokale sind in der Hauptsache mit hellen Farben, die dunklen 
(tiefen) mit dunkeln Farben zusammenfallend. Praktische Proben müßten zeigen, 
»ob bei Kindern, die sehr schwer die Buchstabennamen behalten, eine Erleichterung 
eintritt, wenn sie die tieferen Vokale in dunklen, die höheren in hellen Farben dar- 
geboten erhalten«. 


II. Anormalenpädagogik. 


1l. Tatsachen. 


Stelzner, Helenefriderike, Die psychiatrische Tätigkeit des. Schularztes an 
höheren Schulen mit besonderer Berücksichtigung der daselbst beobachteten 
Schwachsinnsformen. Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des jugend- 
lichen Schwachsinns. V, 6, S. 457—493. 

Etwa 130/ aller Lernanfänger an höheren Mädchenschulen haben das nötige 
geistige Normalmaß noch nicht erreicht bei ihrer Einschulung oder zeigen psychische 
oder nervöse Anomalien. Bei den ersten Untersuchungen sind Schulunreife und 
Debilität noch nicht ohne weiteres zu trennen. — Die Verfasserin gibt aus ihrer 
eigenen Tätigkeit heraus viele wertvolle Anregungen. 

Mönkemöller. Bericht an das Landesdirektorium der Provinz Hannover über die 
psychiatrisch-neurologische Untersuchung der schulpflichtigen Fürsorgezöglinge im 
Stephansstifte (Hannover). Zeitschrift für die Erforschung und Behandiung des 
jugendlichen Schwachsinns. VI, 1—3 (1912), S. 1—44. 

Die Untersuchung wurde im März 1912 an 103 Zöglingen vorgenommen. Das 
intellektuelle Niveau der schulpflichtigen Zöglinge ist gesunken, so daß ein Ver- 
gleich mit dem schulpflichtigen Material anderer Anstalten nicht möglich ist: »der 
gesamte Knabenhof steht unter dem Zeichen der Hilfsschule«e. Diesem Umstand 
ist andererseits in der Arbeit eine Fülle wertvoller Bemerkungen zu der Frage Hilfs- 
schulen der Fürsorgeerziehung zu verdanken. Die Untersuchungsergebnisse sind 
zum Teil in 14 Tabellen übersichtlich angeordnet. Es muß zu näherer Orientierung 
das Studium der Originalarbeit empfohlen werden. Unter der Rubrik erbliche Be- 
lastung findet sich 54 mal Trunksucht der Eitern. Dabei kommt sie nach dem Be- 
richt bei den meisten Nachforschungen noch viel zu kurz. Es ist auch zu be- 
rücksichtigen, >daß der geringe, dafür aber ganz gewohnheitsmäßige 
Alkoholgenuß, der nach außen hin der Mitwelt nicht als pathologisch imponiert, in 
der Schädigung der Nachkommenschaft und speziell in der intellektuellen Beeinträchti- 
gung, die die Kinder der Hilfsschule aufbürdet, ganz erhebliches leistet.« Als Aus- 
fluß des elterlichen Alkoholismus erscheint oft die kriminelle Tätigkeit und die 
Häufigkeit der Unfälle (Unfall als ursächlicher Faktor 31 mal): »Genügt doch manch- 
mal das Vorhandensein von zahllosen kleinen Narben auf dem Schädel, um die 
Diagnose auf den väterlichen Alkoholismus zu stellen, der sich in zahllosen sinnlosen 
Mißhandlungen des Kindes Luft gemacht hatte.e In Konflikte mit dem Strafgesetz 
waren bereits 74 Zöglinge geraten; 12 waren zu Gefängnis verurteilt. Nur 21 Zög: 


168 C. Zeitschriftenschau. 








linge konnten als normal bezeichnet werden. 6 waren debil, 57 imbezill, 7 idiotisch. 
Das bei der Untersuchung benutzte Frageschema ist noch vervollständigt; es ist der 
Arbeit beigegeben, deren eingehendes Studium nicht dringend genug geraten 
werden kann. 


Schnitzer, Hubert, Bericht an den Herrn Landeshauptmann der Provinz Pommern 
über das Ergebnis der psychiatrisch-neurologischen Untersuchung und Behandlung 
der Fürsorgezöglinge in den Erziehungsanstalten Züllchow, Warsow und Magdalenen- 
Stift bei Stettin. Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen 
Schwachsinns. V, 2, S. 97—122. 

Der Bericht erstreckt sich auf die Zeit vom 1. Juni 1910 bis zum 31. März 
1911. Benutzt wurde für die Untersuchung das Cramersche Frageschema, das ab- 
gedruckt wird. Von 78 untersuchten Zöglingen waren 62,85°/, psychisch abnorm. 
34,5°/, der Zöglinge waren durch Alkoholismus der Eltern erblich belastet. 48,72 °/, 
waren bestraft; im ganzen fanden sich 84,61 °/, Kriminelle. Der große Bestand an 
abnormen Zöglingen rechtfertigt eine dauernde psychiatrische Mitarbeit. Die psy- 
chisch abnormen Zöglinge müssen getrennt von den normalen in einer Sonderabteilung 
untergebracht werden. 


Schmidt, F. A., Aus dem schulärztlichen Bericht 1912 über die Hilfsschule und die 
Wilhelmsschule in Bonn. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 25, 10 (Oktober 
1912), S. 777—785. 

Reiches Zahlenmaterial. Von 154 Hilfsschülern zeigten wahrscheinlich erbliche 
Veranlagung 37 °/,. Bei 13,1 °/% der Kinder waren Vater, beide Eltern oder Groß- 
vater Trinker. Nach Bayerthals Anregung wurden Schädelmessungen gemacht, um 
die Ergebnisse mit der Intelligenz zu vergleichen. Von 128 Hilfsschülern waren 
36°/, zweifellos Kleinköpfe. Eine Besprechung der Wohlfahrtseinrichtungen be- 
schließt die Arbeit. 

Henneberg, Hermann, Bericht über die schulärztliche Tätigkeit in den Magde- 
burger Hilfsschulen. Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des jugend- 
lichen Schwachsinns. VI, 1—3 (1912), S. 59—81. 

Das Fragebogenschema wurde in Anlehnung an das von Kielhorn und Berkhan 
entworfen. 400 Fragebogen wurden ausgefüllt, in 52 Fällen wurde von den Eltern 
die Beantwortung der Fragen abgelehnt. Die Hilfsschüler machen 1,3°/, der Magde- 
burger Volksschüler aus. In 302 Familien schwankt die Kinderzahl zwischen 5 und 
18; in 98 betrug sie weniger als 5. Die Gesamtsterblichkeit der Kinder betrug 
38° ,; in den 302 Familien mit 5—18 Kindern aber 42,3°/, und in den 93 Familien 
mit 10—18 Kindern sogar 50°%,. Die Hilfsschulkinder stehen etwa doppelt so oft 
in der letzten wie in der ersten Hälfte der Kinderreihe. Chronischer Alkoholismus 
in der Aszendenz fand sich in 11,5°/, der Fälle. Hereditäre (?) Tuberkulose fand 
sich bei 23°/, der Familien. 48,6°/, der Kinder hatten ein schlechtes Gebiß mit 4 
und mehr hohlen oder fehlenden Zähnen. Angeregt durch Bayerthal wurden Schädel- 
messungen vorgenommen, doch läßt sich auf keinen Fall der Grad der Intelligenz 
aus den verschiedensten Kopfgrößen schließen. Eventuell ist dafür die häufig 
abnorme Schädelbildung der Hilfsschulkinder in Betracht zu ziehen. Einen guten 
Schluß auf die intellektuelle Befähigung gestattet die Prüfung des Farbensinns. 
Richtig erkannt wurden die Farben von allen Kindern; richtig benannt und das 
Farbwort mit dem Farbenbegriff richtig verbunden haben 78,1 °/, der Kinder. Es 
versagten 24,3 °/, der Knaben und 12,4°/, der Mädchen. 19°, der Kinder müssen 
als antisozial bezeichnet werden. 


C. Zeitschriftenschau. 169 





Büttner, Georg, Untersuchungen bei normalen und geistig geschwächten Kindern 
über Kopfumfang und Intelligenz. Zeitschrift für die Erforschung und Behand- 
lung des jugendlichen Schwachsinns. V, 2, S. 165—172. 

Referiertt über die bekannten Untersuchungen des Wormser Schularztes 
Bayerthal. 

Ikeda, R., Über die Erblichkeit des Idiotismus. Jidō Kenkyü. XVI, 2 (September 
1912). Referiert aus Shinkeigaku-Zasshi, XI, 7. 

Aus den verschiedenen nicht immer ganz klaren Angaben möge hervorgehoben 
werden. daß bei 250/, aller Fälle die Trunksucht der Eltern eine Rolle spielt. Der 
Verfasser meint, daß 40°/, der Idioten durch Aufmerksamkeit ihrer Eltern vor ihrer 
Krankheit hätten bewahrt werden können. 

Berkhan, Oswald, Über talentierte Schwachsinnige. Zeitschrift für die Er- 
forschung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns. V, 1, S. 25—34. 

Berichtet über bisher bekannt gewordene Fälle und fügt einen neuen bei 
(außergewöhnliche Rechenkunst bei einem Schwachsinnigen). 

v. Hovorka, Oskar, Einseitigkeiten bei Schwachsinnigen. Heilpädagogische Schul- 
und Elternzeitung. III, 9 (September 1912), S. 153—161. 

Sie entstehen durch Zusammenwirken von Zwangsempfindung und Zwangs- 
handlung. Verschiedene Gruppen werden kurz charakterisiert. 

Büttner, Georg, Über moralisch schwachsinnige Kinder. Eos. 8, 3 (Juli 1912), 
S. 176—181. 

Die moralisch schwachsinnigen Kinder machen der Familie und der Schule die 
meisten Sorgen. Die Erscheinungen usw. werden besprochen. Ein Beispiel aus der 
Praxis ist eingefügt. 

Geelhaar, A., Schulschwänzen und nächtliches Herumtreiben der Schulkinder von 
psychiatrischen Gesichtspunkten betrachtet. Die Hilfsschule. V, 9 (September 
1912), S. 249—251. 

Nach einem Vortrag von Stabsarzt Dr. Stier. — Wie dem Kinde zu helfen 
ist, muß der Arzt von Fall zu Fall entscheiden. Vor allem muß auf körperliche 
Kräftigung der Kinder (ausreichender Schlaf, richtige Ernährung) gesehen werden. 
Müller-Schürch, E. Herm., Vom Wandertrieb. Zeitschrift für die Erforschung 

und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns. V, 6, S. 494—511. 

Zeigt an 5 Fällen, wie wichtig es ist, die Kinder früh genug in heilpäda- 
gogische Behandlung zu bringen. In manchen Fällen ist der Wandertrieb die 
Steigerung eines an sich normalen Triebes (Entdeckerlust). 

Petsche, M., Leidenschaftliche Ausbrüche Abnormer. Eos. 8, 3 (Juli 1912), 
S. 222—224. 

Einige charakeristische Beispiele. Die Abnormen sind den Affekten weit mehr 
zogänglich als die Vollsinnigen. 

Hoffmann, H., Taubstumme vor Gericht. Eos. 8, 2 (April 1912), S. 81—91. 

Aus den Erfahrungen des Verfassers als Dolmetscher und Sachverständiger bei 
Verhandlungen mit Taubstummen vor den Gerichten der 5 Landgerichtsbezirke 
Oberschlesiens. Im allgemeinen stehen die Frauen günstiger da als die Männer: 
»ich führe das ..... darauf zurück, daß die taubstummen Mädchen und Frauen 
fast immer im engen Kreise wirken und besonders dem Wirtshause fern bleiben.« 
Aus den Ausführungen geht zur genüge hervor, daß Taubstumme von Natur nicht 
mehr zù Ausschreitungen neigen als Vollsinnige. 

Glüh, Über Mikrocephalie. Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des 
jugendlichen Schwachsinns. VI, 1—3 (1912), S. 207—223. 


170 C. Zeitschriftenschau. 





Beleuchtung der Frage an der Hand der Literatur seit 1902. Beurteilung 
eines Materials von 65 Fällen, darunter 40 im Alter von 3 Tagen bis zu 23 Jahren. 
Die Arbeit bietet die genauen Maße ‚und vorzügliche Abbildungen der auf der 
Dresdener Hygiene-Ausstellung gezeigten Schädel. 

Näcke, P., Hochgradige Entartung eines Idioten. Zeitschrift für die Erforschung 
und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns. V, 1, S. 35—61. 

Der sehr eingehend untersuchte Fall wird ausführlich beschrieben. 

Volland, Über zwei Fälle von zerebralem Angiom nebst Bemerkungen über Hirn- 
angiome. Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen 
Schwachsinns. VI, 1—3 (1912), S. 130—150. 

Darstellung der Fälle mit 7 Textfiguren. Beim Auftreten von Herderscheinungen 
im Krankheitsbilde der Epilepsie ist ein operativer Versuch unbedingt gerechtfertigt. 
‚(Das Studium der Arbeit ist vielfach durch inkorrektes Deutsch sehr erschwert.) 
Heller, Theodor, Über einen Fall von epileptischer Sprachstörung. Zeitschrift 

für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns. V, 2, 
S. 150—151. 

Vom Autor veröffentlicht, weil seines Wissens ein ähnlicher Fall bisher nicht 
beschrieben wurde. 

Rehm, 0., Bedeutung der Syphilis- Ätiologie bei idiotischen, schwachsinnigen und 
psychopathischen Kindern. Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des 
jugendlichen Schwachsinns. VI, 1—-3 (1912), S. 201—206. 

Untersucht wurden 51 Kinder des Kinderhauses der Heilanstalt Dösen. &9/, 
derselben waren im Blut Wassermann-positiv, unter 46 idiotischen und epileptischen 
6,50/ Eine luische Aszendenz war bei diesen Kranken nicht festzustellen. 
Bayerthal, J., Entstehung psychopathischer Veranlagung durch den Alkohol- 

mißbrauch. Die Alkoholfrage. VIII, 4, S. 352-- 355. 

Aus »Erblichkeit und Erziehung in ihrer individuellen Bedeutung« (J. F. Berg- 

mann, Wiesbaden) der Abschnitt über die Rauschzeugung. 

Rehm, O., Ernährungsversuche mit vegetarischer Kost an geisteskranken (idiotischen) 
Kindern. Beitrag zur Kenntnis der Größe und des Gewichtes geisteskranker 
Kinder. Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen Schwach- 
sinns. VI, 1—3 (1912), S. 45—58. 

Die Versuche wurden an 33 Idioten und Epileptikern der Heilanstalt Dösen 
im Alter von 5 bis zu 16 Jahren vorgenommen und 18 Monate fortgesetzt. An 
Körpergröße und -gewicht stehen die idiotischen Kinder zum Teil erheblich unter 
dem Normaldurchschnitt. Durch die vegetarische Ernährung wurden Größe und 
Gewicht nicht wesentlich beeinflußt. Im Gegensatz zu Alt und Cramer konnte eine 
günstige Beeinflussung der epileptischen Anfälle nicht festgestellt werden. Ein 
Vorteil liegt in der erleichterten Durchführung der Reinlichkeit und Regelung der 
Verdauung. Aus diesem Grunde läßt sich die vegetarische Ernährung idiotischer 
Kinder befürworten. 


2. Konsequenzen. 


Crzellitzer, Die Aufgaben der Rassenhygiene. Deutsche Med. Wochenschritt. 
38, 35 (29. August 1912), S. 1651—1653. 
Kurzer Überblick über das für die Anormalenpädagogik außerordentlich wichtige 
Gebiet. 
Haskovec, Ladislaus, Die Prophylaxe des Schwachsinnes. Kos. 8, 2 (April 
1912), S. 91—96. 


C. Zeitschriftenschau. 171 





Ein systematischer Kampf gegen die Degeneration, besonders durch Bildung 
und Aufklärung weitester Volksschichten, ist zu organisieren. Eine höchste Sanitäts- 
behörde müßte den Kampf gegen die Syphilis, die ganze Sexualbygiene usw. kon- 
zentrieren. »Im Kampfe gegen den Alkohol muß der Staat energisch eingreifen 
und keine Regierung sollte den einseitigen Vorteilen und Wünschen der zynischen 
Großkapitalisten nachgeben, die ihres Gewinnstes wegen alle Moral, Aufklärung und 
alle Rechte des Volkes grob verachten. Solange es bei den jetzigen Verhältnissen 
bleibt, muß man jede Abstinenzaktion aufs wirksamste unterstützen.« 

Keller, Christian, Eine Insel-Anstalt für antisoziale schwachsinnige Männer. 
Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns. 
V, 1, S. 22—24. 

Auf einer dänischen Insel sollen vorläufig 40 Männer untergebracht werden. 
Goddard, Herbert Henry, Das Institut für geistesschwache Kinder in Vineland, 
eine Stätte wissenschaftlicher Forschung. Eos. 8, 3 (Juli 1912), S. 186—197. 

Die Arbeiten dieses großartigen Instituts werden in anregender Weise be- 
sprochen. 

Die geistig Zurückgebliebenen und Schwachsinnigen im australischen Staate Viktoria. 
Eos. 8, 3 (Juli 1912), S. 183—186. > 

Der Unterricht der Schwachsinnigen wurde aufgegeben. Für jüngere Epilep- 
tiker ist keine Fürsorge getroffen. Für geistig zurückgebliebene Kinder sind be- 
sondere Klassen einzurichten, ebenso für »bloß stumpfsinnige« Kinder. — Aus dem 
Bericht des Unterrichtsministers an das Parlament über das Jahr 1907. 


Bartsch, Karl, Von den Schwachen der Klasse. Deutsche Schulpraxis. 32, 43 
(27. Oktober 1912), S. 342. 

Betont besonders, daß es notwendig ist, im Unterricht alle Sinne in Anspruch 
zu nehmen. Dann kommen nicht nur die normalen Typen, sondern auch die 
anormalen auf ihre Rechnung. 

Gnerlich, Hilfsschullehrer als pädagogische Sachverständige. Die Hilfsschule. V, 9 
(September 1912), S. 246—249. 

»Der Klassenlehrer des angeklagten Hilfsschulkindes, der es jahrelang täglich 
unter seinen Augen hatte, soll neben dem Arzt die Stelle eines Sachverständigen 
einnehmen.« 

Weigl, Franz. Die Stellung des Psychiaters in der heilpädagogischen Arbeit. Die 
Hilfsschule. V, 9 (September 1912), S. 254—258. 

Besprechung von Spechts »Zeitschrift für Pathopsychologie«. 

Ziegler, Karl, Zur Frage des Anfangsunterrichtes (Vorschulunterrichtes) bei 
Schwachsinnigen. Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen 
Schwachsinns. V, 2, S. 152—157. 

>Will man also in den Vorschulklassen einen Unterricht haben, der seinem 
innersten Wesen nach nicht in mechanischer Drill-, sondern in organischer Bildungs- 
arbeit besteht, so muß unbedingt an dem Grundsatze festgehalten werden, daß für 
die schwächsten Kinder nur das tüchtigste Lehrpersonal gut genug ist.«e Das wird 
im einzelnen dargelegt. 

Lehm, Kurt, Wie ich den ersten Schreib-Lese-Unterricht in meiner Hilfsklasse 
erteile. Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen Schwach- 
Sinns. VI, 1—3 (1912), S. 82—108. 

Den psychologisch-theoretischen Darlegungen folgen die wichtigeren methodisch- 
praktischen. Es werden darin behandelt: Lautentwicklung, Lautbildung, Entwicklung 


172 C. Zeitschriftenschau. 





des Schreib- bezw. Druckschriftbildes, der neue Laut im Silben- bezw. Wortverband, 

synthetische und analytische Übungen. 

Reiher, Franz, Bemerkung zum Artikel »Der Rechenunterricht in der Unterklasse 
der Hilfsschule von A. Kühn, Oranienburge. Die Hilfsschule. V, 10 (Oktober 
1912), 8. 279—284. 

Ist nicht einig mit der vorgeschlagenen Art der Benutzung der Finger als 
natürliche Rechenmaschine. Kühn erwidert auf die Einwendungen; er betont, daß 
die Methode es nicht allein macht, sondern daß es vor allem auf das Lehrgeschick 
ankomme. 

Widmann, Wie ich Hilfsklassenschülern eine Gegend, die nicht mehr von ihnen 
durchwandert werden konnte, geistig näher zu bringen suchte. Neue Bahnen. 
23, 12 (September 1912), S. 562—566. 

Unterrichtliche Gestaltung des Stoffes vom Bodensee. Mit vier Abbildungen. 
Lehm, Kurt, Ein Jahrgang Anschauungsunterricht in Verbindung mit Werktätig- 

keit auf der Unterstufe der Hilfsschule. Zeitschrift für die Erforschung und Be- 
handlung des jugendlichen Schwachsinns. V, 2, S. 129—143. 

Der entwickelte Stoffplan umfaßt 7 Gruppen, die je eine Einheit bilden: 
Garten, Spiel, Schulstube, Küche, Winterglück, Nahrung, Kleidung. Über den Ver- 
lauf der Jahresarbeit gibt eine tabellarische Lehrplanübersicht Auskunft. 
Egenberger, R., Der schriftliche Ausdruck bei Schwachsinnigen. Zeitschrift für 

die Erforschung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns. VI, 1—3 
(1912), S. 151—200. 

Im wesentlichen Proben aus den Tagebüchern verschiedener Kinder. 

Friederici, Jugendschriften für die Hilfsschule. Die Hilfsschule. V, 10 (Oktober 
1912), S. 269—273. 

In starker Anlehnung an Arno Fuchs wird erörtert, wie eine Jugendschrift 
für Hilfsschulen beschaffen sein soll und in welcher Weise das Lesen zu hand- 
haben ist. Ein kleines Verzeichnis geeigneter Jugendschriften ist beigefügt. 
Wetzel, Max, Die Schwachbegabten in der Fortbildungsschule. Die Hilfsschule. 

V, 9 (September 1912), S. 251—254. 

Teilt einen Lehrplan für ungelernte Arbeiter aus Stettin mit. Normal- und 
schwachbegabte Schüler müssen getrennt worden. Für den Unterricht kommen in 
Frage Sonderklassen oder Sonderfortbildungsschulen. Vom Fachunterricht würden 
Hilfsschüler sehr wenig profitieren; sie sollten daher ohne Ausnahme in besonderen 
Klassen untergebracht werden. 

Borchardt, Frieda, und Lenz, Erholungs- und Pflegestätten für taubstumme 
Kinder. Blätter f. Taubstummenbildung. XXV, 19 (1. Okt. 1912), S. 289—294. 

Das Bedürfnis für pflegebedürftige Taubstumme im preußischen Staat wird 
durch die bestehenden Einrichtungen nicht gedeckt. Wünschenswert sind eigene 
Erholungs- und Pflegestätten für taubstumme Kinder, die unter Leitung erfahrener 
Personen stehen und nicht mehr als 20 taubstumme Kinder unter einer Aufsichts- 
person vereinen. Für Preußen würden 2 Heilstätten mit je 40 Betten genügen 
(Kurzeit 4 Wochen; Gesamtbeleg 320 Kinder). — Zur praktischen Lösung der Be- 
dürfnis- und Organisationsfrage gibt Lenz aus seiner reichen Erfahrung in der 
Kinderheilpflege einige Anregungen. Die Schriftleitung befürwortet den Aufruf sehr 
in einer Schlußanmerkung. 

v. Brockdorff, Cay, Zur Erläuterung der Schneiderschen Methode. Blätter für 
Taubstummenbildung. XXV, 18 (15. September 1912), S. 273—276. 


C. Zeitschriftenschau. 173 





Will zeigen, daß sich bei Schneider dieselben Grundgedanken vorfinden wie 
in den großen reformpädagogischen Bestrebungen. Es handelt sich bei Schneider 
um ədie ersten Anfänge des wissenschaftlichen Konstruierens«. — Dazu noch eine 
kurze Anmerkung Schneiders über seine Methode. 

Odelga, P., Grundlinie einer Theorie des Lesebuchs für die Taubstummenschule. 
Ebenda. XXV, 18 (15. September 1912), S. 276—282; 19 (1. Oktober), S. 294 
bis 299. 

Beitrag zur Klärung der sich vielfach widersprechenden Ansichten über Be- 
griff und Einrichtung des Lesebuchs. Das neue Lesebuch muß insbesondere frei 
sein von Sprachformenübungen. 

Bade, Peter, Krüppelheilkunde und Rassenhygiene. Zeitschrift für Krüppel- 
fürsorge. V, 3 (Oktober 1912), S. 205--212. 

Durch eine Besprechung der wesentlichen Krüppelleiden wird der Beweis er- 
bracht, daß die Krüppelfürsorge in humaner Weise durch fortschreitende Erkenntnis 
rasseverbessernd wirkt, also dauernden volkswirtschaftlichen Gewinn bringt. (Mancherlei 
Bedenken lassen sich nicht unterdrücken.) 

Hohmann, Welche Kinder bedürfen der Aufnahme in eine Krüppelschule? Zeit- 
schrift für Krüppelfürsorge. V, 3 (Oktober 1912), S. 233—236. 

Idioten, Epileptiker und Kinder mit ansteckenden Krankheiten und Lastern 
sollen nicht in die Krüppelheime aufgenommen werden. Die Auswahl der aufzu- 
nehmenden bildungsfähigen Krüppel ist unter Zuziehung orthopädisch-fachärztlicher 
Untersuchung vorzunehmen, 

Heim, Was kann von Staat und Gemeinde auf dem Gebiete der Krüppelfürsorge 
geschehen? Zeitschrift für Krüppelfürsorge. V, 3 (Oktober 1912), S. 178—184. 

Der Staat muß an jeder Universität einen Lehrstuhl für Orthopädie errichten, 
und damit verbunden große orthopädische Kliniken. Krüppelsonderschulen müssen 
eingerichtet werden. In Gemeinde- und Staatsdiensten sollte eine gewisse Anzahl 
der Stellen für Schreiber- und Bureauarbeiten für orthopädische Patienten reserviert 
bleiben, anstatt sie gesunden Militäranwärtern zu geben. Die Anstaltsversorgung 
ist möglichst auszubauen (mit Hilfe der privaten Wohltätigkeit). 

Dietrich, Wie ist die Krüppelfürsorge einzurichten? Zeitschrift für Krüppelfür- 
sorge. 5, 3 (Oktober 1912), S. 138—151. 

Fingerzeige für die Einrichtung der Krüppelfürsorge. 

Würz, Hans, Das künstlerische Moment im Unterricht und in der Ausbildung der 
Krüppel. Zeitschrift für Krüppelfürsorge. V, 3 (Oktober), S. 167—174. 

Die Kunst muß auch den Krüppelkindern zugänglich gemacht werden. Wie 
das geschehen kann, zeigen die zum Teil zwar etwas unklaren Ausführungen. 
Stein, Albert, Die Bezeichnung »Krüppel«. Zeitschrift für Krüppelfürsorge. V, 3 

(Oktober 1912), S. 212—221. 

Das Wort »Krüppel« schadet der Krüppelfürsorge sehr. Die volkstümliche 
Bedeutung ist die alte geblieben, während in Wirklichkeit unter der Bezeichnung 
etwas ganz anderes zu verstehen ist. Ein Ersatz ist aber sehr schwer zu finden: 
Knochen- und Gelenkkranke, Gliederkranke; orthopädische Heil- und Erziehungs- 
anstalten. 


8. Erfolge. 


Büttner, Georg, Vom Hilfsschulwesen. Zeitschrift für die Erforschung und Be- 
handlung des jugendlichen Schwachsinns. VI, 1—3 (1912), S. 109—129. 
Kurzer historischer Abriß über die bisherige Entwicklung mit mannigfachen Daten. 


174 C. Zeitschriftenschau, 








Boßhardt, G., Die Fürsorge für die schulentlassenen Schwachbegabten in Zürich. 
Zeitschrift für Jugenderziehung und Jugendfürsorge. III, 4 (1. November 1912), 
S. 97—100. 

In Zürich besteht seit 1905 ein Patronat für schwachbegabte Jugendliche, das 
hauptsächlich für Berufswahl, Erholung, Schutz, geistige und körperliche Fortbildung 
schwachbegabter Jugendlicher sorgen will. Die Gesichtspunkte, nach denen es 
arbeitet, werden dargelegt. Wünschenswert erscheint die Einrichtung einer Arbeits- 
anstalt (Arbeitslehrkolonie). 

Abramowski, E., Berichte über Schwachsinnigenfürsorge in England. Zeitschrift 
für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns. V, 1, S. 62 
bis 70; V, 2, S. 158—164. 

Die Berichte werden an der Hand zuverlässigen Quellenmaterials zumeist 
referierend gegeben. 

Abramowski, Eleonore, Berichte über Schwachsinnigenfürsorge in Amerika und 
in England. Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen 
Schwachsinns. V, 6, S. 512—530. 

Sehr sorgfältige Zusammenstellung an Hand der neueren Literatur. 
Rosenfeld, Leonhard, Welche Kosten macht die Krüppelfürsorge? Zeitschrift 

für Krüppelfürsorge. V, 3 (Oktober 1912), S. 185—194. 

Viel Zahlenmaterial, das im Original nachzusehen ist. Es werden daraus 
Schlüsse für die Fürsorge gezogen. 

Lange, Wie weit kann heute die Zahl der Krüppel durch eine rechtzeitige Behand- 
lung vermindert werden? Zeitschrift für Krüppelfürsorge. V, 3 (Oktober 1912), 
S. 151 —159. 

An den wichtigsten Krüppelleiden wird gezeigt, wieweit zurzeit die Zahl der 
Krüppel durch Heilungen oder durch Entkrüppelungen zu vermindern ist. Wenn 
alles geschieht, was möglich ist, läßt sich »die weitaus größte Hälfte der Krüppel- 
kinder dauernd heilen oder dauernd entkrüppeln«. 


Biesalski, Was ist durch die Bewegung der Krüppelfürsorge in den letzten 


10 Jahren erreicht worden? Zeitschrift für Krüppelfürsorge. V, 3 (Oktober 1912), 
S. 124—138. Tabellen-Anhang: S. 237—276. 


Wir stellen aus dem reichen Zahlenmaterial folgende Daten gegenüber: 


Zahl der 1902 1912 
Krüppelheime"... u. 5. ur a ia 23 53 
Betten. . . . a at S 1622 5239 
ärztlich geleiteten ‘Anstalten Ae E 4h 29% 
geprüften im Hauptamt BL Lehrkräfte (1908) 49 96 
Hilfsklassen. . . er NAYOS) TE 18 
Handwerkemöglichkeiten. n Ba s wa ALIIE NAD 81 
versorgten Krüppel . . . . 5 s 0,8% 21,6°/, 


Ulbrich, Die Berufswahl der ränpäl Zeitschrift für Krüppelfürsorge.. V, 3 
(Oktober 1912), S. 159—167. 

17 der 28 Krüppelheime der inneren Mission treiben hauptsächlich Ausbildung 

der Krüppel zu Lebensberufen. Es gibt in den deutschen Anstalten insgesamt 778 

Lehrplätze für Krüppelknaben und 413 für Krüppelmädchen; 817 von diesen werden 

von der inneren Mission gestellt. Die einzelnen Berufe werden durchgegangen. Die 


Ausbildung sollte auf 4 Jahre bemessen und nicht aus irgendeinem angeblichen 
Mitleıd verkürzt werden. 


C. Zeitschriftenschan. 


175- 





Erhard, Das bayrische Königshaus in seiner Fürsorge für die krüppelhaften Kinder. 
Zeitschrift für Krüppelfürsorge. V, 3 (Oktober 1912), S. 199—204. 

Das bayrische Königshaus hat seit 1838 viel für die Krüppelfürsorge getan, 

für die gerade von Bayern aus viele Anregungen ausgegangen sind. 

Stobschinski, R., Die Entwicklung der Schwerhörigenschule. Blätter für Taub- 
stummenbildung. XXV, 15 (1. August 1912), S. 226—230; 16 (15. August), 
S. 246—250; 17 (1. September), S. 257—261. 

Die Taubstummenlehrer sollen dazu mitwirken, daß die Schwerhörigenschule 
eine »Schule für Schwerhörige und Ertaubte« wird. Durch das Gesetz vom 7. August 
1911 wird auch der Schwerhörigenunterricht in gewisser Weise geregelt, insbesondere 
auch das Verhältnis zwischen Taubstummenanstalt und Schwerhörigenschule besser 
gestaltet. 

Arbeit für die Taubstummen in Kroatien. Eos. 8, 3 (Juli 1912), S. 182—183. 

Aufzählung der Schriften des Direktors der Agramer Taubstummenanstalt, 
Josef Medved, der sein 30jähriges Dienstjubiläum feierte und sich in der Zeit große 
Verdienste um die kroatische Taubstummenbildung erworben hat. 

Jacobi, Eugenie, Taubstummblindenunterricht. Eos. 8, 3 (Juli 1912), S. 169—176. 

Der Unterricht wurzelt in der Nutzung des Tastsinnes. 

Ein Besuch eines Vertreters der reinen Launtsprachmethode in einer nach der 
Lindnerschen Schriftbildmethode unterrichteten Elementarklasse nach 10 wöchigem 
Unterricht. Blätter für Taubstummenbildung. XXV, 20 (15. Oktober 1912), 
8. 313—317. 

Die Erfolge waren vorzüglich. Es wird für das Sprachverständnis eine Durch- 
schnittssumme von 112 Wörtern, für die Produktion eine solche von 26 Wörtern 
nach einem Vierteljahr angegeben. 

Rötzer, Leichtes Ablesen und leichtes Sprechen. Blätter für Taubstummenbildung 
XXV, 18 (15. September 1912), S. 282—284. 

Empfehlung eines Apparats, durch den der Luftstrom aus Mund oder Nase 
sichtbar gemacht, geprüft und beeinflußt werden kann. 

Wende, G., Zum hundertjährigen Jubiläum der Königlichen Taubstummenanstalt 
als Lehrerbildungsanstalt. Ebenda. XXV, 19 (1. Oktober 1912), S. 299—301; 
20 (15. Oktober), S. 305—313. 

Geschichtlicher Abriß. — Ausgebildet hat die Anstalt bisher 370 Lehrer. 
Münter, L., Bericht über die Anstellungsverhältnisse der Hilfsschullehrer und 

Hilfsschullehrerinnen Westfalens und Wünsche in bezug auf einheitliche Regelung 
derselben. Die Hilfsschule. V, 9 (September 1912), S. 241— 246. 

Bemerkenswert ist, daß von allen die Selbständigkeit der Hiifsschule gewünscht 
wird (keine Angliederung an oder Eingliederung in die Volksschule). 

Rein, Oscar, Bericht über den Allgemeinen Fürsorge-Erziehungstag zu Dresden, 
Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns. 
VI, 1—3 (1912), S. 241—248. 

Henze, A., V. österreichische Konferenz der Schwachsinnigenfürsorge. Ebenda. 
VI, 1—3 (1912). S. 249—260. 

Berichte über die bei den beiden Konferenzen gehaltenen Referate. 
Gürtler, Reinhold, Die XIV. Konferenz des Vereins für Erziehung, Unterricht 

und Pflege Geistesschwacher vom 8.—11. September 1912 in Bielefeld und 
Bethel. Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger. XXXII, 10 (Oktober 
1912), S. 193—210. 

Eingehender Bericht. 


176 C. Zeitschriftenschau. 





Kirmsse, M., Dasselbe. Die Hilfsschule. V, 10 (Oktober 1912), S. 284—291; 11 
(November 1912), 3. 308—312. 

Ebenso. 

Kolodzinsky, J., Die IX. Hauptversammlung des Bundes Deutscher Taub- 
stummenlehrer. Blätter für Taubstummenbildung, XXV, 12 (15. Juni 1912), 
S. 184—186; 13/14 (1. Juli), S. 196—201; 15 (1. August), S. 231—235; 17 
(1. September), S. 262—264. 

Bericht über die Würzburger Verhandlungen 1912, an denen 346 Personen 
teilnahmen. 

Weygandt, W., Jugendkunde und Schwachsinnigenfürsorge auf der Internationalen 
Hygiene-Ausstellung Dresden 1911. Zeitschrift für die Erforschung und Behand- 
Jung des jugendlichen Schwachsinns. V, 2, S. 186—208. 

Ausführlicher Ausstellungsbericht, an dessen Schluß betont wird, daß der oft 
gehörte Schlachtruf »Hie Arzt, hie Lehrer« durch die Ausstellung eigentlich als 
grundlos hingestellt ist. »Weder der Arzt noch der Lehrer darf sich eine alles um- 
schließende Kompetenz anmaßen, vielmehr werden nach beiden Richtungen hin 
wieder recht differente Kräfte auftreten müssen, um das große Arbeitsgebiet be- 
wältigen zu können.« 

Decker, K., Der Werk- und Arbeitsunterricht in der Hilfsschule auf der Aus- 
stellung des Hilfsschulverbandes in Lübeck. Zeitschrift für die Erforschung und 
Behandlung des jugendlichen Schwachsinns. V, 2, S. 123—128. 

Ausstellungsbericht. Zum Schluß werden einige Winke für künftige Aus- 
stellungen gegeben. 

Martin. Die Beköstigung in der Königl. Sächs. Landes-Erziehungs-Anstalt Chemnitz- 
Altendorf. Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger. XXXII, 9 (September 
1912), S. 173—184; 10 (Oktober), S. 211--215; 11 (November), S. 217—231. 

Küchenzettel für ein ganzes Jahr. Daß im Speisezettel einer derartigen An- 
stalt das Bier noch eine Rolle spielt, sollte man eigentlich nach allen neueren 
Forschungen und Feststellungen nicht mehr für möglich halten! 


IV. Jugend- und Schulhygiene. 


Hertel, E., Verband deutscher Lehrervereinigungen für Schulgesundheitspflege. 
Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 25, 9 (September 1912), S. 623—627. 

Bericht über die Pfingsttagung. Einige allgemeine Bemerkungen über den 
Verband und seine Stellung zu verwandten Organisationen. 

Bartsch, Hugo, Zur Frage des Schularztsystems. Zeitschrift für Schulgesundheits- 
pflege. 25, 9 (September 1912), S. 649—653. 

»Der Schularzt soll, einerlei ob er im Haupt- oder Nebenamt angestellt ist, 
in Verbindung mit der eigentlichen ärztlichen Tätigkeit bleiben, d. h. er soll selbst 
Praxis ausüben.« Die »reinen« Schulärzte (Nur-Schulärzte) sollen nur Aus- 
nahmen bilden. 

Gastpar, Der staatliche Schularzt in Württemberg. Zeitschrift für Schulgesundheits- 
pflege. 25, 9 (September 1912), S. 653—655. 

Besprechung des neuen Öberamtsarztgesetzes, durch das die Schularzttätigkeit 
dem Öberamtsarzt zugewiesen ist. 

Stark, Der erste Fortbildungskursus für Schulärzte in Köln. Zeitschrift für Schul- 
gesundheitspflege. 25, 8 (August 1912), S. 595—597. 

Kurzer Bericht über den von 20 Ärzten besuchten Kursus, (Auch von einem 

gewiß eutbehrlichen »gemütlichen Bierabends ist die Rede!) 





C. Zeitschriftenschau. 177 





Kschischo, P., Alkohol und Volksschule. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 
25, 10 (Oktober 1912), S. 665—682. 

Merkwürdigerweise sieht der Verfasser in der Ausführung der Untersuchungen 
über den Alkoholgenuß von Schulkindern von seiten der Lehrer eine Beeinträchti- 
gung. Er hat selbst in Altona als Schularzt Untersuchungen über insgesamt 2580 
Kinder gemacht. Die Ergebnisse lassen sich in folgenden Tabellen zusammenfassen: 

I. 1568 Kinder aus 11 Volksschulen und 1 Mittelschule wurden gelegentlich der 
systematischen Schuluntersuchungen über den Alkoholgenuß befragt. Es hatten 

Alkohol genossen 


nie gelegentlich überhaupt täglich 
Kinder überhaupt . . 66,39), 4,6% 21,49, 2,8% 
Knaben (994) . . . 65,0 „ 4,0 „ 19,0 „ 2.9. 
Mädchen (574) . . . 67,0 „ 50:5 24,0 „ 4,0 „ 


Als gelegentlicher Alkoholgenuß gilt wöchentlich mindestens einmaliger 

Genuß alkoholhaltiger Getränke. In der Kolumne »überhaupt« ist auch ganz 
seltener gelegentlicher Alkoholgenuß mitgerechnet. 

I. 1012 Kinder wurden bei der ärztlichen Beratung im Sprechzimmer befragt. 

Sie entstammen vorwiegend der ärmeren Bevölkerung. Von ihnen hatten 

Alkohol genossen 


nie gelegentlich überhaupt täglich 
Kinder überhaupt . . 66,1 °% Pr 18%, 15% 
Knaben (369) . . . 62 „ 13. 
Mädchen (643) . . . 68 „ LU 5 


Zu bemerken ist, daß es in Altona drei Jugendlogen des Guttemplerordens gibt, 
die mehrere hundert Mitglieder zählen. Um so merkwürdiger muten die Angriffe 
des Verfassers auf die Abstinenten, die schon im ersten Satz seiner Arbeit beginnen 
(»fanatische und unwissenschaftliche Kampfesweise«), an. 

Es ist interessant, mit den oben angeführten Zahlen die Meldolas aus zehn 
Hamburger Volksschulen zu vergleichen. Danach genossen von 6029 Kindern Alkohol 

nie gelegentlich regelmäßig 
30,6%, 61,5%, 79%, 

Diese Untersuchungen sind in der Arbeit (wie leider manche anderen auch 
nicht) nicht mitberücksichtigt; es hätten sich aber gerade hieraus interessante Gegen- 
überstellungen anstellen lassen. — Im übrigen wird durch die angeführten Unter- 
suchungen eine zuerst von Wilker 1909 gemachte Beobachtung bestätigt, daß nämlich 
die Mädchen am Alkoholgenuß stärker beteiligt sind als die Knaben. Der Verfasser 
erklärt das auch in gleicher Weise: »hier spukt noch immer das Gespenst der blut- 
stärkenden, kräftigenden Weine in Form von Kraftwein, Blutwein, Eisenwein, 
Medizinalwein usw.e Unter den regelmäßig trinkenden Kindern waren über zwei 
Drittel Abkömmlinge von Gastwirten, Bierkutschern usw. Von manchen Kindern 
hörte der Verfasser Schilderungen, »die eigentlich die Eltern auf die Anklagebank 
führen müßten«. Alkoholfreie Jugenderziehung wird als Ideal hingestellt. Von ihrer 
Notwendigkeit muß die gesamte Lehrerschaft überzeugt werden. Am besten wirkt 
das Beispiel. Besonders zu wünschen wäre, daß auch die höheren Schulen den 
gleichen Eifer zeigten wie die Volksschulen, »denn unstreitig bedürfen sie dieser 
Arbeit mehr als die Volksschulen. — Eingeschoben ist eine zwei Seiten lange Er- 
örterung über die Schädlichkeit der obergärigen Biere (Braunbier, Malzbier) mit 
0,5—0,750/, Alkoholgehalt, deren Genuß der Verfasser dem zweiten Lebensjahrzehnt 
»in den meisten Fällen unbedenklich zugestehen« will. In der Erörterung dieser 
Frage und der Ersatzgetränke überhaupt ist der Verfasser leider nicht ganz objektiv, 


Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 12 


178 D. Literatur. 





denn sonst könnte er nicht schreiben, daß diese Getränke von den Abstinenten mit 

»viel Emphase« empfohlen werden, da das durchaus im Widerspruch zu allen Tat- 

sachen steht. — Das angehängte Literaturverzeichnis umfaßt 13 ziemlich willkürlich 

herausgegriffene Arbeiten. 

Zelle. Über den Alkoholgenuß, seine Wirkungen und seine Bekämpfung in den 
Schulen nach den Ergebnissen der Untersuchungen im Kreise Lötzen. Die 
Alkoholfrage. VIM, 4, S. 314—322. 

Der Kreis Lötzen ist einer der »dunkelsten« Kreise Masurens mit starkem 

Schnapskonsum. Es hatten getrunken 

Bier von 7172 Schülern 5532 = 76°), 

Grog „5487 is 2934 = 53 „ (Knaben 61°/,, Mädchen 45 °/,) 

Schnaps „ 6708 5 166. =, ( „ a $ 18 „) 

Über den Schnapsgenuß werden noch eingehendere Zahlen mitgeteilt. Auch 
wird eine kurze Charakteristik der regelmäßigen Trinker gegeben. 

Flaig, J., Alkohol und Schule. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 25, 10 
(Oktober 1912), S. 682—692. 

Kurzes Eingehen auf die vorhandenen Untersuchungen. Zusammenstellung der 
angewandten und geplanten Vorbeugungsmaßnahmen, soweit sie die Schule betreffen. 


D. Literatur. 





Enzyklopädisches Handbuch der Heilpädagogik, unter Mitwirkung zahl- 
reicher am Erziehungswerke interessierter Ärzte und Pädagogen herausgegeben von 
Prof. Dr. med. Dannemann, Hilfsschulleiter Schober und Hilfsschullehrer 
Schulze. Halle a, S., Carl Marhold. 1974 Spalten. Preis geb. 33,50 M. 

Seit einem Jahre liegt das Handbuch abgeschlossen vor und hat in dieser Zeit 
seine praktische Brauchbarkeit als Ratgeber und Wegweiser vielfach erwiesen. In 
zahlreichen, alphabetisch geordneten Artikeln behandelt es mit genügender, oft sehr 
weitgebender Ausführlichkeit alle Arten der Sinnes- und Intelligenzdefekte, ferner 
die bedeutsamsten Erscheinungen der Lähmung, Verkrüppelung und Verwahrlosung, 
sowohl nach medizinischer wie auch pädagogischer Hinsicht, wobei alle Formen in 
ihrer individual- und sozialpädagogischen Bedeutung und Behandlung gleichmäßig 
berücksichtigt werden. Eine Anzahl der besten Sachkenner hat somit durch er- 
staunlichen Fleiß ein Werk zustande gebracht, durch welches eine rationelle Ab- 
normenpädagogik auf wissenschaftlich gesicherter Grundlage ermöglicht werden soll. 
Die eifrige Mitarbeit des unsern Lesern wohlbekannten Kirmsse hat dafür gesorgt, 
daß auch die geschichtliche Seite dieses Gebietes nicht vernachlässigt worden ist, 
und ebenso findet man auch die für den besondern Erziehungszweck in allen Kultur- 
staaten vorhandenen Einrichtungen und Bestrebungen in diesem Handbuch eingehend 
behandelt. Reichliche Literaturangaben bei den wichtigeren Artikeln geben weitere 
Hinweise. Doch zeigt sich eine gewisse Einseitigkeit des Anlageplanes iu der 
häufigen Einschränkung der Themen auf ihre Beziehung zum Schwachsinn, z. B. 
»Alkohol. seine Beziehung zum Schwachsinn«, »Ermüdung (bei schwachsinnigen 
Kindern,)« »Infektionskrankeiten (und Schwachsinn)< usw. Diese einseitige Kon- 
zentration, an sich gewiß eine Stärke des Handbuches und zugleich ein Ausdruck 
für die relative Vollendung der diesbezüglichen Untersuchungen, erklärt sich leicht 
aus den besonderen Erfahrungen und Interessen der hervorragenden Spezialisten, 


D. Literatur. 179 





die an dem Werk gearbeitet haben. Aber die Schul- und Erziehungspraxis hat es 
mit einer Heilpädagogik in umfassenderem Sinne zu tun; für sie kommen außer 
den Defekterscheinungen vor allem die funktionellen Störungen infolge von ab- 
normer Ermüdbarkeit eines ganz besonders gearteten Schülertypus in Betracht. 
Daß diese Einsicht nicht ein »Steckenpferd« des Referenten, sondern sachlich wohl 
begründet und für die Schule allgemein recht bedeutsam ist, das beweisen die Er- 
fahrungen, die zu dem Mannheimer Schulsystem geführt haben und in seiner zehn- 
jährigen Praxis an verschiedenen Orten mehr und mehr bestätigt worden sind. Die 
Wissenschaft wird sich den praktischen Bedürfnissen nicht entziehen dürfen. Dem- 
gemäß müßte die allgemeinere pädagogische Bedeutung der konstitutionellen Er- 
krapkungen im Kindesalter (Rachitis und Blutarmut, Ziehens Lehre von den psycho- 
pathischen Konstitutionen), sowie der Infektionskrankheiten grundsätzlich stärker 
hervorgehoben werden; z. B. sind genauere Informationen über die psychischen 
Nachwirkungen der Infektionskrankheiten und die Frage des Nachhilfeunterrichts 
bei gehemmten Schülern sehr erwünscht. Auch Artikel über Ferienkolonien, Er- 
holungsheime, Waldschulen, Schulsanatorien, die eine steigende Bedeutung für 
Schule und Volksgesundheit erlangen, dürften nicht fehlen. Die »Zeitschrift für 
Kinderforschung« hat von jeher mit guten Gründen den Standpunkt vertreten, daß 
die Heilpädagogik in gleicher Weise alle Formen der Abnormität, nicht nur die 
Defekterscheinungen, berücksichtigen müsse, und die Entwicklung unserer modernen 
Erziehungsveranstaltungen gibt ihr recht. — Natürlich soll ein solcher Hinweis 
keine Einschränkung unserer rückhaltlosen Anerkennung, vielmehr ein Zeichen der 
hohen Wertschätzung für das Handbuch sein, das als unentbehrliches Nachschlage- 
und Studienwerk allen Interessenten bestens empfohlen wird. 
Berlin. Richard Schauer. 


Kruckenberg, Elsbeth, Jugenderziehung und Volkswohlfahrt. Tübingen, 
Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1910. Billige Ausgabe. Preis 2 M, 
geb. 3 M. 

Ein Reihe wichtiger Fragen hat die Verfasserin in den einzelnen Vorträgen 
und Abhandlungen, die unter dem Titel des Buches unter ihren gemeinsamen Be- 
ziehungspunkt zusammengebracht werden, mutig angepackt. Anerkennung verdient 
die Art und Weise, wie sıe als Gattin und Mutter die einzelnen Probleme auffaßt, 
aus dem Schatze ihrer Beobachtungen und Erfahrungen heraus beleuchtet und mit 
intuitivem Blick Momente erfaßt und festhält, die das Buch lesenswert machen. 

Weniger glücklich scheint mir Kruckenberg in all den Punkten zu sein, die 
sich auf das eigentliche Schulleben, die Schulorganisation, Aufgaben und Gestaltung 
des Unterrichtes beziehen. Sympathisch berührt gewiß auch hier die Art, wie sie 
die verschiedenen Verschrobenheiten besonders Kluger kennzeichnet. Aber die Ver- 
quickung der aufgeworfenen Erziehungs- und Unterrichtsfragen mit solchen politischer 
Art, hat eine gewisse Einseitigkeit zur Folge. Es entstehen mitunter Schiefheiten, 
die Widersprüchen zum Verwechseln ähneln. Auch dringen die Ausführungen, die 
hierher gehören, nicht gern bis zum Kern der Sache selbst durch, scheinen oft 
da, wo die Sache eigentlich erst richtig angeht, mit etwas allgemein gehaltenen 
Wendungen darüber weggehen zu wollen. Das ist im Interesse des Guten, was 
das Buch will, und des ganzen Buches selbst zu bedauern. 

Die Druckfehler-Berichtigung (S. VII) ist unvollständig. Auch in einer »billigen 
Ausgabe« dürfen Stil und Orthographie nicht so unterschätzt werden, wie es hier 
nicht selten geschieht. 

Jena. Dr. G. Weiß. 
12* 


180 D. Literatur. 





Wentscher, E. Der Wille. Versuch einer psychologischen Analyse. Leipzig, 
B. G. Teubner, 1910. Preis geh. 2,40 M, geb. 2,80 M. 

Eine dreifache Aufgabe hat sich die Verfasserin gestellt: 1. Durch eine Ana- 
lyse der Bewußtseinsvorgänge und durch wissenschaftliche Deutung der gegebenen 
Tatbestände eine Erkenntnis des menschlichen Wallens zu gewinnen und dadurch 
eine kritische Stellung zu einigen modernen Willenspsychologen zu erlangen. 2. Die 
Grundlinien für die Verwertung der psychologischen Erkenntnis im Leben, vor allem 
im Gebiete der Pädagogik anzudeuten. 3. Eine Harmonie anzubahnen von Theorie 
und Praxis in unserer Auffassung von der Natur des menschlichen Wollens (S. VII). 

Das Buch zeichnet sich aus durch eine gute Gliederung der aufgeworfenen Frage 
und durch eine umsichtige methodische Behandlung der einzelnen berausgestellten 
Punkte. In seiner Gesamtheit ist es wohl geeignet, dem Leser zu helfen in seinem 
Streben nach einem eigenen Standpunkt in diesen wichtigen und wichtigsten Fragen. 

Jena. Dr. G. Weiß. 


Major, Gustav, Psychasthenie im Kindesalter. Klinik für psychische und 
nervöse Krankheiten. VI. Band, 4. Heft. Halle a.S., Carl Marhold, 1911. 

Es scheint für Majors Arbeitsweise geradezu typisch zu sein, daß er fremde 
Quellen benutzt, ohne es der Mühe wert zu halten, anzugeben, woraus er geschöpft 
hat. Wer die vorliegende Arbeit mit meiner Abhandlung: »Psychasthenische 
Kinder« !) vergleicht, wird unschwer erkennen, daß Major nichts anderes getan hat, 
als den Inhalt meiner Schrift in einer nicht immer glücklichen Art wiederzugeben. 
Nirgends aber, auch dort, wo er nahezu wörtlich zitiert, weist Major auf die 
Originalarbeit hin. Die mitgeteilten Krankengeschichten sind weit eher dem in- 
fantilen Schwachsinn als der Psychasthenie zuzuzählen. Major scheint sich also 
selbst nicht recht klar darüber zu sein, was unter Psychasthenie zu verstehen ist. 

Wien-Grinzing. Dr. Theodor Heller. 


Deutsche Anstalten für Schwachsinnige, Epileptische und psycho- 
pathische Jugendliche. Redigiert von Pastor Stritter und Oberarzt Dr. 
Meltzer. Halle a. S., Carl Marhold, 1912. VI u. 343 S. Mit 385 Abbildungen, 
Grundrissen und Plänen. Preis in Halbleder gebunden 14 M. 

Leider noch nicht alle Anstalten! Das ist das einzige, was man an diesem 
Werke aussetzen könnte. Aber daß es nicht über alle Anstalten orientiert, über 
die es das tun müßte, ist nicht Schuld der Herausgeber und der Redaktion, 
sondern die Schuld derjenigen, die sich aus irgend welchen Gründen nicht zu 
Berichten über ihre Anstalten entschließen konnten. Immerhin wurde auf der 
XIV. Konferenz des Vereins für Erziehung, Unterricht und Pflege Geistesschwacher, 
deren Teilnehmern (wie in unserm Konferenzbericht bereits erwähnt) das Werk ge- 
widmet ist, der Wunsch geäußert, es möge bald ein zweiter Band erscheinen — 
ein Wunsch, der in hoffentlich nicht allzu ferner Zeit verwirklicht wird. Denn 
der Wert einer derartigen Sammeldarstellung aller in Betracht kommenden An- 
stalten ist vielleicht heute noch gar nicht in vollem Umfange zu schätzen. Spätere 
Zeiten werden meines Erachtens ein bedeutend höheres Werturteil über diese Publi- 
kation fällen, als wir es heute tun. 


1) Vortrag, gehalten auf dem 1. Kongreß für Kinderforschung, Berlin, 1907. 
Beiträge zur Kinderforschung, Heft XXX. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne 
(Beyer & Mann), 1907. 


D. Literatur. 181 





Ein Eingehen auf den Inhalt des Werkes ist kaum möglich. Man findet in 
ihm vertreten ganz kleine Anstalten, die noch stolz sind auf die Wahrung des 
Familiencharakters; große Anstalten, deren Einwohner nach Hunderten zählen; 
private und öffentliche Anstalten; Anstalten und Institute aller möglichen Richtungen. 
Zum Teil erfreuen den, der sich gern mit der Geschichte des Schwachsinnigenwesens 
befaßt, historische Daten. — Wenn ich einige Anstalten herausgreife aus der großen 
Zahl der vertretenen, so geschieht das weniger, weil ich damit über den Wert der 
Darstellung ein Urteil habe fällen wollen. Ich erinnere an die Alsterdorfer An- 
stalten, die am 19. Oktober 1913 auf ein 50jähriges Bestehen als Idiotenanstalt 
zurückblicken können; an Idstein im Taunus, über das Kirmsse und Rumpel be- 
sichten; an die Anstalten »Hephata« bei Treysa, von denen ein Besucher eine an- 
schauliche Schilderung gibt; an die Königliche Landes-Erziehungsanstalt Chemnitz- 
Altendorf; an die Königlich Sächsische Landesanstalt Großhennersdorf, über die 
Oberarzt Dr. Meltzer eingehende und interessante Mitteilungen gemacht hat. Des 
öfteren werden nicht nur Berichte über die Anstalten und ihre Einrichtungen ge- 
geben, sondern allgemeine Probleme mitbehandelt. So äußert sich Sanitätsrat Dir. 
Dr. Klinke von der Provinzial- Heil- und Pflegeanstalt Lublinitz über den Er- 
nährungszustand und seine Feststellung. So gut wie nichts über seine Anstalt ver- 
rät Cron, dessen Angaben zum Teil wie eine bloße Reklame anmuten, zum Teil ganz 
interessante Kopien aus dem Arbeitsmaterial der Anstalt bringen. Ȇber die Er- 
ziehung in der Anstalt Bethel bei; Bielefeld« schreibt Pastor Wolf eine kleine 
Studie, die (ganz abgesehen von den dankenswerten historischen Daten über diese 
großzügigste Anstaltsgründung) wohl zum wertvollsten mit in diesem Bande gehört. 
Ein gleiches gilt von dem Aufsatz des Oberarztes Dr. Kleefisch (am Franz-Sales- 
Haus in Essen -Huttrop) über »Medizin, Pädagogik, Charitas«, einem vorzüglichen 
Plan zu friedlichem Nebeneinanderarbeiten aller an einer größeren charitativen 
Idiotenanstalt tätigen Faktoren, dessen Studium ganz besonders empfohlen sei. 

Über die Ausstattung des gesamten Werkes braucht kaum ein Wort weiter 
verloren zu werden: sie ist mustergültig. 

Jena. Dr. Karl Wilker. 


Die Irrenpflege in Österreich in Wort und Bild. Redigiert von Dr. Hein- 
rich Schlöß. Halle a. S., Carl Marhold, 1912. VI und 360 Seiten. Preis: in 
Halbfranz gebunden 15 M. 

Eingeleitet wird dieser Band mit einem Überblick von Joh. Hrase über die 
Entwicklung der Irrenfürsorge im Königreıche Böhmen. Der Umfang der Berichte 
über die einzelnen Anstalten ist ein sehr verschiedener, zum Teil leider sehr knapper. 
Dafür hat aber das Werk wenigstens den Vorzug, daß es ein vollständiges Bild 
der österreichischen Irrenpflege nebst mannigfachen historischen Bemerkungen zu 
diesem Thema gibt. Der Herausgeber bemerkt in seinem Vorwort ganz richtig: 
»Das Werk ist .... ein Denkstein, auf dem die Leistungen der einzelnen Kron- 
länder Österreichs auf dem Gebiete der Irrenfürsorge zu dauerndem Gedächtnis ver- 
zeichnet sind, und liefert den Beweis, daß in diesen Ländern für die Behandlung 
und Pflege der Geisteskranken Großes geschaffen wurde.« Als solches hat es auch 
für Nicht-Österreicher seinen bleibenden Wert. Der Bericht erstreckt sich auf ins- 
gesamt 41 Anstalten. Ein Sachregister macht das Werk auch in mannigfacher Be- 
ziehung zu einem brauchbaren Nachschlagebuch. 

Die Ausstattung ist vornehm, das Material an Bildern und Plänen überreich. 

Jena. Dr. Karl Wilker. 


182 D. Literatur. 





Henriette Arendt, Kinderhändler. Recherchen und Fürsorgetätigkeit vom 
1. September 1911 bis 1. September 1912. Dritte Auflage. Stuttgart, Heinz 
Clausnitzer. 23 Seiten. Preis 0,25 M. 

Die frühere Polizeiassistentin Henriette Arendt ist unermüdlich tätig, dem 
grausamen Kinderhandel entgegenzuarbeiten. Daß sie dabei immer noch nicht die 
nachhaltigste Unterstützung findet, ist ein trauriges Zeichen unserer Zeit, die nichts 
dawider findet, daß es Elemente in unserem Volke gibt, die kleine Menschen wie 
eine x-beliebige Ware verhandeln: »Stück Kinder«. Es ist höchste Zeit, daß unsere 
Behörden den Begriff »Kinderhandel« kennen lernen, daß das bedauerliche Faktum 
von der Straflosigkeit des Kinderhandels überhaupt (er wird nur strafbar in Ver- 
bindung mit anderen Delikten, wie Betrug, Körperverletzung usw.) möglichst bald 
verschwindet. 

Was in diesem kleinen Hefte mitgeteilt wird, ist wahrhaft erschreckend. Aus 
Oberschlesien werden Kinder nach Rußland verschleppt, wo sie in »Krüppelfabriken« 
zu Bettlern »präpariert«e werden. Daß eine derartige Gesellschaft einen approbierten 
Arzt angestellt hatte, »der jedes Kind auf eine andere Weise verstümmelte,« er- 
scheint kaum glaublich; und doch ist es festgestellt. — Wem einfache Zahlen noch 
nicht genug beweisen, der mag in dieser Schrift die Briefe eines Straßburger Kinder- 
händlers nachlesen, denen an Roheit kaum irgend etwas an die Seite gestellt werden 
kann. Sie werden durch Angaben über weitere Kinderhändler ergänzt, die alle be- 
weisen, daß es sich hier um ein »lohnendes Geschäft«e handelt. Besonders nach 
Belgien und Frankreich hin werden deutsche Kinder im zartesten Alter verhandelt. 
Daß sich der Handel sogar auch auf eheliche Kinder erstreckt, ist vielleicht eins 
der erschreckendsten Momente mit, das Henriette Arendt mitteilt. 

Das Heftchen verdient die weiteste Verbreitung, um zu werben für die auf- 
opfernde Arbeit, mit der die Verfasserin sich der armen verlassenen Geschöpfe an- 
nimmt, aus denen andernfalls nur Parasiten und Schmarotzer an unserer Volks- 
gesundheit werden würden. 


Jena. Dr. Karl Wilker. 


Cell&rier, L., et Dugas, L, L'Année Pédagogique. Première année, 
1911. Paris, Félix Alcan, 1912. VIII und 487 §. Preis 5 francs. 

Durch das umfassende Literaturverzeichnis (2502 Nummern), das eine ob- 
jektive Berichterstattung über die deutsche, englische und französische Literatur des 
Jahres 1911 darbieten soll, gewinnt dieses Werk eine Bedeutung, die eine kurze 
Anzeige an dieser Stelle rechtfertigt. Während unsere deutschen Jahresberichte 
nur einen relativ kleinen Teil der Literatur berücksichtigen und berücksichtigen 
können, ist hier der Versuch gemacht, möglichst viel (um nicht zu sagen: alles) in 
den Bereich der Berichterstattung einzubeziehen. Es ist natürlich schwer zu sagen, 
wie weit das gelungen ist. Wohl aber läßt sich sagen, daß die Berichterstattung 
auch die uns besonders interessierenden Hilfswissenschaften eingehend berücksichtigt 
hat. Wer Literaturstudien machen muß, wird in diesem Handweiser ein wertvolles 
Hilfsmittel finden, und zwar auch für das Studium der deutschen Literatur. Die 
Benutzung ist durch die übersichtliche Gruppierung, sowie durch ausführliche und 
genaue Sach- und Personenregister sehr erleichtert. 

Jena. Dr. Karl Wilker. 


D. Literatur. 183 





Eingegangene Literatur. 


Paul Bader, Die Wirkung der Frage. Veröffentlichungen des Instituts für ex- 
perimentelle Pädagogik und Psychologie des Leipziger Lehrervereins, Bd. II. 
Herausgegeben von Max Brahn. Leipzig, Alfred Hahn, 1912. 252 S. 

J. Bruns u. Helene Fimmen, Hilfsschulkunde. Ein Handbuch für Lehrer und 
Behörden. Oldenburg, Schulzesche Hofbuchhandlung (A. Schwartz), 1912. Preis 
geb. 5 M. 

Ernst Hollweg, Beitrag zur Behandlung von Gaumenspalten. Tübingen, Franz 
Pietzcker, 1912. 52 8. 

Berliner Lehrgang für leichte Holzarbeiten. Eine Anleitung zur Beschäftigung von 
Knaben in Schülerwerkstätten, Knabenhorten, Erziehungs-Anstalten, Familien, in 
Hilfsschulen und beim Werkunterricht in Normalschulen. Zweite, verbesserte 
Auflage. Leipzig, J. C. Hinrichs, 1912. 36 S. Mit 280 Abbild. auf 12 Tafeln. 

8. Edward Seguin, Die Idiotie und ihre Behandlung nach physiologischer Methode. 
Bearbeitet und herausgeg. von S. Krenberger. Wien, Carl Graeser & Co., 1912. 
XXXIV u. 222 8. 

R. G. Wehle, Die schwerhörigen schwachsinnigen Kinder der Landes-Erziehungs- 
Anstalt in Chemnitz-Altendorf in ihren Sonderklassen. Mit Ausblicken auf die 
uneigentlichen Taubstummen in den Taubstummenanstalten und den sonst normal- 
begabten schwerhörigen Kindern in der Volksschule. Sonderabdruck aus: Zeit- 
schrift für die Behandlung Schwachsinniger. Jg. XXX, Nr. 4 und 5, April und 
Mai 1911. Braunschweig, Hellmuth Wollermann. 24 S. Preis 0,30 M. 

Karl Foltz, Die Erziehung zur Selbständigheit. Langensalza, Hermann Beyer 
& Söhne (Beyer & Mann), 1912. 20 S. Preis 0,30 M. 

Adoif Sellmann, Das Seelenleben unserer Kinder im vorschulpflichtigen Alter. 
Ebenda 1911. Mit 5 Tafeln. 146 8. Preis 3 M., geb. 4 M. 

Wilhelm Rein, Pädagogik in systematischer Darstellung. 2. Aufl. Ebenda 1911. 
Band I. Grundlegung. X und 218 S. Preis 3,40 M., geb. 4,40 M. 

I. Ausführung. VII und 348 S. Preis 5,80 M., geb. 6,80 M. 
III. Methodologie. VII und 361 S. Preis 6,20 M., geb. 7,20 M. 

A. Lesage, Lehrbuch der Krankheiten des Säuglings übersetzt und mit An- 
merkungen versehen von Rudolph Fischl. Leipzig, Georg Thieme, 1912. XX u. 
696 S. Preis geh. 12 M., geb. 13 M. 

Antonie Zerwer, Säuglingspflegefibel. Berlin, Julius Springer, 1912. 72 S. 
Preis 0,90 M. 

W. J. Ruttmann, Einführung in die Schulhygiene für Pädagogen. Bayreuth, 
Grausche Buchhandlung, 1912. VII u. 264 S. Preis 2,20 (2,50) M. 

H. Echternach, Handbuch des orthopädischen Schulturnens. Berlin, Weidmannsche 
Buchhandlung, 1912. X u. 264 S. Preis 5 M. 

Samuel Heinickes Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Georg und Paul 
Schumann. Leipzig, Ernst Wiegandt, 1912. XIV u. 654 S. Preis in Halb- 
pergament geb. 12,50 M. 

Otto Dornblüth, Die Schlaflosigkeit und ihre Behandlung. Leipzig, Veit & Co., 
1912. 92 S. Preis 2,40 M. 

Albert Gutzmann, Übungsbuch für stotternde Schüler. Neubearbeitet von Her- 
mann Gutzmann und Gustav Wende. 15. Aufl. Berlin, Elwin Staude, 1911. 
111 S. Preis kart. 1,20 M. 

Murtfeld u. Seebaum, Lesebuch für Hilfsschulen. Erster Teil. Frankfurt, 
Moritz Diesterweg, 1912. VIII u. 195 S. Preis geb. 2 M. 


184 D. Literatur. 





Arno Fuchs, Hilfsschulfragen. Halle a. S., Carl Marhold, 1912. 104 S. 

Alfred Binet, Die neuen Gedanken über das Schulkind. Deutsch von Georg An- 
schütz und W. J. Ruttmann. Leipzig, Ernst Wunderlich, 1912. XI u. 289 S. 

W. Ament, Die Seele des Kindes. 3. verb. Auflage. Stuttgart, Franckh. 96 S. 
Preis 1 (1,80) M. 

Joseph Stimpfl, Der Wert der Kinderpsychologie für den Lehrer. 3. verbess. 
Auflage, Gotha, E. F. Thienemann, 1912. 31 S. Preis 0,80 M. 

Th. Ziehen, Über die allgemeinen Beziehungen zwischen Gehirn und Seelenleben. 
Dritte, umgearbeitete Auflage. Leipzig, Joh. Ambr. Barth, 1912. 72 S. Preis 
220 M. 

W. A. Lay, Psychologie nebst Logik und Erkenntnislehre. Gotha, E. F. Thiene- 
mann, 1912. VIII u. 219 S. Preis geh. 3,50 M., kart. 4 M. 

Hermann Ebbinghaus, Abriß der Psychologie. IV. Auflage, durchgesehen von 
Ernst Dürr. Leipzig, Veit & Co., 1912. 208 S. Preis 3 (4) M. 

Hugo Münsterberg, Psychologie und Wirtschaftsleben. Ein Beitrag zur an- 
gewandten Experimentalpsychologie. Leipzig, Joh. Ambr. Barth, 1912. Vl u. 
192 S. Preis 2,80 (3,50) M. 

Ernst Siefert, Psychiatrische Untersuchungen über Fürsorgezöglinge. Halle, Carl 
Marhold, 1912. 262 S. Preis 6 M. 

Johannes Bresler, Kurzgefaßtes Repetitorium der Psychiatrie. Ebenda 1912. 
138 S. Preis 2,20 M. 

Blätter für Zwangserziehung und Fürsorge. Bd. VIII. Wien, Carl Konegen, 
1911. 1968. 

Hermann, Das moralische Fühlen und Begreifen bei Imbezillen und bei krimi- 
nellen Degenerierten. Halle a. S., Carl Marhold, 1912. 90 S. Preis 2,10 M. 
Album neuer Meisterlieder. 62 Lieder für eine Singstimme. Herausgegeben 
von E. Rabich. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1912. 

168 S. Preis geb. 6 M. 

Deutsche Elternzeitschrift. Herausgegeben von Fritz Küppers. 1. u. 2. Jg. 
1911 und 1912. Ebenda. Preis 4 M. 

August Lomberg, Präparationen zu deutschen Gedichten. Ebenda. 6 Bände. 

C. Hoffmann, Handbuch für den Geschichtsunterricht in preußischen Volksschulen. 
11. Aufl. Ebenda 1912. XXIV u. 500 S. Preis 6 (7,20) M. 

August Lomberg, Auswahl zeuerer Gedichte. 3. Aufl. Ebenda 1911. 64 S. 
Preis 0,20 M. 

Emil Zeißig, Präparationen für Formenkunde (Raumlehre, Geometrie). 2. Teil. 
2. verbesserte Auflage. Ebenda 1912. XI u. 112 S. Preis 2 M. 

Fr. Regener, Skizzen zur Geschichte der Pädagogik. 3. Aufl. Ebenda 1912. VI 
u. 304 S. Preis 4 (5) M. 

Max Troll, Freie Kinderaufsätze. 5. vermehrte Auflage. Ebenda 1912. VI und 
136 S. Preis 1,80 M. 

Ders., Der Märchenunterricht in der Elementarklasse nach der entwickelnd-dar- 
stellenden Methode. Ebenda 1911. 116 S. Preis 1,50 M. 

Ders., Das erste Schuljahr. 3. Aufl. Ebenda 1911. VIII u. 239 S. Pr. 3.50 M. 

Gerhard Budde, Weltanschauung und Pädagogik in Einzelbildern. Ebenda 1911. 
83 S. Preis 1,80 M. 

Ders., Die Wandlung des Bildungsideals in unsrer Zeit. Ebenda 1912. 159 S. 
Preis 4,50 M. 

Ders., Moderne Bildungsprobleme. Ebenda 1912. 184 S. Preis 5,20 M. 


D. Literatur. 185 





Ders., Mehr Freude an der Schule! 2. verbesserte Auflage. Ebenda 1911. V u. 
84 S. Preis 1,80 M. 

Ders., Der Kampf gegen die Lernschule. Ebenda 1912. 133 S. Preis 3,60 M. 

Ders., Die Lösung des Gymnasialproblems. Ebenda 1912. 388. Preis 0,75 M. 

Franz Schleichert, Anleitung zu botanischen Beobachtungen und pflanzen- 
physiologischen Experimenten. 8. Aufl. Mit 81 Abbildungen. Ebenda 1912. 
XII u. 205 S. Preis 4 (5) M. 

Jenaer Seminarbuch, Aus dem Pädagog. Univ.-Seminar. Bd. XIV. Ebenda 
1911. VIu. 314 S. Preis 4 M. 

0. Flügel, Das Ich und die sittlichen Ideen im Leben der Völker. 5. Aufl. Ebenda 
1912. VII u. 285 S. Preis 4,50 (5,50) M. 

Otto Siebert, Rudolf Euckens Welt- und Lebensanschauung und die Hauptprobleme 
der Gegenwart. 2. Aufl. Ebenda 1911. VI u. 132 S. Preis 2 M. 

Theodor Schiebuhr, Zur Behandlung des Kirchenliedes in der Volksschule. 
Ebenda 1912. 16 S. Preis 0,30 M. 

C. Achinger, Haus- und Klassenlektüre. Ebenda 1912. 22 S. Preis 0,40 M. 

Margarete Truan-Borsche, Die ersten Schritte zur Entwicklung der logischen 
und mathematischen Begriffe. Ebenda 1912. 51 §. Preis 0,85 M. 

Paul Staude, Präparationen für den Religionsunterricht. Ebenda 1912. 8. Heft. 
Preis 2 M. 

Richard Fritzsche, Methodisches Handbuch für den erdkundlichen Unterricht. 
Ebenda 1911. Teil I. Preis 4,50 M. 

E. Thrändorf, Allgemeine Methodik des Religionsunterrichts. 5. Aufl. Ebenda 
1912. IV u. 122 8. Preis 1,70 M. 

Hermann Haase, Zur Methodik des ersten Rechenunterrichts. 3. Aufl. Ebenda 
1911. VII u. 141 S. Preis 2 M. 

E. Schlegel, Präparationen für Kirchenlieder und Psalmen. Ebenda. XII u. 224 S. 
Preis 3 (3,80) M. 

G. Bauer, Israelitische Schriftpropheten. 4. Aufl. Ebenda 1912. 36 S. Preis 0,20 M. 

Eduard Möller, Anleitung zur Anfertigung von Geschäftsaufsätzen usw. 13. Aufl. 
Ebenda 1911. VI u. 153 S. Preis 1.25 M. 

Hesse und Breternitz, Die kaufmännische Korrespondenz. 5. Aufl. Ebenda 
1912. X u. 141 S. Preis 2 M. 

H. Bohm, Leitfaden für den Zeichenunterricht. 3. vermehrte Aufl. Ebenda 1911. 
63 S. und 34 Tafeln. Preis 2,60 M. j 

Otto Siebert, Ein kurzer Abriß der Geschichte der Philosophie. 3. Aufl. Ebenda 
1912. XVI u. 336 S. Preis 3,25 M. 

Ph. Kraus, Schüler- Aufführungen, Friedrich der Einzige. Ebenda 1912. 12 S. 
Preis 0,20 M. 

Dichterklänge, Patriotische Dichtungen. 4. Aufl. Ebenda 1912. XII u. 2128. 
Preis 1,46 M. 

W. Rein, Kunst. Politik, Pädagogik. Bd. II: Politik. Ebenda 1911. IV u. 318 S. 
Preis 2,40 M. 

Fr. Förster, Realienbuch. 3. Aufl. Ebenda 1912. Preis geb. 2 M. 

Werner Bötte, Für Kirche und Schule. Ebenda 1912. 116 S. Preis 2 M. 

J. J. Rousseau, Emil. Herausgegeben von E. v. Sallwürk. 4. Aufl. 418 S. 
Preis 3 (4) M. 

Ludwig Friedrich Werner, Aus einer vergessenen Ecke. Bd. I. 3. Auflage. 
Ebenda 1911. VII u. 208 S. Preis 2,80 M. 


186 D. Literatur. 





Ders., Aus einer vergessenen Ecke. Bd. U. Ebenda 1912. VIII u. 127 Seiten. 
Preis 2,20 M. 

Ders., Lieder aus der vergessenen Ecke. Ebenda 1910. 96 S. Preis 1,20 M. 

Naturwissenschaftlich-Technische Volksbücherei. Herausgegeben von 
Bastian Schmidt. Leipzig, Theodor Thomas. Preis des Heftes 0,20 M. 

Otto Quast, Häckels Weltanschauung. Kritischer Bericht. Essen-Ruhr, M. Otto 
Hülsmann, 1909. 97 S. Preis 1 M. 

Hilfsbuch für schriftstellerische Anfänger. 2. Aufl. Berlin, Max Hirsch- 
feld. 144 S. Preis 1,50 (2) M. 

Peter Dörfler, Als Mutter noch lebte. Aus meiner Kindheit. Freiburg, Friedrich 
Herder. 285 S. Preis 2,70 (3,50) M. 

A. Passow, Ein Schriftstellerleben in der guten alten Zeit. Ein Auszug aus Jean 
Pauls »Siebenkäs«. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann). 
1912. 127 S. 125 M. 

Annuaire de l'Université de Sofia. 1909—1910. 303 S. 

El Monitor de la Education Comun Buenos Aires 1911. Nr. 466—474. 

Historia de la Instruccion Primaria de la Republica Argentina 1810—1910. 
Buenos Aires, Jakobo Peuser, 1910. Bd. Iu. II. 615 u. 719 S. 

Pädagogisches Magazin. Langensalza, H. Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1912. 
Heft 9: J. Tews, Sozialdemokratische Pädagogik. 4. Aufl. 51 S. 0,65 M. 

„ 21: F. Hollkamm, Erziehender Unterricht und Massenunterricht. 2. Aufl. 
59 S. 0,80 M. 

„ 27: Th. Kirchberg, Die Etymologie und ihre Bedeutung für Schule und 
Lehrer. 2. Aufl. 32 S. 0,40 M. 

„ 42: E. Gehmlich, Erziehung und Unterricht im 18. Jahrhundert nach 
Salzmanns Roman Karl v. Karlsberg 42 S. 0,50 M. 

» 52: 0. Schultze, Zur Behandl. deutscher Gedichte. 2. Aufl. 89S. 1,20 M. 

68: Otto W. Beyer, Die erziehende Bedeutung des Schulgartens. 2. Aufl. 


23 S. 0,30 M. 
„ 74: Fr. Mann, Die soziale Grundlage von Pestalozzis Pädagogik. 2. Aufl. 
18 S. 0,25 M. 


„ 122: W. Armstroff, Schule und Haus in ihrem Verhältnis zueinander beim 
Werke der Jugenderziehung. 5. Aufl. 40 S. 0,50 M. 

„ 243: K. Sachse: Apperzeption und Phantasie in ihrem gegenseitigen Ver- 
hältnis. 2. Aufl. 25 S. 0,30 M. 

„ 250: E. Scheller: Naturgeschichtliche Lehrausflüge (Exkursionen). 2. Aufl. 
76 S. 0,90 M. 

„ 415: Marie Hüpeden: Der Kinderglaube. 24 S. 0,30 M. 

„ 418: Schnell, Geschichte des ritter- und landschaftlichen Landschulwesens 
in Mecklenburg-Schwerin 1650—1879. 231 S. 2,40 M. 

„ 420: L. Mittenzwey, Lernschule oder Arbeitsschule? Eine kritische Be- 
trachtung. 2. Aufl. VIII u 114 S. 1,20 M. 

„ 429: R. Hentzschel, Christian Weiß und seine Pädagogik. 2798. 2,70 M. 

„ 430: G. Bagier, Herbart und die Musik. 168 S. 2,20 M. 

„ 431: H. Schoen, Französ. Stimmen über den Gymnasialunterr. 58 S. 0,80 M. 

„ 435: A. Brinkmann, Der Schulgarten als bedeutsames Lehrmittel. 41 S. 
0,50 M. 

„ 436: Fr. Kohlhase, Die methodische Gestaltung des grammatischen Unter- 
richts mit Rücksicht auf seine psychologischen und logischen Grund- 
lagen. 768. 1 M. 


D. Literatur. 187 





Heft 437: M. Bartholomey, Ludolf Wienbarg, ein pädagogischer Reformer des 


” 


438: 
439: 


441: 
444: 


445: 
446: 
447: 
448: 
449: 
451: 
452: 


453: 


477: 


478: 


jungen Deutschland. 92 S. 1,30 M. 

W. Schmidt, Der Begriff der Persönlichkeit bei Kant. 99 S. 1,30 M. 
L. Kunze, Die pädagogischen Gedanken K. Chr. Fr. Krauses in ihrem 
Zusammenhange mit seiner Philosophie dargestellt. 1598. 2 M. 

Bruno Clemenz, Schule und Bazillus. 238. 0,35 M. 

Paul Schneider, Rousseaus Kenntnis der Kindesnatur. Vom Stand- 
punkte der experimentellen Pädagogik beurteilt. 44 S. 0,60 M. 

Ziegler, Goethes Vater als Erzieher. 18 S. 0,25 M. 

O. Flügel, Die Wunder Jesu Christi und die Naturgesetze. 3. Aufl. 
49 S. 0,65 M. 

G. Lehne, Anstaltserziehung. 17 S. 0,25 M. 

Karl König, Der Jugendhort. 29 S. 0,50 M. 

W. Fritzsche, Das Volksschullesebuch. 48 S. 0,60 M. 

Kuhn-Kelly, Über Mißhandlung der Kinderseele. 20 S. 0,30 M. 

O. Schulze, Zur Frage des Heimatlichen. (Zugleich ein Stück Päda- 
gogik.) 29 S. 0,40 M. 

Heinrich Wetterling, Staatliche Organisation der Jugendpflege. 
2. vermehrte Auflage. 38 S. 0,50 M. 

J. Tews, Jugendpflege. 2. Aufl. 188. 0,25 M. 

G. Schneege, Goethes Spinozismus. 72 S. 1 M. 


: A. Popowitsch, Die Ergebnisse der experimentellen Psychologie und 


Pädagogik. 1568. 2 M. 


: Marx Lobsien, Über den Vorstellungstypus der Schulkinder. Unter- 


suchungen nach der Kraepelinschen Methode. 67 S. 0,90 M. 


: H. Fränkel, Das Mannheimer Volksschulsystem. 36 S. 0,50 M. 


A. Teuscher, J. H. G. Heusinger als Pädagog. 183 S. 2 M. 


: G. Siske, Willens- und Charakterbildung bei Vives. 91 S. 1,20 M, 


Joh. Prüfer, Vorläufer Fröbels. 36 S. 0,50 M. 


: P. Oldendorff, Höhere Schule und Geisteskultur mit Beziehung auf 


die Lehrerbildung. 36 S. 0,50 M. 


: Max Gerlach, Wie kann man auch in der Massenerziehung die In- 


dividualität des Kindes berücksichtigen? IV u. 61 S. 0,80 M. 


: Gregor Schmutz, Früheste Erinnerungen. 30 S. 0,40 M. 
: Ernst Petzold, Das Arbeitsprinzip im naturkundlichen Unterricht. 


17 8. 0,40 M. 


: A. Scheller, Die Methoden des bibl. Geschichtsuuterrichts. 288. 0,40 M. 
: K. Kubbe, Charakterbildung bei Herbart und Meumann. 1098. 1,50M. 


Marx Lobsien, Das 10 Minuten-Turnen. 26 S. 0,35 M. 

K. Trautermann, Entstehung, Entwicklung und jetziger Stand einer 
Lehrmittelsammlung. 55 S. 0,70 M. 

E. v. Sallwürk, Zum Gedächtnis Jean-Jacques Rousseaus. 208. 0,30 M. 

R. Arndt, Turgot als Pädagoge. 16 S. 0,25 M. 

J. Tews, Familie und Familienerziehung. 60 S. 0,90 M. 

E. Behrens, Die Bürgerkunde im Unterricht der höheren Mädchen- 
schule. 25 S. 0,30 M. 

F. Menzel, Rousseausche Ideen in E. M. Arndts Fragmenten über 
Menschenbildung. 34 S. 0,40 M. 

H. Löffler, Die staatsbürgerliche Erziehung. 53 S. 0,70 M. 


188 


D. Literatur. 





Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung. Langen- 


salza, H 
Heft 67 


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„ 10: 
„ 102: 


„ 108: 
„ 104: 


„ 105 


ermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1912. 

: Hermann, Grundlagen für das Verständnis krankhafter Seelenzustände 
(psychopathischer Minderwertigkeiten) beim Kinde in 30 Vorlesungen, 
2. Aufl. 5 Tafeln. 194 S. 3 M, geb. 4 M. 

: Y. Motora, Ein Experiment zur Einübung von Aufmerksamkeit. 
(Mit 3 Tafeln.) 16 S. 0,30 M. 

Eugenie Breitbart-Schuchmann, Die Behandlung der jugend- 
lichen Rechtsbrecher im russischen Straf- und Strafprozeßrecht. 
118 S. 1,80 M. 

: F. Warburg, Über die angeborene Wortblindheit und die Bedeutung 

ihrer Kenntnis für den Unterricht. 21 S. 0,40 M. 
: J. Trüper, Zeitfragen. 32 S. 0,50 M. 
: Ders., Personalienbuch. 2. Aufl. XX u. 31 S. 0,80 M. 
: E. Mentzel, Die Pflanzenkenntnis bei den Kindern unserer Elementar- 
klasse. (Mit 4 Tafeln.) 35 S. 0,65 M. 

: Fr. Rössel, Richtlinien für die Stoffauswahl im Unterrichte schwach- 
sinniger Kinder. 20 S. 0,30 M. 

: Karl König, Die Waldschule. VIII u. 124 S. 2,20 M. 

: A. Vincenz, Zur Analyse des kindlichen Geisteslebens beim Schul- 
eintritte. (Mit 14 Tafeln.) 66 S. 2,40 M. 

: F. Schmidt und J. Delitsch, Das Jugendgericht in Plauen i. Vgtl. 
45 8. 0,75 M. 

: Ernst Ziemke, Die Beurteilung jugendlicher Schwachsinniger vor 
Gericht. 20 S. 0,35 M. 
: Karl Wilker, Jugenderziehung, Jugendkunde u. Universität. 62 S. 1M. 
: Michael Cohn, Kinderprügel und Masochismus. 20 S. 0,30 M. 
: Marx Lobsien, Über den Einfluß des Antikenotoxin auf die Haupt- 
komponenten der Arbeitskurve 288. 0,45 M. 

: Max Kirmsse, Weises Betrachtung über geistesschwache Kinder. 
(Mit 2 Abb.) 97 S. 1,50 M. 

: Richard Schauer, Beobachtungen über die typischen Einwirkungen 
des Alkoholismus auf unsere Schüler. 27 S. 0,45 M. 

: G. Anton, Über die Formen der krankhaften moralischen Abartung. 
18 S. 0,30 M. 

Ad. Ferrière, Biogenetik und Arbeitsschule. 72 S. 1,60 M. 

Johannes Delitsch, Soziale Fürsorge für die aus der Hilfsschule 
Entlassenen. 20 8. 0,35 M. 

O. Flügel, Ziehen und die Metaphysik. 19 S. 0,35 M. 

Mönkemöller, Die Psychopathologie der Pubertätszeit. 298. 0,50 M. 

: F. Schmid, Ist die Entmündigung psychopathisch Minderwertiger rat- 

sam, und wann soll sie eingeleitet werden? 18 S. 0,35 M. 





Verantwortliche Schriftleitung für Abhandlungen und Mitteilungen: Dir. I Trüper, 
k 


Sophienhöhe b. Jena; für Zeitschriftenschau und Literatur: Dr. Karl Wi 


er, Jena, 
Weißenburgstraße 27. 


Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 





Verlag von Hermann BEYER & Söune (BEYER & Mann) in Langensalza. 


Beiträge zur Kinderlorschung, und Heilerziehung, 


Beihefte zur »Zeitschrift für Kinderforschung«. 





Im Verein mit 
Dr. G. Anton Dr. E. Martinak Chr. Ufer Karl Wilker 
Geh. Med.-Rat u. Prof. o. ö. Prof. d. Philosophie Rektor d. Süd-Mädchen- Dr. phil 


an der Univ. Halle u. Pädag. a. d. Univ. Graz Mittelschulei. Elberfeld in Jena i. Thür. 
herausgegeben von 
J. Trüper 


Direktor der Erziehungsheimes und Jugendsanatoriums auf der Sophienhöhe bei Jena. 


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Die Sittlichkeit des Kindes. Von Dr. A. Schinz, Privatdozent der Philosophie 
an der Akademie Neufchâtel. Ubers. von Rektor Chr. Ufer. 46 S. Preis 75 Pf. 
Über J. J. Rousseaus Jugend. Von Dr. med. P. J. Möbius. 33S. Preis 60 Pf. 
Die Hilfsschulen Deutschlands und der deutschen Schweiz. Von A. 
Wintermann, Leiter der Hilfsschule in Bremen. Preis 1 M 25 Pf. 
. Die mediziniseh- pädagogische Behandlung gelähmter Kinder. Von Prof. 
Dr. A. Hoffa in Würzburg. Mit 1 Tafel. 16 S. Preis 40 Pf. 
Zur Frage der Erziehung unserer sittlich gefährdeten Jagend. Von J. 
Trüper, Dir. des Erziehungsheims Sophienhöhe b. Jena. 40 S. Preis 50 Pf. 
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berg, Dir. d. städt. Krankenhauses zu Liegnitz. Mit 7 Textabb. 24 S. Preis 40 Pf. 
Die Grundzüge der sittlichen Entwicklung und Erziehüng des Kindes. 
Von Dr. H. E. Piggott. 87 8. Preis 1 M 25 Pf. 
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Jugendlieher. Von Dir. J. Trüper. 62 S. Preis 1 M. 
. Der Konfirmandenunterricht in der Hilfsschule. Von Heinrich Kielhorn, 
Leiter der Hilfsschule in Braunschweig. 40 S. Preis 50 Pf. 
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Individuums und der Völker. Von O. Flügel. 45 S. Preis 75 Pf. 
. Einige Aufgaben der Kinderforschung auf dem Gebiete der künstlerischen 
Erziehung. Von Conrad Schubert, Rektor in Altenburg. 31 S. Preis 50 Pf. 

. Strafrechtsreform und Jugendfürsorge. Von W. Polligkeit, jur. Dir. der 
Cent. f. priv. Fürsorge in Frankfurt a/M. 25 S. Preis 50 Pf. 
16 Monate Kindersprache. Von Dr. H. Tögel. 36 S. Preis 50 Pf. 
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Dr. Eugen Neter. 28 X. Preis 45 Pf. 
. Zur Frage des Bettnässens. Von Dr. med. Hermann. 188. Preis 30 Pf. 
Warum und wozu betreibt man Kinderstudium? Von A. J. Schreuder, 
Direktor des Med.-Päd. Instituts zu Arnheim. 40 8. Preis 50 Pf. 
17: Eyemalegiae Beobachtungen an zwei Knaben. Von Gottlieb Friedrich, 
Gymnasial-Professor in Teschen. 79 S. Preis 1 M 25 Pf. 

18. Die Abartungen des kindlichen Phantasielebens in ihrer Bedeutung für 
die päd. Pathelogie. Von Dr. med. Julius Moses. 32 S. Preis 50 Pf. 

19. Hygiene der Bewegung. Von Dr. H. Pudor. 44 8. Preis 75 Pf. 
20. Zur Frage der Behandlung unserer jugendlichen Missetäter. Von J. 
Trüper, Dir. des Erziehungsheims Sophienhöhe b. Jena. 34 S. Preis 50 Pf. 

21. Die Verwahrlosung des Kindes und das geltende Recht. Von Dr. 
Heinrich Reicher, Privatdozent a. d. Wiener Universität. 32 S. Preis 50 Pf. 

22. Über Vorsorge und Fürsorge für die intellektuell schwache und sittlieh 
gefährdete Jugend. Von Dr. M. Fiebig, Schularzt in Jena. 50 S. Preis 75 Pf. 

23. Über Arbeitserziehung. Von Pastor Plass, Direktor des Erziehungsheims am 
Urban, Zehlendorf. 22 S. Preis 40 Pf. 


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Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Bever & Mann) in Langensalza. 





Heft 
24. 


25. 
26. 
27. 


28. 


29. 
30. 
31. 
32. 


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34. 





Das ge in seiner Bedeutung für die Entwicklung des Kindes. 


Von Max lin, Rektor in Mannheim. 44 S. Preis 75 Pf. 
Wesen und Aufgabe einer Schülerkunde. Von Dr. E. Martinak, Professor 
der Pädagogik an der Universität Graz. 18 S. Preis 30 Pf. 
Die forensische Behandlung der Jugendlichen. Von W. Kulemann, Land- 
gerichtsrat in Bremen. 218. Preis 40 Pf. 


Die Impressionanpilität der Kinder unter dem Einfluss des Milieus. Von 
Dr. Adolf Baginsky, Professor an der Universität Berlin und Direktor des 
Kaiserin Friedrich-Kinderkrankenhauses. 21 8. Preis 40 Pf. 
Rachitis als eine auf Alkoholisation und Produktionserschöpfang be- 
ruhende Entwicklungsanomalie der Bindesubstanzen. Von Dr. M. Fiebig, 


Schularzt in Jena. 38 S. Preis 75 Pf. 
Psyehasthenisehe Kinder. Von Dr. Th. Heller, Direktor der Erziehungsanstalt 
für geistig abnorme Kinder Wien-Grinzing. 18 S. Preis 35 Pf. 
Die Fürsorge für die schulentlassene Jugend. Von Dr. Felisch, Geh. 
Admiralitätsrat. 17 S. Preis 30 Pf. 
Farbenbeobachtungen bei Kindern. Von Dr. Karl L. Schaefer, Professor 
an der Universität Berlin. 16 8. Preis 30 Pf. 


Über die Möglichkeit der Beeinflussung abnormer Ideenassoziation dureh 
Erziehung und Unterricht. Von Hugo Landmann, Oberlehrer am Trüperschen 


Erziehungsheim Sophienhöhe b. Jena. 218. Preis 40 Pf. 
Über hysterische Epidemien an deutschen Sehulen. Von Kurt Walther Dix, 
Lehrer in Meißen. 46 S. Preis 75 Pf. 
Die psychologische und BINAEREIAChE Begründung der Notwendigkeit 
des praktischen Unterrichts. Von Dr. A. Pabst, Direktor des Handarbeits- 
seminars in Leipzig. 20 S. Preis 40 Pf. 
Die oberen Stufen des Jugendalters. Von Dr. H. Schmidkunz in Halensee 
bei Berlin. 20 S. Preis 40 Pf. 
. Fröbelsche Pädagogik und Kinderforschung. Von Hanna Mecke in Cassel. 
18 S. Preis 35 Pf. 
. Über individuelle Hemmungen der Aufmerksamkeit im Schulalter. Von 
J. Delitsch, Hilfsschul-Direktor in Plauen i. V. 25 S. Preis 50 Pi. 
Die Taubstumm-Blinden. Von G. Riemann, Kgl. Taubstummenlehrer zu 
Berlin. Mit 2 Tafeln. 218. Preis 45 Pf. 
Beitrag zur Kenntnis der Schlafverhältnisse Berliner Gemeindeschüler. 
Von Dr. L. Bernhard, Schularzt in Berlin. 13 S. Preis 25 Pf. 
Wohnungsnot und Kinderelend. Von A. Damaschke. 17 S. Preis 30 Pf. 


. Jugendliche Verbrecher. Von Dr. G. von Rohden. 18 S. Preis 35 Pf. 
. Die Bedeutung der Hilfsschulen für den Militärdienst der geistig Minder- 


wertigen. Von Dr. Ewald Stier, Stabsarzt in Berlin. 26 S. Preis 50 Pf. 
Der Zitterlaut R. Von O. Stern, Tbst.-L. in Stade. Mit 2 Fig. 388. Pr. 75 Pf. 


. Psycehologisches zur ethischen Erziehung. Von Professor Dr. Stephan 


Witasek. Mit 1 Tafel. 17 S. Preis 30 Pf. 


. Zur Wertschätzung der Pädagogik in der Wissenschaft wie im Leben. 


Von J. Trüper, Dir. d. Erziehungsheims Sophienhöhe b. Jena. 288. Pr. 50 Pf. 
Fingertätigkeit und Fingerrechnen als Faktor der Entwicklung der Intelli- 
genz und der Rechenkunst bei Schwaehbegabten. Von H. Nöll. 608. Pr. 1 M. 


. Der erste Sprechunterricht (Artikulationsunterricht) bei Geistessehwachen. 


Von Hauptlehrer Strakerjahn. Mit 2 Textabb. u. 1 Tafel. 25 S. Preis 60 Pf. 


. Das staatliehe Kindersehutzwesen in Ungarn. Von Dr. Franx v. Torday. 


Oberarzt des Budapester staatlichen Kinderasyls. 37 8. Preis 80 Pf. 


. Die Prügelstrafe in der Erziehung. Von Dr. O. Kiefer. 428. Preis 75 Pf. 
. Der Tie im Kindesalter und seine erziehliche Behandlung. Von Gustav 


Dirks. 29 S. Preis 60 Pf. 


. Zur Literatur über Jugendfürsorge und Jugendrettung. Von K. Hemprich, 


27 S. Preis 50 Pf. 





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Verlag von Hermann Bever & Sönse (Beyer & Many) in Langensalza. 








Heft 
52. Kind und Gesellschaft. Von Konrad Agahd in Rixdorf. 38 3. Preis 60 Pf. 
53. Der Kinderglaube. Von H. Schreiber, Lehrer i. Würzburg. 70S. Preis 1M25 Pf. 
54. Psyehopathisehe Mittelschüler. Von Dr. phil. Theodor Heller, Direktor der 
Heilerziehungsanstalt Wien-Grinzing. 26 8. Preis 50 Pf. 
55. Über den Einfluss der venerischen Krankheiten auf die Ehe sowie über 
ihre Übertragung auf kleine Kinder. Von Prof. E. Welander, Stockholm. 
43 S. Preis 75 Pf. 
56. Die Bedeutung des Unterrichts im Formen für die Bildung der Ansehauung. 
Von H. Denzer. 25 8. Preis 50 Pf. 
57. Uber den Einfluss des Alkoholgenusses der Eltern und Ahnen auf die Kinder. 
Von Dr. A. H. Oort, Arzt a. Sanat. Rheingeest b. Leiden, Holland. 208. Preis 40 Pf. 
58. Jugendsehatz-Kommissionen als vollwertiger Ersatz für Jugendgerichts- 
höfe. Von Kuhn-Kelly, Präsident u. Kinderinspektor der Gemeinnützigen Ge- 
sellschaft der Stadt St. Gallen. 19 S. Preis 40 Pf. 
59. Das amerikanische Jugendgericht und sein Einfluss auf unsere Jugend- 
reang und Jugenderziehung. Von Dr. B. Maennel, Rektor in Halle a. S. 


A Preis 50 Pf. 

60. Die Entwicklung der Gemütsbewegungen im ersten Lebensjahre. Von 
Martin Buchner in Passau. (Mit 4 Tafeln.) 20 8. Preis 50 Pf. 

61. Frühreife Kinder. Psychologische Studie von Dr. Otto Boodstein, Stadtschulrat 
in Elberfeld. 43 S. Preis 75 Pf. 

62. Der Arzt in der Hilfsschule. Von Geh. Reg.- u. Med.-Rat Prof. Dr. Leu- 
buscher und Hilfsschullehrer Adam. 26 S. Preis 50 Pf. 

63. Die Suggestion im Leben des Kindes. Von Hans Plecher, München. 36 S. 
Preis 60 Pf. 

64. Das Beobachtungshaus der Erziehungsanstalten. Von J. Petersen, Direktor 
des Waisenhauses in Hamburg. 19 8. Preis 40 Pf. 


65. Über den gegenwärtigen Stand der Kunsterziehungsfrage in Österreich. 
Von Prof. Alois Kunxfeld in Wien. (Mit 1 Doppeltafel.) 34 S. Preis 75 Pf. 
66. Straffällige Schulknabea in intellektueller, moralischer und sozialer Be- 
ziehung. Von C. Berkigt, Lehrer an der Kgl. Landesstrafanstalt zu Bautzen. 
42 S. Preis 65 Pf. 
67. Grundlagen für das Verständnis krankhafter Seelenzustände (psyeho- 
pathiseher Minderwertigkeiten) beim Kinde in 30 Vorlesungen. Von Dr. med. 
Hermann, Merzig a/Saar. (Mit 5 Tafeln.) 2. Aufl. 1948. Preis 3 M., geb. 4 M. 
68. Lüge und Ohrfe'ge. Eine Studie auf dem Gebiete der psychologischen Kinder- 
forschung u. der Heilpädagogik. Von Kuhn-Kelly, Präsident u. Kinderinspektor 


der Gemeinnützigen Gesellschaft der Stadt St. Gallen. 23 S. Preis 40 Pf. 

69. Die Sinneswahrnehmungen der Kinder. Von Dr. phil. Hugo Schmidt 33 S. 
Preis 50 Pf. 

70. Der Selbstmord im kindlichen und jugendlichen Alter. Von Dr. med. 
Neter. 228. Preis 40 Pf. 

71. Zur Kenntnis der Ernährungsverhältnisse Berliner Gemeindeschüler. Von 
Dr. L. Bernhard, städt. Schularzt in Berlin. 28 S. Preis 45 Pf. 

72. Einfluss von Gebirgswanderungen auf die körperliche Entwicklung unserer 
Voiksschuljugend. Von Dr. H. Roeder-Berlin. 17 S. Preis 30 Pf. 

73. Die sozialen und psychologisehen Probleme der jugendlichen Verwahr- 
losung. Von Dr. Julius Moses, Arzt in Mannheim. 32 8. Preis 50 Pf. 

74. Wie weit reicht das Gedächtnis Erwachsener zurück? Von Gregor 
Schmutz, Landes-Taubstummenlehrer in Graz. 27 S. Preis 45 Pf. 


75. Ursachen der Verwahrlosung Jugendlicher. Von J. Delitsch. 358. Pr. 60 Pf. 
76. Beobachtungen über die geistige Entwicklung eines Kindes in seinem: 

ersten Lebensjahre. Von Dr. T. Ischikawa, Irrenarzt in Tokio. 538. Pr. 90 Pf. 
77. Ein Experiment zur Einübung von Aufmerksamkeit. Von Dr. phil. Y. Motora, 
Professor an der kaiserl. Univ. zu Tokio. (Mit 3 Tafeln.) 16 S. Preis 30 Pf. 





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Verlag von Hermanx BEYER & Sönne (Bever & Mans) in Langensalza. 


Heft 


78. 


79. 











Die Behandlung der jugendlichen Rechtsbrecher im russisehen Straf- und 
Strafprozessrecht. Von Eugenie Breitbart-Schuchmann aus Odessa (Rußland). 
118 S. Preis 1 M 80 Pf. 
Über die angeborene Wortblindheit und die Bedeutung ihrer Kenntnis 
für den Unterricht. Von Dr. med. F. Warburg, Köln. 218. Preis 40 Pf. 
Zeitfragen. Von J. Trüper. 32 S. Preis 50 Pf. 


. Die staatsbürgerliche Erziehung im Lehrplan der Volksschule. Von R. 


Lambeck, Rektor a. D. in Remscheid-Hasten. 63 S. Preis 1 M. 


4 Lehrpläne für den Unterricht in der Hilfsschule nebst methodischer An- 


weisung. Von Rud. Weiß, Dir. d. Hilfssch. zu Zwickau i/S. 135 S. Pr. 2 M70 Pf. 


. Verfassung und Erziehungsplan des Kindergartens. Von M. Damrow. 


IV u. 72 8. Preis 1 M 60 Pf. 
Personalienbuch. Von J. Trüper. 2. Aufl. XX u. 318. Preis 80 Pf. 
Die Pflanzenkenntnis bei den Kindern unserer Elementarklasse. Von 
E. Mentxel, Seminarlehrer in Altenburg. (Mit 4 Tafeln.) 358S. Preis 65 Pf. 
Die reine Kinderleistang. Von R. Egenberger, München. (U. d. Pr.) 


. Richtlinien für die Stoffauswahl im Unterriehte schwachsinniger Kinder. 


Von Fr. Rössel. 20 S. Preis 30 Pf. 
Erholungsheime für schulpflichtige Kinder der Grossstadt. Von Richard 
Schauer. 90 S. Preis 1M 60 Pf. 


. Die Waldschule. Von Karl König, Kreisschulinspektor in Mülhausen i. Els. 


VII u. 124 S. Preis 2M 20 Pf. 
Zur Analyse des kindlichen Geisteslebens beim Schuleintritte. Von 
A. Vincenz. 66 S. (Mit 14 Tafeln.) Preis 2 M 40 Pf. 


. Das Jugendgericht in Plauen i. Vgtl. Von F. Schmidt, Amtsrichter, und 


J. Delitsch, Schuldirektor. 45 8. Preis 75 Pf. 
Die Beurteilung jugendlicher Schwachsinniger vor Gericht. Von Prof. 
Dr. Ernst Ziemke-Kiel. 20 S. Preis 35 Pf. 


. Jugenderziehung, Jugendkunde und Universität. Von Dr. Karl Wilker. 


62 S. Preis 1 M. 


2 nen der österreichischen Schulreform. Von Dr. Ludwig Singer. 


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. Kinderprügel und Masochismus. Von Dr. Michael Cohn, Kinderarzt in 


Berlin. 20 S. Preis 30 Pf. 
Über den Einfluss des Antikenotoxin auf die Hauptkomponenten der 
Arbeitskarve. Von Marx Lobsien, Kiel. 28 S. Preis 45 Pf. 


. Weises Betrachtung über geistesschwache Kinder. Von Max Kirmsse, 


Lehrer a. d. Erzichungsanstalt Idstein i. T. Mit 2 Abb. 97 S. Preis 1 M 50 Pf. 
Beobachtungen über die typischen Einwirkungen des Alkoholismus auf 
unsere Schüler. Von Richard Schauer. 27 N. Preis 45 Pf. 
Über die Formen der krankhaften moralischen Abartung. Von Dr. G. 
Anton, Geh. Med.-Rat u. Prof. a. d. Univ. Halle 18 S. Preis 30 Pf. 


. Biogenetik und Arbeitssehule. Von Prof. Dr. Ad. Ferrière. T28. Pr. 1M 60 Pf. 
2. Soziale Fürsorge für die aus der Rilfsschule Entlassenen. Von Johannes 


Delitsch. 20 S. Preis 35 Pf. 


3. Ziehen und die Metaphysik. Von O. Flügel. 19 S. Preis 35 Pf. 
. Die Psychopathologie der Pubertätszeit. Von Oberarzt Dr. Mönkemöller. 


29 8. Preis 50 Pf. 


. Ist die Entmündigung psychopathisch Minderwärtiger ratsam, und wann 


soll sie eingeleitet werden? Von Amtsgerichtsrat Dr. F. Schmid in Jena. 
18 S. Preis 35 Pf. 


3> Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen und schwer- 


schwachsinnigen Kindern. Von Kurt Lehm, Dresden. Mit 4 Abbildungen. 
36 Seiten. Preis 70 Pf. 








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A. Abhandlungen. 


1. Psychische Fehlleistungen. 
Von 
R. Egenberger, München. 
(Fortsetzung.) 


Versprechen. 

Im folgenden führe ich bestimmte Störungen der Lautfolge an, 
wie sie uns im gewöhnlichen Versprechen häufig begegnen, und die 
wir insbesondere in der schriftlichen Darstellung der Kinder mitunter 
als typischen Fehler antreffen. 

Die Fehlleistungen, die wir als Vorausnahme und Nach- 
wirkung bezeichnen, kennzeichnen sich durch eine Vertauschung, 
einen Umsturz der Laute oder der Buchstaben. Es entsteht ein un- 
deutsches, nicht gebräuchliches Wort, obwohl das Wort von dem 
Fehlenden schon viele Male richtig gesprochen und geschrieben wurde. 
Für diese Fehlleistungen wenden wir speziell das Wort Versprechen an. 

In welcher Weise nun ist wohl die Lautordnung eines Wortes 
gestört? 

1. Es kann ein Vertauschen der Laute stattfinden, so daß der 
Laut, der erst gegen das Ende des Wortes aufzutreten berechtigt ist, 
schon zu Beginn des Wortes in Erscheinung tritt. Diese Art des 
Vertauschens bezeichnet man als Vorausnahme (Anticipation) 
(Mehringer) z. B.: 

saget für sagte 
begaut für gebaut 
Gustva für Gustav 
Kopfhinter für Hinterkopf. 
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 13 


194 A. Abhandlungen. 





2. Das »Sich-Versprechen« erscheint als Nachwirkung (Post- 
position). Hier behauptet sich ein Laut, der berufen ist, etwa einmal 
aufzutreten, auch noch ein zweites Mal. Es tritt dadurch entweder 
eine Erweiterung um einen oder mehrere Laute ein, oder es werden 
Laute völlig verdrängt. Z. B.: 

Leberknödel wird Leberknöbel gesprochen. 

Kickeriki wird Kickirikri gesprochen. 

Schüssel wird Schüschel gesprochen. 

Seifenschüssel == Scheifenschüschel (Vorausnahme und Nachwirkung). 


Laute verschiedener Wörter werden vermengt. 
Wortvermengungen (optisch und akustisch ablenkende Be- 
einflussung). 

Die Wortvermengung (Onomatomixie) (Wundt) ist mit den soeben 
genannten Fehlleistungen enge verwandt. Bei den behandelten Störungen 
waren die Laute innerhalb eines Wortes umgestellt; bei den Wort- 
vermengungen finden gleichfalls Umstellungen statt, aber sie erstrecken 
sich auf größere Entfernungen. Es findet bei der Wortvermengung 
die teilweise oder vollständige Verdrängung eines Wortes durch ein 
anderes Wort statt. Es vermengen sich Wörter, zwischen denen eine 
Laut- oder Begriffsverwandtschaft besteht, also auf Grund bestehender 
Assoziationen. 

Es findet dabei eine Analogiebildung statt. Die weniger oft 
vorkommenden oder die außergewöhnlichen Formen werden 
nach dem Rezepte der regelmäßig und häufig gesprochenen 
Formen gebildet. Auf diese Weise erklärt sich vielleicht folgender 
Fehler. Ein Mädchen sprach: das Wand, das Tisch, das Deckel; da- 
zwischen auch wohl einen anderen Artikel, doch herrschte das Neutrum 
vor. In der Kinderstube hängt man mit Vorliebe den Wörtern ein 
lein oder erl oder le an. Statt der Bub sagt man das Buberl, aus 
der Wurst wird das Würstl, und ebenso: das Mutterl, das Tischlein, 
das Hüterl usw. Das Neutrum gewinnt dadurch einen Vorsprung; 
denn die häufig gebrauchten Formen müssen wir uns als die geübteren 
und wirksameren vorstellen. 

Aus dem Satze: »Die Frau kehrt mit dem Besen« entstand durch 
Versprechen: »Die Frau best.« »Best« erinnert an »kehrt«, wovon 
nur die Flexionsendung t erhalten blieb, und an »Besen«, wovon die 
Endung en wegblieb. Es handelt sich hier durchaus nicht um die 
Neubildung eines Zeitwortes in der Weise, wie sich etwa das Sub- 
stantiv Hammer und das Zeitwort hammert verhalten, sondern hier 
liegt ein Sprechfehler vor, welcher sofort korrigiert worden ist. Die 


Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 195 





Assoziation zwischen Besen und kehren ist die Brücke, durch deren 
Vorhandensein die Angleichung ermöglicht war. Gerade die Flexion 
des Zeitwortes ist eine unerschöpfliche Quelle für Wortvermengungen 
und Angleichungen. Insbesondere stehen die starken und schwachen 
Formen der Konjugation in Konkurrenzkampf. Je mehr bestimmte 
Formen geübt sind, d. h. gebraucht werden, desto größer sind die 
Aussichten, daß analog diesen, die anderen Verbalformen konstruiert 
werden. Es gibt Kinder, die die starken Verba wie die schwachen 
behandeln und umgekehrt, z. B. »getrinkt« für getrunken, »gehte« für 
ging; »der Hund wird ins Wasser hineingewerft«; »stechte in das 
Herz« —= stach in das Herz; »du sterbst nicht«; »Hast du das issen?« 
»freßt alle Teller leer«. 

Es ist den Kindern die Aufgabe gestellt, die Objekte, welche auf 
dem Tische liegen oder welche auf die Tafel gezeichnet sind, mit den 
ihnen zugehörigen Namen zu benennen. Richtig gesprochen, würden 
diese lauten: Maus, Mantel, Messer, Wasser, Wand, Wiese; sie werden 
aber so gesprochen: Maus, Mantel, Messer, Masser, Mand, Miese. Hier 
ist der Übergang von der M-Wörtergruppe zur W-Wörtergruppe ver- 
paßt worden; das M wirkt nach und verdrängt zugleich das W. Eine 
Reihe von solchen Proben bestätigen mir, daß immer dann, wenn es 
sich um den Übergang oder den Wechsel einer psychischen 
Bewegung handelt, welcher eine weittragendere, allge- 
meinere Bedeutung zukommt, und nun durch einen zweiten 
psychischen Akt, welcher etwa eine kleinere Modifikation 
bedeutet, abgelöst werden soll, eine Hemmung oder Er- 
schwerung dieser Ablösung, dieses Wechsels oder Über- 
ganges sehr leicht in Erscheinung tritt. Wichtige Elemente 
und Impulse verselbständigen sich dermaßen, daß sie zu Störungen 
ausarten, indem sie in gleicher Richtung beharren und neue Impulse 
und neue psychische Akte nicht aufkommen lassen. Das Vermögen 
zu beharren charakterisiert diese Form der Nachwirkung.!) Als 
weiteres Beispiel füge ich noch folgenden Vers bei: Duftend pranget 
Flur und Hain. Gesprochen wurde aber: »Duftend pranget pur und 
pain.e Die Nachwirkung äußert sich aber in noch ganz anderer 
Weise. Sie beschränkt sich nicht bloß auf einzelne Laute, sondern 
sie bezieht sich auch auf ganze Worte: ich lasse z. B. die Objekte 
benennen und zeige auf das Wasser. Die Antwort »Wasser« erfolgt 
korrekt. Nun zeige ich auf die Wand; die Antwort lautet: » Wassers, 


1) Vorausnahme und Beharrung zeigen diese Beispiele: Gürtül (Gürtel), Gü- 
müse (Gemüse) — akustisch ablenkende Beeinflussung. 
13* 


196 A. Abhandlungen. 





ist also falsch und wird nachträglich korrigiert. Die falsche Antwort 
beruht auf einer Nachwirkung (auf einem Nicht-Loskommen 
vom unmittelbar Vorhergehenden); die Nachwirkung be- 
zeichnet zugleich entstehende Schwierigkeiten hinsichtlich 
des Untergehens und Vergessens aufgetauchter Vorstellungen. 

Vermengung mit Vorausgegangenem kann aber auch auf ganz 
anderen Gebieten bemerkt werden; z. B. im Gebiete der Bewegungen 
und Handlungen. Um den Inhalt des Wortes »herumgehen« zu ver- 
anschaulichen, mußte ein Schüler um den Tisch »herum«gehen. Eine 
Schülerin sollte um die Schultafel »herum«-gehen; trotz sechsmaliger 
Aufforderung ging sie auch um den Tisch, statt um die Schultafel 
herum. — Ein Knabe sollte zum Lehrer der Nachbarklasse ein Zirkular 
hinübertragen. Der Auftrag wurde ihm deutlich gesagt und auch die 
Türe genau bezeichnet, an welcher er anzuklopfen habe. Der Auftrag 
wurde nicht erfüllt; der Knabe trug das Zirkular zum Oberlehrer der 
Schule, welcher sein Bureau in einem anderen Schulgebäude hat. 
Dieses Verlaufen erklärt sich dadurch, daß derselbe Knabe tags zuvor 
in einer ähnlichen Angelegenheit zum Oberlehrer zu gehen hatte. — 
Um die Größe des Schulzimmers zu bestimmen, mußte dieses ab- 
geschritten werden. Es stellte sich heraus, daß es zehn Schritte breit 
ist. Bald darauf mußte bestimmt werden, wie groß die vorgezeigte 
Zwetschge ist. Mehrere Kinder deuteten die Größe an, indem sie den 
Abstand mittels Zeigefinger und Daumen angaben. Auf die Frage an 
einen der Schüler ergab sich trotzdem als Antwort: »Die Zwetschge 
ist zehn Schritte groß.« 

Wie erklären sich die Fehler des Versprechens? 

Für alle Fälle steht fest, daß hier eine bestimmte Regel- und 
Gesetzmäßigkeit besteht. Es zeigt sich, daß eine Einwirkung auf 
einzelne Laute stattfand. Es läßt sich auch nachweisen, von welcher 
Stelle aus die Einwirkung jeweils erfolgte. Die Folge der Einwirkung 
ist eine Veränderung des Lautes. Diese Veränderung erstreckt sich 
entweder (regressiv) auf einen vorausgehenden oder (progressiv) auf 
einen nachfolgenden Laut. Es müssen also zwischen den Lauten die 
hier in Betracht kommen, Kontakte bestehen. Diese Kontakte sind 
nur auf Grund von Assoziationen denkbar (Assoziationsstörungen). Die 
Laute, die in Kontakt stehen, sind zeitlich und räumlich nahe bei- 
sammen, sie können also gleichzeitig oder doch kurz nacheinander ins 
Bewußtsein treten. Aber auch auf größere Entfernungen sind der- 
artige Assoziationswirkungen nachzuweisen. Man muß sich dabei nur 
auch gegenwärtig halten, daß es Assoziationen zwischen Vorstellungs- 
elementen, nicht zwischen Vorstellungen (komplexer Natur) sind. 


Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 197 





Gerade die Beispiele des Versprechens liefern hiefür einen deutlichen 
Beweis. Die Lautassoziation spielt eine größere Rolle, als wir meinen. 
Unsere Kinder sprechen und reimen, spielen und dichten mit laut- 
ähnlichen Worten. Hier kommt die Lautassoziation rein zur Geltung. 
Aber auch beim Erwachsenen überwiegt dieselbe; die experimentelle 
Psychologie hat das nachgewiesen und die Fehlleistungen beweisen 
dasselbe. Z. B. 8.2 = 18; 7.2 = 17; 9.2 = 19. 


Das Gleiche auch hier: 1.2 = 2 
PAO 4 

3.2 = 6 

4.2 = 8 

5.2 = 10 

6.2 = 12 

7.2 = 14 

4 61). 2 = 16 


Beim »Versprechen« gibt Mehringer die Erklärung, daß bezüglich 
der einzelnen Laute eine Verschiedenwertigkeit anzunehmen sei. Als 
höchstwertige Laute gelten ihm der Anlaut der Wurzelsilbe, der Wort- 
anlaut und die betonten Vokale. Ob den einzelnen Lauten des Wortes 
dieser größere oder geringere Wert zukommt, muß sich bei den ersten 
Übungen im Buchstabieren deutlich zeigen. Das Wort Maus wurde 
buchstabiert: M...s; das Wort Stein: ...n. An unzähligen Beispielen 
zeigte sich es immer wieder, daß nicht gerade die Laute, welche für 
den Privatgelehrten vollwertig sind, auch für die Verhältnisse, von 
denen wir hier sprechen, diese absolute Bedeutung haben. Vom 
Standpunkte der Wortbildung aus erscheint die Sache doch etwas 
anders. Bei den Kindern, welche der Sprache in nur geringem Maße 
mächtig sind, ist das gesprochene Wort ein zusammengehöriger, zu- 
nächst nicht entwirrbarer Lautkomplex. Die einzelnen Laute des 
Wortes werden manchmal erst im sechsten oder siebenten Lebensjahre 
aufgefaßt und zwar oft erst in der Schule durch Wortanalyse. Gerade 
die Wortanalyse bereitet aber in diesem Alter zahlreiche Schwierig- 
keiten. Wenn aus dem Worte »Stein« nichts als das »n« heraus- 
gehört wird, so ist für den Jungen dieses Wort eben vorerst nur ein 
Lautkomplex. Das kennzeichnet eben die Entwicklungsstufe, auf der 
er steht. Daß etwa der erste und letzte Laut des Wortes losgelöst 
werden, erscheint mir ganz natürlich aus dem Grunde, aus dem eben 
die Initial- und Finalbetonung ihre ganz besondere Bedeutung haben. 
Wie so einem Lautkomplex jeder einzelne Laut abgerungen werden 


1) Wirkung der Lautassoziation (Vorausnahme). 


198 A. Abhandlungen. 








muß, zeigt folgendes Beispiel, das vom gleichen Jungen kommt. Er 
buchstabiert Michel: M.. nun spricht er wieder das Wort Michel, 
nun sagt er: Mi... nun spricht er wieder das ganze Wort Michel 
und buchstabiert weiter: Mich und auf dieselbe Weise dann ferner: 
Miche und schließlich Michel. Das bedeutete für den Knaben also 
schon einen Fortschritt, nämlich bewußtes Suchen. Von dem einen 
Worte Michel bricht er Laut für Laut ab, um damit ein neues Wort 
Michel aufzubauen. In einem Zuge Laut für Laut zu isolieren, vermag 
er nicht, er täte es gerne, wenn er könnte. Dieses Beispiel läßt er- 
kennen, daß wenn der erste Laut eines Wortes innerviert ist, 
der Erregungsvorgang sich ohne weiteres dem nächstfolgen- 
den usf. schon zugewandt hat. Es ist eine Bewegung nach 
vorwärts, die nicht im mindesten eine Tendenz, rückwärts 
zu Schauen, verrät. Im Wort ist der einzelne Laut nicht 
ein Ding für sich. Das Wort ist eine simultane Vorstellung. 
Der einzelne Laut tritt nicht isoliert ins Bewußtsein, sondern die 
Laute eines Wortes bilden einen festgefügten Verband. Das gilt auch 
insbesondere nach der physiologischen Seite hin, wir sprechen nicht 
so sehr einzelne Laute, als Lautverbindungen, und wenn wir ein Wort 
sprechen, dann ist das schon so vorbereitet und eingeübt, daß wir es 
in einem Zuge artikulieren. Das Wichtige daran ist, daß die Laute, 
ehe sie gesprochen werden, vorbereitet werden; es findet also eine 
Einstellung des Apparates statt, bevor die Ausführung der Artikulation 
stattfindet. Wenn wir nun schon eine Verschiedenwertigkeit der Laute 
annehmen wollen, dann ist die Verschiedenwertigkeit der Laute wohl 
nur einer und sicherlich nicht der wichtigste von den Gründen, 
sondern rein individuelle Momente sind in weit höherem Maße die 
Bedingung, daß irgend ein Laut sich einen Vorrang vor den anderen 
erringt. Die Gründe für die Störung sind weit mehr im 
sprechenden Subjekte gelegen. 

Wir müssen von der Tatsache ausgehen, daß der Artikulation 
die Wortvorstellung vorausgeht. Zwischen Wortvorstellung und Arti- 
kulationsbewegung liegt die Frist, welche zur Innervation der Sprech- 
bewegung nötig ist. Beim Ablauf dieser Prozesse kommt es darauf 
an, daß Artikulation und Wortvorstellung in einem, sich entsprechen- 
den Einklang stehen. Bei einem halbwegs geübten Sprecher erfordert 
der Ablauf keinen größeren Aufwand von Aufmerksamkeit; wir müssen 
aber dennoch daran festhalten, daß sich zwischen den Vor- 
stellungsablauf und den Ablauf der Artikulation eine auf- 
merksame, regulierende Kontrolle stellt, welche bewirkt, 
daß die Artikulation auch wirklich der adäquate Ausdruck 


Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 199 


der Vorstellung sei. Der sinngemäße und geordnete Ablauf beruht 
also auf dem Zusammenwirken mehrerer Faktoren, und da ist es 
leicht möglich, daß ein Faktor aus irgend einem Grunde 
außer Funktion tritt. Damit ist dann die Tatsache einer Störung 
gegeben. Am häufigsten ist es der Fall, daß der Vorstellungs- 
verlauf eine solche Beschleunigung erfährt, daß dadurch 
ein zu großer Abstand von der Sprechbewegung entsteht, 
welch letztere jainnurgeringem Maße beschleunigt werden 
kann. Aus diesem Grunde muß gerade beim Kinde Versprechen und 
stolperndes Sprechen eintreten; denn bei dem aufwachsenden Kinde 
ist die Sprechlust sehr hochgradig, während die Sprechfähigkeit ver- 
hältnismäßig gering ist. In jedem Falle legt das Sprechen dem 
eiligen Gedanken den Zügel an. Noch viel mehr muß das beim 
Niederschreiben eines Gedankens in Erscheinung treten; denn der 
Abstand zwischen dem raschen Vorstellungsleben und dem 
langweiligeren Schreiben ist noch größer. 

Beweis: In der Tat kommt das »Verschreiben« viel mehr 
vor als das »Versprechen«. Die Tätigkeit der Artikulationswerk- 
zeuge beim Sprechen oder Lesen, die Fingertätigkeit beim Klavier- 
spiel usw. sind uns nur bewußt in der Zeit, in welcher wir diese 
Tätigkeiten zu erlernen versuchen; später laufen diese Prozesse ganz 
automatisch ab und durch solche Mechanismen wird eben die Auf- 
merksamkeit für andere Dinge frei. Es ist also der extreme Fall 
möglich, daß wir eine ganze Seite Text lesen, dabei aber unsere Auf- 
merksamkeit bei einer ganz anderen Sache haben, ohne dabei uns zu 
verlesen. Das ist aber nur der günstigst gelegene Fall; für gewöhn- 
lich versprechen oder verlesen wir uns immer, wenn der Einklang 
zwischen den inneren Erregungsvorgängen und den Ausdrucks- 
bewegungen nicht vorhanden is. Wenn also unsere Aufmerk- 
samkeit durch plötzlich auftretende fremde Gedanken ab- 
gelenkt wird, dann ist es mit der Sicherheit der eben statt- 
findenden Artikulationen und sonstigen Bewegungen vorbei. 
Der Fluß der älteren Vorgänge erstirbt zugunsten des neu sich Her- 
vordrängenden. Ganz lehrreich ist die eigentümliche Sprache eines 
Kindes, das sich in großer Verlegenheit befindet. Die Furcht, in der 
Rede etwas Ungehöriges oder Verletzendes zu sagen, bedingt eine 
Sprechunlust schlechthin; einige Vorstellungen müssen mit Gewalt 
unterdrückt werden. Der Nebengedanke, der etwa auftaucht, darf 
ebenfalls nicht geäußert werden. Durch diese Unterdrückungen und 
dieses Zurückhalten erwachsen dem Willen so viele Aufgaben, daß 
das Sprechen vernachlässigt werden muß. 


200 A. Abhandlungen. 








Hier sind also die Störungen durch lebhafte Vorstellungen und 
Gefühle veranlaßt worden, und diese liegen möglicherweise ganz außer- 
halb des Redezusammenhanges. Irgend ein gesprochenes 
Wort reproduziert eine bestimmte Gefühlsqualität und diese 
letztere ruft ein ihr entsprechendes Wort wach. So kommt 
es, daß wir mitten in der Rede ein anscheinend ganz fremdes Wort 
einführen. Es muß aber nicht gerade das Gefühl sein, das eine solche 
eigentümliche Reproduktion veranlaßt; denn nachdem alle Reproduktion 
ausschließlich auf Assoziation beruht, so kann jedes durch Asso- 
ziation Verbundene plötzlich auftreten und etwas anderes 
ersetzen und verdrängen. Das sehen wir jeden Tag; das Kind 
sagt: meine Mutter, statt: meine Schwester; morgen für gestern; weiß 
statt schwarz. Ganz gerne ersetzen wir ein Wort durch ein anderes, 
das ihm beinahe identisch ist; aber auch durch eines, das gerade 
das Gegenteil von dem verdrängten Worte ist. Wodurch ein »Ver- 
sprechen« veranlaßt wurde, kann man erst sagen, wenn man genau 
weiß, woran man sich dabei erinnert hat. Wer hierin sich übt, kann 
über seine diesbezügl. Sprechfehler eine erklärende Auskunft geben. 

In Fällen, für welche wir eine Begründung oft nicht finden, 
kommt in Betracht, daß sich passende oder auch unpassende Worte 
uns aufdrängen; der allerfernste Grad einer Verwandtschaft ruft sie 
wach. Ganz unkorrekte Konstruktionen behaupten sich hier immer 
wieder. Die Absicht etwas lächerlich hinzustellen, spielt hier oft eine 
Rolle, denn viele Wortverstümmelungen bedeuten das Verächtlich- 
machen einer Person oder Sache. Wenn ein Knabe einem anderen 
seine Geringschätzung und Verachtung ausdrücken will, so drückt er 
das nicht in einem sinnvollen Worte, sondern durch eine undeutliche, 
sinnlose Artikulation aus, der lediglich Gefühlswerte zukommen. Es 
ist eine allgemeine Erscheinung, daß wir die Namen derer, die wir 
hassen, »verhunzen«. Im allgemeinen kann man sagen, daß Ver- 
stümmelungen, Versprechen usw. am häufigsten dann eintreten, wenn 
heftige Gemütserregungen stattfinden. Ruhe des Denkens, voll- 
ständige Beherrschung des Gedankens und der Situation 
sind die besten Bedingungen für einen ungestörten Rede- 
fluß. Überall, wo jemand um eine Sache herum zu gehen sucht, 
einen Mangel zu verbergen sucht, etwas nicht sagen will, zeigt sich 
eine Veränderung der Sprache, vorausgesetzt, daß er ein ehrlicher 
Mensch ist und in den Verstellungskünsten nicht bewandert ist. Es 
ist aber oft die Beobachtung zu machen, daß einer das, was er verbergen 
will, doch unwillkürlich an einer anderen Stelle sagt. Das Unter- 
drückte wird eben gerne mit solcher Energie ausgestattet, daß es ganz 


Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 201 





unwillkürlich irgendwo losbricht. Die Kinder verraten sich in dieser 
Weise sehr oft durch ein einfaches Versprechen, indem ihnen im un- 
bewachten Augenblicke das verräterische Wort entschlüpft. 

Man ist geneigt, solche Fehlleistungen, weil sie ein Zeichen von 
Zerstreutheit und Leichtsinn sind, als ein persönliches Verschulden 
zu betrachten, wofür auch die Verantwortung getragen werden müsse. 
Wenn man sich gewöhnt, die Fehlleistung aus einer bestimmten Dis- 
poniertheit und Geistesanlage abzuleiten, wenn man überlegt, daß sie 
doch meist gegen den eigenen Willen, also unfreiwillig er- 
folgt, dann muß das zur Nachsicht stimmen. Mit Absicht Fehler 
zu produzieren ist schwieriger; das Kind vermöchte es fast 
nicht; eine Störung und Hemmung ruft sie aber unbewußterweise 
hervor. 

Allerdings ist es andrerseits möglich, die Aufmerksam- 
keit nach der Richtung anzustrengen, daß Fehlleistungen 
verhütet werden. Aber das setzt ein Erstarken der Aufmerksam- 
keit voraus. (Forts. folgt.) 


2. Die experimentelle Ermüdungsforschung. 
Von 
Marx Lobsien, Kiel. 
(Fortsetzung.) 


Zweites Kapitel. 
Die Methoden der Ermüdungsmessung. 


A. Die physischen Methoden. 
1. Die Messung der Muskelkraft. 
Der Methoden zur Messung der Muskelkraft gibt es folgende: Die 
Dynamometer-, die Ergographen-, die Weichardtsche Fußhantelmethode, 
Schulzes Schreibmethode und der Arbeitsschreiber. 


a) Die Dynamometermethode 
diente ursprünglich lediglich der Messung der Muskelkraft und ihrer 
Beeinflussung durch körperliche Arbeit. Der erste, der das Dynamo- 
meter anwandte, auch die geistige Arbeit zu messen, die dynamo- 
metrische Leistung als Maßstab geistiger Betätigung zu verwerten, 
war Loeb, der im Jahre 1886 in Pflügers Archiv für die gesamte 
Physiologie eine Arbeit veröffentlichte: Muskeltätigkeit als Maß 
psychischer Arbeit. Seitdem hat das Dynamometer mancherlei 
Verbesserungen und vielfache Verwendung gefunden, so von Mosso 


202 A. Abhandlungen. 





in Turin, Schuyten in Antwerpen, jüngst von Weiler, der an dem- 
selben eine durchgreifende Veränderung vornahm. 

Das Dynamometer (Kraftmesser) besteht in seiner Konstruktion 
nach Collin aus einer starken elliptischen Feder. Sie wird mit der 
Hand zusammengedrückt. Sie steht mit einer einfachen Vorrichtung 
in Verbindung, die zwei Zeiger enthält. Der eine derselben bleibt 
stehen, wenn der Druck seine maximale Höhe erreicht hat. Auf einer 
Skala läßt sich die geleistete Arbeit in Kilogramm ablesen. Dieser 
einfache Apparat wurde hernach durch Ulmann verbessert. Er kon- 
struierte ein Dynamometer, das sowohl zum Drücken wie zum Ziehen 
eingerichtet war. Der Bügel, der schwer den verschiedenen Hand- 
größen anzupassen war, der außerdem trotz der Umhüllung vielfach 
ungewollte Druck- und Schmerzempfindungen auslöste, kam in Weg- 
fall. Der Druck wurde auf eine länglich-runde Metallhülse ausgeübt 
und von dieser auf ein Zeigerwerk übertragen. Bei der Zugvorrich- 
tung wurde die Feder durch Handgriffe gespannt. Auch in dieser 
verbesserten Gestalt war das Dynamometer für genauere Messungen, 
wie ihm von verschiedenen Seiten mit Recht vorgeworfen wurde (u. a. 
von Hirschlaff), nicht geeignet: Sein Hauptfehler bestehe darin, daß 
es nicht einige bestimmte Muskeln allein in Anspruch nehme, sondern 
dem Prüfling die Möglichkeit lasse, zu wechseln. Auch sei man nur 
imstande, eine einmalige maximale Muskelleistung auf der Skala ab- 
zulesen, nicht die Muskelarbeit fortlaufend zu verfolgen. (Die Dynamo- 
meter lassen sich ihrer Konstruktion nach in zwei Hauptgruppen 
sondern; die älteren sind elliptische, die neueren Federdynamometer, 
für Zug und Druck eingerichtet) Weiler hat eine Form des Dynamo- 
meters konstruiert, bei dem diese Nachteile, zumal der letztere, in Weg- 
fallkommen. Er nennt seinen Apparat Arbeitsschreiber. Erschreibt 
die einzelnen Muskelleistungen fortlaufend in kleinen Unterbrechungen 
auf und zwar die absoluten Arbeitsgrößen in hundert Einzelleistungen. 
Es möge nebenher bemerkt werden, daß Weiler in seiner Abhandlung: 
Methoden über die Muskelarbeit des Menschen I. Messung 
der Muskelkraft und der Muskelarbeit (Bd. V der Psycho- 
logischen Arbeiten, herausgegeben von Kraepelin-München) die bei 
dem Dynamometer in Frage kommenden psychophysischen und physio- 
logischen Verhältnisse in ganz ausgezeichneter Weise klargelegt hat. 
Das Dynamometer ist auch günstiger beurteilt worden. Vor allem hat 
sich desselben bedient Prof. Schuyten, der verdienstvolle Leiter des 
städtischen Laboratoriums in Antwerpen, für seine Untersuchungen 
Über die Veränderlichkeit der Muskelkraft im Laufe des 
Schuljahres. 


Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 203 


b) Die Ergographenmessung. 


Während das Dynamometer nur eine einmalige, höchstens eine 
in gewissen Zwischenräumen erfolgende mehrmalige Messung der 
Muskelkraft zuläßt, ist man mit Hilfe des Ergographen imstande, fort- 
laufend zu messen. Den ersten Ergographen hat Mosso konstruiert 
und in seinem berühmten Werk: La Fatice beschrieben. Der Ergo- 
graph hat hernach vielfache Verbesserungen erfahren. In der Haupt- 
sache hat man zwei Formen desselben zu unterscheiden: den Ge- 
wichts- und den Federergographen. 

Der Mossosche Ergograph gehört zur ersteren Art. Er ist folgender- 
maßen konstruiert. Unterarm und Hand ruhen auf der Dorsalseite 
auf einer festen Unterlage und zwar so, daß der Unterarm und der 
Zeige- und Ringfinger in besonderen Lagen unbeweglich festliegen. 
Der Mittelfinger ist frei. Er trägt eine Hülse, an der eine Schnur 
befestigt ist, die, über eine feste Rolle laufend, an ihrem freien Ende 
ein Gewicht trägt. Das Gewicht wird durch Beugen und Strecken 
des Fingers gehoben und gesenkt. In dieser Gestalt nennt man die 
Vorrichtung Ergometer; seiner hat man sich je und je bedient 
(so Philippe). Der Versuchsleiter hat die Aufgabe, die Anzahl der 
Hebungen selbst zu zählen. Würde er nun innerhalb einer be- 
stimmten Sekundenanzahl die Anzahl der Hebungen festsetzen und diese 
mit der Anzahl der gehobenen Kilogramme multiplizieren, dann hätte 
er offenbar einen bestimmten Maßausdruck für die geleistete Muskel- 
energie. Eine solche Messung ist aber sehr ungenau, denn sie muß die 
Hubhöhen, die natürlich von variabler Größe sind, ungewertet lassen. 
Der eine Faktor zur Bestimmung mechanischer Arbeit ist mithin 
völlig unzulänglich. Mosso befestigte an der Schnur einen Hebel, der 
als Schreibvorrichtung diente. Entsprechend den Beugungen und 
Streckungen des Fingers bewegt sie sich hin und her und der Weg, 
den sie beschreibt, entspricht genau den Hubhöhen des Gewichts. 
Man hat nur nötig, die Bewegungen auszumessen, und kann dann 
eine einwandfreie Multiplikation vornehmen, um die mkg zu be- 
stimmen. Die Unterlage des Schreibers muß zu dem Zwecke beweg- 
lich eingerichtet werden. Das läßt sich am einfachsten dadurch er- 
möglichen, daß man eine sich langsam drehende Trommel (ein so- 
genanntes Kymographion) an den Schreiber heranschiebt, auf der die 
Bewegungen selbständig registriert werden. — Die Verbesserungen, 
die man an dem Mossoschen Ergographen vorgenommen hat, beziehen 
sich auf ein zweifaches, nämlich die Einlagerung des Arms und der 
Finger und die Registrierung. Bei der Lagerung beabsichtigte man 


204 A. Abhandlungen. 





vor allen Dingen, die Muskeln, die man insonderheit für die Ergo- 
graphenmessung ausersehen hatte, genügend zu isolieren, damit nicht 
andre assistierend oder vikarierend einträten und so verhinderten, daß 
der Muskel bis zur Erschöpfung angestrengt werde. Die Registrierung 
suchte man teils genauer zu gestalten, teils war man darauf bedacht, 
die Schreibvorrichtung womöglich durch Ausschaltung des Kymo- 
graphions zu vereinfachen, so den Apparat zugleich billiger zu ge- 
stalten. Es mögen hier zwei Ergographenformen erwähnt werden, der 
Meumannsche Apparat, der für Schulmessungen bestimmt ist und der 
von Dubois konstruierte. Bei beiden ist der Zählapparat einfach und 
sinnreich konstruiert. Meumann verwendet an seinem Apparat ein 
Bandmaß. Es ist in Zentimeter eingeteilt und läuft als Schnur ohne 
Ende über zwei Rollen. An dem Schreiber ist eine scharfe Nase so 
befestigt, daß sie beim Heben des Gewichts über das Maßband hin- 
gleitet, im Moment des Lockerlassens aber dasselbe erfaßt und mit 
zurückzieht. So kann man aus der Gesamtanzahl der geleisteten 
Zentimeter und den Kilogrammen die Arbeitsleistung berechnen. — 
Besonders einfach ist die Registrierung bei dem Duboisschen Ergo- 
graphen. Dubois hat als Schreiber an der Schnur einen Bleistift be- 
festigt, der durch einen Bleiknopf beschwert ist und bei dem Hin- 
und Herbewegen der Schnur die Wege auf der Unterlage aufschreibt. 
Die Striche würden nun alle übereinander gelegt werden, wenn nicht 
eine einfache Vorrichtung bei dem Zurückgehen des Stiftes die 
Schreibfläche immer um 1 Millimeter weiterschöbe, so daß die einzelnen 
Aufzeichnungen in Millimeterabständen erscheinen. Als Schreibunter- 
lage wählt man Millimeterpapier und kann auf demselben die Hub- 
höhen mit großer Bequemlichkeit ablesen. Bezüglich der Armauflage 
bietet der Duboissche Ergograph auch noch ein wesentlich Neues. War 
man sonst sorglich darauf bedacht, einen bestimmten Muskel, oder doch 
eine bestimmt begrenzte Muskelgruppe in die Arbeit einzuspannen, 
ging Dubois von der durch die Erfahrung bestätigten Überzeugung 
aus, daß es unmöglich sei, bei dem lebenden Individuum eine solche 
strikte Isolierung vorzunehmen. So wenig es möglich ist, eine streng 
lokale Ermüdung zu erzwingen, so wenig eine streng lokalisierte 
Muskelbetätigung. Er ließ daher dem Arm recht große Freiheit: Die 
Hand umfaßt einen Holzgriff, die Handwurzel allein wird durch ver- 
schiebbare Metallbacken festgestellt. 

Weiler macht gegen die Ergographenmethode den Haupteinwand, 
daß es mittels derselben nicht möglich sei, den Muskel völlig zu er- 
schöpfen. Dieselben Bedenken heben mit vollem Rechte Tröves, 
Schulze u. a. hervor. Der Nachweis läßt sich leicht führen. Schulze 


Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 205 


ließ eine Versuchsperson mit 4!/, kg bis zur Erschöpfung arbeiten, 
d. h. bis sie nicht mehr fähig war, eine Hebung auszuführen. Dann 
nahm er 3 kg fort, so daß die Belastung nur 1!/, kg betrug. Nun 
war der Muskel sogleich wieder imstande, ganz beträchtliche Leistungen 
auszuführen. Es wäre also falsch gewesen, anzunehnen, die musku- 
läre Maximalleistung wäre mittels der Anzahl Hebungen des Gewichts 
von 41/, kg festgestellt worden; der Muskel ist eben imstande, mit 
einer geringeren Belastung noch viel mehr zu leisten. Zwar könnte 
man ja versuchen, mittels eines kleinen Gewichts, also durch eine 
größere Anzahl von Hebungen die maximale Leistungsfähigkeit fest- 
zustellen — dann aber hört die Versuchsperson gar nicht mit 
Heben auf; man gewinnt die sogenannte unendliche Kurve, und 
es gelingt wieder nicht, die maximale Arbeitsleistung zu bestimmen. 
Treves hat folgendes Verfahren eingeschlagen: Er begann mit einem 
größeren Gewicht. Sobald die Hubhöhe auf der Trommel zu sinken 
begann, nahm er vom Gewicht etwas ab und fuhr damit solange fort, 
bis die unendliche Kurve sich einstellte. So läßt sich erst die tat- 
sächliche Maximalleistung des Muskels bestimmen, nämlich durch 
die Größe des Gewichts, das man in einem bestimmten Takte dauernd 
zu heben vermag. Tröves fragt also, welches Gewicht man imstande 
sei, dauernd zu heben, und das gilt ihm als Maß der Leistungsfähig- 
keit. Schulze macht mit vollem Recht darauf aufmerksam, daß die 
Trevessche Methode den tatsächlichen Verhältnissen des täglichen 
Lebens durchaus entspreche. »Die Leistungsfähigkeit eines Lastträgers 
messe ich nicht daran, ob er Zentnerlasten einen Schritt forttragen 
kann, sondern ob er fähig ist, eine mäßige Last in gleichem Schritt 
und Tritt stundenweit fortzutragen.« 

Die Federergographen mögen nur im Interesse der Vollständigkeit 
Erwähnung finden. Sie erfordern, wie der Name sagt, eine Feder- 
spannung und beruhen ihrem Prinzip nach auf der Erfahrung, daß 
mittels des Gewichtsergographen nicht die gesamte Muskelleistung 
gemessen werden kann. Die Feder erfordert mit steigender Bewegung 
immer größere Kraftleistung. Der Lehmannsche Federergograph be- 
steht aus einer Federwage, der Henrysche aus einem mit Quecksilber 
gefüllten Gummiball. Durch Fingerdruck wird das Quecksilber in 
einer Röhre in die Höhe getrieben. Auf dem Quecksilber schwimmt 
ein Eisenstab, an dem eine Schnur befestigt ist, die wieder mit einem 
Schreiber in Verbindung steht, der seine Bewegungen auf ein Kymo- 
graphion projiziert. 


206 A. Abhandlungen. 





c) Die Fußhantelmethode 
stammt von Weichardt, sie dient ihm als Methode zur Bestimmung 
der Grenze der Leistungsfähigkeit. Die Prüflinge bekommen 2 bis 
5 kg schwere Hantel in die Hände; für Schüler empfiehlt Weichardt 
links ein Gewicht von 2, rechts ein solches von 3 kg. Die so be- 
schwerten Arme werden vorwärts gestreckt. Dann muß die Versuchs- 
person nach Pendelschlägen der Uhr Vierteldrehungen bis zur seit- 
wärts gestreckten Armlage nach außen machen. Mit den Arm- 
bewegungen sind Beinbewegungen kombiniert, und zwar müssen im 
Sekundentakt abwechselnd das rechte und das linke Knie gebeugt 
werden bis zur wagerechten Haltung vorwärts. Nach etwa 20 bis 
30 Sekunden tritt totale Erschöpfung ein, d. h. die Unfähigkeit, weitere 
Bewegungen auszuführen. Weichardt hält seine Hantelfußmethode 
für besser als die Ergographenmessung, vor allen Dingen deshalb, weil 
sie sich nicht auf einzelne Muskeln beschränke, sondern mehrere in 
Anspruch nehme, und weil sie von der Versuchsperson unabhängig sei, 
d. h. nicht unter Suggestivwirkungen falle. Die Zahl der Bewegungen 
gilt als Reagens auf Ermüdungswirkungen. Die Übungen werden vor 
und nach verschiedenen Arbeiten vorgenommen und aus den Diffe- 
renzen in den Leistungen gewinnt man einen Maßstab für die Ermüdung. 


d) Ziffernabschreiben. 

Auch das von Schulze angewandte Verfahren des fortlaufenden 
Ziffernabschreibens muß hierher gerechnet werden. Durch stunden- 
langes Abschreiben von Ziffern erzielte Schulze teils »normale«, teils 
Über-Ermüdung. Neben dem reinen Abschreiben ging Addieren ein- 
stelliger Zahlen einher, ohne Aufschreiben der Resultate. 


2. Die Schwellenmethoden. 

Unter den Schwellenmethoden nehmen diejenigen, welche die 
»Raumschwelle der Haut« benutzen, um die Ermüdung zu kontrollieren, 
weitaus den größten Platz ein. Trotzdem hat Meumann durchaus 
Recht, wenn er meint, daß dem Psychologen ganz willkürlich er- 
scheint, warum gerade diese Schwellenmessung bevorzugt wurde; wie 
diese Schwelle wird auch jede andere durch die Ermüdung verändert 
und kann auch jede andere als Maßstab Verwendung finden. Wir 
könnten ebenso gut bei einem Individuum die Zeitschwelle kontrollieren, 
oder etwa den Schwellenwert für schwache Gehörsreize oder schwache 
Druckreize oder etwa für den Schmerz u. dergl. Es ist also will- 
kürlich, daß man der Raumschwelle der Haut die spezielle Funktion 
zuschreibt und annimmt, sie eigne sich besonders zur Messung der 


Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 207 


Ermüdung. Warum trotzdem die Hautsensibilität so stark bevorzugt 
wurde, erklärt sich hauptsächlich aus dem Umstande, daß sie relativ 
leicht und schnell eine Messung zuläßt und infolgedessen möglich 
macht, auch unter sonst schwierigen äußeren Verhältnissen größeres 
Beobachtungsmaterial zu sammeln. — Wenden wir uns ihr zuerst zu! 


a) Die Tasterzirkelmethode. 

Der erste, der den Tasterzirkel oder das Ästhesiometer im Dienste 
der Ermüdungsmessung verwendete, war Griesbach, der im Jahre 1895 
seine epochemachende Schrift veröffentlichte: Beziehungen zwischen 
geistiger Ermüdung und Empfindungsvermögen der Haut (im 
Archiv für Hygiene). Eine Beschreibung seines Apparats findet sich 
in der Deutschen medizinischen Wochenschrift vom Jahre 1897. Der 
Apparat hat später von Spearman, Ebbinghaus u. a. Verbesserungen 
erfahren. In seiner einfachsten Gestalt besteht er aus einem Zirkel 
mit nicht zu stumpfen aber auch nicht zu scharfen Spitzen. Seine An- 
wendung beruht auf folgenden bekannten Tatsachen. Wenn ich einen 
leichten Reiz auf eine Hautstelle ausübe, dann habe ich nicht lediglich 
eine Berührungsempfindung, sondern diese Empfindung wird zugleich 
als an irgend einem räumlichen Ort der Haut befindlich empfunden, 
sie wird lokalisiert. Die Lokalisation geschieht nun nicht an allen 
Hautstellen mit gleicher Schärfe, sondern z. B. an den Fingerkuppen 
genauer als auf der Dorsalseite der Hand, am Jochbein sorgfältiger als 
an einer Hautstelle des Nackens. Die Genauigkeit der lokalen Ein- 
ordnung ist auf sehr einfache Weise meßbar, nämlich dadurch, daß 
ich zu gleicher Zeit oder kurz nacheinander in bestimmter Entfernung 
zwei gleichartige Berührungsreize auf eine Hautgegend ausübe, wie 
das mittels eines gewöhnlichen, nicht zu schweren Zirkels möglich ist, 
dessen Spitzen man abgestumpft hat. Bei gewissen Zirkelabständen 
ist die Versuchsperson nur imstande, die beiden Berührungsempfin- 
dungen als eine aufzufassen, erst von einem bestimmten Abstand 
ab empfindet sie deutlich zwei Reize. Die Abstandsbreite, bei der 
eben die Zweimerklichkeit beobachtet wird, bezeichnet man als die 
Raumschwelle Wie bereits erwähnt wurde, ist diese Raumschwelle 
bei demselben Individuum an verschiedenen Stellen des Körpers sehr 
ungleich groß. Auch zeigen verschiedene Individuen untereinander 
bedeutsame Raumschwellendifferenzen. Das Entscheidende aber ist, 
daß dieselbe Hautgegend bei demselben Prüflinge zu verschiedenen 
Zeiten eine variable Größe hat, sie ist nicht festliegend, sondern be- 
einflußbar. Eine der wesentlichsten Beeinflussungen ist jener psycho- 
physische Erscheinungskomplex, den wir einheitlich als Ermüdung be- 


208 A. Abhandlungen. 





zeichnen. Der Einfluß der Ermüdung, so lautet die Grundvoraus- 
setzung und die Grundabsicht, auf die ihre Messungen beweisend 
hinauslaufen, wirkt auf die Hautsensibilität, auf die Raumschwelle deut- 
lich bestimmend ein, und zwar in dem Sinne: Die Ermüdung ver- 
größert den Schwellenumfang über die normale Distanz hinaus, die 
Erholung nähert ihn der normalen wieder (vorausgesetzt natürlich, daß 
die Raumschwelle, die zum Vergleiche dient, im Zustande voller Frische 
gemessen wurde). Die Tatsache ist zweifellos durch die Griesbachsche 
Methode und ihre vielen Nachprüfungen bewiesen worden. — Tat- 
sache ist aber auch, daß der Beweis vielfach nicht gelungen ist, eine 
Angelegenheit, die uns gleich näher beschäftigen wird. — Die Praxis 
der Messung vollzieht sich folgendermaßen: Man wählt irgend eine 
Hautstelle aus und verwendet dann alle Sorgfalt darauf, möglichst 
genau dieselben Punkte bei allen Untersuchungen zu berühren. Natür- 
lich kann man als Prüfungsfeld eine Hautgegend nach völlig freiem 
Belieben auswählen. Die Praxis wird veranlassen, daß man sich ein 
solches aufsucht, das leicht und bequem zugänglich ist und doch hin- 
reichend genau und sicher auf die Reize reagiert. Manche Forscher, 
so wahrscheinlich Blaz&k, prüften am Unterarm; Griesbach maß ver- 
schiedene Hautstellen: Glabella, Nasenspitze, Unterlippenrot, Jochbein, 
rechten Daumenballen, rechte Zeigefingerkuppe; von Wagner wurde 
die Jochbeingegend bevorzugt. Die Messung geschieht in der Weise, 
daß man, mit einer größeren Zirkelöffnung beginnend, kontinuierlich 
zu immer kleineren Abständen solange fortschreitet, bis die Versuchs- 
person die Empfindung der Doppelberührung eben verläßt. Dann 
schlägt man den umgekehrten Weg ein, bis die beiden Berührungs- 
punkte als zwei eben merklich werden, und berechnet aus beiden das 
Mittel. Sehr oft wählt man das Verfahren der alternierenden Distanzen, 
d. h. man wählt in bunter Folge größere und kleinere Zirkelabstände. 
Das letztere Verfahren hat den Vorzug, daß es individuellen Täuschungen 
entgegenzuwirken imstande ist. 

Die Verbesserungen, die das einfache Ästhesiometer erfahren hat, 
beziehen sich hauptsächlich auf ein zweifaches: Man suchte einerseits 
die Regulierung der Spitzenabstände durch Anbringen einer Skala 
möglichst exakt zu gestalten, andererseits wollte man einen möglichst 
gleichmäßigen Druck beim Aufsetzen erzielen. !) 

Zahlreiche Forscher haben sich des Ästhesiometers bei ihren 





1) Vielfach wird das aus Aluminium gefertigte Spearmansche Ästhesiometer 
empfohlen (Binet: compas glissiere; Schuyten: schuifpasser — eine glückliche Be- 
zeichnung!). 


Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 209 





Untersuchungen bedient: Vannod, Sakaki, Binet, Blazök, 
Schuyten, Bonoff, Noikow, Joteyko, Bolton, Kraepelin, 
Leuba, German, Widowitz u.a. 


b) Druckmessung. 


Von den Tastempfindungen sind die Berührungs- oder Druck- 
empfindungen zu unterscheiden. Auch die Druckempfindlichkeit hat 
man zur Messung der Ermüdung verwendet. Sie ist bekanntlich an 
bestimmte Druckpunkte gebunden. Ihre Schwelle beträgt an den am 
feinsten empfindenden Stellen der Haut 0,002 g, an den Fingerspitzen 
0,005 bis 0,015 g usf. In der einfachsten Form besteht der dazu be- 
nutzte Apparat aus einem Härchen, das mittels Wachs an einem 
kleinen Stab befestigt ist. Bei der Ausübung eines gewissen Drucks 
biegt sich das Haar und übt dann einen gleichbleibenden Druck aus, 
der sich leicht dadurch messen läßt, daß man auf die eine Schale 
einer genauen Wage den Druck ausübt und durch Auflegen von 
kleinen Gewichten auf die andere ausgleicht. Genauere Messungen 
führt man mit der Strattonschen Druckwage aus. Selbstverständlich 
muß immer dieselbe Hautgegend auf ihre Druckempfindlichkeit unter- 
sucht werden, wenn man ihre Schwankungen unter dem Einfluß der 
Ermüdung feststellen will. 


c) Algesiometer. 


Auch die Schmerzempfindlichkeit dient der Messung der Ermüdung. 
Die Resultate widersprechen sich zwar, denn manche Forscher, wie 
Vannod und Vaschide fanden, daß die Ermüdung die Schmerz- 
empfindlichkeit erhöhe, andere, daß sie dieselbe herabsetze. Man wird 
also zweifelsohne neue Nachprüfungen abzuwarten haben, bevor man 
ein Urteil über die Brauchbarkeit der Methode wird fällen können; 
man wird vor allem Entscheidungen abzuwarten haben, ob indivi- 
duelle Verschiedenheiten in diesem total entgegengesetzten Verhalten 
sich ausprägen, ob etwa gewisse Ermüdungsgrade auf die Empfindlich- 
keit erregend, andere aber hemmend einwirken u. a. m. Vannod, der 
die Methode zuerst anwandte, bezeichnete sie als Algesiometermethode, 
seinen Apparat als Algesiometer. Er ist im wesentlichen dem oben 
skizzierten Freyschen Haarästhesiometer ähnlich. Die Spitze ist in 
einer Hülse befestigt, an deren Seite sich eine Skala befindet, die ab- 
zulesen gestattet, wieviel Druck ausgeübt worden ist. Der Druck wird 
so stark ausgeübt, daß eben die Schmerzempfindung deutlich wird. 

Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 14 


210 A. Abhandlungen. 





d) Die Zeit- und Raumschätzungsmethoden 


sind ebenfalls den Schwellenmethoden zuzurechnen. Das Verfahren 
ist relativ einfach, Den Prüflingen wird ein bestimmter Zeitraum, 
bezw. eine Raumstrecke zur Schätzung dargeboten. Ich wählte z. B. 
bei der Zeitschätzungsmethode einen Zeitraum von einer Minute und 
veranlaßte die Versuchspersonen, sie zu schätzen und das Ergebnis 
ihrer Schätzung niederzuschreiben. Allerdings ist das Zeitschätzungs- 
vermögen individuell recht breiten Schwankungen unterworfen, doch 
haben spätere Untersuchungen Über Schätzung kurzer Zeit- 
räume durch Schulkinder!) bezeugt, daß solches keineswegs in 
dem Umfange der Fall ist, daß von einer »notorischen Unsicherheite 
geredet werden müßte. 


e) Hörprüfung. 

Baur wandte zur Ermüdungsmessung zwei neue Methoden an, 
von denen er die zweite besonders weiter ausgebaut und nachgeprüft 
hat. In seiner Abhandlung über Das kranke Schulkind findet sich 
die Beobachtung verzeichnet (sie ward auch sonst bestätigt), daß die Hör- 
schärfe mit steigender Ermüdung abnehme. Zur Konstatierung dessen 
bediente er sich seiner Taschenuhr. Er entfernte sie vom Ohre des 
Prüflings so weit, daß das Ticken noch eben vernehmlich war. Bei 
ermüdeten Versuchspersonen mußte die Uhr dem Öhre weiter ge- 
nähert werden als das bei frischen notwendig erschien. Die Verwen- 
dung der Methode stößt aber, wenn man auf eine einwandfreie Messung 
rechnet, auf mancherlei Schwierigkeiten, wenigstens, wenn man sie in 
der Schule zur Anwendung bringen will. Zwar dürfte nur wenig um- 
ständlich sein, eine Vorrichtung zu konstruieren, die einerseits ein 
konstantes Geräusch, andererseits eine genaue Regulierung der Ent- 
fernung vom Ohre ermöglicht, aber schwerlich wird es gelingen, die 
für derartige Versuche unbedingt notwendige totale Stille zu erreichen. 


f) Akkomodation des Auges. 


Anders die Methode, welche eine Prüfung der Akkomodations- 
fähigkeit des Auges unter Ermüdungswirkungen vornimmt, eine äußerst 
einfache, handliche und mit geringem Zeitaufwande zu verwertende 
Methode. Baur hat für sie keinen einheitlichen Namen angegeben. 
Offner bezeichnet sie recht umständlich als Methode der Messung der 
Akkomodationsbreite des Auges, vielleicht empfiehlt sich, sie kürzer 


1) Vergl. Bd. 50 der Zeitschr. f. Psychologie, S. 332 ff. 





Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 211 








Baursche Akkomodationsmethode zu nennen. Baur ging von der 
Beobachtung aus, daß die Pupillarreaktionen bei Ermüdungen zittrige 
wurden, ein prompter enger Schluß der Pupille bei starken Ermüdungen 
nicht mehr erzielbar und die Sehfeldeinschränkung bei Ermüdungen 
eine offenkundige war. Aber die Veränderungen an der Pupille 
waren kaum meßbar, oder wenn sie meßbar waren, so gaben sie an 
dem Pupillometer zu geringe Ausschläge. Er fand in der Akkomo- 
dationsfähigkeit des Auges einen viel sichereren Maßstab zur Prüfung 
der Ermüdung. Die Messung der Akkomodationsfähigkeit geschah 
mittels des sogenannten Scheinerschen Versuchs. Dieser besteht darin, 
daß eine Nadelspitze, durch zwei Löcher eines Kartenblatts, die nicht 
weiter als in Pupillenweite voneinander abstehen dürfen, beobachtet, 
vor und hinter der Akkomodationsgrenze doppelt, im Bereiche der 
Akkomodation aber einfach gesehen wird. Die Nadel wird auf einer 
Schiene schlittend angebracht. An der Schiene ist eine Millimeter- 
skala angebracht, die bequem eine Entfernungsmessung ermöglicht. 
Die Nadelspitze wird durch ein schwaches Okular beobachtet, das vorn 
an der Schiene befestigt ist. Rückt man den Schlitten mit der Nadel 
an das Okular heran, dann wird man einen Punkt feststellen können, 
an dem die Nadelspitze dem beobachtenden Auge eben doppelt, bei 
einer minimalen Rückwärtsbewegung denjenigen, da sie wieder einfach 
erscheint. Dieser Punkt heißt der Nahpunkt. Schiebt man den Schlitten 
weiter zurück, dann wird die Nadel eine Weile einfach, hernach sich 
wieder doppelt bemerkbar machen. Hier läßt sich der Fernpunkt 
feststellen. Die Differenz zwischen dem Akkomodationsnahe- und -fern- 
punkt nennt Baur die Akkomodationsbreite. Die Akkomodationsbreite 
ist dem Einfluß der Ermüdung in dem Sinne unterworfen, daß sie 
mit der Ermüdung zu-, mit der Erholung abnimmt. Baur be- 
nutzte anstatt der Löcher farbige Glasscheibchen, rot und grün. Die 
Nadelspitze erschien hinter der Akkomodationsgrenze übereinstimmend, 
vor derselben in entgegengesetztem Sinne doppelfarbig, innerhalb der 
Breite in der den komplementären Farben entsprechenden Weise. — 
Mit der Ermüdung nimmt die Akkomodationskraft ab, mit der Erholung 
aber zu. Die Zunahme der Akkomodationskraft äußert sich in der Ver- 
kürzung der relativen Akkomodationsbreite, die Ermüdung in einer 
Verlängerung derselben. Die Zu- bezw. Abnahme steht in gerader 
und sehr feiner Proportion zu den Graden der Ermüdung. Die genaue 
Messung ermöglicht also Gewinnung sehr wertvoller Ermüdungsmaße. 
Baur gibt die Maße in Zentimeter an. — Später hat er seinen Apparat 
in folgender Weise ergänzt: Er machte jedes untersuchte Auge durch 


Anbringung eines Konvexglases hin:r dem roten und grünen Okular 
14* 


212 A. Abhandlungen. 





des Scheinerschen Apparats künstlich kurzsichtig und zwar zunächst 
den Emmetropen mit + 5 Dioptrien und den Hypermetropen mit 
+ 10 Dioptrien. — Dadurch gewann er die Feststellung des realen 
Fernpunktes, der bekanntlich beim Emmetropen in der Unendlichkeit, 
beim Hypermetropen jenseits der Unendlichkeit zu suchen ist. Dann 
sind allerdings die Schwellenwerte der Akkomodation kleinere und 
genauere. Auch wird bei der künstlichen Herstellung von Myopie 
durch Vorsetzen eines Konvexglases der Apparat kleiner und hand- 
licher gestaltet werden können. — Bei der Verwendung der künstlich 
erzeugten Myopie empfiehlt sich, entsprechend den Forderungen der 
physiologischen Optik, die Angabe der Akkomodationsbreite in Dioptrien. 
Die Umrechnung ist sehr einfach. Unter einer Dioptrie versteht man 
die Brechung durch die Linse auf 1 m. Man dividiert die gefundene 
Entfernung, die in Zentimetern abgelesen wird, in 100. Dann zieht 
man die Dioptrien der benutzten Linse ab und bekommt die Dioptrie 
für die jeweilige Akkomodationsanstrengung. Zieht man von der 
größeren Akkomodation die kleinere ab, dann gewinnt man die wahre 
Akkomodationsbreite. Folgendes Beispiel, das ich Baur entnehme, 
möge der Veranschaulichung dienen. Den Fernpunkt finde man mit 12, 
den Nahepunkt mit 8 cm angegeben. Beim Fernpunkt messen wir 
= = 8,3 Dioptrien. 

Hiervon sind aber die Dioptrien der Vorsetzlinse zu subtrahieren; es 
verbleiben also 83 — 5 = 3,3 Dioptrien. Beim Nahepunkt be- 
rechnet man 

= = 125 — 5 = 7,5 Dioptrien. 
Die Akkomodationsbreite beträgt also 7,5 — 3,3 = 4,2 Dioptrien. An- 
genommen, das sei die Akkomodationsbreite im Zustande der Frische. 
Würde man nun nach Ausführung einer Arbeit den Fernpunkt etwa 
bei 15, den Nahepunkt bei 6 cm auf der Skala ablesen, dann würde 
man berechnen 

= = 6,6 — 5 = 1,6 Dioptrien 


= = 165 — 5 = 11,5 Dioptrien 
11,5 — 1,6 = 9,9, 
Davon die obigen 4,2 subtrahiert, ergibt als Maß für die Ermüdung 
5,7 Dioptrien. (Forts. folgt.) 


1. Beitrag zur geistigen Entwicklung eines dreijährigen Knaben. 213 








B. Mitteilungen. 





1. Beitrag zur geistigen Entwicklung eines dreijährigen 
Knaben.!) 


Von Lina Prengel, Hermsdorf bei Berlin. 


Im Dezember wird Hans weiter täglich im Wiedererkennen und 
Unterscheiden von Gegenständen geübt und in der Beziehung zwischen 
Wort und Gegenstand. Er benennt nicht alle Dinge, die er benennen 
hört, sondern nur die, die seine Aufmerksamkeit erregen und ihm dann 
besonders oft vorgesprochen werden, bis er sie durch das Gehör auf- 
genommen hat und mitzusprechen versucht. 

Gern wollte ich ihn Mama und Papa sagen lehren, konnte es ihm 
jedoch nicht oft genug unter Hinweis auf den zu bezeichnenden Gegen- 
stand vorsprechen, da seine Eltern zu wenig bei ihm waren, und er 
andererseits durch ihre Gegenwart abgelenkt war. Ich sprach ihm oft 
»a« vor, das belustigte ihn, er ging darauf ein, den Laut mitzusprechen, 
und sagte ihn bald deutlich nach. Im Anschluß daran sprach ich ihm 
»Mama« vor, er sprach »ba ba« oder »pa pa« nach. Als ihm nun 
Mama sehr langsam und gedehnt, mit deutlich zusammengepreßten Lippen 
vorgesprochen wurde, wurde er aufmerksam, beobachtete genau die Mund- 
bewegung, steckte seinen Finger in meinen Mund, fühlte die Zunge, sah 
beim Vorsprechen aufmerksam in den Mund hinein und sprach schließlich 
ebenso langsam und gedehnt deutlich »Mama« mit, dabei seinen Finger 
in meinen Mund haltend und hineinsehend. Diese Übung wurde täglich 
wiederholt, und wenn Hans wollte, daß ich ihm Mama vorsprechen sollte, 
steckte er, als Aufforderung dazu, seinen Finger in meinen Mund. Er hatte 
bald Freude daran, »Mama« nachzusprechen, und sprach es sich vierzehn 
Tage später oft vor dem Einschlafen vor. Das Bild eines Herrn auf 
einem Buchdeckel interessiert ihn, es ist ihın »Papa« benannt worden, 
kurz und scharf gesprochen, im Gegensatz zu dem gedehnten »Mama«. 
Schon am zweiten Tage spricht er es mit und übt nun täglich neben 
anderen Wörtern »Mama« und »Papa«. Später wurden die Bilder der 
Eltern Mama und Papa genannt und dann die Beziehung der Wörter auf 
die Eltern übertragen. Ende Dezember verstand er, daß mit Mama die 
Mutter, mit Papa der Vater gemeint war, verwechselte später aber die 
Wörter noch oft in der Aussprache und auch in ihrer Beziehung, die 
immer von neuem geübt werden mußte. Auch andere Gegenstände wurden 
oft verwechselt, wie Ochsen und Pferde vor dem Wagen. Die Farbe 
scheint mehr Eindruck auf ihn zu machen als die Form. Als er das 
Schaukelpferd seines Bruders auf einem anderen Platz findet, nennt er es 
bä-Bär, wahrscheinlich, weil es braun ist, wie sein Bär. Nachdem er oft 
Schwäne auf dem Wasser gesehen hat, bekommt er am 10. Dezember 
einen Celluloid-Schwan; er betrachtet ihn aufmerksam von allen Seiten, am 


1) Vergl. diese Zeitschrift. Jahrg. XVI, 1911, Heft 6, S. 189—192. 


214 B. Mitteilungen. 





nächsten Tage zeigt er den schwarz angestrichenen Flügel des Schwanes 
und sagt »ua« Schuh; wahrscheinlich erinnert ihn die schwarze Farbe 
an den Schuh. Einen Reiter auf einem Schimmel aus dem Soldatenspiel 
seines Bruders nennt er Kuh. Die Kuh aus seinem Tierkasten ist weiß 
und schwarz gefleckt. Zur richtigen Benennung der Gegenstände wird 
H. stets angehalten. 

Die Entwicklung des Farbensinnes wurde auf folgende Weise unter- 
stützt: Als ihm auffällt, daß sein weißer Schlafrock mit einem roten ver- 
tauscht wird, wird ihm »rot« dabei gesagt; er interessiert sich nun für 
den Schlafrock, zeigt ihn oft und läßt sich »rot« vorsprechen. Nachdem 
er genügend für Papiere interessiert worden ist, wird inm ein Bogen rotes 
Papier von der farblosen Rückseite gezeigt; um ihm verständlich zu 
machen, daß rot nicht den Gegenstand, sondern die Farbe bezeichnet, wird 
eine Ecke des Bogens umgelegt, dazu wird ihm gesagt »rot ist das 
Papiere. Später wird das rote Papier mit dem Schlafrock verglichen, 
dazu gesagt: »rot ist das Papier, rot ist der Schlafrock«. Bald fällt ihm 
die rote Fläche eines 5 cm hohen farbigen Würfels auf. Um seinen 
Farbensinn zur Entwicklung zu bringen, bekommt er oft große Bogen 
buntes Papier; er hat Freude an den Farben. 

Das Erinnerungsvermögen zeigt sich bei folgender Gelegenheit: Seine 
Mutter bringt ihm einen Affen, den er früher besessen und lange nicht 
gesehen hat, er erkennt ihn wieder und erinnert sich daran, daß der Affe 
einen Purzelbaum schlägt, er bewegt den Arm an dem der Affe aufgezogen 
wird und legt ihn auf den Fußboden. Zwei Klingelzüge nebeneinander 
scheinen ihn an ein Telefon zu erinnern, das er im Sommer gesehen hat. 
Er hält eines Tages die eine Schnur an sein Ohr und brummt einige 
Laute. Jedoch gelingt es nicht, ihn an beobachtete Vorgänge, die ihn sehr 
interessiert haben, zu erinnern. 

Seine Phantasie ist verhältnismäßig gut; ich schließe dies daraus, 
daß er gern mehrere Gegenstände, die ihm lieb waren, zugleich in seiner 
Nähe hatte. Er freute sich zu Weihnachten über seine neuen Spiel- 
sachen, ohne aufgeregt zu sein, besonders über eine Puppe im Wagen; 
er behandelte sie wie ein Kind, fühlte das Bett, ob es trocken sei, und ließ 
andere fühlen, legte die Puppe schlafen, setzte ihr den Hut auf usw. 

Hans wird auch angehalten, sein Bett trocken zu halten; er 
wird, wenn er wach wird, gesetzt, später zu bestimmter Zeit aufgenommen. 
Er versteht, daß das Bett trocken bleiben soll, versteht aber nicht, wie er 
es anfangen soll, es trocken zu behalten, und weiß auch nicht, ob er, wenn 
er gesetzt wurde, Urin gelassen hat oder nicht. Erst am 23. Dezember 
ist ihm das nach vielen Bemühungen verständlich geworden. Seitdem hat 
er das Bett nicht so oft genäßt. 

Hans bekommt mehr Ausdauer und Freude am Ansehen der Bilder, 
faßt oft meinen Zeigefinger und führt ihn zu dem Bild, das er benannt 
haben möchte, wird aufmerksam, wenn ihm zum Bild erzählt wird. 

Vom 15. Dezember ab zeigte er auch in Gegenwart der Eltern auf 
Verlangen die ihm geläufigen Gegenstände, bis dahin tat er das nicht, da 
er nicht sicher genug dazu zu sein schien. 


1. Beitrag zur geistigen Entwicklung eines dreijährigen Knaben. 215 








Am 19. Dezember geht die Familie auf ihr Landgut. Hans bemerkt 
die andere Umgebung, es scheint ihm aufzufallen, daß die Gegenstände in 
seinem Zimmer anders sind und an anderen Plätzen stehen wie zu Hause, 
er zeigt mehrmals am Tage Bett, Lampe, Badewanne und benennt sie, so 
gut er kann. 

Seine Selbständigkeit nimmt zu, er versucht jetzt auch die Suppe 
allein zu essen, der Gang ist sicherer, die Haltung grader, der Hals scheint 
länger geworden zu sein. Der Kopfumfang hat nicht zugenommen, der 
kahle Hinterkopf bedeckt sich mit spärlichem Haar. Auf dem Spaziergang 
ist er nicht mehr so teilnahmlos wie früher, interessiert sich für alles, 
worauf er aufmerksam gemacht worden ist. Das idiotische Lachen, das 
er anschlug, wenn er seinen Bruder lachen hörte, hat sich beinahe ver- 
loren. Am Schluß des Monats kann er mit wenig Hilfe allein essen, an 
der Hand, zwar noch unsicher, die Treppe hinauf und hinunter gehen, 
3/, Stunden spazieren gehen. Er versteht die Frage: »wo ist« und zeigt 
die gewünschten Gegenstände mit Sicherheit, versteht die Aufforderung 
»geh zur Tür«, stellt sich an die Tür und wartet, bis der Ball zu ihm 
gerollt wird, rollt ihn zurück und hat große Freude daran. Seine Auf- 
merksamkeit und Ausdauer sind besser geworden. Er kann jetzt auf 
Verlangen ungefähr 20 Gegenstände hintereinander zeigen, bis er ermüdetı 
beim Perlenreihen gelingt es ihm jedesmal, 2—5 Perlen auf den Draht zu 
ziehen. Seine Sprechlust hat zugenommen. Von einigen Wörtern alımt 
er nur den Tonfall nach, von anderen den ersten Laut. Er spricht mit 
Verständnis alle Wörter, die er im vorigen Monat gesprochen hat, dazu: 

oe Ohr 
Hut 

Kuh 

ho hoch 
Mama 

Papa 

gich Milch 
po po Kompott 
dade Schachtel 
pa pä Papier 
peppe Treppe 
do da Soldat 


aa all all, wenn er den Teller leer gegessen hat 
name Schnabel 

papp-papp tapp-tapp, wenn er die Treppe hinuntergeht, 
ba Ball 


ab. 

Bei täglicher Übung der einmal gewonnenen Fähigkeiten wird jede 
passende Gelegenheit zu ihrer weiteren Entwicklung benutzt, dabei wird 
hauptsächlich auf 

a) ein besseres Sprachverständnis, 
b) die Entwicklung der Begriffe und der Phantasie und 
c) die Erziehung zum Gehorsam 


216 B. Mitteilungen. 
hingearbeitet. Nachdem Hans im Unterscheiden und Zeigen der Gegen- 
stände, im Befolgen der Frage: »wo ist«, sicher geworden ist, wird er 
zum Benennen der Gegenstände, zum Verstehen der Frage: »was 
ist das«, geführt. 

Er steht dieser Frage zuerst ganz verständnislos gegenüber. Um das 
Verständnis zu wecken, wird ihm ein Gegenstand wiederholt gezeigt und 
die Frage: »was ist das?« an ihn gerichtet. Wenn ihm zum Bewußtsein 
kommt, daß von ihm etwas verlangt wird, wird die Frage von mir be- 
antwortet, wohl auch der Gegenstand mit seinem Finger gezeigt. Am 
meisten wurde dieser Versuch mit dem Puppenhut gemacht, da er »Hut« 
am leichtesten sagen konnte. Er antwortete dann auch am 2. Januar 
zum erstenmal auf die Frage mit »Hut«, schien dann anzunehmen, daß 
auf diese Frage die Antwort »Hut« verlangt wird, und rief in den nächsten 
Tagen eifrig »Hut«e, wenn die erwähnte Frage an ihn gestellt wurde, 
ohne zu beachten, nach welchem Gegenstand er gefragt wurde. Auf 
ähnliche Weise hatte er auch die Worte »wo ist« zunächst mit seiner 
Nase in Verbindung gebracht, da er oft von seiner Mutter gefragt worden 
war: »Wo ist deine Nase?«, wobei seine Nase angefaßt wurde. Er zeigte 
daher zuerst jedesmal seine Nase, wenn er gefragt wurde: »wo ist der 
Ball? der Fisch usw.«. 

Erst allmählich gewöhnt er sich daran aufzumerken, welcher Gegen- 
stand ihm gezeigt wird, und ihn zu benennen. 

So hatte ich nun ein Mittel, ihn zum beabsichtigten, bewußten 
Sprechen zu veranlassen, während bis dahin seine Sprache nur halb- 
bewußte Gefühlsäußerung war. 

Die begriffliche Entwicklung wird durch zweckentsprechendes 
Eingehen auf seine Wahrnehmungen unterstützt und gefördert. 

Eines Tages war er auf die untere Stange einer Bettstelle gestiegen 
und freute sich über die Erhöhung. Ich sagte »hoch ist Hans«, stellte 
mich daneben und sagte: »hoch ist die Tante«. Dieses Spiel trieb er 
gerne und sagte bald »hoche, wenn er oben stand. Wir wiederholten 
das gleiche Verfahren auch mit der Fußbank, und er hatte bald den Be- 
griff »hoch« verstanden. Als seine Mutter ihn auf den Arm nahm, sagte 
er »hoche. Später wurde der Begriff weiter geleitet, die Taube fliegt 
hoch und ähnlich. Mit »Lampe« hat er bis dahin nur eine große Hänge- 
lampe und eine große Stehlampe bezeichnet, jetzt. benennt er mit diesem 
Wort eine kleine erleuchtete Wandlampe und die nicht erleuchtete Straßen- 
laterne, blickt auf dem Spaziergang in die geöffneten Fenster der Wohnungen, 
um die Hängelampen darin zu sehen. 

Mit dem Wort »ba« — Ball, bezeichnete er bis dahin nur den 
großen bunten Ball, der für die Übungen benutzt worden war, jetzt nennt 
er den Ball seines Bruders und seinen alten Ball nicht mehr kukuku- 
kululu, sondern ebenfalls »ba« — Ball. Als ihn seine Kuh und deren 
Halsband besonders beschäftigten, wird das Band abgenommen und »ab« 
dazu gesagt. Ebenso wenn die Glocke von dem Halsband abgezogen wird. 
Er versteht den Begriff schnell, spricht das Wort nach und sagt es bald, 
da es ihm leicht wird, auch in Gegenwart der Eltern. Es ist einige Tage 


2. Bildungsgang eines taubblinden Mädchens. 217 


hindurch sein Lieblingswort, er bringt es oft an, sagt »ab«, wenn er vom 
Papier ein Stückchen abreißt, wenn er den Schuh ausgezogen hat, wenn 
jemand zur Tür hinausgeht, wenn das Licht ausgeblasen ist usw. 

Sein Sprachverständnis und seine Phantasie reichen zuerst nicht aus, 
um die Worte »schlafen will die Puppe« oder »sitzen will die Puppe« 
zu verstehen. Sie wurden ihm auf folgende Weise verständlich: Ich legte 
mich in das Bett, sagte zu ihm »schlafen will die Tante« und schloß die 
Augen, bis das Eindruck auf ihn gemacht hatte, nahm dann die Puppe, 
sagte: »schlafen will die Puppe«, legte sie in das Bett und deckte sie zu. 
Als wir am nächsten Tage dieses Spiel wiederholt hatten, legte er die 
Puppe schlafen, wenn sie ihm gegeben und ihm gesagt wurde: »schlafen 
will die Puppe. Auf ähnliche Weise lernte er auch den sprachlichen 
Ausdruck für die Tätigkeiten, die mit den verschiedenen Gebrauchsgegen- 
ständen ausgeführt werden, kennen und verstehen. Er kennt auch genau 
den Ort, an dem sich die Gegenstände befinden. Unter seinen Spielsachen 
befand sich eine Streichholzschachtel, die er sehr gerne hatte, Er trägt 
sie jetzt jedesmal, wenn er sie dort findet, auf den Leuchter, weil er dort 
immer eine Streichholzschachtel liegen sieht. Im Nachttischschubfach sieht 
er ein Licht, er nimmt darauf den Lichtstumpf aus dem Leuchter und 
steckt das Licht hinein. (Schluß fölgt.) 


2. Bildungsgang eines taubblinden Mädchens. 
Von Taubstummenlehrer M. Steiner. Leipzig. 


Im Herbst 1910 wurde der Taubstummenanstalt zu Leipzig ein 
13 jähriges fast blindes und taubes Mädchen zugeführt. Da die Eltern 
nicht zu bewegen waren, ihr Kind den bewährten Taubblindenanstalten zu 
Nowawes uder Ketzschendorf anzuvertrauen, übernahm die Taubstummen- 
anstalt selbst die Bildung der Taubblinden. 

Elsa Straube wurde am 9. November 1896 in Schönefeld bei Leipzig 
geboren. Ihr Vater ist Bahnarbeiter bei der Sächsischen Staatsbahn. E. 
erfreute sich von Geburt an, wie ihre drei Geschwister, körperlicher und 
geistiger Gesundheit. Unter ihren Schulkameradinnen behauptete sie einen 
guten Platz. Im 8. Lebensjahre erkrankte E. an Diphtheritis, die fast 
völlige Taubblindheit zur Folge hatte. Trotzdem wurde das Mädchen nach 
einer mehrwöchigen Erholungspause wieder ihrer Volksschulklasse zugeteilt. 
Teilnahmslos verbrachte sie ziemlich zwei Jabre in den vorderen Sitzreihen 
ihrer Mitschülerinnen. Die bekümmerte Mutter bat nach dieser nutzlosen 
Zeit um Entlassung ihres Kindes, Sie wurde gewährt, ohne daß den 
Eltern nur die Möglichkeit eines geeigneten Bildungsweges angedeutet 
wurde Die Eltern bemühten sich, dem Mädchen Heilung von ihrem 
großen Leiden zu verschaffen. Bedeutende Leipziger Ohren- und Augen- 
ärzte behandelten, operierten sie. Doch das Leiden blieb hartnäckig. So 
fristete E. 31/, Jahr der sonst so fruchtbringenden Jugendzeit ein tier- 
ähnliches Dasein. Hätte nicht ein kaum vernommener Klang von kurzen 
Worten, die ihr die Mutter ins Ohr schrie, die Erinnerung an den und 


218 B. Mitteilungen. 








jenen sprachlichen Ausdruck und die damit bezeichnete Sache wachgehalten, 
die 31/, Jahr geistiger Schwindsucht hätten ihr geistigen Tod gebracht. 

In der Meinung, das Gehör habe sich gebessert, bat die Mutter wieder 
um Aufnahme des Mädchens in die Volksschule Sie wurde wiederum 
gestattet. Als ihr die Mutter mit Umständlichkeit erklärte, daß man sie 
diesmal in die 6. Klasse (3. Schuljahr) setzen wolle, sagte sie: »Das weiß 
ich nicht! Das ist schwer!« Birgt nicht dieser Schluß, den das Mädchen 
nach so langem Siechtum doch noch ziehen konnte, die stärksten Vorwürfe, 
daß man unterlassen, diesem Kinde geeignete Bildungsmöglichkeiten zu 
verschaffen? Nun saß das 13jährige Mädchen wieder unter 7jährigen 
Kindern und verträumte die kostbare Zeit. 

Da spielte ein Zufall in das Geschick des Mädchens herein: Freunde 
der Eltern erzählen vom Taubstummenunterricht, von der Blindenanstalt. 
Die Mutter stellt ihr Kind dem Direktor der Taubstummenanstalt zu Leipzig 
vor. Dieser veranlaßte die sofortige Entlassung aus der Volksschule und 
Aufnahme in die Taubstummenanstalt. 

Die Direktion war sich bewußt, daß E. nicht durch Ablesen zu 
unterrichten war. Dazu reichte ihr geringes Augenlicht nicht aus. Hier 
war eine Bildung nur nach dem Verfahren der Taubblindenbildung möglich. 
Die Eltern waren aber schon trostlos darüber, daß sie ihr Kind hinfort 
als taubstumm bezeichnen sollten. Sie hatten noch nie den Glauben 
an eine Heilung aufgegeben. Deshalb unterließ man zunächst, auf die 
einzig erfolgreichen Bildungsmöglichkeiten in Nowawes oder Ketzschendorf 
hinzuweisen. 

E. wurde einer Klasse taubstummer Kinder zugeteilt, um sich an 
diese zu gewöhnen. Unsere Zöglinge umstanden sie anfangs staunend, 
sprachen sie auch oft durch Gebärde und Lautsprache an. Da sie aber 
nichts verstand und deshalb nichts antwortete, blieb sie bald unbeachtet. 
Nach kurzer Zeit trat E. in meine Förderklasse ein. Ich unterrichtete 
zwei später ertaubte größere Kinder, bei denen es galt, die völlig ver- 
sunkene Sprache zu erwecken und zu befestigen. Da natürlich auch hier 
ein gemeinsamer Unterricht mit meinen Schülern nicht möglich war, bat 
ich um einige Sonderstunden, die mir gern gewährt wurden. 

Ehe ich den Sonderunterricht begann, stellte Herr Direktor Schumann 
den Eltern in aller Liebe vor, daß wir das Mädchen taubblind nennen 
müßten. Wir erzählten von der guten Fürsorge in den Taubblinden- 
heimen und suchten sie dafür zu gewinnen, das Mädchen einer solchen 
Bildungsstätte anzuvertrauen. Der Direktor stellte eine gute staatliche 
Beihilfe in Aussicht und versprach auch eine jährliche Unterstützung aus 
Anstaltsmitteln. Doch die Eltern waren nicht zu diesem Schritt zu 
bewegen. 

In meinen Unterrichtsstunden behandelte ich E, als Taubblinde. In 
der Literatur über Dreisinnige begegnete ich mehrfach der Ansicht, daß 
man bei solchen Kindern, wenn möglich, Gehör- und Sehreste zur Mit- 
teilung benutzen solle. Deshalb lehrte ich sie das Fingeralphabet Ich 
hielt ihr meine Hand dicht vor die Augen, bildete die betreffende Finger- 
stellung an ihrer Hand nach und schrieb den damit bezeichneten Buch- 


2. Bildungsgang eines taubblinden Mädchens. 219 





staben groß an die Tafel. E. suchte die großen Linien mit den Augen 
ab und nannte den Buchstaben. Sie hatte fast alle Buchstaben im Ge- 
dächtnis behalten. So lernte das Mädchen bald die Zeichen des Finger- 
alphabets deuten. Wir übten uns fleißig in der Verbindung der Zeichen 
und gewannen ein sicheres, wenn auch langsames Mitteilungsmittel. Ich 
buchstabierte ihr die Namen für die Dinge ihrer Umgebung vor. E. buch- 
stabierte nach, zog die Laute zum Worte zusammen und zeigte oler um- 
schrieb mit ihrer einfachen Sprache die Dinge, wenn sie ihr schon bekannt 
waren. Oft waren aber die Spracherinnerungen, die sich an einen ihr 
bekannten Gegenstand hefteten, so fehlerhaft, daß das Mädchen mit dem 
richtig vorgesprochenen Worte keinen Inhalt verband. So buchstabierte 
ich ihr z. B. das Wort Halter vor. E. sagte es richtig nach, wußte aber 
die Bedeutung des Wortes nicht. Da gab ich ihr einen Halter in die 
Hand. Sogleich meinte sie: »Das is’ ä Haller.« Unser erster Unterricht 
hatte in dieser Beziehung viel Reinigungsarbeit zu leisten. 

Als Unterrichtsgegenstände wurden natürlich solche bevorzugt, die 
dem Mädchen fühlbar gemacht werden konnten. Doch ließen sich auch 
große, klare Bilder mit verwenden. Für oft vorkommende Wörter gab 
ich ihr das Gebärdenzeichen der Taubstummen, das ich vor ihren Augen 
ausführte oder an ihrem Körper fühlbar machte. Die Schriften des Taub- 
stummenlehrer Riemann waren auch hierin meine Wegweiser. 

Zu Ostern durfte ich auch die Fortschritte meiner taubblinden 
Schülerin zeigen. Wir unterhielten uns über die Kuh. Ich stellte 
einfache Fragen. Wir gewannen ungefähr folgende Sätzchen: Das ist eine 
Kuh. Sie ist braun. Sie wohnt im Stalle. In dem Stalle sind viele 
Kühe. Die Magd melkt die Kuh. Sie gibt uns Milch. Die Mutter kocht 
die Milch. Sie läuft oft über. Ich trinke die Milch gern. Sie schmeckt 
gut. Auf der Milch schwimmt die Sahne. Die Frau schöpft die Sahne 
ab. Sie muß sauer werden. Dann macht die Frau Butter daraus. — 

Das Mädchen zeigte große Freude, wenn ihr Wissen vermehrt wurde, 
und hatte neue Wörter und Sätze in der nächsten Stunde stets gegen- 
wärtig, trotzdem sich die Eltern nicht mit ihr darüber unterhalten konnten. 
Das gute Gedächtnis milderte ein wenig mein großes Bedauern, daß die 
Eltern das Mädchen nicht der Anstalt übergaben. Hier wären sofort 
Maßnahmen getroffen worden für gute Pflege und geistige Förderung des 
Mädchens. 

Zu der Zeichensprache gesellte sich noch Unterricht im Lesen der 
Brailleschrift. Der blinde Blindenlehrer P. Hauptvogel machte das Mädchen 
und zugleich mich mit dieser Schritt bekannt. Das Fingeralphabet ward 
zum Dolmetsch zwischen dem Braillezeichen und seinem Namen. Alle 
Unterrichtsstoffe schrieb ich meiner Schülerin in Blindenschrift auf und 
gab ihr damit Lese- und Merkstoff zugleich in die Hand. 

Der Unterricht durch das Fingeralphabet war aber für das Mädchen 
ein sehr langsamer Bildungsweg. Ihr Augenlicht war eben zu schwach, 
um andauernd den Bewegungen der Finger folgen zu können. Ihr Geist 
war wohl befähigt, schneller aufzunehmen, doch das Mitteilungsmittel, 
schneller ausgeführt, wurde nicht mehr erkannt. Dazu bat mich der Arzt, 


220 B. Mitteilungen. 


ich möchte die schwachen Sehnerven nicht so sehr durch Fingeralphabet 
und Nahgebärde anstrengen. 

Da erfüllte sich im Herbst 1911 durch eine gütige Beihilfe des 
Herrn Generalmajor von Hagen mein längstgehegter Wunsch: Ich besuchte 
die Taubblindenheime in Nowawes und Ketzschendorf. Dort lernte ich die 
Anwendung des Handalphabetes kennen. Nach kurzer Zeit beherrschte 
auch mein taubblindes Mädchen das Handalphabet, und unser Unterrichts- 
betrieb gewann wesentlich an Schnelligkeit. Bis Ostern 1912 bewältigten 
wir viel Stoff, darunter auch eine Anzahl biblische Geschichten. Auf 
Wunsch der Eltern wurde E. mit unsern Schülern der ersten Klasse 
konfirmiert und entlassen mit der Versicherung, daß die Anstalt für ihre 
Weiterbildung und für Erlernung verschiedener Handarbeiten sorgen werde. 
Vor der Konfirmation hielt ich in Gegenwart des Anstaltsgeistlichen eine 
Prüfung mit E. ab. Wir behandelten ihren Konfirmationsspruch: Rufe 
mich an in der Not, —. In Frage und Antwort unterhielten wir uns 
von Gottes Liebesbeweisen an ihr selbst, von Jesu hilfreichen Taten und 
schlossen mit dem Vaterunser. Einige Sätzchen aus diesem Stoffgebiete 
sollen den Fortschritt zeigen: 

Ich war einmal schwer krank. Da hatte ich Diphtheritis. Der liebe 
Gott hat mich aus der großen Not errettet. Die Mutter aus der Stadt Nain 
war auch einmal in Not. Sie war schon eine Witwe. Da starb auch 
noch ihr einziger Sohn. Der Sohn hatte sie ernährt. Nun wußte sie 
nicht, wer ihr Nahrung geben sollte. Sie war schon zu alt zum Arbeiten. 
Jesus weckte den Jüngling wieder auf. — Auf einer Landstraße traf 
Jesus einen Blinden. Der rief: »Herr erbarme dich über mich!« Jesus 
heilte ihn mit den Worten: »Werde sehend! Dein Glaube hat dir ge- 
holfen.« 

Mit Genehmigung des Kultusministeriums erhält das konfirmierte 
Mädchen wöchentlich noch zwei Stunden Unterricht. Diese erstrecken 
sich gegenwärtig auf Übung im Lesen der Blindenschrift, damit sich das 
Mädchen zu Hause durch Lesen von Büchern in Brailleschrift weiterbilden 
kann. Leider ließen sich in den wenigen Stunden nur mäßige Erfolge 
erzielen, da jede Anleitung im elterlichen Hause fehlt. Unsere Pflicht 
fordert aber, daß wir sie auch für den Verkehr mit ihresgleichen befähigen. 
Das kann nur durch völlige Beherrschung des Handalphabets und der 
Blindenschrift geschehen. 

Seit den Sommerferien wird E. Str. in verschiedenen Handfertigkeiten 
ausgebildet. Eine Handarbeitslehrerin für Blinde eignete sich durch öfteren 
Besuch meiner Stunden die Handsprache an und unterweist sie run im 
Flechten von Körbchen und Rohrstuhlsitzen und im Stricken von Müffchen. 
In der letzten Ausstellung von Erzeugnissen Blinder standen auch ihre 
Arbeiten zum Verkauf. 

Solange sich E. Str. ihrer aufopfernden Eltern erfreut, wird sie ein 
sorgloses Dasein führen können. Edle Freunde verschönen ihr oft das 
Leben. Ihr kleiner Verdienst wird den Eltern stets eine wertvolle Unter- 
stützung sein in ihrer Sorge für Gegenwart und Zukunft des Mädchens. 
Sollte ihr das Schicksal die Emährer und Pfleger rauben, so wird das 


3. Tuberkulose und Schule. 221 





Taubstummen- und Taubblindenheim in Zwickau i. Sa., das bald seine 
Tore öffnet, auch ihr gern ein sorgloses und zufriedenes Weiterleben er- 
möglichen. 

Aus der Geschichte der Taubblindenbildung sind mir zwei Knaben, 
die in Sachsen Taubblindenunterricht genossen, bekannt geworden. Der 
Bericht der Kgl. Blindenanstalt zu Dresden vom Jahre 1861 nennt einen 
Einsinnigen, Max Alphons N, den Sohn eines Advokaten. Im Bericht 
derselben Anstalt von 1864 und 65 erfährt man von einem zweiten 
ertaubten und erblindeten Knaben, August Miersch. Dieser Fall der 
Taubblindheit gleicht dem von mir geschilderten: Auch bei Miersch 
brauchte man die Laute nicht erst durch Artikulation zu gewinnen. Es 
galt sie festzuhalten und zu verbessern. Über Miersch berichtet G. Riemann 
in seiner Schrift »Taubstumm und blind zugleich«, über den Einsinnigen 
N, der auch Geruch und Geschmack verlor, das »Organ der Taubstummen- 
und Blindenanstalten«e IX. Jahrgang in Nr.7 und 10. In den letzten 
Jahren sind sächsische taubblinde Kinder durch Vermittlung des Herrn 
Generalmajor von Hagen fern von der Heimat in der Anstalt Bethanien 
in Ketzschendorf bei Fürstenwalde a. d. Spree untergebracht. Dort weilt 
noch jetzt ein schon konfirmiertes Mädchen aus Leipzig-Connewitz und 
harrt der Vollendung des Zwickauer Heimes. 


3. Tuberkulose und Schule. 

Die Österreichische Gesellschaft für Kinderforschung veranstaltete in 
der Zeit vom 25. bis 27. Nov. 1912 unter dem Vorsitz des Universitäts- 
professors Dr. Clemens Freiherrn von Pirquet in den Räumen der 
k. k. Universitäts-Kinderklinik eine Enquête über Tuberkulose und Schule. 
Der Volksaufklärung über die Tuberkulose diente eine Ausstellung, die, 
allgemein und unentgeltlich zugänglich, das für den Laien Wissenswerte 
in möglichst klarer und übersichtlicher Form zusammenstellte. Zum gleichen 
Zweck wurden Lichtbildervorträge und kinematographische Vorführungen 
veranstaltet, die sich regen Besuches erfreuten. 

In welcher Weise die Behörden das Unternehmen unterstützten, geht 
aus der Tatsache hervor, daß der Unterrichtsminister Dr. Max Ritter von 
Hussarek den Ehrenvorsitz übernahm und Ausstellung und Enquête 
persönlich eröffnete. In seiner Ansprache betonte er die hohe Bedeutung 
der Tuberkuloseprophylaxe, die auch durch Aufklärung der breiten Schichten 
der Bevölkerung erfolgen müsse, wofür die Schule sehr wesentlich in Be- 
tracht kommt. Das Ministerium des Innern, dessen Sanitätsreferent 
Dr. med. et jur. Dr. von Haberler der Veranstaltung jede mögliche 
Unterstützung angedeihen ließ, förderte die Ausstellung durch Bewilligung 
einer nicht unbeträchtlichen Subvention. 

Besonders erfreulich war die Teilnahme hervorragender Fachmänner 
aus dem Deutschen Reich, die von der Versammlung mit warmer Sym- 
pathie begrüßt wurden. Die ungarischen Behörden waren durch den Do- 
zenten Dr. von Kuthy und durch den Sektionsrat Dr. Szanto vertreten. 
Der Besuch hielt sich bis zum Schluß der Enquöte auf bemerkenswerter 


299 B. Mitteilungen. 





Höhe. Der geräumige Hörsaal der Kinderklinik erwies sich fast als zu 
klein, um das zumeist aus Ärzten und Pädagogen bestehende Publikum 
zu fassen. 

Es würde zuweit führen, hier auf den Inhalt der Referate des Näheren 
einzugehen. Es sei daher auf die Vorträge selbst hingewiesen, die binnen 
kurzem in einer ausführlichen Publikation erscheinen werden. Alle Seiten 
des Problemes »Tuberkulose und Schule«e wurden in allgemein verständ- 
licher Weise behandelt. An die Vorträge schlossen sich Diskussioren, 
welche volle Übereinstimmung zwischen Ärzten und Pädagogen bekundeten. 
An den Vorträgen beteiligten sich: Universitätsprofessor Dr. Clemens 
Freiherr von Pirquet, Professor Dr. Nietner, Dr. Beschorner, Dr. Kokall, 
Erbgrat F. von und zu Trauttmannsdorff, Stadtrat Dr. F. M. Haas, Primar- 
arzt Dr. Bernhard Sperk (welcher in einem wissenschaftlich gediegenen 
Referat auf einige bisher weniger beachtete Formen der Kindertuberkulose 
aufmerksam machte), Dr. Karl Lämel, Dozent Dr. Teleky, Obersanitätsrat 
Dr. Altschul, Professor Dr. Burgerstein, Direktor der Allander Lungenheil- 
stätte Dozent Dr. Josef Sorgo, Dr. Josef Jungmann, Dr. Dora Teleky. 
Dr. Eduard Morauf, der sich die größten Verdienste um die gesamte Ver- 
anstaltung durch unermüdliche vorbereitende Tätigkeit erworben hatte, sprach 
über die Pflichten der Schule hinsichtlich der Körperpflege in Zusammen- 
hang mit der Tuberkulose, Dr. Ernst Loewenstein über Kindertuberkulose 
und Krankenkassen, wobei er die Familienversicherung als dringend not- 
wendig erachtete, Professor Magnus Werner über Jugendwandern, Dr. Ga- 
briel Wolf über Zahnkaries und Tuberkulose mit besonderer Rücksicht auf 
die Erfahrungen in der Wiener Schulzahnklinik. Die meisten Referate 
wurden durch Lichtbilder oder kinematographische Vorführungen illustriert, 
eine Maßnahme, die sehr zur Verdeutlichung des Vorgetragenen diente 
und trotz der Fülle von Referaten Ermüdung oder Abspannung bei der 
Hörerschaft kaum aufkommen ließ. 

Im Schlußwort faßte Professor von Pirquet die wichtigsten Ergebnisse 
der Enquête folgendermaßen zusammen: Die staatlichen und die städtischen 
Behörden erklären es für sehr wünschenswert, daß Ärzte und Lehrer mit 
den Behörden in einer ständigen Fühlung in Bezug auf die Tuberkulose- 
bekämpfung verbleiben. In Österreich gibt es viel zu wenige Lungenheil- 
stätten für Erwachsene; die Tuberkulösen müssen deshalb im Familien- 
verbande bleiben. Durch die hustenden Tuberkulosen werden die Kinder 
in hohem Grade gefährdet. Ferner ist es sehr bedauerlich, daß Österreich 
keine Heilstätten für lungenkranke Kinder besitzt, daß man derartige kleine 
Patienten nirgends dauernd unterbringen kann. Es fehlt demnach an Heil- 
stätten für Erwachsene, welche zu Hause die Kinder infizieren, und an 
Heilstätten für Kinder. Ein näheres Ziel der Enquête ist die Propagierung 
der Kenntnis von der Infektiosität der Tuberkulose in den weitesten Kreisen, 
die Propagierung dieser Kenntnis durch die Lehrer in der Schule und 
indirekt auch bei den Angehörigen der Schulkinder. 

Besondere Erwähnung verdient die Ausstellung, welche gleichfalls 
in den licht- und lufterfüllten Räumen der Kinderklinik untergebracht 
war. Hier fiel zunächst ein Tableau mit Abbildungen aus Leysin (Schweiz) 


4. Zeitgeschichtliches. 


228 





auf, auf welchem Prof. Rollier nicht bloß die Art des Anstaltsbetriebes, 
sondern die oft ans Wunderbare grenzenden Heilerfolge vorführte. Das 
deutsche Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose in Berlin hatte 
sehr instruktive Tabellen ausgestellt, in denen die segensreiche Tätigkeit 
der Lungenheilstätten in Deutschland und die Abnahme der Tuberkulose- 
sterblichkeit nachgewiesen erschienen. Große Aufmerksamkeit erregte 
die Ausstellung der Stadt ‚Chemnitz, welche nicht bloß ihre muster- 
haften Schulbauten und Heilstätten, sondern auch ein reiches Material 
für Aufklärungszwecke vorführte.e Das österreichische Zentralkomitee 
hatte ein Wandermuseum aufgestellt, das überallhin ohne Schwierigkeiten 
versendet werden kann. Aus der großen Zahl anderer Objekte seien 
hervorgehoben: Die an anatomischen Präparaten reiche Sammlung des 
Universitätsinstitutes für pathologische Anatomie in Wien; die Moulagen 
der Wiener Kinderklinik zur Erklärung der sogenaunten Pirquet’schen 
Reaktion zur Erkennung der Frühstadien der Kindertuberkulose; die Tafeln 
der Wiener Lupusheilstätte; eine sehr instruktive Abteilung über Mund- 
und Zahnpflege der Wiener Schulzahnklinik; die Pläne der Bozener Franz- 
Josef-Schule, eines Musterbaues mit allen hygienischen Einrichtungen; 
künstlerisch bedeutende Aquarelle der Heilstätten der Gemeinde Wien; 
Tafeln der Wiener Tageserholungsstätten; eine drastische und eben deshalb 
sehr wirksame Bilderserie des ungarischen Hygienikers Dr. von Kuthy 
zur Volksaufklärung über die Tuberkulose; der Trinkspringbrunnen des 
Hygienikers Burgerstein zur Vermeidung der Trinkinfektion; eine Propa- 
gandazwecken dienende Ausstellung des Vereines für Jugendwandern u. a. m. 
Die gelungene Veranstaltung hat zweifellos nicht bloß viel zur Volks- 
aufklärung über die Tuberkulose beigetragen, sondern die maßgebenden 
Behörden überzeugt, wie notwendig die gesundheitliche Überwachung und 
Belehrung der Schuljugend ist. In diesem Sinne dürfte der Wunsch aller 
österreichischen Schulhygieniker nach allgemeiner Einführung von Schul- 
ärzten bald seiner Verwirklichung entgegengehen. 
Wien-Grinzing. Dr. Theodor Heller. 


4. Zeitgeschichtliches. 

In Berlin wurde am 19. Oktober 1912 eine »Vereinigung der Lehrer an 
Schwerhörigenklassen« gegründet. 

In Bad Salzbrunn ist eine Arbeitsgemeinschaft für Kinderforschung 
ins Leben gerufen. 

Im Anschluß an den 9. Verbandstag des Verbandes der Hilfsschulen findet 
vom 30. März bis zum 21. April 1913 in Bonn ein Hilfsschulkursus (Ein- 
führungskursus) statt. Alle Zuschriften sind zu richten an Rektor Lessenich, 
Bonn, Friedrichstraße 2a. 

Für die nächste Versammlung des Deutschen Vereins für Schulgesund- 
heitspflege, die vom 13.—15. Mai 1913 in Breslau stattfindet, wurden als Haupt- 
referate die folgenden beiden aufgestellt: Welche Anforderungen müssen vom 
hygienischen Standpunkte an die Schulanfänger gestellt werden? und: Die Hygiene 
der Landerziehungsbeime. 

Die Jahresversammlung der Schulärzte Deutschlands behandelt auf 
ihrer nächsten Sitzung am 15. Mai 1913 in Breslau das Thema: Die Aufgaben 
der Schulärzte bei der hygienischen und sexuellen Belehrung in den Schulen. 


224 B. Mitteilungen. 





Am 24. November 1912 wurde der Grundstein zur Landeskinderheilstätte 
für tuberkulöse Kinder in Oberschwenden bei Scheidegg in Bayern gelegt. 
Die Mittel dafür wurden durch eine Landessammlung zum 90. Geburtstag des Prinz- 
regenten aufgebracht. 

Am 5. Dezember 1912 fand in Nowawes die Einweihung des neuen 
Taubstummblindenheimes, das mit einem Kostenaufwand von 260000 Mark 
für 60 Personen eingerichtet wurde, statt. 


Im Leipziger Kinderheim Dürrenberg wurden im Jahre 1912 386 Kinder 
aufgenommen. Die gesundheitlichen Erfolge sind zufriedenstellend. Um künftighin 
gleichzeitig 100—120 Kinder (bisher nur 75—80) aufnehmen zu können, wurde der 
Ankauf eines Nachbargrundstücks zur Errichtung eines Erweiterungsbaues beschlossen. 


Stiftungen, Schenkungen usw.: der Stadt Apolda 20000 Mark für 
Jugendfürsorgezwecke. 


Die Württembergische Regierung hat einen Gesetzentwurf zur 
Kinofrage ausgearbeitet, der u. a. ein Verbot des Kinobesuches für Kinder und 
Jugendliche vorsieht. 


Das sächsische Kultusministerium erläßt folgende Mitteilung an die Leitungen 
der ihm unterstellten höheren Schulen, die allgemeine Beachtung verdient, weil sie 
die Notwendigkeit der Jugendenthaltsamkeit anerkennt und ihre Förderung den Er- 
ziehern warm ans Herz legt: »Das Ministerium des Kultus und öffentlichen Unter- 
richts, das den Direktionen der höheren Schulen schon wiederholt nahegelegt hat, 
die Bekämpfung des Alkoholgenusses der Jugend im Auge zu behalten, stellt den 
Direktionen anheim, mit ihren Lehrerkollegien in Erwägung zu ziehen, ob nicht in 
Zukunft bei Schülerwanderungen die Enthaltsamkeit der Schüler von alkoholhaltigen 
Getränken zu guter Gewohnheit gemacht werden kann, nicht durch Verbote unter 
Androhung von Strafen, sondern durch angemessene Belehrung, wie überhaupt die 
Veranstaltung aufklärender Aussprachen über die Gefahren des Alkoholgenusses der 
erzieherischen Aufgabe der Schule gute Dienste leisten wird.« 


Die Zahl der in Betrieben mit mindestens zehn Arbeitern beschäftigten Jugend- 
lichen (unter 16 Jahren) betrug 


1910 1911 
männliche Jugendliche . . . . 316115 340 316 
weibliche Jugendliche . . . . 173081 178 505 


zusammen 489 196 518 821 


Von diesen waren Kinder unter 14 Jahren 


1910 1911 

und zwar Knaben. . . . . . 7014 7434 
Mädchen . . . . . 5856 5 970 
zusammen 12870 13 404 


Die meisten Jugendlichen waren in der Textilindustrie beschäftigt und zwar im 
Jahre 1911 91800 Personen, davon 56709 weibliche. 


Statistische Ermittelungen über Berufswahl und Erwerbsfähigkeit der 
ehemaligen Hilfsschulzöglinge der Provinz Brandenburg hat Hilfs- 
schullehrer Zieting-Pankow mitgeteilt. Wir entnehmen die folgenden Daten der 
»Hilfsschule«, Jg. V, 11 (November 1912), S. 316. Es wurden von 599 Knaben 
551, von 528 Mädchen 469 als erwerbsfähig ertlassen. 48 Knaben und 59 Mädchen 
blieben erwerbsunfähig. 147 Knaben und 33 Mädchen erlernten einen Beruf. 
284 Knaben wurden ungelernte Arbeiter, 271 Mädchen ungelernte Arbeiterinnen. 
(Die Angaben über die erlernten Berufe sind nicht vollständig wegen der Be- 
völkerungsfluktuation in den großen Kommunen.) 338 Knaben und 253 Mädchen 
blieben bei ihrem zuerst erwählten Beruf oder bei ihrer zuerst erwählten Be- 
schäftigung; 43 Knaben und 10 Mädchen wechselten Beruf oder Beschäftigung bis 
viermal. Der Jugendfürsorge überwiesen wurden 4 Knaben und 4 Mädchen, der 
Zwangserziehung 9 Knaben und 4 Mädchen. Gerichtlich bestraft wurden 7 Knaben 
und 1 Mädchen. 


4. Zeitgeschichtliches. 225 





Von 1743 Breslauer Volksschulkindern hatten nach Feststellung des 
städtischen Schularztes Dr. Moritz Cohn 12,1°/, niemals Alkohol erhalten. Rund 
10°, aller Kinder tranken regelmäßig Bier, gelegentlich 64,03°/,. Regelmäßig Wein 
tranken kaum 1°/, der Kinder, gelegentlich 37,3°%/,; regelmäßig Schnaps tranken 
3,1°/,, gelegentlich 30,2 °/. 

Die Ecole des Sciences de l'Education (Institut J. J. Rousseau) gibt seit dem 
Oktober 1912 eine neue Zeitschrift herat& unter dem Titel »L’Intermediaire des 
Educateurs«. Redakteur ist M. Pierre Bovet, 5 place de la Taconnerie, Genève. 
Der Bezugspreis beträgt für das Ausland 3 fr. 50. 

Der dritte Schularztbericht aus Sebnitz (Sachsen) auf das Jahr 1911/1912 
hringt folgende Daten: 

A. Körpermaße. 
he aller aller aller der der f 
Körpermaße Kinder Knaben Mädchen Mitt. Einfach, Min Max. 
Größe. . . 1135 112,7 1144 115,3 112,3 99.0 127,0 
Gewicht . . 19,9 20.0 19,8 20,5 19,4 15,1 30,4 
Brustumfang. 56,6 57,2 53,6 57,0 56,4 51,0 62,0 


B. Allgemeine Körperbeschaffenheit. 


R a aller aller aller der der 

A eine Ka > Kinder Knaben Mädchen Mittleren Einfachen 
lo lo lo lo lo 
Dub et oda io Aa SAD 48 43 58 38 
mangelhaft . . . . 50 48 53 42 56 
schlecht . . ... 4 4 4 0 6 


In der Beilage zur »Volks-Zeitung« (Pirna, Nr. 273 vom 26. November 1912) 
bringt Otto Rühle folgende Zusammenstellung, die beweist, daß der Gesundheits- 
bezw. Wachstumszustand der Sebnitzer Schuljugend ganz erschreckend tiefsteht, 
was zu einem großen Teil nur erklärt werden kann durch den Umstand, daß Sebnitz 
ein Zentrum der Heimarbeit ist: 

Länge Gewicht Brustumfang 


Berlin 128,8 29,8 — 
(Dr. Rietz, Archiv f. Anthrop., Bd. I, 1.) 
Halle 128.5 28,6 -— 


(Dr. Schmid-Monnard, Korresp.-Blatt d. 
dtsch. anthrop. Gesellsch. 1900,11 u. 12.) 
Gohlis 126,0 28,2 — 
(Prof. Hasse, Beitrag z. Statistik u. Ge- 
schichte d. Volksschulw. v. Gohlis 1891.) 


Dresden i 130,6 — — 
(Graupner. I. Kongr. f. Schulhyg.) 

Pommern 128,0 26,0 62 
(Archiv f. soz. Hyg. 1912, VI, 2.) 

Saalfeld 126,5 — — 
(Schmidt, Archiv f. Anthrop. XXI.) 

Freiberg 125,5 — — 


(Geißler u. Uhlitzsch, Zeitschrift d. 
kgl. sächs. Stat. Bur., XXXIV.) 


Stockholm 129,5 29,4 — 
(Staatliche Enquete.) 

Boston 125,5 — — 
(Untersuchung von Borditch.) 

Sebnitz 113,5 19,9 56,6 


Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 15 


226 C. Zeitschriftenschau. 





C. Zeitschriftenschau. 


Jugend- und Schulhygiene. 

Phleps, Gustav, Über Schulhygiene. Schul- und Kirchenbote. 47, 21 (1. No- 
vember 1912), S. 323—330. 

Eine sehr übersichtliche knappe Darstellung des ganzen Problems. Nur die 
wichtigsten Momente werden hervorgehoben. Zum Schluß wird ein Verzeichnis der 
ansteckenden Krankheiten, die sich in den Schulen entwickeln oder verbreiten 
können, geboten. 

Leubuscher, Lotte, Die schulärztlichen Einrichtungen einer englischen Stadt. 
Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 35, 12 (Dezember 1912), S. 857—862. 

Die Verfasserin hatte Gelegenheit, die Einrichtungen in Newport (Süd-Wales) 
kennen zu lernen, über die sie einen Überblick bietet. Im allgemeinen ist man in 
England denselben Weg gegangen wie in Deutschland. Das englische Gesetz vermag 
gegen nachlässige Eltern bei gefährlichen Krankheiten strafrechtlich vorzugehen. 
Des schulärztlichen Dienstes sind nur die städtischen Volksschulen teilhaftig. 
Franke, Kurt, Schulhygiene in Japan. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 

25, 11 (Oktober 1912), S. 729—739. 

Die japanische Schulhygiene gedeiht im großen und ganzen auf gesundem 
Boden. Luft, Licht und Bewegung sind die wesentlichsten Heilmittel für die japa- 
nische Jugend. Daten über die Entwicklung der Schulhygiene in Japan leiten die 
Arbeit ein. 

Oebbecke, Zur Frage der Vereinheitlichung des Schulärztlichen Dienstes in Deutsch- 
land. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 25, 11 (Oktober 1912), S. 785—787. 

Darstellung der Besonderheiten im Breslauer schulärztlichen Dienstschema. — 
Es müßte mehr auf Übereinstimmung der Prinzipien hingearbeitet werden. Die 
Frago nach der Ausführung ist erst von sekundärer Bedeutung. 

Hieber, A., Gedanken und Betrachtungen eines Schularztes im Nebenamt. Zeit- 
schrift für Schulgesundheitspflege. 25, 12 (Dezember 1912), S. 862—865. 

Auf Grund seiner Tätigkeit kommt der Verfasser zu dem Schluß, daß der 
Schularzt im Nebenamt sehr wohl imstande ist, das große Gebiet der Schulhygiene 
zu übersehen und die gewünschte und geforderte Tätigkeit zu entfalten. Auch bei 
bescheidenen Mitteln läßt sich Gutes leisten. 

Cohn, Moritz, Der Wert des Tabellenmaterials einzelner Schularztbezirke in den 
Breslauer Jahresberichten. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 25, 10 (Oktober 
1912), S. 722—726. 

In den Tabellen kommt die Individualität des Arztes sowie die lokalen Ver- 
hältnisse klar zum Ausdruck. Ihr Wert ist also nur ein bedingter. 

Alexander, Arthur, Über eine Beteiligung der Kinderärzte an der Internationalen 
Ozäna-Sammelforschung. Deutsche Med. Wochenschrift. 38, 39 (26. September 
1912), S. 1845—1847. 

Die Sammelforschung soll in erster Linie die Ozäna (Stinknase) als Volks- 
krankheit studieren, sodann die Übertragbarkeit (Vererbung oder Infektion) und vor 
allem auch die Symptome des Anfangsstadiums. Namentlich beim Studium dieser 
letzteren kann der Kinderarzt den Veranstaltern der Sammelforschung wesentliche 
Dienste leisten. (Daß der Pädagoge in mancher Hinsicht gerade bei dieser Arbeit 
den Arzt unterstützen kann, braucht kaum erwähnt zu werden.) 


C. Zeitschriftenschau. 227 





Cohn, Moritz, Die Kenntnis der Körperlänge, ein Maßstab für die normale Ent- 
wicklung der Schulkinder. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 25, 10 (Ok- 
tober 1912), S. 693—696. 

Als Schwerpunkt für die Aufstellung entsprechender Tabellen ist nicht das 
Alter, sondern die Körperlänge zu empfehlen. Was der Verfasser will, wird am 
besten durch die seiner Arbeit beigefügte Tabellen über Messungen und Wägungen 
an 90 normalen gesunden Knaben klar. Es wird angeregt, durch derartige Tabellen 
den bisher noch ausstehenden einwandfreien Nachweis über die Wirkung des Schul- 
besuchs auf die normale Entwicklung gesunder Kinder zu erbringen. 

Homma, T., und Fujikawa, Y., Über die Körperlänge der Mädchen. Jidö Kenkyü. 
XVI, 1 (August 1912). 

Die jährliche Zunahme der Körperlänge ist bei den japanischen Mädchen ge- 
ringer als bei den europäischen. Doch laufen beide Kurven beinahe parallel. 
Fujita, T., Über die Körperuntersuchung der Kinder. Ebenda referiert aus Shögakkö, 

XII, 3. 

Vergleich des Körpergewichts von Elementarschulkindern in Kioto vor und 
nach den Sommerferien. 

Kusano, S., Über die Untersuchung der Schulkinder mittelst Pirquetscher Reaktion. 
Ebenda referiert aus Okayama-Igakkai-Zasshi 264. 

Die Zahl der positiven Reaktıonen nimmt mit dem Lebensalter zu. 

v. Drigalski, Bekämpfung der übertragbaren Krankheiten in den Schulen. Zeit- 
schrift für Schulgesundheitspflege. 25, 11 (Oktober 1912), S. 739—748. 

Kurze Andeutung der Art, wie die Schule vor Infektionen zu schützen und 
gleichzeitig der allgemeinen Seuchenbekämpfung dienstbar zu machen ist. Als 
Grundsatz wird aufgestellt: »Niemand darf nach einer ansteckenden Krankheit oder 
bei Verdacht auf Infektion die Schule wieder besuchen, bevor er das schulärztliche 
Zeugnis erhalten hat, daß er nicht mehr ansteckend ist« (742). Mit 2 graphischen 
Darstellungen über Diphtherie und Scharlach in Halle a. S. in den Jahren 1906—1911. 
Hillenberg. Kindheitsinfektion und Schwindsuchtsproblem. Deutsche Med. Wochen- 

schrift. 38, 43 (24. Oktober 1912), S. 2032—2034. 

Die Lehre vom infantilen Ursprung der Krankheit der Erwachsenen stellt 
»keineswegs ein fest fundiertes und gefügtes Gebäude« dar. Die Schwindsuchts- 
bekämpfung hat dementsprechend zwar schon im jugendlichen Alter einzusetzen, in 
der Hauptsache aber muß sie doch den tuberkulösen Erwachsenen als Hauptquelle 
der Schwindsucht im Auge behalten. 

v. Leube, Über die Bekämpfung der Tuberkulose im Kindesalter. Münch. Med. 
Wochenschrift. 59, 31 (30. Juli 1912), S. 1697—1699; 32 (6. August), S. 1760 
bis 1762. 

Bespricht im allgemeinen Bedeutung und Behandlung der Tuberkulose im 
Kindesalter und den notwendigen Kinderschutz. Das Kind wird erst ganz allmählich 
von außen her mit Tuberkulose infiziert. Vererbung der Tuberkulose erscheint nur 
in Ausnahmefällen zutreffend. Da in etwa ein Drittel der Fälle eine Infektion jen- 
seits des Kindesalters angenommen werden muß, sind die prophylaktischen Maßregeln 
mit demselben Eifer wie bisher fortzusetzen. Einzelne im Interesse des Kinder- 
schutzes notwendige Maßregeln werden besprochen. 

Franke, Kurt, Schule und Tuberkulose. Deutsche Elternzeitschrift. 3, 11 (1. August 
1912), S. 180—182; 12 (September), S. 196—198. 

Bringt reiches Zahlenmaterial aus der vorhandenen Literatur. Hält sich vor 
allem an die Untersuchungen Herfords. Eingehend besprochen werden die Mittel, 

15* 


228 C. Zeitschriftenschau. 





die uns zu wirksamer Bekämpfung der Tuberkulose im schulpflichtigen Alter zur 

Verfügung stehen, namentlich auch die Beratung der vor der Berufswahl stehenden 

jungen Leute. 

Vogt, Hans, Zur Diagnose der Lungentuberkulose im Kindesalter. Münch. Med. 
Wochenschrift. 59, 36 (3. September 1912), S. 1957—1958. 

Kurze Besprechung der exakten Diagnose mit besonderer Berücksichtigung der 
Punkte, die häufig zu Irrtümern Veranlassung geben. 

Lorentz, Friedrich, Methodische Atemübungen in der Schule und ihr Wert für 
die Tuberkuloseverhütung. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 25, 12 (De- 
zember 1912), S. 793—801. 

Um die Lungen in ihrer Funktion nicht zu schädigen, müssen vor allem die 
Gelenkverbindungen des oberen Rippenringes geübt werden durch kräftige Atemtätig- 
keit und freien Gebrauch der Arme. Die Übungen müssen im Freien oder in frisch 
und gut durchlüfteten Räumen vorgenommen werden. Zur Ausbildung der Lehrer 
müßten Kurse in Atemgymnastik eingerichtet werden. Auch für die Fortbildungs- 
schulen ist Einführung der Atemübungen erforderlich. 

Hach, J., Atmungsgymnastik bei turnerischen und sportlichen Übungen. Deutsche 
Schulpraxis. 32, 46 (17. November 1912), S. 366—367. 

Die Wichtigkeit der Atmungsübungen wird in Kürze eindringlich dargetan. 
Riesenkampff, Agnes, Über die schwedische Schulgymnastik. Pädagogischer 

Anzeiger für Rußland. 4, 10 (Oktober 1912), S. 625—631. 

Neben allgemeinen Bemerkungen entbält der Aufsatz eine sehr gute Zusammen- 
stellung der Übungen und ein Schema des Gymnastikprogramms,. 

L. K., Heilung der Kinder-Rückgrat-Verkrümmung. Zeitschrift für Jugenderziehung 
und Jugendfürsorge. III, 5 (15. November 1912), S. 132—135. 

Es wird die von dem Londoner Orthopäden Dr. Bernhard Roth angegebene 
Methode anerkennend besprochen. Die verschiedenen Übungen werden angegeben. 
Peltesohn, Siegfried, Über die orthopädisch-chirurgische Behandlung der polio- 

myelitischen Lähmungen im Kindesalter. Deutsche Med. Wochenschrift. 38, 43 
(24. Oktober 1912), S. 2028—2029. 

Überblick über den eigenen Standpunkt in der Frage der Lähmungstherapie 
des Kindesalters. 

Deutschländer, Carl, Die spinale Kinderlähmung. Ebenda. 38, 40 (3. Oktober 
1912), S. 1883—1888. 

Vorzüglicher Überblick. Die Therapie wird besonders eingehend behandelt. 
Eine überstandene spinale Kinderlähmung bedingt etwa den sechsten Teil aller Ver- 
krüppelungen. 

Kose, Y., Über die Zahnkaries bei den Schulkindern in Japan. Jid6 Kenkyü. 
XVI, 2 (September 1912). 

Unter 2538452 untersuchten Schulkindern litten 48,7 °/, an Zahnkaries. Über 
die Verteilung der kranken Kinder nach Alter, Wohnung usw. werden genauere 
Angaben gemacht. 

Alexander, Gustav, Die schulärztliche Ohrenuntersuchung an der Volksschule zu 
Berndorf in Niederösterreich in den Jahren 1910, 1911 und 1912 (3., 4. und 
5. Jahr). Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 25, 10 (Oktober 1912), S. 713 
bis 722. 

Eingehende Daten. — Bemerkenswert ist, daß im Laufe der Jahre Kinder, 
Eltern und Lehrer immer mehr Vertrauen zum Schulohrenarzt gefaßt haben. 


C. Zeitschriftenschau. 229 





Held. Rudolf, Die Kurzsichtigkeit unter den Gewerbelehrlingen der Münchner 
Fortbildungsschulen. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 25, 12 (Dezember 
1912), 5. 801—807. 

Im Durchschnitt wurden folgende Kurzsichtigkeitsprozente festgestellt: für 
Freilichtberufe 3,65 °,,, Grobhandwerker 6,73 °/, und Feinarbeiter 9,52 °/ In Däne- 
mark fand Tscherning für Bauern und Tagelöhner 2,5°/,, für Grobhandwerker 5,2%, 
und für Feinarbeiter 11,6°,. Mehr Handarbeit, mehr Bewegung in den Schulen 
aller Art, weniger Bücher- und Federdienst wären geeignet, die Kurzsichtigkeit in den 
Grenzen zu halten, die volkswirtschaftlich und national verantwortet werden können. 
Lorentz, Friedrich, Zur Frage der Schülerermüdung. Zeitschrift für Schul- 

gesundheitspflege. 25, 11 (Oktober 1912), S. 749—756. 

Nachweis, daß die Schlußfolgerungen aus Konrichs Vortrag »Zur Frage der 
Ermüdungsmessung und der Wirksamkeit des Weichardtschen Antikenotoxins« auf 
der IV. Versammlung der »Vereinigung der Schulärzte Deutschlands« »nicht ohne 
weiteres als richtig anzuerkennen sind«. Lorentz zieht aus den erwähnten Unter- 
suchungen die Folgerung, daß in der Tat Antikenotoxin imstande ist, Ermüdungs- 
stoffe zu beeinflussen. 

Franke, Kurt, Der Schlaf bei Erwachsenen und Kindern. Zeitschrift für Jugend- 
erziehung und Jugendfürsorge. III, 5 (15. November 1912), S. 124—126. 

Jm allgemeinen werden 2 Schlaftypen unterschieden. Beim ersten Typus 
wird die größte Schlaftiefe schon in der ersten Stunde erreicht (Abendschläfer), 
doch verflacht die Kurve schnell; beim zweiten Typus vertieft sich der Schlaf lang- 
sam, verflacht aber auch langsam (Morgenschläfer). Ganz kurz werden die Ab- 
weichungen des Kinderschlafes vom Schlafe der Erwachsenen besprochen (2 Ver- 
tiefungen; längeres Schlafbedürfnis; störende Erscheinungen). 
von Schenckendorff, Deutsche Jugenderziehung und Pfadfinderbewegung. Der 

Arzt als Erzieher. 8, 1912, 1, S. 1—4; 2, S. 13—20. 

Überblick über die Organisationen, die eine Ertüchtigung der Jugend erstreben. 

Hach, J., Turnen und Spiel in ihrer Bedeutung für die Jugendpflege. Deutsche 
Schulpraxis. 32, 50 (15. Dezember 1912), 3. 393—395. 

Durch regelmäßige Leibesübungen wird die Gesundheit und die Körperkonsti- 
tution der jungen Leute außerordentlich gehoben. So waren z. B. im Kreise Schmal- 
kalden 1902 nur 38°/, aller Militärpflichtigen diensttauglich, 1909 (nach einigen 
Jahren planmäßiger Leibesübungen) 75°/,. Die Leibesübungen müssen einen wirk- 
lichen Wert für die Ausbildung des Körpers haben und nachhaltiges Interesse er- 
wecken. Turnen und Spiel müssen sich ergänzen. Auch die Landjugend muß daran 
teilhaben. 

Heuer, O., Vom Schwimmunterricht in der Hilfsschule. Die Hilfsschule. V, 10 
(Oktober 1912), S. 273 —278. 

Teilt seine Erfahrungen aus Hamburg mit, wo bisher etwa 60 Hilfsschüler im 
Schwimmen ausgebildet wurden, und zwar im allgemeinen mit gutem Erfolg. 
Stock, P., Im frischen grünen Wald. Die Hilfsschule. V, 10 (Oktober 1912), 

S. 278—279. 

Kurzer Bericht über eine Wanderung mit Fortbildungsschülern Berlins. »Wer 
sich der Aufgabe unterzieht, unsere Jünglinge in die Kunst einer genußreichen 
Wanderung einzuführen, der findet in der aufrichtigen und herzlichen Dankbarkeit 
der jugendlichen Seelen den Ansporn zu weiteren Unternehmungen auf diesem Gebiet.« 
Rasser, E. O., Schulkinderspeisungen mit besonderer Berücksichtung des Auslandes. 

Die Gesundheitswarte. X, 9, S. 199—206. 


230 C. Zeitschriftenschau. 





Kurzer orientierender Bericht über die Einrichtung in verschiedenen Ländern. 
Die Einrichtungen in England werden etwas eingehender behandelt. Sie dürfen 
in vieler Hinsicht als mustergültig gelten. 

Wilker, Karl, Die Alkoholfrage in den württembergischen Lehrerseminaren. Die 
Enthaltsamkeit. 14, 11 (November 1912), S. 77—78. 

Der Verfasser hielt in allen württembergischen Lehrerseminaren Vorträge über 
die Bedeutung der Alkoholfrage für den künftigen Lehrer, denen die Seminaristen 
mit Aufmerksamkeit folgten. Die Leitsätze werden mitgeteilt. 

Schmid, Hans, Über Unterricht und Bildung in einem Lungensanatorium. Zeit- 
schrift für Jugenderziehung. IIl, 2 (1. Oktober 1912), S. 43 —47. 

Teilt den Bericht des Hauslehrers der Bernischen Heilstätte für Tuberkulose 
in Heiligenschwendi mit. Der Bericht äußert sich sehr erfreulich über die Unter- 
richtsarbeit: »Noch nie habe ich so dankbare Schüler gehabt wie diese kranken 
Kinder hier.« 

Sörgel, Paul, Notwendigkeit einer verbesserten körperlichen Erziehung in unseren 
deutschen Schulen. Die Gesundheitswarte. X, 10, S. 223—233. 

Teilweise übertreibende und vor allem einseitige Darstellung! Gefordert wird 
Gleichberechtigung der Körperpflege mit der geistigen Ausbildung. 

Toulouse, Wie bildet man den Geist? Eos. 8, 2 (April 1912), S. 97—108. 

Inhaltsangabe eines gleichbetitelten französischen Buches (1908), aus der 
»Revue psychologique«, I, S. 65 ff. — »Die Gesundheit ist in vielen Beziehungen 
ein Werk des Verstandes« ist das Schlußergebnis. 

Hesse, Otto, Schule und sexuelle Aufklärung der Jugend. Zeitschrift für Jugend- 
erziehung und Jugendfürsorge. 3, 6 (1. Dezember 1912), S. 156—160. 

Die verantwortungsvolle Aufgabe muß dem Elternhaus überlassen bleiben. 
»Öffentliche Vorträge über sexuelle Dinge vor einem Jugendauditorum sind grober 
Unfug«. Die öffentlichen Vorträge wären zweckentsprechend zu Informationen für die 
Eltern umzugestalten. 

Major, Gustav, Zur Frage der sexuellen Aufklärung der Kinder. Die Gesund- 
heitswarte. X, 8, S. 189—194; 9, S. 213—216. 

Bietet nichts neues. Zum Teil Wiederholungen aus einer anderen Arbeit des- 
selben Autors. . 

Samosch, Schule und Haus. Die Notwendigkeit ihres Zusammenwirkens vom ärzt- 
lichen Standpunkt aus betrachtet. Der Arzt als Erzieher. 8, 1912, 5, S. 49—53; 
6, S. 61—69; 7, S. 79—84; 8, S. 90—96. 

Es soll die Frage beantwortet werden, inwieweit körperliches und geistiges 
Wohl der Schuljugend durch Zusammenarbeiten von Schule und Haus gefördert 
werden können. Durch Herstellung der geeigneten Verbindungen könnten die Arbeits- 
bedingungen der Pädagogen bedeutend besser gestaltet werden, Bei der Herstellung 
dieser Verbindung wird ärztliche Mithilfe nicht zu entbehren sein. 

Kemsies, F., Der Pflichtanteil des Hauses an den Hausaufgaben der Schüler. 
Deutsche Elternzeitschrift. IV, 1 (1. Oktober 1912), S. 9—11; 2 (1. November), 
S. 27—29. 

Mannigfache bygienische Fragen, die bei der Herstellung der Hausaufgaben in 
Betracht kommen, werden sachgemäß besprochen. Doch wird man kaum mit allen 
Forderungen übereinstimmen. 

Engelen, Über Erziehungsaufgaben und Schulfragen. Der Arzt als Erzieher. 
8, 1912, 9, S. 97—102. 


D. Literatur. 231 








Es werden allgemeine Forderungen der Gesundheitspflege unter besonderer 
Berücksichtigung des Gymnasiums und des Humanismus besprochen. Der Verfasser 
hofft, daß das Zeitalter der Naturwissenschaften gründlich und schnell aufräumt mit 
den im humanistischen Gymnasium ängstlich gehüteten »vermoderten Überresten 
veralteter Bildungsbestrebungen«. 

Frucht, Th., Was muß eine Mutter von der Pflege und Erziehung eines Säuglings 
wissen. Deutsche Elternzeitschrift. IV, 1 (Oktober 1912), S. 7—9; 2 (1. November), 
S. 25—27; 3 (1. Dezember), S. 45—47. 

Bespricht alle in Betracht kommenden Punkte, wobei sich der Autor in erster 
Linie an junge Mütter wendet. 

Der sächsische Volksschulgesetzentwurf im Lichte der Schulhygiene. Zeitschrift 
für Schulgesundheitspflege. 25, 11 (Oktober 1912), S. 768—770. 

Die schulhygienischen Forderungen haben eine »recht stiefmütterliche Be- 
handlung« erfabren, wie im einzelnen dargelegt wird. 

Das Schulhaus der Zukunft. Neue Bahnen. 24, 2 (November 1912), S. 93—94. 

Aus »Volksschulwartee. — Kurze Schilderung einer der Stadt Mannheim ge- 
schenkten Waldschule nebst damit verbundenen anderen Einrichtungen zum Wohle 
der Jugend. 


D. Literatur. 





Kraemer, N., Experimentelle Untersuchungen zur Erkenntnis des 
Lernprozesses. Leipzig, Quelle & Meyer, 1912, 97 8. 8°, 

Verfasser will den Lernprozeß bei der Einprägung sinnhaltigen Stoffes unter- 
suchen und Näheres erfahren über die eigentlichen »Stützpfeiler des Lernens«. Er 
nahm dazu kurze Texte philosophischen, erzählenden und beschreibenden Inhalts. 
Die Versuchspersonen, anfangs 5, später nur mehr 4, welche zuvor auf ihren Vor- 
stellungstypus geprüft worden waren, hatten die Texte durch wiederholte Lesung 
naclı der Ganz-Lern-Methode zu lernen bis zur wörtlichen Reproduktion. Einmal, 
gelegentlich zweimal wurde die Wiederholung durch eine Reproduktion als Probe 
unterbrochen, um festzustellen, welche Stellen sich zuerst und leicht einprägten, 
welche zuletzt und schwer. Das Lernen geschah mit 3 verschiedenen Einstellungen. 
Die ersten 3 Lernstücke waren zu lernen mit der Instruktion, auf Wort und Sinn 
in gleicher Weise zu achten (Wort- und Sinnmethode), die nächsten 3 mit der 
Weisung, nach Möglichkeit zuerst nur auf Sinn des Ganzen zu achten, bis der Ideen- 
gang vullständig erfaßt war, und erst dann die Aufmerksamkeit auf Wortlaut und 
Konstruktion auszudehnen (Sinnmethode). Bei den letzten 3 Lernstücken endlich 
sollte nur auf Worte geachtet werden (Wortmethode). Nach 24 Stunden wurde 
das Gelernte wiederholt und wiederum die Anzahl der zum Neulernen nötigen 
Wiederholungen festgestellt (Ersparniswert). Die Sinnmethode erwies sich allgemein 
als die sparsamste, die Wort- und Sinnmethode stand merklich hinter ihr zurück. 
Die Wortmethode endlich erwies sich, ausgenommen bei einer Versuchsperson mit 
starkem verbalen Gedächtnis, als bedeutend weniger vorteilhaft; erforderte sie doch 
manchmal das Doppelte, ja das Dreifache der bei der Sinn- und Wortmethode er- 
forderlichen Anzahl von Wiederholungen. Das ergibt, was allerdings den Schul- 
leuten nichts Neues ist, daß »die wichtigste Hilfe alles Lernens und Behaltens das 
volle Verständnis des Inhalts ist, der klar sich aufbauende Gedankengang, das 


232 D. Literatur. 








durchsichtige Verständnis des logischen Zusammenhanges«. Die in die Wieder- 
holungen eingeschobenen Prüfungen ergaben einen beachtenswerten Einblick in die 
Lernarbeit. Der Verfasser unterscheidet darnach 4 Stadien: 1. Die »Adaption und 
Orientierunge, durch die sich der Lernende zunächst mit dem Inhalte des Textes 
bekannt macht, was natürlich je nach der inhaltlichen und formellen Schwierigkeit 
des Textes ungleich lang dauert, 2. das Stadium des »passiv aufnehmenden« Lernens, 
wo der vorgelegte Text eingeprägt wird unter Zuhilfenahme visueller, akustischer, 
motorischer und anderer, dem Typus des Lernenden entsprechender sekundärer 
Stützen, 3. das Stadium des antizipierenden Lernens, wo die Versuchsperson sich 
selbst überhört, indem sie bei den festsitzenden Stellen den Blick vom Blatt ab- 
wendet, endlich 4. das letzte Stadiam, wo die immer noch unsicheren Stellen 
herausgegriffen und besonders befestigt werden. 

Außerdem ergab diese Zwischenprobe als sekundäre Stütze des Lernens d. h. 
als Moment, welches das Einprägen erleichtert und damit die Anzahl der nötigen 
Wiederhoiungen herabsetzt, leichtverständliche und übersichtliche Satzkonstruktion, 
während kürzere, abgerissene Sätzchen ebenso wie umständliche Satzperioden hinder- 
lich sind, Rhythmus, auffallende Wörter, Alliteration, Assonanz, Lokalisation ein- 
zelner Wörter und Sätze im ganzen Texte, endlich Anschaulichkeit des Lernstoffes. 
In einem Anhang faßt Verfasser nochmals diese Ergebnisse zusammen und stellt 
ihre Bedeutung mehr ins Licht. Mit allen diesen Beobachtungen bestätigt Kraemer, 
was von der experimentellen Psychologie gelegentlich bei ihren nach anderen Zielen 
gerichteten Untersuchungen gefunden worden ist und was auch den erfahrenen 
Schulleuten keineswegs ganz entgangen ist. Insofern ist die Arbeit immerhin 
dankenswert. 

Dagegen ist es fraglich, ob sie ihr anderes Ziel, »in das Wesen der Ein- 
prägunge tiefer einzudringen, erreicht hat. Verfasser nimmt keine Notiz davon, 
daß zwischen Einprägen (Lernen) und Reproduzieren (Dispositionen schaffen und 
Dispositionen wirksam werden lassen) scharf zu scheiden ist, daß die einen Um- 
stände das Schaffen der Dispositionen begünstigen, andere hingegen die Betätigung 
dieser. Er zeigt uns nur, daß Verständnis des Inhaltes, Rhythmus, Alliteration usw. 
das Einprägen unterstützen, aber nicht, wie diese Unterstützung geschieht, wo- 
durch diese Umstände das Einprägen oder richtiger das Reproduzieren unterstützen. 
Diese Verschiedenartigkeit der Wirkungsweise der einzelnen Faktoren, worauf ich 
in meinem »Gedächtnis« besonders hingewiesen habe, und das jeweilige Maß ihrer 
Beiträge zum Gesamtergebnis genauer zu erforschen, darauf hat Verfasser leider 
verzichtet. Er hätte es vielleicht nicht getan, wenn er von der bereits vorhandenen 
Literatur nicht einen gar so maßvollen Gebrauch gemacht hätte, So ist es zu be- 
dauern, daß Kraemer aus der großen Arbeit, welche in seiner Untersuchung steckt, 
nicht noch mehr Gewinn gezogen hat. 

München. M. Offner. 


Schoeneberger, H., Psychologie und Pädagogik des Gedächtnisses. 
Pädagog. Monographien herausgeg. von E. Meumann. Leipzig, Nemnich, 1912. 
146 S. Preis 3,20, geb. 4,70 M. 

Die Aufgabe, die sich Schoeneberger stellt, ist eine »kritische Gesamt- 
darstellung der experimentellen Erforschung der Gedächtnisfunktionen und ihrer 
pädagogischen Bedeutunge. Die Gedächtnisforschung begann mit Ebbinghaus. Da 
aber mit der Müller-Pilzeckerschen Treffermethode ein neuer Aufschwung der ge- 
samten Gedächtnisforschung eingetreten ist, so läßt Schoeneberger mit dieser eine 
neue Epoche beginnen, der gegenüber die vorhergehende Epoche ihm fast nur wie 


D. Literatur. 233 





eine Vorstufe erscheint. Er behandelt darum die in diese erste Periode fallenden 
Arbeiten von Ebbinghaus, Müller-Schumann, Bolton, Binet und Bourdon nach 
Methode und Ergebnis mehr chronologisch referierend. Sehr ausführlich werden 
erst die Müller-Pilzeckerschen Versuche dargestellt unter kritischen Bemerkungen 
und gelegentlichem Hinweis auf übereinstimmende oder widersprechende Ergebnisse 
anderer Forscher; nicht weniger eingehend werden dann, meist in chronologischer 
Reihenfolge, die Untersuchungen von Jost bis Weber (1909) besprochen. Darauf 
folgt ein Referat über die bisherigen Forschungen auf dem Gebiet der Gedächtnis- 
oder Vorstellungstypen und wenig glückliche historisch-kritische Betrachtungen über 
den Assoziationsbegriff sowie Darlegungen einiger Spezialfragen aus dem Gebiete 
der Assoziationslehre. Nach diesem leider nieht sehr übersichtlichen kritischen 
Referat rein theoretischer Arbeiten gibt Verfasser einen Überblick über diejenigen 
experimentellen psychologischen Untersuchungen, welche für den Unterricht wichtige 
Detailfragen zum Gegenstand haben, so die Entwicklung des Gedächtnisses, die 
Ökonomie und Technik des Lernens, die Übungsfähigkeit des Gedächtnisses. Eine 
Darlegung der sich aus dem Vorhergegangenen ergebenden allgemeinen Gesetze der 
Psychologie des Gedächtnisses und des Wortverstehens und einiger psychophysio- 
logischer Konsequenzen schließt die Arbeit. 

Wie dieser Überblick erraten läßt, ist Schoenebergers Buch sehr reichhaltig. 
Wenn es auch nicht Vollständigkeit anstrebt, so sind doch wenige wichtige experi- 
mentelle Arbeiten unbeachtet geblieben und in dem (leider wenig exakt gearbeiteten) 
Literaturverzeichnis übergangen. Aber wie ebenfalls die Inhaltsübersicht verraten 
läßt, geht dem Buch ein leicht überschaubarer Plan ab, der es ermöglicht für jede 
Frage die sie behandelnde Stelle zu finden. Wie ich mir einen derartigen Plan 
denke, habe ich in meinem »Gedächtnis« gezeigt. Um so mehr ist darum ein Sach- 
und Autorenregister von nöten; leider fehlt auch das. Auch daß die Hinweise auf 
die Autoren selten die Seitenzahlen angeben, ein Verfahren, das auch Meumann 
sehr liebt, empfindet der Leser nichts weniger als angenehm. Es macht dem, der 
zur weiteren Orientierung und Nachprüfung nachschlagen möchte, die Arbeit äußerst 
schwer und erhöht nicht das Vertrauen in die Genauigkeit und Verlässigkeit der 
Darstellung. Dazu kommt ein gewisser Mangel an Schärfe und Klarheit im Aus- 
druck. Diese Dinge sind dem arbeitsreichen Buch Schoenebergers sehr nachteilig 
und werden ihm besonders in die Kreise, für die er es bestimmt zu haben scheint, 
die Lehrerkreise, den Eingang sehr erschweren. 

München. M. Offner. 


Braunshausen, N., Die experimentelle Gedächtnisforschung. U. Teil. 
Programm - Abhandlung des Großherzoglichen Gymnasiums in Luxemburg. 1912. 
53 Seiten. 

Der erste im Jahre 1911 erschienene Teil dıeser Arbeit, der bereits in dieser 
Zeitschrift angezeigt worden ist, hat neben den Methoden der Gedächtnisforschung 
mehr die objektiven Bedingungen des Gedächtnisses, besser: des Einprägens oder 
der Dispositionsbildung (Intensität des Eindruckes, Qualität des Lernmaterials, Art 
der Darbietung, Qualität des Lernstoffes, Dauer des Eindrucks, Einfluß der Stelle 
in der Reihe, Rhythmus, Lernen im Ganzen und in Teilen, Wiederholung usw.) be- 
handelt. Der in diesem Jahre erschienene II. Teil nun beschäftigt sich mit den 
subjektiven Bedingungen, zunächst den Vorstellungstypen, dann den Methoden 
ihrer Feststellung mit manchem beachtenswerten kritischen Wink, den Unter- 
schieden des Geschlechtes und des Alters, der Stimmung, wozu Verfasser auch 
die Ermüdung mit psychischen Wirkungen des Hungers und der Witterung und 


234 D. Literatur. 





Temperatur rechnet, bespricht dann die Wirkung des Alkohols und der Narkotika, 
weiterhin die Gefühlsbetonung, das Interesse, die Aufmerksamkeit, den Willen, 
die psychischen Hemmungserscheinungen, die Übung und endlich das Vergessen. 
Ein Verzeichnis der benutzten Literatur schließt auch diese zweite Abhandlung. 
Entsprechend dem Zweck der Arbeit sind an die theoretischen Ausführungen* jeder- 
zeit die Konsequenzen für die Erziehungs- und Unterrichtspraxis geknüpft nicht 
ohne eine Reihe guter Beobachtungen und beachtenswerter kritischer Bemerkungen. 

Die Darstellung kommt mir in diesem 2. Teile leichter, klarer und einheitlicher 
vor, wie im ersten. Immerhin sind noch manche Berichte über die Forschungen 
anderer so kurz gefaßt, daß der Leser über das einzelne sich nicht klar werden 
kann. (S. Sa, 17b, 21a, 43b.) 

Nicht beistimmen kann ich dem Verfasser in seiner Bewertung der Lorentz- 
schen Versuche mit dem Weichardtschen Antikenotoxin (Ermüdungsgegengift). Er 
glaubt, daß mit diesem Medikament ein Mittel gefunden sei, die Folgen der Er- 
müdung aufzuheben (S. 21). Diese Hoffnung ist aus theoretischen Erwägungen 
aufzugeben. Der Ermüdungsprozeß hat 2 Seiten, eine positive, insofern die fort- 
schreitende Arbeit die bekannten, eine weitere Tätigkeit immer mehr hemmenden 
Ermüdungsgifte produziert, und eine negative, indem sie die vorhandenen, die 
Muskeln und die Nerven konstituierenden Stoffe aufzehrt. Nur die erste Seite be- 
kämpft das Weichardtsche Antikenotoxin, und das ist obendrein die weniger 
schlimme. Die schlimmere Seite dagegen. verdeckt es, indem es das Ermüdungs- 
gefühl, diesen heilsamen Warner und Mahner, zum Schweigen hringt. Ich habe 
schon 1910 in meiner Arbeit über »Die geistige Ermüdung« und nochmals in einem 
Artikel in der Zeitschrift »Die Volksschule« (J. Beltz, Langensalza) 1912 vor einer 
Überschätzung des Weichardtschen Mittels gewarnt und möchte das hier wieder 
tun; ich hoffe damit auch dem geistvollen Erfinder, Prof. Weichardt in Erlangen, 
einen Gefallen zu tun. Der Übereifer kann selbst der besten Sache schaden. — 
Im Kapitel über »Gefühlsbetonung« Seite 25 ff. fand ich zwischen Gefühlsbetonung 
des einzuprägenden Inhaltes und dem von anderen Dingen abhängigen allgemeinen 
Zustand der Stimmung nicht genügend geschieden. Die beiden Faktoren wirken, 
wie ich in meinem »Gedächtnis« gezeigt habe, sehr ungleich und daraus erklärt 
sich mancher scheinbare Widerspruch. Umgekehrt fand ich bei der Auffassung, 
welche der Verfasser von dem Interesse hat (»interessant ist etwas, was imstande 
ist, uns aus der normalen Gefühlslage in der einen oder andern Richtung heraus- 
zubringen«) die gesonderte Behandlung derselben neben Gefühlsbetonung nicht von 
nöten. Doch derlei Stoffeinteilungen sind nicht immer von rein theoretischen Ge- 
sichtspunkten aus zu beurteilen. Darum wollen wir mit dem Verfasser nicht weiter 
rechten, vielmehr dem Verfasser wünschen, daß es ihm gelingt, durch seine Ver- 
öffentlichung, in der mehr Mühe und Arbeit steckt, als mancher ferner stehende 
wohl ahnt, für Arbeitsmethode und Arbeitserfolg der modernen Psychologie Interesse 
und Verständnis zu wecken. 

München. M. Offner. 


Nögrädy, Dr. Ladislaus, Kind und Spiel. Budapest, Verlag der Ungarischen 
Gesellschaft für Kinderforschung, 1913. 
Das Buch zerfällt in zwei Teile: in Psychologie und Pädagogik des Spiels. 
Der Verfasser berücksichtigt durchweg den pädologischen Standpunkt gegenüber 
den bisherigen Methoden, die zumeist eine philosophische Betrachtungsweise in den 
Mittelpunkt gestellt haben. Diese haben ihre Konsequenzen vom Erwachsenen ab- 
geleitet. Verfasser hingegen sammelte subjektive, lediglich von Kindern stammende 


D. Literatur. 235 








Beiträge; diese reihte er den bekannten Theorien an, um dadurch seine Behauptungen 
zu erhärten. 6000 Daten erbrachte er vermittels der Ung. Gesellschaft für Kinder- 
forschung, die er dann ausbeutend verwertete. Auf mehreren Tabellen veranschau- 
licht er nun die gewonnenen Resultate, namentlich, welche Spiele die Kinder 
zwischen 3—21 Jahren wählten; es waren 13 Spielarten; die Mehrheit entschied 
sich für körperstärkende Spiele. Von größter Bedeutung war die Motivierung der 
Kinder, warum sie das genannte Spiel bevorzugten. Laut dieser Daten konnte Ver- 
fasser feststellen, daß nicht, wie man bislang glaubte, vorwiegend das Gefühl und 
die Vorstellung als Motivationen vorherrschen, vielmehr jene Triebkräfte, welche 
die physische Entfaltung fördern. Verfasser verwirft somit die ästhetische Theorie, 
aber auch diejenigen, deren Grundzug darin besteht, daß das Kind nur wegen der 
Erholung spielt, nicht ganz stimmt er der Einübung von Groß, auch nicht der 
Meinung Langes von der bewußten Selbsttäuschung bei, da die allein das Ziel nicht 
zu schaffen vermögen; gleichfalls lehnt er die von Spencer und Lazarus ab, die 
einen Überfluß bezw. Mangel der Kraft annehmen. Er sucht den Zweck des Spiels 
im Kinde selber, und so kommt er zum Ergebnis, daß das Spiel keine ästhetische, 
sondern eine biologische Erscheinung im Leben des Kindes ist. Er beschreibt 
die Spiele, entsprechend den Entwicklungsstufen und beweist, daß die Ursachen 
der Spiele die Entwicklungstriebe und das Ziel der Entfaltung, also eine biologische 
Tatsache, sind. Diese kommt durch die im Spiel mitwirkenden physischen, geistigen 
und Gefühls-’Triebmotive zustande. Der 1. Teil schließt mit der Kritik des Spiels. 
Der Verfasser beantwortet die Fragen, wie die guten Spiele, Bilderbücher und die 
Jugendlektüre vom Gesichtspunkte der Kindesseele beschaffen sein müssen. Er fügt 
noch etliche Bemerkungen über die Typen der spielenden Kinder an und leitet da- 
von manche Eigenschaften betreffs des Charakters und der Rasse ab, 

Der 2. Teil ist der Pädagogik des Spiels gewidmet. Nach einer geschichtlichen 
Übersicht legt Verfasser zunächst den Wert des Spiels in der Erziehung sowie im 
Unterricht klar und dar. Die Entfaltung und Zufriedenheit gebiert das Spiel; diese 
beiden seien zu erlangen, damit das Kind das Wissen nicht durch körperliche Leiden 
und seelische Pein sich anzueignen gezwungen sei. Verfasser will den üblichen 
Turnunterricht womöglich beschränken und statt dessen muskelstärkende und ge- 
sunde Spiele einführen, die gleichzeitig zur Einübung der Tätigkeitsenergie nutzbar 
gemacht werden können. Zwecks Ausgestaltung der kindlichen Intelligenz sind die 
Nachahmungsanlagen, die in verschiedentlichen Spielen sich äußern, anzuregen. 
Im Spiel manifestiert sich die heilsame Willensenergie, mithin das Geltendmachen 
der individuellen Fähigkeit, doch nicht nur in der geistigen, auch in der Gefühlswelt 
spielt das Spiel eine wichtige Rolle, zumal die Betätigung damit für das Kind das 
wirkliche Leben, die soziale Gesellschaft der Mitschüler, wie Freude, Leid, Ent- 
täuschung usw. bedeutet. Nun bringt Verfasser das Spiel mit der Kunsterziehung 
in Verbindung, man möge nämlich Kunstelemente in die Spiele mengen, richtiger 
man lasse das Kind nach einer kleinen Anweisung frei hantieren, ungezwungen 
arbeiten, denn nur so wird ihm die Ahnung fürs Schöne aufgehen, die Liebe für 
die Kunst sich befestigen, mithin die ästhetische Erziehung einsetzen. Verfasser 
zählt auch das Märchen zu den Spielen, da dessen Wirkung und Suggestion in dem 
Kinde solche Gefühle auslösen wie die Spiele. Auch der »Puppe« widmet er ein 
ganzes Kapitel, doch glaubt er, daß das Spielen damit bereits mannigfache seelische 
Beschäftigungen, also eine gewisse Reife voraussetzt. Daß darin eine Vorbereitung 
zur Mütterlichkeit ersichtlich wäre, bält er für einen Irrtum. Er wünscht, die 
Schule sollte diesem Spielzeug gleichfalls mehr Aufmerksamkeit schenken, freilich 


236 D. Literatur. 








nicht einseitig, es nicht etwa zur Leidenschaft der Kinder machen zu wollen. Kurz 
berührt Verfasser den nationalen Gesichtspunkt im Spiele, das, obgleich es das 
internationalste Mittel der Kindergemeinschaft ist, dennoch einen in der Kinder- 
psyche sich offenbarenden nationalen Charakter zeigt, welcher mit den nationalen 
Temperamenten und Trieben entstanden ist. Im Schlußworte betont er mit Nach- 
druck, daß Kind und Spiel derart miteinander verwachsen sind, daß sie weder 
Schule noch Haus voneinander trennen dürfen. Eine normale Erziehung müsse 
ihren Weg durch das ewige Reich der Spiele nehmen. 
Budapest. K. 6. Szidon. 


Sellmann, Dr. Adolf, Der Kinematograph als Volkserzieher? 470. Heft 
des pädagogischen Magazins. 2. Aufl. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne 
(Beyer & Mann). 64 S. Preis 80 Pf. 

Der Verfasser bietet in der 2. Auflage eine wesentliche Erweiterung seines 
Vortrages auf der Versammlung des Westdeutschen Sittlichkeitsvereins. In 4 Ab- 
schnitten über Verbreitung und Beliebtheit des K., über Schundfilms und ihre ver- 
derbliche Wirkung, über gute Films und ihre große Bedeutung und über Reform- 
vorschläge behandelt er die wichtigsten Fragen seines Themas nach dem neuesten 
Stand der Dinge. Ich stimme dem Verfasser in seinen Ansichten über die Gefahr 
der »Kinoseuches und in seinen beachtenswerten Besserungsvorschlagen gern bei, 
wenn er auch die Wichtigkeit des Kinematographen für die Schule zu überschätzen 
scheint. Die Schrift sei zur Orientierung über die vorliegende Frage warm empfohlen. 

Jena. O. Götze. 


Siefert, Ernst, Psychiatrische Untersuchungen über Fürsorgezöglinge. 
Halle a. S., Carl Marhold, 1912. 262 S. Preis 6 M. 

Die Arbeit ist hervorgegangen aus Untersuchungen der männlichen und weib- 
lichen, schulpflichtigen und schulentlassenen Fürsorgezöglinge der Provinz Sachsen. 
Rein statistisch betrachtet haben die Untersuchungen nur einen sehr relativen Wert. 
Manpigfache Lücken und Inkongruenzen lassen Schlüsse über die Gesamtheit der 
Fürsorgezöglinge nicht zu, wie auf S. 4 und 223 der Arbeit auch ausdrücklich be- 
tont ist. Die Art der Verarbeitung macht aber die ganze Untersuchung zu einer 
äußerst wertvollen und anregenden Arbeit, auch für den, der nicht allen Folgerungen 
des Autors bedingungslos zustimmen möchte. Und deshalb wäre es sehr zu 
wünschen, daß ihr Leserkreis nicht nur auf die Psychiater und vielleicht noch 
einige an der Fürsorgeerziehung direkt Interessierte beschränkt bliebe, zumal es 
sich nicht um eine psychiatrische Arbeit im eigentlichen Sinne handelt, sondern 
um »eine Zusammenfassung von aus fremdem Munde stammenden oder durch Er- 
zieher und Lehrer mit erhobenen Tatsachen unter ärztlichem Gesichtswinkel und in 
weitgehender Übereinstimmung mit den Anschauungen der Erzieher selbst«. Es 
"mag hier gleich betont sein, daß sich die Arbeit von jeder Polemik und auch von 
jeder Gehässigkeit gegen Erzieher und Fürsorger fernhält, daß sie im Gegenteil ihrer 
mühevollen Arbeit volles Verständnis und gerechte Anerkennung zuteil werden läßt. 

Um die Arbeit nicht mit komplizierter Fachgelehrsamkeit zu belasten, wurde 
auf feinere ‘ärztliche Diagnosen verzichtet. Der Gesundheitszustand wurde in vier 
Gruppen eingeteilt: gesunde, imbezille, debile und abnorme (verschiedene Zustände 
oder Erscheinungen psychischer oder nervöser Krankhaftigkeit, hei denen Schwach- 
sinn fehlt oder doch nicht stark ausgeprägt ist). Der Begriff der intellektuellen 
Normalität ist sehr weitgefaßt,. Ganz fallen gelassen ist erfreulicherweise der Be- 
griff der Minderwertigkeit, »denn er ist häßlich und irreführende, 





D. Literatur. 237 





Die Untersuchung erstreckt sich auf 1057 Zöglinge, von denen 12°/, schul- 
pflichtige, 19°/, schulentlassene Mädchen, 49°, schulpflichtige und 20°, schul- 
entlassene Knaben waren. 

Von den schulpflichtigen Mädchen waren viele unehelicher Geburt. Die 
Milieuverhältnisse sind abnorm schlecht bei 62—86°/,. Aber. trotzdem finden sich 
Fälle, die »die reine Milieuhypothese ad absurdum führen«e. Auch der Schwachsinn 
kann, wie der Verfasser nachweist, nicht als allgemeine Ursache kindilicher 
Kriminalität in Betracht kommen, sondern nur als Hilfsursache oder in Einzelfällen 
als unmittelbarer Erreger. Umgekehrt kann aber auch eine gute Umgebung nicht 
verhindern, daß bedenkliche Erscheinungen zum Vorschein kommen. Von über 
wiegender Bedeutung, wenn nicht gar allein von Bedeutung für Art und Form des 
kriminellen Bildes, ist die persönliche Konstitution und ihre innersten Entwicklungs- 
tendenzen. 

Von ganz außerordentlichem Interesse sind die Beobachtungen, daß in den 
letzten Jahren der Schulzeit ein unsozialer Anstieg zu finden ist, der ganz all- 
mählich wieder abflaut und nach einer Phase relativer Ruhe im 16. Lebensjahr 
wiederkehrt. Die betreffenden Aufnahme- und Unsozialitätskurven, die alle mitzu- 
teilen nicht Aufgabe eines Referates sein kann, finden sich übrigens auch in der 
preußischen amtlichen Statistik der Fürsorgeerziehung, sind also sicher nicht bloß 
durch zufällige Konstellationen im Untersuchungsmaterial bedingt. Aus der Be- 
trachtung der einzelnen Ergebnisse lassen sich hochwichtige Folgerungen für die 
Praxis der Fürsorgeerziehung ableiten: es würde verkehrt sein, die Grenze 
für die Aufnahme nach unten zu erweitern und dafür die Grenze 
nach oben zurückzustecken; man sollte im Gegenteil bei den Schulentlassenen 
das Aufnahmealter lieber noch eine Strecke nach vorwärts verlegen. Selbstredend 
will der Verfasser damit nicht etwa Bestrebungen das Wort reden, die darauf 
hinausgehen würden, nun eine frühzeitige Anstaltsaufnahme ganz abzulehnen. Im 
Gegenteil: eine solche ist vollauf berechtigt, damit die Unsozialität möglichst im 
Beginn bereits gefaßt wird. Besonders beachtenswert erscheint mir der (mir bisher 
noch nicht in der Literatur begegnete) Gedanke, daß durch ein derartiges Vorgehen 
sehr viel sekundär Angezüchtetes (Durchseuchung mit Syphilis!) vermieden werden 
könnte. 

Bei den Knaben ist die Kriminalität eine sehr weit verbreitete. Sehr auf- 
fällig ist ein vom Verfasser aufgedeckter Entwicklungskontrast zwischen 
beiden Geschlechtern, der für die Beurteilung dieser Entwicklung überhaupt 
vielleicht von allerhöchster Bedeutung werden kann: »Bei den Mädchen bildet sich 
erst in den Jahren nach der Konfirmation ein Kriminalitätszentrum, das alle 
zurückliegenden Lebensalter übertrifft, bei den Knaben ist dagegen mit Schulende 
die Aufrollung krimineller Geschehnisse schon im höchsten Maße eingeleitet, und 
das nachträglich noch Hinzukomniende verschwindet fast unter der Masse des schon 
früher Entstandenen und nur weiter sich Ausgestaltenden« (S. 141). Und: »Alle 
Tatsachen laufen also in der Bestätigung des Satzes zusammen, daß die unsozialen . 
Entwicklungsgänge bei Mädchen und Knaben ganz anderen zeitlichen Gesetzen 
folgen: bei den Mädchen das kriminelle Hauptzentrum in den Höhejahren der 
Pubertät, bei den Knaben noch innerhalb der Schulzeit und schon seinen ersten 
Beginn weiter in die Kindheit zurückschiebend; bei den Mädchen der Hauptwende- 
punkt ihres Daseins in den ersten Jahren des selbständigen Lebens, bei den Knaben 
nur allzu oft der Würfel ihres Schicksals schon in den Jahren der frühen Jugend 
oder der ersten Frühzeit der Pubertät gefallen« (S. 144). Aus dieser Geschlechts- 


238 D. Literatur. 





verschiebung des kriminellen Beginns in die frühere Jugendzeit der Knaben erhellt 
andrerseits auch wieder die erzieherische Unüberwindlichkeit zahlreicher Kinderfälle: 
es handelt sich ganz einfach um eine notwendige Folge. Die Auslegung der Zahlen 
. gewinnt an Bedeutung, wenn man bedenkt, daß diese zum Teil nur ein Spiegelbild 
der großen Ziffern der amtlichen Berichte und Statistiken darstellen. 

Aus diesen kurzen Darlegungen geht schon zur Genüge die Bedeutung des 
Werkes bervor, dessen eingehendes Studium nicht eindringlich genug empfohlen 
werden kann. 

Jena. Karl Wilker. 


Rühle, Otto, Das proletarische Kind. Eine Monographie. München, Albert 
Langen, 1912. XIV u. 262 S. Preis geh. 3 M., in Leinen geb. 4,50 M. 

Es ist wahr: man hat das proletarische Kind noch nie gesondert studiert. 
Nur Sombart, auf den sich Rühle wiederholt berufen kann, hat ihm einige Auf- 
merksamkeit geschenkt. Deshalb darf dieser Versuch einer monographischen Ge- 
samtdarstellung von Tatbeständen, Verhältnissen und Bedingungen, die sich auf die 
Entwicklung des proletarischen Kindes beziehen, von vornherein bei allen sozial 
interessierten Menschen auf lebhaftes Interesse rechnen. Und wenn das Buch 
seinen Zweck erfüllt, nur einigermaßen erfüllt, nämlich »Kunde zu geben, Augen 
zu öffnen und Gewissen zu schärfen«, Herzen zu entflammen und Hände zu Taten 
bereit zu machen, dann darf man seinem Verfasser ganz besonders dankbar sein, 
dann wird man auch gern manche bittere Ironie, manch scharfes Wort, ja auch 
eine gewisse Erbitterung gegen die bürgerliche Gesellschaft mit in Kauf nehmen. 
Möglich ist es ja ohnehin, daß ohne diesen herben Einschlag das Buch nicht soviel 
oder nur halb soviel wirken würde, wie es das jetzt eigentlich tun muß. Es wendet 
sich ja auch nicht so sehr an den Fachgelehrten als an denkende, an sozial emp- 
findende Menschen. Der Fachgelehrte wird durch die vorzügliche Zusammenstellung 
und Anordnung erfreut werden, aber er wird — schon weil ein Literaturverzeichnis 
wie überhaupt genaue Literaturangaben vollständig fehlen -— kaum auf das Buch 
zurückgreifen können. 

Eingeleitet wird die Arbeit durch eine knappe Skizze der »proletarischen 
Klasse« und der proletarischen Familie. In einzelnen Kapiteln werden dann be- 
Sprochen: Abstammung, Säuglingssterblichkeit, Unehelichkeit, Erwerbstätigkeit der 
Eltern und dadurch bedingte Aufsichtslosigkeit, »das körperliche und geistige Mankor, 
Wohltätigkeitseinrichtungen (Kindergärten, Kiuderhorte, Schulspeisungen usw.), 
Kinderarbeit, die Volksschulnot, Wege zum Laster, Fürsorgeerziehung (die Augabe 
der Zahl der geistig nicht normalen Fürsorgezöglinge mit 11,9%, auf S. 206 ist be- 
deutend zu tief gegriffen; die Psychiater geben diese Zahl mit etwa 70°/,, neuere 
amtliche Angaben mit 25°, an), Kriminalität, Selbstmorde. Eine große Fülle von 
Zahlen ist in dem Buch enthalten, Und doch wird der Kundige zugeben: es lassen 
sich noch viel, viel mehr gravierende Daten beibringen. An diesem Versuch einer 
Monographie des proletarischen Kindes, den wir aufs freudigste begrüßen, merkt 
man erst die Notwendigkeit einer solchen Monographie, die wir Kinderforscher noch 
vermissen und wohl auch noch für Jahre hinaus entbehren werden müssen. 

Jena. Karl Wilker. 





Verantwortliche Schriftleitung für Abhandlungen und Mitteilungen: Dir. J. Trüper, 
Sophienhöhe b. Jena; für Zeitschriftenschau und Literatur: Dr. Karl Wilker, Jena, 
Weißenburgstraße 27. 


Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 





Verlag von HERMANN Beyer & Sönxe (BEYER & Mass) in Langensalza. 


Das Seelenleben unserer Kinder 


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Kinderpsychologische Betrachtungen für Eltern, Lehrer 
und Kinderfreunde. 
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Prof. Dr. Adolf Sellmann. 


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Grundlagen für das Verständnis 


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Für die Zwecke der Heilpädagogik, Jugendgerichte und Fürsorgeerziehung 


von 
Dr. med. Hermann, 
Anstaltsarzt in Merzig a. d. Saar. 
Mit 5 Tafeln. 


Zweite Auflage. 
XII und 180 Seiten. Preis 3 M., eleg. geb. 4 M. 


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erbung in ihrer Bedeutung für die Schule. 


(Nach dem Manuskript eines am 4. August 1911 in der Internationalen 
Hygiene- Ausstellung zu Dresden gehaltenen Lichtbilder- Vortrages.) 











Von 
Dr. Karl Wilker 
in Jena. 
Mit 3 Tabellen und 2 Figuren im Text, sowie mit 22 Tafeln. 
IV und 33 Seiten. Preis 1 M. 20 Pf. 








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Vollständig in 20 Bänden. 
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Herbartischen pädagogischen Universitätsseminars zu Königsberg, sowie 


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enthaltend Briefe von und an J. F. Herbart, 
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Neu bearbeitet und mit erläuternden Anmerkungen versehen 
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Herausgegeben von der 


Deutsehen Zentrale für Jugendfürsorge. 


Schriftleitung: Dr. jur. Fr. Duensing- Berlin. 


‚Herausgeber und Mitarbeiter des »Handbuchs für Jugendpflege« bieten 
die sichere Gewähr, daß wir es hier mit einer Erscheinung zu tun haben, die 
einer besonderen Anpreisung nicht bedarf. 

Das »Handbuch für Jugendpflege« ist auf 12 bis 15 Lieferungen zu g 
4 Bogen, Lexikonformat, berechnet. Der Preis der Lieferung beträgt 80 Pf. 
Nach Abschluß des Werkes tritt eine Erhöhung des Preises ein. 














Zu beziehen durch jede Buchhandlung. 








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A. Abhandlungen. 


1. Psychische Fehlleistungen. 
Von 
R. Egenberger, München. 
(Fortsetzung.) 
Agrammatismus. 

Agrammatismus ist Störung der geordneten grammatisch-logischen 
Form des sprachlichen Gedankenausdruckes; zwischen den einzelnen 
Gliedern der Rede herrscht Zusammenhangslosigkeit; die Beziehungen 
und Verhältnisse, der Fall, das Maß, der Grad, die Zeit sind durch 
die Bezeichnungen der Flexion und Konjugation sprachlich nicht oder 
ganz ungenügend ausgedrückt. Agrammatismus ist Anarchie des Satz- 
baues; die Über- und Unterordnung, die Reihenfolge ist nicht ein- 
gehalten. 

Zur sprachlichen Bezeichnung für die einzelne Vorstellung be- 
nötigen wir das einzelne Wort; zur sprachlichen Bezeichnung des 
Gedankens ist der Satz erforderlich. 

Störungen, welche das einzelne Wort betreffen, geben möglicher- 
weise Kunde, daß Vorstellungen fehlen oder ungenügend deutlich sind. 

Störungen, welche die Konstruktion des Satzes betreffen, sind in 
vielen Fällen ein unzweifelhaftes Zeugnis dafür, daß geistig-logische 
Unzulänglichkeit besteht. Nicht immer, aber sehr häufig treffen wir 
Agrammatismus bei Schwachsinnigen. Natürlich, denn der Schwach- 
sinn zeigt sich namentlich im Gebiete der Gedankenvorgänge. 

Wenn ein Schwachbegabter Wörter, welche örtliche, zeitliche 
Verhältnisse angeben oder welche Namen für spezielle Dinge sind, 
sich nicht aneignet, dann ist das ein Zeichen dafür, daß der Mensch 

Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 16 


242 A. Abhandlungen. 





nicht mehr Sprache sich aneignet, als geistiges Bedürfnis und Ver- 
ständnis vorhanden ist. Es gibt Schwachsinnige, die sämtliche Farben 
mit Namen treffend bezeichnen können, während sie etwa die örtlichen 
und zeitlichen Verhältnisse nicht bezeichnen können. Es liegt nahe, 
zu Sagen, daß wir Sprache nur so weit beherrschen, als unserer 
Psyche sachlich das geläufig und hinlänglich bekannt ist, wofür wir 
die sprachlichen Symbole besitzen. Darum ist Schwachsinn eine 
Geistesstörung, nicht etwa nur eine Sprachstörung. Man wird gut 
tun, zu scheiden in Sachverständnis und Sprachverständnis. Unter 
Schwachsinnigen gibt es viele, welchen die Sprache keine Schwierig- 
keit verursachen würde, welche redegewandt wären, wenn nicht die 
Störung der Begriffs- und Gedankenprägung, also das fehlende Sach- 
verständnis eine richtige geordnete Sprache vereiteln würde Wer 
die Unterschiede der Zeit geistig nicht erfaßt hat, der bringt in seiner 
Sprache das Zeitwort in einer falschen Zeitform. Wer nur die all- 
gemeinsten und gröbsten Beziehungen und Verhältnisse der Dinge 
erfaßt, der läßt in seiner Sprache die feineren Unterscheidungen, wie 
sie durch Deklination, Präpositionen, durch die vielen Formwörter zum 
Ausdruck gebracht werden, weg. 

Es ist also ganz selbstverständlich, daß kleinere Kinder und 
Schwachsinnige stärkeren Grades, Agrammatismus zeigen. Hier ist 
Agrammatismus ein Zeichen unvollständiger Gedanken- 
prägung. 

Es gibt aber auch andere Fälle von Agrammatismus. Es ist 
schließlich nicht der Mangel an Gedankenprägung die Ursache von 
Agrammatismus, sondern es bestehen Störungen im akustischen oder 
sprach- und sprechmotorischen Gebiete. Bei gebrechlichem Gehör- 
sinn werden Laute, Wörter, Sätze ungenügend dem Lautcharakter 
nach aufgefaßt. Das sind die eigentlichen Stammler, deren Intelligenz 
gar nicht allzu minderwertig zu sein braucht. 

Diese Gruppe der Agrammatiker und Stammler sind durch Ein- 
sprechen und Artikulation, durch Erteilung von Lese- und Schreib- 
unterricht vorwärts zu bringen. Man wendet sich namentlich ans 
Ohr und an die Sprechwerkzeuge. 

Anders liegt die Sache bei jenen Agrammatikern, bei welchen 
Ohr und Sprechapparat intakt sind, der Agrammatismus aber eine 
Folge der Störung der sprachlichen Gedankenprägung ist. Von dieser 
Störung sind in leichtem Maße viele Menschen betroffen, auch am 
Erwachsenen beobachten wir gelegentlich, daß sie nicht fähig sind, 
den Inhalt der Gedanken bis in die Einzelheiten scharf und restlos 
durch treffende sprachliche Ausdrücke und grammatikalisch richtige 


Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 243 





Wort- und Satzformen zu übersetzen. Hier liegt das Hauptgewicht 
nicht im richtigen grammatikalischen Ausdruck, sondern in der sprach- 
lichen Gedankenprägung, wofür man den Namen Akataphasie setzen 
kann. Das Enzyklopädische Handbuch für Heilpädagogik setzt Akat- 
aphasie gleich dem Agrammatismus; in Wirklichkeit aber sollte eine 
bedeutende Unterscheidung zwischen beiden vorgenommen werden. 
Vielleicht wäre es gut, die Störung der sprachlichen Gedankenprägung 
ganz vom Agrammatismus zu trennen; denn der eigentliche Agramma- 
tismus bezieht sich auf die Form der Sprache und sprachlichen Gliede- 
rung, während es sich oft um die Verschiebung zwischen dem Inhalt 
und dem Worte handelt, wobei die grammatische Form ganz richtig 
sein kann. 
Beispiele: 
Lehrer: Warum gehört der Apfel nicht dem W.? 
Höp.: Weils der nimmt. 
(will sagen: Dem W. gehört der Apfel nicht, aber er nimmt 
ihn doch.) 
Ber.: Ich darf vier essen, bis ich Hunger hab. 
(will sagen: Ich darf vier Nudeln essen, so daß ich keinen 
Hunger mehr hab.) 
Ber.: Wenn ich droben bin, bleib ich bis lang droben. 
(will sagen: Wenn ich droben bin, bleibe ich lange Zeit dort.) 
Ber.: Ich habe ein Strumpfbandl; Maxl hat ein Strumpfband; Vater 
hat kein Strumpfbandl; Mutter hat ein Strumpfbandl; Anni hat 
ein Strumpfbandl. (Ist nicht imstande, sich knapper zu fassen.) 
Blo.: W. hat den Apfel nehmen sollen (wollen). 
Mein Bruder geht erst um acht Uhr an. 
(will sagen: Der Unterricht meines Bruders geht jetzt um 
8 Uhr an.) 
Kar.: Wenn ein Christbaum da ist, ist keine Schul. (An Weihnachten ...) 
Die Schere ist vom Haar runter schneiden. (Das ist eine Schere, 
wie man sie zum Haarschneiden braucht.) 
Gan.: Das Heft ist in der zwischen. (Das Heft ist zwischen den Büchern.) 
Rich.: Der G. ist in das zwischen. (Der G. ist zwischen ...) — 
Lehrer: Wo wohnst Du? 
Girst: Droben. 
Lehrer: In welcher Straße? 
Girst: Vierter Stock. 
Lehrer: Die Straße? 
Girst: erste Straße. 
(Das ist vollständiges Vorbeireden.) 
16* 


244 A. Abhandlungen. 





Zeh.: Herr Lehrer, Zettel i vergessen hab. 
Lehrer: Bring ihn morgen! 
Zeh.: Ich hab ihn ja da. — 
Zeh.: Nebel ist lauter Winter. 
(Sprache und Denken sind hier nicht im Einklang.) 
(Paralogie.) 

Bei der Störung der sprachlichen Prägung und Formu- 
lierung des Gedankens sehen wir, daß statt des eigentlichen Ge- 
dankens mitunter gerade das Gegenteil ausgedrückt wird. Durch die 
Unterschlagung der bejahenden oder verneinenden Ausdrücke, durch 
die Wahl ähnlicher Bezeichnungen, durch Auslassungen, durch Ein- 
fügung von fremden Wörtern entsteht Unsinn, Widerspruch, Zu- 
sammenhangslosigkeit, Vorbeireden, Verschiebung, Entgleisung, Irrtum, 
Agrammatismus, Verrückung. 


een X- 30 


Vorstellung, Begriff 
m —— 
Gedanke 





Geistige Gesundheit und Tüchtigkeit haben wir, wenn der 
treffendste Ausdruck für eine Vorstellung, einen Begriff und Gedanken 
sofort gefunden wird, so daß der Gedanke genau bezeichnet ist. Bei 
einem wenig ausgebauten und festgefügten Geiste wird der treffendste 
Ausdruck deswegen seltener gefunden, weil hier nebensächlichere 
Assoziationen in dem Maße wirksam werden, daß die Hauptassoziation 
nicht zustande kommt, weil eine Ablenkung in das Gebiet des Ähn- 
lichen und irgendwie Verwandten stattfand. Auf diese Weise kommt 
es vor, daß ein Satz anders endet, als er begonnen hat; vom Hundertsten 
kommt man ins Tausendste; plötzlich befindet man sich in einem 
anderen Fahrwasser, auf einer anderen Bahn. Das alles hat die Be- 
deutung, daß die leitende Vorstellung, der leitende Gedanke, unter 
den sich das folgende ordnen und sammeln sollte, verloren ging. Der 
Überblick auf größere sprachliche Darstellungen fehlt; zwischen An- 
fang und Ende besteht keine einheitliche Verbindung, der Faden ist 


Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 245 
mitten auf dem Wege abgerissen; es fehlt die willkürliche Aufmerk- 
samkeit und die logisch richtige Abwicklung. Während der geistig 
kräftige Mensch seine Vorstellungen und Gedanken festhalten, wach- 
rufen, beeinflussen kann und über viele Vorstellungen und Gedanken 
eine Oberleitung und Direktion setzt, begnügt sich der geistig ge- 
schwächte Mensch, sich von den nächst bereitliegenden, oft zufälligen, 
ähnlichen und verwandten Assoziationen bewegen zu lassen. Das 
ist ein größerer Grad von Abhängigkeit, ein wesentlich vereinfachter 
Betrieb, der mehr unwillkürlich vor sich geht, keine höheren Ziele 
verfolgt. Den Schwachsinnigen wirft jede Ähnlichkeit, jede neben- 
sächliche Assoziation aus dem Satte. Daher diese Ablenkbarkeit, 
dieser ewige Wechsel, das Schwanken, das Verlieren des Leitgedankens, 
die Mischung und Vermengung verschiedener Vorstellungsreihen, die 
Verdrängung wichtiger Bestandteile. 

Daß Schwachsinn ein Defekt des Vorstellungs- und Gedanken- 
lebens ist, beweist der Umstand, daß wir äußerst redselige Schwach- 
sinnige haben, bei denen die Sprache sich zeitweilig ganz von der 
Gedankenprägung zu entfernen scheint und sich gewissermaßen ver- 
selbständigt. Die Sprachorgane sind also hier zu selbständig, aber 
nicht im guten Sinne, sondern im Sinne einer Lockerung zwischen 
Gedankenprägung und Sprache. Normalerweise sollen wir nur über 
so viel Sprache verfügen, als wir Gedanken und Vorstellungen erarbeitet 
haben und wieder verarbeiten, erneuern und neu bilden. Daß aber 
jemand spricht, ohne über einen gedanklichen Hintergrund zu ver- 
fügen, ist ein Defekt. 

Eine Ausnahme darf man vielleicht gelten lassen und die betrifft 
die sinnlosen Kinderverse. Beim Kinde bekommen in der Zeit der 
Sprachaneignung die Sprechvorstellungen eine bestimmte Selbständigkeit. 
Kinderreime sind oft nur reines Lautgeklingel, welch letzteres mit Ge- 
dankenprägung nichts zu schaffen hat. Als Defekt läßt sich weder 
dieses Lautgeklingel, noch das Schnurren und Lallen von sinnlosen 
Lautverbindungen, welches kleine Kinder naturnotwendig üben, be- 
zeichnen. Zum Defekte artet dieses Verhalten erst dann aus, wenn 
das Kind mit zunehmenden Alter für aufgeschnappte Wörter durch 
Beobachten oder Fragen sich nicht zum richtigen Sinne verhilft. Es 
ist also möglich, daß das Kind sich Sprache aneignet, ohne den ent- 
sprechenden Sinn zu erfassen, oder daß sich Sprachformen erhalten, 
deren Sinn verloren ging. Die Erziehung hat Sorge zu tragen, daß 
die Sprache im wesentlichen nichts anderes ist, als ein Symbol, eine 
Übersetzung der Gedanken. Vorstellungen werden in Worte, Gedanken 
in Satzgebilde übersetzt. 





246 A. Abhandlungen. 





Der Schwachsinnige gleicht einem Armen. Der geistige Arme 
hat gewissermaßen auch nur Hose und Hemd, wenns höher geht, noch 
eine Joppe dazu. Jede reichere Ausschmückung und Zierde fehlt. Es 
reicht also manchmal die geistige Kraft nicht aus, einen einfachen 
Satz zu bilden; d. h. er folgt nicht dem Gesetze, das in der Grammatik 
niedergelegt ist, sondern er folgt dem eigenen Gesetze, und ist auch 
hierin sehr wankelmütig. 

So hat er seine eigene Wortfolge; die Aussageform bringt er 
nach dem Objekte (I Blumen trag); das Formwort steht nicht vor dem 
Begiffswort (Ich Semmel schenk dir); daran, daß auch das Objekt, 
das Prädikativ, eine adverbiale Bestimmung an die Spitze eines Satzes 
treten kann, weiß der Schwachbegabte nichts; die Rangordnung der 
Objekte hält er nicht ein; die Zeitbestimmung setzt er hinter die Orts- 
bestimmung (Ich in d’Stadt heut geh). 

(tanz schlimm steht es mit der Kongruenz (in Person und Zahl) 
zwischen Verbum und Subjekt. 

Bald ist das Subjekt, bald das Verbum überhaupt nicht gesprochen 
worden; bald sind die Flexionszeichen außer acht geblieben. 

Was der Schwachsinnige an Sprache hat, ist sehr häufig nur ein 
gebrochenes Deutsch, dem die feineren sprachlichen Unterscheidungen 
fehlen; Worte sind lediglich aneinander gereiht, aber nicht formgerecht 
verbunden und aufeinander bezogen. 

Äußerste Vereinfachung des sprachlichen Ausdruckes. 

Als äußerste Vereinfachung des sprachlichen Ausdruckes müssen 
wir das Satzwort ansehen. Darunter versteht man ein gesprochenes 
Wort, welches aber für einen Satz gelten soll. Z. B. erzählt der 
Schüler Höre: »Maus. Vater Häusl gemacht. Niedergeschlag’n. Tot.« 

Das soll heißen: In unserer Wohnung war eine Maus. Mein 
Vater hat ein Häuslein (Mausfalle) gemacht. Die Falle ist nachts 
zugefallen. Die Maus war tot. 

Nicht mehr als Subjekt und Prädikat: 

Fuß Schuh (= Am Fuß sind Schuhe). Vogel dablieben (Der 
V. ist dageblieben). M. Fenster (M. steht am Fenster). Sens’ schleifer 
(Die Männer wetzen die Sense). Gras säen (Auf der Spielwiese 
säen die Männer Gras). 

Die Hauptredeteile sind verknüpft: 

Haube ist Boden. — Ist Schüssel ist Bank (Die Schüssel ist auf 

der Bank). Die Flasche ist Glas (aus). 
Irgend ein Verhältnis ist ausgedrückt: 

Messer in Tasche. — Seife unter Waschtisch. — Der Holler hat 

ein Wasser (Der Flieder ist im Wasser). — Ist in Luft geflogen. 


Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 247 


o 





Mehrere Satzteile vorhanden, aber Vollständigkeit ist noch 
nicht da: 

Hat schwarzen gehabt (Bart). Die Mutter muß putzen, daß sehen 
kann (..., daß man die Stube sehen lassen kann). Ich zuerst da 
(Ich war zuerst da) Sie tun Tasche heraus (die. Damit nicht 
frieren kann (er) Mei Muater Christbam kafn (tut einen). Die 
Schüssel ist Bank (unter der). Frau Hausmeister, Hausherr nicht 
Gaude haben (Die Frau H. und der H. erlauben nicht, daß wir 
eine Gaude [Lärm] haben). Fräulein und Lehrer grüß Gott sagen 
(Wir müssen zum Fräulein und Lehrer ....). Das ist die Haube 
auf Kopf. verachte (verachtete), antworte (antwortete). Der Holz- 
handler Holz. 

Der Satz ist richtig gebaut, aber der Artikel, die Flexion 
usw. sind fehlerhaft: 

Rich.: Sie haben die Hände auf die Rücke. — Der Schwamm 
ist in dem Boden. — Der Hut ist in dem Kopf. Der Hut ist auf 
den Hand. Sie sind an einer Brücke gegangen (über eine). Die 
Haube hat der Arm (== Die Haube hab ich in der Hand). In 
Schüssel ist auf die Bank (Die... der). Die Seife ist auf der Tisch. 
Wenn die Sonne scheint, ist die Blumen lieber. Die sind in einen 
Wasser hineingefallen. Mei Muater is krank; heit is sie aufg’steht. 
Die Kugel und der Ball fällt auf die Boden. Der Jäger schreite. 
Einer fliegen fort. In die Flasche drin ist ein Wasser. Da ist ein 
Blumer. Den ist Vater und Mutter gestorben. Ich hole der Holler 
frisch Wasser. Der Mann hat es gedurst. Zwei Briefmarke kost 
6 Pf. Auf den Tisch steht zwei Glas. Das sind grüne Blate 
(Blätter). Die hat ein Wasser ausgeschütten. 


Wortfolge: ; 
Sie haben die Tasche die Hände. Man hat das Fenster da hin- 
über müssen machen. — I Nudl heut krieg. Wir wissen, wie lang 


ist das Zimmer. Stuhl Boden hinstellen. Ziegenbock über den Bach 
wollte hinüber. Mei Muater Christbaum kaft. 
Entgleisungen, Verschiebungen, Vermengungen: 
Der Mann säht das Gras ab (mäht). Da waren jungen Vöglein 
gehabt (drin). Der Rettich ist habe zwei’ große Rettich. 
Wiederholungen: 
In der Flasche drin sind die Steine drin. (Forts. folgt.) 


248 A. Abhandlungen. 





2. Die experimentelle Ermüdungsforschung. 
Von 
Marx Lobsien, Kiel. 


(Fortsetzung.) 


B. Die physiologischen Maßmethoden 


teilten wir in zwei Gruppen ein; die zweite, die es mit der Be- 
stimmung der Körpergröße als Maß für Ermüdungswirkungen zu 
tun hat, möge zuerst kurz dargestellt werden. 


Körpermessung. 

Der Mannheimer Stadtschularzt Stephani hat sie meines Wissens 
zuerst und bis heute allein angewendet. Nach ihm ist die Abnahme 
der Körpergröße im Laufe des Tages um so bedeutender, je stärker die 
Ermüdung der Muskulatur ist; ja in einzelnen Fällen differiert die 
Körpergröße am Nachmittag gegenüber der Länge am Vormittag 5 cm, 
also um ein ganzes Jahreswachstum. Um die subtileren Beziehungen 
zwischen Muskelermüdung und Körpergröße aufzustellen, bedarf es 
selbstverständlich sehr sorgfältiger Meßapparate; keineswegs genügen 
so rohe Verfahrungsweisen, wie sie für Messungen der Körpergröße 
von starken Schülermassen vielerorts Verwendung gefunden haben. 
Stephani hat einen sinnreichen Meßapparat konstruiert. Der Apparat 
stellt einen Stuhl dar, auf welchem die für die natürliche Sitzstellung 
in Betracht kommenden Teilmaße des lebenden menschlichen Körpers 
ermittelt werden sollen. Stephani erstrebte insonderheit, die Ver- 
schiedenheiten der Körperhaltung und der Muskelspannung soweit 
überhaupt möglich auszuschalten. Deshalb mußte die Ermittelung der 
Gesamtkörperlänge zurücktreten gegenüber der Bestrebung, gute Teil- 
maße zu erhalten. Offenbar ist die Teilung des Körpers in der Sitzstellung 
die natürlichste und ungezwungenste. Als Grenzpunkte für die einzelnen 
Teilmaße suchte Stephani feste, leicht und sicher findbare Knochen- 
punkte auf, deren Abstände selbst bei Zwischenlagerung von Gelenken 
in möglichst starre Verbindung gestellt werden können. (Eine bild- 
liche Darstellung und genaue Beschreibung seines Meßapparats gibt 
Stephani im 5. Jahrg. der Zeitschrift »Das Schulzimmer«.) — 

Die physiologischen Methoden, die als engere bezeichnet werden 
dürfen, sind die Messungen mittels des Sphygmometers, des 
Pneumometers, des elektrischen Stroms, der Vibration und 
des sogenannten Quinquaudschen Zeichens. 


Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 249: 





a) Der Sphygmograph oder Pulsschreiber 

ist ein Apparat, der zur Aufzeichnung des Pulses dient. Die Puls- 
messung oder Pulsschreibung bezieht sich entweder auf den Druck- 
oder den Volumpuls. Der letztere wird mittels des Plethysmographen 
gemessen, der die Menge des zu- oder abströmenden Blutes nach einem 
Körperteil, etwa dem Unterarm zu messen gestattet. — Der Sphygmo- 
graph dient dem Messen des Pulsdrucks. Er besteht zur Hauptsache 
aus zwei Mareyschen Trommeln, die durch einen Gummischlauch ver- 
bunden sind. Die Trommel ist eine flache, hohle Metallkapsel, die 
auf der einen Seite mit einer dünnen Gummimembran überzogen ist. 
Auf der Membran ist eine sehr dünne Metallblechscheibe mit Siegel- 
lack befestigt, die in der Mitte ein leichtes hölzernes Knöpfchen trägt, 
die sogenannte Pelotte. Die andere Trommel trägt den Schreibapparat. 
Auf der Membran ist eine leichte Metallnadel befestigt, die durch 
einen weiteren Hebel, etwa einen Strohhalm, verlängert werden kann. 
Man denke sich nun die Pelotte leicht auf den Puls aufgelegt, so daß 
sie von seinen Schlägen bewegt wird. Mit der Pelotte gerät die 
Membran in Schwingungen, diese überträgt ihre Bewegungen auf die 
in den Gummischlauch eingeschlossene Luft und durch deren Ver- 
mittelung auf die Membran und den Schreibhebel der zweiten Trommel. 
Der Hebel schreibt seine Bewegungen auf ein Kymographion, das mit- 
berußtem Papier überzogen ist. Durch den verlängerten Hebel werden 
die Druckbewegungen des Pulses bis etwa auf Zentimeterhöhe ver- 
größert. Mit einer Millimetertafel läßt sich eine genaue Messung vor- 
nehmen. 

Arbeit und Erholung wirken sehr deutlich und charakteristisch 
auf die Blutbewegungen in den Arterien ein, man gewinnt durch die- 
Messung genaue Angaben über den Verlauf und die Größe der Er- 
müdung. 


b) Pneumograph. 


Die Messung des Atmens mittels des Atemschreibers. oder Pneumo- 
graphen gestaltet sich wesentlich einfacher als die Anwendung der 
vorhin beschriebenen Apparate. Der Atemschreiber besteht aus 
einem flachen Gummiball, der in einen Schlauch ausmündet; dieser 
führt zu einem Schreiber, ähnlich dem beim Sphygmographen. Der 
Gummiball wird mittels eines Gurts auf dem Brustkasten oder auf 
dem Leibe befestigt. Beim Einatmen drücken die betreffenden 
Körperteile auf den Gummiball. Der Druck wird durch den Schlauch 
auf den Schreiber fortgeleitet und auf der Kymographiontrommel auf- 
gezeichnet. Für die Regulierung sorgt ein sehr wichtiges Ventil, das- 


250 A. Abhandlungen. 





am Gummischlauch befestigt ist und den Namen Nullventil führt. 
Beim Aufsetzen des Balles wird ein starker Druck auf denselben aus- 
geübt, so daß der Schreiber fortdauernd nach oben zeig. Um das 
zu verhindern, muß das Nullventil während des Aufsetzens geöffnet 
und hernach geschlossen werden. Auch während der Messung kann 
infolge gewisser Bewegungen eine neue Regulierung mittels des Null- 
ventils notwendig werden. 

Die Atmung wird von der Ermüdung deutlich beeinflußt, nur 
ist Vorsicht in der Deutung der Versuche geboten, weil die Atmung 
zu einem gewissen Grade dem Willen und suggestiven Beeinflussungen 
unterworfen ist. 

Die folgenden drei Arten physiologischer Methoden (zwei sind 
zumeist nur an einem Prüfling angestellt worden) müssen der Nach- 
erprobung auf breiter Grundlage unterworfen werden. 


c) Elektrischer Strom. 

Die Benutzung des elektrischen Stroms zur Ermüdungs- 
messung empfiehlt Pimmer in der Vierteljahrsschrift für körperliche 
Erziehung. Er will mit Hilfe des elektrischen Stroms eine » Auslese 
der Nervenschwachen, Feigen und Belasteten« erzielen. Eine zufällige 
Beobachtung führte ihn auf die Methode. Bei Versuchen mit der 
Influenzmaschine machte er die Wahrnehmung, daß einzelne Schüler 
es ablehnten, sich in die Kette einzureihen, auf welche der Funke 
des Konduktors überspringen sollte (die Spannung entsprach für den 
Anfang einer Schlagweite von !/, cm), eine Scheu, die für gesunde 
Naturen mit normalen Nerven eine fremde Erscheinung ist. Pimmer 
notierte die Ängstlichen und fand, daß es fast ausschließlich solche 
waren, denen er körperlich auch sonst nicht viel zumutete. »Ihre 
äußeren Eigenschaften waren: Zarter Körper, Blässe, schlechte Zähne, 
geringer Glanz der Augen, seidenweiches Haar; geistige Eigenschaften: 
Großer Lerneifer, geistige Frühreife, übertriebenes Streben nach Er- 
folg, zum Teil auch fahriges Wesen mit rasch wechselnden und schnell 
über Bord geworfenen Grundsätzen.«e Trotzdem Pimmer auf !/, cm 
Funkenlänge zurückging, waren die Schwachen zum Zugreifen nicht 
zu bewegen. Bei einer Steigerung bis auf 4 cm wagten nur Schüler 
mit ausgesprochen gesundem Habitus sich heran. Geistig stellte sich 
diese Auslese dar als normale Arbeiter von mittlerer Begabung. — 
Pimmer verglich seine Liste, die sich auf etwa 100 Einzelbeobach- 
tungen erstreckte, mit den Leistungen der Schüler in den Turnstunden 
und fand durchgehende Bestätigung: Die Prüflinge, die sich vor 
solchen Übungen scheuten, die ein größeres Maß von Kraft und Ent- 


Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 251 





schlossenheit forderten, waren dieselben, die vor den schwachen Funken 
sich scheuten. Die Übereinstimmung scheint Pimmer physiologisch 
wohl begründet: Mut ist eine direkt Resultierende der Körper- 
konstitution bezw. der Blutbeschaffenheit und des Nervensystems. Der 
Durchtritt der Elektrizität durch einen Körper ist von dessen Wider- 
stand abhängig, der bei verschiedenen Individuen stark variiert und 
verkehrt proportional zur Masse ist. »Es scheint zum mindesten durch 
diese Versuche der Nachweis erbracht, daß durch den elektrischen 
Strom eine Auslese aller Nervenschwachen, Feigen und Belasteten 
vorgenommen werden kann.« Ob die Methode bei weiterem Ausbau 
und weiterer Erprobung Verwendung finden kann, solche Ermüdungs- 
ursachen nachzuweisen, oder auf sie hinzulenken, die in erster Linie 
in schwacher Willensanspannungsfähigkeit wurzeln, muß vor der Hand 
unerörtert bleiben. 


d) Vibrationsempfindung. 


Im Neurologischen Zentralblatt veröffentlicht Neutra Unter- 
suchungen über Ermüdungsphänomene auf dem Gebiete der Vibrations- 
empfindung. Es möge zunächst kurz das Wesen der Vibrations- 
empfindung oder des Vibrationsgefühls nach Goldscheider erörtert 
werden. Die Empfindung hat keinen spezifischen Charakter, ist nicht 
auf bestimmte Nerven, weder auf die der Haut, noch der tieferen 
Gewebe, noch der Knochen beschränkt, sondern sowohl den Druck- 
nerven der Haut als auch den tieferen sensibeln Nerven eigen. Am 
stärksten findet sie sich am Knochen als Folge seiner physikalischen 
Beschaffenheit. 

Neutra fand an den durch die Stimmgabel hervorgerufenen 
Vibrationsempfindungen Ermüdungserscheinungen. Die Grundlage 
seiner Beobachtungen bildete folgender Versuch. Er setzte eine 
Stimmgabel, die etwa 120-—180 Schwingungen in der Sekunde machte, 
auf das eine, etwa das linke Schienbein. Der Prüfling empfand ein 
Vibrieren, ähnlich dem Elektrisiertwerden mit leichtem faradischem 
Strom. Mit der Verkleinerung der Schwingungsamplitude ward die 
Empfindung immer schwächer bis ganz präzis angegeben werden konnte, 
jetzt sei sie zu Ende. Wird nun aber dieselbe Stimmgabel ohne neu 
angeschlagen zu werden, schnell auf die korrespondierte Stelle des 
andern Schienbeins gesetzt, dann ist die Vibrationsempfindung wieder 
recht deutlich und wird 6—8 Sekunden lang wahrgenommen. Neutra 
bezeichnet die Anzahl der Sekunden, durch die an dem zweiten 
Bein die Vibration noch empfunden wird, als Ermüdungsziffer des 
ersten Punktes. Unter normalen Verhältnissen macht es keinen Unter- 


252 A. Abhandlungen. 





schied, wenn man nun in umgekehrter Reihenfolge den Versuch 
wiederholt. Der Versuch gelingt bei jedem Individuum mit normaler 
Sensibilität. 

Auch die Neutrasche Methode bedarf Nachprüfungen. Ich 
möchte empfehlen, den Begriff Apperzeptionsfähigkeit, den sich Neutra 
anscheinend in erster Linie auf physiologischen Vorgängen ruhend 
denkt, durch Aufmerksamkeit zu ersetzen. Damit würde die Neutrasche 
Methode unter die Schwellenmethoden eingeordnet werden müssen, 
nicht unter die physiologischen, entsprechend der Terminologie. 


e) Quinquaudsches Zeichen. 


Des Quinquaudschen Zeichens möge nur kurz Erwähnung ge- 
schehen. Das Quinquaudsche Phänomen trägt seinen Namen nach 
dem bekannten Pariser Arzt, der aber seine Erfindung nirgends be- 
schrieben, sondern das Geheimnis seiner Untersuchungsmethode, nach 
Maridort, mit ins Grab genommen hat. Trotzdem veröffentlichte 
Maridort die Methode Quinquauds, die er so beschreibt: Der zu 
Untersuchende muß seine Finger auseinanderspreizen, sie strecken 
und dann senkrecht auf die Handfläche des Untersuchenden auf- 
drücken. Während der ersten zwei bis drei Sekunden nimmt dieser 
nichts besonderes wahr, bald empfindet er aber kleine Stöße, als ob 
die Knochen eines jeden Fingers sich rasch voneinander abstoßen und 
auf die Handfläche des Untersuchenden anprallen würden. Andere 
Forscher haben sich des Studiums dann angenommen, und es hat sich 
gezeigt, daß das Quinquaudsche Zeichen keineswegs eindeutig zum 
Nachweis des Alkoholismus hat verwendet werden können, auch 
dann nicht, als Minor eine gründliche Konstruktion eines Unter- 
suchungsapparats gelang, der nicht nur die taktile, sondern die Schall- 
wahrnehmung der Cerapitationen erlaubte, indem die Finger auf einen 
Räsometer aufgesetzt und dieser mit einem Phonendoskop in Ver- 
bindung gebracht wurde. Von den sorgsamen Minorschen Unter- 
suchungen interessieren uns hier nur einige Resultate, die für ihn 
mehr den Charakter gelegentlicher Beobachtung haben. Er berichtet 
darüber folgendermaßen: Mittels eines von More und Hoffmann 
vorgeschlagenen Handgriffs kann man den Quinquaud künstlich hervor- 
rufen bei Subjekten, die ihn nicht haben. Zu diesem Zweck läßt 
man den zu Untersuchenden den Arm unter einem rechten Winkel 
zum Körper ausstrecken und im Laufe einer Minute alle Muskeln im 
Zustande der äußersten Gespanntheit halten. Nach einer Minute muß 
man die Finger sofort auf die Hand des Untersuchenden stellen, wie 
man es bei der Untersuchung des Quinquaud tut, und es wird sich 


Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 253 





stets, wenn auch auf kurze Zeit, ein deutlich ausgeprägter Quinquaud 
erweisen. In diesem Falle ist es klar, daß Quinquaud ohne 
Zweifel ein Zeichen der Ermüdung, »nervöser Überreizung« 
ist. — Wie weit das Symptom genauerer Messung und feinerer An- 
passung an die Ermüdungserscheinungen fähig ist, müssen weitere 
Untersuchungen aufweisen. 

Nach Meinung Altschuls kann man die Methode als pathologische 
bezeichnen. — 

Auf Grund genauer Messung der taktilen Empfindungen haben 
sich zur Hauptsache zwei Methoden entwickelt, die allerdings, sofern 
man auf die psychologischen Begleiterscheinungen achtet, recht ver- 
schieden sind: die eine geht auf Willensäußerungen, die andere auf 
Aufmerksamkeitserscheinungen zurück. 


f) Kinematometer. 


Die Kinematometermethode bedient sich des von Störring kon- 
struierten Kinematometers. Mittels desselben untersucht man die 
Lageempfindungen, die hauptsächlich in den Gelenken ihren Sitz zu 
haben scheinen. Für das Zustandekommen der Lagevorstellungen sind 
die äußeren Tastempfindungen nicht wesentlich; sie können fehlen, 
nnbeschadet oder doch ohne daß wesentliche Störungen sich bemerkbar 
machen, nicht aber dürfen die Gelenkempfindungen ausgeschaltet sein. 
Der Apparat gestattet das Einspannen eines Körperteils, etwa des 
Unterarms, so, daß er nur in einem Gelenk beweglich ist. Die Größe 
der Bewegung wird in Winkelgraden gemessen. Es kann entweder 
die passive oder die aktive Bewegung gemessen werden. In beiden 
Fällen bewegt zunächst der Experimentator das Glied um einen be- 
stimmten Winkel von der Anfangslage entfernt. Bei der passiven Be- 
wegungsprüfung bewegt er das Glied erneut um eine Anzahl Grade 
fort und läßt nun den Prüfling angeben, ob die vorige Lage wieder 
erreicht worden sei oder nicht. Bei der aktiven Prüfung wird die 
Versuchsperson veranlaßt, selbsttätig die vorhin passiv ausgeführte Be- 
wegung auszuführen. Meumann und Gineff ließen die Versuchs- 
person mit verbundenen Augen den Unterarm einige Stunden lang 
zwischen den beiden Anschlagsäulen hin- und herbewegen. Diese 
Normalbewegung wurde fest eingeübt. Nun ward die eine Säule ent- 
fernt und der Prüfling angewiesen, die Bewegung so weit auszuführen, 
daß sie ihr der normalen gleich erscheine. Je feiner die Unterschieds- 
empfindlichkeit ist, desto genauer wird der Vergleich ausfallen. Die 
Genauigkeit der Empfindung ist aber in der Ermüdungswirkung variabel 
und zwar in dem Sinne, daß die Vergleichsbewegung gegenüber der 


254 A. Abhandlungen. 





normalen im Zustande der Ermüdung größere Abweichungen, größere 
Fehler aufweist. Es besteht die Tendenz, die Unterschiede größer zu 
schätzen als in frischem Zustande geschieht. Das ist unschwer er- 
klärlich. Im Zustande starker Anstrengung fällt schwerer, die Be- 
wegungen auszuführen; sie erfordern ein höheres Maß von Willens- 
anspannung. Dieses Gefühl der größeren Anstrengung täuscht uns 
die gleiche Strecke als größer vor, die kleineren als von gleicher 
Ausdehnung. 

Die Kinematographenmethode hat Gineff nur an sich selber er- 
probt und dabei die Überzeugung gewonnen, daß sie wertvollere 
Dienste zu leisten imstande sei als der Ergograph. Auf die Resultate 
dieser Untersuchungen werde ich später nicht weiter eingehen. 


g) Taktiermethode. 


Die Taktiermethode wurde von Stern in seinem Werke »Zur Psycho- 
logie der individuellen Differenzen« begründet, von Lay hernach im 
Dienste der Ermüdungsforschung weiter verwertet. Ich versuchte, 
Unterschiede bei optimaler und maximaler Taktiergeschwindigkeit 
genauer zu würdigen. — Beim Taktklopfen klopfen die Prüflinge mit 
der Hand auf einer festen Unterlage einen bestimmten Takt, am emp- 
fehlenswertesten ist ein daktylischer Dreitakt. (Ich habe nachgewiesen, 
daß die Taktart nicht ohne Einfluß ist auf die Tempogeschwindigkeit.) 
Die Prüflinge wählen sich dasjenige Tempo aus, das ihnen am be- 
quemsten und angemessensten erscheint. Nach einigen Vorversuchen 
kommen sie sehr bald dahin, das entsprechende Tempo zu finden. 
Nach Stern-Lay ist das Taktklopfen zur Bestimmung des psychischen 
Tempos und zugleich der psychischen Energie aus folgenden Gründen 
besonders geeignet: Die psychische Energie äußert sich nicht bloß in 
forzierten Leistungen, sondern getreuer noch im Optimum, das selbst 
gewählt ist und sich instinktiv aus dem jeweiligen seelischen Kräfte- 
vorrat von selbst ergibt. Dazu kann es leicht gefunden und ohne 
besondere Störungen schnell und sicher angewendet werden. Die 
Ergebnisse sind eindeutig und untereinander bequem zu vergleichen. 
Lay führte die Untersuchung so aus: Jeder Prüfling legte seine 
Taschenuhr mit Sekundenzeiger und das Notizbuch vor sich hin, 
blickte auf den Sekundenzeiger und begann im Moment einer neuen 
Minute den Dreitakt auf den Tisch zu klopfen. Dabei wurde der 
Unterarm aufgelegt und mit dem unteren Teile der Fingerkuppen eine 
Minute lang leicht gegen die Unterlage geschlagen. Nach jedem Drei- 
takt wurde mit der schreibbereiten andern Hand in dem Notizbuch ein 
Strich gezogen und am Schlusse der Minute zählte man die überschießen- 


Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 955 





den ein oder zwei Schläge des voraufliegenden Taktes. Die Anzahl 
der Striche mit drei multipliziert und die Anzahl Schläge des letzten 
unvollendeten Taktes hinzuaddiert ergab die Anzahl der Schläge in 
der Minute; .dividiert man die Gesamtanzahl der Schläge einer Minute 
durch sechzig, dann hat man ein Maß für das psychische Tempo in 
Sekunden. — Ich gestaltete die Methode dadürch etwas einfacher, zumal 
für jüngere Versuchspersonen, daß ich mit der rechten Hand leicht 
auf den Rücken der linken !/, Minute lang taktieren ließ, um so auch 
etwaige störende Geräusche zu vermeiden. Die Zeitregulierung ließ 
ich nicht durch die Versuchspersonen vornehmen, sondern ich selbst 
bestimmte Anfang und Schluß des Versuchs durch ein elektrisches 
Klingelzeichen. Lay hat in späteren Kontrollversuchen (1909) die 
Taktbewegungen durch Bleistiftbewegungen der Striche zwischen den 
Linien des Papierbogens ersetzt. — Der jeweilige Kräfte- oder Energie- 
vorrat prägt sich in der Dauer des optimalen Tempos aus, je größer 
der Vorrat, desto energischer, desto schneller das Tempo. Wird der 
Kräftevorrat durch Ermüdung vermindert, wird sich ein entsprechender 
Index am Optimum aufspüren lassen. Lay benutzte die Methode in 
erster Linie dazu, den psychischen Energieschwankungen in kürzeren 
und längeren Zeiträumen nachzugehen. Selbstverständlich kann die 
Methode auch verwendet werden, um den Ermüdungswirkungen durch 
die täglich geforderten Arbeitsleistungen nachzugehen. Eingehendere 
Untersuchungen in dieser speziellen Ausführung liegen noch nicht 
vor. Sicherlich darf man sich durch die leichte Ausführbarkeit nicht 
zu einer vorschnellen Anwendung und Schlußfolgerung verleiten lassen, 
insbesondere muß sorglich auf stark bestimmende Nebeneinflüsse ge- 
achtet werden. (Ich erinnere an unmittelbare Nachwirkungen kurzer 
und längerer Arbeit, wie z. B. die Erregung.) 


h) Die Blixsche Methode 
zur Untersuchung des Muskelsinnes wandte besonders Öhrvall an. 
Die Versuchsperson sitzt entweder bequem in einem Stuhl oder 
steht in fester Stütze für den Rücken. In Armlänge vor ihr und 
in gleicher Höhe mit der Schulter wird ein Papier auf einer 
vertikalen Fläche oder einem Schirm aufgespannt. Nun muß der zu 
Untersuchende, ohne im übrigen sich zu bewegen, den Arm erheben 
und die Spitze des Bleistifts nach einem auf dem Papier im voraus 
gemachten Zeichen führen und dann den Arm wieder in die Aus- 
gangsstellung zurückbringen. Er hat dann, während die Augen ge- 
schlossen gehalten werden, dieselbe Bewegung zu wiederholen und zu 
versuchen, denselben Punkt auf dem Papier zu treffen. Derselbe Ver- 


256 A. Abhandlungen. 





such wird wieder und wieder angestellt, so daß der Prüfling seine 
Bewegungen das eine Mal unter der Kontrolle des Gesichtssinnes und 
‚das andere Mal ohne diese Hilfe, nur auf die Leistungen des Muskel- 
'sinnes angewiesen, ausführt. Bei dem letzteren Akt wird er dann 
mehr oder weniger weit von dem Zielpunkt deuten. Er macht jedes- 
mal ein Bleistiftzeichen auf dem Papier. Hat er das Experiment ge- 
nügend oft wiederholt, dann mißt man mit einem Maßstab den Ab- 
stand der verschiedenen Zeichen von dem Zielpunkt. Die Summe der 
‚gemessenen Abstände wird durch die Anzahl der Versuche dividiert, 
der Quotient ist der mittlere Fehler. (Blix, zit. nach Öhrvall.) 


i) Biologische Methode. 


Die biologische Methode führt uns auf Weichardt zurück, 
den wir eben bei der Fußhantelmethode kennen gelernt haben. Man 
könnte sein Verfahren auch als kombiniertes bezeichnen, weil er es 
mit dem Ergographen, der Burgersteinschen Rechenmethode und den 
Ästhesiometermessungen kombiniert angewendet wissen will. Die 
Methode fußt auf der modernen Immunitätstheorie, nach der jedes 
Antigens seinen Antikörper erzeugt, hier das Ermüdungstoxin im Blute 
sein Antitoxin hervorruft, eine Wahrheit, die auf Grund vieler Ex- 
perimente erwiesen ist. Mittels des Antitoxin, das Weichardt zunächst 
aus dem Muskelpreßsaft erschöpfter Tiere gewann, gelang ihm, die 
Ermüdungsgifte abzusättigen und Arbeitsfrische zu erzeugen. Später 
‚gelang es Weichardt, das Ermüdungstoxin oder Kenotoxin durch 
‚chemische Erschütterung von Eiweiß bei einer Temperatur von weniger 
‚als 40°C. mit späterer Behandlung zu erzeugen, das Antitoxin aus 
reinem Eiweiß bei Siedehitze. Mittels dieser Präparate war Weichardt 
imstande, alle Stadien der Ermüdung von den leichtesten bis zu den 
schwersten Graden hervorzurufen, ja den Ermüdungstod künstlich 
herbeizuführen. Er konnte durch seine in den Magen aufgenommenen 
Antitoxinpastillen erneute Frische hervorrufen und die durch Ermüdung 
gebildete Menge Reintoxin durch Absättigung mit einem Testantitoxin 
bestimmen. Darauf baut er seine Methode zur Bestimmung der 
Grenze der Leistungsfähigkeit auf, wie der praktische Versuch von 
Lorentz zeigt. Es gelang ihm, nachzuweisen, daß eine Beeinflussung 
der Leistungsfähigkeit durch antikörperhaltige Präparate möglich ist. 
»Ist dieser Nachweis, so schreibt er, auch nur in qualitativer Weise 
versucht worden, so erscheint es doch nicht ausgeschlossen, daß auf 
Grund der vorhandenen Untersuchungen sich eine biologisch- exakte 
Maßmethode zur Ermittelung der Schülerermüdung herausbilden lassen 
werde. Die Möglichkeit der quantitativen Bestimmung der Ermüdungs- 


Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 357 


stoffe ist vielleicht dadurch gegeben, daß auch in dem Wasser, durch 
welches Ausatemluft eines Ermüdeten längere Zeit geblasen worden 
war, sich in vitro Eiweißabspaltungsantigen von Kenotoxincharakter 
durch hochgradig verdünnte Antikenotoxinlösungen bestimmen läßt.« 
— Die Untersuchungen von Lorentz wollen in erster Linie dartun, 
daß die Weichardtschen Forschungsergebnisse als Grundlage dienen 
können, um für die Praxis der Schulhygiene exaktere biologische Maß- 
methoden für die Schülerermüdung herauszustellen. Weichardt hat 
mit absoluter Sicherheit nachgewiesen, daß Leistungsbeeinflussungen 
mittels Antikenotoxin möglich sind — Lorentz versucht die Be- 
stätigung in der unterrichtlichen Praxis. Fernere Aufgabe wird es 
sein, die Methode nach Seite der Exaktheit und: leichten Verwendbar- 
keit auszugestalten. Ich will versuchen, die Lorentzschen Experi- 
mente kurz nach Wesen und Erfolg zu kennzeichnen. 

Sie gliedern sich in zwei Gruppen. Die. erste umfaßt Fußhantel- 
versuche, die Lorentz an sich selber anstellte, die zweite Rechen- 
prüfungen nach der Burgersteinschen Methode, die mit einer 
Reihe von Schülern einer gewerblichen Fortbildungsschule angestellt 
wurden, waren also eigentliche Schulversuche. — Die Fußhantel- 
versuche wurden um 6, 1, 3 und 8!/, Uhr angestellt. Den Haupt- 
untersuchungen ging eine Übungsperiode von vier Wochen voraus. 
Die Vorstudien ergaben das sehr wichtige Nebenresultat, daß die Ver- 
abreichung von Antikenotoxin der Gesundheit und dem Wohlbefinden 
in keiner Weise hinderlich war, vielmehr zeigte sich nach dem Ein- 
atmen eine Hebung des körperlichen Allgemeinbefindens gleich der- 
jenigen nach einer längeren körperlichen Ruhepause; »gleich reiner Wald- 
luft steigert es die natürliche Frische und Lebendigkeit des Körpers«, 
so daß eine allgemeine Anwendung ohne Gefahr geschehen kann. Die 
Hauptuntersuchungen gliederten sich in zwei Gruppen, die erste fand 
ohne, die zweite mit Anwendung von Antikenotoxin statt. Als ein- 
fachste Form der Darreichung wurde die Zerstäubung des Präparats 
benutzt unter Anwendung folgender Technik: Zur Aufnahme der 
Sprayflüssigkeit dient ein nicht zu weites zylinderförmiges Glasgefäß 
mit 10 ccm Einteilung. Durch dessen festschließenden Gummipfropfen 
führt ein Zerstäubungsapparat mit einem Handblasebalg aus Patent- 
gummi. Das Sprayglas wird mit 10 cem physiologischer Kochsalz- 
lösung (0,8: 100) angefüllt. In diese werden mittels einer Tropfpipette, 
10—20 Tropfen des antikenotoxinhaltigen Präparats gegeben. Um die 
versprayten, mit dem Antikörper beladenen feinen Wassertröpfchen 
möglichst lange in der Luft schwebend zu erhalten, ist es notwendig, 

Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 17 


258 A. Abhandlungen. 








nach dem Zerstäuben in dem Raume während der nächsten Zeit die 
Fenster und Türen geschlossen zu halten; die Zugluft würde sonst die 
Tröpfchen sehr bald entführen. — Als Ergebnis konnte unzweifelhaft 
festgestellt werden, daß die Wirkung der Ermüdungsstoffe verringert 
wird, daß eine gesteigerte Leistungshöhe noch in den nächsten 20 bis 
24 Stunden nachweislich war; kurz eine volle Bestätigung dessen, 
was Weichardt bezüglich der Ermüdungstoxine festgestellt hatte. 
Die Schulversuche wurden angestellt mit älteren Schülern, die 
sich freiwillig zur Verfügung stellten. Zur Bestimmung der Leistungs- 
fähigkeit diente die Burgersteinsche Rechenmethode, die einige 
Modifikationen erhielt, besonders folgende: Alle vier Rechenspezies 
wurden verlangt; die Zeit, die zur Lösung der Recheneinheiten nötig 
war, wurde möglichst genau festgesetzt. Lorentz entschied sich für 
diese Methode, weil sich eine homogene Verteilung der Arbeits- 
forderungen leicht herstellen, weil unter Stimuluswirkung eine starke 
Arbeitsanspannung sich unschwer erzielen läßt, die Ausschaltung der 
Suggestion leicht gelingt infolge öfterer Wiederholung und endlich ein 
wesentlicher Leistungszuwachs durch zunehmende Übung ausgeschaltet 
ist, da es sich um Rechenoperationen handelt, die am häufigsten im 
Unterricht vorkommen. — Die Versuche, die hier wesentlich sind, 
fanden um 4 und um 8 Uhr statt. Bei den Antikenotoxinprüfungen 
geschah die Zerstäubung nach der ersten Rechenprüfung unter dem 
Vorgeben, die Luft sollte verbessert werden. Die Schüler wußten 
über den Zweck der Versuche nichts. — Das Quantum der geforderten 
Leistung war überall dasselbe, mithin fand die quantitative Wertung 
der Leistung in der verflossenen Arbeitszeit ihren Ausdruck; als Maß- 
stab für die Qualität der Leistung diente die Anzahl der Fehler und 
Korrekturen. — Das Resultat dieser Versuche ist folgendes: Schon 
äußerlich zeigte sich die Wirkung des Kenotoxins, indem die Schüler 
selbst gegen das Ende des Unterrichts gegenüber der sonstigen Ab- 
nahme an geistiger Spannkraft eine gesteigerte Frische und Lebhaftig- 
keit zeigten; die psychomotorische Hemmung erschien aufgehoben; 
die Spontaneität der Aufmerksamkeit erforderte keine erhöhte An- 
spannung der Willensenergie. Die Leistungsquantität fand überall 
eine Steigerung; aber auch die Qualität erfuhr eine Verbesserung, 
denn die Anzahl der Fehler und Korrekturen verminderte sich; 
während sie bei den Versuchen ohne Kenotoxin eine Zunahme zeigte. 
Ohne Kenotoxin eine Abnahme der Fähigkeit, sich ernstlich mit dem 
Gegenstand zu befassen, mit demselben anstelle der geminderten oft 
eine gesteigerte Leistungsfähigkeit! — Lorentz veröffentlicht aus 
einer großen Zahl von Kurvenserien nur einige. Er berechnet nicht 


1. Ein Schülerbericht aus Trüpers Erziehungsheim. 259 
die Durchschnitte aus allen Zahlentabellen. Leider fehlt eine Angabe 
über die Übungswirkungen und ob ein Übungskursus auch diesen 
Untersuchungen vorausgegangen ist — wie wohl sicher anzunehmen 
ist. Die Annahme, daß die Übungssteigerung eine minimale sei, weil 
es sich um oft geübte Rechenoperationen handle, wird durch andere 
Untersuchungen — ich erinnere an die Kraepelinsche Addiermethode 
— stark angezweifelt; sie ergeben vielmehr eine ganz erhebliche 
Steigerungsmöglichkeit. Auch die Resultate Burgersteins zeigen 
starke Übungswirkungen. (Forts. folgt.) 





B. Mitteilungen. 





1. Ein Schülerbericht aus Trüpers Erziehungsheim 
auf der Sophienhöhe bei Jena.!) 
Von Fr. Rössel, Hamburg. 

S. P. ist einziges Kind seiner Eltern. Er ist 10 Jahre alt. Aus 
der Entwicklungsgeschichte ist nach Angaben der Eltern folgendes zu 
entnehmen: Die Geburt verlief normal. Das Laufen und das Sprechen 
lernte er zur rechten Zeit. Doch zeigte er frühzeitig wenig Interesse für 
die Umgebung. Er begann ein inneres Leben für sich zu führen und 
war geistig immer vorherrschend phantasiemäßig beschäftigt. Starken Ein- 
fluß hatte auf ihn recht bald die Musik. Bald spielte er alles Gehörte 
auf dem Klavier nach, und er wußte schon im Alter von 31/, Jahren 
ganze Akkorde richtig anzugeben. Die Musik nahm aber seinen Geist so 
gefangen, daß er aus allen Gegenständen durch Klopfen Töne hervorzu- 
bringen versuchte. Die körperliche Entwicklung schritt normal vorwärts. 
Mit dem vierten Jahre gewöhnte er sich bei heiterer Stimmungslage eigen- 
artige Bewegungen der Hände an. Zur selben Zeit machte sich auch ein 
beständiges rhythmisches Hin- und Herwiegen des Oberkörpers bemerkbar. 
Der Schlaf war durchschnittlich gut, nur vor freudigen Ereignissen (Reisen) 
schlief er oft die ganze Nacht nicht. 

In den ersten Lebensjahren war er fast immer allein. Man be- 
schäftigte sich wenig mit ihm. Er wurde selten angehalten, selbst kleine 
Verrichtungen zu besorgen. Deshalb ist P. in hohem Grade unpraktisch 
und ungeschickt. Ordnung und Sauberkeit sind nicht sehr ausgebildet. 


1) Durch das freundliche Entgegenkommen von Herrn Direktor Trüper ist es 
mir ermöglicht, diese Studie über einen Knaben, der eigentlich nicht mehr in den 
Rahmen seiner Anstalt hineinpaßte und darum auch wieder entlassen wurde, hier 
zu veröffentlichen. Vor mehreren Jahren hatte ich ihn auf der Sophienhöhe in 
meiner Klasse und Aufsichtsgruppe, in der die abnormsten und darum zum Teil 
interessantesten Fälle unter den Zöglingen gesammelt waren. Da ein solcher Fall 
selten zu sein scheint, ist seine Veröffentlichung wohl gerechtfertigt. Vergl. Jg. 18, 
Heft 1, S. 26. 

17* 


260 B. Mitteilungen. 





Er ist gutmütig und läßt sich auch von kleineren, ihm körperlich nicht 
gewachsenen Kindern alles gefallen. P. erhielt Privatunterricht. Nur im 
Sommer 1907 besuchte er die II. Klasse der Hilfsschule in Ch. 

Eine genaue ärztliche Untersuchung ergab: Muskulatur und Er- 
nährungszustand sind mittelmäßig. Abweichungen in der Drüsenbildung 
sind nicht vorhanden. Die Haut ist elastisch, die Schleimhäute sind blaß. 
Die Atmung ist in Ordnung. Der Gaumen ist steil. Die Ohrstellung ist 
verschieden. Der Schädelumfang beträgt 54 cm. Der Schädel ist un- 
regelmäßig geformt, er weist eine rechtsseitige Stenose des Hinterhauptes 
auf. Herz und Lunge sind gesund. Die Kniephänomene sind normal, die 
Pupillen sind rund, die Reaktionen zeigen keine Abweichungen. 

P. war bisher immer gesund. Sein Körpergewicht betrug im Sep- 
temper 1907 58 Pfund. Trotz vorzüglicher Ernährung ist das Gewicht 
bis zum April 1908 nur um ein Pfund gestiegen. Die Länge betrug im 
September 1907 131 cm; im Oktober 1908 wog er 641!/, Pfund, seine 
Größe betrug 136 cm. 

Eine Prüfung des intellektuellen Standes hatte folgendes Ergebnis. 
P. ist zeitlich, örtlich und beziehungsbegrifflich orientiert. Er weiß, 
welches Jahr wir haben, er kennt sein Geburtsjahr und gibt das Datum 
richtig an. Die Wochentage und die Monate sind ihm geläufig, ebenso 
die Einteilung der Zeit in Stunden, Minuten und Sekunden. Die Uhr 
kann er nicht lesen. Ferner weiß P. in den Größenverhältnissen zahlen- 
mäßig gut Bescheid. Die Bezeichnungen Schock, Mandel und Dutzend 
sind ihm bekannt. Er kennt ihre Stückzahl und versteht, sie in Beziehung 
zueinander zu setzen. Aufgaben wie: Ein Mandel Eier kostet 60 Pf.; 
wieviel kostet ein Ei? rechnet er richtig aus. Sechsstellige Zahlen liest 
er sicher, Addition und Subtraktion beherrscht er vollständig, weniger gut 
Multiplikation und Division. 

Er kennt den Wert der Geldstücke und vermag, Summen zu be- 
stimmen. Einfache Beziehungsaufgaben rechnet er richtig aus. 

In örtlicher Hinsicht ist zu sagen, daß P. in der Anstalt bald gut 
orientiert war. Er besitzt Ortsgedächtnis. Er hat Erinnerungsbilder von 
früheren Wohnungen, von Reiseaufenthaltsorten usw. 

Orthographisch schreibt er leidlich richtig. Die Schrift ist flott und 
leserlich. Das Lesen genügt. 

Es ergibt sich, daß der Vorstellungsschatz an sich nicht außer- 
gewöhnlich geschwächt ist. P. verfügt über gewisse Kenntnisse, die denen 
manchen normalen Kindes in seinem Alter kaum nachstehen. Allerdings 
bedarf es einer schwerwiegenden Einschränkung. Die Kenntnisse sind 
vorzugsweise nur formaler Natur. Dazu kommt, daß sie starren Vor- 
stellungsreihen eingegliedert sind, die hauptsächlich durch mechanisches 
Einprägen aufgenommen wurden. 

In der Tat vermag P. rein gedächtnismäßig solche Reihen aufzu- 
nehmen und mit ihnen zu operieren. Auch Erlebnisse, die er oft durch- 
läuft, nimmt er auf, schließt sie in seiner Erinnerung zu einer Kette zu- 
sammen und vermag sie in richtiger Weise zu produzieren. So gibt er 
im großen ganzen seinen Tageslauf richtig an. Er schreibt: 


1. Ein Schülerbericht aus Trüpers Erziehungsheim. 261 





»Morgens stehe ich um 7 Uhr auf. Da trinke ich meine Milch mit 
Buttersemmel. Da gehen wir in den Turnsaal, da halten wir Andacht. 
Dann gehen wir zu Fräulein X. Da lerne ich schnüren mit dem Schnür- 
apparat. Wenn du falsch machst, schimpft Fräulein X. Da lerne ich 
Schuhe schnüren. Wenn du falsch machst, sonst schimpft Fräulein X. 
Wenn ich fertig bin, dann gehen wir zu Sophihenhöhe. Dann essen wir 
Frühstück mit Brot und Milch. Dann gehen wir in den Wald und ich 
spiele greifen. Dann gehen wir in die Klasse. Dann ist ne kleine Pause. 
Dann gehen wir mit W. Sch. zum Veranda zum Ruhen. Dann stehen 
wir auf. Dann essen wir Mittag. Dann gehen wir zum Veranda zum 
Ruhen. Dann stehen wir auf. Dann trinken wir Kaffee. Dann gehen 
wir in den Garten und spielen. Dann gehen wir zum Sophihenhöhe. 
Und essen Abendbrot. Dann gehen wir zum Bett.« 

Von einem Sonntag schreibt er: 

»Gestern war Sonntag. Da sind wir zur Turnhalle gegangen. Dann 
haben wir Theater gespielt. Da habe ich in der Turnhalle gezuckt. Da 
hat Frl. X. bald raußgemißen und ich habe Putti gemacht und wieder in 
die Turnhalle gegangen. Da hat die Musik gespielt: Da sind wir zu 
Sophihenhöhe gegangen.« 

Nach einem Feste schrieb er folgende Sätze: 

»Gestern war Stiftungsfest. Da haben wir Kaffee getrunken. Da 
sind wir zur Turnhalle gegangen. Da haben wir Andacht gehalten. Da 
haben wir nicht zu Frl. X. gegangen.« 

In den angeführten Darstellungen wollen wir zunächst nur auf den 
Gedankenfortschritt achten. Er schreibt in völlig richtiger Weise, was er 
am Tage über treiht. Charakteristisch ist an den Sätzen, daß jedes Er- 
innerungsbild mit einem intensiven Bewegungsvorgang verbunden ist: Wir 
gehen, wir trinken, wir essen, spielen, greifen usf. Die oft durchlaufenen 
Tätigkeiten haben sich gedächtnismäßig zu einer Reihe eingeprägt. Dazu 
kommt noch, daß sich alles um seine Person schließt, daß sich fast 
nirgends ein Erinnerungsbild einschiebt, welches nicht Bezug hätte auf 
das Ich. Dabei ist er keineswegs egoistisch. Er läßt sich alles weg- 
nehmen, nur nicht den Gegenstand, mit dem er sich eben beschäftigt (s. u.). 
Nach Süßigkeiten und anderen Dingen, die ausgeteilt werden, verlangt er 
durchaus nicht. Es ist ihm ganz gleich, ob er etwas bekommt oder nicht. 
Mit seinen Sachen kann jedes Kind spielen, denn er bekümmert sich gar 
nicht um sie. 

Das Gedächtnis eines normalen Kindes zeigt vor allem diesen Zug. 
Mit den Erinnerungsbildern verbindet sich ein Urteil, eine Kritik des Er- 
lebten. Dabei ist der Inhalt nicht nur gebunden an Vorstellungen mit 
intensiven motorischen Bewegungen, sondern es werden auch diejenigen 
Erinnerungsbilder zusammengeschlossen, die aus Gehörs- und Gesichts- 
empfindungen entstanden sind. So wird das normale Kind nicht schreiben, 
»dann gehen wir in die Klasse, dann ist ne kleine Pause,« sondern es 
wird auch unbedingt angeben, was es in der Klasse, also in der Stunde, 
im Unterricht gehört, gesehen und gelernt hat. Es beschränkt sich nicht 
auf die einfache Wiedergabe der aneinander gereihten Bewegungsvorgänge, 


262 B. Mitteilungen. 





sondern der Inhalt des Erlebten ist ihm die Hauptsache. Es bildet eine 
inhaltlich eng verbundene Erinnerungsreihe. 

P. dagegen ist nicht imstande, eine inhaltlich verknüpfte Erinnerungs- 
reihe zu bilden, weil die Vorbedingungen zu einer solchen Tätigkeit fehlen, 
nämlich die Aufmerksamkeit und damit zusammenhängend eine sach- 
lich ablaufende Ideenassoziation. 

P. hört nicht, was in seiner Nähe gesprochen wird; oftmals reagiert 
er gar nicht oder doch nur schwach, wenn sein Name gerufen wird; was 
in der Schule vom Lehrer gesprochen wird, geht spurlos an ihm vorüber. 
Auf Wortreize reagiert er sehr selten. Die Weckbarkeit der Auf- 
merksamkeit ist ganz enorm herabgesetzt. Tritt wirklich einmal 
ein Wortreiz ins Bewußtsein ein, so ist auch damit der Prozeß erledigt. 
Er vermag keine ähnlichen Vorstellungen zu reproduzieren, sondern sinkt 
bald unter die Bewußtseinsschwelle. Es entstehen also keine vollwertigen 
Zielvorstellungen und es reihen sich keine Erinnerungsbilder an. Die 
Haftbarkeit der Aufmerksamkeit ist ebenfalls erheblich ge- 
stört. Beim normalen Kinde und auch bei vielen schwachsinnigen Kindern 
vermögen besonders lustbetonte Vorstellungen eine Haftbarkeit der Auf- 
merksamkeit herbeizuführen. Auch dies fällt bei P. zum großen Teile 
aus. Er bekam eine Karte von seiner Mutter mit dem Inhalte, daß sie 
ihn bald besuchen werde. Auf diese freudige Mitteilung, die er selbst 
las, reagierte er mit keiner Miene. Die Aufmerksamkeit wurde durch das 
bevorstehende Ereignis kaum geweckt, andere Vorstellungen, die sich im 
normalen Falle sofort recht lebhaft angeschlossen hätten, wurden nicht an- 
geregt, so daß von einem Haften der Vorstellungen keine Rede sein konnte. 

Aus diesen großen Aufmerksamkeitsstörungen ergibt sich für die 
Praxis zunächst folgendes: 

1. Die Störungen in der Aufmerksamkeit machen einen Unterricht 
mit anderen Kindern unmöglich, um so mehr als P. durch seinen moto- 
rischen, spontan auftretenden Bewegungsdrang (s. u.) dem Unterrichte, be- 
sonders aber auch der Aufmerksamkeit der Mitschüler hinderlich ist. 
Einzelunterricht wäre also angezeigt. 

2. Auch von dem Einzelunterrichte kann man sich vorläufig nicht 
viel versprechen. Einmal sind natürlich wiederum die Aufmerksamkeits- 
störungen das Haupthindernis. Andrerseits tritt bei Einzelunterricht leicht 
Ermüdung ein. Unlustgefühle werden herrschend und fordern beständig 
Ermahnungen heraus. Dadurch wird dann die ganze Stimmungslage nach 
der negativen Seite herabgedrückt. Affekte der Unlust und Verschlechte- 
rung des Gesamtzustandes sind dann zu erwarten. 

3. Es ist also geboten, P. vorläufig aus dem Schulunterrichte soviel 
als möglich herauszunehmen. Er wird im Kindergarten beschäftigt, wo 
er mit Legetäfelchen und mit dem Baukasten allerhand Formen und 
Gegenstände zusammensetzt. Diese Arbeiten verrichtet er gern und willig. 
Nur darf auch hier keine Forderung an die Aufmerksamkeit, wie z. B. 
beim Bauen nach Diktat, gestellt werden, sonst treten ebenfalls Affekte 
der Unlust auf. 

Folgende Unterhaltung ist charakteristisch für die Aufmerksamkeits- 


1. Ein Schülerbericht aus Trüpers Erziehungsheim. 263 





störungen. Besonders finden wir ein eigentümliches Vorbeireden 
auf die Frage. Die Fragen werden ganz ohne Beziehung zu ihrem Inhalt 
beantwortet, oder die Antwort knüpft nur an ein einzelnes Wort der Frage 
ohne Rücksichtnahme auf ihren Sinn an. Ferner fällt ein eigentümlicher 
Negativismus in den Antworten auf. Zum Verständnis der Unterhaltung 
sei noch mitgeteilt, daß P. jeden Morgen Schnüren der Schuhe, Aus- und 
Ankleiden lernt. 


Lehrer: Wo bist du heute Morgen bewesen? 


ETUE OEM 


vH 


wpm p p o ESEL TEL p a e a p 


Gar nicht. — Zu Frl. X. 
Was hast du da getan? — Keine Antwort, nochmalige Frage. 


: Ich habe gar nichts gemacht. 


Du mußt doch etwas getan haben! 
Ich hab gar nichts gemacht. 


: Hast du nichts gelernt? 
: Nein, ich habe gar nichts gelernt. 


Weist du wirklich nicht, was du gelernt hast? 
Geschnürt. 


: Was hast du also gelernt? 
: Geschnürt. 


Was hast du noch getan: 


: Kaput gemacht. 


Was denn? 


: Gar nichts kaput gemacht. Ich habe nichts kaput gemacht. Ich 


habe nichts gemacht. 


: Da warst du also faul, wenn du gar nichts gemacht hast! 

: Ja, ich war lieber faul. 

: Faule Kinder bekommen aber Strafe. 

: Ich muß Strafe haben, drei. — Der Tisch soll das Klavier sein. 


Zwei kleine Gespräche seien noch mitgeteilt: 


: Weißt du denn, wie Herr Direktor heißt? 

: Herr Direktor Trüper. 

: Wo warst du denn gestern Nachmittag? 

: Spazieren. 

: Mit wem? 

: Mit Herrn Direktor spazieren. (Keine Tatsache.) 


Ferner: 


: Welchen Tag haben wir heute? 

: Freitag, den 22. November. (Richtig geantwortet.) 
: Welcher Monat kommt nach dem November? 

: Der dreiundzwanzigste. 


Die Frage wird einige Male wiederholt. Schließlich antwortet er 
richtig: Dezember. 


: Welches Fest feiern wir im Dezember? — Keine Antwort. Erneute Frage. 
: Januar. 


Wiederholung der Frage. 


P.: Nein, lieber das Klavier kaput machen. Das Weihnachtsfest. — 


264 B. Mitteilungen. 








Die angeführten Beispiele zeigen schon ohne weiteres auch Störungen 
in der Ideenassoziation an. 

Unterrichtlich behandeln wir die Siegfriedsage.e Nun war der Kampf 
mit dem Drachen besprochen worden. Vorhergegangen war eine Be- 
schreibung des Drachens, die durch eine Tafelzeichnung ergänzt wurde. 
Es kommt die Frage: Wie sah der Drache aus? Ein normales Kind wird 
nun alle vom Aussehen des Drachens gewonnenen Vorstellungen reprodu- 
zieren. P. beantwortete die Frage so: »Der Drache sieht grün aus. Er 
sieht aus wie ein Luftballon.« 

Bei ihm war keine Assoziation der Vorstellungen zustande gekommen. 
Als er gefragt wurde, war zufällig die Vorstellung »Luftballon« in seinem 
Bewußtsein wach, und er antwortet: Der Drache sieht aus wieein Luftballon. 

Hätte ein normales Kind bei der Frage eine ganz konträre Vor- 
stellung gehabt, so wäre trotzdem die Assoziation zwischen der Frage und 
der konträren Vorstellung nicht gebildet worden, weil ihm die Erfahrung 
und das Urteil eine solche Verbindung verbot. 

Diese kritiklosen Verbindungen der Vorstellungen, Asso- 
ziationen zwischen Erinnerungsbildern, die weder auf inhalt- 
lichen Ähnlichkeiten beruhen noch durch gleichzeitiges Ein- 
treten in das Bewußtsein bedingt sind, zeigen sich bei P. in 
großem Umfange. Die Ideenassoziation wird beherrscht von einem regel- 
losen Durcheinander. Es besteht eine Inkohärenz im Vorstellungsablauf. 

(Schluß folgt.) 


2. Beitrag zur geistigen Entwicklung eines dreijährigen 
Knaben. 
Von Lina Prengel, Hermsdorf bei Berlin. 


(Schluß.) 


Am schwersten war bei Hans, neben der Erziehung zur Sauberkeit 
die Erziehung zum Gehorsam. 

Er hatte nie getan, was von ihm verlangt wurde, schüttelte energisch 
den Kopf und stampfte wohl auch dabei mit dem Fuß zum Zeichen, daß 
er es nicht tun wollte; wurde die Aufforderung wiederholt, warf er 
sich hin, schrie und strampelte in höchster Wut, biß seine Pflegerin 
sehr empfindlich. Wenn er nicht wollte, daß zu ihm oder von ihm ge- 
sprochen wurde, schnitt er dem Sprecher ein Gesicht. Es war nie ge- 
lungen, ihn zu bewegen, seinen Eltern zum Gruß die Hand zu geben, bei 
jeder ernstlichen Aufforderung dazu wiederholten sich seine Wutanfälle. 
Als ich merkte, daß ich Einfluß auf ihn bekommen hatte, war ich haupt- 
sächlich bemüht, ihn zur Nachgiebigkeit zu erziehen. Zuerst sprach ich 
ihm freundlich zu, der Mutter die Hand zu geben, und zeigte ihm meine 
Unzufriedenheit darüber, daß er es nicht tat, indem ich ihn mit ver- 
drossenem Gesicht ansah, »pfui« zu ihm sagte und fortging, was ihm 
nicht gleichgültig zu sein schien. Dann schalt ich ihn auch, weil er 
meinem Zureden nicht nachgab. Als ich merkte, daß er halb willens war, 
nachzugeben, sich aber doch nicht dazu entschließen konnte, legte ich im 


2. Beitrag zur geistigen Entwicklung eines dreijährigen Knaben. 965 








geeigneten Moment seine Hand schnell in die der Mutter, dabei »tag tag« 
sagend, und nun zeigte er Freude darüber, daß es geschehen war. So ging 
es auch in den nächsten Tagen, dann konnte ich ihn durch Zureden und 
Nachhelfen bewegen, seine Hand selbst in die der Mutter zu legen. Später 
verlangte ich energisch, daß er es tat, ohne sich lange zu weigern, ich 
achtete scharf auf ihn, wenn die Mutter in das Zimmer kam und ihn be- 
grüßte, er tat es auch viel später erst, nachdem er sich durch einen 
Seitenblick auf mich überzeugt hatte, daß ich entschlossen war, ein- 
zugreifen. Mit derselben Entschlossenheit verhinderte ich, daß er sich 
auf den Fußboden warf, sobald ihm etwas nicht paßte. Durch scharfes 
Anreden bei der ersten Bewegung dazu gelang es meistens, ihn davon 
abzubringen, oder durch strafende Worte ihn sofort zum Aufstehen zu be- 
wegen. Drollig war es anzusehen, als er einmal sich hinwerfen wollte, 
weil er der im Spiel von seinem Vater an ihn gerichteten Aufforderung 
nicht nachkommen mochte, und sich bezwang, als ich ihm näher kam. 
Ich sah zuckende Bewegungen in seinen Gliedern und seinem Körper 
nach dem Fußboden hin, und seine ganze Haltung hatte den Anschein, 
als ob es ihn nach unten zöge, aber er blieb stehen und ließ sich be- 
einflussen, weiter zu spielen. Wenn die Eltern ihn aufforderten, einen 
Gegenstand zu zeigen, wollte er es meist nicht tun. Durch Zureden in 
die Enge getrieben fand er einmal den Ausweg, mit meinem Finger das 
Ohr des Vaters zu zeigen, später zeigte er oft mit der Hand der Puppe. 
Wollte er in Wut in meine Hand beißen, weil ich ihn an der Hand hielt, 
kehrte ich sie schnell so, daß seine Finger vor seinen Mund kamen, 
dann biß er nicht zu, später biß er in seinen Ärmel. Die tadelnden 
Worte und die Unzufriedenheit, die er dann an meinem Umgang mit ihm 
merkte, konnte er sehr wohl von freundlichen Worten und freundlichem 
Umgang unterscheiden und hatte sie nicht gerne. 

Er bekam sein Essen nie, ohne vorher die Bittbewegung ausgeführt 
zu haben, die mit lautem deutlichen »bitte bitte« von mir begleitet wurde. 
War er in guter Stimmung, in der ich ihn stets zu erhalten suchte, machte 
er die Bittbewegung, oft weigerte er sich energisch. Ich nahm dann, 
auch wenn er heftig widerstrebte und schrie, ruhig seine beiden Hände, 
schlug sie aneinander und sagte »bitte bitte« dab&i; erst dann durfte er 
essen. Er gewöhnte sich schließlich daran, so um das Essen zu bitten, 
sagte auch bald dabei »habe« — bitte und weigerte sich nur ausnahms- 
weise. Weil er Freude daran hat, bekommt er zwei Äpfel mit in sein 
Zimmer. Er trägt sie viel mit sich herum, benennt sie, nimmt sie mit 
auf den Spaziergang und riecht nur daran, weil ihm verwehrt worden 
war, davon zu essen. Am zweiten Tage scheint er nicht widerstehen zu 
können, er beißt zaghaft und mit schuldbewußter Miene in einen Apfel 
und sieht mich dabei an, behält ein schuldbewußtes Aussehen, als ich ihn 
verwarne, und gibt die Äpfel ruhig ab. j 

Musikalische Anlage konnte ich bei ihm nicht finden, suchte 
ihn aber für Musik empfänglich zu machen durch das Vorsingen einfacher 
Lieder, die sich möglichst an ihm verständliche Vorgänge anschlossen, 
mindestens aber ihm bekannte Worte enthielten. Besonders gerne hörte er 


266 B. Mitteilungen. 





bald »Der Hans zieht seine Handschuh an, die Handschuh die sind 
rot« usw. Ich konnte dadurch seinen Unmut beim Anziehen, das er nicht 
gerne hatte, dämpfen. Eine Trommel hatte ich ihm in den ersten Tagen 
schon gegeben. Als er ein Ständchen mit Aufmerksamkeit von seinem 
Fenster aus angesehen und angehört hatte, bekam er eine Trompete. Sie 
ängstigte ihn, er nahm sie nicht und schrie, wenn man sie ihm geben 
wollte. Ich legte sie fort, damit er zur Ruhe kam. Am nächsten Tage 
beschäftigte ich mich mit der Trompete, um ihn an ihrem Anblick zu ge- 
wöhnen. An den folgenden Tagen tat ich das wieder, blies auch darauf. 
Als er Freude daran fand, forderte ich ihn zum Blasen auf. Er bemühte 
sich, es zu tun, bis es ihm gelang, und blies dann gerne, wenn er Lust 
dazu hatte. 

Seine Furchtsamkeit legte sich wenig. Er fürchtete sich, wenn 
der Wind an den Fensterladen rüttelte. Oft drückte er sich scheu an die 
Wand oder in eine Ecke und deckte die Hände über das Gesicht, weil 
ihn ein Geräusch erschreckt hatte. Bei ungünstigem Wetter schlief er 
schlecht ein und schrie lange, bevor er einschlief. Wenn jemand in das 
Zimmer kam, war er sofort still; er schien nicht allein bleiben zu wollen. 
Bei starkem Sturm aber, wenn man befürchten mußte, daß er aus Furcht 
nicht schlafen würde, schlief er ruhig und fest und ganz besonders gut. 
Er soll früher oft 3 Stunden hintereinander geweint haben, bis seine 
Pflegerin ins Zimmer kam und zu Bett ging. 

Ich suchte ihm begreiflich zu machen, daß ich das Schreien nicht 
leiden wollte, und daß er im Bett liegen bleiben und sich ruhig verhalten 
müßte, wenn er nicht schlafen könne. Er verstand es, besonders, da ich 
darauf bedacht war, daß stets eine Unannehmlichkeit für ihn damit ver- 
bunden war, wenn ich endlich doch in das Zimmer kam, weil er heftig 
schrie. Wenn er still geworden war, schlief er sofort ein. Jetzt noch, 
nach 3 Jahren, bleibt er nie allein im Zimmer: kommt es durch Zufall 
doch vor, schreit er heftig, sowie es ihm zum Bewußtsein kommt. Er 
schreit auch immer noch heftig auf, wenn er im Bett ist und der Regen 
gegen die Fenster schlägt. Schilt man ihn und sagt ihm, daß die Blumen 
und Bäume den Regen haben wollen, und er gleich schlafen soll, so 
ist er still. 

Obgleich er sich für Gummischuhe interessierte, schrie er ängstlich, 
wenn ihm seine Gummischuhe angezogen werden sollten, und geriet in 
höchste Erregung; hatte man sie ihm mit List unverhofft übergezogen, 
ließ er sich zureden, sie an den Füßen zu behalten. Einen Esel (manchmal 
auch anderes Spielzeug), den er am meisten in der Hand behielt, warf er 
oft plötzlich mit einem Schrei fort und war nicht zu bewegen, ihn wieder- 
zunehmen. Erst einige Stunden später oder am nächsten Tage nahm er 
ihn wieder. 

Als er Ende Januar geimpft wurde und danach etwas angegriffen 
war, ängstigte es ihn, wenn sich jemand unter den Tisch oder unter das 
Bett bückte, um den Ball aufzuheben. 

Seine große Ängstlichkeit war für meine Bemühungen, ihn an regel- 
wäßige Entleerung zu gewöhnen, sehr hinderlich. Wenn er irgendwie 


2. Beitrag zur geistigen Entwicklung eines dreijährigen Knaben. 267 


verängstigt war, am meisten durch Geräusch, das der Wind verursachte, 
konnte er keinen Urin lassen. Einmal soll er während einer Tagesreise 
in der Eisenbahn trotz vieler Bemühungen von früh morgens bis spät 
abends, als er im Bett zur Ruhe gekommen war, keinen Urin gelassen 
haben. 

Sein Erinnerungsvermögen schien nur zum Wiedererkennen von 
Dingen, Tätigkeiten und Worten auszureichen. Ich bemühte mich, die Er- 
innerung an Erlebnisse und Beobachtungen in ihm festzuhalten. Mitte 
Dezember gelang dies zum ersten Male. Er interessierte sich für ein 
Auto und hatte Zuneigung zu seinen Eltern und zu seinem Bruder. Als 
ich hörte, daß seine Eltern mit seinem Bruder im Auto fortfahren wollten, 
bat ich sie, recht langsam nacheinander einzusteigen, damit Hans es gut 
beobachten könnte. Ich stellte mich mit ihm abseits an einen ruhigen 
Platz und ließ ihn das Auto beobachten. Als er bemerkte, daß die Mutter 
einstieg, sagte ich: »Die Mama geht in das Auto«, als er den Vater ein- 
steigen sah: »der Papa geht in das Auto«, als der Bruder einstieg: »Nicki 
geht in das Auto, fort fährt das Auto« und ließ ihn ruhig stehen, so 
lange er nach der Richtung sah, in der das Auto verschwunden war. In 
der ersten Stunde danach erinnerte er sich an den Vorgang draußen, 
wenn ich mit denselben Worten, die er beim Beobachten gehört hatte, zu 
ihm davon sprach. Er bekam einen aufmerksamen Gesichtsausdruck und 
schien zuzuhören, wandte sich auch nach der Stelle um, wo das Auto ge- 
standen hatte. Im Zimmer gelang es gleich darauf nicht, ihn an den 
Vorgang zu erinnern; ganz verständnislos saß er da, ebenso am nächsten 
Tage draußen. 

Auf dem Landgut der Eltern machte ich oft mit ihm Wanderungen 
durch den Hof, ließ ihn die Tiere beobachten und den Hühnern Brotkrümel 
streuen. Er hatte es gerne, wenn ich in den Kuhstall ging, die Kuh 
streichelte, ihm Schwanz, Horn, Augen usw. zeigte und mich so mit ihm 
unterhielt. Er schob mich in den Stall hinein, damit ich es tun sollte, 
war aber nicht zu bewegen, mit hineinzukommen. Er ließ sich höchstens 
auf die Schwelle locken, wo er in großer Angst einige Minuten stehen blieb. 

Am Abend unterhielt ich mich mit ihm über den Vorgang, der am 
meisten Eindruck auf ihn gemacht hatte, mit denselben Worten, die er 
beim Beobachten gehört hatte; meistens wurde er aufmerksam. Anfang 
Januar scheint er meine Worte zu verstehen und sich lebhaft an den 
Vorgang zu erinnern. Er ist sehr aufmerksam, als ich ihm von dem 
Hund erzähle, den er schon mehrmals gesehen hat; bei den Worten: »die 
Tante ruft den Wau-Wau, komm komm«, klopft er mit der Hand auf sein 
Bein, wie ich es beim Rufen getan hatte. Bei solcher Gelegenheit zeigte 
sich später auch sein Nachahmungstrieb. Wir streuten oft Brotkrumen 
für eine Taube und beobachteten, wie sie sie aufpickte; dabei hört er 
jedesmal das Wort »pick«. Zu Haus nahm er dann die Taube oder Ente 
aus seinem Spielzeug, hielt sie mit ihrem Schnabel an den Fußboden und 
sagte: »Kick« (pick). Am 5. Januar kehrte die Familie in die Stadtwohnung 
zurück. Hans erinnert sich an die alte Umgebung und weiß, an welchem 
Platz sich hier die verschiedenen Gegenstände befinden, auch die, die er 


268 B. Mitteilungen. 








nicht sehen kann, weil sie im Schrank oder im Schubfach ihren Platz 
haben. Alle Gegenstände in der Wohnung sieht er sich genauer an als 
früher und zeigt große Lust, sie zu benennen. Mitte Februar kann er 
sich noch am nächsten Tag an sein Erlebnis erinnern und beteiligt sich 
an der Unterhaltung darüber. Als ich ihm und seiner Mutter erzählte: 
»Die Tante gibt dem Vogel Brot; der Vogel kommt, holt das Brot mit 
dem Schnabel«, erzählte er mit: »hoch« und zeigt nach oben; er meinte, 
der Vogel fliegt hoch mit dem Brot auf den Baum. 

Die gewonnene Farbenvorstellung wurde weiter entwickelt durch 
Übungen im Unterscheiden und Wiedererkennen der Farben. Durch die 
großen farbigen Papierbogen war er auf die Farben aufmerksam geworden 
und hatte rot, zuweilen auch gelb wiedererkannt und bevorzugt; am 22. Januar 
bekommt er die Pieperschen Farbentafeln. Die grüne Tafel fällt ihm auf, 
weil grün unter seinen farbigen Papierbogen nicht gewesen ist. Er inter- 
essiert sich einige Tage besonders dafür, zeigt die Farbe oft und läßt 
sie sich benennen. Am 25. Januar wird er aufgefordert, durch Ver- 
gleichen die ihm vorgezeigte Farbe wiederzufinden. Er findet schwarz 
und gelb wieder, die anderen Farben nicht. Am 19. Februar sucht und 
zeigt er mit Bewußtsein dieselbe Farbe. Die Übungen werden ihm schwer, 
gewöhnlich kann er nur die ersten zwei bis drei Farben richtig zeigen. Er 
kann aber auch, ohne zu vergleichen, wenn auch noch unsicher, die ge- 
wünschte Farbe zeigen und einige Farben benennen. Auch sein Formen- 
sinn entwickelt sich. Am 10. Dezember nennt er im Uhrkästchen den 
runden Behälter für die Taschenuhr ki-ki-ticktack. Eine kleine runde 
Blechschachtel nennt er auch tick-tack. Die kreisrunde Form war für ihn 
das Merkmal für Uhr. 

Er wird auf den Irrtum aufmerksam gemacht. Die Uhr, die in den 
Behälter hineingehört, wird ihm gezeigt, er hört ihr Ticken. Die Blech- 
schachtel wird mit der Uhr verglichen, er bemerkt, daß sie nicht tickt; 
sie wird Schachtel genannt, geöffnet, und es wird ihm der Inhalt gezeigt. 

Für Bauformen zeigt er bald Verständnis. Anfang Januar baute ich 
ihm aus großen Bauklötzen eine Treppe und ließ die Puppe von Stufe 
zu Stufe hinaufgehen, dabei »tapp-tapp« sagend, wie es auch geschieht, 
wenn er selbst die Treppe hinaufgeht. Er erkennt die Treppe, findet 
Freude an dem Spiel, läßt oft die Puppe oder einen kleinen Hund die 
Treppe hinauf und hinunter gehen und sagt auch dabei »papp, papp«, 
tapp, tapp. Auch einen Stuhl läßt er sich gern bauen, versucht auch 
selbst, ihn zu bauen, er setzt seine Puppe auf den Stuhl und gibt ihr zu 
trinken. Sagt man zu ihm, »wollen wir einen Stuhl bauen?« holt er die 
Klötze aus dem Schubfach. s 

Durch das Bauen verbessert sich seine Handgeschicklichkeit, besonders, 
weil dabei bestimmte Handgriffe geübt werden, die die Hand im Gelenk 
beweglicher und zum richtigen Halten des Löffels beim £ssen geschickt 
machen sollten; denn Hans konnte bisher den Löffel nur halten, wenn er 
ihn nach Art ganz kleiner Kinder mit der ganzen Hand umfaßte Auch 
ließ ich ihn zur Erlangung größerer Handgeschicklichkeit einen kleinen 
Ball, den ich zu ihm rollte, mit beiden Händen fangen. Er mußte sich 


2. Beitrag zur geistigen Entwicklung eines dreijährigen Knaben. 269 





dabei Mühe geben, die Handgelenke zusammen und die Finger auseinander 
zu halten. Das Perlenreihen fällt ihm jetzt nicht mehr so schwer. Er 
kann 6 bis 8 Perlen hintereinander aufreihen, jedoch ist er bei der Arbeit 
leicht abgelenkt. 

Sein Sprachverständnis nimmt zu. Er versteht und befolgt die 
Aufforderung an einen bestimmten Platz zu gehen, Milch auszutrinken, 
spazieren zu gehen, baden zu kommen usw., beantwortet die Fragen: Wem 
gehört der Hut, wo soll der Bär hinfahren? 

Er fängt auch an, sich durch die Sprache zu verständigen und einen 
Gedanken in zwei Worten auszudrücken. Am 8. Februar sieht er die 
Stiefel seines Vaters stehen, die ihn immer interessieren. Es ist ihm oft 
gesagt worden: Für den Papa sind die Schuhe; heute sagt er »ua Papae. 
Früher schon sagt er »Mamma Tisch«, als er das Bild seiner Mutter auf 
dem Tisch sah, »da-ba«, als er den Ball aufhob, und »da-ba« als er das 
Halsband des Bären zeigte. 

Am 13. Februar kommt er auf dem Spaziergang in die Nähe der 
Bahn, sagt wiederholt »ba« und zeigt den Weg zur Bahn. Er zeigt 
Freude, als ich ihn frage: »Willst Du zur Bahn gehen?«, mit ihm umkehre 
und in den Weg einbiege. Am 17. Februar ıuft er zur großen Freude 
der Eltern »Papa«, wenn er den Vater, und »Mama«, wenn er die Mutter 
sprechen hört. Am 19. Februar sagte er auf dem Spaziergang wiederholt 
zu mir »ba«, als er zur Bahn gehen will. Er sieht sein neues Pferd auf 
dem Schrank stehen, macht die Bittbewegung und sagt »hü«; bisher hatte 
er dies nicht getan, auch wenn man sich unwissend stellte und fragte: 
was möchtest Du haben? Sein Wortschatz vergrößert sich beständig, er 
fängt an, auch dreisilbige Wörter zu beachten. Mitte Januar läßt er sich 
gerne Opapa und Gummischuh vorsprechen, spricht bald Opapa deutlich 
nach und versäumt seitdem nie, »Opapa« zu sagen, wenn er einen alten 
Herrn sieht. Das Wort »Gummischuh« gelingt ihm nicht so gut, er sagt 
zuerst »gu gu«, dann »>gu gu gu«. Wenn der Ball rollt, sagt er jetzt 
nicht mebr »kuu«, sondern »ku ku ku« für »kululue.. Am 1. Februar 
spricht Hans mit richtiger Anwendung außer den früher schon angeführten 
Wörtern: 


hu hu wenn der Wind heult 
tu tu tut tut für blasen 
Ei, undeutlich wie ä 
ho Horn 
ho Hose 
ge Tee 
ki Kind 
: Opapa 


gu gu gu Gummischuh 
tisch oder schisch Fisch 


Tisch 
au aus, ausgezogen 
auch aup auf 


bi ba bim bam 


270 B. Mitteilungen. 


päbe Perle 
aue Auge 
tede Teller 
opp hopp hopp 
popp klopf 
ba Band 
ba Bank 
ba Bart 
ba Bahn (früher schon ba Ball) 


Vom 1. Februar bis 20. Februar erwirbt er noch zu seinem Sprach- 
schatz hinzu: 


be be Besen 

ta te Tante 
hug Fuß 

obe oben 

gu oder guß Stuhl 

da de Wagen 
dada Anna 
huhuhu Fingerhut 
uppes Suppe. 


Wenn er sprachlustig ist, benennt er auch noch andere Dinge mit 
dem Anfangslaut und wieder andere unverständlich und fast jedesmal 
anders. Er ahmt auch die Tierstimmen richtig nach, wenn man ihn fragt: 
wie sagt der Hund, das Schwein usw. 

Am 20. Februar 1910 verließ ich Hans, um ihn 9 Wochen später 
zur weiteren Erziehung ganz in meine inzwischen gegründete Erziehungs- 
anstalt in Hermsdorf i/M. aufzunehmen, wo er weiter beständig Fortschritte 
macht. Jetzt, 3 Jahre später, hat Hans einen sicheren, aufrechten Gang, 
der Körper hat normale schlanke Figur bekommen; die Größe des Kopfes 
steht im richtigen Verhältnis zum Körper, nur die Waden sind noch sehr 
dünn. Die Augenbrauen sind nicht gewachsen, der Kopf ist ganz mit 
eigentümlichem krausen Haar bedeckt. Er kann im Schritt marschieren, tritt 
auf Kommando an und steht auf Kommando still, marschiert auch gerne 
im Takt eines Liedes, Er ist geschickt genug, sich aus- und anzuziehen 
bis auf das Zuknöpfen der Kleider. Leider läßt er sich von seiner Arbeit 
durch jedes Geräusch oder Bewegung eines anderen Kindes ablenken, oder 
er verliert sich in sein Phantasiespiel. Er hat sehr viel Phantasie: die 
Gegenstände verwandeln sich oft 3 bis 4 mal im Laufe einer !/, Stunde 
zu dem was er für sein Phantasiespiel im Augenblick grade gebraucht. 

Er hat Freude am Gesang, singt die Melodien seiner Lieblingslieder 
richtig, und bemüht sich jetzt auch den Text richtig mitzusingen. 

Die Sprache entwickelt sich schwer und langsam, Hans spricht noch 
sehr undeutlich und im Telegraphenstil, gebraucht aber schon Dingwörter 
in der Mehrzahl, Tätigkeitswörter in ihren Biegungen, und bemüht sich, 
die persönlichen Fürwörter richtig anzuwenden. Die Wörter: Auch, gleich, 
uns wurden in den letzten Wochen von ihm bevorzugt. Ruft man ihn, 


3. Bemerkungen zu den Besprechungen Majorscher Schriften. 271 





so antwortet er: »ja, deiche — ja gleich. Sieht er mich schreiben, 
so fragt er, ob ich an die Eltern schreibe, daß sie zu uns kommen 
möchten: »Mama pommen us? — ja? — Papa auch?« Er legt aus drei 


bis 4 Stäbchen einfache Formen, die er auch zeichnet, wenn man ihm 
durch einen Punkt die Richtung der Linie angibt, die er dann achtsam 
zum Punkt führt. 

Gern ahmt er das Briefschreiben an die Eltern nach, läßt sich dabei 
die Hand führen und erkennt das Schriftbild seines Namens. 

Das Kind, das mit 3 Jahren 8 Monaten keinen Gegenstand, nicht 
einmal seine Pflegerin erkannte, nähert sich immer mehr der wenn auch 
erheblich verlangsamten Entwicklungsweise des normalen Kindes, und es 
ist jetzt, im Alter von 6 Jahren 8 Monaten gute Aussicht vorhanden, daß- 
es auch Lesen und Schreiben lernt. 


3. Bemerkungen zu den Besprechungen Majorscher 
Schriften in dieser Zeitschrift, Jg. XVII, Heft 9 u. 12. 


Obwohl es nicht Gepflogenheit ist, daß Autoren besprochener Bücher 
sich gegen diese Besprechungen in unserer Zeitschrift zur Wehr setzen, 
glauben wir doch, unseren Lesern die folgende Entgegnung des Herrn 
Gustav Major nebst dem Begleitbrief nicht vorenthalten zu sollen. Wir 
geben beides in wortgetreuem Abdruck wieder — abgesehen von den 
zahlreichen Schreibfehlern — und bemerken unsererseits nur: es hat uns 
bereits lange vor der Annahme von Rössels Besprechung eine Kritik des 
Majorschen Buches »Unser Sorgenkind« vorgelegen, die von medizinischer 
Seite verfaßt war und das Buch in äußerst scharfer Weise ablehnte, und zwar 
in einer so scharfen Weise, daß wir diese Besprechung ablehnten. Rössels- 
Besprechung ist mit einem solchen Fleiße und mit solcher Gewissenhaftig- 
keit und Sachlichkeit gearbeitet, daß für uns kein Grund bestand, sie 
nicht aufzunehmen, zumal wir es immer für eine unserer vornehmsten 
Aufgaben gehalten haben, die Interessen der Heilpädagogik nach Kräften: 
zu wahren. Diese Interessen wurden aber durch Herrn Major bedroht. 
— Daß wir den Ton, den Herr Major in seiuer Antikritik anzuschlagen 
beliebt, nicht billigen, versteht sich von selbst. Er mag also hierin selbst 
das Urteil über sich sprechen. Im übrigen verweisen wir die Leser noch 
auf Herrn Majors »Eingesandt« in der »Zeitschrift für die Behandlung 
Schwachsinniger« (Jahrg. XXXIII, Heft 2, S. 383—40) und auf die treff- 
liche Erwiderung, die es dort durch Dr. med. Meltzer gefunden hat. 


Jena. Die Schriftleitung 
der Zeitschrift für Kinderforschung. 


Wir bemerken zu den Ausführungen des Herrn Gustav Major, daß 
auch wir »die sonst übliche Gewohnheit« haben, Belegexemplare abzugeben, 
die wir den Verlegern der besprochenen Werke zuzustellen pflegen. 

Langensalza. Der Verlag 
der Zeitschrift für Kinderforschung 
Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann). 


272. B. Mitteilungen. 


Berlin-Seehof, den 9. Febr. 1913. 


Herrn Direktor J. Trüper 
Jena. 

Anruhend gestatte ich mir höflichst, Ihnen eine Entgegnung zu den 
Kritiken der Herren Rössel und Wilker zum freundlichen Abdruck zu über- 
senden in der Annahme, daß es nicht in Ihrer Absicht liegt, unsachliche 
und unanständige Beurteilungen durch Ihre Zeitschrift zu verbreiten. 
Gleichzeitig erkläre ich, daß ich auf weitere persönliche Äußerungen der 
Herren nicht erwidern werde. 

Hochachtend 


Gustav Major. 


Zu den Kritiken der Herren Rössel und Wilker in dieser Zeitschrift, 
17. Jahrgang, Juni- und September-Heft. 


Man wird sich wohl wundern, daß ich erst jetzt gegen diese an- 
maßenden, unsachlichen, leichtfertigen (Rössel) und persönlichen und den 
Anforderungen des Anstandes nicht entsprechenden (Wilker) Kritiken 
Stellung nehme. Doch das hat seine Gründe. Ich lese die Zeitschrift 
für Kinderforschung nicht, und der Verlag hat nicht die sonst übliche 
Gewohnheit, Belegexemplare abzugeben, so daß ich von den Kritiken keine 
Ahnung hatte. Am 21. Juni 1912 sandte mir ein Ausschnittbüro die 
Kritik von Rössel zu mit dem Bemerken, die sei in der Zeitschrift für 
Philosophie und Pädagogik erschienen. Ich schrieb sofort eine Entgegnung 
für diese Zeitschrift, die selbstverständlich nicht erscheinen konnte, dieweil 
die Kritik nicht in dieser Zeitschrift erschienen war. Meine Entgegnung 
erhielt ich nicht zurück. Jetzt machten mich die Redakteure einer neuen 
Zeitschrift auf beide Kritiken aufmerksam, weil sie glaubten, unter diesen 
Umständen keine Arbeiten von mir annehmen zu können, ein Standpunkt, 
den ich nicht verstehe, da doch jeder Redakteur sich sein eigen Urteil 
bilde. So wurde ich gezwungen, die Herren um Überlassung dieser 
Kritiken zu bitten, worauf ich nun jetzt erwidere. 

Ich gebe die Entgegnung zur Kritik des Herrn Rössel wörtlich wieder, 
wie ich sie gleich im Juni v. J. schrieb. 

Herr Rössel hat sich in sehr eingehender Weise mit meinem Werk 
beschäftigt. Daß er zu einer ablehnenden Kritik kommt, ist seine persön- 
liche Angelegenheit, doch darf er nicht glauben, daß er dadurch den Wert 
oder Unwert meines Buches auch nur um ein Jota verschieben wird. Es 
ist wohl ein seltener, vielleicht noch nicht dagewesener Fall, daß ein 
junger Mann, der sich erst einige Jahre mit der Psychopathologie be- 
schäftigt, glaubt, sein Urteil sei allein richtig, und die andern Herren, 
gegen 50, die alle schon mit anerkanntem Erfolg im Spezialgebiete tätig 
sind, seien urteilsunfähig. 

Unsachlich und bodenlos leichtfertig geht H. Rössel in seiner Be- 
urteilung vor, dafür nur drei Beispiele: 

1. H. Rössel führt auf Seite 439 in der Fußnote ein Urteil über 
eine frühere Publikation von mir an, die das Anhängen der Sommerschen 


3. Bemerkungen zu den Besprechungen Majorscher Schriften. 273 





Fragebogen ohne Autornennung rügt, unterläßt aber die Erklärung von 
Prof. Sommer und mir anzufügen, welche die Aufnahme der Fragebogen 
als vom Redakteur Prof. Meumann vollzogen, feststellt; 

2. stellt H. Rössel fest, daß die Zeichnung zu dem Kapitel Kinder- 
lähmung ohne Quellenangabe von Hoffa übernommen sei. Dabei steht 
unter der Zeichnung »nach Hoffa«, und weiter »die einleitenden Be- 
merkungen seien von Hoffa übernommen, diese Zeitschrift 6. Jahrgange, 
und ich kenne diese Publikation nicht; 

3. soll ich bei dem Kapitel über psychopathische Konstitution Stroh- 
mayer benutzt haben, was wohl schon deshalb unmöglich ist, weil meine 
Arbeit fertig war, als Strohmayer mir zu Gesicht kam, ja vielleicht war 
Strohmayer damals noch gar nicht erschienen. 

In gleicher Weise könnte ich alle Einwände widerlegen, unterlasse 
es aber im Interesse der Leser, die an so persönlichen Sachen nicht Ge- 
fallen finden werden gleich mir, und in Ansehung der Tatsache, daß mein 
Werk überall beste Aufnahme gefunden hat, was sogar H. Rössel zu- 
gestehen muß. Nur von zwei Kritikern habe ich ablehnende Beurteilungen 
bekommen (der eine ist H. Wilker!!!!), und mit diesen Kritikern geht 
H. Rössel in seiner Kritik parallel, was die Annahme gewisser Zusammen- 
arbeit aus irgend welchen, mir gleichgültigen Interessen, nahelegt!!!!! 
Ich erkläre auf das Bestimmteste, daß ich bei meiner Ausarbeitung nicht 
einmal Ziehen (Die Geisteskrankheiten des Kindesalters) benutzt habe, 
daß ich aber lange Jahre vorher Ziehens Werk, als bestes auf dem Spezial- 
gebiete, meinen Studien und meinen vielen Untersuchungen zugrunde ge- 
legt habe. Die Einteilung nach Ziehen ist so gebräuchlich, daß niemand 
mehr daran denkt, den Autor zu nennen. 

Die Ansicht, »daß man vielfach von Plagiaten reden kann«, weise 
ich ebenso höflich als bestimmt zurück, und ich würde andere Schritte 
unternehmen, wenn die Kritik des H. Rössel ernst zu nehmen wäre, und 
nicht überall eine grenzenlose Leichtfertigkeit und ein subjektives Urteil 
einem entgegenleuchtet, was die Kritik an sich schon charakterisiert und 
werte. Wie weit ich mich auf dem Grenzgebiet, soweit die Medizin in 
Frage steht, als auf »ureigenstem Gebiet« bewege, entzieht sich allerdings 
H. Rössels Beurteilung, doch ist es eine unqualifizierbare Anmaßung eines 
jungen Mannes, meine Kenntnisse in Zweifel zu ziehen. Hier liegt der 
Schwerpunkt seiner Kritik, von dieser Warte aus ist sie zu werten. 

Recht hat H. Rössel in bezug auf die Fehler im Stil und Interpunktion. 
Leider konnte ich die Korrektur nicht immer selbst lesen. Doch in der 
nächsten Auflage sollen diese Mängel beseitigt werden, welche doch den 
Wert des Werkes 'an sich nicht beeinträchtigen. 

Soweit die alte Entgegnung, ich habe jetzt nur noch hinzuzufügen, 
daß H. Rössels persönliche Triebfeder auch darin zum Ausdruck kommt, 
daß er auf frühere Publikationen zurückgreift und überdies falsch be- 
richtet. (Absichtlich?) 

Die Wilkersche Kritik ist subjektiv und hat daher auch keine 
Beweiskraft, sie ist dazu »unanständig«e, denn mit welchera Rechte darf 


Zeitschrift für Kinderforschung, 18. Jahrgang. 18 


974 B. Mitteilungen. 





jemand einen andern verdächtigen? Wie kommt H. Wilker dazu, mir die 
Ankündigung meiner Schrift im Diedrichschen Verlage!) unterschieben zu 
wollen? Wenn der Verlag davon nichts weiß und ich auch nicht, so liegt 
doch der Gedanke zwingend und greifbar nahe, daß ein Dritter im Spiele 
ist, sobald es sich um meine Person handelt!!! 

Keinem Menschen, außer H. Wilker, fällt es ein, zu behaupten, daß 
es literarisch unanständig sei, wenn man Erkenntnisse, die Allgemeingut 
geworden sind, weitergibt ohne Nennung des Autors; dazu ist meine 
Arbeit ein wörtlicher Abdruck eines Öffentlichen Vortrages, der (höre 
H. Wilker) sehr beifällig aufgenommen wurde und der großes Interesse 
weckte. 

Entschieden unerlaubt und »unanständig« ist es, die Kenntnisse eines 
andern auf Grund eines Druckfehlers in Frage zu stellen. Witzchen und 
Mätzchen wirken nie überzeugend und sind wissenschaftlich unzulässig. 


Als Gegenstück zu den beiden Kritiken der genannten Herren sei es 
mir gestattet, kurz aus einer andern Kritik eines allgemein bekannten und 
wissenschaftlich geachteten Mannes ein Urteil anzuführen, das diese Kritiken 
schön kennzeichnen und entkräften wird (persönliche Ruhmrederei traut 
man mir wohl in dieser Sache nicht zu, wo es sich um Klärung der 
Sachlage handelt. »Major ist nicht Arzt, wie man vermeinen sollte, 
wenigstens kein studierter, aber wenn man diese seine Werke durchgeht, 
hat man das Empfinden, als ob er den Arzt einfach übersprungen habe, 
um sogleich bei der Hochschuldozentur zu landen.e — — — Auf der 
einen Seite ein Flachkopf und gedankenarmer Mensch, der sich mit fremden 
Federn schmückt, auf der andern Seite ein Mensch zur Hochschuldozentur 
geeignet. Ich glaube, beide Teile übertreiben, die Wahrheit liegt auch 
hier in der Mitte. 

Gesetzt Wilker und Rössel hätten recht, so müßten alle andern 
Kritiker — Pädagogen, Heilpädagogen, Mediziner, Sozialpolitiker und 
Journalisten — in Deutschland, Österreich, Schweiz und Amerika, die 
mein Werk anerkannten, Schwachköpfe und urteilsunfähige Männer sein 
und nur die Herren Wilker und Rössel hätten die Intelligenz auf unserm 
Gebiete in Pacht. 

Ich bedauere im Interesse der Sache, daß genannte Herren ihre Zeit 
nicht besser anwenden zum Besten der Kinder, und erkläre ausdrücklich, 
daß ich hiermit meinerseits die Angelegenheit als erledigt ansehe, da ich 
meine Zeit nutzbringend anwenden will, kann und muß. Objektiven 
Urteilen und Entgegnungen weiß ich stets Dank, wo aber persönliche 
Motive mitsprechen, habe ich keine Zeit. Ich weiß überhaupt nicht, was 
mir die Ehre verschafft, daß sich die beiden genannten Herren so intensiv 
mit mir beschäftigen? Wollen sie der Sache an sich dienen, so darf ich 
sachliche Erörterungen erwarten und dann stehe ich wieder zur Disposition. 

Gustav Major. 


1) Gemeint ist Eugen Diederichs Verlag in Jena. K. W. 


3. Bemerkungen zu den Besprechungen Majorscher Schriften. 275 





Als ich beim Lesen des Buches »Unser Sorgenkind« mir über ver- 
schiedene Punkte Klarheit verschaffen wollte, zog ich, da Major keine 
Quellen angibt, die Bücher von Ziehen zum Nachschlagen heran. Da 
fielen bald merkwürdige Übereinstimmungen auf, die ganz von selbst zu 
weiteren Vergleichunger führten, aus denen dann schließlich mein Referat 
entstehen mußte. Rein sachliche Gründe waren es also, die mich zu 
dieser Arbeit führten. Die ablehnenden Kritiken von Dr. Wilker (Frank- 
furter Zeitung) und Dr. Meltzer (Zeitschr. für die Behandlung Schwach- 
sinniger) kamen mir erst zu Gesicht, als ich mitten in meinen Ver- 
gleichungen war und sie schon nahezu abgeschlossen hatte. Die Unter- 
schiebung von »persönlichen Sachen, persönlicher Triebfeder, persönlichen 
Motivene muß ich aufs Bestimmteste und Schärfste zurückweisen. 
Jeder Autor sollte es aber mit Freuden begrüßen, wenn sich andere mit 
seinen Werken ernsthaft beschäftigen. 

Nach Ausschaltung alles Persönlichen bleiben noch die drei ange- 
führten Beispiele übrig. 

I. Die Erklärang von Prof. Sommer und Major war mir bei der Ab- 
fassung meines Referates noch nicht bekannt. Sie lautet: »In der Be- 
sprechung über G. Majors Schrift ‚Die Erkennung und Behandlung des 
jugendlichen Schwachsinns‘ hat E. Nathan (vergl. Bd. V, Heft 1 dieser 
Zeitschrift) beanstandet, daß bei den abgedruckten Schematen der Name 
des Autors (Sommer) nicht genannt ist. 

Die Unterzeichneten erklären hierzu folgendes: 

1. Nathans Angabe ist richtig. 

2. Ein absichtliches Plagiat liegt nicht vor, sondern es handelt sich 
um ein Versehen, das sich aus der Entstehung der Schrift erklärt. 
Dieselbe war vorher in Meumanns Zeitschrift für experimentelle 
Pädagogik abgedruckt, wo ihr die betreffenden Schemata bei- 
gegeben wurden. Diese sind dann in der Broschüre ohne weiteres 
mit abgedruckt worden. 

3. Die Angelegenheit ist hierdurch erledigt. 


Sommer. Major. 
(Klinik für psychische und nervöse Krankheiten V. Bd., 3. Heft, 1910).« 


Im übrigen berührt diese Angelegenheit meine Kritik nicht im Ge- 
ringsten. 

Soeben erhalte ich die Februarnummer der Zeitschrift für die Behand- 
lung Schwachsinniger, in der H. Major auf die Rezension von Dr. Meltzer 
antwortet. Da findet sich in der Majorschen Entgegnung folgender Satz 
S. 39): 

»Nur eine Ausstellung M.s’ (Meltzers) besteht zu Recht, die der 
unterlassenen Bekanntgabe der Sommerschen Autorschaft in bezug auf 
die Fragebogen. Doch trifft mich dieser sein Vorwurf nicht in seiner 
ganzen Schwere, da die Fragebogen von Prof. Meumann angehängt 
worden sind, als die Arbeit erschien, ich habe es dann leider übersehen, 
in dem Sonderdruck die Quelle anzugeben, weil der alte Satz einfach 
verwendet worden ist.« 

18* 


276 B. Mitteilungen. 





Was also H. Major selbst als »zu Recht« bestehend zugibt, hindert 
ihn nicht, daß er mich derselben Sache wegen als »unsachlich und bodenlos 
leichtfertig« bezeichnet, daß er darin bei mir »eine persönliche Triebfeder« 
und eine »falsche Berichterstattung (absichtlich?)« erkennt. 

Hört nicht angesichts solcher Tatsachen eine ernsthafte Diskussion auf! 

II. Die einleitenden Ausführungen über Kinderlähmungen sind im 
Sorgenkind (S. 98—100, ohne Quellenangabe) und in der Broschüre: 
Die Erkennung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns (S. 2—4) 
dieselben. Ich schrieb nun: Die einleitenden Bemerkungen wurden ent- 
nommen von Hoffa, diese Zeitschrift VI, S. 193.1) Dazu bemerkt jetzt 
Major: »und ich kenne diese Publikation nicht«. Aber er kannte 
sie. In genannter Broschüre, also bei den wörtlich übereinstimmenden 
Ausführungen wie im Sorgenkind, steht S. 4: »Im Vorstehenden haben 
wir uns an eine Arbeit von Prof. Hoffa angelehnt, welche in der 
Zeitschrift für Kinderforschung 1901 erschienen ist und das für unsere Zwecke 
Notwendige mitgeteilt.«e Aber Herr Major! 

Unter der Zeichnung steht wohl »nach Hoffa«, aber nicht, daß sie 
der Zeitschrift für Kinderforschung entnommen wurde. 

III. Prof. Strohmayers Buch erschien früher als das Sorgenkind. In 
Hinrichs Katalog ist Strohmayers Buch schon als im Jahre 1909 er- 
schienen angegeben. 

Ob es möglich ist, daß jemand in seinem Buche mit anderen Büchern, 
die er lange Jahre vorher seinen Studien zugrunde legte, in den von mir 
gegebenen Gegenüberstellungen und Angaben so übereinstimmen kann, 
möge jeder Leser an der Hand meines Referates selbst entscheiden. 

Nun bitte ich noch die Leser auf Grund meines Referates (Juni 1912) 
und dieser Erklärungen zu prüfen, ob der junge Mann 

anmaßend, unsachlich, leichtfertig, bodenlos leichtfertig war, ob er sieh 
grenzenloser Leichtfertigkeit schuldig machte, wo er sich unqualifizierte 
Anmaßungen erlaubte, wo persönliche Triebfedern, persönliche Motive, 
falsche Berichterstattung (absichtlich?) zum Ausdruck kommen. 

Diese Tonart einzuschätzen und zu entscheiden, was ernst zu nehmen 
ist, mein Referat oder die Entgegnung des Herrn Major, darf ich wohl 
ebenfalls dem Leser überlassen. Mit weiterem sachlichen Material zur 
Beurteilung des Buches »Unser Sorgenkind« kann ich noch dienen. 

Hamburg. Fr. Rössel. 


Da Herr Major sich mit mir nicht in sachlicher, sondern in rein 
persönlicher Weise auseinandersetzt, kann ich mir eine Entgegnung voll- 
ständig ersparen. Ich betone nur noch ausdrücklich, daß es einem denken- 
den Leser nicht verborgen geblieben sein kann, daß ich mit dem ersten 
Satze meiner Besprechung nicht im geringsten gegen den Autor des Buches 
einen Vorwurf erhoben, sondern nur eine Tatsache festgestellt und als 
etwas, was nicht vorkommen darf, charakterisiert habe. 


1) Auch erschienen als Heft IV der »Beiträge zur Kinderforschung und Heil- 
erziehung« unter dem Titel: »Die medizinisch -pädagogische Behandlung gelähmter 
Kinder« von Prof. Dr. A. Hoffa in Würzburg. Mit einer Tafel. 16 S. Preis 40 Pf. 


4. Aufruf betreffend Sammlung von Fragebogen, Führungslisten usw. 277 





Ich kenne Herrn Major nicht. Er geht mich nur insoweit an, als 
wir auf ein und demselben Gebiete wissenschaftlich arbeiten. Daß ich 
mich bemühe, auf diesem meinen wissenschaftlichen Arbeitsgebiete nach 
Möglichkeit gesunde Zustände herbeizuführen oder doch herbeiführen zu 
helfen, wird mir kein Mensch verbieten und verargen können. 

Jena. Karl Wilker. 


4. Aufruf betreffend Sammlung von Fragebogen, 
Führungslisten, Individualitätsbogen u. dergl., die in 
Schulen verwandt werden. 

Eine eben erst wissenschaftlich begründete psychologische Methode, 
die Psychographie, dürfte für den Erzieher große Bedeutung ge- 
winnen. Das Interesse des Psychographen geht nicht auf das Allgemein- 
Gültige, sondern auf das in seiner Eigenart immer nur einmal existierende 
Individuum; es betätigt sich in einer Seelenanalyse, die alle an dem zu 
untersuchenden Individuum empirisch feststellbaren psychischen Funktionen 
und Eigenschaften zu bestimmen sucht — und zwar ist diese Analyse 
orientiert am psychographischen Generalschema, d. h. einer »nach über- 
sichtlichen Einteilungsprinzipien geordneten Liste aller derjenigen Merk- 
male, die für die Erforschung von Individualitäten möglicherweise in Be- 
tracht kommen können«. Die Psychographie bietet dem Lehrer ein neues 
Hilfsmittel zur Lösung seiner ebenso schwierigen, wie wichtigen Aufgabe, 
in der rechten Weise zu individualisieren. 

Es ist nun gegenwärtig eine wissenschaftliche Untersuchung im Gange, 
welche die Beziehungen zwischen der neuen psychographischen 
Methode und der pädagogischen Praxis zum Gegenstande hat. Zu 
diesem Zweck erscheint eine Sammlung der Fragebogen, Listen, 


Schemata usw. notwendig, die bereits in Schulen — und zwar nicht 
nur Schulen für Minderbefähigte oder Mindersinnige, sondern auch in 
Normalschulen — ferner auch in Internaten usw. Verwendung finden oder 


gefunden haben bei Abfassung von Schülercharakteristiken, Schüler- 
oder Individualitätsbildern, Führungsattesten u. dergl. Es er- 
geht daher an alle diejenigen, denen solche Listen zur Verfügung stehen, 
die dringende Bitte, Probeformulare — wenn möglich von jeder Sorte 
zwei — einzusenden mit der Angabe, wo die Listen benutzt werden 
oder wurden. Die übersandten Exemplare werden nach Beendigung der 
beabsichtigten Arbeit in der ständigen Ausstellung des unterzeichneten 
Instituts, die der Deutschen Unterrichtsausstellung (Berlin, Friedrichstr. 126) 
angegliedert ist, gesammelt und Interessenten dauernd zugänglich gemacht 
werden. 
Alle Sendungen bitten wir zu richten an Herrn Alfred Mann, cand. 
philos, Breslau XVI, Piastenstraße 8, hpt. 
Institut für angewandte Psychologie und psychologische 
Sammelforschung. 
(Institut der Gesellschaft für experimentelle Psychologie.) 
Stern. Lipmann. 


278 -B. Mitteilungen. 





5. Zeitgeschichtliches. 


Der I. Deutsche Kongreß für alkoholfreie Jugenderziehung findet 
nunmehr bestimmt vom 26.—28. März 1913 in Berlin statt. Vorangeht am 
25. März eine Einführung in den Inhalt und die allgemeine Bedeutung der Alkohol- 
frage. Anmeldungen und Programmbestellungen an die Geschäftsstelle des Kon- 
gresses, Berlin W. 15, Uhlandstraße 146. Der Eintritt ist frei. 

Einen Kursus über die Behandlung schwachsinniger Kinder hält 
Erziehungsinspektor Piper-Dalldorf vom 25. März bis zum 5. April ab. Anmel- 
dungen sind bis zum 16. März an ihn zu richten. 

Die Stadt Bremen will mit dem 1. April 1913 ein »Jugendamt« schaffen, 
eine Zentrale, von der aus alle Zweige der öffentlichen Jugendpflege geleitet und 
gefördert werden sollen. 

In Essen (Ruhr) wurden zur Pflege und Beaufsichtiguug der schulpflichtigen 
Kinder Schulschwestern angestellt. 

Das Education Comittee of the London County Council empfiehlt 
die Anstellung eines Fachpsychologen zu fachmännischer Beratung der Schul- 
männer namentlich in allen Fällen, wo es sich um Einschulung schwachbefähigter 
Kinder handelt. 

Ein Antrag betreffend Heraufsetzung des strafmündigen Alters auf 
das 14. Lebensjahr wurde von der Kommission für die Jugendgerichtshöfe im deut- 
schen Reichstag angenommen. 

Vor dem Münchener Jugendgericht wurden 1909 169 Jugendliche ver- 
urteilt und zugleich bedingt begnadigt. Während einer anderthalbjährigen Be- 
gnadigungsfrist war die Führung bei 90 = 55°/, so gut, daß der Wegfall der Strafe 
erfolgen konnte. Von den Knaben konnte 1'/,°/, mehr Straferlaß zuteil werden 
als von den Mädchen. Der Grund dafür dürfte zu suchen sein in dem starken 
Rückfälligwerden der wegen Gewerbsunzucht bestraften Mädchen (von 15 10). 

Für den Regierungsbezirk Frankfurt (Main) ist eine Polizeiverordnung er- 
lassen, nach der Kinder unter sechs Jahren vollständig vom Besuch der öffentlichen 
Kinovorstellungen (Lichtspieltheater) ausgeschlossen sind. Kinder und Jugend- 
liche im Alter von 6—16 Jahren dürfen die besonderen Jugendvorstellungen be- 
suchen, deren Spielplan von der Ortspolizeibehörde genehmigt ist; doch müssen 
diese Vorstellungen bis abends 8 Uhr ihr Ende erreicht haben. 

Ein Gesetz zum Schutze der Kinder und Haustiere wurde in der 
Republik Panama erlassen. Nach einem Aufsatz Alfredo Hartwigs im Dezember- 
heft der »Blätter für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirschaftlehre« 
lautet Artikel 1 dieses Gesetzes: »Wer in unmenschlicher Weise ein Kind straft, 
ihm Wasser oder Nahrungsmittel entzieht, oder von ihm eine Arbeitsleistung verlangt, 
welche seine Veranlagungen übersteigt, soll mit einer Geldstrafe von 5—25 Balboas 
für jede dieser Handlungen bestraft werden.« Von Bedeutung ist ferner Artikel 5: 
»Jede Person, welche Zeuge einer gegen ein Kind oder gegen ein Tier begangenen 
Grausamkeit ist, hat die Verpflichtung, der Behörde hiervon Anzeige zu machen, 
widrigenfalls sie selbst wegen Mittäterschaft zur Bestrafung herangezogen wird und 
die Hälfte der dem Haupttäter zukommenden Geldstrafe zu erlegen hat.« 

Dem Deutschen Reichstag ist im Dezember 1912 eine Anfrage des Ab- 
geordneten Dr. Werner (Gießen) zugegangen, ob dem Reichskanzler die traurigen 
Tatsachen des Kinderhandels bekannt seien, und was dagegen getan werde 
oder getan werden solle. — Die sozialdemokratische Fraktion des Deutschen 
Reichstags plant einen Gesetzesantrag gegen den Kinderhandel. 

Die Amtsvormundschaft der Stadt Bern wendet sich in einer öffent- 
lichen Bekanntmachung gegen den Kinderhandel. Es heißt darin u. a.: 
»Die vom Amtsvormund auf verschiedene Zeitungs- und Anzeigeinserate hin an- 
gestellten Nachforschungen haben ergeben, daß die meisten Annoncen, die sich auf 
Annahme oder Abgabe von Kindern zur Adoption beziehen, in Wirklichkeit auf 
verkappten Kinderhandel hinauslaufen. Die Personen, die sich auf diesem Wege 
zur Annahme eines Kindes melden, stecken regelmäßig in schwierigen finanziellen 


C. Zeitschriftenschau. 279 





Verhältnissen und suchen sich durch eine sogenannte Abfindungssumme wieder 
aufzuhelfen. Diejenigen aber, die ihr Kind gegen eine Entschädigung anbieten, 
suchen sich desselben auf möglichst *billige und bequeme Art zu entledigen. 
Das Los derart verschacherter Kinder gehört zum Traurigsten, was es überhaupt 
geben kann.« 

Das bayerische Kultusministerium gestattete die Abgabe von */, Liter 
Bier täglich an alle Kinder vom 12. Jahre an, die in den staatlichen Er- 
ziehungsanstalten untergebracht sind. Vom 15. Jahre an dürfen sie '/, Liter Bier 
erhalten. Auf eine Eingabe eines Vaters gegen diese Unsitte, von der sich der 
einzelne Schüler trotz elterlichen Willens nicht befreien könne, entschied das 
Bayerische Kultusministerium, daß zu einer anderweitigen Verfügung »gegenwärtig 
für das Ministerium kein Grunde sei (Entscheid vom 6. November 1912). Damit 
hat das Bayerische Kultusministerium sein bisher schon seltsames Verhalten gegen- 
über der Alkoholbekämpfung noch seltsamer gemacht! 

Schenkungen, Stiftungen usw.: 50C00 Mark für die Ermöglichung von 
Landaufenthalt von schwächlichen oder rekonvaleszenten Kindern 
Darmstadts (von Medizinalrat Merck-Darmstadt). 

Die Elberfelder Waldschule wurde 1912 von 101 Knaben und 70 Mäd- 
chen besucht. 24 Knaben und ebensoviele Mädchen konnten auch während der 
Nacht in der Waldschule verbleiben. Die Erfolge sind als gut zu bezeichnen. 

Der Fürsorgeverband Leipzig baut in Kleinmeusdorf ein Heil- 
erziehungsheim für 128 Zöglinge, das folgenden Zwecken dienen soll: 1. Mög- 
lichkeit der sofortigen Unterbringung jedes Minderjährigen, betreffs dessen Fürsorge- 
erziehung oder vorläufige Unterbringung ($ 6 F. E.) angeordnet worden ist. 2. Ver- 
teilung der Minderjährigen nach einheitlichen Grundsätzen (Überweisung zur Familien- 
pflege, in das Krankenhaus, in Erziehungsanstalten und in das Heilerziehungsheim). 
3. Psychiatrische Beobachtung und Untersuchung von Fürsorgezöglingen, die ihrer 
psychopathischen Veranlagung wegen aus den Erziehungsanstalten zurückgegeben 
werden. 4. Behandlung und Erziehung besonders schwer erziehbarer psycho- 
pathischer F. Z. unter ständiger ärztlicher, psychiatrischer Mitwirkung. Die Anstalt 
wird erbaut auf dem 24600 qm großen Gelände, das unmittelbar hinter der Heil- 
anstalt Dösen liegt, von wo aus sie jederzeit und ausreichend ärztlich versorgt 
werden kann. — Am 13. Januar 1913 fand die feierliche Grundsteinlegung statt. 
— Zum Direktor wurde der pädagogische Beirat des städtischen Fürsorgeamtes zu 
Dresden, Bürgerschullehrer Fritz Knauthe, berufen. 


C. Zeitschriftenschau. 


II. Anormalenpädagogik. 
1. Tatsachen. 
Büttner, Georg, Über nervöse Kinder. Heilpädagogische Schul- und Elternzeitung. 
3, 6 (15. Juni 1912), S. 110—114. 

Die Nervosität der Kinder verdient die größte Beachtung. Nur bei früh- 
zeitigem und nachhaltigem Eingreifen kann sie erfolgreich behandelt werden. Von 
verschiedenen Gesichtspunkten aus allgemein-verständlich behandelt. 
Boek-Neumann, Henny, Kinderlaunen. Zeitschrift für Jugenderziehung und 

Jugendfürsorge. 3, 8 (1. Januar 1913), S. 231—233. 

Führt einige Beispiele aus einem Aufsatz Pauline Lombrosos in »Nuova-Anto- 
logia« an, die die Schwierigkeiten launischer Kinder und ihrer Behandlung zeigen. 
Witzmann, Hans, Vorliebe für glänzende Gegenstände. Heilpädagogische Schul- 

und Elternzeitung. 3, 6 (15. Juni 1912), S. 114—116. 

Beschreibung eines derartigen Falles beı einem Knaben. 


280 C. Zeitschriftenschau. 





Goddard, Henry H., Höhe und Gewicht schwachsinniger Kinder in amerikani- 
schen Instituten. Eos. 8, 4 (Oktober 1912), S. 241—2650. 

Die Zahl der Fälle beträgt 10844 (5923 männliche und 4921 weibliche) im 
Alter von 1 Tag bis zum 60. Jahr. Sie verteilen sich auf 19 Anstalten. Die 
Messungen selbst sind so genau wie möglich ausgefallen. An der Hand von 7 Dia- 
grammen und 4 Tabellen werden die Ergebnisse besprochen. Bei der Geburt sind 
die defektiven Kinder schwerer als normale. Dann aber bleiben sie hinter den 
normalen zurück, und zwar um so mehr je größer der Defekt. Den Normalen am 
nächsten stehen die »Moronen«, die zuerst ein normales Wachstum zeigen, dann 
aber früher als die Normalen einen Stillstand aufzuweisen haben. Geschlechts- 
unterschiede werden immer undeutlicher, je stärker die Defekte werden. 
Blümcke, Krämpfe im Kindesalter, ihre Bedeutung und ihr ursächlicher Zu- 

sammenhang mit dem jugendlichen Schwachsinn. Zeitschrift für die Behandlung 
Schwachsinniger. 32, 12 (Dezember 1912), S. 241—256. 

Man vergleiche das Referat über diesen Vortrag in dieser Zeitschrift. Jg. 18, 
Heft 2, S. 75/76. 

Bayerthal, Über die prophylaktischen Aufgaben des Schularztes auf dem Gebiete 
der Nerven- und Geisteskrankheiten. Internationales Archiv für Schulhygiene. 
1912, S. 508—510. 

Diese Frage beginnt erst allmählich erörtert zu werden. Der Verfasser hofft, 
in absehbarer Zeit ausführlich über dieses Problem schreiben zu können, und will 
in dieser Arbeit nur auf ein kürzlich erschienenes bedeutungsvolles englisches Werk 
hinweisen: Hollander, The first signs of insanity, their prevention and treatement. 


Finckh, J., Die Nervenkrankheiten, ihre Ursachen und ihre Bekämpfung. Der 
Arzt als Erzieher. 8 (1912), 3, S. 25—28; 4, 5. 37—40; 5, 5. 53—58; 6, S. 69 
bis 71. 

Besonders eingehend werden die Ursachen besprochen. Was über die Be- 
handlung gesagt wird, beschränkt sich im wesentlichen auf prophylaktische Vorschläge- 


Josefson, Arnold, Experimentelle Untersuchungen über die Möglichkeit einer 
Übertragung der Kinderlähmung durch tote Gegenstände und durch Fiiegen. 
Münch. Med. Wochenschrift 60, 2 (14. Januar 1913), S. 69—71. 

Die Experimente zeigen, daß das Virus an toten Gegenständen haften und 
virulent bleiben kann. An Fliegen konnte das nicht nachgewiesen werden. 
Laqueur, A., Die Anwendung des Wasserheilverfahrens bei den verschiedenen 

Formen von Lähmungen im Kindesalter. Zeitschrift für Krüppelfürsorge. V, 4 
(Januar 1913), S. 281—288 

Das Wasserheilverfahren ist ein wichtiges Unterstützungsmittel der sonst 
üblichen Methoden. In gewissen Fällen kann ihm sogar entscheidende Bedeutung für 
Besserung und Heilung zukommen. Die einzelnen Bäder usw. werden besprochen. 


Baldrian, Karl, Taubstumme und hochgradig schwerhörige Kinder. Heilpäda- 
gogische Schul- und Eliternzeitung. 3, 11 (November 1912), S. 197--202. 

Taubstumme Kinder sollten um das siebente Lebensjahr Spezialanstalten an- 
vertraut werden, in denen sie sprechen, schreiben und lesen lernen. Als Berufe 
eignen sich für den Taubstummen solche, in denen er nicht auf sein Gehör an- 
gewiesen ist, resp. auf rasch erteilte und zu erledigende mündliche Aufträge. Am 
Schluß werden die Anstalten Wiens uud Niederösterreichs aufgezählt. Der ganze 
Aufsatz ist besonders zur Aufklärung der Eltern bestimmt, die immer noch sehr zu 
wünschen übrig läßt. 


C. Zeitschriftenschau. 281 





Nadoleczny, Lautbildung und Sprachstörungen mit Berücksichtigung der Stimm- 
hygiene. Der Arzt als Erzieher. 8, 1912, 7, 8. 73—79; 8, S. 85—90. 

Nach allgemeinen Eıörterungen über das Wesen der Sprache und über Ent- 
wicklung von Sprache und Stimme werden die Sprachgebrechen und namentlich 
ihre Heilung in drei Gruppen besprochen; und zwar solche, die beruhen 1. auf 
Verminderung der Hörfähigkeit, 2. auf Störungen im Gehirn, 3. auf Fehlern der 
Sprechwerkzeuge. Ein Literaturverzeichnis beschließt die Arbeit. 

Klotz, Max, Die Behandlung der Enuresis nocturna. Deutsche med. Wochen- 
schrift. 38, 49 (5. Dezember 1912), S. 2297—2300. 

Die Enuresis muß ganz besonders individuell und sorgfältig behandelt werden. 
Sie tritt sehr oft als Erscheinungsform einer neuro-psychopathischen Konstitution 
auf. Die Behandlung ist vorwiegend suggestiv (Faradisation, subkutane Injektionen, 
lokale kalte Duschen, Milieuwechsel, Hypnose). In anderen Fällen ist die recht 
mühevolle mediko-pädagogische Behandlung angebracht (Wecken zu bestimmten. 
Zeitpunkten), die bei konsequenter geduldiger Fortführung stets von Erfolg gekrönt 
zu sein pflegt. Die Idealkost für Bettnässer ist die streng vegetarische. 

Reiche, A., Einiges über Rachitis. Zeitschrift für Krüppelfürsorge. V, 4 (Januar 
1913), S. 289—302. 

Über die Ursache der Rachitis ist sehr viel gearbeitet. Feststeht, daß der 
Kalkstoffwechsel des Organismus gestört ist. Als Ursache dieser Störung hat man 
drei Theorien aufgestellt: Störung der inneren Sekretion ; infektiöse Störungen; reine 
Stoffwechselerkrankungen. Befördert wird das Entstehen der englischen Krankheit 
durch Mangel an frischer Luft und freier Bewegung. Dem abzuhelfen ist Aufgabe 
der Therapie: Einrichtung von Heilstätten für Rachitiker, Hebung des Allgemein- 
zustandes, Schaffung gesunder Wohnungen, Spielplätze usw. kommen dafür in Be- 
tracht. — Unrichtig ist die Literaturangabe auf S. 296. 


2. Konsequenzen. 


Henze, Zur Richtigstellung und Abwehr. Die Hilfsschule. V, 11 (November 
1912), S. 297 — 306. 

Gegen Bornemanns Aufsatz »Gründet Hilfsschulen einklassige im »Evangeli- 
schen Schulblatt«, 56, 9 (September 1912), S. 385—397. Es werden Bornemann 
verschiedene Unrichtigkeiten nachgewiesen. Zum Schluß stellt der Verfasser seine 
aus langjähriger Hilfsschulpraxis hervorgegangenen Forderungen den Bornemannschen 
gegenüber: 1. Gründet Hilfsschulen, wo es nur irgend möglich ist; 2. wo genug 
Schüler vorhanden sind, gründet mehrklassige Hilfsschulen, in denen der Lehrer 
seine Klasse durchführt; 3. in einklassigen Hilfsschulen entlaste man den Lehrer 
durch nur zweijährlich stattfindende Aufnahmen. 

Ziegler, K.. Hilfsschule oder Idiotenanstalt? Die Hilfsschule. V, 12 (Dezember 
1912), S. 332—335. 

Polemik gegen Griesingers Aufsatz »Fürsorge für die Schwachbefähigten nach 
dem Schulaustritte in Heft 8, aus dem man herauslesen könne: statt der Hilfs- 
schulen Errichtung von Anstalten! Griesinger entgegnet darauf: er wünsche auch 
für die Hilfsschulen nur ähnliche Einrichtungen wie in der Idiotenanstalt. » Wir 
fordern ... Hilfsschule und Idiotenanstalt und dazwischen möglichst weitgehende 
Differenzierung durch Errichtung von Tagesschulen, Kinderherbergen und Arbeits- 
kolonien.« 

Krenberger, S., Lehr- und Stundenplan einer Privaterziehungsanstalt für schwach- 
sinnige Kinder. Eos. 8, 4 (Oktober 1912), S. 289—312. 


282 C. Zeitschriftenschau. 








Der Stundenplan ist für den zwar etwas kostspieligen Einzelunterricht auf- 
gestellt, der danach bereits seit 20 Jahren erteilt wurde. Von der vorgesetzten Be- 
hörde sind die Pläne seit 14 Jahren genehmigt. Sie sind fundiert auf die Lehren 
Seguins, Bartholds, Zillers und Theodor Vogts. 

Thir, Anton, Der Religionsunterricht an Hilfsschulen. Heilpädagogische Schul- 
und Elternzeitung. 3, 12 (Dezember 1912), S. 215—220. 

Versuch einer Stoffverteilung für eine fünfklassige Hilfsschule. Aufgabe des 
Religionsunterrichts soll es sein, das schwachsinnige Kind zu einem praktischen 
Christen zu machen. 

Wehle, R. G., Schwerhörigen-Unterricht betr. Blätter für Taubstummenbildung. 
XXV, 21 (1. November 1912), S. 327—329. 

Die vielen Kinder mit leichter Gehörsherabsetzung können der Völksschule 
nicht entnommen werden. Sie müssen angeleitet werden, vom Munde absehen zu 
lernen. Diesen Absehunterricht könnten die,Volksschullehrer selbst erteilen, nament- 
lich dann, wenn die Seminaristen künftig schon etwas auf diesen Unterricht vor- 
bereitet werden. 

Tilmann, O., Die chirurgische Behandlung der Epilepsie. Münch. Med. Wochen- 
schrift. 59, 49 (3. Dezember 1912), S. 2683—2686. 

Die chirurgische Behandlung kann nur bei Fällen in Betracht kommen, bei 
denen jede erbliche oder angeborene Ursache, jede funktionelle Neurose, jede zu 
Krämpfen führende Allgemeinerkrankung ausgeschlossen werden kann. Von einem 
operativen Eingriffe lassen sich Erfolge erwarten. 

Kokall, Heinrich, Die geistige Minderwertigkeit vom Standpunkte des Arztes, 
Fortschritt oder Rückschritt? Heilpädagogische Schul- und Elternzeitung. 3, 6 
(15. Juni 1912), S. 106—110. 

Die Ausführungen sollen die Fürsorge für die geistig Minderwertigen nament- 
lich bei den Stadtverwaltungen kräftig anregen. Sie warnen vor den Schlagwörtern 
»Massen- und Rassendegeneratione.. Empfohlen werden alljährliche Erhebungen 
über die Zahl der minderwertigen Kinder in den Volksschulen; Ausbau und obliga- 
torische Gestaltung des schulärztlichen Dienstes in Österreich; Einrichtung von 
Kinderschutzämtern; vermehrte Körperpflege; Ausbau der Kindergärten; Einrichtung 
von Ferien- und Rekonvaleszentenheimen; Ausgestaltung der Hilfsschulen. 


3. Erfolge. 

V. österreichische Konferenz der Schwachsinnigenfürsorge. Heilpädagogische Schul- 

und Elternzeitung. 3, 5 (15. Mai 1912), S. 96—104; 6 (15. Juni), S. 116—122. 
Ausführliches Referat. 

Kirmsse, M., Die XIV. Konferenz des Vereines für Erziehung, Unterricht jund 
Pflege Geistesschwacher in Bielefeld vom 8.—11. September 1912. Heilpädago- 
gische Schul- und Eiternzeitung. 3, 11 (November 1912), S. 202—208. 

Eingehender Bericht. 

Josaphat, Die VII. Konferenz des Verbandes der katholischen Anstalten Deutsch- 
lands für Geistesschwache. Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger. 
32, 11 (November 1912), S. 238—239. 

Kurzer Bericht über die Tagung, die vom 19.—21. August in Dorsten (West- 
falen) stattfand. Die nächstjährige Konferenz (1913) soll in der Anstalt »St. Andreas« 
zu Sennheim (O.-Elsaß) stattfinden. 


C. Zeitschriftenschau. 283 





Dreßler, Der IV. Berliner Ausbildungskursus für Hilfsschullehrer und -lehrerinnen. 
Die Hilfsschule. V, 11 (November 1912), S. 306—308. 

Der Kursus, über den kurz berichtet wird, fand vom 15. August bis zum 
11. September 1912 statt und war von 5 Damen und 47 Herren besucht. 
Backhausen, Rückblick auf den Instruktionskursus für Fürsorgeerziehung vom 

14.—19. Oktober d. J. Der Monatsbote aus dem Stephansstift. 33, 11 (November 
1912), S. 189—199. 

Versuch einer »Zusammenstellung des geistigen Ertrages der Verhandlungen«, 
beschränkt auf grundsätzlich wichtige Dinge und Wahrnehmungen aus den Vorträgen 
und Diskussionen. 

Kockegey, Paul, Der II. Hilfsschulkursus in Breslau. Die Hilfsschule. V, 12 
(Dezember 1912), S. 335—338. 

Der Kursus reiht sich seinen Vorgängern würdig an. Er fand vom 7. bis 
26. Oktober statt und war von 27 auswärtigen und 34 einheimischen Teilnehmern 
besucht. 

Loeper, Zur Fürsorge für unsere sprachlich belasteten Kinder. Die Hilfsschule. 
V, 12 (Dezember 1912), S. 326—332. 

Etwa 11/,—1'/,°/, aller Schulkinder leiden an Stottern, dessen Ursprung zu- 
meist in der häuslichen Erziehung zu suchen ist, während die Schule das Übel 
vollendet. Die zweckmäßigste Bekämpfung dürfte die Einrichtung sogenannter Vor- 
kurse sein, wie sie in Kiel und Hannover erfolgreich eingerichtet sind. Auf Grund 
seiner Beobachtungen in diesen Kursen kommt der Verfasser zu der Ansicht, daß 
sie nicht nur auf die Sprachbildung, sondern auch auf die körperliche Gewandtheit 
und die ganze geistige Entwicklung günstig einwirken. Eine Lektion und Mit- 
teilungen aus dem Lehrplan des Vorkursus in Hannover zeigen, daß der Unterricht 
auch für normalsprechende Kinder fruchtbar gemacht werden kann. Er ersetzt zum 
Teil den Fröbelschen Kindergarten. 

Forchhammer. G.. Schädigt mein Mund-Handsystem das Absehen? (Antwort an 
Brand-Stade.) Blätter für Taubstummenbildung. 26, 1 (1. Januar 1913), S. 5—9. 

Das Mund-Handsystem schadet dem Absehen nicht, es schafft ohne besondere 
Übung Absehen. 

Schenk, Alwin, Fürsorge für die aus der Hilfsschule entlassenen Kinder. Heil- 
pädagogische Schul- und Elternzeitung. 3, 10 (Oktober 1912), S. 173—182; 
11 (November), S. 193—197. 

Für die nachschulpflichtige Zeit lassen sich die Hilfsschulzöglinge in drei 
Gruppen ordnen: 1. solche, die in einer freien Lehre oder sonstigen Arbeitsstelle 
zur Selbständigkeit geführt werden können (Fortbildungsschule für Schwachbefähigte); 
2. solche, die nicht fähig genug sind, sich in einer freien Lehre oder selbständig zu 
behaupten, die aber bei sachgemäßer Ausbildung noch zu freier Betätigung geführt 
werden können (Arbeitslehrkolonie); 3. solche, die wegen ihrer geringen Intelligenz 
den Weg durchs Leben nicht finden, aber doch noch für die Allgemeinheit nutzbar 
gemacht werden können. Die einzelnen Kategorien werden eingehend besprochen. 
Das neue Wehrgesetz. Heilpädagogische Schul- und Elternzeitung. 3, 12 (Dezember 

1912), S. 213—215. 

Am 5. Juli 1912 ist in Österreich ein neues Wehrgesetz in Kraft getreten, 
Die neuen Wehrvorschriften enthalten wesentliche Bestimmungen zum Schutze 
Schwachsinniger, die im Wortlaut mitgeteilt werden. 

Die Einweihung des neuen Taubstummblindenheims in Nowawes. Blätter für Taub- 
stummenbildung. 26, 1 (1. Januar 1913), 8. 12—14. 


284 C. Zeitschriftenschau. 





Das Heim wurde am 5. Dezember 1912 feierlich eingeweiht. Es ist mit einem 
Kostenaufwand von 260000 Mark für 60 Personen eingerichtet. 31 Zöglinge sind 
vorläufig in der Anstalt untergebracht. (Im übrigen Beschreibung der Einweihungs- 
feierlichkeiten.) 

Sartorius, Benvenuto. Das Erziehungsheim und Jugendsanatorium auf der 
Sophienhöhe bei Jena. Deutsche Monatsschrift für Rußland. 1, 11 (14. November 
1912), S. 999—1008. 

Will versuchen, den Eindruck, den die Anstalt auf den Laien macht, wieder- 
zugeben. Verschiedene Abbildungen illustrieren das Gesagte. (Seltsam und un- 
richtig ist die Schreibweise: »Heilserziehungsheim«, die des öfteren wiederkehrt. 
Professor Rein kann nie und nimmer als »Bahnbrecher auf dem Gebiete experimen- 
teller Pädagogik« bezeichnet werden.) 

Pabisch, Marie, Fürsorge für Schwachsinnige in England. Heilpädagogische 
Schul- und Elternzeitung. III, 9 (September 1912), S. 161—164; 10 (Oktober), 
S. 182—188. 

Bemerkenswert ist besonders, daß ungefähr 34—44°/, der aus der Schule 
entlassenen Schwachsinnigen zuerst kleine unregelmäßige Löhne verdienen, hernach 
aber ganz dem Elend anheimfallen. Ein ganz besonders großer Übelstand ist es, 
daß die 16jährigen Schwachsinnigen sich selbst überlassen werden. Es bestehen 
150 Spezialanstalten mit 8000 schwachsinnigen Kindern, davon 89 mit 6485 in London. 
Hogerheyde, J., Über den Zustand des Unterrichtes der Taubstummen in Belgien. 

Eos. 8, 4 (Oktober 1912), S. 288—289. 

Trotz langer Lehrjahre lernt kaum ein Zehntel der Schüler, einen ordentlichen 
Brief oder eine Karte zu schreiben. Diese Mißerfolge liegen daran, daß das Lehr- 
personal oft nicht einmal die Lehrbefähigung für Volksschulen hat, daß Schüler 
während des ganzen Jahres und oft nur aus finanziellem Interesse aufgenommen 
werden, daß den Revisoren täuschende Paradevorführungen gemacht werden. In 
einzelnen Handwerken leisten die Schüler zuweilen Gutes. 

Kirmsse, M., Prof. Dr. X. Linzbauer. Heilpädagogische Schul- und Elternzeitung. 
3, 12 (Dezember 1912), S. 221—228. 

Linzbauer wurde 1807 geboren. Sein Todesjahr ist unbekannt, Er plante ein 
großes Werk über das Gesamtbild des Kretinismus und der Idiotie. Die beabsichtigte 
Einteilung wird ebenso wie verschiedene andere Literatur mitgeteilt. 

Schmidt, Hugo, Die Ansichten des Abbe Bonnot de Condillac über geistig ver- 
nachlässigte Kinder und Erwachsene. Eos. 8, 4, S. 260—272. 

Condillac (1715—1780) muß zu den Vorläufern der pädagogischen Pathologie 
gerechnet werden. Er hat genau beobachtet (nicht bloß wie seine Zeitgenossen 
meistens nur tbeoretisiert!) und dabei zahlreiche Kinderfehler erkannt. Ursprung 
und Veranlassung der Fehler sucht er auf einen allgemeinen Ursprung zurück- 
zuführen (Gegensatz von Lust und Unlust oder Wert und Unwert in der Menschen- 
seele. — Die Angabe auf S. 265 über Condillacs Kenntnis des Litauer wilden 
Kindes läßt sich doch wohl bezweifeln, wenn man bedenkt, daß dieses Kind bereits 
21 Jahre vor Condillacs Geburt aufgefunden wurde. 

Spindler, Fritz, Edouard Meystre. Ein Vorläufer Helen Kellers. Blätter für 
Taubstummenbildung. 26, 1 (1. Januar 1913), S. 9—12. 

Er wurde mit 18 Jahren am 10. Juni 1845 in das Asyle des aveugles zu 
Lausanne aufgenommen, wo er von Hermann Hirzel aus Zürich in bedeutender 
Weise gefördert wurde. Hirzel suchte aus ihm eine selbständig denkende und 
handelnde Persönlichkeit zu machen. 





D. Literatur. 285 


Schuyten, M. C., Die pädologische Weltbewegung, chronologisch zusammengefaßt. 
Eos. 8, 4 (Oktober 1912), S. 272—288. 

Nach einer Übersicht über die Pädologie (Unterabteilungen: Schulhygiene, 
Anthropometrie, Physiologie, Psychologie für Normale, Abnorme und Tiere, Päda- 
gogik für Normale und Abnorme, Soziologie, Verschiedenes) folgt eine chronologische 
Darstellung des bisher Erreichten, die allerdings mehrfache Unrichtigkeiten enthält, 
die zum Teil bereits in redaktionellen Anmerkungen richtig gestellt wurden, zum 
Teil sich noch finden. 


D. Literatur. 


Ziehen, Theodor, Prof. Dr. med. et phil., Erkenntnistheorie auf psycho- 
physiologischer und physikalischer Grundlage. Jena, Verlag von 
Gustav Fischer, 1913. 571 S. Preis geh. 18 M, geb. 19 M. 

Mit besonderer Freude zeigen wir den zahlreichen Verehrern, die Ziehen 
gerade unter den Lesern dieser Zeitschrift besitzt, das Erscheinen seiner nunmehr 
vollständig ausgearbeiteten Erkenntnistheorie an. Ohne daß seine früher veröffent- 
lichte Darstellung hierdurch wertlos geworden wäre, bietet diese letzte Ausführung 
seiner Erkenntnistheorie bemerkenswerte Verbesserungen in der umfassenderen 
Anlage, den Untersuchungen mannigfaltigerer Einzelheiten, der Vermehrung von 
Hin- und Nachweisen, der verfeinerten Analyse und zum Teil neuen Ausdrucks- 
weise, sowohl in der Terminologie als auch in der Gesamtdarstellung. Wir müssen 
es vorerst im wesentlichen bei einer allgemeingehaltenen Empfehlung des gewaltigen 
philosophischen Werkes bewenden lassen, das in seiner systematischen Geschlossen- 
heit und lichtvollen Klarheit zunächst den Eindruck eines Kunstwerkes hinterläßt, 
welches man bewundert und nicht mit der allzukleinlichen Alltagskritik zu begreifen 
sucht. Dem Fortschritt in der Erkenntnistheorie unter Ziehens Führung nach- 
folgen, wird für viele ein völliges Umlernen und Umdenken bedeuten; dazu bedarf 
es aber, außer der biologischen Vorbedingung, eines langen, eindringenden Studiums. 
Aber man scheue nicht die Mühe; handelt es sich doch dabei um die höchsten 
Werte der menschlichen Fähigkeiten, um das Streben nach Wahrheit, d. h. nach 
einem widerspruchslosen Denken! Obwohl frei von jeder Neigung zum Pragmatis- 
mus, verrät Ziehens geniales Werk doch wenigstens literarisch seine Beziehung 
zu jenem durchaus nicht rein theoretischen Ursprung aller Wissenschaftslehre, der 
in dem Streit der griechischen Philosophen und Sophisten zu suchen ist, als es den 
ernsten Denkern darauf ankam, gegenüber den subjektiven Meinungen überindivi- 
duelle Erkenntnisse festzustellen, wobei man, ohne anmutige Bosheiten peinlich zu 
vermeiden, die klassische philosophische Dialektik ausbildete. Überindividuelle Er- 
kenntnisse sind aber nicht übermenschliche Tatsachen oder gar metapsychische 
Phänomene; ihre sachgemäße Analyse, so lehrt Ziehen, führt in jedem Falle nur 
auf die beiden psychologischen Elemente, nämlich die nicht näher definierbaren, 
sondern als Erlebnis gegebenen Empfindungen und Vorstellungen, bezw. deren Re- 
duktionen. Ein »absolutes Sein« als Gegenstück zu einem Erkanntwerden ist er- 
kenntnistheoretisch unnaltbar, die Diskussion eines »Objekts« in bezug auf ein er- 
kennendes »Subjekt«, etwa in Hinsicht auf die Möglichkeit oder Notwendigkeit oder 
Begrenzung der Erkenntnis, von vornherein ein widerspruchsvolles Unternebmen. 
Das Problem der Erkenntnistheorie ist deshalb nicht die Frage: Was ist Erkenntnis 


286 D. Literatur. 





(im Sinne einer metaphysischen oder extrapsychischen Gewißheitstheorie)? — 
sondern die Frage: Wie kommt Erkenntnis zustande? Das positive Ergebnis dieser 
erkenntnistheoretischen Untersuchungen ist die Darstellung des Entwicklungsprozesses 
allgemeiner, widerspruchsloser Vorstellungen. Ziehen löst diese Aufgabe mit allen 
Mitteln seiner glänzenden universellen Bildung; die gewissenhafteste Aufmerksamkeit 
beherrscht eine mächtige Vorstellungsfülle, die ihm aus einer reichen Lebenserfahrung 
und einer kritischen Belesenheit, die ihresgleichen sucht, zuströmt, so daß er für 
alle Einwände und Bedenken seiner Gegner vortrefflich gerüstet ist. Es ist voraus- 
zusehen, daß Ziehens Werk einen Ehrenplatz in der Geschichte der Philosophie 
einnehmen wird, — und welche Energie fruchtbaren Nachdenkens wird es auslösen! 


Eingegangene Literatur. 


Detleff Neumann-Neurode, Kindersport. Körperübungen für das frühe Kindes- 
alter. Dritte verbess. Auflage. Potsdam, A. Stein, 1912. 76 S. Preis brosch. 
2,25 M. 

Adolf Röhr, Die deutsche Sprache in der Welt. Netzschkau, Albin Stein. 318. 
Preis 40 Pf. 

Hermann Horrix, Die Ausbildung des Hilfsschullehrers. Ein Vorschlag zu ihrer 
Förderung. Halle a. S., Carl Marhold, 1912. 56 S. Preis 1 M. 

Otto Stern, Der Taubstummenlehrerberuf. Stade, Friedrich Schaumburg, 1912. 
80 S. Preis 1,50 M. 

Fünfter Jahresbericht der Arbeitslehr-Kolonie und Beobachtungs-Anstalt »Stein- 
mühle« Obererlenbach (Kupferhammer E. V.) für das Rechnungsjahr 1911—12. 
22 Seiten. 

55. Jahresbericht der Blinden-Erziehungsanstalt zu Illzach-Mülhausen. Im Nameu 
des Verwaltungsrats erstattet von Prof. M. Kunz. Jahrgang 1911—1912. Mül- 
hausen, Buchdruckerei Veuve Bader & Cie., 1912. 43 S. mit mehreren Tafeln. 

M. Kunz, Antwort auf die Nachbemerkungen von Herrn Professor Dr. Meumann 
im XII. Bande der »Zeitschrift für Päd. Psychologie und experimentelle Päda- 
gogik« S. 632—34 und im XIII. Bande, Heft 9, S. 486—489 zu des Verfassers 
Arbeiten über das Ferngefühl Blinder, Taubblinder und Vollsinniger. Mülhausen, 
Ernest Meininger, 1912. 20 S. 

Bericht über die Verhandlungen des Allgemeinen Fürsorgeerziehungs- 
tages vom 24.—27. Juni 1912 in Dresden nebst Vorbericht: »Das Recht des 
Kindes auf Erziehung und dessen Verwirklichung.< Hannover-Kleefeld, Stephans- 
stift. Preis 2,95 M (einschließlich Porto). 

Jahresbericht der Zwangserziehungsanstalt Trachselwald pro 1912. Buchdruckerei 
Sumiswald. 26 S. 2 Tafeln. 

64. Jahresbericht der Heil- und Pflegeanstalt Stetten i. Remstal in Württemberg 
für Schwachsinnige und Epileptische (Anstalt der christlichen Liebestätigkeit). 
Erstattet über das Jahr 1. Sept. 1911/12 von den Anstaltsvorstehern Inspektor 
Pfarrer Reischle, Oberarzt Dr. Schott, Ökonomieverwalter Bräuninger. Schorn- 
dorf, C. W. Mayersche Buchdruckerei. 69 S. 





Verantwortliche Schriftleitung für Abhandlungen und Mitteilungen: Dir. J. Trüper, 
Sophienhöhe b. Jena; für Zeitschriftenschau und Literatur: Dr. Karl Wilker, Jena, 
Weißenburgstraße 27. 


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Schriftleitung: Dr. jur. Fr. Duensing- Berlin. 


Herausgeber und Mitarbeiter des »Handbuchs für Jugendpflege« bieten 
die sichere Gewähr, daß wir es hier mit einer Erscheinung zu tun haben, die 
einer besonderen Anpreisung nicht bedarf. 

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Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrg. Heft 7. 


Otto Stiemer 


im Jünglingsalter. 





(Nach einem Ölbild.) 








Otto Stiemer 


in späteren Jahren. 


(Nach einer Photographie, ) 








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BEREITET 


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A. Abhandlungen. 


1. Herbarts Pflegesohn. 
(Mit 3 Abbildungen.) 
Von 
Dr. Karl Freye-Berlin. 


Am 26. Januar des Jahres 1828 starb ein Freund Herbarts in 
Königsberg, der Oberlehrer am dortigen altstädtischen Gymnasium 
Georg Friedrich Stiemer, Mathematiker von Profession. Er 
hatte sich als bedeutender Schulmann (so nennt ihn Herbart selbst) 
des Philosophen Interesse erworben, und Herbart empfiehlt ihn auch 
einmal dem Herausgeber der Jenaer Allgemeinen Literatur - Zeitung 
zum Rezensenten seiner Schrift »De attentionis mensura«. Ab- 
gesehen von diesen wissenschaftlichen Beziehungen, hat Herbart 
mit Stiemer offenbar in nahem persönlichen Verkehr gestanden, und 
er hat nach dem frühen Tode des Freundes (Stiemer war nur 
41 Jahre alt geworden) Anteil genommen an dem Geschick seiner 
Familie. Stiemers Gattin hatte für sieben Kinder zu sorgen, und 
eines dieser Kinder mußte ihr besondere Sorge machen: in Otto 
Stiemer, geboren am 1. Januar 1824, glomm das Fünkchen des 
Geistes nur verborgen, und es schien sogar, als ob es niemals zum 
Aufflackern kommen wollte; .das Kind war idiotisch und galt wohl 
zunächst für rettungslos der geistigen Ausbildung verloren. Herbart 
mußte es interessieren, ob dieser Knabe nicht doch heranzubilden sei. 
Noch mehr aber scheint diese Aufgabe seine Gattin gelockt zu haben, 
die keine eigenen Kinder hatte und an dem offenbar gutherzigen 
Jungen wohl Gefallen fand, der es wohl auch eine Freude war, einer 
befreundeten Frau zu helfen. Schon in Königsberg haben Herbarts 


Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 19 


290 A. Abhandlungen. 








offenbar den Knaben in ihren Haushalt aufgenommen, vielleicht nach- 
dem ihn vorher eine andere Königsberger Dame, Frau Justizrätin Hahn, 
unter ihrer Obhut gehabt hatte. Als Herbart 1833 nach Göttingen 
übersiedelte, tauchte die Frage auf, was nun mit dem Kinde zu machen 
sei. Besonders Frau Herbart scheint das begonnene Werk nicht haben 
aufgeben zu wollen, und so setzte denn Herbart selbst am 13. Sep- 
tember folgendes Schriftstück auf, das von Frau Charlotte Stiemer, 
geb. Wiebe, sowie von zwei angesehenen Königsbergern mitunter- 
zeichnet wurde. Herbarts Worte lauten:!) 

»Die Frau Oberlehrer Stiemer hat im Sinn, ihren unglücklichen 
Sohn Otto Stiemer meiner Frau zum Mitnehmen nach Göttingen 
anzuvertrauen. 

Indem ich dies zulasse: erkläre ich ausdrücklich und auf das 
Bestimmteste, hiemit auf keine Weise eine Verpflichtung der Sorge 
für künftiges Fortkommen des Knaben übernehmen zu wollen. 

Vielmehr hat die Frau Oberlehrer Stiemer schon jetzt Ursache 
darauf zu denken, auf welche Weise sie den Knaben nach Einem 
oder zwey Jahren von Göttingen wieder abholen lassen wolle; indem 
der Zweck, einige Fähigkeit zum Lernen in dem Knaben zu er- 
wecken, in ein paar Jahren muß erreicht seyn, falls er überhaupt 
kann erreicht werden. 

Überhaupt behalte ich mir vor, den Knaben lediglich nach 
meinem Willen aus meiner Wohnung zu entfernen, welches auch 
der Grund davon seyn möchte; jedoch versteht sich von selbst, daß 
ich alsdann der Frau Oberlehrer Stiemer oder ihren Verwandten 
oder Bekannten Nachricht geben und Anstalt treffen werde, damit 
anderweitig für den Augenblick das Nöthige geschehe, und für das 
Abhohlen des Knaben gesorgt werden könne. 

Frau Oberlehrer Stiemer giebt hiezu ihre Zustimmung; sie be- 
scheinigt dieselbe durch eigenhändige Unterzeichung ihres Namens. 

Sie sorgt überdies dafür, daß zwey angesehene, in öffentlichen 
wichtigen Ämtern stehende Herrn mit unterzeichnen und siegeln, 
welche hiemit erlauben, daß ich mich in Angelegenheiten dieses 
Knaben an Sie wenden, wenn dessen Abhohlung nöthig wird, mit 
ihnen correspondiren, und das Erforderliche verabreden könne.« 





1) Das diesem Aufsatz zugrunde liegende Material habe ich meist selbst be- 
schafft. Auf einiges wies mich Herr Dr. Th. Fritzsch. Die benutzten Briefe und 
Urkunden sind jetzt auch gedruckt in Th. Fritzschs vierbändigem Werk »Briefe 
von und an Herbart«, Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1912. 


Freye: Herbarts Pflegesohn. 291 








Die Mutter des Kindes fügte außer ihrer Namensunterschrift aus 
eigenem Antriebe noch hinzu: 

»Indem ich dieses mit dem tiefgefühltesten Danke, welchen ich 
weder schriftlich noch mündlich auszudrücken vermag, den aber 
Gott, der die tiefsten Tiefen des Herzens durchschauet, kennet, unter- 
zeichne: erkläre ich hiemit noch freywillig und aus eignem Antriebe, 
daß ich zu dem, was Herr oder Frau Prof. Herrbarth je zum Wohl 
meines unglücklichen Kindes beschließen mögen, nicht allein aus 
Grund meines Herzens, auch ohne vorhergehende schriftliche Anfrage, 
meine Zustimmung gebe, sondern auch alles, was sie hiezu von 
meiner Seite beyzubringen bestimmen werden, auf das genaueste 
befolgen will; da ich das felsenfeste Vertrauen zu dem selten edlen 
Herzen meiner und meines Kindes Wohlthätern habe, daß sie nur 
das wählen werden, was zu dem wahren Wohle meines geliebten 
Kindes führt.« 

Die obigen Worte Herbarts, die ja beinah hart klingen, sind nur 
berechtigte Vorsicht. Er konnte nicht mit Sicherheit voraussehen, wie 
sich der bedauernswerte Junge weiter entwickeln werde, ob nicht 
etwa bösartige Züge in ihm zum Vorschein kommen würden, und so 
ließ er sich jenen Ausweg offen, um seine Frau eventuell von allzu 
drückender Sorge sogleich befreien zu können. Es ist jedoch alles gut 
gegangen, und Otto Stiemer ist von diesem Tage an noch 43 Jahre 
mit Frau Herbart zusammen geblieben! 

Über seine Weiterentwicklung in den nächstfolgenden Jahren 
haben wir einzelne Zeugnisse. 

Am 15. Dezember 1833 läßt Herbart der Mutter Ottos mitteilen, 
daß der Junge die Masern glücklich überstanden habe, und daß seine 
Frau sich sehr um ihn mühe. Wichtiger aber ist, was Herbart 1835 
an den gleichen Königsberger Freund schreibt: 

»Umstehend finden Sie ein Attest, welches die Frau Oberlehrer 
Stiemer sehr nöthig haben wird, um das Erziehungsgeld für den Otto 
zu heben. Belieben Sie ihr dabey zu sagen, Sie möge es nicht 
hieher senden; meine Frau verlangt es nicht für sich, aber sie hat 
bestimmt, daß es in die Hände der Frau Justizräthin Hahn abgegeben 
werde; welcher letztern, so wie der Frau Oberlehrer Stiemer wir 
uns bestens empfehlen. 

Otto nimmt zu. Er hat rothe Backen, und plaudert viel, freylich 
in einer Sprache ohne Flexion, aber die Wortstäimme weiß er doch 
anzubringen. Mit dem Lesen quält sich meine Frau täglich; irgend 
einmal wird er soweit kommen. Seine Phantasie ist die eines fünf- 
jährigen Kindes.« 

19* 


292 A. Abhandlungen. 





Wir haben uns natürlich vorzustellen, daß Herbart seiner Gattin 
stets beistand bei ihren Bemühungen um den kranken Knaben. Was 
mit ihm geschehen solle, mußte ihr aufs neue schwer auf die Seele 
fallen, als Herbart 1841 gestorben war. Otto war damals 17 Jahre 
alt. Ein Jahr später entschloß sie sich, für ihr weiteres Leben 
wieder in das altvertraute Königsberg überzusiedeln; sie war ja die 
Tochter eines englischen Konsuls in Memel, war in Königsberg in 
Pension gewesen und hatte dort dann die ersten 22 Jahre ihrer Ehe 
verlebt. Überdies besaß sie in Königsberg noch das alte Wohnhaus. 
Der Umzug von Göttingen bis Königsberg stand ihr zunächst schwer 
bevor: »Den 20sten reisen wir hier ab«, schreibt sie im August 1842 
an einen Freund des Hauses, »nachdem wir mindestens 70 Cntr. gepackt 
und Auction gehalten haben. Mir wird manchmal bange bei der 
Weite des Weges; ich muß mir dazu ein sicheres Geleit von Oben 
erbitten, sonst kann ich es nicht leisten, den Otto zurück zu bringen.« 

Die äußeren Lebensmöglichkeiten Otto Stiemers waren dadurch 
erschwert, daß er der Sprachwerkzeuge ohne unermüdliche Anleitung 
vielleicht überhaupt nie mächtig geworden wäre, und daß er am Gehen 
behindert war. Ein wegen der Militärdienstpflicht 1844 für ihn nieder- 
geschriebenes ärztliches Zeugnis bezeichnet ihn als untauglich, da er 
an Geistesschwäche und »an lähmungsartiger Schwäche mehrer Körper- 
teile« leide. Von seiner geistigen Auffassungsfähigkeit gaben Herbarts 
obige Worte einen Begriff. Wie weit ihn seine Pflegemutter etwa 
1838 gebracht hatte, darüber erfahren wir Genaues seltsamerweise in 
M. W. Drobischs »Empirischer Psychologie« (1842). In dem Buch 
dieses Herbartschülers wird ohne Nennung eines Namens auf S. 95 f. 
bei Auseinandersetzungen über das Gedächtnis das folgende berichtet 
(es ist verbürgt, daß es sich dabei um Herbarts Pflegesohn handelt): 
»Eine weit merkwürdigere Fähigkeit ähnlicher Art aber hatte ich 
selbst vor mehreren Jahren Gelegenheit, an einem vierzehnjährigen, 
früher für blödsinnig gehaltenen Knaben, der nur durch die unermüd- 
lichen Bemühungen einer edlen Frau, die sich seiner angenommen 
hatte, zu einer gewissen, jedoch für sein Alter immer noch sehr 
niedrigen geistigen Entwicklung gelangt war, zu beobachten. Dieser 
junge Mensch, der seines Sprachorgans nur sehr unvollkommen mächtig 
war, hatte mit Mühe lesen gelernt, so daß sein stockendes und 
stotterndes Vorlesen mehr ein Buchstabieren genannt werden konnte. 
Gleichwohl besaß er eine so ganz erstaunliche Fähigkeit, sich die 
Folge der Buchstaben und Worte anzueignen, und sie dann, wie in 
eine innere Anschauung versunken, an sich vorübergehen zu lassen, 
daß, wenn man ihm zwei bis drei Minuten gönnte, um ein gedrucktes 


Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrg. Heft 7. 








Frau Herbart im Alter. 


(Nach einer Photographie.) 


Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 











— a 


Freye: Herbarts Pflegesohn. 293 


Oktavblatt zu durchlaufen, er dann fähig war, aus dem bloßen Ge- 
dächtnis die einzelnen Worte ebenso herauszubuchstabieren, als ob 
das Buch aufgeschlagen vor ihm läge. Selbst wenn man einige 
Zeilen übersprang, und ihm die Anfangsworte der neuen Zeile vorsagte, 
las er dann, sich in seinem innern Bilde bald zurechtfindend, ungestört 
fort, und das alles ohne sichtbare Anstrengung unter kindischem Lachen. 
Daß hier durchaus keine Täuschung stattfinden konnte, hatte ich 
Gelegenheit an einer damals eben in meine Hände gekommenen neuen 
lateinischen Dissertation über einen juristischen Gegenstand zu er- 
proben, die er also nie gesehen haben konnte, und wo Sprache und 
Gegenstand ihm gleich fremd waren. Nichtsdestoweniger las er von 
der ihm zum Durchlaufen vorgelegten Seite mehrere einander nicht 
unmittelbar folgende Zeilen nicht schlechter, als ob das Experiment 
mit einer Kindererzählung gemacht worden wäre. Sein Gedächtnis 
behielt diese Schriftbilder auch längere Zeit. Andre haben diese 
merkwürdige Fähigkeit des Knaben ebenfalls geprüft und bestätigt 
gefunden. Ob sie wohl noch bleiben würde, wenn es gelänge, diesen 
Menschen zum selbständigen Denken heranzubilden? Mich dünkt, mit 
der Herrschaft der Reflexion müßte diese Receptivität weichen.« 

Die in den letzten zwei Sätzen enthaltene allgemeine Bemerkung 
konnte nun freilich durch Herbarts Pflegesohn nur bis zu einem ge- 
wissen Grade bewiesen werden, denn zum selbständigen Denken über 
abstrakte Punkte war Otto Stiemer allerdings nicht zu erziehen. Welchen 
Eindruck er später im Mannesalter erweckte, davon läßt sich wieder 
ein Bild machen, denn es leben heute noch Persönlichkeiten, die ihn 
in diesen Jahren genau gekannt haben, ja die ihn und Frau Herbart 
in dem gastlichen Königsberger Hause viele Male zusammen gesehen 
haben. Er war groß und kräftig von Gestalt; Hände und namentlich 
Füße aber waren in der regelmäßigen Bewegung erheblich behindert. 
Trotzdem war er ein lebensfähiger Mensch geworden, der auch seine 
entfernt wohnenden Verwandten allein zu besuchen vermochte, in 
einem freilich höchst schwerfälligen Gange auf einwärts gerichteten 
Füßen. Sehr bedeutend waren die Nachrichten, die er in seiner 
schwer verständlichen Sprache überbrachte, nicht weiter; er hielt sich 
an das zunächst Liegende, erzählte, wie das Wetter sei, was der Hund 
zu Hause mache (er führte den seltsamen Hundenamen »Altes Hause), 
und vor allem, daß es »Tante Mamachen« gut gehe — so pflegte er 
die sehr rüstige Frau Herbart auch noch in späten Jahren zu nennen. 

` Bis zu seinem 53. Jahre hat Otto Stiemer unter der Obhut der alten 
Hofrätin Herbart gestanden, denn diese starb erst Ende 1876 mit 
85 Jahren. In den nächsten freundschaftlichen Beziehungen standen 


nn 


294 A. Abhandlungen. 





die beiden zur Familie Stiemer, die gleichfalls noch in Königsberg 
wohnte. Ottos ältester Bruder pflegte der alten Dame, die freilich nie 
krank sein wollte, Hausarztbesuche zu machen. Am Sonntagmorgen, 
so wird überliefert, besuchten Stiemers sehr häufig den Verwandten 
und die »Tante Herbart«. Otto Stiemer war bei solchen Zusammen- 
künften mit die Hauptperson, er war durchaus imstande, an der Unter- 
haltung über Dinge des täglichen Lebens teilzunehmen, einfache Spiele 
— wie Domino — mitzuspielen; daneben zeigte sich freilich eine 
Vorliebe für kindliche Tätigkeiten — er freute sich stets sehr über 
elektrisierte Holundermarkkügelchen und pflegte in großer Geschwindig- 
keit mit Hilfe einer zweizinkigen Holzgabel lange Enden »Schnurs 
zu verfertigen, die er besuchenden Damen als Wäscheleinen usw. 
schenkte. Für blonde Damen pflegte er die weiße Schnur mit einem 
blauen Band zu umwinden, für dunkle Damen aber mit einem roten 
Band. Dabei war er durchaus beliebt, ja gesellschaftlich geachtet, 
überhaupt immer »mit dabeice. Er hielt sich auch Zeitungen, las 
Bücher und ließ sich vorlesen — seine Lektüre wird sich natürlich 
an durchaus sachliche Dinge gehalten haben; immerhin schenkte man 
ihm z. B. ein Buch über den Krieg 1870/71. Daß er selbst je Briefe 
geschrieben habe, ist nicht überliefert. Die Kirche besuchte er zu 
Zeiten, wie auch Frau Herbart das tat, die im übrigen Züge kirchlicher 
Frömmigkeit niemals zur Schau trug. Manchmal soll er auch eine 
ganz verständige Bemerkung über die gehörte Predigt gemacht haben, 
z. B. daß der Pastor über Politik gesprochen habe, und daß sich dies 
doch nicht schicke. 

An Frau Herbart hing Otto Stiemer in rührender Art, ebenso 
rührend war die Sorgfalt der edlen Frau für ihn. In den beiden 
Hausgenossen lebte auch noch das Gedächtnis an den längst ver- 
storbenen Hausherrn dauernd fort — an Herbarts Geburtstag wurde 
stets sein Bild bekränzt, und überhaupt wurden die drei Familien- 
geburtstage stets zu Festen in großem Kreise gemacht — genau wie 
das zu Herbarts Lebzeiten geschehen war.!) 

Noch über ihren Tod hinaus hat Frau Herbart für ihren Pflegesohn 
gesorgt. Sie hinterließ ihm genug, daß er unter der Pflege einer 
Haushälterin und des alten Dienstmädchens der Familie in Ruhe bis 
an seinen Tod — 28. Januar 1893 — in Königsberg leben konnte. Ein 
Kurator hatte die Aufsicht. Noch heute sorgen die Angehörigen Otto 
Stiemers jährlich für das Grab der zweiten Mutter ihres Verwandten. 


1) Vergl. Tautes Brief an Herbart vom 11. Dez. 1833 (Th. Fritzsch, »Briefe 
von und an Herbart«, IV, 258). 


Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 295 





All das scheint wohl wissenswert. Einmal gibt es ein Bild von 
der aufopfernden und ihres Zieles gewissen praktischen Tätigkeit des 
großen Pädagogen und seiner Gattin; dann beweist es die schöne 
geistige Übereinstimmung dieser beiden edlen Menschen. Denn in 
Herbarts Sinn hat seine Gattin bis an ihren späten Tod gewirkt — 
mochten ihr auch, nach dessen eigenen Worten, philosophica völlig 
fremd sein. 


2. Psychische Fehlleistungen. 
Von 
R. Egenberger, München. 
(Hierzu 12 Tafeln.) 
(Fortsetzung.) 
Alexie. 

Bei Lesestörungen handelt es sich um Assoziationsstörungen 
zwischen den geschriebenen oder gedruckten Schriftsymbolen und 
den Laut- und Wortbildern. 

Die literale Alexie besteht: 1. in dem Unvermögen, den ein- 
zelnen Buchstaben seinem lautlichen Inhalte nach aufzufassen. Die 
Störung liegt auf akustischem Gebiete. Verwechseln von e und i; o = u; 
b=d; g=ch; d.i. akustische Alexie; 

2. in dem Unvermögen, den einzelnen Buchstaben seinem opti- 
schen Bilde (Linien, Schleifen usw.) nach aufzufassen. a) Völlige Un- 
kenntnis. b) Verwechseln nach Formähnlichkeit: s = f; e=i; o=a; 
N = M; optische Alexie; 

3. in dem Unvermögen, das optische Schriftbild und das Klang- 
bild durch Sprechbewegungen hörbar zu machen. Hier liegt ein 
sprechmotorischer Defekt vor. Die Störung des Lesens ist nicht 
stets von sonstigen Sprechgebrechen begleitet. 

Literale Alexie bedingt meist auch verbale Alexie; denn wer die 
Buchstaben nicht auffaßt, liest wohl für gewöhnlich auch das Wort nicht. 

Aber es sind schon Fälle beobachtet worden, und auch ich sah 
Fälle, daß trotz literaler Alexie die Möglichkeit bestand, Wörter zu 
lesen. Es handelte sich um Schwachsinnige, die ganze Wörter mit 
Verständnis lasen, die Einzelbuchstaben des gelesenen Wortes jedoch 
nicht in das Lautbild übersetzen konnten. 

Wolf berichtet in der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie 
von dem Idioten Ph. G., daß er Wörter leichter als Buchstaben las. 
Während er zusammenhängenden Text fließend las, war er ungeschickt, 
wenn ihm aus Buchstabentäfelchen Wörter zusammengesetzt wurden. 


296 A. Abhandlungen. 





Aus dem Buche las er die schwierigsten Wörter, am Setzkasten las 
er selbst einfache Wörter nicht richtig. Die Zerlegung des Wortes 
in Buchstaben störte ihn; selbst zusammensetzen konnte er auch nicht. 
Er kannte nur den Gesamteindruck. Schreiben konnte er nicht, denn 
er konnte ja den Gesamtkomplex nicht in die Einzelbuchstaben auf- 
lösen. (Diktat) Einzelbuchstaben konnte er abschreiben. Seinen 
Namen konnte er schreiben. Abschreiben der Kurrentschrift ging 
schlecht.» Ziffern konnte er weder lesen noch schreiben. Zeichnen 
konnte er nicht. 

Verbale Alexie. Trotz Kenntnis der Schriftbilder kann das 
Kind kein Wort lesen. Alle Buchstaben stehen in Isolation. Die 
Kinder buchstabieren im Lesebuch und bringen das ganze Wort nicht 
heraus. Das Kind ist unfähig, die Buchstaben zusammenzuziehen und 
zusammenzuschleifen; zwischen den Lauten wird völlig abgebrochen 
und frisch angesetzt, auch der Atem wird frisch eingesogen. Die 
Versuche des Zusammenlesens scheitern daran, daß die Lautfolge dann 
gestört wird, es treten Auslassungen, Erweiterungen, Ausgleichungen, 
Perseverationen, Umstellungen auf. Und sehr zu beachten ist, daß 
bei buchstabierendem Lesen das Wort als lebendiges Wort der Sprech- 
sprache mit konkretem Inhalte nicht aufgefaßt werden kann. Die 
Analyse ist vielleicht möglich, aber die Synthese (= Zusammen- 
fügen) ist völlig unmöglich. Bei verbaler Alexie kann aus dem opti- 
schen Wortbilde das akustisch - motorische Wort nicht gewonnen 
werden; das optische Wortbild wird in isolierte Einzelbilder aufgelöst. 

Die verbale Alexie ist sehr häufig. Bei den meisten Kindern, 
die der Hilfsschule zugewiesen werden, steht im Personalbogen: Kennt 
zwar alle Buchstaben, kann aber keine Wörter lesen oder liest nicht 
zusammen. Solche Kinder sitzen auch sehr häufig in der Volksschule. 

Entweder lesen solche Kinder gar nicht, oder sie bringen eine 
Menge falsche Lesarten hervor, z. B.: 
hol = wo, lol, hl, hol. 
weinen = wen, weiner, wein, weine, weir, weimeir, weie, wenen. 
war =— warner, waren, warmen, warme, warne, waren. 
leb = lab; faul = fal; baut = bat. 

Optische und akustische Alexie. 

Statt wir liest der Schüler »wer«; wer ist vorher gelesen worden und 
hat Ähnlichkeiten mit wir. 

Statt Seife liest der Schüler »Seil«; Seil ist vorher gelesen worden 
und hat Ähnlichkeiten mit Seife. 

Statt weil liest der Schüler »wo«; wo ist vorher gelesen worden und 
hat Ähnlichkeiten mit weil. 


Egenberger: Psychische Fehlleistungen. i 297 


Statt hol liest der Schüler »wo«; wo ist vorher gelesen worden und 
hat Ähnlichkeiten mit hol. 
Statt weit liest der Schüler »weil«; weil ist vorher gelesen worden 
und hat Ähnlichkeiten mit weit. 
Statt weil liest der Schüler »wein«; wein ist vorher gelesen worden 
und hat Ähnlichkeiten mit weil. 
Statt seit liest der Schüler »sein«; sein ist vorher gelesen worden 
und hat Ähnlichkeiten mit seit. 
Statt w liest der Schüler »wo«; wo ist vorher gelesen worden und 
hat Ähnlichkeiten mit w. 
Statt Schaufel liest der Schüler »Schaf«; Schaf ist vorher gelesen 
worden und hat Ähnlichkeiten mit Schaufel. 
Statt Scheit liest der Schüler »Scheitel«; Scheitel ist vorher gelesen 
worden und hat Ähnlichkeiten mit Scheit. 
Statt heul liest der Schüler »feul«; faul ist vorher gelesen worden 
und hat Ähnlichkeiten mit heul. 
Sprachmotorische Alexie. 
Umstellungen (Buchstabenvertauschung) innerhalb eines Wortes: 
Statt auf ist fau gelesen worden. 


„ reif ,„ feier 5 A 
y ei „ Ae Be Ne 
kkj au kk ua „ 19 

eu „ ue M n 
nee 5 Te Br g 
„ Gans „ Gasn » 
” Geld ” legd ” ” 


Perseverationen auf Grund optischer, akustischer und sprech- 
motorischer Einwirkungen. 
Fibeltext: meine, seine, mein, sein. 
Es wurde gelesen: meine, seine, meine, seine. 
Fibeltext: heilen, teilen, teuer. 
Es wurde gelesen: heuter, teulen, teuer. 
Fibeltext: süß, müde, lügen, zünden. 
Es wurde gelesen (nachdem kurz zuvor eine ö-Wörtergruppe gelesen 
wurde): söß, möde, lögen, zönden. 
Es wurde gelesen: hörön (hören), mögön (mögen), lösön (lösen), 
tötön (töten), löschön (löschen); nauß (naß). 
Fibeltext: 
1, 2, 3 noch rascher sein; | schon hasch ich dich; 
sicher hole ich dich ein; | ha ha ha, 
husch husch husch, | nun lache ich. 


298 A. Abhandlungen. 





Gelesen wurde: 
1, 2, 3 noch hascher sein; (haschen steht schon auf der Seite vorher.) 
sicher hole dich dich ein; (das d ist vorausgenommen.) 
husch husch husch, 


noch hasch ich dich; (Nachwirkung von der 1. Zeile.) 
ha ha ha, 
nun lache dich. (Nachwirkung.) 
Fall Höp.: 
In seinem Hefte steht: iiiiiii 
Er liest aber: iiuiesa; das ist 


also ein Fall, daß derselbe Buchstabe nicht einmal in unmittelbarer 
Aufeinanderfolge erkannt wird. Nur das s erkannte er sofort und las 
es stets richtig. Es dauerte 10—14 Tage, bis er das i erkannte und 
las. Er sollte aus einem Übungsstück, in welchem i, a und s in 
reicher Zahl vermischt standen, alle i heraussuchen. Als ich ihn aber 
ein einzigesmal s sprechen ließ, konnte er die folgenden i nicht mehr 
benennen. Man sieht also, daß zwischen dem Schrift- und Lautbilde 
die nötige Assoziation nicht eingetreten ist, daß sie auf kurze Zeit, 
nachdem sie unmittelbar in wachem Zustande erhalten wurde, vor- 
handen war, daß sie sofort erlöschte, als ein anderes Laut- und Schrift- 
bild dazwischen trat. Merkfähigkeit war also gar nicht vorhanden. 
Für die Symbolik der Buchstaben fehlt ihm die Auffassungskraft. 
Schriftbilder sind ihm also Figuren und Linien, ohne lautliche Be- 
deutung. 

Fehlt es beiihm nun an den optischen Eindrücken? Keineswegs. 
Er sieht gut, zeichnet und modelliert besser als viele andere Kinder 
seines Alters. Zudem schreibt er die Buchstaben; freilich kann er 
auch seine selbstgeschriebenen Buchstaben nicht lesen. Indessen ist 
auch seine Schrift nicht ganz korrekt; er schreibt die Ober- und 
Unterlängen nicht stets in die richtigen Zeilen und fügt manche über- 
flüssige Striche hinzu oder läßt irgend einen kleinen Teil weg; aber 
die Hauptform bringt er richtig aufs Papier. 

Wie steht es nun mit den akustischen Eindrücken? Hier scheint 
schon ein Anhaltspunkt gegeben zu sein; der Knabe ist etwas schwer- 
hörig. Er unterscheidet o und u; e und i lautlich fast gar nicht. 
Seine Sprache ist nicht schlecht; aber gerade die Einzellaute faßt er 
im Artikulationsunterricht nur schwer auf. Sollte nun nicht die 
Schwerhörigkeit uns dartun, daß in der Hörsphäre ein Defekt vorliegt, 
der die akustische Auffassung und Wiedergabe des Schriftbildes ver- 
hindert? Dieser Defekt äußert sich als eine Assoziationsstörung; d. h. 


popne ma 


Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 299 








zwischen Zeichen und Laut kommt keine Verbindung zustande. Es 
besteht ein Zustand von Assoziationslosigkeit: Das ist literale 
Alexie, also das Unvermögen, die lautliche Bedeutung des Buch- 
stabens zu erkennen. 

Soviel ich bis jetzt sehe, wird Hö. die Alexie teilweise überwinden, 
und zwar kommt ihm seine Vorliebe fürs Schreiben dabei zu statten; 
bei ihm ist Schreiblesen natürlich sehr am Platze. Noch mehr aber 
behilft er sich mit Gebärden. Ihm ist die Gebärde das, was 
vielen das Fibelbild ist. Beim m streicht er über den geschlossenen 
Mund, beim o führt er den Zeigefinger in die o-Rundung, beim h 
macht er eine Handbewegung nach vorne, beim g eine Handbewegung 
rückwärts. Man muß nur darauf achten, daß er zu den Gebärden 
auch spricht; manchmal macht er die Gebärde, ohne dabei zu artiku- 
lieren. Für alle Fälle aber bewährt sich hier die Gebärde sehr, es 
ist das auch begreiflich. 


Fall H. Weiß: 

Kennt ziemlich alle Buchstaben, ist aber oft nicht imstande, zwei 
Buchstaben zusammenzuschleifen; insbesondere gelingt es ihm nicht, 
bewußt die Buchstaben umzustellen. Die geistigen Kräfte sind bei 
ihm durchweg geschwächt. Es besteht also nicht Unaufmerksamkeit, 
sondern Schwäche der Aufmerksamkeit, nicht Unfleiß und Faul- 
heit, sondern Unfähigkeit zu aufmerksamen, bewußten Tätigkeiten. 

So ist bei ihm infolgedessen die Neigung zum Ausgleichen 
und Umstellen besonders ausgeprägt; 

z. B. Übung: se es as sa le al 
er liest: se se sa sa le la. 

Er sieht wohl ein, daß man Umstellen kann, er vermag auch 
anzugeben, daß die Wörter und Silben mit verschiedenen Buchstaben 
beginnen, aber wenn er nach solchen Erläuterungen liest, so erscheint 
‚obiger Fehler trotzdem. Bewußtes Umstellen und Einstellen der Auf- 
merksamkeit hierauf ist ihm nicht möglich. Er folgt dem Gesetze 
der Beharrung und Gleichmachung. 

Diese Beharrung ist hier ein Kleben an der ursprünglichen Dis- 
position, nach welcher die erste Silbe gebaut ist. Das ist Beharren 
an der ersten Silbenkonstruktion. Die Buchstaben wechseln, nicht 
aber das Schema der Konstruktion, welches darin besteht: Sukzession 
von Konsonant — Vokal usw. 

Das Kleben an der ersten Konstruktion ist ein Aufmerksamkeits- 
fehler, weniger ein Gedächtnisdefekt, obwohl das Merken (Gedächtnis) 
daran beteiligt ist. Das Gedächtnis (die Merkfähigkeit für Buchstaben) 


300 A. Abhandlungen. 





ist bei H. W. nicht schlecht, denn er kennt fast alle Buchstaben. Das 
Gedächtnis ist gut, es schwebt das akustische Klangbild vor, es wirkt 
nach (Perseveration), es ist kein Sinnesdefekt da, das Auge sieht; 
selbst das Urteil über Buchstabenfolge ist richtig und trotzdem ist die 
ursprüngliche Konstruktion einer Silbe oder eines Wortes beim Lesen 
wirksam. Ja er buchstabiert richtig a — 1, und doch liest er im 
Zusammenhange la. Es fehlt also an der Koordination, die darin be- 
steht, daß der Leseakt in Einklang mit dem Gesehenen und Be- 
urteilten steht. Es ist eben Beharren, veranlaßt durch das akustische 
Klangbild, hervorgerufen durch die Schwäche der psychischen Akte 
der Aufmerksamkeit, welche nicht so stark ist, ein Erstes auszu- 
schalten und ein neues Zweites einzufügen. 

Die Behandlung besteht darin, einige besondere Aufmerksam- 
keitsakte beim Lesen einzufügen: die Aufmerksamkeit wird aus- 
schließlich auf den Anfangslaut gelenkt. 

Das ist Isolierung und Betonung des Anfangsbuchstaben, also: 


la el il lei ol 


Fall Kow.: 
a, m, i, u hat sie leicht gelernt; sobald e hinzukam, wurden i 
und e verwechselt. 


Lesestoff: e i a e m u e 
a a i m m u 
ei una na a ie 
u u a u m i u 
e e m e u a i e 


Fünfmal wurde e herausgesucht, trotzdem erkannte sie das erste e der 
letzten Zeile nicht mehr; das folgende e erkannte sie; das letzte e 
dagegen nicht mehr; es sind 3 Buchstaben dazwischen. Sie kennt 
das e nur, wenn es unmittelbar nacheinander kommt. Z. B.: 


e e e e 
e m [e]? 
e a u [e]? 
?[e] m u i [e]? 
e m a i u [e]? 


Bei Einübung neuer Buchstaben muß man also mindestens den 
neuen Buchstaben stets an zweiter Stelle wiederbringen; ja es wird 
gut sein, immer wieder den neuen Buchstaben zweimal unmittelbar 
nacheinander zu bringen. Z. B.: 


ss a SS Í SS e so SS u s usw. 


Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 301 








Als weitere Übung tritt der neue Buchstabe erst an 2. Stelle auf 
z. B.: sauseismos 

Dann bringt man ihn seltener, ja bringt Übungen ohne diesen 
neuen Buchstaben, um zu sehen, ob er nach längerem Nichtmehrsehen 
wieder erkannt wird. 

NB.! Das Mädchen war drei Tage von der Schule weg und sie 
erkannte die bis jetzt gelernten Buchstaben (5) nicht mehr. Das ist 
doch geringe Merkfähigkeit für Laute usw. Das ist zugleich ein Er- 
klärungsgrund für ihre Sprachstörung (Stammein). 

Sie neigt dazu, äbnliche Silben und Wörter anzugleichen. 

z.B: a al le il 
la la le li 

Es tritt nun Korrektur und Belehrung ein; jetzt liest sie ele. 
Sie wird also der Forderung gerecht, unterliegt aber immer noch dem 
Drange der Angleichung und Beharrung. 

Es hängt das gewiß von der willkürlichen Aufmerksamkeit ab, 
und zwar fehlt es an der Intensität der willkürlichen Auf- 
merksamkeit. 

Solche Fehler sind nur dadurch zu bekämpfen, daß das Kind von 
der unwillkürlichen Aufmerksamkeit immer unabhängiger und die 
willkürliche Aufmerksamkeit rege und wirksam gemacht wird. Die 
beste Übung ist, daß das Kind Umstellungen selbst vornehmen muß. 

Bei der idiotischen Zwer. ging die Beharrung soweit, daß, wenn 
sie den Mund zu a öffnete, sie ihn für m nicht mehr zu schließen ver- 
mochte, sondern zu jedem neuen Buchstaben a sagte. 


Psychologie des Lesens und die Fibelfrage. 

Das Schriftzeichen ist nichts anderes, als ein Lautsymbol. Laute 
und Schriftzeichen dienen der Hervorbringung von Wörtern und Sätzen, 
welche sinnvolle Vorstellungen und Urteile ausdrücken. Schriftzeichen 
sind nichts anderes als Träger und Vermittler, Symbole der gesprochenen 
Sprache. Die gesprochene Sprache wird in eine optische Sprache ver- 
wandelt und diese muß wieder zu einer akustischen Sprache rück- 
verwandelt werden. 

Daß dieser Prozeß nicht leicht ist, ist längst bekannt, weniger 
bekannt sind die Lesestörungen, welche eine Hemmung, Erschwerung 
und Störung des Umwandlungsprozesses von der optischen Zeichen- 
sprache zur akustisch-motorischen Lautsprache darstellen. 

Beim angeborenen Schwachsinn, soferne er mit Alexie behaftet 
ist, fällt es so schwer, an das optische Schriftbild eine Assoziation 
zum Klangbilde zu stiften. Wochenlang sind die Versuche hierzu 


302 A. Abhandlungen. 





resultatlos; bei schweren Schwachsinnsfällen ist oft eine unüberwind- 
bare Unfähigkeit zur Bildung von diesen Assoziationen gegeben. Bei 
Übungsunfähigkeit sind die Versuche einzustellen, selbst wenn sich 
nach jahrelangen Bemühungen einige Assoziationen einstellen, so ist 
das nutzlos und ohne jede Bedeutung. Lesen hat nur einen Wert, 
wenn aus den Schriftbildern, die tag-täglich vors Auge treten, der 
Sinn auch entnommen werden kann. Lesen ist eben auch von der 
übrigen Intelligenz abhängig. Es gibt Idioten, die fließend lesen; 
allein unter Lesen müssen wir das sinnvolle Lesen verstehen. Zu 
der Übersetzung der optischen Zeichen in Klangbildern tritt auch die 
Identifizierung dieser Symbole mit Vorstellungen und Begriffen, welche 
durch die Sprache festgehalten und wiedererweckt werden wollten. 

Das Lesenlernen umfaßt demnach: 

1. Die Herstellung von Assoziationen zwischen dem Buchstaben 
und dem damit bezeichneten Laute. 

2. Um Buchstaben und Laute, als isolierte Sprachteile, handelt es 
sich aber nicht so sehr, als vielmehr um Herstellung von 
Assoziationen zwischen den geschriebenen und gesprochenen 
Wortkomplexen. 

3. Die in Laut- und Wortklänge übersetzten Buchstabenkomplexe 
müssen einen inhaltlich vorstellbaren, sinnvollen Inhalt im Leser 
erwecken. 

In bezug auf Lesenlernen betonte man stets die Notwendigkeit, 
beim Nahen, Nächsten, Verwandten und Ähnlichen zunächst zu ver- 
weilen. Vom Nahen zum Entfernten; vom Einfachen zum Zusammen- 
gesetzten, so lauten unsere bekannten pädagogischen Grundsätze. 

Die pädagogische Pathologie lehrt unzweifelhaft, 
daß in der Sprache und in der Schrift das Ähnliche und 
Nahverwandte ständig sich gegenseitig stört, indem 
beim Verlaufe des Sprechens und Lesens und Schreibens 
die Ähnlichkeit es ist, welche auf falsche Assoziations- 
bahnen führt. 

Daraus ist zu folgern, daß es nicht besonders klug ist, wenn die 
meisten Fibeln mit i und e, mit n und m, mit s und f den Lese- 
unterricht beginnen. Weil die Fibeln grundsätzlich das Ähnliche im 
optischen, akustischen und sprechmotorischen Gebiete rasch nacheinander 
bieten, begünstigen sie Lesestörungen, wie z. B. das ewige Verwechseln 
der ähnlichen Buchstaben. Die Darbietung des n und m soll zeitlich 
weit auseinander liegen, ebenso o und u, i und e. 

Der Grundsatz: Vom Einfachen zum Zusammengesetzten, verleitete 
die Fibelautoren dazu, zum ersten Leseunterrichte Formwörter zu be- 


Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 303 








nutzen. Man glaubt Wörtchen wie: nun, wo, an, um, warum, weil 
usw. seien naheliegende, einfache Lesewörter. Das ist grundfalsch; 
einfach sind diese Formwörter nur hinsichtlich der Buchstabenverbindung 
und -anzahl; aber die inhaltliche Auffassung ist zu schwer. Der 
Unterricht im Lesen bei Schwachbegabten zeigt, daß alles wenig Vor- 
stellbare und insbesondere das Unverstandene schlecht gelesen wird. 
Wie kann aber der begriffliche Inhalt der Wörtchen: nun, so, weil, 
warum, in usw. das Kind beim Lesen unterstützen? Um sich ein »in« 
anschaulich zu machen, bedarf es einer Reihe von Überlegungen, also 
ist das Formwort durchaus kein so leicht verständliches Wörtchen. 

Der Leseunterricht muß sich an Concreta (Substantiva, Verba, 
Adjektiva usw.) halten. Das Konkrete ist nah. 

Wolff teilt einen Fall mit, daß eine Patientin bestimmte Wörter 
nicht lesen konnte und zwar waren das hauptsächlich die Artikel, die 
Pronomina, Präpositionen und Konjunktionen; während sie Substantiva, 
Adjektiva, Verba in bedeutend großer Zahl zu lesen vermochte. Hier 
muß es also doch die Bedeutung des Wortes gewesen sein, welche 
das Lesen des Wortes erleichterte. Die Assoziation zwischen Schrift- 
form und der inhaltlichen Bedeutung übt also eine äußerst förderliche 


Einwirkung aus. 
Die Patientin konnte Wörter, welche beim Lesen 

verändert wurden 

lesen: nicht lesen: statt: wurde gelesen: 

Löffel oder wider Widerhall 

Bibel Katechismus Waschfrau waschen 

Garten sie Feuer Feueranzünder 

Auge gelang Werk Maschine 

lustig zu schüchtern düster 

hören auf Christus Lehre 

sehen so begabt Schuljahr 

Eierkuchen mein Allgemeine Zeitung Konsum 


Richtig gelesen wurden also die konkreten Wörter; gar nicht 
gelesen wurden die Formwörter; die letzte Gruppe der Wörter zeigt, 
daß die Patientin das flüchtig gesehene Wort sofort einer Umarbeitung 
und selbständigen Weiterführung unterwirft, und zwar ist das eine 
inhaltliche Verarbeitung. Diese Patientin kann nur a, b, d, f, 1 und B 
richtig lesen, alle übrigen Buchstaben kennt sie nicht. Abschreiben 
kann sie dagegen alles; während sie Diktat- und Spontanschreiben 
nicht vermag. 

Ähnliches erlebt man auch bei unseren Kindern. Ich hatte einen 
Knaben zu unterrichten, der einzelne Substantiva und Verba nur so 


304 A. Abhandlungen. 








las, daß er dazu einen Satz konstruierte, z. B. heul = Der Hund heult. 
weinen = Weine nicht so lange. sch — scheuch den Vogel weg. 
Ein anderer Knabe las statt mager: fett usw. 

Es läßt sich ferner beobachten, daß die Kinder im Lesebuche alle 
jene Lesestücke merklich schlechter lesen, welche in einer ungeläufigen, 
möglichst gesuchten und verschrobenen Sprache geschrieben sind. 

Es ist sicher anzunehmen, daß ein Kind besser und sicherer 
lesen wird, wenn es ein Lesebuch mit konkreten, inhaltlich nahe- 
liegenden Wörtern und Sätzen in die Hand bekommt. 

Zur Bevorzugung der inhaltlich schwer aufzufassenden Formwörter 
hat namentlich der Schreibleseunterricht geführt. Der Lehrer sollte 
sich niemals einem Prinzipe ganz und gar, mit Haut und Haar ver- 
schreiben. Man sollte vernünftigerweise doch bedenken, daß das Kind, 
welches ein kleines h lesen kann, auch das große H ohne weiteres 
liest. Ebenso kann beim kleinen o das große O, beim kleinen a das 
große A, beim kleinen g das große G der Kurrentschrift geboten 
werden. Was macht die Einführung einiger Großbuchstaben aus, um 
den Fibeltext mannigfaltiger und konkreter zu gestalten! Wer »haben« 
lesen kann, vermag auch »Hase«, »Hose«, »Hut« und »Hof« zu lesen; 
wer »bin«, »beide« liest, kann auch »Besen« lesen. 

Ferner halte ich es für nicht so sehr günstig, wenn man die 
Kinder daran gewöhnt, ausschließlich phonetisch zu schreiben, und des- 
halb nur lauttreue Wörter bietet. Das ist vielleicht einer der Gründe, 
warum die Schüler in der Orthographie so sehr versagen. Es können 
Wörter wie: fett, rollen, Ball usw. ohne weiteres gelesen werden. Für 
die Orthographie ist die Pflege des optischen Schriftbildes nötig; um 
orthographisch schreiben zu lernen, bleibt in vielen Fällen nichts 
anderes übrig, als sich das Schriftbild einzuprägen. Unsere Fibel tut 
aber, als ob wir nur eine phonetische Schreibweise hätten. Lesen 
und Orthographie müssen bald als gesonderte Unterrichtsgebiete be- 
trachtet werden; das Lesen eilt dem orthographischen Unterricht voraus. 

Daß die Schreiblesemethode manchmal entbehrt werden muß, lehrt 
die pädagogische Pathologie; denn es gibt genug Kinder (ich habe 
zurzeit in meiner Klasse 3 solche Schüler) die an Agraphie leiden, 
dagegen das Lesen für sich ganz hübsch erlernen. Und umgekehrt 
habe ich zurzeit in meiner Klasse einen Schüler (Hö.), der an Alexie 
leidet, aber ganz gut schreiben kann; das Geschriebene vermag er 
aber nicht zu lesen. 

Von einem konkreten Worte und Satze gehen vielmehr Re- 
produktionstendenzen aus. In der gesprochenen Sprache gibt es fast 
keine Einzellaute und isolierten Formwörter. Darum werden sinnvolle 


Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 305 








Wörter rascher gelesen als sinnlose Silben; sinnvolle Sätze be- 
anspruchen nur die Hälfte der Lesezeit von Einzelbuchstaben und 
sinnlosen Silben usw. 

Schließlich wird der Einzellaut und die sinnlose Silbe ganz anders 
artikuliert, als das sinnvolle Wort. Einen normalen Sprechton muß 
man beim Lesen erzielen. Die Fibel muß so sein, daß man lesen 
kann, wie man spricht. Man vergleiche die Artikulation (man denke 
an dialektische Färbungen!): 

a) sinnlos: eck ug ag 
b) im Worte: Eck, schlecken. trug, schlug, frug. schlag! fragte. 

Außerdem soll das Kind gerade im ersten Jahr schon daran ge- 
wöhnt werden, zu jedem gelesenen Worte auch den entsprechenden 
Gegenstand selbst oder ein Bild von ihm anzuschauen oder seine 
Vorstellung wachzurufen und irgend eine Assoziation zu reproduzieren. 

Beim Lesenlernen pflegt man in gleichem Maße das Erkennen, 
Benennen, Zusammenfügen und Analysieren der Buchstabenkomplexe, 
wie man auch das Gesamtwortbild auf das Auge wirken lassen muß; 
denn dieses gibt einen ganz charakteristischen Gesamteindruck, simul- 
taner Natur, mit eigenartigen Konturen, Wölbungen, Zacken und 
Giebeln. Außerdem muß dieses Schrift- und Lautbild noch einen 
Vorstellungsinhalt wachrufen. Das ist Leseunterricht. Jeder Lehrer 
muß imstande sein, selbst die Fibeln zu schreiben, welche für die 
verschiedenen Schwachsinnsformen notwendig sind. (Schluß folgt.) 


3. Die experimentelle Ermüdungsforschung. 
Von 
Marx Lobsien, Kiel. 


(Fortsetzung.) 


C. Die psychologischen Methoden. 
Wir sonderten sie in zwei Gruppen, von denen die erste als psycho- 
logische im engeren Sinne bezeichnet wurde. Dazu zählten wir die 
Kombinations-, die Gedächtnis- und die Reaktionsmethode. 


a) Kombinationsmethode. 

Die Kombinations- oder Ergänzungsmethode verdanken wir Her- 
mann Ebbinghaus. Auf Anregung der hygienischen Sektion der 
Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur beschäftigte er sich 
mit der Frage, wie man die geistige Leistungsfähigkeit, besonders von 

Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 20 


306 A. Abhandlungen. 








Schulkindern in exakter Weise prüfen könne. Bei seinen Erwägungen 
legte er besonderes Gewicht auf eine Prüfung auch der freieren und 
in gewissem Sinne neuschöpferischen geistigen Tätigkeit, wie sie 
überall bei höheren intellektuellen Leistungen ins Spiel kommt, auf 
eine Prüfung der Fähigkeit, aus verschiedenen und zunächst zusammen- 
hangslosen Daten möglichst rasch ein sinnvolles Ganzes zu kombinieren. 
Den Schülern wurden ihrer Fassungskraft angemessene Prosatexte 
vorgelegt, die in der mannigfachsten Weise durch kleine Auslassungen 
unvollständig gemacht worden waren. Bald sind einzelne Silben fort- 
gelassen worden und zwar am Anfang, am Ende, wie in der Mitte 
eines Wortes, bald Teile von Silben, bald auch ganze Wörter. Jede 
ausgelassene Silbe und jedes ausgelassene Silbenfragment ward durch 
einen Strich angedeutet und dem Schüler nun die Aufgabe gestellt, 
die Lücken eines solchen Textes möglichst schnell, sinnvoll und mit 
Berücksichtigung der verlangten Silbenzahl auszufüllen. Der Prüfling 
hat dabei stets eine kleine Mehrheit von Dingen gleichzeitig im Auge 
zu behalten: die dastehenden Buchstaben, die Anpassung an die vor- 
geschriebene Silbenzahl, vor allem den Sinn seiner Ausfüllung sowohl 
im engeren wie im weiteren Zusammenhange des Textes, nicht nur 
mit Rücksicht auf das Vergangene, sondern bisweilen auch mit Rück- 
sicht auf das folgende. Die Arbeitszeit an einer Textprobe wurde auf 
genau fünf Minuten bemessen und hinterher dann jedesmal fest- 
gestellt, wieviele Silben richtig ausgefüllt, wieviele etwa übersprungen 
und wieviele sinnlos ausgefüllt worden waren. Als Probe der Text- 
gestaltung möge folgendes Beispiel aus Nettelbecks Schilderung der 
Belagerung Colbergs dienen: »Gleich des näch.. Tages stellt sich .. 
neue Kommandant, Major v. Gneisenau, der Gar... als ihr jetziger 
Anf.. vor und d.. feierl .. begleitete er... einer A..., die so... 
rucksvoll und rü.. war, wie wenn ein g.. Vater.. sei.. lieben ... 
spräche.« 


b) Die Gedächtnismethode 


wurde, außer von andern Forschern, auch von Ebbinghaus ange- 
wendet. Sie prüft das sogenannte unmittelbare Gedächtnis und be- 
steht darin, daß den Prüflingen kurze Reihen einsilbiger Zahlwörter 
in verschiedenen Anordnungen und in bestimmtem Tempo zu gewissen 
Zeiten vorgesagt werden. Sechsstellige Reihen dieser Art — so äußert 
sich Ebbinghaus auf Grund seiner Erfahrung — bringt fast jedes 
Kind über acht Jahre fehlerfrei zustande; über zehnstellige Reihen 
hinaus kommen selbst Erwachsene ohne vorherige Übung nicht leicht. 
Benutzt man also bei der Prüfung in den aufsteigenden Klassen sechs- 


Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 307 





stellige, siebenstellige usw. bis zehnstellige Reihen, so hat man voraus- 
sichtlich überall die Grenze der Leistungsfähigkeit eingeschlossen und 
kann nun aus der Verschiebung dieser Grenze, aus der verschiedenen 
Fehlerzahl zu verschiedenen Zeiten usw. seine Schlüsse ziehen. — 
Die Zahlwörter werden unmittelbar nach dem Vorsprechen nieder- 
geschrieben, so viel immer behalten wurden. Da man die sieben auch 
zu den einsilbigen Zahlwörtern rechnen kann, so verfügt man über 
dreizehn Elemente, nämlich über die Zahlwörter von Null bis Zwölf, 
und kann mit diesen eine große Menge verschiedener Kombinationen 
in verschiedener Länge herstellen. Die Geschwindigkeit des Vor- 
sprechens normierte Ebbinghaus auf !/, Sekunde für jede Ziffer. 
Vor Beginn des Unterrichts und dann am Ende jeder Lehrstunde 
wurden je zehn solcher Reihen vorgesprochen und niedergeschrieben, 
nämlich je zwei Reihen zu sechs, je zwei zu sieben, zu acht, zu neun 
und zu zehn Ziffern. So ergab sich für jeden Versuch ein Zeit- 
aufwand von vier bis fünf Minuten. 


c) Die Reaktionsmethode 
mißt die Ermüdung durch die Bestimmung der Dauer psychischer 
Vorgänge; sie bedarf der Zeitmeßapparate. Unter dem Einflusse der 
Ermüdung verlängern sich die Reaktionszeiten. Schon Keller wandte 
ein rohes Verfahren zur Bestimmung der Reaktionszeit an. Er ließ 
nach längerer körperlicher Anstrengung Wörter möglichst schnell lesen 
und berechnete die durchschnittliche Lesezeit für Wörter und Silben 
im Zustande der Erholung und der Ermüdung. Zu ihrer exakteren 
Ausgestaltung bedarf die Methode der Hilfsmittel des Laboratoriums. 
In dieser Gestalt haben Kraepelins Schüler Apel, Oehrn und Bett- 
mann mit der Methode gearbeitet. Bettmann wandte die Wahl- 
reaktion an. Bei den Reaktionen wird gefordert, daß auf einen Reiz 
mit einer bestimmten Willensäußerung geantwortet wird. Der Zeit- 
punkt, da der Reiz eintritt und derjenige, da der Wille reagiert, müssen 
mit Hilfe eines Chronoskops genau festgestellt werden. Die zwischen 
beiden verflossene, meßbare Zeit, heißt Reaktionszeit und zwar in 
diesem Falle, da der Verlauf relatıv einfach ist, einfache Reaktionszeit. 
Bei der Wahlreaktion liegen die Verhältnisse insofern komplizierter, 
als nicht auf einen Reiz in eindeutig bestimmter Weise reagiert, son- 
dern unter mehreren die Wahl bleibt, entsprechend vorheriger Ver- 
einbarung. Natürlich verlängert sich infolge des komplizierteren Ver- 
laufs die Reaktionszeit, und es stellen sich Fehlreaktionen ein, die 
eine weitere Handhabe zur Maßbestimmung geben. 
20* 


308 A. Abhandlungen. 








d) Auffassungsfähigkeit. 

Die Methode zur Messung der Auffassungsfähigkeit besteht im 
fortlaufenden Lesen von Reizwörtern, welche mit Hilfe eines Kymo- 
graphions an einem engen Spalt vorübergeführt werden. Sie hat eine 
Abänderung erfahren, indem an Stelle der Wörter Gruppen von senk- 
rechten Strichen stehen, deren Anzahl angegeben werden müßte. 
Zur Verwendung kamen Gruppen von 3, 4, 5, 6, 7 Strichen, die in 
Komplexen von je fünf vereinigt waren. Die einzelnen Komplexe 
waren durch die Vokale a, e, i, o, u getrennt. Die Anordnung läßt 
eine sehr große Zahl von Variationen zu. — Das Beobachten geschah 
immer mit demselben Auge. Die Versuchsperson nahm ihren Platz 
vor dem Apparat ein, diesen fixierend. Das Kinn ruhte auf der 
Kinngabel. Der Versuchsleiter bewegt die Trommel ein wenig hin 
und her, bis die Versuchsperson die Orientierungsmarke, welche etwa 
l cm vor der ersten Strichgruppe angebracht ist, gefunden hat. Dann 
legt der Experimentator ein Tuch über den Kopf des Prüflings und 
die Ränder des Diaphragmas, um das seitliche Licht abzublenden und 
setzt den Apparat in Bewegung. — Als Index wurde die Menge der 
richtig beurteilten Strichgruppen benutzt. 

Zur Interpretation der gewonnenen Zahlenreihen konnte die Selbst- 
beobachtung fast gar nicht ausgenutzt werden aus Furcht vor Suggestiv- 
wirkungen. 


D. Die pädagogisch-psychologischen Maßmethoden 
erfordern nur wenig Zeilen zu ihrer Klarlegung. Wir haben sie in 
mechanische und nichtmechanische gesondert. Zu den ersteren sind 
zu rechnen: Das Zählen und Durchstreichen von Buchstaben und 
das Niederschreiben von Ziffern. 


1. Mechanische Maßmethoden. 
a) Durchstreichen von Buchstaben. 

Ritter ließ bestimmte Wörter und Buchstaben durchstreichen, 
ein Verfahren, das offenbar durch leichte Anwendbarkeit ausgezeichnet 
ist. So verlangte er z. B., daß durch einen senkrechten Strich ein 
bestimmter Buchstabe in Groß- und Kleinschreibung kenntlich ge- 
macht und zu gleicher Zeit bestimmte übereinstimmende grammatische 
Formen quer durchstrichen werden sollten. Er normierte eine Zeit- 
dauer von zwei Minuten für jede Probearbeit und richtete sein Be- 
mühen darauf, für jede relativ gleiche Anforderungen stellende Texte 
zu gewinnen — eine keineswegs leichte Aufgabe. 


Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 309 





b) Zählen von Buchstaben. 

Einfacher aber auch noch wesentlich einseitiger ist das Verfahren, 
welches das Zählen von Buchstaben verlangt und das Niederschreiben 
von Ziffern. Hart an der Grenze der rein mechanischen Verfahrungs- 
weisen steht die Methode Schuytens, die er als Abschreibemethode 
bezeichnet. Nach dieser werden mittels der Buchstaben aeiour 
vn — man sieht, es sind die Zeichen ohne Ober- und Unterlängen 
— eine Reihe von Kombinationen hergestellt und an die Wandtafel 
geschrieben. Die Schüler werden angewiesen, sie während eines Zeit- 
raumes von fünf Minuten abzuschreiben. Die geistige Leistungsfähig- 
keit wird bestimmt nach dem Maße der bei dem Abschreiben auf- 
gewendeten Aufmerksamkeit. Für diese hat man offenbar einen be- 
quemen Maßstab an der Zahl der Fehler und Korrekturen. 


2. Die nichtmechanischen Maßmethoden 
pädagogischen Charakters gruppieren sich um das Lesen, das Rechnen 
und Diktieren. 


a) Lesen. 

Die Kellerschen Leseversuche wurden soeben genannt. Auch 
Schuyten wandte das Lesen an. Er ließ seine Prüflinge während 
eines Zeitraumes von fünf Minuten in ihrem vlaamländischen Lese- 
buch lesen. Die Versuche wurden in je zwei höheren und zwei 
niederen Knaben- und Mädchenabteilungen zu vier verschiedenen 
Tageszeiten angestellt. Um Störungen zu vermeiden, die etwa durch 
andere Klassen veranlaßt werden konnten, wurde Sorge getragen, daß 
die zu Prüfenden von den andern isoliert waren. Der Experimentator 
nahm vor der Klasse einen Standpunkt ein, der ihm erlaubte, alle 
Schüler mühelos im Auge zu behalten. Auf ein verabredetes Zeichen 
begannen die Schüler zu lesen und der Experimentator notierte die- 
jenigen, die das Lesen unterließen. Hernach wurde berechnet, wie- 
viele Schüler während der Prüfungszeit gelesen hatten, ohne die Auf- 
merksamkeit von den Blattseiten abzuwenden. Schuyten wandte die 
Methode in erster Linie an, um den Jahresschwankungen der Auf- 
merksamkeitsenergie nachzugehen; der Aufgabe, dem täglichen Er- 
müdungs- und Erholungswechsel nachzugehen, dienen sie nur sekundär. 

Die Lesemethode, die ich zur Messung der Ermüdung anstellte, 
ging von der Überzeugung aus, daß zwei technische Voraussetzungen 
unter allen Umständen zuerst erfüllt werden müssen; die eine bezieht 
sich auf die Notwendigkeit einer exakten Zeitmessung, die andere auf 
die Schaffung einer möglichst homogenen Arbeitsforderung für die 


310 A. Abhandlungen. 





einzelnen Versuchsreihen. Eine exakte Zeitmessung ist durch die 
Beobachtung des Sekundenzeigers der Uhr nicht gewährleistet, dazu 
bedarf es eines genaueren Zeitmeßapparates, eines Chronoskops, das 
so eingerichet ist, daß an ihm Anfang und Ende der geforderten 
Prüfungsarbeit mit hinlänglicher Genauigkeit registriert werden kann. 
Daneben ließ ich mich bei der Konstruktion von dem Gesichtspunkt 
leiten, es müsse der Apparat relativ einfach, handlich und leicht ver- 
wendbar gestaltet werden. — Mein Chronoskop besteht zur Hauptsache 
aus einem Uhrwerk, das durch eine starke Feder getrieben wird. Der 
Hemmung und Regulierung dient eine rotierende Scheibe, die an der 
Rückseite befestigt ist. Das Zifferblatt läßt 1/,ooo Sekunden ablesen. 
Beim Beginn des Versuchs werden die Zeiger auf Null eingestellt. 
Von besonderer Bedeutung sind zwei Hebel, die, mit einem Knopf 
in Verbindung stehend, das Uhrwerk mechanisch aus- und einlösen 
können (Handarretierung). Drückt man mit leichtem Schlage auf den 
einen Knopf, dann setzt sich das Uhrwerk sogleich in Bewegung, ein 
leichter Druck auf den andern genügt, um die Zeiger sofort zum 
Stillstande zu bringen. Die inzwischen verlaufene Zeit kann auf dem 
Zifferblatt bequem abgelesen werden. — Das homogene Leseobjekt 
versuchte ich auf folgende Weise zu gewinnen: Die mechanische 
Leseschwierigkeit der Schriftzeichen untersuchte ich mit Hilfe eines 
Tachistoskops von kleineren Dimensionen als diejenigen sind, die 
unter andern Cattells (Philos. Studien II u. III) Fallapparat aufweist. 
Die Lesezeit der Zeichen wurde in Bruchteilen von Sekunden an- 
gegeben, entsprechend dem Grundsatze: Wir sind befugt, die Länge 
der Lesezeit in ein umgekehrtes Verhältnis zu setzen zur Größe der 
subjektiven Anstrengung, die das Leseobjekt von dem Beobachter 
fordert. Die Dauer des psychophysischen Zeitaufwandes entspricht 
der Schwierigkeit der sensomotorischen Ausprägung der Leseobjekte. 
Die Lesezeiten wurden nach ihrer Länge und dementsprechend die 
Lesezeichen nach ihrer Schwierigkeit geordnet. Als Beispiel möge 
folgende Anordnung dienen: 


a ren l deutsche Schriftzeichen i Sioi 3 ; 
IL ne l lateinische Druckschrift { isats 1 
TE kleine } lateinische Schrift Er 
m en deutsche Druckschrift [ 1087703 k 


Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 311 





Bei der Konstruktion homogener Leseobjekte konnte ich mich 
nicht zu einem so mechanischen Verfahren entschließen, wie das 
Lesen aufeinananderfolgender, zusammenhangsloser Zeichen. Die 
Fertigkeit im mechanischen Lesen bekannter Schriftzeichen ist so sehr 
in den Sprachmechanismus durch Übung eingegangen, daß es vom 
Kundigen nur sehr geringe geistige Anstrengung erfordert. Ich be- 
fürchtete, daß nur gröbere, nicht aber feinere Ermüdungserscheinungen 
zur Ausprägung gelangen möchten. Darum wählte ich folgenden Aus- 
weg: Ich ließ eine geistige Arbeit in den mechanischen Vorgang 
einfließen. Ich häufte die Schriftzeichen in bunter Folge aneinander 
zu Reihen, die nach der Leseschwierigkeit abgegrenzt waren, doch 
ohne Trennungszeichen und zwar wählte ich lediglich Schriftminuskeln 
in Antiqua aus, weil diese Schriftart sich nach meinen Untersuchungen 
von mittlerer Leseschwierigkeit erwies. Die Versuchsperson hat nun 
die Aufgabe, diese sinnlose Zusammenstellung von Buchstaben mög- 
lichst schnell und in der Weise zu lesen, daß je drei Buchstaben zu 
einer Silbe zusammengefaßt werden. Diese Zusammenfassung geschieht 
abwechselnd in drei verschiedenen Modi, um nach Möglichkeit Übungs- 
wirkungen abzuschwächen. Die Fehler werden durch den Versuchs- 
leiter kontrolliert. Der Versuch verläuft nun in folgender Form: Die 
Lesetafel wird vor die Versuchsperson gelegt, so daß sie sie bequem 
überschauen kann. Hinter der Tafel steht in leicht handgreiflicher 
Nähe das Chronoskop. Der Beobachter hat die Hände so gelagert, 
daß der Zeigefinger der linken Hand sich über dem Knopf des Aus- 
lösehebels befindet, der der rechten über dem Hemmhebel. Der Blick 
ist auf die noch durch eine verschiebbare Schiene verdeckte Anfangs- 
silbe eingestellt. Die Versuchsperson zählt in bestimmtem, vorher ge- 
übtem Tempo bis drei; auf zwei! wird die verdeckte Schiene durch 
den Experimentator zurückgezogen. Der Prüfling spricht: drei! nicht 
aus, sondern drückt anstatt dessen auf den Knopf der Arretierung 
und beginnt in demselben Augenblick zu lesen. In dem Moment, da 
er das erste Zeichen der letzten Silbe ausspricht, hemmt er mit dem 
Zeigefinger der rechten Hand den Lauf des Uhrwerks. — Die Vor- 
bereitungen haben den Zweck, einen möglichst präzisen Beginn und 
Schluß der Zeitmessung zu erzielen. Selbstverständlich muß ein 
Übungskursus, der übrigens keine großen Schwierigkeiten zu über- 
winden hat, den Hauptversuchen vorangehen. In demselben muß 
auch das ungewohnte Zusammenfassen dreier willkürlich gewählter 
Zeichen zu einer Silbeneinheit Berücksichtigung finden und soweit 
zu einem glatten Ablauf gebracht werden, daß die Versuchsperson 
nur auf die Neuheit der Zeichen ihre Aufmerksamkeit einzuspannen 


312 B. Mitteilungen. 








nötig hat. Der Einfluß der Übung muß eliminiert werden, weil 
andernfalls eine Pseudoermüdungskurve gewonnen werden würde, die 


von Anfang an sich in absteigender Richtung bewegt. 
(Forts. folgt ) 


B. Mitteilungen. 


1. Ein Schülerbericht aus Trüpers Erziehungsheim 
auf der Sophienhöhe bei Jena. 
Von Fr. Rössel, Hamburg. 


(Schluß.) 


Ein Beispiel nach Stenogramm sei dazu noch mitgeteilt: P. spricht: 
»Einmal tekel mi (war nicht deutlich zu verstehen) der Gärtner hat 
weggepflanzt. Es ist in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend. 
Weihnachtsbaum, ha, ha! Auf die Rabatten babe ich Putti gemacht, die 
Rabatte ist ein Pappding. Wenn du Petroleumhände schmutzig, um Gottes- 
willen, da kommt der Bahnmann und prügelt mich durch. Ich will nach 
Hirschberg fahren. In Hirschberg machen ‚ch‘ Gott nein. Der Maikäfer 
ist ein nützliches Tier, ich hol den Stock rein, der Junge ist zu albern.« 
Zuweilen zeigt sich auch eine Neigung zu Reim- und Klangassoziationen. 

»Da bin ich aufgewacht in meiner ganzen Pracht, da hast du einen 
Schnupfen. Die Raben speisen Aas, verfaultes Fleisch. Deine Kröte, 
meine Kröte, Frosch, ah, ah. Bettelmannsspeise, Apfelspeise, Schokoladen- 
speise, Eierspeise, Flammeri.« 

Er zählt nun ein ganzes Menü auf. 

Einen außerordentlich starken Einfluß auf den Vorstellungsablauf 
haben bei P. Musikinstrumente und Musik. Er besitzt ein vorzügliches 
musikalisches Gehör. Jeden Ton kann P., mag er in einer beliebigen 
Lage auf dem Klavier, auf der Geige, anf dem Harmonium oder durch 
Gesang angegeben werden, sofort sicher angeben. Umgekehrt vermag er 
auch jeden ihm genannten Ton richtig zu singen. Ein schwieriges Lied 
von Brahms, welches er nur einmal gehört hatte, konnte er noch nach 
vier Monaten der Melodie nach vollständig richtig singen. Alle gehörten 
Melodien spielte er auf dem Klavier nach. Die Begleitung sucht er sich 
selbst. Dabei geht ihm selten ein Ton fehl, obwohl er in den schwierigsten 
Tonarten (gewöhnlich des-Dur) spielt. 

An einem Feste hörte er eifrig der Musik zu und rührte sich nicht. 
Wenn er angesprochen wurde, kniff er die Augen zusammen, wandte sich 
ab, als ob ihm die Störung unangenehm wäre, und als ob er von dem 
gesprochenen Worte während der Musik nichts hören wollte. 

Ein anderes Mal stand er, während Bilder einer Laterna magica vor- 
geführt wurden, unausgesetzt am Harmonium, drückte die Tasten nieder, 
obwohl kein Ton hörbar werden konnte und summte eine Melodie. Um 
die vorgeführten Lichtbilder, für Kinder etwas außerordentlich Interessantes, 





1. Ein Schülerbericht aus Trüpers Erziehungsheim. 313 





kümmerte er sich gar nicht. In der Zeichenstunde ist sein beständiges 
Wort: »Lieber ein Harmonium zeichnen.«e Dann malt er auf sein Blatt 
Klavier, Geige, Harmonium, Orchestrion, Trompete und Phonograph. An 
Spielen, bei denen gesungen wird, beteiligt er sich noch am meisten. So 
wünschte er sich einmal unaufgefordert das Spiel »Hans Michel«, in dem 
Musikinstrumente nachgeahmt werden, deren lange Reihe er ohne zu irren 
nachahmte. 

Musikinstrumente werden mit allen Dingen in Verbindung gesetzt. 
Im Garten sagt er: »Der Baum soll das Klavier sein, der Baum soll das 
Harmonium sein. Das Harmonium schmeckt gut. Das Orchestrion schmeckt 
gut. Wenn man das Harmonium aufmacht, sind Klaviertasten da. An dem 
Baum will ich spielen: Stille Nacht, heilige Nacht. Ich will nur so tun.« 

Diese stark betonten Vorstellungen assoziieren sich naturgemäß auch 
mit den dazu gehörigen Bewegungsvorstellungen. Tische, Stühle, Bäume, 
Wände, Türen, Schränke und Fenster geben ihm Anlaß, stehen zu bleiben, 
um an ihnen die Fingerbewegungen des Klavierspielens nachzuahmen. 
Einmal hob er einen kleinen Zweig auf, knickte ihn um und sagte: »Das 
ist ein Grammophon. Jetzt hole ich eine Platte: Stille Nacht.« Er nahm 
ein Blatt, steckte es auf den Zweig, drehte ihn um und summte dazu die 
Melodie: Stille Nacht. Oft sucht er sich lange Papierstreifen, malt auf sie 
Striche, welche die Tasten vorstellen sollen und spielt auf ihnen Klavier. 
Andere Papierstücke klebt er zusammen, so daß ein Kästchen entsteht, 
welches ihm Klavier oder Harmonium ersetzt. Wird er bei diesen Be- 
schäftigungen unterbrochen, so treten starke Affekte auf. Im Unterricht 
spielt er fast immer auf der Bank Klavier. Er übt allerhand Griffe, 
schlägt mit einem Finger mehrmals auf die Bank und brummt den ge- 
dachten Ton vor sich hin. Einmal stand er plötzlich auf, kniete vor dem 
Kreidekasten an der Tafel nieder und setzte sein Klavierspiel an dem 
Kreidekasten fort. Auf die Frage, was er mache, antwortete er: »Das 
soll das Klavier sein.« 

Folgender Vorgang hatte sich vollzogen: Die Erinnerungsbilder von 
Tönen waren lebendig geworden, damit auch die Vorstellung des Instru- 
mentes, auf dem die Töne gespielt werden. Er fängt also an, auf der 
Bank zu spielen. Plötzlich sieht er den Kreidekasten an der Tafel. Da 
der Kreidekasten ebenso wie die Klaviatur vorgeschoben ist, bietet ihm 
der Kreidekasten mit der Tafel ein ähnlicheres Bild eines Klavieres als 
die Bank. Er geht also an den Kreidekasten, kniet nieder, weil der 
Kasten tief hängt, und setzt da seine Fingerübungen fort. 

Andere Gedankenverbindungen, daß er in der Schule ist und da 
ruhig sitzen muß, treten nicht hemmend in die Assoziationstätigkeit ein, 
da die herrschenden Vorstellungen aus dem musikalischen Gebiete viel zu 
lebendig sind, als daß andere wirksam auftreten könnten. 

Im Vorstellungsablauf treten ferner Perseverationen und Stereotypien 
auf. Angeregte Vorstellungen bleiben abnorm lange haften. Zuweilen 
hält er sie tagelang fest. Stereotypien treten besonders auf, wenn er 
seine Gedanken schriftlich aufzeichnet. Die ersten zwei Briefe, die er 
schrieb, stimmten wörtlich überein. Sie seien hier mitgeteilt. 


314 B. Mitteilungen. 





»Liebe Mama kommen sie doch hier her in Jena Sophienhöbe. Papa 
kommt auch in Jena. Frl. M. ist schon hier. Fräul. Sch. ist schon hier. 
Fri. L. ist schon hier. Frl. M. ist schon hier, bist du auch artig gewesen 
hoppst und zückst du auch nicht in Jena, sonnst bin ich sehr böse reisen 
wir sofort nach B. und kommen wir nicht in Jena. Dann essen wir 
Mittag. Zum Mittag gab Reißsuppe, Kartoffeln, Fleisch und Birnen- 
kompott. Zum Kaffee gibts Semmel, schläfst du auch schön, gehst du 
auch nicht ins Zimmer, sonst kommt Frl. M. und schimpft. Da weine ich 
nicht die ganze Nacht, sonnst gehe ich fort und komme nie mer wieder, 
da schlafe ich die ganze Nacht. Morgens stehe ich auf, da kann ich nicht 
zu Frl. lieber hier bleiben in Jena. Da essen wir Frühstück. Dann gehe 
ich auf den Hof und spiele nicht hinfallen, sonnst sind die Hände voll 
Wunde und weine und rufe Mama mir sind die Hände voll Wunde. Mama 
dann nimmst du Arnika und Verband rein da kühlt es innen. Da habe 
ich Schule. Dann ist ne kleine Pause, da habe ich wieder Schule. Dann 
ist wieder Pause. Dann essen wir Mittag, dann schlafe ich ein bischen. 
Dann trinke ich meine Milch mit Mußsemmel. Dann gehen wir in den 
Garten, da spiele ich mit, dan gehe ich in die Klasse, da spiele ich mit. 
Dann essen wir Abenbrot. Dann gehen wir zu Bett! Einen schönen 
Kuß Deiner Mama.« 

Der zweite Brief glich, wie schon erwähnt wurde, wörtlich dem ersten, 
Wäre bei den folgenden Briefen keine Beeinflussung hinzugetreten, so 
würde P. wahrscheinlich auch heute nichts Anderes schreiben. 

In allen späteren Briefen finden sich immer und immer wieder 
Wiederholungen. Einmal zählte er in einer Reihe von Briefen seine Ver- 
wandten, ihre Wohnorte, Straßen und Hausnummern auf. Ein anderes Mal 
beständig folgendes Menü: »Zum Mittag gab Spargelsuppe, Paßtete, Forellen, 
Spargel, Rinderfilet und Aprikosenkompott, Fanilleneis, Krachmandeln, 
Traubenrosinen und Konfekt und Eiswaffeln, es hat sehr schön ge- 
schmeckt.« 

Es werden sich kaum zwei Briefe oder sonstige Schriftstücke finden, 
in denen nicht Sätze oder ganze Abschnitte wörtlich wiederkehren. Wird 
fremde Beeinflussung abgerechnet, so bleiben nur wenig Vorstellungen 
übrig, in denen sich der Ablauf bewegt. Deshalb ist auch im Denken 
kein Fortschritt bemerkbar. Nirgends ist ein produktiver Gedanke zu er- 
kennen. Es fehlen die höheren psychischen Funktionen, wie Schließen 
und Urteilen, da eben die gesunde Vorstellungsverbindung geschädigt ist. 

Besonders starke Urteilsstörungen treten hervor. Er redet alle Er- 
wachsenen mit »du« an, er unterscheidet nicht: ich, du, er, wir, ihr, sie, 
sondern er gebraucht die Pronomina, wie er sie eben gehört hat. Wird 
er ermahnt, nicht wieder zu zappeln, so sagt er: »Du versprichst mir, 
nicht wieder zu zappeln.« Hat er keinen Bleistift, so sägt er: »Bitte, 
lieber Herr R., gib mir einen Bleistift.« Wenn er von sich allein erzählt, 
schreibt er stets »wir«. Obwohl er weiß, daß er in Jena ist, schreibt er 
stets am Anfang der Briefe seine Heimatstadt. Seine Eltern redet er mit 
»dus an, manchmal mit »sie«, zuweilen auch abweckselnd »du« und »sie« 
in einem Briefe. 





1. Ein Schülerbericht aus Trüpers Erziehungsheim. 315 





Nachträglich sollen noch einige Beispiele zu dem regellos verknüpften 

Vorstellungsablauf gebracht werden. 
“FP. sagt zu einem Knaben: »F. du sollst sagen, verbrannt Jägersstuh.« 
„„Frage: Was soll denn das heißen? 
Antw. »Quatsch«. 
Kurz danach rief er lachend aus: »Frau Rat.« 
Frage — Was ist das? 
Antw. — Eine noble Dame. — 

Ferner: 

»Wie sieht Nikolaus aus, Nikolaus ist ein Osterei.« 
»Ein Glas Wein ist eine große Höhle.« 

»Wie siehst willst du schreiben aus.« 

»Wie siehst du Schälchen aus.« 

»Otto ist ein Cakes.« 

»Wenn ich Leim trinke, stirbt man.« 

Auf einem Spaziergang rief er plötzlich: »Schlagsahne, Schlagsahne, 
Schlagsahne.«e Dann »Angstgeklier, Angstgeklier, — — Silau, Silau.« 
Wird er gefragt, was das heißen soll, antwortet er: »Quatsch«. 

Wie sieht das und das aus? 

K. P. (ein Schüler) ist R. R. (auch ein Schüler). 

Was ist Herr Mutter. Das gibts nicht, das ist Quatsch. 
Wie sieht April aus, April ist eine Stadt. 

Wer geht hier da! Das ist Anna. Das ist Pfeffer. 
Wie sieht Dukaten aus? Dukaten ist Klinik. 

Einmal kam er lachend in die Stunde und rief: Weine man nicht 
(Lachausbruch) die Röhre stinkt (erneuter Lachausbruch) Klöße, das siehste 
man nicht (Lachausbruch). 

Aus seinem Schreibheft wollen wir folgende Probe geben. In jeder 
Ecke einer Seite steht: Mense an. Ferner schreibt er: 

Pe Kopf nicht an. Mense an 

Die usw Vogl Ci in zul Curtmann. Mense an 

Kems Weila Vogl usw Tol ven Eula scho hülö lag hu hu ha Klabb- 
rautelhorn tolpe ut ur um Po le köps Kopeltisi Curtmann Mense 
an Vogl usw rübs don vol Curtmann. 

Dreierlei läßt sich hier feststellen: 

1. Zwei beliebige Vorstellungen treten in sinnloser Verbindung auf. 

(Otto ist ein Cakes, ein Glas Wein ist eine große Höhle.) 

2. Einzelne freisteigende Vorstellungen treten mit so lebhafter Betonung 
ins Bewußtsein, daß er sie ausspricht. (Schlagsahne.) 

3. Silben werden zu einem Wortkonglomerat zusammengesetzt. (Jägers- 
stuh, Angstgeklier, Silau.) 

Es wäre noch die Seite des Gemüts zu betrachten. Da tritt zunächst 
hervor, daß die Gemütslage meist heiter ist. Herrscht eine lustbetonte 
Vorstellung, so kehrt sie immer wieder und hält oft tagelang an (Perseve- 
ration). Die heitere Stimmungslage ist so stark, daß selbst Empfindungen 
mit ausgesprochenen Unlustgefühlen nicht imstande sind, eine Hemmung 
herbeizuführen. Als er einmal eingeschmutzt hatte, hörte er wohl das 


316 B. Mitteilungen. 





Wort »Stinkewitze. Da fing er an zu lachen und fortwährend das Wort 
zu wiederholen, so daß die zur Reinigung angewandte Dousche, die ge- 
wöhnlich keine Lustgefühle hervorzurufen pflegt, ganz ohne Einfluß auf 
die Stimmung blieb. Den ganzen Tag über kehrte das Wort in der Asso- 
ziation wieder und rief beständig lustbetonte Gemütsausbrüche hervor. 

Einen tieferen Einblick in das Gemütsleben gestattete die Weihnachts- 
zeit. Die Weihnachtsfeier vor der Bescherung berührte sein Gemüt gar 
nicht. Bei anderen schwachsinnigen Kindern ist gerade bei dieser Feier 
ein tieferer Eindruck beobachtet worden, der allerdings zum größten Teile 
durch äußere Umstände hervorgerufen wird. Immerhin entsteht durch den 
weihnachtlich geschmückten Festsaal und durch die Andacht ein Gefühl 
der Weihe, das durch die vorher gelernten Weihnachtslieder, durch Weih- 
nachtsarbeiten und durch das Erscheinen des Nikolaus vorbereitet wird. 
All diese Ereignisse zogen an P. fast spurlos vorüber. Auch die Be- 
scherung übte keinen nennenswerten Einfluß aus. Nichts war von 
glänzenden Augen, von Freude und Jubel zu bemerken. Er wurde wohl 
etwas lebhafter, aber die kindliche Freude an den Geschenken fehlte ganz. 
Nur eine Mundharmonika nahm ihn in Anspruch. Er blies die einzelnen 
Töne und nannte ihre Namen. Ging ein Ton nicht, wurde er unwillig 
und sagte: »Das fis geht nicht mehr.« Schließlich klopfte er auf die 
Harmonika und brummte die betreffenden Töne vor sich hin. Bald fing 
er an, mit beiden zu klopfen und zwar in so aufgeregter Weise, daß ihm 
die Harmonika weggenommen werden mußte. Da warf er sich auf den 
Boden, schrie, strampelte mit den Füßen und wollte nicht wieder auf- 
stehen. Um seine anderen Geschenke kümmerte er sich gar nicht. Den 
außerordentlich geringen Eindruck von Weihnachten illustriert am besten 
der Brief nach dem Feste: 

»Liebe Mama! Was haste zu Weihnachten bekommen. Eine Orgel, eine 
Muntermonika, ein Kaufladen, ein Harmonika, ein Apreißkalender. Eine 
Eselsfuhrwerk. Ein Möbschen. Wie wir in der Turnhalle waren. Da haben 
wir gesungen. Vom Himmel hoch, da komm ich her. Da haben wir ge- 
sungen O du fröhliche. Da hat der Herrektor Tr. vorgelesen, weil das 
Christkind geboren ist. Da sind wir im Wohnzimmer gegangen. Dann 
ist Weihnachten. Was war auf dem Tische Sachen. Was habt mit den 
Kindern gespielt. Die Orgel, die Muntermonika, ein Muntermonika zum 
aufmachen. Die Muntermonika hat mir gut gefallen. Gestern haben wir 
Schlitten gefahren im Berg runter. Da habe ich nicht gefallen. Da habe 
ich gesagt mich frieren die Hände. Da habe ich nochmal Schlitten ge- 
fahren. Einen schönen Gruß von S. P.e 

Es ist versucht worden, den Brief zu beeinflussen. Aber alle An- 
regungen sind nicht weiter verarbeitet worden, sondern sie wurden un- 
verändert niedergeschrieben, z. B. »Was hast du zu Weihnachten be- 
kommen? Was weißt du noch, als wir in der Turnhalle waren? Was 
haben die Kinder gespielt?« usw. Von den aufgeführten Geschenken ge- 
hören ihm nur die zwei ersten. — 

Starke Unlustgefühle traten beim Schlittenfahren auf. Er blieb vor 
seinem Schlitten stehen, die Hände in der Manteltasche, ohne sich zu 


1. Ein Schülerbericht aus Trüpers Erziehungsheiın. 317 





rühren. Wurde er auf den Schlitten gesetzt, so blieb er ruhig sitzen. 
Bekam der Schlitten einen Stoß, daß er sich in Bewegung setzte, fing er 
an, laut zu schreien. Einmal kippte er mit dem Schlitten mitten in der 
Bahn um. Er blieb ruhig neben seinem Schlitten liegen, obwohl er sah, 
daß andere Kinder fahren wollten und obwohl ihm zugerufen wurde, auf- 
zustehen und die Bahn frei zu machen. 

Ein sicher fahrendes Mädchen wollte ihn mit auf ihren Schlitten 
nehmen. P. aber schrie: »Will die E. lieber tot machen, will die E. 
lieber tot schlagen.« 

— Warum denn? 

»Ich will sie also doch tot schlagen, lieber tot schlagen.« 

— Aber du mußt ihr doch dankbar sein, wenn sie dich mitnehmen will. 

— »Dann lieber das ganze Schlittenfahren kaput machen.« 

Dabei fing er an, den Schlitten mit Fußtritten zu behandeln. 

Meist rufen auch Erinnerungen an das Vaterhaus Unlustgefühle in 
ihm wach. Einmal sollte er etwas von seiner Heimat aufschreiben. Da 
schrie er laut auf: »Will lieber in Ch. (seine Vaterstadt) alles kaput 
machen.« 

— Warum denn? 

»Weil so viel lernt, das tiefe cis. Weil ich wütend bin.« 

— Weshalb bist du denn so wütend? 

»Weil ich in Ch. alles kaput mache und nach St. fahre.« 

Fernerhin treten bei allerhand kleinen Arbeiten, zu denen er angehalten 
wird, Unlustgefühle auf. Als er einmal etwas wegräumen sollte, sprach 
er: »Ich werfe mich hin und schlage den Ellbogen auf und dann ist ein 
großes Loch.« 

Zusammenfassend können über sein Gefühlsleben folgende Punkte 
aufgestellt werden: 

1. Die Gemütslage ist hauptsächlich krankhaft heiter. 

2. Ethische Qualitäten, wie Dankbarkeit, Mitleid usf., die im Gemüts- 
leben wurzeln, fehlen. 

3. Unlustgefühle treten in der Regel dann auf, wenn er angehalten 
wird, etwas zu arbeiten, wenn er also seinen Gedanken nicht mehr 
nachgehen kann, sondern wenn er sie auf irgend eine Zielvorstellung 
hinlenken muß. 

4. Meist kommt es nicht zu Handlungen, abgesehen vom Zähneknirschen 
und Händeballen. Nur wenn sein Gedankengang auf längere Zeit 
gehemmt wird, löst eine gesteigerte Irradiation der Gefühlstöne 
Handlungen aus. (Schlittenfahren, Wegnehmen der Harmonika.) 
Unter dem Einfluß der Aufmerksamkeitsstörungen, der Denkhemmungen 

und der Einförmigkeit in der Ideenassoziation stehen auch die Handlungen. 
P. ist in seinem Verhalten passiv. Wo er steht, da bleibt er stehen, meist 
mit den Händen in den Taschen. Er läßt sich schieben und vorwärts 
ziehen. Dabei schaut er ganz ausdruckslos in die Luft und achtet nicht 
auf den Weg. Anregungen haben ganz geringe Wirkungen. Zum Aus- 
und Anziehen braucht er außerordentlich viel Zeit. Oft bleibt er, mit 
einem Kleidungsstück in der Hand, regungslos sitzen. Wird er ermahnt, 


318 B. Mitteilungen. 





sich schneller auszuziehen, sagt er teilnahmslos »ja«, umfdarauf weiter in 
dem apathischen Zustande zu verharren. Ohne Hilfe und Anregung würde 
er einige Stunden zu seiner Toilette brauchen oder überhaupt nicht fertig 
werden. Knöpfe auf- und zumachen, Schuhe anziehen und zuschnüren, 
bereiten ihm große Schwierigkeiten. Es ist ihm auch ganz gleich, ob 
Schuhe und Knöpfe in Ordnung sind. Dazu tritt auch oft der Negativismus. 
Zu einer kleinen Handlung aufgefordert, antwortet er: »Nein, lieber das 
nicht tun«, auch wenn die Aufforderung durchaus nichts Unangenehmes 
enthält. 

Unterbrochen wird dieser apathische Zustand häufig von stereotypen 
Bewegungen. Ohne jeden Anlaß fängt er an, die Hände vor dem Gesicht 
auf und ab zu bewegen. Oft springt er fortgesetzt mit beiden Beinen in 
die Höhe und macht dazu eigentümliche Flugbewegungen, indem er Ober- 
und Unterarm ruhig hält und die Hände ganz rasch auf- und abbewegt. 
Beim Klavierspielen bewegt er beständig den Oberkörper vor- und rück- 
wärts. Häufig macht er auch Manipulationen mit den Fingern, wobei 
eine eigentümliche Schnippbewegung herauskommt. Zuweilen kann man 
ein beständiges rüsselförmiges Vorstülpen der Lippen beobachten. Er weiß 
sehr wohl, daß er nicht zappeln soll, denn er sagt selbst: »Das Hampeln 
ist so schlecht, ich will nicht mehr hampeln, das Hampeln ist in der 
Hölle«, aber selbstverständlich kehren diese Stereotypien immer wieder. 
Eine Bewegung verdient noch besonders hervorgehoben zu werden, nämlich 
die, daß er beim Gehen die Oberschenkel aneinander reibt. 

Überblicken wir noch einmal das Ausgeführte, so ergibt sich folgendes 
Krankheitsbild. 

1. An dem Vorstellungsschatz an sich läßt sich kein erheblicher Defekt 
nachweisen, 
2. Der Ablauf ist gestört durch Inkohärenz in der Ideenassoziation, 
durch Perseverationen und Steieotypien. 
3. Sowohl die Weckbarkeit als auch die Haftbarkeit der Aufmerksamkeit 
sind stark herabgesetzt. 
Das Gemüt ist krankhaft heiter. 
Ethische Qualitäten fehlen im großen Umfange. 
Der apatlische Zustand wird häufig unterbrochen durch stereotype 
Bewegungen. 
Aus der Vorgeschichte geht unzweifelhaft hervor, daß wir es mit 
einem Kinde zu tun haben, welches schon in frühen Jahren recht auf- 
fällige Abweichungen von der Norm zeigte. Ferner lehrt der Entwicklungs- 
gang, daß keine extrauterinen Ursachen vorzuliegen scheinen, die Anlaß 
zu den Störungen hätten geben können. Die Stenose des Hinterhauptes 
ist angeboren. Es liegt also offenbar eine angeborene Psychose vor. 

Weiter zeigt der Intelligenzstatus, daß kein erheblicher Defekt besteht. 
Die Störungen liegen nicht im Ausfall von Vorstellungen, sondern in der 
Verknüpfung der Vorstellungen. Früher waren die Störungen nicht so 
ausgeprägt wie jetzt, sonst bätte er die Kenntnisse nicht erlangt, die er 
in der Tat besitzt. Es ist also ein Rückgang festzustellen. In letzter 
Zeit haben die Krankheitssymptome ungefähr das Bild gezeitigt, welches 


am 


2. Selbstbekenntnis eines Sechzehnjährigen, 319 





man bei der Dementia hebephrenica vorfindet. Die Psychopathologie lehrt, 
daß Fälle von Hebephrenie, allerdings sehr selten, bis in das 7. Lebensjahr 
zurückverfolgt werden konnten.!) In diesen Fällen ergaben die weiteren 
Beobachtungen eine abnorm frühzeitige Pubertätsentwicklung. Bei dem 
vorliegenden Falle gibt hierfür vielleicht das eigentümliche Schenkelreiben 
einen Anhaltepunkt. Ob wirklich eine Dementia hebephrenica vorliegt, 
wird erst der Ausgang der Psychose beweisen. Wichtiger ist die Be- 
handlung des Kindes. Unter den gegebenen Umständen ist es nicht leicht, 
einen wirksamen Erziehungsplan aufzustellen. Die nächste Aufgabe ist, 
den Knaben in der Hauptsache heilpflegerisch zu behandeln, um sein 
krankes Nervensystem zu kräftigen. Der Schulunterricht fällt ganz weg. 
Dafür wird er am Morgen eine Stunde im Kindergarten mit Bauen und 
Legen beschäftigt. Hieran schließen sich Übungen im Aus- und Anziehen 
und im Schnüren. Nach dem Frühstück beteiligt er sich an Bewegungs- 
spielen. Eine zweistündige Ruhe füllt die Zeit bis zum Mittagessen. Der 
Nachmittag bringt Spaziergänge, Spiele im Freien, Turnen, zur Abwechslung 
leichte Gartenarbeit. Auf die Verteilung der Ruhestunden muß besonderer 
Wert gelegt werden, weil jede Übermüdung Unlustgefühle erzeugt und so 
ungünstig auf das Gesamtbefinden einwirkt. Um den überwertigen Musik- 
vorstellungen entgegen zu treten, wird er nach Möglichkeit von Musik 
ferngehalten. 

Im allgemeinen haben diese Anordnungen bis jetzt bewirkt, daß das 
Gesamtverhalten des Knaben etwas geordneter und regelmäßiger geworden ist. 

Über die Aussichten in der Entwicklung läßt sich naturgemäß nichts 
bestimmtes sagen. Jedenfalls müssen wir von der Natur des Knaben 
selbst einen Wandel erwarten, bevor andere unterrichtliche und erzieherische 
Maßnahmen wirksam eingreifen können. 


2. Selbstbekenntnis eines Sechzehnjährigen. 
Mitgeteilt durch J. Delitsch-Plauen i. V. 
Luckenwalde, 3.2. 12. (= 13.) 
Mein lieber Albert! 

»Verflucht, Luckenwalde bei Berlin, habe ich da recht gelesen, der Kerl 
ist in Berlin?« so wirst Du wohl ausrufen bei Erhalt dieser Zeilen. Kaum 
glaubhaft, aber doch furchtbare Wahrheit. Mensch höre und staune und 
lerne Nachstehendes begreifen, damit Dir nichts ähnliches widerfahre. 
Lieber Albert, sei einmal kein Kind und laß Dir eine inhaltsschwere Ge- 
schichte erzählen. 

Es war einmal ein »Stift«, der hatte mit gewissen Freunden, Leser 
dieser Zeilen selbstverständlich ausgeschlossen, sehr fidel gelebt oder will 
ich sagen liederlich und leichtsinnig gelebt. Da er aber zu Hause wenig 
oder fast gar kein Geld bekam, gepumpt. Die Schulden wurden immer 
größer. Der Teufel hatte den armen Jungen so richtig gepackt und ließ 


1) Ziehen, Die Geisteskrankheiten des Kindesalters. Heft II, S. 7. 


320 B. Mitteilungen. 





ihn nicht eher wieder locker, als bis er so richtig ins Unglück geriet. 
Er wußte nicht mehr ein noch aus. Das Leben konnte er sich nicht 
nehmen, weil er noch eine arme kranke Mutter hatte, der er sehr ver- 
pflichtet war. Da mußte erst seine Mutter tüchtig bezahlen, aber diese 
konnte natürlich das nicht ahnen, daß sie so einen Lump ihren Sohn 
nennen mußte. Er hatte aber noch mehr geborgt, da wandte er sich an 
einen Bekannten, der sich bei Zahlung hoher Zinsen bequemte, ihm 30 M, 
den Rest seiner Schulden, bis auf Ostern, da sollte dieser Mensch aus- 
lernen, vorzustrecken. Aber unvorhergesehene Umstände auf seiten des 
Gläubigers zwangen letzteren Mitte vorigen Monats das Geld nebst Zinsen 
zurückzufordern. Der arme Kerl stand Höllenqualen aus. Wo sollte er 
das Geld hernehmen und nicht stehlen. An seine arme Mutter konnte er 
sich nicht wenden, gute finanzielle Freunde hatte er nicht, so kaın er auf 
den Gedanken, das Geld aus der Portokasse zu entleihen. Da kam der 
1. Februar heran, da sollte die Kasse abgeschlossen werden. Der Zu- 
stand, in welchem sich der Portokassenkavalier befand, läßt sich nicht be- 
schreiben. Da kam ihm der Einfall, das Geld vorläufig von seinem Ge- 
halt zu decken und das Geld erst später seiner Mutter, die schon mit 
Schmerzen darauf lauerte, zu geben. Aber wie es nun einmal in der 
Welt ist, der Mensch denkt. aber Gott lenkt. Am 1. Vormittag forderte 
der Chef seinen hoffnungsvollen Lehrling auf, den Betrag für Kohlen, die 
seine Mutter vom Geschäft des Preises halber mit bezogen hatte, zu 
begleichen. 

Der junge Mensch kam mittag heim und erzählte seiner Mutter, daß sein 
Chef das Kohlengeld verlangt hat und auf seinen Gehalt deshalb a Conto 
zurückbehalten hat und daß er das übrige nachmittag mitbringen sollte. 
Aber seine Mutter, die diesen Schwindel nicht glaubte, sagte ihm, daß sie 
die Kohlen nachmittag selbst bezahlen wolle und gab ihm das fehlende 
Geld nicht heraus. Das durfte nun unter allen Umständen nicht passieren, 
denn sonst wäre der arme Teufel kompromittiert gewesen. Ich muß noch 
verausschicken, daß er die Absicht hatte, die Kohlen erst nach Abschluß 
der P. K. zu bezahlen und daß er das Kohlengeld der P. K. ein- 
verleiben wollte, so wäre ihm vorläufig ganz gut geholfen gewesen, aber 
nun kam ihm seine Mutter dazwischen. Öffenbaren konnte er sich auf 
keinen Fall seiner Mutter, denn mittags über hatte dieselbe den Besuch 
einer Schwester von ihr und vor dieser konnte ihr a. J. diese Sachen nicht 
offenbaren. Der a. J. befand sich in einer verzweifelten Lage, was sollte 
er tun? Als er am Sonnabend sich wieder !/,2 ins Geschäft begeben 
wollte, kam ihm die Erkenntnis, daß das ganz unmöglich ist, denn nach- 
mittag mußte alles ans Tageslicht kommen. Da begab er sich auf den 
o. Bahnhof, löste von seinem Gehalt, das er seiner Mutter nicht gegeben 
hatte, eine Fahrkarte nach Leipzig. 247 verließ er Plauen mit dem Aus- 
ruf »Ade, du schnödes Plauen, so Gott es will, werde ich dich nie wieder 
betreten oder höchstens als gemachter Mann, denn Gott verläßt keinen 
Deutschen«e. So dampfte er nach Leipzig ab, von Gefühlen bewegt, die 
sich nur der beschreiben kann, der ähnliches erlebt hat. Wird man dich 
verfolgen? Wie wird sich meine arme Mutter nach mir sorgen? Solche 


2. Selbstbekenntnis eines Sechzehnjährigen. 321 





Fragen gingen ihm immer durch den Kopf. Vor Leipzig hatte er einen 
Maler kennen gelernt, der mit einem Bilde auf die Berliner Ausstellung 
wollte und diesem vertraute sich der arme Flüchtling an, da der Künstler, 
er hat sich einen berühmten Namen gemacht, in altertümlichen Kostüm- 
malereien, herzliche Sympathie für ihn zeigt. Dieser wollte ihn als Fak- 
totum für sich engagieren, doch schlug derselbe das Anerbieten rundweg 
ab, da er erstens aus dem Liedern und Kneipen nicht herausgekommen 
wäre und zweitens wollte er sich einen Posten suchen, wo er es auch zu 
etwas ordentlichem bringen kann. In Leipzig verließ der Kunstaussteller 
mit dem a. J. den Zug, zeigte ihm abends die besonderen Sehenswürdig- 
keiten der Stadt, dann begab er sich mit ihm in eine Künstler- Kneipe. 
Maler, Schauspieler und Studenten waren da in großer Menge beisammen. 
Was da alles geleckt wurde, man macht sich kein Bild! Da wurde 
gespielt, Karten, Billard, Würfel und Schach. Der a. J. wurde auf 
Vorstellung durch seinen Gönner liebenswürdig aufgenommen und voll- 
geschwemmt voll Bier und Wein. Hier in dieser Kneipe sah er auch 
Alfred Ws. wieder, der doch in Plauen als erster Liebhaber auftrat. Hier 
hatte er gerade am Abend in Lottchens Geburtstag, den alten Professor, 
in Plauen Wiesners Rolle, gespielt. Er scheint sich sehr zu seinem Vorteil 
gebessert zu haben, denn alle Anwesenden waren seines Lobes voll, vor 
allem die Studenten, die dieser Auffuhr beigewohnt hatten, na das wird 
wohl auch etwas für diese liebedurstigen Menschen gewesen sein. Doch 
zurück zu unserm unglücklichen Freund. Es war noch nicht 2 Uhr 
nachts, war er so betrunken, daß er sich nicht mehr bewegen konnte. 
Als er wieder Mensch wurde, saß er in einem Café, wohin ihn sein Be- 
gleiter gebracht hatte und konnte bei einer Tasse Schlagsahne ernüchtern. 
Geld hatte er bei dieser Kneiperei nicht gebraucht, mit Ausnahme weniger 
Pfennige, die er verspielt hatte. Geschlafen wurde in dieser Nacht natür- 
lich nicht. Morgens begaben sich die beiden auf den Bahnhof, wo Sie 
nach Berlin weiterfuhren. Der Ausreißer wollte nämlich nach Lucken- 
walde, wo er bei einem Freunde, der im Herbst dahin getippelt war, 
bleiben und sich Arbeit suchen. Das Zugabteil war sehr leer und bald 
schliefen die beiden Übernächtigen ein und wurden erst wieder in 
Wittenberg durch das Getöse des Eisganges wach. Es hatten sich nämlich 
während der Nacht große Eisblöcke an der hohen Eisenbahnbrücke, die 
dort über die Elbe führt, angestaut und dasselbe mußte erst von der 
Jüterboger Brigade gesprengt werden. Dies war ein großartiger Anblick. 
Doch lange war der Anblick den Reisenden nicht vergönnt, der Zug trug 
sie ihrem Ziele immer näher. Links und rechts der Eisenbahn lagen über- 
schwemmte Wiesen und Felder. Das ganze Land glich einem einzigen 
Moorlande. Eine trostlose Ebene in der jetzigen Jahreszeit. Dem Vogt- 
länder kommt es ganz umheimlich vor, wenn er sich von seinen Bergen 
trennen muß und in solche Ebenen kommt, das ist eben auch die Mark oder 
wie gewöhnlich gesagt wird »Dat it te Streisenbichse« (Streusandbüchse). 
Nachmittags 4 Uhr fuhr der Zug in L. ein und hier trennte sich unser 
j- M. von dem Maler. Da war er also am Ziele seines schnellen Ent- 
schlusses. Ohne Papiere, ohne Gewißheit über die Zukunft und mit wenig 
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 21 


322 B. Mitteilungen. 





Geld, was soll aus mir werden, hat er sich hundertmal gefragt, doch mit 
seinem Vorsatze: Du willst besser werden und nicht wieder auf Abwege 
geraten, trat er zuversichtlich in die fremde Welt. Der Freund war bald 
gefunden und bald war er in des j. M. Erlebnisse und Pläne eingeweiht. 
Hier fand er auch Logis für vorläufig. Arbeit als Kommis wurde auch 
ausgemacht. Nur braucht er noch seine Papiere, die ihm hoffentlich seine 
Mutter bald zuschicken wird. Und da sitze ich nun da in meinem Logis 
mit eingeschlafenen Füßen und fast steifen Händen und schreibe Dir 
diese Geschichte, damit Du auch weißt, was mich zu diesem Schritt ge- 
trieben hat. 

Mein lieber Albert, ich bitte Dich, halte mich trotz dieser Vorkomm- 
nisse in Andenken, denn sehen werde ich Dich wohl nie wieder. Nach 
Plauen komme ich nicht wieder zurück, das wirst Du wohl auch einsehn 
und in der Welt werden wir uns wohl nie wiedersehn. Aber das eine 
kann ich Dir versichern, wäre das nicht dazwischen gekommen, wir wären 
gut Freund geblieben und ich wäre noch in Plauen in Deiner Umgebung 
ein ordentlicher Mensch geworden. 

Lieber Albert, ich bitte Dich, vernichte diesen Brief, damit ihn nicht 
Deine Eltern oder sonst jemand in die Hände bekommt und noch die herz- 
liche Bitte, schweig über das Gelesene, sage keinem Freund oder Kamerad 
etwas von mir oder höchstens, daß ich auswärts Stellung habe. Erfülle 
mir diese Bitte, denn im Vertrauen auf unsre feste Freundschaft habe ich 
diese Zeilen geschrieben. 

Leb wohl und vergiß nie Deinen tiefunglücklichen Freund Karl. 


Karl ist der Sohn eines Trinkers, der seine Familie vor 8 Jahren 
verließ. Seine treue Mutter war eine gute Erzieherin, und der gewandte 
Kaufmannslehrling half ihr willig. Er scheute sich daheim vor keiner 
Arbeit, wischte sogar die Stube und badete den Pflegebruder. 

Aber er wollte gern flott leben, und die arme Mutter hielt ihn kurz. 
Da wußte er sein Einkommen durch Austragen von Zeitschriften zu ver- 
bessern. Das Nebengeschäft brachte ihm manche Lesefreude, verführte 
ihn aber auch zum Kneipenleben. Das Ende vom Lied beschrieb 
er selbst. 

Die Plauener Jugendfürsorge erbat die Hilfe der Berliner » Deutschen 
Zentralee und des Gemeindewaisenrates zu Luckenwalde. 

Es sollten nun die Ausweispapiere, welche Karl von der Mutter ver- 
langt hatte, zu weiser Verwendung an die Jugendfürsorgezentrale gesandt 
und Karl selbst dorthin zur Empfangnahme verwiesen werden. Allein wir 
hatten unsre Rechnung ohne Karls Vormund gemacht. Der sandte die 
Papiere direkt an den jungen Menschen, der nach Hinterlassung einiger 
Schulden Luckenwalde verließ und in Berlin dann das Elend eines Obdach- 
losen zu kosten bekam. Er schleppte sich in ein Restaurant, konnte dort 
nicht übernachten, brach vor Müdigkeit und Hunger auf der Straße zu- 
sammen, gelangte in ein Jugendheim. Das schrieb an die Mutter. Die 
kam zu uns. Wir sandten an das Jugendheim das Reisegeld und ließen 
den jungen Menschen von der Mutter am Bahnhofe erwarten. Anderen- 


3. Züchtigung fremder Kinder. 323 





tags saß Karl vor mir. Ich ermahnte ihn, erwirkte ihm Fortsetzung der 
Lehre bei seinem Chef in einer Filiale außerhalb Plauen. Karl versprach 
das Beste. Er wollte sich nun ganz seiner beruflichen Ausbildung widmen, 
namentlich auch vorzeitigem Verkehr mit Mädchen aus dem Wege gehen. 
Wie erstaunte ich, als mir ein bekannter Arzt, bei dem mein Mündel 
Frida X Dienstmädchen gewesen, nach kurzer Zeit eine Ansichtspostkarte 
mit folgendem Inhalt übermittelte: 
»Die herzlichsten Grüße erlaubt sich von hier ein alter Bekannter 
vom Weihnachtsabend im D. H. V. zu senden, Hoffentlich sehen 
wir uns zu den Feiertagen mal wieder. Wohne jetzt E..... 
postlagernd K. D. 8. Karl D. 


Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, meinem frechen Jungen 
einen heilsamen Schrecken einzujagen, schrieb ihm also postlagernd: 
Aber Junge! Was hast du mir versprochen? Heißt das worthalten? 
Delitsch. 


Später erfuhr ich, daß er in der Tat gewaltig erschrocken sei und 
vor meiner Allwissenheit wünschenswerten Respekt bekommen habe. Die 
Undankbarkeit des jungen Menschen war aber auch arg. Die Plauener 
Jugendfürsorge hatte für ihn nicht nur das Reisegeld gezahlt, sondern 
ihm auch, um die Vollendung seiner Lehre als Kaufmann möglich zu 
machen, auf Wunsch der Firma bei einer Lehrerswitwe in E. eine Monats- 
pension von 50 M bezahlt. Trotz bester Verköstigung und einem wöchent- 
lichen Taschengeld von 1 Mark machte Karl wieder kleine Schulden, um 
Cigaretten und Wurst zum Brot zu kaufen. Es erfolgte eine sehr, sehr 
deutliche Ermahnung vor Chef und Prokurist, die bis heute wirksam ge- 
wesen ist. 


3. Züchtigung fremder Kinder. 


Unsere Jugend bis zum 14. Jahre ist strafunmündig. Sie mag tun, 
was sie will, sie kann nicht bestraft werden, wenn man nicht die Über- 
weisung in eine Fürsorge-Erziehungs-Anstalt als Strafe rechnen will. Nun 
neigt die Jugend sehr zu Dummheiten, Roheiten und kleinen Flegeleien, 
worunter einzelne wie auch die Gesellschaft schwer zu leiden haben. Die 
Schule hat keine Verpflichtung für die öffentliche Straße. Eine Anzeige 
bei den Eltern hat nicht selten den entgegengesetzten Erfolg. So ist denn 
die Gesellschaft den Jugendflegeleien schutzlos preisgegeben, und wehe, 
wenn einer wagte, hier selbst Justiz zu üben! Wegen eines kleines Ein- 
griffes riskiert er eine gerichtliche Verfolgung, gleichviel ob mit oder ohne 
Verurteilung. Und das hält eben viele Leute ab, auf der Straße diese 
notwendige Kinderzucht zu üben, wobei den größten Schaden eben die 
Kinder selbst erleiden. Da müssen wir es nun als ein erlösendes Wort 
mit Freuden begrüßen, daß unlängst das Oberlandesgericht in Jena eine 
Entscheidung getroffen hat, die verdient, in weiteren Kreisen bekannt ge- 
geben zu werden. Wir lesen darüber in der Zeitschrift »Das Recht« 
(Nr. 2, 1913): 

21* 


324 B. Mitteilungen. 


»Ein Recht zur Züchtigung fremder Kinder wird von einer weit 
verbreiteten Praxis bei mutmaßlichem Einverständnis des nicht anwesenden 
Vaters angenommen. Wo aber dieses Einverständnis des nicht an- 
wesenden Vaters fehlt und vom Täter auch nicht vermutet wird, ver- 
sagt diese Konstruktion eines abgeleiteten Züchtigungsrechts, wenn man 
die Züchtigung nicht als eine im Öffentlichen Interesse liegende Pflicht 
des Vaters ansieht ($ 679 B.G. B.). Indes kann man von einem ab- 
geleiteten Züchtigungsrecht überhaupt absehen. Unter Umständen ist 
vielmehr in Ergänzung des elterlichen Züchtigungsrechts ein Recht Dritter, 
fremde Kinder zu züchtigen, als Ausfluß des öffentlichen Rechts 
anzuerkennen. 

Das ausschließliche Recht der Eltern auf Züchtigung muß zurück- 
treten gegen das Recht der Allgemeinheit auf Zucht und Ordnung, auch 
ihr entgegenstehender Wille verdient da keine Beachtung. Die All- 
gemeinheit bedarf dieses Rechtes zu ihrem Schutze ebenso wie zur 
Pflege der allgemeinen Wohlfahrt, für die die gute Erziehung der 
Jugend ein wesentliches Moment bildet. Und deshalb ist das Recht 
gerade in der jetzigen Volksüberzeugung tief begründet. Gerade heute, 
wo das Gemeinschaftsleben auch auf dem Gebiete der Erziehung die 
engen Schranken des Hauses mehr als seither durchbricht, ist es ihr 
zum Bedürfnis geworden. Es will aber nicht das Recht der Eltern be- 
seitigen; das Haus bleibt vor Eingriffen geschützt. Aber wo Kinder in 
der Öffentlichkeit Zuchtlosigkeiten begehen, die das sittliche Empfinden 
jedes normal denkenden Menschen gröblichst verletzen und nach ihrem 
Gerechtigkeitsgefühl eine alsbaldige Sühne fordern, tritt das Recht der 
Allgemeinheit ein, und jeder Volksgenosse darf züchtigen. Nur darf 
eine solche Züchtigung nicht das Maß überschreiten, in dem ein ver- 
ständiger Vater das Züchtigungsrecht an seinen eigenen Kindern ausübt. 
(Jena I. St, S. 21. 12. 12, V. 43/12.)« Trüper. 


4. Die Selbstmorde Jugendlicher. 

Die Medizinalstatistischen Nachrichten (Jg. 4, 1913, Heft 3, S. 432 
bis 450) enthalten eine ausführliche Untersuchung über die Selbstmorde 
in Preußen während des Jahres 1911. Wir teilen daraus folgende Daten 
über die Selbstmorde Jugendlicher mit: im Jahre 1911 begingen 
87 Jugendliche unter 15 Jahren Selbstmord gegenüber 8335 Personen 
über 15 Jahren. Von ihnen waren männlich 71, weiblich 16; 2 waren 
unter zehn Jahre alt. Im Alter von 15—20 Jahren standen 683 
(442 m., 241 w.), im Alter von 20—25 Jahren 890 (659 m., 231 w.) 
Selbstmörder. Für die 5 Jahre 1907—1911 ergibt sich folgendes Bild: 

Es starben durch Selbstmord von 100000 Lebenden jeder Altersklasse 
in Preußen 


Aler gon 1907 ; 1908 1909 1910 1911 
m w m w m w m w m. w. 
über 10—15 Jahren 22 09 11 03 21 0,6 33 12 33 0,7 
15—20 18,6 11,0 195 10,4 20,8 13,0 20,6 12,5 22,1 122 
20—25 34,3 12,2 38,4 14,0 40,0 14,8 38,7 15,0 37,7 13,1 


5. Zeitgeschichtliches. 325 





Genane und verläßliche Angaben über die Beweggründe zum Selbst- 
morde sind nur schwer zu sammeln. Doch hat die Untersuchung zu dem 
Ergebnis geführt, daß in Preußen mehr als der vierte Teil der Selbstmorde 
unzweifelhaft durch Geisteskrankheit verursacht ist. Auch von den anderen 
Selbstmorden ist noch eine größere Zahl auf psychische Ursachen wie 
Lebensüberdruß, Leidenschaften, Trauer und Kummer, Reue usw. zurück- 
zuführen. Soweit die Beweggründe bekannt wurden, kommen in Betracht 
für die jugendlichen Selbstmörder des Jahres 1911 


im Alter von über 


m m 1-0 20-8 
Jahren Jahren Jahren 
m. w m. Ww. m. wW. 
Lebensüberdruß im allgemeinen 2 — 18 6 25 10 
Körperliche Leiden 2 1 15 8 34 1i 
Nervenkrankheit 2 — 7 2 19 4 
Geisteskrankheit 7. — 73 39 87 56 
Geistesschwäche — — i — 3 1 
Alkoholismus — — 3 — 9 — 
Leidenschaften . Ere E 3 — 33 51 77 63 
Laster, Ausschweifun g liederliches 
Leben . . . en re 1 16 2 8 1 


Trauer und kimmer: j 


, ; 23 10 49 15 
Rene und Scham, dewissändbisen: . 21 


lwoll 
joe) 
180) 
w 
es 


111 11 
Ärger und Streit . . . . ... 8 29 18 17 8 
Andere Beweggründe . . 4 6 2 LI 1 


Unbekannt blieben die Beweggründe bei 19 3 136 72 209 50 


Als Beweggründe für den Selbstmord zweier Knaben unter zehn 
Jahren werden Reue, Scham und Gewissensbisse angegeben. 
Jena. Karl Wilker. 


5. Zeitgeschichtliches. 


Oswald Külpe in Bonn hat einen Ruf als Nachfolger Lipps’ an die Uni- 
versität München angenommen. Er tritt sein neues Lehramt mit Beginn des 
Wintersemesters 1913/14 an. 

Fr. W. Förster hat eine Berufung des Unterrichtsministers an die philo- 
sophische Fakultät der Universtät Wien angenommen. Wie verlautet, hat sich die 
Fakultät selbst nicht für diese Berufung ausgesprochen. 

Der Vorstand des Deutschen Fröbelverbandes bedauert in einem warm emp- 
fundenen Nachruf den Tod der Leiterin des Pestalozzi - Fröbelhauses I in Berlin, 
Frau Clara Richter (19. Februar). 

Im Mai und Juni 1913 wird an der Landesturnanstalt in Spandau ein Kursus 
zur Ausbildung im Rudern für Lehrer und Leiter von Jugendpflegeorganisationen, 
die sich mit Rudersport befassen können, abgehalten. 

Auf der diesjährigen Jahresversammlung des Deutschen Vereins für 
Psychiatrie, die am 15. und 16. Mai stattfindet, werden u. a. Mönkemöller 
(Hildesheim) und Stier (Berlin) über Psychiatrie und Fürsorgeerziehung referieren. 
Anmeldungen und Anfragen an Dr. Hans Laehr, Zehlendorf-Berlin, Schweizerhof. 

Der 3. Deutsche Kongreß für Jugendbildung und Jugendkunde 
findet vom 4.—6. Oktober 1913 in Breslau statt. 


326 B. Mitteilungen. 





An der Hochschule für Frauen in Leipzig werden im Sommersemester 
1913 (15. April bis 15. Juli) u. a. folgende Vorlesungen gehalten: Das normale und 
das pathologische Kind (Brahn); Grundlagen der Fürsorgeerziehung, Fragen der 
Durchführung der F. E. (Dietrich); Kinderpflege der modernen Großstadt, Theo- 
retische und praktische Säuglingspflege (Taube); Kinderpsychologische Übungen, 
Praktische Psychologie, Einführungskursus in die experimentelle Pädagogik (Brahn); 
ungen zur vergleichenden Kinderforschung (Kretzschmar); Übersicht über die 
Erziehungsbestrebungen der Gegenwart, Methodische Übungen zu ausgewählten 
Kapiteln der Kleinkinderpädagogik (Prüfer); Geschichte der deutschen Schulgesetz- 
gebung und Schulverfassung im Zusammenhang mit der geistigen Kultur (Spranger). 
Auskunft durch die Kanzlei der Hochschule für Frauen, Leipzig, Königstraße 18. 


Am 15. Januar 1913 wurde in Berlin ein Verein »Taubstummen-Er- 
holung« (Verein zur gesundheitlichen Förderung der Taubstummen) gegründet. 
Der Jahresbeitrag beträgt mindestens 3 Mark. Anfragen und Beitrittserklärungen 
an Fräulein Frieda Borchardt, Berlin W., Genthinerstraße 15 und Fräulein Magda- 
lena Goertz, Berlin W., Genthinerstraße 35; Geldsendungen an Direktor Hahn, 
Berlin W., Ansbacherstraße 35. 

In Essen soll mit Unterstützung des preußischen Kultusministeriums ein 
Seminar zur Ausbildung von Lehrern für Schwachsinnige, insbesondere 
für Hilfsschullehrer errichtet werden. 

Die Errichtung eines psychologischen Instituts ist in Gotha geplant. 
Es soll unter Aufsicht des Stadtschulinspektors Dr. Ohm stehen. 

Der Königlichen Landesturnanstalt in München wird versuchsweise 
ein Laboratorium zu Untersuchungen und Messungen über die Wirkung 
der einzelnen Turnarten, Turnspiele und Sportarten angegliedert, in dem 
sowohl der Nutzen der Leibesübungen wie auch etwa auftretende Schädigungen er- 
forscht werden können. 

In Reuß j. L. wurde vom Landeslehrerverein eine pädagogische Arbeits- 
gemeinschaft ins Leben gerufen. 

Organisation der Helferschaft an Rettungshäusern usw. regt Fr. 
Bergold (Hamburg, Waisenhaus) im »Rettungshaus-Boten«, Jg. 33, Heft 5 (Februar 
1913) an. Er bittet Interessenten um Zuschriften. 

Durch Verfügung des preußischen Kultusministers vom 4. Januar 1913 ist die 
probeweise Einführung eines einheitlichen Personalbogens für die preußi- 
schen Hilfsschulen verfügt. Es wird bei dieser Gelegenheit darauf hingewiesen, 
daß von den Personalbogen nur amtlich Gebrauch gemacht werden darf. 


Dem Berliner Magistrat ist ein Antrag zugegangen, ein städtisches Wohl- 
fabrtsamt für Kinderfürsorge zu schaffen, das als Zentralstelle für alle in 
Betracht kommenden Bestrebungen dienen würde. 

In Aachen wurde eine Zentralstelle für Säuglingsfürsorge begründet. 

Die Wiener Kommission des Kaiser-Jubiläums-Fonds für Kinderschutz und 
Jugendfürsorge hat beschlossen, eine Reichsanstalt für Mütter- und Säug- 
lingsfürsorge mit einem Aufwand von einer Million Kronen zu erbauen; sie 
soll für 80 Kinder Raum bieten. Mit dem Rest des Fonds in Höhe von über einer 
Million Kronen soll eine Musteranstalt zur Unterbringung von Fürsorge- 
Erziehungszöglingen errichtet werden. 

Schenkungen, Stiftungen usw.: für ein Erholungshaus für erkrankte 
Arbeiterfrauen und -kinder in Ludwigshafen 7C000 Mark; zur Errichtung 
und ersten Unterhaltung einer neuen Schulzahnklinik in Berlin 15000 Mark; 
zur Einrichtung eines Instituts für Jugendkunde in Hamburg 1000 Mark von 
der Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens; 
5000 Mark für eine Arbeitslehrkolonie für entlassene Hilfsschulkinder 
im Bergischen Land; für das Krüppelheim in Würzburg 50000 Mark; 
24000 Mark für den Erziehungs- und Fürsorgeverein für geistig zurück- 
gebliebene Kinder in Berlin. 

In Bonn ist eine Kinderlesehalle eingerichtet. 


5. Zeitgeschichtliches. 327 





Während des Winters sollen in Eisenach mehrere Klassenräume der Volks- 
schulen für die Kinder offengehalten werden, um ihnen, soweit sie unter ungünstigen 
häuslichen Verhältnissen zu leiden haben, die Möglichkeit zu ungestörter Er- 
ledigung ihrer Schulaufgaben unter den nötigen hygienischen Bedingungen 
zu bieten. Durch Einrichtung von Kinderbibliotheken soll gleichzeitig die Schund- 
literatur wirksam bekämpft werden. 

Seit dem 1. März 1913 ist in Leipzig die Säuglingsfürsorge, die bisher 
dem Gesundheitsamte oblag, auf das Pfleg- und Jugendfürsorgeamt übernommen. 
Es bestehen nunmehr im ganzen 6 Mütterberatungsstellen. An Stillbeiträgen, die 
nicht als Armenunterstützung gelten, werden gewährt: 3 Mark in der Woche nach 
der ersten Vorstellung in der Mütterberatungsstelle, 2 Mark wöchentlich für jede 
folgende Woche bis zur Erfüllung der 13. Lebenswoche des gestillten Kindes, 3 Mark 
monatlich für den 4., 5. und 6. Lebensmonat und 3 Mark für das dritte Lebens- 
vierteljahr des gestillten Kindes (laut Bekanntmachung des Leipziger Pfleg- und 
Jugendfürsorgeamtes vom 21. Februar 1913). 

In den Ausgaben der Stadt Leipzig für Jugendfürsorge im Etat für 1913 
sind 735660 Mark vorgesehen. Die Hauptausgaben verteilen sich in folgender 
Weise: Versorgung von etwa 1850 Waisenkindern 378710 Mark, Überwachung von 
etwa 11000 Ziehkindern 96450 Mark, Fürsorgeerziehung 140000 Mark, Kinder- 
solbadekuren 11000 Mark, Speisung bedürftiger Schulkinder 20000 Mark. An das 
Kinderkrankenhaus leistet die Armenkasse einen festen Beitrag von 60000 Mark. 

Eine Untersuchung über die Psychologie des jugendlichen Geschlechts- 
lebens plant Professor Dr. Joh. Dück-Innsbruck, der gern Fragebogen versendet. 

Eine Umfrage über die Schundliteratur und die Schundfilms und 
deren kriminelle Bedeutung erläßt Gerichtsassessor Dr. Albert Hellwig 
(Berlin-Friedenau, Bismarckstraße 9), der zur Zeit als der beste Kenner dieser Materie 
gelten kann. Der Wortlaut der Umfrage ist in der »Zeitschrift für Jugenderziehung 
und Jugendfürsorges (Aarau, Trüb & Cie.), Jg. 3, Nr. 12 vom 1. März 1913, S. 361 
u. 362, mitgeteilt. 

Der »Deutsche Landesverband für Volksbildungswesen in Böhmen« 
hat einen Lichtspielausschuß eingerichtet, dessen Obmann Prof. Dr. Albert Gott- 
lieb ist. Dieser Ausschuß regte zunächst die Veranstaltung kinematographi- 
scher Vorstellungen zu Zwecken der Volks- und Jugendbildung im 
Kgl. Deutschen Landestheater in Prag an, die sich seit September 1912 unter dem 
Titel: »Volkstümliche Lichtspiele« großer Beliebtheit erfreuen. In den letzten Tagen 
ist es gelungen, sämtliche Kinematographenbesitzer Deutsch - Böhmens geschlossen 
dazu zu bewegen, gleiche Vorführungen an einem bestimmten Tage der Woche an 
Stelle des üblichen Programms treten zu lassen. Die Auswahhl der Films wird 
durch den Landesverband erfolgen und das Abkommen noch im Laufe dieses Jahres 
in Kraft treten. 


Das erste Heft der »Edition du Musée Pedologique« (Budapest 1912) 
ging uns zu. Es enthält die Beschreibung der Sammlungen des ungarischen 
pädologischen Museums (Budapest, VIII. arr. 8, place Marie-Thérèse), das am 
28. April 1912 eröffnet wurde. Verfaßt ist der Führer, der in ungarischer und 
französischer Sprache ‘gedruckt ist, vom Sekretär des Museums, Karl Ballai. 


Der VI. Jahrgang des Jahrbuchs der Fürsorge, herausgegeben im Auf- 
trage des Instituts für Gemeinwohl und der Zentrale für private Fürsorge in Frank- 
furt a. M. vom Archiv deutscher Berufsvormünder (Professor Dr. Klumker), ist 
im Verlage von Julius Springer in Berlin erschienen. Es enthält Abhandlungen 
über Kinderfürsorge in Dänemark und über die italienische Mutterschaftsversiche- 
rung, reiches Material zur Entwicklung der Berufsvormundschaft und vor allem 
einen Literaturbericht über Jugendfürsorge 1911, der 3322 Arbeiten bibliographisch 
zuverlässig anführt. Schon um dieses Berichtes willen verdient das Jahrbuch die 
Beachtung aller wissenschaftlichen Arbeiter. 

Im Verlage von Deutschlands Großloge II des Internationalen Guttemplerordens 
(Hamburg 30) erschien soeben die zweite Auflage der »Zehn Lehrproben zur 
Alkoholfrage«, eines kleinen trefflichen Handbuches des Kieler Lehrers L. Lindrum. 


328 C. Zeitschriftenschau. 





Das Wichtigste aus der Alkoholfrage für die Schule ist in zehn Lehrproben (20 Unter- 
richtsstunden) für die Oberstufe zusammengestellt. Im Anhang ist auch der Fort- 
bildungsschule Rücksicht getragen. Der Preis des 82 Seiten umfassenden, mit Ab- 
bildungen und Tabellenmaterial versehenen Bändchens stellt sich auf 1,20 Mark (ge- 
bunden). Der Verlag erbietet sich zu unverbindlichen Probesendungen an Schulen 
und Schulbehörden. 


Über eine der größten deutschen Jugendfürsorgebestrebungen ist ein 
treffliches Büchlein erschienen, das den Titel trägt: »Sonnenwende. Ein Büchlein 
vom Wandervogel und seiner Arbeit. Zusammengestellt und herausgegeben von 
Friedrich Wilhelm Fulda« (Leipzig, Friedrich Hofmeister, 1913. Preis 1,20 M.). 
Es wird nicht nur zur Orientierung über die Wandervogelarbeit wertvolle 
Dienste leisten, sondern auch durch seine künstlerische Ausstattung viel Freude 
erwecken. 


C. Zeitschriftenschau. 


Kinderschutz und Jugendfürsorge. 
1. Tatsachen. 
Rössel, Fr, Kinderelend in der Großstadt. Zeitschrift für Jugenderziehung und 
Jugendfürsorge. 3, 9 (15. Januar 1913), S. 263—266. 

Es werden wohl Zahlen über Zahlen geboten, die für den Eingeweihten grelle 
Schlaglichter auf das Kinderelend werfen, aber es fehlen für die meisten Menschen 
konkrete Vorstellungsmaterialien. Erst durch Detailforschung der Umstände zum 
Erlebnis Gebrachtes öffnet die Augen für das gewaltige Zahlenmaterial. Der Ver- 
fasser gibt einige solcher Details aus Hamburg und deutet dann auf die Zusammen- 
hänge des Kinderelends mit allen möglichen Fragen hin (Boden- und Wohnungsfrage, 
Alkoholfrage, Frauenarbeit usw.). 
von Hentig, Hans, Die verbrecherische Jugend nach den Kriminalstatistiken 

Englands und Frankreichs. Österreichische Zeitschrift für Strafrecht. IM, 1912, 
S. 388—393. 

Die Zahl der jugendlichen Delinquenten betrug in England 34087 oder nicht 
ganz 5°/, aller im Jahre 1910 vor Gericht stehenden Personen. Die weibliche 
Jugend ist an kriminellen Handlungen auffallend wenig beteiligt. In Frankreich 
wurden nur 45°/, der angezeigten Verbrechen gerichtlich weiter verfolgt. Die Zahl 
der jugendlichen Angeklagten betrug 15°/, der Gesamtzahl der Angeklagten (1909). 
Vergehen gegen die Sittlichkeit haben in Frankreich und England zugenommen trotz 
des allgemeinen Rückgangs der Kriminalität. Die Behandlungsformen werden einzeln 
besprochen und aufgeführt. Die deutschen Jugendgerichte sind nur Provisorien. 
Ein großzügiges Jugendstrafrecht tut dringend not. 

Rupprecht, Die Prostitution jugendlicher Mädchen in München. Münchener Med. 
Wochenschrift. 60, 1 (7. Januar 1913), S. 12—15. 

Minderjährige Mädchen werden nicht unter Sittenkontrolle gestellt. Unter den 
2574 heimlichen Dirnen, die der Bericht der Polizeidirektion in München im Jahre 
1911 dort angab, waren 32 unter 16 Jahren, 342 zwischen 16 und 18, 660 zwischen 
18 und 21 Jahren. Unter den jugendlichen Prostituierten ist ein viel höherer 
Prozentsatz geschlechtlich erkrankt als unter den älteren. Den weiteren Angaben 
liegen die Beobachtungen und Feststellungen an 88 vom Münchener Jugendgericht 
in den Jahren 1909—1911 im Strafverfahren wegen Gewerbsunzucht verurteilten 


C. Zeitschriftenschau. 329 





Mädchen unter 18 Jahren zugrunde. Ein auffallend großer Teil von diesen wird 
von den Dienstmädchen gestellt. Andere Berufe zeigen erst gegen das 18. Jahr hin 
eine größere Beteiligung. Daß namentlich viele unehelich geborene Mädchen der 
Prostitution verfallen ist seit je bekannt. Ihre Opfer fordert die Prostitution haupt- 
sächlich im Arbeiterstande, was zu erklären ist durch ungünstige wirtschaftliche 
Verhältnisse. Das Entgelt, um das sich die Mädchen preisgeben, ist oft oder 
meistens ein erschreckend niedriges: Bezahlung der Zeche, 25 Pfennig, 50 Pfennig, 
in 45 Fällen um Beträge zwischen 1 und 3 Mark; 34 Mädchen verlangten höhere 
Summen. Der Verfasser teilt den »strafrechtlichen Lebensgang< von 5 jugendlichen 
Dirnen mit. Zur Bekämpfung ergeben sich als notwendig: Schaffung besserer 
Lebensverhältnisse und gesunder Wohnungsbedingungen; frühere Heiratsmöglichkeit 
für junge Männer der gebildeten Kreise; strenge Erziehung der jugendlichen Prosti- 
tuierten in staatlich überwachten Anstalten. 

Fujisawa, M., Über ein statistisches Studium der halberwachsenen Sträflinge. 

Jidö Kenkyü. XVI, 1 (August 1912). Referiert aus Kyöiku Jiron 965. 

Verschiedene statistische Zahlen über 500 halberwachsene Verbrecher. 

Landsberg, J. F., »Schwierige« Zöglinge. Der Rettungshaus-Bote. 33, 3 (De- 
zember 1912), S. 49—51. 

Aus dem »Kreisblatt von Lennep« vom 1. August 1912. — Zwei Kategorien 
von Kindern tragen selbst weniger Schuld an ihrer Überweisung in Fürsorge- 
erziehung; die Hauptschuld trägt das Elternhaus. Mit der dritten werden Haus und 
Schule nicht fertig, die schwierigen Zöglinge. Es ist wichtig, daß die Fürsorge be- 
deutend früher eingreift. Heute wird allgemein noch eine Tat, die gerade heraus- 
gekommen ist, als erster Fehltritt betrachtet und behandelt, wiewohl oft hunderte 
von Taten vorangegangen sind. 

Krass, Alkoholismus und Fürsorgeerziehung. Die Alkoholfrage. VIII, 4, S. 334 
bis 337. 

Nach Cramer (Göttingen) waren von 371 schulentlassenen Fürsorgezöglingen 
20°, durch die Trunksucht des Vaters, 3°, durch die Trunksucht der Mutter erb- 
lich belastet, nach Mönkemöller (Hildesheim) von 589 schnlpflichtigen 50,8°/,, nach 
Rizor (Münster) von 789 schulentlassenen 33,3°/, durch die Trunksucht des Vaters, 
79°/ durch die Trunksucht der Mutter, 5,8°/, durch die Trunksucht beider Eltern. 
Von den 1910 in Preußen aufgenommenen 8733 Fürsorgezöglingen waren 1031 
geistig nicht normal; in 22,5°/, dieser Fälle war zweifellos der elterliche Alkoholis- 
mus Grund der Verwahrlosung und geistigen Minderwertigkeit. Die Vereinigungen, 
die die Schuljugend im Sinne der Abstinenz beeinflussen, sind »auf dem rechten 
Weges und leisten »einen wichtigen Teil sozialer Arbeit«, 


Unger, C., Die Belastung eines städtischen Armenetats durch den Alkohol. Die 
Alkoholfrage. IX, 1913, S. 45—49. 

Die Arbeit enthält Zahlenmaterial aus Elbing; sie berücksichtigt eingehend die 
Trinkerkinder: von 40 Trinkerehen blieben 3 kinderlos; die übrigen 37 Familien 
zählten 264 lebendgeborene Kinder, von denen 102 starben. Die aus der Versorgung 
der Trinkerkinder erwachsenden Armenlasten sind nicht gering. 

Brun, Rud., Die Kinderarbeit am VII. internationalen Kongreß für Arbeiterschutz 
in Zürich. Zeitschrift für Jugenderziehung. III, 2 (1. Oktober 1912), S. 39—43. 

Kurze Berichterstattung über den Stand in einzelnen Staaten, die teilweise 
aber nur ungenau sein konnte. Es soll versucht werden, bessere Grundlagen für 
eine Zusammenstellung zu gewinnen. 


330 C. Zeitschriftenschau. 





Serkowski, Josef, Die gesetzliche Regelung der Jugendfürsorge unter besonderer 
Berücksichtigung des Kronlandes Galizien. Zeitschrift für Kinderschutz und 
Jugendfürsorge. V, 1 (Januar 1913), S. 12—16. 

Ein Fürsorgeerziehungsgesetz kann nur durch die verständnisvoile Mitarbeit 
aller Bevölkerungskreise fruchtbringend gestaltet werden. Öffentliche Mittel müssen 
bereitgestellt, die gesetzliche Basis geschaffen werden. In Galizien ist das Elend 
unter den Jugendlichen besonders groß. Die Zahl der der Fürsorge Bedürftigen 
wurde 1910 vom Verfasser mit Hilfe der Behörden auf etwa 62000 berechnet 
(etwa 1°/, der Gesamtbevölkerung). Die Arbeit enthält beachtenswerte Hinweise 
über die Jugendfürsorge in Galizien und ihre nächsten Aufgaben nach Inkrafttreten 
des diesbezüglichen Gesetzes. 


2. Massnahmen. 


Roese, Paul, Die Gefahren der gegenwärtigen staatlichen Jugendfürsorge. Evan- 
gelisch-Sozial. 21, 10 (Oktober 1912), S. 310—314. 

»Die erhoffte idealistische Bewegung in der bürgerlichen Welt beschränkt 
sich auf etwas mehr Geldgeben, auf einige Kriegsspielerei.e In bezug auf die 
Arbeiterjugend wirkt die augenblickliche ‚Jugendpflegepolitik nur negativ. Um 
Besserung zu schaffen, wird vorgeschlagen: 1. die staatlichen Instanzen sollten ihre 
Arbeit allen Jugendlichen zugute kommen lassen; 2. alle Jugendarbeit sollte an- 
erkannt werden (auch die gewerkschaftliche); zugleich sollte man aber sorgen, daß 
sie unpolitisch bleibe; 3. das Geldunwesen ist aufzubeben, die bürgerliche Welt muß 
zu Pflichtbewußtsein gegenüber den jugendlichen Arbeitern erzogen werden; 4. in 
die Ortsausschüsse sollten sozialdemokratische Vertreter hineingezogen und zu posi- 
tiver Arbeit veranlaßt werden; 5. »das unheilvolle Wettrennen zwischen Kultus- 
ministerium und dem Jungdeutschlandbund muß ein Ende haben. Dem Militär ge- 
hört ein Helferposten, nichts mehre«. 

Wilker, Karl, Auf Irrwegen. Ein Beitrag zur Jugendpflege. Evangelisch-Sozial. 
22, 1 (Januar 1913), S. 14—17. 

Wendet sich gegen die Auswüchse politischer Jugendpflegeaktionen, insbesondere 
des Jungdeutschland-Bundes. Man kann mit Jugendpflege nicht nationalpolitisch 
erziehen. 

Brunzlow, Abstinente in die Jugendpflege! Die Enthaltsamkeit. 14, 12, S. 85—88. 

Der Verfasser legt die Ziele des Jungdeutschlandbundes dar und fordert zu 
Mitarbeit an der Jungdeutschland-Jugendpflege auf. 

Theimer, Kamilla, Kinderschutz und Jugendfürsorge auf dem Lande. Zeitschrift 
für Kinderschutz und Jugendfürsorge. V, 1 (Januar 1913), S. 8—12. 

Auf dem Lande und im Gebirge ist bisher davon wenig zu merken. Er muß 
hier auch ganz anders angefaßt und durchgeführt werden. Möglich wäre ein all- 
jährlicher Instruktionskursus für Lehrerinnen, den der Bezirksarzt erteilt. Vor 
allem kommt es aber darauf an, der Landbevölkerung Bildung zu vermitteln, sie 
anzuleiten, ihr Einkommen zu erhöhen und ihre ganze Lebenshaltung zu verbessern. 
Georgi, Elsbeth, Kurse für Kinderfürsorge in Zürich. Zeitschrift für Jugend- 

erzirhung und Jugendfürsorge. IlI, 5 (15. November 1912), S. 121—124. 

Die Kurse, deren Programm kurz skizziert wird, wurden 1908, 1909, 1910 
und 1912 halbjähriich mit Erfolg abgehalten. Sie sind für 1913 wieder geplant. 
Leitsätze für Kindergartenunterweisung an Frauenschulen. Zeitschrift für Jugend- 

erziehung. 3, 10 (1. Februar 1913), S. 286—288. 


D. Literatur. 331 





Die Leitsätze wurden von der Kommission des Deutschen Fröbelverbandes 
dem Deutschen Verein für das höhere Mädchenschulwesen unterbreitet. Sie sind 
mit den Begründungen im Wortlaut abgedruckt. 

Knaut, Die Persönlichkeit des Erziehers. Der Monatsbote aus dem Stephansstift. 
34, 1 (Januar 1913), S. 3—8; 2 (Februar), S. 18—23. > 

Zeichnet das Vorbild des Erziehers in der christlichen Liebestätigkeit. 

Strei, C., Wie können wir die Rettungshausschule der diakonischen Arbeit er- 
halten? Der Rettungshaus-Bote. 33, 4 (Januar 1913), S. 74—79. 

Die diakonische Arbeit ist durch mancherlei Umstände gefährdet (ungenügende 
Vorbildung, Abneigung der Öffentlichkeit, Mißstände). Als Mittel und Wege, den 
Rettungshausschulen die diakonische Arbeit zu erhalten, werden besprochen: Aus- 
wahl der besten Kräfte, sachgemäße Ausbildung (allerdings wenig durchdacht), Ge- 
baltsregelung, Beharrlichkeit und Pflichteifer. 

Janisch, Franz, Jugendliche reisende Musikerinnen. Deutsche Elternzeitschrift. 
3, 11 (1. August 1912), S. 183—184; 12 (September), S. 201—202. 

Bespricht namentlich die zum Schutz getroffenen Maßnahmen uud gibt einzelne 

lehrreiche Beispiele. 


D. Literatur. 


Müller, G. E., Zur Analyse der Gedächtnistätigkeit und des Vor- 
stellungsverlaufes. I. Teil. Zeitschrift für Psychologie. Ergänzungsband 5. 
I. Teil. Leipzig, J. A. Barth, 1911. XIV u. 403 S. Preis 12 M. 

Professor G. E. Müller ist schon seit geraumer Zeit der anerkannte Führer 
experimenteller Gedächtnispsychologie. Die bedeutendsten Arbeiten seit Ebbing- 
haus’ epochemachenden Untersuchungen stammen von ihm und seinen Schülern; es 
genügen die Namen Dodge, Pilzecker, Schumann, die beiden Schwestern Steffens, 
Paula Ephrussi, Jacobs, Ohm und Sybel. Durch die Untersuchung des übernormalen 
Gedächtnisses des Mathematikers Rückle (1902) wurde er allmählich dazu geführt, 
eine eingehende Analyse der beim Lernen und Hersagen stattfindenden psychischen 
Vorgänge zu geben, und schließlich erweiterte er seine Aufgabe und zog auch noch 
die Hauptpunkte einer allgemeinen Lehre von der Erinnerung und dem Vorstellungs- 
ablauf überhaupt in den Bereich seiner Untersuchungen. Daß dieses grundlegende 
Werk im Entstehen war, wußten die Fachleute längst und sahen mit Spannung, ja 
mit Ungeduld seinem Erscheinen entgegen. Endlich, 1911, ist der erste Band er- 
schienen — 9 Jahre, nachdem Müller an die Aufgabe herangetreten, als ob er 
Horazens Rat »nonum prematur in annum« befolgen wollte. 

Es ist ein reifes Werk geworden, bestimmt die ganze Summe der in jenen 
Richtungen bisher geleisteten Arbeit in sich aufzunehmen und die Fundgrube zu 
werden, aus der Psychologie und Pädagogik ihr Wissen holen können, sowohl was 
die Methode als was die Ergebnisse anlangt. 

Der 1. Abschnitt, der als Einleitung in das Werk betrachtet sein will, gibt 
Bemerkungen über die Aufgabe des Buches, über die benützten Versuchspersonen 
und reichhaltige Bemerkungen über die sensorischen Sinnestypen im allgemeinen 
wie über die einzelnen Typen und ihre Mischung, über das Zusammenwirken der 
verschiedenen Gedächtnisse und über einige Besonderheiten visueller Lerner und 
visueller Reproduktionen. 


332 D. Literatur. 











Auch der 2. Abschnitt gehört eigentlich noch zur Einleitung, insoferne er noch 
nicht das Gedächtnis selbst behandelt, sondern eine für die psychologische Forschungs- 
methode überhaupt äußerst wichtige Vorfrage »der Selbstwahrnehmung«, natür- 
lich unter besonderer Bezugnahme auf das Gedächtnis. Wenngleich die objektiven 
Methoden der Beobachtung besonders der Leistungen (Lernarbeit und Lernerfolg) 
der Versuchsperson besonders bei Gedächtnisversuchen den breitesten Raum ein- 
nehmen, so müssen — was vielfach übersehen wird — diese objektiven Beobach- 
tungen doch durch subjektive Beobachtungen ergänzt und vertieft werden, wenn die 
wissenschaftliche Forschungsarbeit vollständig sein soll. Selbstwahrnehmung nennt 
dies Müller (wie Brentano), nicht Selbstbeobachtung, weil Konstatierungen in bezug 
auf einen psychischen Zustand, sei es durch unmittelbare Auffassung desselben oder 
durch Erinnerung an denselben, auch gemacht werden ohne die Absicht der Be- 
obachtung. Vergleicht man die psychischen Vorgänge bei der Beschreibung eines 
äußeren Gegenstandes mit denen bei der Beschreibung eines Bewußtseinszustandes, 
so ergibt sich eine überraschende Übereinstimmung. Auch die psychischen Vor- 
gänge werden nicht bloß — wie meist behauptet wird — auf Grund rückschauender 
Erinnerung, sei es nun indem der betreffende Zustand selbst in Erinnerung kommt 
oder indem nur eine Beurteilung jenes Zustandes wieder vergegenwärtigt wird, 
beschrieben, sondern auch auf Grund gegenwärtigen Gegebenseins und Apperzipiert- 
werdens. Eine andere Frage ist, ob ebenso, wie die Absicht des Beobachtens eines 
äußeren Gegenstandes für dessen Beschreibung günstig ist, so auch die Beobachtung 
des Bewußtseinszustandes dadurch gewinnt. Die Beobachtungen ergeben, daß die 
Beschreibung eines natürlichen Bewußtseinszustandes d. h. eines solchen, der von 
einer Beobachtungsabsicht weder erzeugt noch beeinflußt ist, durch die Absicht der 
Beobachtung bedeutenden Veränderungen unterliegen kann, daß dagegen bei ge- 
zwungenen Bewußtseinszuständen, d. h. solchen, welche willkürlich erzeugt werden 
zum Zwecke der Beobachtung oder wenigstens unter der Absicht solcher Beobach- 
tungen auftreten, die Beobachtungsabsicht nur vorteilhaft wirkt. Aus diesem Unter- 
schied der Wahrnehmungsergebnisse folgt vor allem die Regel, daß die an ge- 
zwungenen Bewußtseinszuständen gefundenen Gesetzmäßigkeiten nicht so ohne weiteres 
gleich genommen werden dürfen den an natürlichen Bewußtseinszuständen ge- 
fundenen, eine Regel, welche besonders bei der Anwendung der im psychologischen 
Experiment gewonnenen Einsichten auf die Unterrichts- und Erziehungspraxis nicht 
genügend beachtet wird. Übrigens können bestimmte Beobachtungsabsichten auch 
bei der Beobachtung äußerer Gegenstände nachteilig sein. 

Der Grundunterschied zwischen der äußeren Wahrnehmung und 
der Selbstwahrnehmung besteht darin, daß die eintretenden Bewußtseins- 
inhalte jeweils eine andere Auffassung erfahren. In der äußeren Wahrnehmung 
dienen die Inhalte dazu. uns einen der physischen Gesetzmäßigkeit unterworfenen 
Körper mit einer bestimmten Eigenschaft, in einem bestimmten Zustaode, in einer 
bestimmten Entfernung vorstellen zu lassen. Bei der Selbstwahrnehmung dagegen 
interessieren uns die Bewußtseinsinhalte so, wie sie an sich sind oder insoferne sie 
hinsichtlich ihres Eintrittes, Verhaltens und Wirkens der psychologischen Gesetz- 
mäßigkeit unterliegen. Ähnlich begründet Wundt z. B. in seinem »Grundriß der 
Psychologiee die Trennung der Naturwissenschaft und der Geisteswissenschaft aus 
dem Unterschied der Gesichtspunkte bei der Auffassung der an sich einheitlichen 
Erfahrung. 

In eindringender kritischer Erörterung werden die Unvollkommenheiten 
der Selbstwahrnehmung gegenüber den natürlichen Bewußtseinszuständen be- 


D. Literatur. 333 








sprochen und die daraus sich ergebenden Vorschriften für die Benützung solcher 
Selbstbeobachtungen, Vorschriften, welche für den psychischen Experimentator höchst 
wertvolle Winke sind, stets belegt mit Beispielen aus der reichen eigenen Erfahrung 
des Verfassers wie aus der Literatur. 

Eine ablehuende Kritik erfährt dabei Achs und Segals Methode der syste- 
matischen Selbstbeobachtung unmittelbar nach Ablauf des durch eine be- 
stimmte Anordnung herbeigeführten Erlebnisses, ferner das vielgeübte Verfahren, 
selbst von Schulkindern allgemeine Mitteilungen über ihre Lernweise usw. zu ver- 
langen, und die nicht minder beliebte Methode der Fragebogen, in welchen die Be- 
fragten allgemeine Auskunft über ihr Verhalten in dieser oder jener Hinsicht geben 
sollen. Diese völlig unzulängliche und irreführende Methode der vermeint- 
lichen Reminiszenzen, wie sie Müller nennt, war die vor dem Aufkomnien der 
experimentellen Psychologie allgemein übliche. Ein Fortschritt in der Gedächtnis- 
psychologie konnte erst eintreten, als man diese Methode aufgab. 

Von ganz besonderem Interesse sind die Ausführungen Müllers über das 
sogenannte Gedanken-Experiment. E. Mach hat den Begriff eingeführt. Man 
versteht seitdem darunter das Verfahren, »sich gewisse Dinge als unter bestimmten 
Umständen befindlich vorzustellen und sich zu vergegenwärtigen, wie sich jene 
Dinge unter diesen Umständen verhalten würden. Der Physiker macht davon 
mannigfachen Gebrauch, und für den Psychologen ist es eine nicht minder wertvolle 
Quelle. In analoger Weise vergegenwärtigt er sich psychische Vorgänge, die sich 
bei bestimmter Versuchsanordnung in Versuchspersonen von bestimmter Beschaffen- 
heit abspielen müssen. Individualisierend ist dieses psychologische Gedanken- 
experiment, wenn ich mich frage, wie bestimmte Individuen, die leben oder gelebt 
haben, unter bestimmten Umständen sich psychisch verhalten würden, wie ich selbst, 
wie Bismarck sich in dieser oder jener — noch nicht erlebten — Situation be- 
nehmen würde. Man versetzt sich innerlich in die gegebene Lage und beobachtet 
die Gedanken, Affekte, Tendenzen usw., die unter diesen Umständen erweckt werden, 
und nimmt dabei an, daß bei einem wirklichen Gegebensein der betreffenden Situation 
entsprechende Gedanken, Affekte, Tendenzen usw. eintreten, wie sie bei mir bloß 
in der Vergegenwärtigung eingetreten sind. Es ist ein Fall von Einfühlung in die 
fremde Persönlichkeit und in die eigene Persönlichkeit zu einer anderen gedachten 
Situation, ein instinktmäßiges psychisches Geschehen, das schon Lipps als eine 
freilich der Korrektur oft bedürftige Erkenntnisquelle bezeichnet hat. Erschließt 
man dagegen auf Grund gewisser Kenntnisse von allgemeinen Gesetzen und indivi- 
duellen Eigentümlichkeiten das Verhalten in einer bestimmten Situation, so hat man 
kein eigentliches Gedankenexperiment, sondern eben eine Schlußfolgerung. Nicht 
selten gehen beide Verfahren der Ermittelung eines eventuellen Inhaltes Hand in 
Hand, »Gedankenexperiment gemischter Art«. Im Leben machen wir von diesem 
Gedankenexperiment in weitem Umfange Gebrauch. Wir suchen dadurch das 
eventuelle Verhalten unserer Mitmenschen unter bestimmten Umständen zu erraten 
und pflegen darnach unser eigenes Verhalten einzurichten. Auch der wissenschaft- 
liche Psychologe wird, obwohl er sich über die Unzuverlässigkeit und andere Mängel 
des Gedankenexperimentes keinen Täuschungen hingibt, es doch in Anwendung bringen, 
so wenn er zwischen verschiedenen möglichen Untersuchungsmethoden und Ver- 
suchsanordnungen zu wählen hat, wenn er in den Verlauf psychischer Vorgänge 
unter Umständen, die er willkürlich nicht herbeiführen kann, Einblick gewinnen will. 
wenn er die Sicherheit einer Versuchsperson hinsichtlich einer Aussage prüft, indem 
er sie veranlaßt sich in Gedanken vor ein Gericht zu versetzen, und nun sie fragt, 
ob sie auch dann noch ihre Aussage für richtig hält u. dergl. 


334 D. Literatur. 





Gleich in medias res führt der III. Abschnitt, der interessanteste dieses Buches, 
der Abschnitt über den genialen, 1879 in Frankfurt geborenen Kopfrechner 
Dr. Rückle. Es hat ja zu jeder Zeit Leute gegeben mit anormaler Fähigkeit Zahlen 
sich einzuprägen und im Kopfe Rechenoperationen auszuführen. Aber Rückle ist 
allen bisherigen fast in jeder Hinsicht überlegen, zum Teil weit überlegen. Diamandi, 
ein berühmter Kopfrechner der jüngsten Zeit, braucht nach den umfassenden Unter- 
suchungen, die Binet und Henri mit ihm angestellt haben, um 50 Ziffern sich ein- 
zuprägen und aus dem Gedächtnis niederzuschreiben, 7‘ (Minuten), der Berufs- 
nınemotechniker Arnould, der mit dem bekannten Hilfsmittel der Mnemotechnik: 
Ersatz der Ziffern durch Buchstaben und Zusammensetzung dieser Buchstaben zu 
Wörtern, arbeitet, braucht immerhin gegen 3° = 165“ (Sekunden). Rückle da- 
gegen braucht zum Einprägen und Hersagen etwa 70“, wobei allerdings zu beachten 
ist, daß das Hersagen rascher geht als das Niederschreiben. Für 100 Ziffern hatte 
Diamandi 25‘, Arnould 15‘, Rückle durchschnittlich 6° nötig. Für 200 Ziffern end- 
lich benötigte Diamandi 75‘, Arnould 45‘, Rückle dagegen durchschnittlich 22. 

Rückle ist kein einseitiger Zahlenmensch. Sein Gedächtnis übersteigt auch für 
andere Stoffe weit das Mittelmaß, wie er denn im Realgymnasium stets der Erste 
war. Rückles sensorischer Typus ist optisch. Beim Hersagen sieht er die Ziffern- 
komplexe vor seinem geistigen Auge und zwar in der Handschrift, in der sie ihm 
beim Lernen vorgelegen hatten; ebenso die Konsonantenreihen, die ihm zum Lernen 
aufgegeben waren. Von dem mnemotechnischen Hilfsmittel des Ersatzes der Ziffern 
durch Buchstaben, das auf den Dänen Reventlow zurückgeht, macht Rückle keinen 
Gebrauch. Er bedient sich ausschließlich seiner mathematischen Kenntnisse. So 
überrascht es nicht, daß er in den elementaren Rechenoperationen (Addieren, Sub- 
trahieren, Multiplizieren usw.) von Inaudi, einem anderen von Binet geprüften 
akustisch - motorischen Kopfrechner, erreicht, ja übertoffen wurde. 

Doch lernt Rückle nicht ausschließlich visuell. Denn bei schwieriger sich 
einprägenden Ziffernkomplexen und Ziffernreihen benützt er auch den akustisch- 
motorischen Weg, indem er sie innerlich oder leise mitspricht. Rückle lernt nicht 
lediglich mechanisch d. h. Ziffer an Ziffer assoziierend, sondern neben diesen Asso- 
ziationen schafft er sich neue Bänder, indem er zwischen den Zifferngruppen — 
er lernt die Ziffern meist in Komplexen von 5 bis 6 — Beziehungen sucht und 
diese als leichter einprägbar neben der Assoziation von Glied zu Glied und Gruppe 
zu Gruppe als Hilfsmittel der Reproduktion verwendet. So merkt er sich, daß 
841 = 29°, 295 = 5 >x 59, 559 = Regierungsantritt von Kyros, 624 = 25? — 1, 
70128 = 701 + 28 = 729 = 9%, 451697 = 451 = 11x41 und 697 = 17 x 4l. 
Für Nichtmathematiker scheinen vielleicht diese Begleitgedanken noch schwerer zu 
merken als die Zahlen für sich allein, gar nicht zu reden von der Schwierigkeit 
des Auffindens besonders dieser zahlentheoretischen Verhältnisse. Aber für Rückle, 
dessen Blick für die Zusammengesetztheit der Zahlen durch ein von frühester Jugend 
ihn beherrschendes Interesse und durch reichliche Übung geschärft ist, sind diese 
Auflösungen ein Spiel. Diese Hilfsassoziationen, die übrigens im Leben alle Tage 
oft genug angewendet werden, sind nicht sowohl Erleichterungen der Einprägung, 
schaffen nicht stärkere Dispositionen der Assoziationen, sondern erleichtern die Re- 
produktion, das In-Wirksamkeit-treten dieser Dispositionen, was ich in meiner Mono- 
graphie »Das Gedächtnis« als konvergente Reproduktion (Konstellation) dargelegt 
habe. Es sind also nicht, wie man oft genug zu lesen bekommt, Hilfen der Ein- 
prägung oder des Lernens, sondern der Reproduktion oder des Erinnerns, 

An diese genaue psychologische Darlegung des Falles Rückle knüpft nun 
Müller als Endergebnis allgemeine Bemerkungen über ungewöhnliches Zahlengedächt- 


D. Literatur. 335 





nis und über hervorragende Spezialgedächtnisse überhaupt. Man war bisher gewohnt, 
in solchen Fällen von einem besonderen Gedächtnis für Zahlen oder für Formen 
oder Farben, für Wörter usw. zu reden, machte also stoffliche Gruppen. Müller 
lehnt das ab. Er weist darauf hin, daß man in Konsequenz dieser Grundansicht 
dann weitergehen müßte und, da die einen Kopfrechner visuell, die andern akustisch- 
motorisch rechnen, für die einen ein besonderes Gedächnis für Zahlzeichen (Ziffern), 
bei den andern für Zahlwörter annehmen müßte und dann wieder unterscheiden 
müßte zwischen einem besonderen Gedächtnis für arabische Ziffern und einem für 
römische Ziffern und wieder unterscheiden ein besonderes Gedächtnis für Buch- 
staben und Wörter, für geometrische Figuren usw. Und beim auditiven Rechner 
müßte man beim einen ein besonderes Gedächtnis für französische Zahlwörter, beim 
andern für deutsche usw. annehmen und müßte sich dann fragen, ob ein mit 
normalem Gedächtnis für italienische Zahlwörter begabter Rechner wie Inaudi, wenn 
er in einer deutschen Sprachumgebung aufgewachsen wäre, nicht jene Höhe der 
Leistungsfähigkeit hätte erreichen können, weil er hier die Zahlwörter in deutscher 
Sprache gelernt hätte. Indem Müller diesen Weg zu Ende geht, zeigt er, daß jene 
Auffassung von besonderer, angeborener Begabung für Zahlen usw. auf einen Holz- 
weg führt. Und so sieht er mit überzeugenden Gründen die Ursache solcher Ein- 
seitigkeit des Gedächtnisses in der Einseitigkeit des Interesses, das im Bunde 
mit einer hohen Leistungsfähigkeit bestimmter Funktionen, die aber bei anderer 
Interessenrichtung nach einer ganz anderen Seite hin zu Erfolg geführt hätten, diese 
merkwürdigen Leistungen zeitigt. 

Natürlich, wie dieses merkwürdige einseitige Interesse entsteht, ist ein Ge- 
heimnis, ist das Geheimnis der Individualität. Der Hinweis auf die Vererbung 
schiebt das Rätsel nur vom Schn zurück auf die Eltern, Fragt man nach der 
physiologischen Unterlage dieser hohen Begabungen, dann muß man sich begnügen 
mit der Annahme einer besonders günstigen Entwicklungs- und Ausbaufähigkeit 
einzelner Sinnesgebiete, des optischen oder des akustisch-motorischen Bezirkes, und 
darf nicht mit Gall und seinem jüngsten Vorkämpfer Möbius etwa den besonderen 
Sitz für mathematische Begabung, ein »mathematisches Organ«, in der linken Stirn- 
ecke oder sonstwo suchen. Sonst müßte man schließlich auch eine angeborene 
Veranlagung und ein besonderes Organ annehmen für ein außerordentliches Inter- 
esse ar Briefmarken oder Perserteppichen. 

Müllers Ausführungen verbreiten sich nicht über so viele matbematische 
Genies und Kopfrechenmeister wie Binet und Henri in ihrem berühmten Buche 
»Grands calculateurs et joueurs d’öchec« und lesen sich auch nicht so fesselnd. Aber 
sie dringen viel tiefer in die Psychologie des Phänomens ein und bedeuten darum 
einen gewaltigen Fortschritt in dieser Frage. 

Der IV. und längste Abschnitt des I. Bandes behandelt die Komplexbildung 
beim Lernen. Bekanntlich besteht die Tendenz Ziffern, Konsonanten, Silben, 
Wörter usw. nicht einzeln, sondern zu stark in sich assoziierten Komplexen zu- 
sammengefaßt zu lernen, selbst dann, wenn ihre Anordnung oder die Form ihrer 
Darbietung keine Gruppierung oder Einteilung aufweist, und um so mehr, wo dies 
der Fall ist. Je nachdem die Glieder alle gleichzeitig oder in schnellem Durchlaufen 
der einzelnen Glieder erfaßt und dann zu einem Ganzen zusammengefaßt werden, 
unterscheidet Müller kollektive Simultan- bezw. kollektive Sukzessiv- 
auffassung. Dabei erzeugt der Visuelle bei sukzessiver Wahrnehmung der dar- 
gebotenen Reihenglieder innere visuelle Bilder dieser, und zwar stets in bestimmter 
räumlicher Anordnung. Im weiteren Verlauf des Lernens tritt dann die Tendenz 


336 D. Literatur. 





auf, bei sukzessiver Darbietung nicht bloß von einem ihm dargebotenen Reihenglied 
ein innerliches visuelles Bild zu erzeugen, sondern im Anschluß an dieses auch 
noch andere vorhergehende oder nachfolgende Glieder nur desselben — aber nicht 
eines anderen — Komplexes zu reproduzieren. Späterhin stellt sich beim Lernen 
öfter ein flüchtiges Gesamtbild des Komplexes gleich nach seiner Darbietung ein, 
ja schließlich schon vor der Darbietung und das Hersagen pflegt sich in der Weise 
zu vollziehen, daß vor dem Hersagen des Komplexes zuerst sein Gesamtbild (Ge- 
staltbild) erscheint. Die Komplexbildung wird erleichtert durch Übung und natür- 
lich durch die Anordnuug der Lernobjekte. Dabei zeigt sich allerdings, da die Auf- 
merksamkeit bekanntlich intermittiert, daß die kollektive Sukzessivauffassung nur 
über eine sehr begrenzte Zahl von Reihengliedern sich erstreckt, über so viele eben, 
als sich innerhalb der Zeit einer Aufmerksamkeitswelle erfassen lassen. Und da 
gilt der Satz: Jedes Glied wird mit um so geringerer Aufmerksamkeit erfaßt, je 
mehr Glieder die Gruppe umfaßt; dasselbe gilt für die kollektive Simultanauffassung 
(Satz der Unschärfe der kollektiven Auffassung). Der visuelle Lerner ist 
beim Einprägen einer simultan vorgeführten Reihe zuerst darauf gerichtet, die Ge- 
stalt jedes zu bildenden Komplexes zu erfassen und einzuprägen. Ja manchmal 
formen die Lerner die Glieder selbständig zu einer ihnen geläufigeren Form oder 
Gestalt um. Diamandi übersetzte das Vorgeführte in seine Handschrift um, andere 
aus der horizontalen Anordnung in eine vertikale. Beim Weitergehen zum nächsten 
Komplex hat der Lerner oft eine Neigung, sich, wie um seine Sicherheit zu prüfen, 
den eben aufgefaßten Komplex nochmals innerlich zu rekonstruieren, das Haupt- 
mittel der Einprägung. Bei der Reproduktion tritt der Gesamtkomplex zuerst vor 
das innere Auge; dann heben sich beim fortschreitenden Reproduzieren die einzelnen 
Stellen deutlicher heraus. So sieht Rückle die jeweils herzusagende Ziffer deutlicher. 
Bei Lernern mit mehr gemischt-visuellem Typus spielt das Komplex-bilden natürlich 
nicht diese wichtige leicht bemerkbare Rolle. 

Diejenigen Umstände, welche die Komplexbildung beeinflussen, nennt Müller 
Determinanten des Komplexumfanges. Es sind das die räumliche Anord- 
nung der Reihenglieder. ihr Abstand von einander wie vom Auge des Lernenden, 
zwischen den Gliedern angebrachte Markierungen, eine Übereinstimmung mehrerer 
Glieder nach Beschaffenheit oder räumlicher Gestaltung, indem durch eine den 
Gliedern gemeinsame Eigenschaft diese insgesamt von ihrer Umgebung abgehoben 
werden, symmetrischer Aufbau (z. B. 84548), Gesamtlänge der Reihen, insofern 
kürzere Reihen lieber in kleineren, längere in größeren Komplexen gelernt werden, 
Pausen und Betonung beim Vorlesen, ferner solche assoziative Momente, wie Vor- 
kommen der Glieder schon in einem anderen bekannten Komplex (Jahreszahl, ge- 
läufige Wortverbindung wie schwarz weiß rot, mathematische Beziehungen, wie 
26169 aufgelöst in 26 = 13 x 2 und 169 — 13°), weiter die Beharrungstendenz 
einer vorgeübten Lernweise an einen bestimmten Komplexumfang. 

Die innere Festigkeit d. h. die Stärke der wechselseitigen Assoziationen, die 
unter anderem abhängt von dem Bekanntheitsgrade der Glieder und von der Vor- 
führungszeit, nennt Müller Schärfe der Komplexbildung, eine unseres Er- 
achtens nicht ganz glückliche Bezeichnung, weil sich aus ihr das Wesen des Be- 
zeichneten nicht erkennen läßt. Innere Festigkeit scheint mir bezeichnender. 

Neben den durch einen Akt kollektiver Auffassung geschaffenen Komplexen 
gibt es noch Gruppen, die größer sind, als daß ein einzelner solcher Auffassungsakt 
sie hätte schaffen können, die aber durch feste Assoziation enger zusammengehalten 
werden als andere. Müller nennt sie Assoziationsgruppen. Bei ihrer Bildung 


D. Literatar. 337 





spielt die »Zuordnung« nicht selten eine wichtige Rolle. Mit Zuordnung be- 
zeichnet Müller den Umstand, »daß beim Lernen 2 nahe oder entfernt voneinander 
stehende Reihenbestandteile in der Weise aufgefaßt werden, daß man sich aus- 
drücklich die Beziehungen einprägt, in der die Stellen beider Reihenbestandteile zu- 
einander stehen«. Was Müller hier mit Zuordnung bezeichnet, ist ein spezieller 
Fall des für die Reproduktion so außerordentlich wichtigen Beziehungsbewußtseins, 
dessen Mitwirkung das logische oder judiziöse Lernen, dessen Fehlen das mechanische 
Lernen ausmacht. Sein Vorteil für die Reproduktion beruht darauf, daß es zwei 
Reihen, eine Haupt- und eine Nebenreihe, nebeneinander bildet, von denen die eine, 
die Nebenreihe, leichter sich einprägt. Von den Gliedern der leichter eingeprägten, 
fest assoziierten Reihe gehen Assoziationen zu den entsprechenden Gliedern der 
anderen Reihe, der Hauptreihe, welche ihrerseits unter sich assoziiert sind. Die 
Disposition oder Spur eines Gliedes der Hauptreihe erfährt somit von zwei Seiten 
her eine Anregung; das bedeutet eine Beschleunigung und Erleichterung der Re- 
produktion. Ich bezeichne in meinem Buch diesen Vorgang als konvergente Dis- 
positionsanregung. 

Ganz das Gleiche liegt, rein psychologisch genommen, vor in der auch von 
Müller berührten Tatsache, »daß man beim Hersagen einen zu nennenden Komplex 
leichter findet, wenn man seinen Umfang bereits von vornherein sicher weiß, als 
dann, wenn man zunächst auch nicht einmal betreffs des Umfanges des Komplexes 
einen Anhaltspunkt hate. Müller formuliert für dieses Geschehen den Satz von 
der reproduktiven Wirksamkeit der bewußten Teilinhalte (344). Dieser 
besagt, »daß wir uns eines früheren Eindruckes leichter erinnern, wenn wir betrefts 
seiner Intensität oder Qualität oder seiner räumlichen oder zeitlichen Beschaffenheit 
irgend einen Anhaltspunkt besitzen«.. Ob man aber in diesem Fall wirklich von 
»Teilinhalten« reden kann? Das Wissen z. B., daß der zu reproduzierende Komplex 
10 Glieder hatte, ist doch nicht ein Teil des Komplexinhaltes, indem uns die 10 
Glieder gegeben sind. Es ist vielmehr das Wissen, daß ich beim Wahrnehmen 
dieser Reihe, deren Reproduzieren mir nicht sofort gelungen ist, 10 Glieder gezählt 
habe, also ein Anzahlenurteil gefällt habe, und das Wissen um den Inhalt dieses 
Urteiles. Dieses Urteil ist kein Bestandteil jenes Komplexes; der Komplex ist voll- 
ständig, auch wenn ich ihn, ohne über die Zahl der Glieder zu urteilen, wahrnehme 
oder mir erinnernd vergegenwärtige. Das Urteil tritt vielmehr hinzu und assoziiert 
sich mit dem Komplex. Wenn nun die Aufforderung erfolgt, jenen Komplex zu 
reproduzieren, so wirkt einerseits von dieser Aufforderung her eine Reproduktions- 
tendenz auf die Dispositionen der Reihe, andererseits aber auch von jenem sofort 
wieder erinnerten Anzahlenurteil. Es sind also zwei zusammenwirkende Re- 
produktionstendenzen, oder es wird der Dispositionskomplex von zwei Seiten her an- 
geregt, ein Geschehen, das keineswegs etwas Neues ist, also die Aufstellung eines 
eigenen Satzes nicht als notwendig erscheinen läßt. Auf die gleiche Weise zu ver- 
stehen ist die das Reproduzieren mehr als das Lernen unterstützende Wirkung des 
Rhythmus. Er bildet ein bis zu einem gewissen Grade selbständiges, mehr oder 
weniger kompliziertes Schema, dessen Glieder mit Gliedern des Textes assoziiert 
sind und dadurch deren Reproduktion durch konvergente Dispositionsanregung er- 
leichtern. Der Rhythmus beruht vorwiegend -— wenn auch nicht immer — auf 
motorischen Vorgängen, auf Bewegungsempfindungen oder Vorstellungen und Be- 
wegungsantrieben. Darum tritt er bei rein visuellen Lernern nicht auf. Wenn bei 
visuellen Lernern ein Rhythmus vorhanden ist, so geschieht das dadurch, daß die 
meist ganz unwillkürlichen Bewegungen, mit denen manche Versuchspersonen die 


Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 22 


338 D. Literatur. 


einzelnen Glieder erblicken, sozusagen begrüßen (Nicken, Aussprechen von Zahl- 
wörtern, einfache Kehlkopfbewegungen ungefähr in der Form von »hme«), eine rhyth- 
mische Gliederung erfahren können. 

Welche Komplexe am zweckmäßigsten sind, hängt ab von unserer Absicht, ob 
wir in kürzester Zeit einen Stoff bis zum freien Hersagen einprägen wollen oder 
bei gegebener konstanter Lernzeit ein möglichst gutes Lernergebnis anstreben d. h. 
möglichst viele Treffer bieten wollen (zeitökonomischer Standpunkt) oder aber, ob 
wir das Lernziel mit der geringsten Anstrengung (Ermüdung) erreichen oder bei 
gleicher Anstrengung möglichst große Lerneffekte erzielen wollen (kraftökonomischer 
Standpunkt). Nur die Beobachtung im einzelnen kann zeigen, welche Methode je- 
weils die zweckmäßigste ist. Immerhin läßt sich jetzt schon auf Grund der bis- 
herigen Erfahrung manche Regel für die Wahl des Komplexumfanges angeben. 

Es ist ein groß angelegtes, an einer erdrückenden Fülle von scharfen Einzel- 
beobachtungen reiches Werk, in dessen I. Band diese Zeilen einen Einblick ge- 
währen, und nicht minder reichhaltig versprechen die folgenden 2 Teilbände zu 
werden. Aber trotz der breiten Anlage ist es Müller nicht darum zu tun, ein ge- 
schlossenes System der Gedächtnispsychologie zu geben. Das zeigt schon die An- 
lage, indem nach der Einleitung ein Abschnitt über die Selbstwahrnehmung folgt, 
darauf die Beschreibung eines hervorragenden Gedächtnisses, endlich ein Abschnitt 
über die Komplexbildung beim Lernen. Das zeigt auch die Überschrift »zur Analyse 
der Gedächtnistätigkeit«, wie der Verzicht auf kritische Besprechung der verwendeten 
Grundbegriffe und auf eine vollständige Bibliographie. So fällt das Werk etwas 
anders aus, als man wohl vielfach erwartet hatte. Es untersucht wohl die wichtigsten 
Seiten der Gedächtnistätigkeit, ist aber doch keine vollständige, in sich geschlossene 
Gedächtnispsychologie. Und das ist zu bedauern. Denn keiner besaß je eine so 
ausgedehnte Kenntnis der einschlägigen Literatur, keiner ist mit den Methoden und 
den Ergebnissen der experimentellen Forschung so vertraut, keiner hat sowohl selbst 
wie durch seine Schüler so Vieles und so Wertvolles zur Erforschung dieses Ge- 
bietes beigetragen, als G. E. Müller. Aber selbstverständlich wird ihm die Wissen- 
schaft auch so, wie sein Werk ist, zu größtem Danke verpflichtet sein. Indem er 
darin alles vereinigt, was bis jetzt durch die experimentelle Psychologie ans Tages- 
licht geschafft worden ist, und indem er jeweils mit scharfer Kritik die Mängel der 
Methoden und der Ergebnisse aufdeckt, hat er eine Fundgrube geschaffen, die durch 
den Reichtum wie durch die Verlässigkeit des in ihr vereinigten und kritisch ver- 
arbeiteten Stoffes das Zurückgehen auf die Quellen in den meisten Fällen überflüssig 
macht. Schon dadurch wird Müllers Buch zu einem Markstein in der Entwicklung 
der modernen Psychologie. 

München. M. Offner. 


Fuchs, Arno, Hilfsschulfragen. Arbeiten aus dem III. Berliner Fortbildungs- 
kursus für Hilfsschullehrer nebst Bericht. Halle a. S.. Carl Marhold, 1912. 
104 S. Preis ? M. 

Im Auftrage der Deputation für die Fortbildungsschulen zu Berlin hielt Arno 
Fuchs in der Zeit vom 8. November 1911 bis zum 24. Januar 1912 den III. Berliner 
Fortbildungskursus für Hilfsschullehrer und -lehrerinnen ab. Dieser Kursus sollte 
ein Informationskursus für solche Lehrer und Lehrerinnen sein, die in den Dienst 
der Fortbildung schwachbeanlagter Jünglinge und Mädchen zu treten beabsichtigen. 
Es beteiligten sich jedoch in großer Zahl auch solche Lehrkräfte an ihm, die bereits 
an der Fortbildungsschule für Schwachbeanlagte (ehemalige Hilfsschulkinder) tätig 
waren, so daß der Kursus den Charakter eines Fortbildungskursus für Hilfsschul- 


D. Literatur. 339 





lehrer gewann. In dem Kursus wechselten Vorträge, Übungen und Besichtigungen 
miteinander ab. Auch stellten die Kursusteilnehmer ihre Erfahrungen in den Dienst 
der guten Sache und beteiligten sich durch Referate und Besprechungen. Die hier- 
durch entstandenen methodischen Arbeiten hat Arno Fuchs auf Wunsch heraus- 
gegeben. Die Arbeiten haben die Ausbildung der Hand (Handarbeits- und Haus- 
haltungsunterricht für Mädchen, Knabenbandarbeit, Fachzeichnen), den Deutschunter- 
richt (Lesebuch, Jugendschriften, methodische Behandlung eines allgemein bildenden 
Erzählstoffes, Einführung in das Lesen und Betrachten einer illustrierten Zeitschrift), 
den Rechenunterricht (Rechenbuch, angewandtes Rechnen) zum Gegenstand. Sie 
erörtern belehrende und gesundheitlich fördernde Unternehmungen im Dienste der 
Fortbildungsschule, Heim und Lehrwerkstätte für ehemalige Hilfsschüler, be- 
merkenswerta Eindrücke beim Hospitieren in Fortbildungsschulen für Schwach- 
beanlagte und Normale, den gegenwärtigen Stand der Schwerhörigenfürsorge. Zwei 
weitere Abhandlungen beschäftigen sich mit Fragen der Erziehung psychopathischer 
Kinder. Als Schlußwort gibt Fuchs einen Überblick über den gegenwärtigen 
Stand der Ausbildungskurse für Hilfsschullehrer. Die »Hilfsschulfragen« sind hier- 
mit bestens empfohlen, zumal sie nicht nur die Fortbildungsschule für Schwach- 
beanlagte sondern auch die Hilfsschule im Auge haben. 
Danzig. Franz Matschkewitz. 


Horrix, Hermann, Die Ausbildung des Hilfsschullehrers. Ein Vorschlag 
zu ihrer Förderung. Halle a. S., Carl Marhold, 1912. 56 S. Preis geh. 1 M. 

Die Frage der Vor- und Fortbildung des Hilfsschullehrers gehört zu den 
wichtigsten, die den Hilfsschullehrerstand zurzeit beschäftigen. Verschiedene Vor- 
schläge sind gemacht, die die Frage fördern sollen. Horrix hat ihr die oben an- 
geführte Schrift gewidmet. Verfasser ist in dieser Frage doppelt zuständig. Einmal 
steht er seit ca. 25 Jahren im Dienste der Hilfsschule, zum andern ist er von der 
Königl. Regierung zu Düsseldorf zur Leitung der von ihr eingerichteten Kurse be- 
rufen. Horrix behandelt in seiner Schrift: I. Notwendigkeit und Wert einer be- 
sonderen Ausbildung der Hilfsschullehrer. II. Ansichten über die Art der Aus- 
bildung. IlI. Die Persönlichkeit des Hilfsschullehrers. IV. Die entferntere Vor- 
bereitung auf den Hilfsschullehrerveruf. V. Die gegenwärtig spezielle Ausbildung 
in Hilfsschullehrerkursen. VI. Die vorgeschlagene Ausbildung im Hilfsschullehrer- 
seminar. VII. Erläuterungen zum Ausbildungsplan. 

Verfasser bespricht die den bisher getroffenen oder gewünschten Einrichtungen 
anhaftenden Vor- und Nachteile und empfiehlt die Gründung heilpädagogischer Seminare. 
Für den Besuch eines solchen Seminars nimmt er einen Zeitraum von einem Jahr 
an. Er legt dar, wie er sich die Ausgestaltung des Seminars denkt und bietet einen 
bis ins einzelne gehenden Ausbildungsplan. In dem Abschnitt »Die Ausbildung der 
Hilfsschullehrer in andern Staaten« berücksichtigt der Verfasser die Verhältnisse in 
Österreich, Ungarn und Frankreich. Daraus geht hervor, daß diese Staaten uns 
voraus sind. 

Danzig. Franz Matschkewitz. 


Seyfert, R., Die Unterrichtslektion als didaktische Kunstform. Leipzig, 
Verlag Ernst Wunderlich, 1909. 267 S. Preis gebunden 3 M. 

Unterricht ist geistiger Verkehr. Die Formen dieses geistigen Verkehres 
sollen künstlerisches Gepräge tragen, künstlerische Formen annehmen. Das Künstle- 
rische ist das Subjektive; es ist der Rahmen, in welchen sich Rede, Darstellung, 
Komposition der Lektion einzufügen haben. Die didaktische Kunstform steht den 

22* 


340 D. Literatur. 








nüchternen, schmuck- und kunstlosen Einzeltatsachen des Unterrichtes gegenüber. 
Von jedem Raume, von jedem Möbel, von jeder Tanzkarte, vom Plakate, von den 
Kleidern fordern wir, daß sie — abgesehen von Zweckmäßigkeit usw. — geschmack- 
voll sind. Die didaktische Kunstform bezeichnet nichts anderes, als die geschmack- 
volle Unterrichtsgestaltung. Jeder Dilettantismus verstößt gegen den künstlerischen 
Geschmack. Die vollendete didaktische Kunstform setzt voraus, daß die gesamte Unter- 
richtstechnik völlig beherrscht wird. Verstöße gegen die Kinderpsychologie, gegen die 
Unterrichtssprache, gegen den Lehrstoff vereiteln das harmonische Unterrichtsbild. 
Seifert hebt hervor, daß alle wissenschaftliche, politische, soziale Arbeit für uns 
nur allgemeinen Wert habe, daß unsere alltägliche und nächstliegende Arbeit aber 
die Unterrichtsiektion ist, und unser Denken und Wollen soll diesem künstlerischen 
Werke zugewandt sein. Durch die Unterrichtskunst sollen wir uns von den anderen 
Menschen ‚unterscheiden und über diesen stehen. Es ist aber eine feststehende Tat- 
sache, daß in der pädagogischen Literatur und in unseren Zeitschriften die Lektion 
völlig vernachlässigt wird. Es ist jedenfalls richtig, daß ein Schulmeister dem 
anderen nichts vormachen kann, was von jenen gebilligt wird. Zweifel und herbe 
Kritik verhindern die Veröffentlichung von Stücken aus der Alltagsarbeit. So 
schädigen wir uns selbst und unsere Stellung in der Öffentlichkeit. Es gibt genug 
Städte mit hundert und viel mehr Lehrern, und doch ist nie Gelegenheit, einer 
öffentlichen Unterrichtslektion beizuwohnen. 

Es wäre zu wünschen, daß dies anders wird. Seifert gibt wertvolle Winke; 
nicht stürmend und drängend, aber modern, solid und gut sind seine Ausführungen, 
An alles denkt er, selbst dem Gelegenheitsunterricht redet er nachdrücklich das Wort. 

München. Egenberger. 


Zerwer, Antonie, Schwester, Säuglingspflegefibel. Berlin, Julius Springer, 
1912. 72 S. Preis 90 Pf. 

In einem Vorwort an die Mütter betont Prof. Dr. Leo Langstein (Direktor 
des Kaiserin Auguste Viktoria-Hauses) die Notwendigkeit, schon das Kind, das heran- 
wachsende Mädchen in die Säuglingspflege einzuführen. 

Schwester Zerwer tritt selbst mit großer Wärme und Herzlichkeit an die 
Kinder heran, sucht auf anmutige Weise ihre Herzen zu gewinnen für die Hilflosig- 
keit der Kleinsten, Pflichtgefühl und Arbeitsfreudigkeit in ihnen zu wecken. 

Wie sie dann im ersten Teil der Fibel die Jugend unterweist, wie sie ihre 
Lehre geschickt in Fragen und Antworten kleidet, nie langweilig, nie ermüdend oder 
lehrhaft, aber immer mit großer Bestimmtheit und Eindringlichkeit, das ist meiner 
Ansicht nach meisterhaft. Anzuerkennen ist weiter das energische Bekämpfen aller 
alten Gebräuche und alles Aberglaubens, der mitunter noch in der Säuglingspflege 
eine Rolle spielt. Die zahlreichen dem Buche beigegebenen Bilder sind so klar und 
anschaulich, daß sie den jungen Mädchen das Lernen sehr erleichtern werden. 

Der zweite Teil des Buches verdient besonderes Lob. Schwester Zerwer 
bringt Beispiele aus dem Säuglingsleben, aus denen die Jugend selbst ihre Schlüsse 
ziehen soll, merken soll, wie sie es nicht mit ihren Pflegebefohlenen machen 
darf. Diese Art zu unterweisen wird viel überzeugender und eindringlicher wirken 
als lange Reden und Auseinandersetzungen über all die Gefahren, die dem Säug- 
ling drohen. 

Das Buch sollte weiteste Verbreitung finden; für das, was es bietet, ist der 
Preis gering. 

Jena. Hanna Queck-Wilker. 





D. Literatur. 341 





Archiv für Pädagogik. Herausgegeben von Max Brahn und Max Döring. 

Leipzig, Friedrich Brandstetter. 

Teil I. Die Pädagogische Praxis. Neue Folge des »Praktischen Schulmanns«. 
Jährlich 12 Hefte von je 4 Bogen Umfang. Preis halbjährlich 4 Mark 
(Einzelheft 1 Mark). 

Teil II. Die Pädagogische Forschung. Jährlich 4 Hefte von je 8 Bogen Umfang. 
Preis jährlich 8 Mark (Einzelheft 2,50 Mark). 

Diese neue Zeitschrift »will ein Archiv jener schaffenden Arbeit sein, wie sie 
heute in so reichem Maße geleistet wird«. Als solches heißen wir sie herzlich 
willkommen. Nicht bestimmten pädagogischen Richtungen und Anschauungen soll 
und will sie dienen. Weitherzig und freigesinnt wollen die Schriftleiter wertvolle, 
wissenschaftlich begründete Beiträge aus jedem pädagogischen Lager aufnehmen. 
Und was sie versprochen, das haben sie, soweit es die uns zugegangenen ersten 
Hefte beurteilen lassen, auch treulich gehalten. Wir können und wollen hier natür- 
lich nicht auf die einzelnen Aufsätze eingehen. Wir hoffen, daß es uns möglich 
sein wird, die für unseren Leserkreis wichtigen Aufsätze fortdauernd in unserer 
Zeitschriftenschau berücksichtigen zu können, wie wir die bisher erschienenen be- 
reits berücksichtigten. Und dieser Aufsätze sind nicht wenige. Wir können hier 
nur das Eigenartige der neuen Zeitschrift hervorheben, und das ist ihre Sonderung 
in einen Teil, der ganz der Praxis gewidmet ist, und in einen zweiten, der vor- 
wiegend Arbeiten aus dem Gebiete der exakten oder experimentellen Pädagogik 
bringt. Unter den hier erscheinenden Arbeiten werden vor allem Untersuchungen 
aus dem Institut für experimentelle Pädagogik an der Universität Leipzig zu finden 
sein. Auch die Grenzgebiete finden gebührende Berücksichtigung. Wir glauben, 
mit diesen Angaben ungefähr das Arbeitsgebiet der neuen Zeitschrift gekennzeichnet 
zu haben. Die vorliegenden Nummern geben uns das Recht, sie unseren Lesern 
aufs wärmste zu empfehlen. 

Jena. Karl Wilker. 


Deutsche Heil- und Pflegeanstalten für Psychischkranke in Wort und 
Bild. Redigiert von Dr. Johannes Bresler. II. Band. Halle a. S., Carl 
Marhold, 1912. VIII und 462 Seiten. Preis: in Halbfranz gebunden 19 M. 

Vor einem Jahre habe ich den ersten Band dieses Werkes hier besprochen 

(Jg. XVII, 2, S. 93—94) und ihn als ein wertvolles Handbuch nicht nur für den 

Psychiater, sondern auch für den Heilpädagogen und überhaupt jeden, der sich mit 

der Anstaltsbehandlung Psychischkranker beschäftigt, bezeichnet. Es ist erfreulich, 

daß das Werk nun noch eine Fortsetzung gefunden hat, die recht reichhaltig aus- 
gefallen ist, wenn man von einzelnen Anstalten leider auch nur recht spärliche 

Notizen vorfindet. Speziell für unser Gebiet ist wohl das wichtigste aus diesem 

zweiten Bande der Abschnitt »Beobachtungsstation und Erziehungsanstalt für psycho- 

pathische Fürsorgezöglinge«s in Webers Aufsatz über die Göttinger Heil- und Pflege- 
anstalten. Besondere Beachtung verdienen auch die Aufsätze Camerers über die 

Entwicklung der Irrenfürsorge im Königreich Württemberg und ein Aufsatz über 

die Entwicklung des Irrenwesens in der Stadt Berlin. Der Band enthält endlich 

auch ein Sachregister und ein Autorenregister zu beiden Bänden. Inwieweit diese 
vollständig sind, laßt sich natürlich schwer sagen. Es fiel uns nur auf, daß man 

im Sachregister z. B. das Stichwort Abstinenz (oder ein gleichbedeutendes) ganz ver- 

gebens sucht, obgleich gerade in diesem Punkte manche Angaben vorliegen, wie in 

dem Aufsatz Delbrücks über das St. Jürgenasyl in Ellen (Bremen). 


342 D. Literatur. 





Ausstattung und Bildermaterial verdienen das gleiche Lob wie die bisher er- 
schienenen anderen Bände des groß angelegten Werkes über die Anstaltsfürsorge 
für körperlich, geistig, sittlich und wirtschaftlich Schwache im Deutschen Reiche in 
Wort und Bild, als dessen VII. Abteilung dieses zweibändige Werk erschienen ist. 

Jena. Karl Wilker. 


Neter, Eugen, Das einzige Kind und der Kindergarten. 

Grünbaum, Rosa, Der Kindergarten, seine soziale und pädagogische 
Bedeutung. Schriften aus dem Fröbelseminar Mannheim, Heft 1. München, 
Ärztliche Rundschau (Otto Gmelin), 1912. 40 S. Preis 0,60 M. 

Unter den Kinderärzten nimmt sicher Neter die bedeutendste Rolle ein. Seine 
mannigfachen kleinen Abhandlungen und Schriften stützen sich auf eine reiche prak- 
tische Erfahrung. So auch diese! Er legt in ihr klar, wie der Kindergarten eine 
große erzieherische Bedeutung gewinnen kann für einzige Kinder dadurch, daß er 
den notwendigen Ersatz für die Miterziehung durch die Geschwister bietet, die für 
die ganze Entwicklung des Kindes unentbehrlich ist. Auch gesundheitlich bietet 
der Kindergarten einen großen Vorteil, indem er das Kind schützt vor der gefähr- 
lichen geistigen Überanstrengung, der es als einziges Kind nur allzu häufig aus- 
gesetzt ist. Die oft gefürchtete Infektionsgefahr soll man ruhig in Kauf nehmen 
gegenüber den Vorteilen, die der Besuch des Kindergartens für die gesamte Ent- 
wicklung und spätere Gesundheit des einzigen Kindes bietet. — In dem zweiten 
Aufsatz des Heftes versucht Rosa Grünbaum eine psychologische Würdigung der 
Bestrebungen Fröbels und ihrer praktischen Bedeutung für unsere heutige Zeit- 
Namentlich diese letztere ist ihr gut gelungen. Sie hält, wie schon öfter von zu- 
ständigen Autoren betont und gefordert wurde, die Einrichtung von Spezialkinder- 
gärten für schwachsinnige, taubstumme und blinde Kinder usw. für dringend not- 
wendig (namentlich in größeren Städten), ebenso die Schulkindergärten für zurück- 
gestellte Schulanfänger. 

Jena. Karl Wilker. 

Stritter, P., Seelsorge unter geistig Abnormen. Alsterdorfer Anstalten. 
Sonderabdruck. 14 S. 

Die kleine Arbeit sucht nach allen Seiten die Aufgabe des Seelsorgers der 
geistig Abnormen zu kennzeichnen. Das Verständnis für krankhafte geistige Ver- 
fassung ist für sie von größter Bedeutung. Dem Verfasser kommt für seine Arbeit 
seine reiche Erfahrung sehr zugunsten. 

Jena. Karl Wilker. 


Ziehen, Th., Die Erkennung der psychopathischen Konstitutionen 
(krankhaften seelischen Veranlagungen) und die öffentliche Fürsorge für psycho- 
pathisch veranlagte Kinder. Berlin, S. Karger, 1912. 34 S. Preis 80 Pf. 

Die kleine Schrift verlangt nachdrücklich, was auch in dieser Zeitschrift seit 
je gefordert wurde: die Einrichtung von Spezialanstalten (Heilerziehungsheimen) für 
psychopathische Kinder in der Art, wie die Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge 
eine solche in Templin (Mark) eingerichtet hat. Die Leitung müßte eine päda- 
gogische sein. Ein Psychiater sollte dem Pädagogen als Berater zur Seite stehen. 

Jena. Karl Wilker. 
Verantwortliche Schriftleitung für Abhandlungen und Mitteilungen: Dir. Trüper, 
Sophienhöhe b. Jena; für Zeitschriftenschau und Literatur: Dr. Karl Wilker, Jena, 

Weißenburgstraße 27. 


Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 








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erbung in ihrer Bedeutung für die Schule. 


(Nach dem Manuskript eines am 4. August 1911 in der Internationalen 
Hygiene- Ausstellung zu Dresden gehaltenen Lichtbilder- Vortrages.) 








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II. Band: VIII und 467 Seiten. Preis 3 M., eleg. geb. 4 M. 


Handbuch für Jugendpflege. 


Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge. 


Schriftleitung: Dr. jur. Fr. Duensing- Berlin. 


Herausgeber und Mitarbeiter des »Handbuchs für Jugendpflege« bieten 
die sichere Gewähr, daß wir es hier mit einer Erscheinung zu tun haben, die 
einer besonderen Anpreisung nicht bedarf. 

Das »Handbuch für Jugendpflege« ist auf 12 bis 15 Lieferungen zu 
4 Bogen, Lexikonformat, berechnet. Der Preis der Lieferung beträgt 80 Pf. 
Nach Abschluß des Werkes tritt eine Erhöhung des Preises ein. 














Zu beziehen durch jede Buchhandlung. 







































































Tafel Il. 























“Mädchen 











f Kartoffel 





Pflaumen = Weißkraut 


"a regnen HAA 
Würfel 





- haben 


ch ara Afaa 
peri brauch m 
| dort 
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Verlag von Hormann Boyer & Söhne (Beyer & Mann) ın Langensalza. 





Tafel II. 







































































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AMANALAMT IV LAI 
(| l 



































Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann: in Langensalza. 


Tafel IV, 











guten 

















~ wi habem. ~ 









































die Mama tut Nudl essen 












ich tu schauen 





ich mache eine Maus 


Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Boyer & Mann) in Langensalza. 


Tafel V. 














































































































Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza 


Tafel VI. 































































Kalk 








Bücher 


W 




















Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 


Tafel VII. 












































. = heul 
Geschichte 







































































guten Morgen 









[X ade Mutter 


Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyor & Mann) in Langensalza. 


Tafel VII. 


















































= wer = leg = laut 


























Vater Erden Korb Otto 








Vermengung aus 
S u. R. 





























Vermengung aus 
Radi u. Rettig 











Un. Yrl£ RUY Uf YA 


Verlag von Hermann Beyer & Sühne (Beyer & Mann) in Langensalza 




























































































Tafel X. 


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laus 





























Verlag von Hermann Beyer & Schno (Beyer & Mann) in Langensalza. 































































































Tafel XII. 
: ; 





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A. Abhandlungen. 


1. Ist für Schulneulinge im allgemeinen und für 
Hilfsschüler im besonderen Fraktur oder Antiqua 
zunächst geeignet? 

Nach einem Vortrag, auf dem IX. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands 
zu Bonn gehalten am 26. März 1913 
von 
Kommerzienrat Friedrich Soennecken - Bonn. 

»Körper und Stimme leiht die Schrift 
dem stummen Gedanken, 

Durch der Jahrhunderte Strom trägt ihn 
das redende Blatt.« 

Mit diesen Worten weist Schiller hin auf den hohen kulturellen 
Wert der Schrift, die dadurch, daß sie noch nach Jahrhunderten, ja 
nach Jahrtausenden die Gedanken und Worte unverändert wiedergibt, 
eine gleich hohe Bedeutung erlangt wie die Sprache. 

Sprache und Schrift sind die Grundpfeiler des Geisteslebens eines 
Volkes, und in diesem Sinne ist die Frage nach der Schrift eine 
Kulturfrage. Ihre Lösung beschäftigt in Deutschland gegenwärtig mehr 
als je nicht allein die Vertreter der Schule, sondern auch in gleichem 
Grade weiteste Kreise unseres gesamten Volkes. 

Die meinen heutigen Ausführungen zugrunde liegende Frage, ob 
für Schulneulinge im allgemeinen und für Hilfsschüler im besonderen 
Fraktur oder Antiqua zunächst geeignet sei, hat daher neben der 
Schule auch für unser Land ein allgemeines Interesse. 

Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 23 


ABCDEF 
GHIJKLM 


Abbildung 1. 


Soennecken: Fraktur oder Antiqua? 347 





Um für die sachliche Beurteilung dieser Schriftangelegenheit die 
ihrer Wichtigkeit entsprechende Grundlage zu schaffen, will ich zunächst 
versuchen, in großen Zügen und unter Weglassung alles Unbedeutenden 
und Nebensächlichen einen kurzen Überblick darüber zu geben, wie 
sich seit der Römerzeit die Schriftentwicklung bei uns vollzogen hat. 

Sowohl die Antiqua wie auch die Fraktur führen ihren Ursprung 
auf die alten lateinischen Großbuchstaben des Volksstammes der Latiner 
zurück. 

Die bekannte einfache klare Form dieser Schrift zeigt Abbildung 1. 


I. 

Im Laufe der Jahrhunderte erlitten diese Buchstaben mehr oder 
weniger große Veränderungen, die ihre Deutlichkeit beeinträchtigten. 
Die erste derartige Veränderung 
bestand in der Verwendung von verkürzten, schreibgeläufigeren Formen 
einzelner Großbuchstaben als Kleinbuchstaben, die aber als die erste 
Entwicklungsstufe der lateinischen Schrift außerordentlich nützlich 

wurde. 

Die Abbildung 2 zeigt ein Beispiel dieser Schrift von einem 
Dokumente aus dem 6. Jahrhundert. Man nennt diese Schrift paläo- 
graphisch »Halbunziale«. 

Die zweite wesentliche Abweichung 
von der Urform der Schrift und die erste unbegründete Schädi- 
gung ihrer Deutlichkeit bildeten die im 11. und 12. Jahrhundert 
entstandenen romanischen Schriftformen (Abbildung 3). 

Diese Buchstaben, fast ausschließlich als Großbuchstaben benutzt, 
wurden meist nur als Initiale und zu Aufschriften auf Grabplatten, 
Votivtafeln und ähnlichen Inschriften verwendet. 


1. 


Die dritte und für unser deutsches Schriftwesen überaus 

folgenschwere Abweichung von der richtigen einfachen 

Schriftform und die erste wesentliche Veränderung ihres 

Gesamtbildes 
erfuhr die Schrift gegen Ende des 12. und Anfang des 13. Jahr- 
hunderts unter dem Einfluß des gotischen Baustils (Abbildung 4). Wie 
dieser damals aufblühende, von Frankreich ausgehende gotische Bau- 
stil mit seinem die Masse durchgeistigenden Prinzipe jede Kunstübung, 
die Skulptur sowohl, wie die Malerei, in seine Dienste zog, so fiel 
auch die Schrift in seinen Bann. — Jetzt, zum ersten Male, sollten 
23* 





panuulıbap- 
UZANTUN- 


pollinancelle- 
Ziplunalıa 
A00Eaf 
GRIRLM 
NODPDONS 
GUZOVE 


350 A. Abhandlungen. 





die Buchstaben mehr sein als Schrift: sie sollten Ornamente sein. Es 
wurde an den Buchstaben geändert, gebaut, die geraden Linien wurden 
dem nach oben strebenden Baustile entsprechend schlank gestaltet 
und mit zugespitzten Köpfchen und Füßchen versehen. Die Rundungen 
der Kleinbuchstaben wurden ganz entfernt und die nötigen Ver- 
bindungen der Buchstabenteile durch dünne, kaum sichtbare Striche 
notdürftig vermittelt. Die Großbuchstaben gestalteten sich all- 
mählich zu komplizierten Bildern, deren Bedeutung oft nur erraten 
werden konnte. Die wichtige Unterscheidung von dem kleinen n und 
u fiel fast ganz fort. 

So wurde der Zweck der Schrift, die Deutlichkeit, dem orna- 
mentalen Bedürfnis der Architektur geopfert. 

Um wieviel diese gotischen Formen von der richtigen Schriftform 
abweichen, zeigt ein Vergleich mit dem lateinischen Alphabet (Ab- 
bildung 1). 


II. 

In den folgenden zwei Jahrhunderten blieb in Deutschland die 
gotische Schrift wegen ihrer leichten Schreibbarkeit bei der Benutzung 
breitspitziger Federn fast ausschließlich im Gebrauche. 

Es ist erklärlich, daß die ohnehin schon zu Bildern gestalteten 
Großbuchstaben infolge schnelleren Schreibens immer komplizierter 
wurden und ganz willkürliche Formen annahmen, wie sie Ab- 
bildung 5 zeigt. 

Außer dieser Variation waren auch noch andere landesüblich und 
wurden von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis heute bei uns all- 
gemein für den Buchdruck verwendet. Wir kennen diese Schriften 
unter dem Namen »Frakture«. 

Wie willkürlich und begründet ihre Formen sind, geht daraus 
hervor, daß die Buchstaben des großen. und kleinen Alphabets der 
Fraktur aus nicht weniger als 66 in Form und Größe verschiedenen 
Grundzügen bestehen. 

Die Fraktur ist daher auch im Vergleiche mit der Antiqua wenig 
deutlich. 


IV. 

Neben der Fraktur benutzte man anfangs vielfach eine einfachere 
Schrift, die man mit dem Namen »Schwabacher Schrift«e zu be- 
zeichnen pflegt. (Abbildung 6.) 

Doch auch diese einfachere Schriftform, die gleich der Gotik 
dem Schreibzuge entsprach, besteht aus nicht weniger verschiedenen 
Grrundzügen als die Fraktur. 





aktur. 


ABEDEH 
SGHIFZALM 
NOPONS 
TZUBWINZ 
abcdef 
qhijilm 
nopgr3 
Iuvwry3 


352 A. Abhandlungen. 


V. 

Den Unterschied der Buchstaben des lateinischen Alphabets im 
Vergleich mit den gotischen und Fraktur-Buchstaben veranschaulichen 
die abgebildeten Schriftproben. 

Als der Buchdruck aufkam, benutzte man auch in den westlichen 
Nachbarländern allgemein solche Typen, die nach den geschriebenen, 
die sie ursprünglich vertreten sollten, geschnitten waren. 

Diese Länder erkannten aber bald die Unzweckmäßigkeit solcher 
Schrifttypen, gaben sie entschlossen auf und kehrten zu den einfachen 
vorgotischen Buchstaben, den lateinischen, zurück. 

Nur Deutschland hielt hartnäckig daran fest. Es stand ganz 
unter dem Einfluß der Nürnberger Schreibmeister Neudörffer, nach 
deren Zeichnungen die Schrifttypen geschnitten wurden, mit denen 
nach Campes Angaben von 1828 Leipzig z. B. 200 Jahre lang ver- 
sehen wurde. 

Die Leistungsfähigkeit gerade dieser Schreibmeister gegenüber 
ihren ausländischen Zeitgenossen war außerordentlich gering. 

Vielfach wird Albrecht Dürer als Mitschöpfer der Fraktur be- 
zeichnet. Diese irrige Vorstellung möchte ich beseitigen. 

»Dürer war weit entfernt von dem späteren Irrwahne, als seien 
diese altmodischen gotischen Lettern deutschen Ursprungs oder deut- 
schen Charakters«, wie sich Thausing ausdrückt. 


Auch Roßbergs komplizierte Versuche von 1806, die Fraktur 
und spitze Schreibschrift zu verbessern, waren vergebliche Be- 
mühungen. Die spitze Schrift konnte in Deutschland im Verlauf von 
drei Jahrhunderten nicht, oder doch nur fast unmerklich verbessert 
werden. — Dagegen hat sich die lateinische Schreibschrift während 
derselben Zeit zu größter Einfachheit, Deutlichkeit und Schönheit 
entwickelt. ' 

Die große Überlegenheit der Antiqua über die Fraktur wird 
übrigens auch von unseren deutschen Schreibmeistern vielfach an- 
anerkannt. So sagt z. B. Fugger in Nürnberg 1553: 

»Unter vilen und mancherley Schrifften finde ich keinen schönern 
und Herrlichern Literas, denn dise lateinischen Buchstaben.« 

Baurenfeind (1714) nennt die Antiqua »eine von den allerschönsten 
herrlichsten Schriften« und fügt hinzu: 

»Diese romanischen Literae übertreffen alle anderen Buchstaben 
und Schrifften weit und werden vor allen anderen am meisten ge- 
braucht.« 





ABEDES 

GÄIKEN 

NOPORS 
TUVWXYZ 


ABCHEF 
GHIGKLM 


HPARE 
TUSWLYZ 


Abbildung 7. 


354 A. Abhandlungen. 





Bezeichnend ist es, daß bis heute für die Beibehaltung der Fraktur 
kaum andere als sentimentale Gründe angeführt worden sind. Wer 
dabei die praktischen Gesichtspunkte im Auge behielt, empfahl ihre 
Verbesserung, und wer eine verbesserte Form geschaffen zu haben 
glaubte, tadelte alle früheren, wie z. B. einer unserer ersten rheini- 
schen Ornamentkünstler, der im vorigen Jahre über eine Art einfacher 
Frakturtypen Ungers mit folgenden Worten urteilt: 

»In ihrer Einzigkeit von außergewöhnlichem Reiz gibt sie doch 
die eigentliche Wesenheit der Fraktur, den mächtig pulsierenden 
Rhythmus sich hin und her bewegender Formkräfte auf und scheidet 
damit die entwicklungsfähigen Triebe aus.« 


VI. 

Gleichzeitig empfahl er seine eigene Fraktur, wie sie Abbildung 7 
zeigt. Man wird daran alles andere als eine Verbesserung der Fraktur 
erkennen. 

Ebenso verhält es sich mit den vielen anderen »neuen« Fraktur- 
Typen, die nun schon seit langer Zeit das Druckgewerbe Deutschlands 
bis zur Unerträglichkeit wirtschaftlich belasten. 


Wie die Fraktur, so ist auch die spitze Schreibschrift weder ver- 
besserungs-, noch verschönerungsfähig. Das habe ich in meiner Schrift 
»Das deutsche Schriftwesen und die Notwendigkeit seiner Reform« 
früher schon ausführlich nachgewiesen. Ich will hier nur kurz wieder- 
holen, daß wir in Deutschland in dem Übergange zur lateinischen 
Schrift ein ganzes Jahrhundert zurückgehalten worden sind durch eine 
bewußte oder unbewußte 

Fälschung der Schulvorschriften 
durch den geschickten Kalligraphen und Kupferstecher Heinrigs in 
Crefeld (1813). 

Bis vor 100 Jahren wurde die spitze Schrift nach Art der Rund- 
schrift mit breitspitziger Feder geschrieben. 

Dadurch erhielt die spitze Schrift ein steifes Aussehen, wie die 
Schriften damaliger Schreibmeister zeigen. 

Dieses unschöne Aussehen der Schrift genügte den Geschmacks- 
forderungen der fortgeschrittenen Kultur Deutschlands nicht mehr. 
Die Schrift sollte feiner, freier sein. 

Nun kannte Heinrigs von seinem Aufenthalte in London her die 
herrlichen englischen Muster der lateinischen Schrift, die mit spitzer 
Feder geschrieben wurden. — Ohne das zu bedenken, stellte Heinrigs 
die Schreibvorlagen so her, wie man sie wohl mit spitzem Stahl in 


Soennecken: Fraktur oder Antiqua? 355 





die Kupferplatte für den Druck eingravieren, nicht aber mit nur 
einer spitzen oder nur einer breitspitzigen Feder schreiben konnte. 
Die durch Heinrigs eingeführten Trugformen ließen auch im ver- 
flossenen Jahrhundert keinen nennenswerten Fortschritt zu. — Nur 
auf dem Gebiete der Zierschriften war im letzten Viertel des vorigen 
Jahrhunderts das Aufkommen einer leicht schreibbaren Zierschrift, der 
Rundschrift, als Neubelebung des Schreibens zu verzeichnen. 


In neuerer Zeit versuchte man, die vor 100 Jahren verworfene 
Schreibart unter dem Namen »Renaissance« wieder aufzufrischen. 
Diese für den Unterricht sowohl, wie für die Ausführung gleich 
schwierige Schrift wieder einzuführen, hieße die Pferde hinter den 
Wagen spannen. Eine Schrift mit gleich dicken Strichen, sowohl bei 
den geraden wie gebogenen Linien, entsteht nur dann, wenn die 
Schrift rückwärts liegt, wodurch sie dem schönen Aussehen widerstrebt. 


Und so kommt es, daß die allgemeine Unzufriedenheit über die 
Zustände in unserem deutschen Schriftwesen von Tag zu Tag größer 
wird. — Vor allem erstrebt man eine Neugestaltung des Schreib- 
unterrichts in Schulen. 

Man ist auch wohl der Meinung, daß die Erfolge des Schreib- 
unterrichts nach den bisherigen Methoden zurückgegangen seien, 
während das erforderliche Vielschreiben bei der minutiösen Gestaltung 
der meisten Kleinbuchstaben der spitzen Schrift die Ursache ihrer 
Undeutlichkeit ist. -— Es ist nicht wahrscheinlich, daß man mit einem 
Unterrichtsverfahren, das schon bei Schulneulingen nach künstlerischen 
Zielen strebt, Besseres erreicht. 

Bei dieser Art des Unterrichts soll der Schüler die Schrift, deren 
Form der Lehrer an der Tafel vorschreibt, nicht genau nachbilden, 
sondern ganz nach seiner freien individuellen Auffassung wiedergeben. 

Die sich bei jedem einzelnen Schüler naturgemäß zeigende Ab- 
weichung der Schrift soll dann, wie ein Wiener Kunstschriftlehrer 
und seine Anhänger empfehlen, als etwas »wertvoll Individuelles«, als 
»persönliche Schrift« des Schülers weitergepflegt werden. 

Daß die Schrift, deren Grundformen nun einmal feststehen wie 
die Zeichen der Ziffern und die Werte bei Münzen, Maßen und Ge- 
wichten, eine derartige Behandlung im Schulunterricht nicht zuläßt, 
liegt auf der Hand. — Die individuelle oft nur zur Undeutlichkeit 
führende Verschiedenheit der Schrift stellt sich im späteren Leben 
ganz von selbst ein, und dann jedenfalls noch früh genug. 


356 A. Abhandlungen. 


Auch Frankreich, die Niederlande und England hatten früher 
eine spitze Schreibschrift, ein Beweis dafür, wie irrig es ist, die spitze 
Schreibschrift für spezifisch deutsch zu halten. 

Die Entwicklung der Schreibschrift hat, von Italien und Spanien 
ausgehend, ihren Weg nach Frankreich, den Niederlanden und England 
genommen. In England hat sie ihre höchste Ausbildung erhalten. Bei 
einem Vergleich der Schrift dieser Länder mit der Schrift in Deutsch- 
land wird man sich des Eindrucks nicht erwehren können, daß die 
deutschen Leistungen auf diesem Gebiete gegenüber denen der anderen 
Länder, namentlich Englands, weit zurückstehen und wir einer Neu- 
gestaltung unseres Schriftwesens sehr bedürftig sind. 

Auch aus dem Vergleiche der in Deutschland gebräuchlichen 
Druckschrift, der Fraktur, mit der Antiqua-Druckschrift der anderen 
Länder ergibt sich, daß die Antiqua mit ihren bestimmten, klaren 
Formen einfach und deutlich ist, die Fraktur dagegen mit ihren will- 
kürlichen Formen kompliziert und undeutlich. 

Die Deutlichkeit oder Undeutlichkeit darf indes nicht nach dem 
Urteil Erwachsener bemessen werden, die bekanntlich nicht die ein- 
zelnen Buchstaben, sondern ganze Wortbilder lesen. Ihnen wird die- 
jenige Schrift am deutlichsten vorkommen, die sie zu lesen gewohnt 
sind. Anders ist es bei den Schulneulingen und besonders bei den 
Hilfsschülern. Diese müssen selbstverständlich zunächst jeden ein- 
zelnen Buchstaben von den anderen unterscheiden lernen, bevor sie 
auch nur erst Silben lesen können. Wie schwer es den Kindern 
wird, in der Frakturschrift die Buchstaben fehlerfrei zu unterscheiden; 
weiß gewiß jeder von Ihnen aus eigener Erfahrung zu beurteilen. 
Eine Prüfung der Fraktur, wie sie auf Wand-Lesetafeln und in Lese- 
fibeln vorkommt, wird das bestätigen. 


Weil also die Antiqua im Vergleich mit der Fraktur die ein- 
fachere und deutlichere Schrift ist, muß der erste Unterricht mit der 
Antiqua beginnen nach dem alten pädagogischen Grundsatze: Vom 
Einfachen zum Zusammengesetzten, vom Leichteren zum Schwereren. 

Daß neben diesen methodischen Gründen auch psychologische 
für den ersten Unterricht in einfachster Schrift sprechen, brauche ich 
wohl vor einem so ausgezeichneten Kreise maßgebender Sachver- 
ständiger nicht näher auszuführen. 

Nur auf die hygienische Begründung möchte ich noch kurz ein- 
gehen. 

Kommt für den ersten Schreib- und Leseunterricht ein Alphabet 
mit seinen Nebenalphabeten in Wegfall, so wird dadurch eine Ver- 


Soennecken: Fraktur oder Antiqua? 357 





minderung der gesamten Naharbeit der Schulneulinge herbeigeführt 
und der Überbürdung entgegengetreten. 

Vor allem aber sind beim ersten Schreib- und Leseunterricht in 
Fraktur die vielen kleinen und kleinsten Unterscheidungsmerkmale 
der Buchstaben für den Geist der Schulneulinge sehr anstrengend bei 
derZAuffassung der Form. Und je mehr Verwechslungen unter den 
Frakturbuchstaben möglich sind, desto mehr geistige Arbeit ist nötig, 
desto mehr werden Auge und Hirn belastet. 

Nun wissen wir aber, daß bei anstrengender geistiger Arbeit 
unsere A-B-C-Schützen mit dem ganzen Körper arbeiten. Die ver- 
schnörkelten und vielfach zum Verwechseln ähnlichen Frakturbuch- 
staben zwingen aber die Kinder zu einem genaueren Hinsehen als bei 
der Antiqua, und bei diesem Fixieren nähern sie sich mit den Augen 
dem Schreibhefte oder der Fibel in übertriebener Weise, so daß das 
Kind eine gesundheitsschädliche Körperhaltung einnimmt, die ganz be- 
sonders für die Augen von Nachteil ist. 

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich also, daß für den ersten 
Unterricht im Schreiben und Lesen die Verwendung der Antiqua 
pädagogisch und hygienisch das Naturgemäße ist. 


Es fragt sich nun, wie der Schreib- und Leseunterricht überhaupt 
am zweckmäßigsten einzurichten ist. 

Praktische Vorschläge dafür habe ich in meiner erwähnten Schrift 
über das deutsche Schriftwesen schon früher (1881) mit folgenden 
Worten angekündigt: 

»Deutschland hat es bisher nicht an der Anregung, wohl aber 
an der Kraft und Ausdauer gefehlt, sich seiner verdorbenen Schrift- 
zeichen zu entledigen. Zum großen Teile liegt die Ursache an dem 
Mangel ausreichender praktischer Vorschläge für die Bewerkstelligung 
des Übergangs. Wenn wir auch den Übergang zur lateinischen 
Schrift in der festen Überzeugung anbahnen, daß wir gegen unsere 
altgewohnten Schriftzeichen bessere eintauschen, dann sollten wir 
den Übergang doch nicht vollziehen, indem wir einfach die schema- 
tische Art und Weise nachahmen, in welcher der Unterricht im 
Lesen und Schreiben der lateinischen Schrift bei uns sowohl wie 
im Auslande bisher meist betrieben wurde, sondern wir sollten, da 
uns noch keine Gewohnheit bindet, diese Fundamental- Unterrichts- 
fächer nach logischem System selbständig einrichten, wenn wir da- 
durch Besseres schneller und leichter erreichen. Der Gegenstand 
ist wichtig genug, um ihm endlich eine wissenschaftliche Grundlage 


358 A. Abhandlungen. 





zu geben. Dies zu versuchen, ist Gegenstand einer neuen Arbeit, 
die ich demnächst veröffentlichen werde.« 





Dieser von mir angekündigte Versuch einer wissenschaftlichen 
Gestaltung des Schreib- und Leseunterrichts ist hervorgegangen aus 
der Erfahrung mit meiner Rundschrift-Methode, der bekanntlich ganz 
einfache Begriffe zugrunde liegen. Ein gerader Strich und ein Halb- 
kreis, beide in vier verschiedenen Größen, sind die Elemente, aus 
denen die Rundschrift entsteht. 














Abbildung 8. 


Diese bis dahin ganz neue Art der Schriftbildung steht in krassem 
Gegensatze zu der äußerlichen, systemlosen und verwirrenden Dar- 
stellung der Schrift aus dem 16., 18. und dem Anfange des 19. Jahr- 
hunderts. 


Nach demselben Grundprinzip des Aufbaues der Buchstabenformen 
aus ganz bestimmten einzelnen Teilen und nach einheitlicher be- 
stimmter Regel, konstruierte ich ein neues System für die Antiqua. 


Soennecken: Fraktur oder Antiqua? 359 





Alle Buchstaben des großen und kleinen Alphabets, sowie die 
Ziffern, werden aus nur wenigen Zeichen, einem geraden Striche 
in 4 Größen und einem Halb- und Viertelkreise, gebildet und ent- 
stehen mit nicht zu übertreffender Anschaulichkeit, wie Abbildung+8 
zeigt. 

In gleicher Weise entstehen alle andern Zeichen in gesetzmäßiger 
Form. 


VI. 

Dem Schriftsystem habe ich ein bestimmtes Größenverhältnis der 
Buchstaben zugrunde gelegt, und zwar für die Ausdehnung des 
Buchstabenbildess den Raum von zwei übereinanderstehenden Qua- 
draten. Die Kleinbuchstaben nehmen zwei Drittel dieses Raumes ein. 
Die vorstehende Abbildung veranschaulicht diese Verhältnisse. Die hier- 
nach gebildeten Buchstaben ergeben ihre »Normalform«. 


Die Erfahrung beim Unterricht hat gezeigt, daß die Schüler be- 
geistert davon sind, wenn sie die Buchstaben so entstehen sehen, wie 
Abbildung 8 zeigt. Begierig verlangen Sie darnach, sie auf ihrer 
Tafel aus den losen Einzelteilen oder in ihrem Hefte schreibend auf 
gleiche Art zu bilden. Das eben ist der Zweck des Schriftsystems, 
eine klare Vorstellung von der Form der Buchstaben und ihrem Auf- 
bau zu ermöglichen, damit das Kind lernt, die Schrift selbstschöpferisch, 
wie bei der Beschäftigung mit dem Baukasten, hervorzubringen. Da- 
durch haftet die richtige Form der Buchstaben nicht nur leichter im 
Gedächtnis des Kindes, sondern es wird auch die Freude am Schreiben 
gesteigert. 

Diese kindliche Schaffensfreude zeigt sich besonders bei der Dar- 
stellung der Buchstaben mittels der losen Einzelteile. 

Keine andere Schrift ist zu derartiger manueller Beschäftigung 
unserer jüngsten Schüler so vorzüglich geeignet wie die Antiqua. 
Ihre einfachen Formen lassen sich ohne irgendwelche Schwierigkeit 
spielend nachbilden. 

Viel manuelle Betätigung macht die Lese- und Schreibstunden 
ganz besonders anregend und erfreuend. Die Aufmerksamkeit der 
Kinder wird andauernder, und auf weniger mühevollem Wege gelangen 
die Kleinen zur genauen Unterscheidung der Buchstaben. 

Für den Leseunterricht kamen bisher Lesekästen diesem Bedürfnis 
entgegen. Diese Kästen sind so eingerichtet, daß die einzelnen Buch- 
staben ganz gegeben werden, aus denen das Kind Silben und Wörter 
zusammenlegt. — Es dürfte aber pädagogisch wertvoller sein, bei Be- 


360 A. Abhandlungen. 





nutzung von derartigen Kästen noch mehr geistige Tätigkeit für das 
Kind anzustreben. Das kann erzielt werden, wenn man nicht die 
ganzen. Buchstaben, sondern nur die Grundformen der Schrift im 
Schreibkasten bietet, aus denen die Kinder die einzelnen Buchstaben 
erst bauen müssen. 

Ein solcher Schreibkasten würde das Verständnis der Kinder für 
die Buchstabenformen ganz hervorragend unterstützen und das An- 
eignen der Vorstellung der Buchstaben wesentlich erleichtern. 

Die Buchstaben selbst aus ihren Elementen in leicht verständ- 
licher Weise einzeln aufzubauen, dazu sind die verschnörkelten und 
komplizierten Formen der Fraktur nicht geeignet, wohl aber die in 
ihrer Einfachheit geradezu verblüffenden Buchstaben der Antiqua. 

Das Verständnis für die Buchstabenformen kann also durch den 
Werkunterricht mit bestem Erfolge vorbereitet werden, wenn im 
Schreib- und Leseunterricht Antiqua verwendet wird. 


Welcher methodische Weg nun bei dem Erlernen der Antiqua 
im ersten Schreib- und Leseunterricht einzuschlagen ist, zeigt ihr 
natürlicher geschichtlicher Entwicklungsgang. 

Der Unterricht soll mit den Großbuchstaben beginnen, weil sie 
die einfachste Form haben und dem praktischen Bedürfnis am meisten 
entsprechen. 

Denn gerade die Großbuchstaben der Antiqua treten dem Kinde 
im Leben auf Schritt und Tritt zuerst entgegen, sie sind auch durch- 
weg so überaus einfach, daß sie an das Auffassungsvermögen der 
Schüler die geringsten Anforderungen stellen. — Je einfacher aber 
die Buchstaben der ersten Schrift sind, um so besser für das Kind. 

Die Erfahrung lehrt, daß wir einfache, in ihrer Zusammensetzung 
leicht übersehbare Formen ohne Mühe auffassen und behalten. Ein- 
fachheit ist aber kein Vorzug der Fraktur. Man bedenke bloß, daß 
selbst Erwachsene trotz ihrer täglichen Beschäftigung mit dem Lesen 
der Fraktur nicht imstande sind, sich von der Form irgendwelcher 
Frakturgroßbuchstaben eine richtige Vorstellung zu machen und sie 
aus dem Gedächtnis nachzubilden. Die Großbuchstaben der Antiqua 
dagegen kann schon ein Kind aus dem Gedächtnis schreiben. 


Nach dem Erlernen der Großbuchstaben werden die lateinischen 
Kleinbuchstaben geübt, und zwar nicht als ein neues Alphabet 
aus neuen Formen, sondern nur als das, was sie wirklich sind, näm- 
lich verkürzte und vereinfachte Formen der Großbuchstaben. 


Soennecken: Fraktur oder Antiqua? 361 





Viele Kleinbuchstaben der Antiqua haben ganz dieselbe Form 
wie die Großbuchstaben. Bei der Fraktur dagegen gibt es kaum einen 
Kleinbuchstaben, der mit dem betreffenden Großbuchstaben überein- 
stimmt. 

Es leuchtet ein, daß durch eine solche weitgehende Übereinstin- 
mung zwischen Groß- und Kleinbuchstaben der Antiqua dem Kinde 
das Lernen ganz außerordentlich erleichtert wird. 


VII. 

Als dritte Stufe der Vorübung für die Schreibschrift gilt die 
Übung der schrägen Druckschrift. Denn die Schreibschrift entsteht, 
wenn man die schräge Druckschrift in geläufigem Federzuge und die 
Buchstaben eines Wortes zusammenhängend schreibt. 


WIR LERNEN SCHREIBEN U. LESEN 
Wir lernen schreiben und lesen 


Wir lernen schreiben und lesen 


Das Kind wird daher in der Schreibschrift die Urform der Druck- 
schrift erkennen und ihr vom ersten geschriebenen Buchstaben an 
nicht fremd gegenüberstehen, was dem Unterricht wesentlich nützt. 

Die Durchsichtigkeit der Antiqua in bezug auf den inneren organi- 
schen Zusammenhang zwischen Druck- und Schreibschrift und die 
daraus mit Notwendigkeit sich ergebende stufenmäßige Behandlung 
im Unterricht zeigt die vorstehende Übersicht (Abbildung 9), wie sie 
meiner neuen Schreibmethode zugrunde liegt. !) 


1) Siehe Soenneckens Vorübungshefte zur lateinischen Schreibschrift. 
Folge A: Für Schulneulinge und Hilfsschüler. Heft 1 bis 5. 
Folge B: Für das dritte oder vierte Schuljahr. Heft B 1/3. 4. 5. 

Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 24 


362 A. Abhandlungen. 





Es ist ein großer pädagogischer Vorteil, daß das Kind vom ersten 
geraden Striche an, den es in der Schule macht, bis zur fertigen 
Schreibschrift den engen natürlichen Zusammenhang aller Übungs- 
formen in der Schrift erkennt. Es braucht den Kopf nicht anzu- 
strengen für das Behalten der zahlreichen einzelnen Buchstabenbilder 
wie bei der Fraktur und kann seine Gedanken anderen, nützlicheren 
Dingen zuwenden. 

Solch logische Schreibmethode ist mit der Fraktur nicht aufzu- 
stellen, denn sie entbehrt der erkennbaren Verwandtschaft der Schreib- 
schrift mit der Druckschrift. 


Abgesehen von der manuellen Betätigung durch den Gebrauch 
der losen Schriftelemente des Schreibkastens, wird in Volksschulen die 
Schrift, die das geläufige Schreiben vorbereitet, durch das Schreib- 
zeichnen ausgeführt. Zu diesen Übungen werden in den Heften am 
besten Federn benutzt, die ohne Druckanwendung gleichmäßig dicke 
Striche hervorbringen und keine Haarstriche schreiben. 

Was nun die Vordrucke in den Heften anbetrifft, so sind sie 
vom pädagogischen Standpunkte aus nicht zu entbehren, für Hilfs- 
schulen aber erst recht nicht. 

Dem Kinde fällt es leichter, die Schrift nachzuschreiben, wenn 
es den Vordruck im Hefte in natürlicher Größe selbst vor sich sieht, 
als wenn es die Wandtafel-Vorschriften in verkleinertem Maßstabe ins 
Heft übertragen muß. 

Ferner sind die Vordrucke in den Heften in klarster Form und 
richtiger ausgeführt, als man sie groß in richtigem Ausmaß ihrer Ver- 
hältnisse freihändig mit Kreide auf die Wandtafel schreiben kann. 

Weiter sind die Vordrucke für kurzsichtige Kinder, deren Zahl 
leider nicht gering ist, unentbehrlich. In den Vordrucken haben die 
Kinder auch außerhalb der Schule eine mustergültige Schrift, die da- 
durch nicht mehr ein Geheimnis der Schulstube bleibt. 

Sind nun gar in den Schreibheften neben den ganzen Buch- 
staben auch deren Teile, neben den großen die entsprechenden kleinen 
Buchstaben vorgedruckt, so erlangen diese Vordrucke eine höhere 
methodische Bedeutung dadurch, daß Anschauen, Denken und 
Üben als Fundamentalsätze alles Unterrichts vereinigt sind. 

Durch eine solche Bewertung der Vordrucke kann von einem 
mechanischen Abschreiben durchaus nicht die Rede sein, die Arbeit 
des schreibenden Schülers erhält vielmehr eine geistige Vertiefung. 

Sprechen solch zwingende Gründe für die Verwendung der Antiqua 
im ersten Schreibunterricht, so ist die nächste logische Folgerung 


Soennecken: Fraktur oder Antiqua? 363 





die Forderung von solchen Fibeln für den ersten Leseunterricht, die 
mit der Antiqua beginnen. 

Diese Forderung an sich ist nicht neu. Der uralte Ruf nach 
Rückkehr zu der lateinischen Schrift, die andere Völker schon seit 
langem vollzogen haben, bestimmte schon frühere Pädagogen, mit 
den Schulanfängern von vornherein mit Antiqua zu beginnen. 

Haben sich aber in früheren Jahren immer nur einzelne Ver- 
treter von Antiquafibeln gefunden, so ist seit den letzten Jahren das 
Verlangen nach solchen schon allgemeiner geworden infolge ein- 
gehender Berücksichtigung des Werdeganges unserer Schrift, der mit 
Naturnotwendigkeit darauf hinweist, in den Schulen mit Antiqua zu 
beginnen, und zwar sowohl für das Schreiben wie auch für das 
Lesen. 

Doch nicht nur für die Volksschule im allgemeinen, sondern 
auch schon für die Hilfsschulen im besonderen hat man Lateinschrift- 
fibeln herausgegeben. Aber wie die Volksschule, so wartet auch die 
Hilfsschule auf eine die weitesten Kreise befriedigende Lösung der 
Fibelfrage. 

Für den ersten Leseunterricht ist also die Benutzung von Fibeln, 
die mit Antiqua beginnen, unerläßlich. 

Die Einführung der Antiqua für den ersten Unterricht ist also 
eine sowohl pädagogisch, wie hygienisch und kulturell durchaus be- 
gründete und berechtigte Forderung. 

Seit dem Jahre 1881 bereits bin ich nach eigenen Lehrversuchen 
in einer Elementarschule in Remscheid im Jahre 1876 und nach um- 
fassenden Studien der Schriftentwicklung in den hauptsächlichsten 
Kulturländern für die Einführung der lateinischen Schrift im ersten 
Unterricht eingetreten, wie es viele vor und nach mir getan haben. 

Die vom Preußischen Unterrichts-Ministerium im Jahre 1876 ein- 
berufene orthographische Konferenz erklärte mit 10 gegen 4 Stimmen, 

»daß der Übergang von dem deutschen zu dem von den meisten 
Kulturvölkern angewendeten lateinischen Alphabet sich empfehle.« 

Bis heute ist dieser Beschluß noch nicht zur Ausführung ge- 

kommen. 


24* 


332 D. Literatur. 





Auch der 2. Abschnitt gehört eigentlich noch zur Einleitung, insoferne er noch 
nicht das Gedächtnis selbst behandelt, sondern eine für die psychologische Forschungs- 
methode überhaupt äußerst wichtige Vorfrage »der Selbstwahrnehmung«, natür- 
lich unter besonderer Bezugnahme auf das Gedächtnis. Wenngleich die objektiven 
Methoden der Beobachtung besonders der Leistungen (Lernarbeit und Lernerfolg) 
der Versuchsperson besonders bei Gedächtnisversuchen den breitesten Raum ein- 
nehmen, so müssen — was vielfach übersehen wird — diese objektiven Beobach- 
tungen doch durch subjektive Beobachtungen ergänzt und vertieft werden, wenn die 
wissenschaftliche Forschungsarbeit vollständig sein soll. Selbstwahrnehmung nennt 
dies Müller (wie Brentano), nicht Selbstbeobachtung, weil Konstatierungen in bezug 
auf einen psychischen Zustand, sei es durch unmittelbare Auffassung desselben oder 
durch Erinnerung an denselben, auch gemacht werden ohne die Absicht der Be- 
obachtung. Vergleicht man die psychischen Vorgänge bei der Beschreibung eines 
äußeren Gegenstandes mit denen bei der Beschreibung eines Bewußtseinszustandes, 
so ergibt sich eine überraschende Übereinstimmung. Auch die psychischen Vor- 
gänge werden nicht bloß — wie meist behauptet wird — auf Grund rückschauender 
Erinnerung, sei es nun indem der betreffende Zustand selbst in Erinnerung kommt 
oder indem nur eine Beurteilung jenes Zustandes wieder vergegenwärtigt wird, 
beschrieben, sondern auch auf Grund gegenwärtigen Gegebenseins und Apperzipiert- 
werdens. Eine andere Frage ist, ob ebenso, wie die Absicht des Beobachtens eines 
äußeren Gegenstandes für dessen Beschreibung günstig ist, so auch die Beobachtung 
des Bewußtseinszustandes dadurch gewinnt. Die Beobachtungen ergeben, daß die 
Beschreibung eines natürlichen Bewußtseinszustandes d. h. eines solchen, der von 
einer Beobachtungsabsicht weder erzeugt noch beeinflußt ist, durch die Absicht der 
Beobachtung bedeutenden Veränderungen unterliegen kann, daß dagegen bei ge- 
zwungenen Bewußtseinszuständen, d. h. solchen, welche willkürlich erzeugt werden 
zum Zwecke der Beobachtung oder wenigstens unter der Absicht solcher Beobach- 
tungen auftreten, die Beobachtungsabsicht nur vorteilhaft wirkt. Aus diesem Unter- 
schied der Wahrnehmungsergebnisse folgt vor allem die Regel, daß die an ge- 
zwungenen Bewußtseinszuständen gefundenen Gesetzmäßigkeiten nicht so ohne weiteres 
gleich genommen werden dürfen den an natürlichen Bewußtseinszuständen ge- 
fundenen, eine Regel, welche besonders bei der Anwendung der im psychologischen 
Experiment gewonnenen Einsichten auf die Unterrichts- und Erziehungspraxis nicht 
genügend beachtet wird. Übrigens können bestimmte Beobachtungsabsichten auch 
bei der Beobachtung äußerer Gegenstände nachteilig sein. 

Der Grundunterschied zwischen der äußeren Wahrnehmung und 
der Selbstwahrnehmung besteht darin, daß die eintretenden Bewußtseins- 
inhalte jeweils eine andere Auffassung erfahren. In der äußeren Wahrnehmung 
dienen die Inhalte dazu. uns einen der physischen Gesetzmäßigkeit unterworfenen 
Körper mit einer bestimmten Eigenschaft, in einem bestimmten Zustaude, in einer 
bestimmten Entfernung vorstellen zu lassen. Bei der Selbstwahrnehmung dagegen 
interessieren uns die Bewußtseinsinhalte so, wie sie an sich sind oder insoferne sie 
hinsichtlich ihres Eintrittes, Verhaltens und Wirkens der psychologischen Gesetz- 
mäßigkeit unterliegen. Ähnlich begründet Wundt z. B. in seinem »Grundriß der 
Psychologie« die Trennung der Naturwissenschaft und der Geisteswissenschaft aus 
dem Unterschied der Gesichtspunkte bei der Auffassung der an sich einheitlichen 
Erfahrung. 

In eindringender kritischer Erörterung werden die Unvollkommenbeiten 
der Selbstwahrnehmung gegenüber den natürlichen Bewußtseinszuständen be- 


D. Literatur. 333 





sprochen und die daraus sich ergebenden Vorschriften für die Benützung solcher 
Selbstbeobachtungen, Vorschriften, welche für den psychischen Experimentator höchst 
wertvolle Winke sind, stets belegt mit Beispielen aus der reichen eigenen Erfahrung 
des Verfassers wie aus der Literatur. 

Eine ablehnende Kritik erfährt dabei Achs und Segals Methode der syste- 
matischen Selbstbeobachtung unmittelbar nach Ablauf des durch eine be- 
stimmte Anordnung herbeigeführten Erlebnisses, ferner das vielgeübte Verfahren, 
selbst von Schulkindern allgemeine Mitteilungen über ihre Lernweise usw. zu ver- 
langen, und die nicht minder beliebte Methode der Fragebogen, in welchen die Be- 
fragten allgemeine Auskunft über ihr Verhalten in dieser oder jener Hinsicht geben 
sollen. Diese völlig unzulängliche und irreführende Methode der vermeint- 
lichen Reminiszenzen, wie sie Müller nennt, war die vor dem Aufkomnien der 
experimentellen Psychologie allgemein übliche. Ein Fortschritt in der Gedächtnis- 
psychologie konnte erst eıntreten, als man diese Methode aufgab. 

Von ganz besonderem Interesse sind die Ausführungen Müllers über das 
sogenannte Gedanken-Experiment. E. Mach hat den Begriff eingeführt. Man 
versteht seitdem darunter das Verfahren, »sich gewisse Dinge als unter bestimmten 
Umständen befindlich vorzustellen und sich zu vergegenwärtigen, wie sich jene 
Dinge unter diesen Umständen verhalten würden«. Der Physiker macht davon 
mannigfachen Gebrauch, und für den Psychologen ist es eine nicht minder wertvolle 
Quelle. In analoger Weise vergegenwärtigt er sich psychische Vorgänge, die sich 
bei bestimmter Versuchsanordnung in Versuchspersonen von bestimmter Beschaffen- 
heit abspielen müssen. Individualisierend ist dieses psychologische Gedanken- 
experiment, wenn ich mich frage, wie bestimmte Individuen, die leben oder gelebt 
haben, unter bestimmten Umständen sich psychisch verhalten würden, wie ich selbst, 
wie Bismarck sich in dieser oder jener — noch nicht erlebten — Situation be- 
nehmen würde. Man versetzt sich innerlich in die gegebene Lage und beobachtet 
die Gedanken, Affekte, Tendenzen usw., die unter diesen Umständen erweckt werden, 
und nimmt dabei an, daß bei einem wirklichen Gegebensein der betreffenden Situation 
entsprechende Gedanken, Affekte, Tendenzen usw. eintreten, wie sie bei mir bloß 
in der Vergegenwärtigung eingetreten sind. Es ist ein Fall von Einfühlung in die 
fremde Persönlichkeit und in die eigene Persönlichkeit zu einer anderen gedachten 
Situation, ein instinktmäßiges psychisches Geschehen, das schon Lipps als eine 
freilich der Korrektur oft bedürftige Erkenntnisquelle bezeichnet hat. Erschließt 
man dagegen auf Grund gewisser Kenntnisse von allgemeinen Gesetzen und indivi- 
duellen Eigentümlichkeiten das Verhalten in einer bestimmten Situation, so hat man 
kein eigentliches Gedankenexperiment, sondern eben eine Schlußfolgerung. Nicht 
selten gehen beide Verfahren der Ermittelung eines eventuellen Inhaltes Hand in 
Hand, »Gedankenexperiment gemischter Arte. Im Leben machen wir von diesem 
Gedankenexperiment in weitem Umfange Gebrauch. Wir suchen dadurch das 
eventuelle Verhalten unserer Mitmenschen unter bestimmten Umständen zu erraten 
und pflegen darnach unser eigenes Verhalten einzurichten. Auch der wissenschaft- 
liche Psychologe wird, obwohl er sich über die Unzuverlässigkeit und andere Mängel 
des Gedankenexperimentes keinen Täuschungen hingibt, es doch in Anwendung bringen, 
so wenn er zwischen verschiedenen möglichen Untersuchungsmethoden und Ver- 
suchsanordnungen zu wählen hat, wenn er in den Verlauf psychischer Vorgänge 
unter Umständen, die er willkürlich nicht herbeiführen kann, Einblick gewinnen will. 
wenn er die Sicherheit einer Versuchsperson hinsichtlich einer Aussage prüft, indem 
er sie veranlaßt sich in Gedanken vor ein Gericht zu versetzen, und nun sie fragt, 
ob sie auch dann noch ihre Aussage für richtig hält u. dergl. 


334 D. Literatur. 





Gleich in medias res führt der III. Abschnitt, der interessanteste dieses Buches, 
der Abschnitt über den genialen, 1879 in Frankfurt geborenen Kopfrechner 
Dr. Rückle. Es hat ja zu jeder Zeit Leute gegeben mit anormaler Fähigkeit Zahlen 
sich einzuprägen und im Kopfe Rechenoperationen auszuführen. Aber Rückle ist 
allen bisherigen fast in jeder Hinsicht überlegen, zum Teil weit überlegen. Diamandi, 
ein berühmter Kopfrechner der jüngsten Zeit, braucht nach den umfassenden Unter- 
suchungen, die Binet und Henri mit ihm angestellt haben, um 50 Ziffern sich ein- 
zuprägen und aus dem Gedächtnis niederzuschreiben, 7‘ (Minuten), der Berufs- 
nınemotechniker Arnould, der mit dem bekannten Hilfsmittel der Mnemotechnik: 
Ersatz der Ziffern durch Buchstaben und Zusammensetzung dieser Buchstaben zu 
Wörtern, arbeitet, braucht immerhin gegen 3° = 165 (Sekunden). Rückle da- 
gegen braucht zum Einprägen und Hersagen etwa 70", wobei allerdings zu beachten 
ist, daß das Hersagen rascher geht als das Niederschreiben. Für 100 Ziffern hatte 
Diamandi 25‘, Arnould 15‘, Rückle durchschnittlich 6‘ nötig. Für 200 Ziffern end- 
lich benötigte Diamandi 75‘, Arnould 45‘, Rückle dagegen durchschnittlich 2%. 

Rückle ist kein einseitiger Zahlenmensch. Sein Gedächtnis übersteigt auch für 
andere Stoffe weit das Mittelmaß, wie er denn im Realgymnasium stets der Erste 
war. Rückles sensorischer Typus ist optisch. Beim Hersagen sieht er die Ziffern- 
komplexe vor seinem geistigen Auge und zwar in der Handschrift, in der sie ihm 
beim Lernen vorgelegen hatten; ebenso die Konsonantenreihen, die ihm zum Lernen 
aufgegeben waren. Von dem mnemotechnischen Hilfsmittel des Ersatzes der Ziffern 
durch Buchstaben, das auf den Dänen Reventlow zurückgeht, macht Rückle keinen 
Gebrauch. Er bedient sich ausschließlich seiner mathematischen Kenntnisse. So 
überrascht es nicht, daß er in den elementaren Rechenoperationen (Addieren, Sub- 
trahieren, Multiplizieren usw.) von Inaudi, einem anderen von Binet geprüften 
akustisch -motorischen Kopfrechner, erreicht, ja übertoffen wurde. 

Doch lernt Rückle nicht ausschließlich visuell. Denn bei schwieriger sich 
einprägenden Ziffernkomplexen und Ziffernreihen benützt er auch den akustisch- 
motorischen Weg, indem er sie innerlich oder leise mitspricht. Rückle lernt nicht 
lediglich mechanisch d. h. Ziffer an Ziffer assoziierend, sondern neben diesen Asso- 
ziationen schafft er sich neue Bänder, indem er zwischen den Zifferngruppen — 
er lernt die Ziffern meist in Komplexen von 5 bis & — Beziehungen sucht und 
diese als leichter einprägbar neben der Assoziation von Glied zu Glied und Gruppe 
zu Gruppe als Hilfsmittel der Reproduktion verwendet. So merkt er sich, daß 
841 = 29°, 295 = 5 x 59, 559 = Regierungsantritt von Kyros, 624 = 25°? — 1, 
70128 = 701 + 28 = 729 = 9%, 451697 = 451 = 11x41 und 697 = 17 x 4l. 
Für Nichtmathematiker scheinen vielleicht diese Begleitgedanken noch schwerer zu 
merken als die Zahlen für sich allein, gar nicht zu reden von der Schwierigkeit 
des Auffindens besonders dieser zahlentheoretischen Verhältnisse. Aber für Rückle, 
dessen Blick für die Zusammengesetztheit der Zahlen durch ein von frühester Jugend 
ihn beherrschendes Interesse und durch reichliche Übung geschärft ist, sind diese 
Auflösungen ein Spiel. Diese Hilfsassoziationen, die übrigens im Leben alle Tage 
oft genug angewendet werden, sind nicht sowohl Erleichterungen der Einprägung, 
schaffen nicht stärkere Dispositionen der Assoziationen, sondern erleichtern die Re- 
produktion, das In-Wirksamkeit-treten dieser Dispositionen, was ich in meiner Mono- 
graphie »Das Gedächtnis« als konvergente Reproduktion (Konstellation) dargelegt 
habe. Es sind also nicht, wie man oft genug zu lesen bekommt, Hilfen der Ein- 
prägung oder des Lernens, sondern der Reproduktion oder des Erinnerns, 

An diese genaue psychologische Darlegung des Falles Rückle knüpft nun 
Müller als Endergebnis allgemeine Bemerkungen über ungewöhnliches Zahlengedächt- 





D. Literatur. 335 





nis und über hervorragende Spezialgedächtnisse überhaupt. Man war bisher gewohnt, 
in solchen Fällen von einem besonderen Gedächtnis für Zahlen oder für Formen 
oder Farben, für Wörter usw. zu reden, machte also stoffliche Gruppen. Müller 
lehnt das ab. Er weist darauf hin, daß man in Konsequenz dieser Grundansicht 
dann weitergehen müßte und, da die einen Kopfrechner visuell, die andern akustisch- 
motorisch rechnen, für die einen ein besonderes Gedächnis für Zahlzeichen (Ziffern), 
bei den andern für Zahlwörter annehmen müßte und dann wieder unterscheiden 
müßte zwischen einem besonderen Gedächtnis für arabische Ziffern und einem für 
römische Ziffern und wieder unterscheiden ein besonderes Gedächtnis für Buch- 
staben und Wörter, für geometrische Figuren usw. Und beim auditiven Rechner 
müßte man beim einen ein besonderes Gedächtnis für französische Zahlwörter, beim 
andern für deutsche usw. annehmen und müßte sich dann fragen, ob ein mit 
normalem Gedächtnis für italienische Zahlwörter begabter Rechner wie Inaudi, wenn 
er in einer deutschen Sprachumgebung aufgewachsen wäre, nicht jene Höhe der 
Leistungsfähigkeit hätte erreichen können, weil er hier die Zahlwörter in deutscher 
Sprache gelernt hätte. Indem Müller diesen Weg zu Ende geht, zeigt er, daß jene 
Auffassung von besonderer, angeborener Begabung für Zahlen usw. auf einen Holz- 
weg führt. Und so sieht er mit überzeugenden Gründen die Ursache solcher Ein- 
seitigkeit des Gedächtnisses in der Einseitigkeit des Interesses, das im Bunde 
mit einer hohen Leistungsfähigkeit bestimmter Funktionen, die aber bei anderer 
Interessenrichtung nach einer ganz anderen Seite hin zu Erfolg geführt hätten, diese 
merkwürdigen Leistungen zeitigt. 

Natürlich, wie dieses merkwürdige einseitige Interesse entsteht, ist ein Ge- 
heimnis, ist das Geheimnis der Individualität. Der Hinweis auf die Vererbung 
schiebt das Rätsel nur vom Sohn zurück auf die Eltern. Fragt man nach der 
physiologischen Unterlage dieser hohen Begabungen, dann muß man sich begnügen 
mit der Annahme einer besonders günstigen Entwicklungs- und Ausbaufähigkeit 
einzelner Sinnesgebiete, des optischen oder des akustisch-motorischen Bezirkes, und 
darf nicht mit Gall und seinem jüngsten Vorkämpfer Möbius etwa den besonderen 
Sitz für mathematische Begabung, ein »mathematisches Organ«, in der linken Stirn- 
ecke oder sonstwo suchen. Sonst müßte man schließlich auch eine angeborene 
Veranlagung und ein besonderes Organ annehmen für ein außerordentliches Inter- 
esse an Briefmarken oder Perserteppichen. 

Müllers Ausführungen verbreiten sich nicht über so viele mathematische 
Genies und Kopfrechenmeister wie Binet und Henri in ihrem berühmten Buche 
»Grands calculateurs et joueurs d’echec« und lesen sich auch nicht so fesselnd. Aber 
sie dringen viel tiefer in die Psychologie des Phänomens ein und bedeuten darum 
einen gewaltigen Fortschritt in dieser Frage. 

Der IV. und längste Abschnitt des I. Bandes behandelt die Komplexbildung 
beim Lernen. Bekanntlich besteht die Tendenz Ziffern, Konsonanten, Silben, 
Wörter usw. nicht einzeln, sondern zu stark in sich assoziierten Komplexen zu- 
sammengefaßt zu lernen, selbst dann, wenn ihre Anordnung oder die Form ihrer 
Darbietung keine Gruppierung oder Einteilung aufweist, und um so mehr, wo dies 
der Fall ist. Je nachdem die Glieder alle gleichzeitig oder in schnellem Durchlaufen 
der einzelnen Glieder erfaßt und dann zu einem Ganzen zusammengefaßt werden, 
unterscheidet Müller kollektive Simultan- bezw. kollektive Sukzessiv- 
auffassung. Dabei erzeugt der Visuelle bei sukzessiver Wahrnehmung der dar- 
gebotenen Reihenglieder innere visuelle Bilder dieser, und zwar stets in bestimmter 
räumlicher Anordnung. Im weiteren Verlauf des Lernens tritt dann die Tendenz 


336 D. Literatur. 





auf, bei sukzessiver Darbietung nicht bloß von einem ihm dargebotenen Reihenglied 
ein innerliches visuelles Bild zu erzeugen, sondern im Anschluß an dieses auch 
noch andere vorhergehende oder nachfolgende Glieder nur desselben — aber nicht 
eines anderen — Komplexes zu reproduzieren. Späterhin stellt sich beim Lernen 
öfter ein flüchtiges Gesamtbild des Komplexes gleich nach seiner Darbietung ein, 
ja schließlich schon vor der Darbietung und das Hersagen pflegt sich in der Weise 
zu vollziehen, daß vor dem Hersagen des Komplexes zuerst sein Gesamtbild (Ge- 
staltbild) erscheint. Die Komplexbildung wird erleichtert durch Übung und natür- 
lich durch die Anordnuug der Lernobjekte. Dabei zeigt sich allerdings, da die Auf- 
merksamkeit bekanntlich intermittiert, daß die kollektive Sukzessivauffassung nur 
über eine sehr begrenzte Zahl von Reihengliedern sich erstreckt, über so viele eben, 
als sich innerhalb der Zeit einer Aufmerksamkeitswelle erfassen lassen. Und da 
gilt der Satz: Jedes Glied wird mit um so geringerer Aufmerksamkeit erfaßt, je 
mehr Glieder die Gruppe umfaßt; dasselbe gilt für die kollektive Simultanauffassung 
(Satz der Unschärfe der kollektiven Auffassung). Der visuelle Lerner ist 
beim Einprägen einer simultan vorgeführten Reihe zuerst darauf gerichtet, die Ge- 
stalt jedes zu bildenden Komplexes zu erfassen und einzuprägen. Ja manchmal 
formen die Lerner die Glieder selbständig zu einer ihnen geläufigeren Form oder 
Gestalt um. Diamandi übersetzte das Vorgeführte in seine Handschrift um, andere 
aus der horizontalen Anordnung in eine vertikale. Beim Weitergehen zum nächsten 
Komplex hat der Lerner oft eine Neigung, sich, wie um seine Sicherheit zu prüfen, 
den eben aufgefaßten Komplex nochmals innerlich zu rekonstruieren, das Haupt- 
mittel der Einprägung. Bei der Reproduktion tritt der Gesamtkomplex zuerst vor 
das innere Auge; dann heben sich beim fortschreitenden Reproduzieren die einzelnen 
Stellen deutlicher heraus. So sieht Rückle die jeweils herzusagende Ziffer deutlicher. 
Bei Lernern mit mehr gemischt-visuellem Typus spielt das Komplex-bilden natürlich 
nicht diese wichtige leicht bemerkbare Rolle. 

Diejenigen Umstände, welche die Komplexbildung beeinflussen, nennt Müller 
Determinanten des Komplexumfanges. Es sind das die räumliche Anord- 
nung der Reihenglieder, ihr Abstand von einander wie vom Auge des Lernenden, 
zwischen den Gliedern angebrachte Markierungen, eine Übereinstimmung mehrerer 
Glieder nach Beschaffenheit oder räumlicher Gestaltung, indem durch eine den 
Gliedern gemeinsame Eigenschaft diese insgesamt von ihrer Umgebung abgehoben 
werden, symmetrischer Aufbau (z. B. 84548), Gesamtlänge der Reihen, insofern 
kürzere Reihen lieber in kleineren, längere in größeren Komplexen gelernt werden, 
Pausen und Betonung beim Vorlesen, ferner solche assoziative Momente, wie Vor- 
kommen der Glieder schon in einem anderen bekannten Komplex (Jahreszahl, ge- 
läufige Wortverbindung wie schwarz weiß rot, mathematische Beziehungen, wie 
26169 aufgelöst in 26 = 13 x 2 und 169 = 13°), weiter die Beharrungstendenz 
einer vorgeübten Lernweise an einen bestimmten Komplexumfang. 

Die innere Festigkeit d. h. die Stärke der wechselseitigen Assoziationen, die 
unter anderem abhängt von dem Bekanntheitsgrade der Glieder und von der Vor- 
führungszeit, nennt Müller Schärfe der Komplexbildung, eine unseres Er- 
achtens nicht ganz glückliche Bezeichnung, weil sich aus ihr das Wesen des Be- 
zeichneten nicht erkennen läßt. Innere Festigkeit scheint mir bezeichnender. 

Neben den durch einen Akt kollektiver Auffassung geschaffenen Komplexen 
gibt es noch Gruppen, die größer sind, als daß ein einzelner solcher Auffassungsakt 
sie hätte schaffen können, die aber durch feste Assoziation enger zusammengehalten 
werden als andere. Müller nennt sie Assoziationsgruppen. Bei ihrer Bildung 


D. Literatar. 337 





spielt die »Zuordnung« nicht selten eine wichtige Rolle. Mit Zuordnung be- 
zeichnet Müller den Umstand, »daß beim Lernen 2 nahe oder entfernt voneinander 
stehende Reihenbestandteile in der Weise aufgefaßt werden, daß man sich aus- 
drücklich die Beziehungen einprägt, in der die Stellen beider Reihenbestandteile zu- 
einander stehene.. Was Müller hier mit Zuordnung bezeichnet, ist ein spezieller 
Fall des für die Reproduktion so außerordentlich wichtigen Beziehungsbewußtseins, 
dessen Mitwirkung das logische oder judiziöse Lernen, dessen Fehlen das mechanische 
Lernen ausmacht. Sein Vorteil für die Reproduktion beruht darauf, daß es zwei 
Reihen, eine Haupt- und eine Nebenreihe, nebeneinander bildet, von denen die eine, 
die Nebenreihe, leichter sich einprägt. Von den Gliedern der leichter eingeprägten, 
fest assoziierten Reihe gehen Assoziationen zu den entsprechenden Gliedern der 
anderen Reihe, der Hauptreihe, welche ihrerseits unter sich assoziiert sind. Die 
Disposition oder Spur eines Gliedes der Hauptreihe erfährt somit von zwei Seiten 
her eine Anregung; das bedeutet eine Beschleunigung und Erleichterung der Re- 
produktion. Ich bezeichne in meinem Buch diesen Vorgang als konvergente Dis- 
positionsanregung. 

Ganz das Gleiche liegt, rein psychologisch genommen, vor in der auch von 
Müller berührten Tatsache, »daß man beim Hersagen einen zu nennenden Komplex 
leichter findet, wenn man seinen Umfang bereits von vornherein sicher weiß, als 
dann, wenn man zunächst auch nicht einmal betreffs des Umfanges des Komplexes 
einen Anhaltspunkt hat«. Müller formuliert für dieses Geschehen den Satz von 
der reproduktiven Wirksamkeit der bewußten Teilinhalte (344). Dieser 
besagt, »daß wir uns eines früheren Eindruckes leichter erinnern, wenn wir betrefis 
seiner Intensität oder Qualität oder seiner räumlichen oder zeitlichen Beschaffenheit 
irgend einen Anhaltspunkt besitzen«. Ob man aber in diesem Fall wirklich von 
»Teilinhalten« reden kann? Das Wissen z. B., daß der zu reproduzierende Komplex 
10 Glieder hatte, ist doch nicht ein Teil des Komplexinhaltes, indem uns die 10 
Glieder gegeben sind. Es ist vielmehr das Wissen, daß ich beim Wahrnehmen 
dieser Reihe, deren Reproduzieren mir nicht sofort gelungen ist, 10 Glieder gezählt 
habe, also ein Anzahlenurteil gefällt habe, und das Wissen um den Inhalt dieses 
Urteiles. Dieses Urteil ist kein Bestandteil jenes Komplexes; der Komplex ist voll- 
ständig, auch wenn ich ihn, ohne über die Zahl der Glieder zu urteilen, wahrnehme 
oder mir erinnernd vergegenwärtige. Das Urteil tritt vielmehr hinzu und assoziiert 
sich mit dem Komplex. Wenn nun die Aufforderung erfolgt, jenen Komplex zu 
reproduzieren, so wirkt einerseits von dieser Aufforderung her eine Reproduktions- 
tendenz auf die Dispositionen der Reihe, andererseits aber auch von jenem sofort 
wieder erinnerten Anzahlenurteil. Es sind also zwei zusammenwirkende Re- 
produktionstendenzen, oder es wird der Dispositionskomplex von zwei Seiten her an- 
geregt, ein Geschehen, das keineswegs etwas Neues ist, also die Aufstellung eines 
eigenen Satzes nicht als notwendig erscheinen läßt. Auf die gleiche Weise zu ver- 
stehen ist die das Reproduzieren mehr als das Lernen unterstützende Wirkung des 
Rhythmus. Er bildet ein bis zu einem gewissen Grade selbständiges, mehr oder 
weniger kompliziertes Schema, dessen Glieder mit Gliedern des Textes assoziiert 
sind und dadurch deren Reproduktion durch konvergente Dispositionsanregung er- 
leichtern. Der Rhythmus beruht vorwiegend — wenn auch nicht immer — auf 
motorischen Vorgängen, auf Bewegungsempfindungen oder Vorstellungen und Be- 
wegungsantrieben. Darum tritt er bei rein visuellen Lernern nicht auf. Wenn bei 
visuellen Lernern ein Rhythmus vorhanden ist, so geschieht das dadurch, daß die 
meist ganz unwillkürlichen Bewegungen, mit denen manche Versuchspersonen die 


Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 22 


338 D. Literatur. 





einzelnen Glieder erblicken, sozusagen begrüßen (Nicken, Aussprechen von Zahl- 
wörtern, einfache Kehlkopfbewegungen ungefähr in der Form von »hme«), eine rhyth- 
mische Gliederung erfahren können. 

Welche Komplexe am zweckmäßigsten sind, hängt ab von unserer Absicht, ob 
wir in kürzester Zeit einen Stoff bis zum freien Hersagen einprägen wollen oder 
bei gegebener konstanter Lernzeit ein möglichst gutes Lernergebnis anstreben d. h. 
möglichst viele Treffer bieten wollen (zeitökonomischer Standpunkt) oder aber, ob 
wir das Lernziel mit der geringsten Anstrengung (Ermüdung) erreichen oder bei 
gleicher Anstrengung möglichst große Lerneffekte erzielen wollen (kraftökonomischer 
Standpunkt). Nur die Beobachtung im einzelnen kann zeigen, welche Methode je- 
weils die zweckmäßigste ist. Immerhin läßt sich jetzt schon auf Grund der bis- 
herigen Erfahrung manche Regel für die Wahl des Komplexumfanges angeben. 

Es ist ein groß angelegtes, an einer erdrückenden Fülle von scharfen Einzel- 
beobachtungen reiches Werk, in dessen I. Band diese Zeilen einen Einblick ge- 
währen, und nicht minder reichhaltig versprechen die folgenden 2 Teilbände zu 
werden. Aber trotz der breiten Anlage ist es Müller nicht darum zu tun, ein ge- 
schlossenes System der Gedächtnispsychologie zu geben. Das zeigt schon die An- 
lage, indem nach der Einleitung ein Abschnitt über die Selbstwahrnehmung folgt, 
darauf die Beschreibung eines hervorragenden Gedächtnisses, endlich ein Abschnitt 
über die Komplexbildung beim Lernen. Das zeigt auch die Überschrift »zur Analyse 
der Gedächtnistätigkeit«, wie der Verzicht auf kritische Besprechung der verwendeten 
Grundbegriffe und auf eine vollständige Bibliographie. So fällt das Werk etwas 
anders aus, als man wohl vielfach erwartet hatte. Es untersucht wohl die wichtigsten 
Seiten der Gedächtnistätigkeit, ist aber doch keine vollständige, in sich geschlossene 
Gedächtnispsychologie. Und das ist zu bedauern. Denn keiner besaß je eine so 
ausgedehnte Kenntnis der einschlägigen Literatur, keiner ist mit den Methoden und 
den Ergebnissen der experimentellen Forschung so vertraut, keiner hat sowohl selbst 
wie durch seine Schüler so Vieles und so Wertvolles zur Erforschung dieses Ge- 
bietes beigetragen, als G. E. Müller. Aber selbstverständlich wird ihm die Wissen- 
schaft auch so, wie sein Werk ist, zu größtem Danke verpflichtet sein. Indem er 
darin alles vereinigt, was bis jetzt durch die experimentelle Psychologie ans Tages- 
licht geschafft worden ist, und indem er jeweils mit scharfer Kritik die Mängel der 
Methoden und der Ergebnisse aufdeckt, hat er eine Fundgrube geschaffen, die durch 
den Reichtum wie durch die Verlässigkeit des in ihr vereinigten und kritisch ver- 
arbeiteten Stoffes das Zurückgehen auf die Quellen in den meisten Fällen überflüssig 
macht. Schon dadurch wird Müllers Buch zu einem Markstein in der Entwicklung 
der modernen Psychologie. 

München. M. Offner. 


Fuchs, Arno, Hilfsschulfragen. Arbeiten aus dem III. Berliner Fortbildungs- 
kursus für Hilfsschullehrer nebst Bericht. Halle a. S.. Carl Marhold, 1912. 
104 S. Preis ? M. 

Im Auftrage der Deputation für die Fortbildungsschulen zu Berlin hielt Arno 
Fuchs in der Zeit vom 8. November 1911 bis zum 24. Januar 1912 den III. Berliner 
Fortbildungskursus für Hilfsschullehrer und -lehrerinnen ab. Dieser Kursus sollte 
ein Informationskursus für solche Lehrer und Lehrerinnen sein, die in den Dienst 
der Fortbildung schwachbeanlagter Jünglinge und Mädchen zu treten beabsichtigen. 
Es beteiligten sich jedoch in großer Zahl auch solche Lehrkräfte an ihm, die bereits 
an der Fortbildungsschule für Schwachbeanlagte (ehemalige Hilfsschulkinder) tätig 
waren, so daß der Kursus den Charakter eines Fortbildungskursus für Hilfsschul- 


D. Literatur. 339 





lehrer gewann. In dem Kursus wechselten Vorträge, Übungen und Besichtigungen 
miteinander ab. Auch stellten die Kursusteilnehmer ihre Erfahrungen in den Dienst 
der guten Sache und beteiligten sich durch Referate und Besprechungen. Die hier- 
durch entstandenen methodischen Arbeiten hat Arno Fuchs auf Wunsch heraus- 
gegeben. Die Arbeiten haben die Ausbildung der Hand (Handarbeits- und Haus- 
haltungsunterricht für Mädchen, Knabenbandarbeit, Fachzeichnen), den Deutschunter- 
richt (Lesebuch, Jugendschriften, methodische Behandlung eines allgemein bildenden 
Erzählstoffes, Einführung in das Lesen und Betrachten einer illustrierten Zeitschrift), 
den Rechenunterricht (Rechenbuch, angewandtes Rechnen) zum Gegenstand. Sie 
erörtern belehrende und gesundheitlich fördernde Unternehmungen im Dienste der 
Fortbildungsschule, Heim und Lehrwerkstätte für ehemalige Hilfsschüler, be- 
merkenswerte Eindrücke beim Hospitieren in Fortbildungsschulen für Schwach- 
beanlagte und Normale, den gegenwärtigen Stand der Schwerhörigenfürsorge. Zwei 
weitere Abhandlungen beschäftigen sich mit Fragen der Erziehung psychopathischer 
Kinder. Als Schlußwort gibt Fuchs einen Überblick über den gegenwärtigen 
Stand der Ausbildungskurse für Hilfsschullehrer. Die »Hilfsschulfragen« sind hier- 
mit bestens empfohlen, zumal sie nicht nur die Fortbildungsschule für Schwach- 
beanlagte sondern auch die Hilfsschule im Auge haben. 
Danzig. Franz Matschkewitz. 


Horrix, Hermann, Die Ausbildung des Hilfsschullehrers. Ein Vorschlag 
zu ihrer Förderung. Halle a. S., Carl Marhold, 1912. 56 S. Preis geh. 1 M. 

Die Frage der Vor- und Fortbildung des Hilfsschullehrers gehört zu den 
wichtigsten, die den Hilfsschullehrerstand zurzeit beschäftigen. Verschiedene Vor- 
schläge sind gemacht, die die Frage fördern sollen. Horrix hat ihr die oben an- 
geführte Schrift gewidmet. Verfasser ist in dieser Frage doppelt zuständig. Einmal 
steht er seit ca. 25 Jahren im Dienste der Hilfsschule, zum andern ist er von der 
Königl. Regierung zu Düsseldorf zur Leitung der von ihr eingerichteten Kurse be- 
rufen. Horrix behandelt in seiner Schrift: I. Notwendigkeit und Wert einer be- 
sonderen Ausbildung der Hilfsschullehrer. II. Ansichten über die Art der Aus- 
bildung. III. Die Persönlichkeit des Hilfsschullehrers. IV. Die entferntere Vor- 
bereitung auf den Hilfsschullehrerveruf. V. Die gegenwärtig spezielle Ausbildung 
in Hilfsschullehrerkursen. VI. Die vorgeschlagene Ausbildung im Hilfsschullehrer- 
seminar. VII. Erläuterungen zum Ausbildungsplan. 

Verfasser bespricht die den bisher getroffenen oder gewünschten Einrichtungen 
anhaftenden Vor- und Nachteile und empfiehlt die Gründung heilpädagogischer Seminare. 
Für den Besuch eines solchen Seminars nimmt er einen Zeitraum von einem Jahr 
an. Er legt dar, wie er sich die Ausgestaltung des Seminars denkt und bietet einen 
bis ins einzelne gehenden Ausbildungsplan. In dem Abschnitt »Die Ausbildung der 
Hilfsschullehrer in andern Staaten« berücksichtigt der Verfasser die Verhältnisse in 
Österreich, Ungarn und Frankreich. Daraus geht hervor, daß diese Staaten uns 
voraus sind. 

Danzig. Franz Matschkewitz. 


Seyfert, R, Die Unterrichtslektion als didaktische Kunstform. Leipzig, 
Verlag Ernst Wunderlich, 1909. 267 S. Preis gebunden 3 M. 

Unterricht ist geistiger Verkehr. Die Formen dieses geistigen Verkehres 
sollen künstlerisches Gepräge tragen, künstlerische Formen annehmen. Das Künstle- 
rische ist das Subjektive; es ist der Rahmen, in welchen sich Rede, Darstellung, 
Komposition der Lektion einzufügen haben. Die didaktische Kunstform steht den 

22* 


340 D. Literatur. 





nüchternen, schmuck- und kunstlosen Einzeltatsachen des Unterrichtes gegenüber. 
Von jedem Raume, von jedem Möbel, von jeder Tanzkarte, vom Plakate, von den 
Kleidern fordern wir, daß sie — abgesehen von Zweckmäßigkeit usw. — geschmack- 
voll sind. Die didaktische Kunstform bezeichnet nichts anderes, als die geschmack- 
volle Unterrichtsgestaltung. Jeder Dilettantismus verstößt gegen den künstlerischen 
Geschmack. Die vollendete didaktische Kunstform setzt voraus, daß die gesamte Unter- 
richtstechnik völlig beherrscht wird. Verstöße gegen die Kinderpsychologie, gegen die 
Unterrichtssprache, gegen den Lehrstoff vereiteln das harmonische Unterrichtsbild. 
Seifert hebt hervor, daß alle wissenschaftliche, politische, soziale Arbeit für uns 
nur allgemeinen Wert habe, daß unsere alltägliche und nächstliegende Arbeit aber 
die Unterrichtslektion ist, und unser Denken und Wollen soll diesem künstlerischen 
Werke zugewandt sein. Durch die Unterrichtskunst sollen wir uns von den anderen 
Menschen ‚unterscheiden und über diesen stehen. Es ist aber eine feststehende Tat- 
sache, daß in der pädagogischen Literatur und in unseren Zeitschriften die Lektion 
völlig vernachlässigt wird. Es ist jedenfalls richtig, daß ein Schulmeister dem 
anderen nichts vormachen kann, was von jenen gebilligt wird. Zweifel und herbe 
Kritik verhindern die Veröffentlichung von Stücken aus der Alltagsarbeit. So 
schädigen wir uns selbst und unsere Stellung in der Öffentlichkeit. Es gibt genug 
Städte mit hundert und viel mehr Lehrern, und doch ist nie Gelegenheit, einer 
öffentlichen Unterrichtslektion beizuwohnen. 

Es wäre zu wünschen, daß dies anders wird. Seifert gibt wertvolle Winke; 
nicht stürmend und drängend, aber modern, solid und gut sind seine Ausführungen, 
An alles denkt er, selbst dem Gelegenheitsunterricht redet er nachdrücklich das Wort. 

München. Egenberger. 


Zerwer, Antonie, Schwester, Säuglingspflegefibel. Berlin, Julius Springer, 
1912. 72 S. Preis 90 Pf. 

In einem Vorwort an die Mütter betont Prof. Dr. Leo Langstein (Direktor 
des Kaiserin Auguste Viktoria-Hauses) die Notwendigkeit, schon das Kind, das heran- 
wachsende Mädchen in die Säuglingspflege einzuführen. 

Schwester Zerwer tritt selbst mit großer Wärme und Herzlichkeit an die 
Kinder heran, sucht auf anmutige Weise ihre Herzen zu gewinnen für die Hilflosig- 
keit der Kleinsten, Pflichtgefühl und Arbeitsfreudigkeit in ihnen zu wecken. 

Wie sie dann im ersten Teil der Fibel die Jugend unterweist, wie sie ihre 
Lehre geschickt in Fragen und Antworten kleidet, nie langweilig, nie ermüdend oder 
lehrhaft, aber immer mit großer Bestimmtheit und Eindringlichkeit, das ist meiner 
Ansicht nach meisterhaft. Anzuerkennen ist weiter das energische Bekämpfen aller 
alten Gebräuche und alles Aberglaubens, der mitunter noch in der Säuglingspflege 
eine Rolle spielt. Die zahlreichen dem Buche beigegebenen Bilder sind so klar und 
anschaulich, daß sie den jungen Mädchen das Lernen sehr erleichtern werden. 

Der zweite Teil des Buches verdient besonderes Lob. Schwester Zerwer 
bringt Beispiele aus dem Säuglingsleben, aus denen die Jugend selbst ihre Schlüsse 
ziehen soll, merken soll, wie sie es nicht mit ihren Pflegebefohlenen machen 
darf. Diese Art zu unterweisen wird viel überzeugender und eindringlicher wirken 
als lange Reden und Auseinandersetzungen über all die Gefahren, die dem Säug- 
ling drohen. 

Das Buch sollte weiteste Verbreitung finden; für das, was es bietet, ist der 
Preis gering. 

Jena. Hanna Queck-Wilker. 


D. Literatur. 341 





Archiv für Pädagogik. Herausgegeben von Max Brahn und Max Döring. 

Leipzig, Friedrich Brandstetter. 

Teil I. Die Pädagogische Praxis. Neue Folge des »Praktischen Schulmanns«. 
Jährlich 12 Hefte von je 4 Bogen Umfang. Preis halbjährlich 4 Mark 
(Einzelheft 1 Mark). 

Teil II. Die Pädagogische Forschung. Jährlich 4 Hefte von je 8 Bogen Umfang. 
Preis jährlich 8 Mark (Einzelheft 2,50 Mark). 

Diese neue Zeitschrift »will ein Archiv jener schaffenden Arbeit sein, wie sie 
heute in so reichem Maße geleistet wird«. Als solches heißen wir sie herzlich 
willkommen. Nicht bestimmten pädagogischen Richtungen und Anschauungen soll 
und will sie dienen. Weitherzig und freigesinnt wollen die Schriftleiter wertvolle, 
wissenschaftlich begründete Beiträge aus jedem pädagogischen Lager aufnehmen. 
Und was sie versprochen, das haben sie, soweit es die uns zugegangenen ersten 
Hefte beurteilen lassen, auch treulich gehalten. Wir können und wollen hier natür- 
lich nicht auf die einzelnen Aufsätze eingehen. Wir hoffen, daß es uns möglich 
sein wird, die für unseren Leserkreis wichtigen Aufsätze fortdauernd in unserer 
Zeitschriftenschau berücksichtigen zu können, wie wir die bisher erschienenen be- 
reits berücksichtigten. Und dieser Aufsätze sind nicht wenige. Wir können hier 
nur das Eigenartige der neuen Zeitschrift hervorheben, und das ist ihre Sonderung 
in einen Teil, der ganz der Praxis gewidmet ist, und in einen zweiten, der vor- 
wiegend Arbeiten aus dem Gebiete der exakten oder experimentellen Pädagogik 
bringt. Unter den hier erscheinenden Arbeiten werden vor allem Untersuchungen 
aus dem Institut für experimentelle Pädagogik an der Universität Leipzig zu finden 
sein. Auch die Grenzgebiete finden gebührende Berücksichtigung. Wir glauben, 
mit diesen Angaben ungefähr das Arbeitsgebiet der neuen Zeitschrift gekennzeichnet 
zu haben. Die vorliegenden Nummern geben uns das Recht, sie unseren Lesern 
aufs wärmste zu empfehlen. 

Jena. Karl Wilker. 


Deutsche Heil- und Pflegeanstalten für Psychischkranke in Wort und 
Bild. Redigiert von Dr. Johannes Bresler. II. Band. Halle a. S., Carl 
Marhold, 1912. VIII und 462 Seiten. Preis: in Halbfranz gebunden 19 M. 

Vor einem Jahre habe ich den ersten Band dieses Werkes hier besprochen 

(Jg. XVII, 2, S. 93—94) und ihn als ein wertvolles Handbuch nicht nur für den 

Psychiater, sondern auch für den Heilpädagogen und überhaupt jeden, der sich mit 

der Anstaltsbehandlung Psychischkranker beschäftigt, bezeichnet. Es ist erfreulich, 

daß das Werk nun noch eine Fortsetzung gefunden hat, die recht reichhaltig aus- 
gefallen ist, wenn man von einzelnen Anstalten leider auch nur recht spärliche 

Notizen vorfindet. Speziell für unser Gebiet ist wohl das wichtigste aus diesem 

zweiten Bande der Abschnitt »Beobachtungsstation und Erziehungsanstalt für psycho- 

pathische Fürsorgezöglinge« in Webers Aufsatz über die Göttinger Heil- und Pflege- 
anstalten. Besondere Beachtung verdienen auch die Aufsätze Camerers über die 

Entwicklung der Irrenfürsorge im Königreich Württemberg und ein Aufsatz über 

die Entwicklung des Irrenwesens in der Stadt Berlin. Der Band enthält endlich 

auch ein Sachregister und ein Autorenregister za beiden Bänden. Inwieweit diese 
vollständig sind, laßt sich natürlich schwer sagen. Es fiel uns nur auf, daß man 

im Sachregister z. B. das Stichwort Abstinenz (oder ein gleichbedeutendes) ganz ver- 

gebens sucht, obgleich gerade in diesem Punkte manche Angaben vorliegen, wie in 

dem Aufsatz Delbrücks über das St. Jürgenasyl in Ellen (Bremen). 


342 D. Literatur. 


Ausstattung und Bildermaterial verdienen das gleiche Lob wie die bisher er- 
schienenen anderen Bände des groß angelegten Werkes über die Anstaltsfürsorge 
für körperlich, geistig, sittlich und wirtschaftlich Schwache im Deutschen Reiche in 
Wort und Bild, als dessen VII. Abteilung dieses zweibändige Werk erschienen ist. 

Jena. Karl Wilker. 


Neter, Eugen, Das einzige Kind und der Kindergarten. 

Grünbaum, Rosa, Der Kindergarten, seine soziale und pädagogische 
Bedeutung. Schriften aus dem Fröbelseminar Mannheim, Heft 1. München, 
Ärztliche Rundschau (Otto Gmelin), 1912. 40 S. Preis 0,60 M. 

Unter den Kinderärzten nimmt sicher Neter die bedeutendste Rolle ein. Seine 
mannigfachen kleinen Abhandlungen und Schriften stützen sich auf eine reiche prak- 
tische Erfahrung. So auch diese! Er legt in ihr klar, wie der Kindergarten eine 
große erzieherische Bedeutung gewinnen kann für einzige Kinder dadurch, daß er 
den notwendigen Ersatz für die Miterziehung durch die Geschwister bietet, die für 
die ganze Entwicklung des Kindes unentbehrlich ist. Auch gesundheitlich bietet 
der Kindergarten einen großen Vorteil, indem er das Kind schützt vor der gefähr- 
lichen geistigen Überanstrengung, der es als einziges Kind nur allzu häufig aus- 
gesetzt ist. Die oft gefürchtete Infektionsgefahr soll man ruhig in Kauf nehmen 
gegenüber den Vorteilen, die der Besuch des Kindergartens für die gesamte Ent- 
wickluug und spätere Gesundheit des einzigen Kindes bietet. — In dem zweiten 
Aufsatz des Heftes versucht Rosa Grünbaum eine psychologische Würdigung der 
Bestrebungen Fröbels und ihrer praktischen Bedeutung für unsere heutige Zeit- 
Namentlich diese letztere ist ihr gut gelungen. Sie hält, wie schon öfter von zu- 
ständigen Autoren betont und gefordert wurde, die Einrichtung von Spezialkinder- 
gärten für schwachsinnige, taubstumme und blinde Kinder usw. für dringend not- 
wendig (namentlich in größeren Städten), ebenso die Schulkindergärten für zurück- 
gestellte Schulanfänger. 

Jena. Karl Wilker. 

Stritter, P., Seelsorge unter geistig Abnormen. Alsterdorfer Anstalten. 
Sonderabdruck. 14 S. 

Die kleine Arbeit sucht nach allen Seiten die Aufgabe des Seelsorgers der 
geistig Abnormen zu kennzeichnen. Das Verständnis für krankhafte geistige Ver- 
fassung ist für sie von größter Bedeutung. Dem Verfasser kommt für seine Arbeit 
seine reiche Erfahrung sehr zugunsten. 

Jena. Karl Wilker. 


Ziehen, Th., Die Erkennung der psychopathischen Konstitutionen 
(krankhaften seelischen Veranlagungen) und die öffentliche Fürsorge für psycho- 
pathisch veranlagte Kinder. Berlin, S. Karger, 1912. 34 S. Preis 80 Pf. 

Die kleine Schrift verlangt nachdrücklich, was auch in dieser Zeitschrift seit 
je gefordert wurde: die Einrichtung von Spezialanstalten (Heilerziehungsheimen) für 
psychopathische Kinder in der Art, wie die Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge 
eine solche in Templin (Mark) eingerichtet hat. Die Leitung müßte eine päda- 
gogische sein. Ein Psychiater sollte dem Pädagogen als Berater zur Seite stehen. 

Jena. Karl Wilker. 


Verantwortliche Schriftleitung für Abhandlungen und Mitteilungen: Dir. . Trüper, 
Sophienhöhe b. Jena; für Zeitschriftenschau und Literatur: Dr. Karl Wi ker, Jena, 
Weißenburgstraße 27. 


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Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge. 


Schriftleitung: Dr. jur. Fr. Duensing- Berlin. 


Ai a und Mitarbeiter des »Handbuchs für Jugendpflege« bieten 
die sichere Gewähr, daß wir es hier mit einer Erscheinung zu tun haben, die 
einer besonderen Anpreisung nicht bedarf. 

Das »Handbuch für Jugendpflege« ist auf 12 bis 15 Lieferungen zu E 
4 Bogen, Lexikonformat, berechnet. Der Preis der Lieferung beträgt 80 Pf. 
Nach Abschluß des Werkes tritt eine Erhöhung des Preises ein. 











Zu beziehen durch jede Buchhandlung. 









Tafel 1. 





















































Tafel II. 









__Maßkrug 

















7 Mädchen 











Pflaumen = Weißkraut 


l a i regnen WJI 
E Würfel 
ee aim Jaser 
perf- brauch s Piper 
i f getrunken 
2 


Verlag von Hermann Boyer & Söhne (Beyer & Mann) ın Langensalza. 





- Ge haben 


Tafel III. 




























































































£ 4 \ [94 \ V \ U 
ar MWA HM NIW 


Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann: in Langensalza. 


Tafel IV. 








guten 






















‚singen 








SEE RE — wir haben -- 
SIE MIT fang IR TIEA IT T IT 














ich mach ein Haus 









































ich tu husten 


ich mache eine Maus 


Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 


Tafel V. 


























































































































Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 


Tafel VI. 















































Kalk 








Tiegel 





= n ; Bücher 


Obsternte — Krij nay 












































Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Boyer & Mann) in Langensalza. 


Tafel VII. 


























H 
ILUSA 






























































guten Morgen 


[Y ade Mutter 





Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann» in Langensalza. 


Tafel VII. 



























































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ger eu = au g = sch 
Bu ‚4 5 A = - - 
RER? 7% Br 
a = ruf = red 
una d T a v 4 
= laut 



























































Vater Erden Korb Otto 
Vermengung aus 
S u. R. 
2 202 s * Vermengung aus 
= — Radi u. Rettig 
K MEN 2 Uhr — 7 Uhr 





Un. fobh RUY Uf YAm 


Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza 




























































































Tafel X. 


Nikolaus Nikolaus 























Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 





































































































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A. Abhandlungen. 


1. Ist für Schulneulinge im allgemeinen und für 
Hilfsschüler im besonderen Fraktur oder Antiqua 
zunächst geeignet? 

Nach einem Vortrag, auf dem IX. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands 
zu Bonn gehalten am 26. März 1913 
Kommerzienrat Friedrich Soennecken - Bonn. 

»Körper und Stimme leiht die Schrift 
dem stummen Gedanken, 

Durch der Jahrhunderte Strom trägt ihn 
das redende Blatt.« 

Mit diesen Worten weist Schiller hin auf den hohen kulturellen 
Wert der Schrift, die dadurch, daß sie noch nach Jahrhunderten, ja 
nach Jahrtausenden die Gedanken und Worte unverändert wiedergibt, 
eine gleich hohe Bedeutung erlangt wie die Sprache. 

Sprache und Schrift sind die Grundpfeiler des Geisteslebens eines 
Volkes, und in diesem Sinne ist die Frage nach der Schrift eine 
Kulturfrage. Ihre Lösung beschäftigt in Deutschland gegenwärtig mehr 
als je nicht allein die Vertreter der Schule, sondern auch in gleichem 
Grade weiteste Kreise unseres gesamten Volkes. 

Die meinen heutigen Ausführungen zugrunde liegende Frage, ob 
für Schulneulinge im allgemeinen und für Hilfsschüler im besonderen 
Fraktur oder Antiqua zunächst geeignet sei, hat daher neben der 
Schule auch für unser Land ein allgemeines Interesse. 

Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 23 





ABCDEF 
GHIJKLM 
NOPORS 
TUVWXYZ 
abcdef 
ghijklm 
nopqrs 
[UVWXYZ 


Soennecken: Fraktur oder Antiqua? 347 





Um für die sachliche Beurteilung dieser Schriftangelegenheit die 
ihrer Wichtigkeit entsprechende Grundlage zu schaffen, will ich zunächst 
versuchen, in großen Zügen und unter Weglassung alles Unbedeutenden 
und Nebensächlichen einen kurzen Überblick darüber zu geben, wie 
sich seit der Römerzeit die Schriftentwicklung bei uns vollzogen hat. 

Sowohl die Antiqua wie auch die Fraktur führen ihren Ursprung 
auf die alten lateinischen Großbuchstaben des Volksstammes der Latiner 
zurück. 

Die bekannte einfache klare Form dieser Schrift zeigt Abbildung 1. 


I 


Im Laufe der Jahrhunderte erlitten diese Buchstaben mehr oder 
weniger große Veränderungen, die ihre Deutlichkeit beeinträchtigten. 
Die erste derartige Veränderung 
bestand in der Verwendung von verkürzten, schreibgeläufigeren Formen 
einzelner Großbuchstaben als Kleinbuchstaben, die aber als die erste 
Entwicklungsstufe der lateinischen Schrift außerordentlich nützlich 

wurde. 

Die Abbildung 2 zeigt ein Beispiel dieser Schrift von einem 
Dokumente aus dem 6. Jahrhundert. Man nennt diese Schrift paläo- 
graphisch »Halbunziale«. 

Die zweite wesentliche Abweichung 
von der Urform der Schrift und die erste unbegründete Schädi- 
gung ihrer Deutlichkeit bildeten die im 11. und 12. Jahrhundert 
entstandenen romanischen Schriftformen (Abbildung 3). 

Diese Buchstaben, fast ausschließlich als Großbuchstaben benutzt, 
wurden meist nur als Initiale und zu Aufschriften auf Grabplatten, 
Votivtafeln und ähnlichen Inschriften verwendet. 


n. 


Die dritte und für unser deutsches Schriftwesen überaus 

folgenschwere Abweichung von der richtigen einfachen 

Schriftform und die erste wesentliche Veränderung ihres 

Gesamtbildes 
erfuhr die Schrift gegen Ende des 12. und Anfang des 13. Jahr- 
hunderts unter dem Einfluß des gotischen Baustils (Abbildung 4). Wie 
dieser damals aufblühende, von Frankreich ausgehende gotische Bau- 
stil mit seinem die Masse durchgeistigenden Prinzipe jede Kunstübung, 
die Skulptur sowohl, wie die Malerei, in seine Dienste zog, so fiel 
auch die Schrift in seinen Bann. — Jetzt, zum ersten Male, sollten 
23* 





bildung 2. 


SHRIBKLM 
NODONSHS 
VURYPS 


350 A. Abhandlungen. 





die Buchstaben mehr sein als Schrift: sie sollten Ornamente sein. Es 
wurde an den Buchstaben geändert, gebaut, die geraden Linien wurden 
dem nach oben strebenden Baustile entsprechend schlank gestaltet 
und mit zugespitzten Köpfchen und Füßchen versehen. Die Rundungen 
der Kleinbuchstaben wurden ganz entfernt und die nötigen Ver- 
bindungen der Buchstabenteile durch dünne, kaum sichtbare Striche 
notdürftig vermittelt. Die Großbuchstaben gestalteten sich all- 
mählich zu komplizierten Bildern, deren Bedeutung oft nur erraten 
werden konnte. Die wichtige Unterscheidung von dem kleinen n und 
u fiel fast ganz fort. 

So wurde der Zweck der Schrift, die Deutlichkeit, dem orna- 
mentalen Bedürfnis der Architektur geopfert. 

Um wieviel diese gotischen Formen von der richtigen Schriftform 
abweichen, zeigt ein Vergleich mit dem lateinischen Alphabet (Ab- 
bildung 1). 

II. 

In den folgenden zwei Jahrhunderten blieb in Deutschland die 
gotische Schrift wegen ihrer leichten Schreibbarkeit bei der Benutzung 
breitspitziger Federn fast ausschließlich im Gebrauche. 

Es ist erklärlich, daß die ohnehin schon zu Bildern gestalteten 
Großbuchstaben infolge schnelleren Schreibens immer komplizierter 
wurden und ganz willkürliche Formen annahmen, wie sie Ab- 
bildung 5 zeigt. 

Außer dieser Variation waren auch noch andere landesüblich und 
wurden von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis heute bei uns all- 
gemein für den Buchdruck verwendet. Wir kennen diese Schriften 
unter dem Namen »Fraktur«. 

Wie willkürlich und begründet ihre Formen sind, geht daraus 
hervor, daß die Buchstaben des großen und kleinen Alphabets der 
Fraktur aus nicht weniger als 66 in Form und Größe verschiedenen 
Grundzügen bestehen. 

Die Fraktur ist daher auch im Vergleiche mit der Antiqua wenig 
deutlich. 


IV. 

Neben der Fraktur benutzte man anfangs vielfach eine einfachere 
Schrift, die man mit dem Namen »Schwabacher Schrift« zu be- 
zeichnen pflegt. (Abbildung 6.) 

Doch auch diese einfachere Schriftform, die gleich der Gotik 
dem Schreibzuge entsprach, besteht aus nicht weniger verschiedenen 
Grundzügen als die Fraktur. 





aktur. 


ABCDEF 
SHTALM 


Abbildung 5. 


352 A. Abhandlungen. 


v 


Den Unterschied der Buchstaben des lateinischen Alphabets im 
Vergleich mit den gotischen und Fraktur-Buchstaben veranschaulichen 
die abgebildeten Schriftproben. 

Als der Buchdruck aufkam, benutzte man auch in den westlichen 
Nachbarländern allgemein solche Typen, die nach den geschriebenen, 
die sie ursprünglich vertreten sollten, geschnitten waren. 

Diese Länder erkannten aber bald die Unzweckmäßigkeit solcher 
Schrifttypen, gaben sie entschlossen auf und kehrten zu den einfachen 
vorgotischen Buchstaben, den lateinischen, zurück. 

Nur Deutschland hielt hartnäckig daran fest. Es stand ganz 
unter dem Einfluß der Nürnberger Schreibmeister Neudörffer, nach 
deren Zeichnungen die Schrifttypen geschnitten wurden, mit denen 
nach Campes Angaben von 1828 Leipzig z. B. 200 Jahre lang ver- 
sehen wurde. 

Die Leistungsfähigkeit gerade dieser Schreibmeister gegenüber 
ihren ausländischen Zeitgenossen war außerordentlich gering. 

Vielfach wird Albrecht Dürer als Mitschöpfer der Fraktur be- 
zeichnet. Diese irrige Vorstellung möchte ich beseitigen. 

»Dürer war weit entfernt von dem späteren Irrwahne, als seien 
diese altmodischen gotischen Lettern deutschen Ursprungs oder deut- 
schen Charakters«, wie sich Thausing ausdrückt. 


Auch Roßbergs komplizierte Versuche von 1806, die Fraktur 
und spitze Schreibschrift zu verbessern, waren vergebliche Be- 
mühungen. Die spitze Schrift konnte in Deutschland im Verlauf von 
drei Jahrhunderten nicht, oder doch nur fast unmerklich verbessert 
werden. — Dagegen hat sich die lateinische Schreibschrift während 
derselben Zeit zu größter Einfachheit, Deutlichkeit und Schönheit 
entwickelt. ` 

Die große Überlegenheit der Antiqua über die Fraktur wird 
übrigens auch von unseren deutschen Schreibmeistern vielfach an- 
anerkannt. So sagt z. B. Fugger in Nürnberg 1553: 

»Unter vilen und mancherley Schrifften finde ich keinen schönern 
und Herrlichern Literas, denn dise lateinischen Buchstaben. « 

Baurenfeind (1714) nennt die Antiqua »eine von den allerschönsten 
herrlichsten Schriften« und fügt hinzu: 

»Diese romanischen Literae übertreffen alle anderen Buchstaben 
und Schrifften weit und werden vor allen anderen am meisten ge- 
braucht.« 








ABCDEF 

GHIKEM 

NOPORS 
TUVWXYZ 


GHIGKLM 


NOPARG 
TUGLTY A 


354 A. Abhandlungen. 

Bezeichnend ist es, daß bis heute für die Beibehaltung der Fraktur 
kaum andere als sentimentale Gründe angeführt worden sind. Wer 
dabei die praktischen Gesichtspunkte im Auge behielt, empfahl ihre 
Verbesserung, und wer eine verbesserte Form geschaffen zu haben 
glaubte, tadelte alle früheren, wie z. B. einer unserer ersten rheini- 
schen Ornamentkünstler, der im vorigen Jahre über eine Art einfacher 
Frakturtypen Ungers mit folgenden Worten urteilt: 

»In ihrer Einzigkeit von außergewöhnlichem Reiz gibt sie doch 
die eigentliche Wesenheit der Fraktur, den mächtig pulsierenden 
Rhythmus sich hin und her bewegender Formkräfte auf und scheidet 
damit die entwicklungsfähigen Triebe aus.« 


VI. 

Gleichzeitig empfahl er seine eigene Fraktur, wie sie Abbildung 7 
zeigt. Man wird daran alles andere als eine Verbesserung der Fraktur 
erkennen. 

Ebenso verhält es sich mit den vielen anderen »neuen« Fraktur- 
Typen, die nun schon seit langer Zeit das Druckgewerbe Deutschlands 
bis zur Unerträglichkeit wirtschaftlich belasten. 


Wie die Fraktur, so ist auch die spitze Schreibschrift weder ver- 
besserungs-, noch verschönerungsfähig. Das habe ich in meiner Schrift 
»Das deutsche Schriftwesen und die Notwendigkeit seiner Reform« 
früher schon ausführlich nachgewiesen. Ich will hier nur kurz wieder- 
holen, daß wir in Deutschland in dem Übergange zur lateinischen 
Schrift ein ganzes Jahrhundert zurückgehalten worden sind durch eine 
bewußte oder unbewußte 

Fälschung der Schulvorschriften 
durch den geschickten Kalligraphen und Kupferstecher Heinrigs in 
Crefeld (1813). 

Bis vor 100 Jahren wurde die spitze Schrift nach Art der Rund- 
schrift mit breitspitziger Feder geschrieben. 

Dadurch erhielt die spitze Schrift ein steifes Aussehen, wie die 
Schriften damaliger Schreibmeister zeigen. 

Dieses unschöne Aussehen der Schrift genügte den Geschmacks- 
forderungen der fortgeschrittenen Kultur Deutschlands nicht mehr. 
Die Schrift sollte feiner, freier sein. 

Nun kannte Heinrigs von seinem Aufenthalte in London her die 
herrlichen englischen Muster der lateinischen Schrift, die mit spitzer 
Feder geschrieben wurden. — Ohne das zu bedenken, stellte Heinrigs 
die Schreibvorlagen so her, wie man sie wohl mit spitzem Stahl in 


Soennecken: Fraktur oder Antiqua? 355 





die Kupferplatte für den Druck eingravieren, nicht aber mit nur 
einer spitzen oder nur einer breitspitzigen Feder schreiben konnte. 
Die durch Heinrigs eingeführten Trugformen ließen auch im ver- 
flossenen Jahrhundert keinen nennenswerten Fortschritt zu. — Nur 
auf dem Gebiete der Zierschriften war im letzten Viertel des vorigen 
Jahrhunderts das Aufkommen einer leicht schreibbaren Zierschrift, der 
Rundschrift, als Neubelebung des Schreibens zu verzeichnen. 


In neuerer Zeit versuchte man, die vor 100 Jahren verworfene 
Schreibart unter dem Namen »Renaissance« wieder aufzufrischen. 
Diese für den Unterricht sowohl, wie für die Ausführung gleich 
schwierige Schrift wieder einzuführen, hieße die Pferde hinter den 
Wagen spannen. Eine Schrift mit gleich dicken Strichen, sowohl bei 
den geraden wie gebogenen Linien, entsteht nur dann, wenn die 
Schrift rückwärts liegt, wodurch sie dem schönen Aussehen widerstrebt. 


Und so kommt es, daß die allgemeine Unzufriedenheit über die 
Zustände in unserem deutschen Schriftwesen von Tag zu Tag größer 
wird. — Vor allem erstrebt man eine Neugestaltung des Schreib- 
unterrichts in Schulen. 

Man ist auch wohl der Meinung, daß die Erfolge des Schreib- 
unterrichts nach den bisherigen Methoden zurückgegangen seien, 
während das erforderliche Vielschreiben bei der minutiösen Gestaltung 
der meisten Kleinbuchstaben der spitzen Schrift die Ursache ihrer 
Undeutlichkeit ist. -— Es ist nicht wahrscheinlich, daß man mit einem 
Unterrichtsverfahren, das schon bei Schulneulingen nach künstlerischen 
Zielen strebt, Besseres erreicht. 

Bei dieser Art des Unterrichts soll der Schüler die Schrift, deren 
Form der Lehrer an der Tafel vorschreibt, nicht genau nachbilden, 
sondern ganz nach seiner freien individuellen Auffassung wiedergeben. 

Die sich bei jedem einzelnen Schüler naturgemäß zeigende Ab- 
weichung der Schrift soll dann, wie ein Wiener Kunstschriftlehrer 
und seine Anhänger empfehlen, als etwas »wertvoll Individuelles«, als 
»persönliche Schrift« des Schülers weitergepflegt werden. 

Daß die Schrift, deren Grundformen nun einmal feststehen wie 
die Zeichen der Ziffern und die Werte bei Münzen, Maßen und Ge- 
wichten, eine derartige Behandlung im Schulunterricht nicht zuläßt, 
liegt auf der Hand. — Die individuelle. oft nur zur Undeutlichkeit 
führende Verschiedenheit der Schrift stellt sich im späteren Leben 
ganz von selbst ein, und dann jedenfalls noch früh genug. 


356 A. Abhandlungen. 

Auch Frankreich, die Niederlande und England hatten früher 
eine spitze Schreibschrift, ein Beweis dafür, wie irrig es ist, die spitze 
Schreibschrift für spezifisch deutsch zu halten. 

Die Entwicklung der Schreibschrift hat, von Italien und Spanien 
ausgehend, ihren Weg nach Frankreich, den Niederlanden und England 
genommen. In England hat sie ihre höchste Ausbildung erhalten. Bei 
einem Vergleich der Schrift dieser Länder mit der Schrift in Deutsch- 
land wird man sich des Eindrucks nicht erwehren können, daß die 
deutschen Leistungen auf diesem Gebiete gegenüber denen der anderen 
Länder, namentlich Englands, weit zurückstehen und wir einer Neu- 
gestaltung unseres Schriftwesens sehr bedürftig sind. 

Auch aus dem Vergleiche der in Deutschland gebräuchlichen 
Druckschrift, der Fraktur, mit der Antiqua-Druckschrift der anderen 
Länder ergibt sich, daß die Antiqua mit ihren bestimmten, klaren 
Formen einfach und deutlich ist, die Fraktur dagegen mit ihren will- 
kürlichen Formen kompliziert und undeutlich. 

Die Deutlichkeit oder Undeutlichkeit darf indes nicht nach dem 
Urteil Erwachsener bemessen werden, die bekanntlich nicht die ein- 
zelnen Buchstaben, sondern ganze Wortbilder lesen. Ihnen wird die- 
jenige Schrift am deutlichsten vorkommen, die sie zu lesen gewohnt 
sind. Anders ist es bei den Schulneulingen und besonders bei den 
Hilfsschülern. Diese müssen selbstverständlich zunächst jeden ein- 
zelnen Buchstaben von den anderen unterscheiden lernen, bevor sie 
auch nur erst Silben lesen können. Wie schwer es den Kindern 
wird, in der Frakturschrift die Buchstaben fehlerfrei zu unterscheiden, 
weiß gewiß jeder von Ihnen aus eigener Erfahrung zu beurteilen. 
Eine Prüfung der Fraktur, wie sie auf Wand-Lesetafeln und in Lese- 
fibeln vorkommt, wird das bestätigen. 


Weil also die Antiqua im Vergleich mit der Fraktur die ein- 
fachere und deutlichere Schrift ist, muß der erste Unterricht mit der 
Antiqua beginnen nach dem alten pädagogischen Grundsatze: Vom 
Einfachen zum Zusammengesetzten, vom Leichteren zum Schwereren. 

Daß neben diesen methodischen Gründen auch psychologische 
für den ersten Unterricht in einfachster Schrift sprechen, brauche ich 
wohl vor einem so ausgezeichneten Kreise maßgebender Sachver- 
ständiger nicht näher auszuführen. 

Nur auf die hygienische Begründung möchte ich noch kurz ein- 
gehen. 

Kommt für den ersten Schreib- und Leseunterricht ein Alphabet 
mit seinen Nebenalphabeten in Wegfall, so wird dadurch eine Ver- 


Soennecken: Fraktur oder Antiqua? 357 





minderung der gesamten Naharbeit der Schulneulinge herbeigeführt 
und der Überbürdung entgegengetreten. 

Vor allem aber sind beim ersten Schreib- und Leseunterricht in 
Fraktur die vielen kleinen und kleinsten Unterscheidungsmerkmale 
der Buchstaben für den Geist der Schulneulinge sehr anstrengend bei 
derZAuffassung der Form. Und je mehr Verwechslungen unter den 
Frakturbuchstaben möglich sind, desto mehr geistige Arbeit ist nötig, 
desto mehr werden Auge und Hirn belastet. 

Nun wissen wir aber, daß bei anstrengender geistiger Arbeit 
unsere A-B-C-Schützen mit dem ganzen Körper arbeiten. Die ver- 
schnörkelten und vielfach zum Verwechseln ähnlichen Frakturbuch- 
staben zwingen aber die Kinder zu einem genaueren Hinsehen als bei 
der Antiqua, und bei diesem Fixieren nähern sie sich mit den Augen 
dem Schreibhefte oder der Fibel in übertriebener Weise, so daß das 
Kind eine gesundheitsschädliche Körperhaltung einnimmt, die ganz be- 
sonders für die Augen von Nachteil ist. 

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich also, daß für den ersten 
Unterricht im Schreiben und Lesen die Verwendung der Antiqua 
pädagogisch und hygienisch das Naturgemäße ist. 


Es fragt sich nun, wie der Schreib- und Leseunterricht überhaupt 
am zweckmäßigsten einzurichten ist. 

Praktische Vorschläge dafür habe ich in meiner erwähnten Schrift 
über das deutsche Schriftwesen schon früher (1881) mit folgenden 
Worten angekündigt: 

»Deutschland hat es bisher nicht an der Anregung, wohl aber 
an der Kraft und Ausdauer gefehlt, sich seiner verdorbenen Schrift- 
zeichen zu entledigen. Zum großen Teile liegt die Ursache an dem 
Mangel ausreichender praktischer Vorschläge für die Bewerkstelligung 
des Übergangs. Wenn wir auch den Übergang zur lateinischen 
Schrift in der festen Überzeugung anbahnen, daß wir gegen unsere 
altgewohnten Schriftzeichen bessere eintauschen, dann sollten wir 
den Übergang doch nicht vollziehen, indem wir einfach die schema- 
tische Art und Weise nachahmen, in welcher der Unterricht im 
Lesen und Schreiben der lateinischen Schrift bei uns sowohl wie 
im Auslande bisher meist betrieben wurde, sondern wir sollten, da 
uns noch keine Gewohnheit bindet, diese Fundamental- Unterrichts- 
fächer nach logischem System selbständig einrichten, wenn wir da- 
durch Besseres schneller und leichter erreichen. Der Gegenstand 
ist wichtig genug, um ihm endlich eine wissenschaftliche Grundlage 


358 A. Abhandlungen. 





zu geben. Dies zu versuchen, ist Gegenstand einer neuen Arbeit, 
die ich demnächst veröffentlichen werde.« 





Dieser von mir angekündigte Versuch einer wissenschaftlichen 
Gestaltung des Schreib- und Leseunterrichts ist hervorgegangen aus 
der Erfahrung mit meiner Rundschrift-Methode, der bekanntlich ganz 
einfache Begriffe zugrunde liegen. Ein gerader Strich und ein Halb- 
kreis, beide in vier verschiedenen Größen, sind die Elemente, aus 
denen die Rundschrift entsteht. 











Abbildung 8. 


Diese bis dahin ganz neue Art der Schriftbildung steht in krassem 
Gegensatze zu der äußerlichen, systemlosen und verwirrenden Dar- 
stellung der Schrift aus dem 16., 18. und dem Anfange des 19. Jahr- 
hunderts. 


Nach demselben Grundprinzip des Aufbaues der Buchstabenformen 
aus ganz bestimmten einzelnen Teilen und nach einheitlicher be- 
stimmter Regel, konstruierte ich ein neues System für die Antiqua. 


Soennecken: Fraktur oder Antiqua? 359 

Alle Buchstaben des großen und kleinen Alphabets, sowie die 

Ziffern, werden aus nur wenigen Zeichen, einem geraden Striche 

in 4 Größen und einem Halb- und Viertelkreise, gebildet und ent- 

stehen mit nicht zu übertreffender Anschaulichkeit, wie Abbildung}8 
zeigt. 

In gleicher Weise entstehen alle andern Zeichen in gesetzmäßiger 
Form. 


VI. 

Dem Schriftsystem habe ich ein bestimmtes Größenverhältnis der 
Buchstaben zugrunde gelegt, und zwar für die Ausdehnung des 
Buchstabenbildes den Raum von zwei übereinanderstehenden Qua- 
draten. Die Kleinbuchstaben nehmen zwei Drittel dieses Raumes ein. 
Die vorstehende Abbildung veranschaulicht diese Verhältnisse. Die hier- 
nach gebildeten Buchstaben ergeben ihre »Normalform«. 


Die Erfahrung beim Unterricht hat gezeigt, daß die Schüler be- 
geistert davon sind, wenn sie die Buchstaben so entstehen sehen, wie 
Abbildung 8 zeigt. Begierig verlangen Sie darnach, sie auf ihrer 
Tafel aus den losen Einzelteilen oder in ihrem Hefte schreibend auf 
gleiche Art zu bilden. Das eben ist der Zweck des Schriftsystems, 
eine klare Vorstellung von der Form der Buchstaben und ihrem Auf- 
bau zu ermöglichen, damit das Kind lernt, die Schrift selbstschöpferisch, 
wie bei der Beschäftigung mit dem Baukasten, hervorzubringen. Da- 
durch haftet die richtige Form der Buchstaben nicht nur leichter im 
Gedächtnis des Kindes, sondern es wird auch die Freude am Schreiben 
gesteigert. 

Diese kindliche Schaffensfreude zeigt sich besonders bei der Dar- 
stellung der Buchstaben mittels der losen Einzelteile. 

Keine andere Schrift ist zu derartiger manueller Beschäftigung 
unserer jüngsten Schüler so vorzüglich geeignet wie die Antiqua, 
Ihre einfachen Formen lassen sich ohne irgendwelche Schwierigkeit 
spielend nachbilden. 

Viel manuelle Betätigung macht die Lese- und Schreibstunden 
ganz besonders anregend und erfreuend. Die Aufmerksamkeit der 
Kinder wird andauernder, und auf weniger mühevollem Wege gelangen 
die Kleinen zur genauen Unterscheidung der Buchstaben. 

Für den Leseunterricht kamen bisher Lesekästen diesem Bedürfnis 
entgegen. Diese Kästen sind so eingerichtet, daß die einzelnen Buch- 
staben ganz gegeben werden, aus denen das Kind Silben und Wörter 
zusammenlegt. — Es dürfte aber pädagogisch wertvoller sein, bei Be- 


360 A. Abhandlungen. 





nutzung von derartigen Kästen noch mehr geistige Tätigkeit für das 
Kind anzustreben. Das kann erzielt werden, wenn man nicht die 
ganzen Buchstaben, sondern nur die Grundformen der Schrift im 
Schreibkasten bietet, aus denen die Kinder die einzelnen Buchstaben 
erst bauen müssen. 

Ein solcher Schreibkasten würde das Verständnis der Kinder für 
die Buchstabenformen ganz hervorragend unterstützen und das An- 
eignen der Vorstellung der Buchstaben wesentlich erleichtern. 

Die Buchstaben selbst aus ihren Elementen in leicht verständ- 
licher Weise einzeln aufzubauen, dazu sind die verschnörkelten und 
komplizierten Formen der Fraktur nicht geeignet, wohl aber die in 
ihrer Einfachheit geradezu verblüffenden Buchstaben der Antiqua. 

Das Verständnis für die Buchstabenformen kann also durch den 
Werkunterricht mit bestem Erfolge vorbereitet werden, wenn im 
Schreib- und Leseunterricht Antiqua verwendet wird. 


Welcher methodische Weg nun bei dem Erlernen der Antiqua 
im ersten Schreib- und Leseunterricht einzuschlagen ist, zeigt ihr 
natürlicher geschichtlicher Entwicklungsgang. 

Der Unterricht soll mit den Großbuchstaben beginnen, weil sie 
die einfachste Form haben und dem praktischen Bedürfnis am meisten 
entsprechen. 

Denn gerade die Großbuchstaben der Antiqua treten dem Kinde 
im Leben auf Schritt und Tritt zuerst entgegen, sie sind auch durch- 
weg so überaus einfach, daß sie an das Auffassungsvermögen der 
Schüler die geringsten Anforderungen stellen. — Je einfacher aber 
die Buchstaben der ersten Schrift sind, um so besser für das Kind. 

Die Erfahrung lehrt, daß wir einfache, in ihrer Zusammensetzung 
leicht übersehbare Formen ohne Mühe auffassen und behalten. Ein- 
fachheit ist aber kein Vorzug der Fraktur. Man bedenke bloß, daß 
selbst Erwachsene trotz ihrer täglichen Beschäftigung mit dem Lesen 
der Fraktur nicht imstande sind, sich von der Form irgendwelcher 
Frakturgroßbuchstaben eine richtige Vorstellung zu machen und sie 
aus dem Gedächtnis nachzubilden. Die Großbuchstaben der Antiqua 
dagegen kann schon ein Kind aus dem Gedächtnis schreiben. 


Nach dem Erlernen der Großbuchstaben werden die lateinischen 
Kleinbuchstaben geübt, und zwar nicht als ein neues Alphabet 
aus neuen Formen, sondern nur als das, was sie wirklich sind, näm- 
lich verkürzte und vereinfachte Formen der Großbuchstaben. 


Soennecken: Fraktur oder Antiqua? 361 





Viele Kleinbuchstaben der Antiqua haben ganz dieselbe Form 
wie die Großbuchstaben. Bei der Fraktur dagegen gibt es kaum einen 
Kleinbuchstaben, der mit dem betreffenden Großbuchstaben überein- 
stimmt. 

Es leuchtet ein, daß durch eine solche weitgehende Übereinstim- 
mung zwischen Groß- und Kleinbuchstaben der Antiqua dem Kinde 
das Lernen ganz außerordentlich erleichtert wird. 


VII. 

Als dritte Stufe der Vorübung für die Schreibschrift gilt die 
Übung der schrägen Druckschrift. Denn die Schreibschrift entsteht, 
wenn man die schräge Druckschrift in geläufigem Federzuge und die 
Buchstaben eines Wortes zusammenhängend schreibt. 


WIR LERNEN SCHREIBEN U. LESEN 
Wir lernen schreiben und lesen 


Wir lernen schreiben und lesen 


Das Kind wird daher in der Schreibschrift die Urform der Druck- 
schrift erkennen und ihr vom ersten geschriebenen Buchstaben an 
nicht fremd gegenüberstehen, was dem Unterricht wesentlich nützt. 

Die Durchsichtigkeit der Antiqua in bezug auf den inneren organi- 
schen Zusammenhang zwischen Druck- und Schreibschrift und die 
daraus mit Notwendigkeit sich ergebende stufenmäßige Behandlung 
im Unterricht zeigt die vorstehende Übersicht (Abbildung 9), wie sie 
meiner neuen Schreibmethode zugrunde liegt. !) 


1) Siehe Soenneckens Vorübungshefte zur lateinischen Schreibschrift. 
Folge A: Für Schulneulinge und Hilfsschüler. Heft 1 bis 5. 
Folge B: Für das dritte oder vierte Schuljahr. Heft B 1/3. 4. 5. 

Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 24 


362 A. Abhandlungen. 





Es ist ein großer pädagogischer Vorteil, daß das Kind vom ersten 
geraden Striche an, den es in der Schule macht, bis zur fertigen 
Schreibschrift den engen natürlichen Zusammenhang aller Übungs- 
formen in der Schrift erkennt. Es braucht den Kopf nicht anzu- 
strengen für das Behalten der zahlreichen einzelnen Buchstabenbilder 
wie bei der Fraktur und kann seine Gedanken anderen, nützlicheren 
Dingen zuwenden. 

Solch logische Schreibmethode ist mit der Fraktur nicht aufzu- 
stellen, denn sie entbehrt der erkennbaren Verwandtschaft der Schreib- 
schrift mit der Druckschrift. 





Abgesehen von der manuellen Betätigung durch den Gebrauch 
der losen Schriftelemente des Schreibkastens, wird in Volksschulen die 
Schrift, die das geläufige Schreiben vorbereitet, durch das Schreib- 
zeichnen ausgeführt. Zu diesen Übungen werden in den Heften am 
besten Federn benutzt, die ohne Druckanwendung gleichmäßig dicke 
Striche hervorbringen und keine Haarstriche schreiben. 

Was nun die Vordrucke in den Heften anbetrifft, so sind sie 
vom pädagogischen Standpunkte aus nicht zu entbehren, für Hilfs- 
schulen aber erst recht nicht. 

Dem Kinde fällt es leichter, die Schrift nachzuschreiben, wenn 
es den Vordruck im Hefte in natürlicher Größe selbst vor sich sieht, 
als wenn es die Wandtafel-Vorschriften in verkleinertem Maßstabe ins 
Heft übertragen muß. 

Ferner sind die Vordrucke in den Heften in klarster Form und 
richtiger ausgeführt, als man sie groß in richtigem Ausmaß ihrer Ver- 
hältnisse freihändig mit Kreide auf die Wandtafel schreiben kann. 

Weiter sind die Vordrucke für kurzsichtige Kinder, deren Zahl 
leider nicht gering ist, unentbehrlich. In den Vordrucken haben die 
Kinder auch außerhalb der Schule eine mustergültige Schrift, die da- 
durch nicht mehr ein Geheimnis der Schulstube bleibt. 

Sind nun gar in den Schreibheften neben den ganzen Buch- 
staben auch deren Teile, neben den großen die entsprechenden kleinen 
Buchstaben vorgedruckt, so erlangen diese Vordrucke eine höhere 
methodische Bedeutung dadurch, daß Anschauen, Denken und 
Üben als Fundamentalsätze alles Unterrichts vereinigt sind. 

Durch eine solche Bewertung der Vordrucke kann von einem 
mechanischen Abschreiben durchaus nicht die Rede sein, die Arbeit 
des schreibenden Schülers erhält vielmehr eine geistige Vertiefung. 

Sprechen solch zwingende Gründe für die Verwendung der Antiqua 
im ersten Schreibunterricht, so ist die nächste logische Folgerung 


Soennecken: Fraktur oder Antiqua? 363 





die Forderung von solchen Fibeln für den ersten Leseunterricht, die 
mit der Antiqua beginnen. 

Diese Forderung an sich ist nicht neu. Der uralte Ruf nach 
Rückkehr zu der lateinischen Schrift, die andere Völker schon seit 
langem vollzogen haben, bestimmte schon frühere Pädagogen, mit 
den Schulanfängern von vornherein mit Antiqua zu beginnen. 

Haben sich aber in früheren Jahren immer nur einzelne Ver- 
treter von Antiquafibeln gefunden, so ist seit den letzten Jahren das 
Verlangen nach solchen schon allgemeiner geworden infolge ein- 
gehender Berücksichtigung des Werdeganges unserer Schrift, der mit 
Naturnotwendigkeit darauf hinweist, in den Schulen mit Antiqua zu 
beginnen, und zwar sowohl für das Schreiben wie auch für das 
Lesen. 

Doch nicht nur für die Volksschule im allgemeinen, sondern 
auch schon für die Hilfsschulen im besonderen hat man Lateinschrift- 
fibeln herausgegeben. Aber wie die Volksschule, so wartet auch die 
Hilfsschule auf eine die weitesten Kreise befriedigende Lösung der 
Fibelfrage. 

Für den ersten Leseunterricht ist also die Benutzung von Fibeln, 
die mit Antiqua beginnen, unerläßlich. 

Die Einführung der Antiqua für den ersten Unterricht ist also 
eine sowohl pädagogisch, wie hygienisch und kulturell durchaus be- 
gründete und berechtigte Forderung. 

Seit dem Jahre 1881 bereits bin ich nach eigenen Lehrversuchen 
in einer Elementarschule in Remscheid im Jahre 1876 und nach um- 
fassenden Studien der Schriftentwicklung in den hauptsächlichsten 
Kulturländern für die Einführung der lateinischen Schrift im ersten 
Unterricht eingetreten, wie es viele vor und nach mir getan haben. 

Die vom Preußischen Unterrichts-Ministerium im Jahre 1876 ein- 
berufene orthographische Konferenz erklärte mit 10 gegen 4 Stimmen, 

»daß der Übergang von dem deutschen zu dem von den meisten 
Kulturvölkern angewendeten lateinischen Alphabet sich empfehle.« 

Bis heute ist dieser Beschluß noch nicht zur Ausführung ge- 

kommen. 


24* 


364 A. Abhandlungen. 


2. Pubertät und Schule. 


Von 
Dr. Rob. Tschudi, Basel. 


Wer in einer städtischen Volksschule als Klassenlehrer dieselben 
Schülerinnen durch die oberen Klassen (5.—8. Schuljahr) führt, kann 
die Beobachtung machen, daß im 7. Schuljahre die Mädchen sich ver- 
ändern in bezug auf Leistungen und Betragen. Beide, Leistungen 
und Betragen, werden schlechter. 

Diese Veränderungen haben ihre Ursache in einer Umwandlung, 
die sich im Körper des Mädchens vollzieht; sie sind physiologischen 
Ursprungs, begründet in der Pubertät. 

Im Nachfolgenden soll gezeigt werden, wie der Eintritt der 
Pubertät sich in einer Mädchenklasse einer städtischen Volksschule 
äußert, und wie dadurch Lern- und Erziehungserfolg erschwert, ja sogar 
verringert werden. 

In erster Linie beobachtet der Lehrer, daß in diesen Zeitraum 
ein stärkeres Längenwachstum fällt. Die durchschnittliche Jahres- 
zunahme beträgt, wie aus folgender Zusammenstellung hervorgeht, 
7 bis 8cm, im vorhergehenden Jahre 4 bis 5 cm, im darauffolgenden 
sogar nur 2 bis 3 cm. 


Alter Basel Zürich Berlin 
11—12 = 5. Schuljahr 137,55 cm 137,1 cm 135,7 cm 
12—13 = ô. a5 141,00 .„, 140,0 „ 140,8 „ 
13—14 =7. Br 148,26 „ 1484 „ 1481 „ 
14—15=8. m 150,14 , 1503 „ 150,5 


Ähnlich verhält es sich mit der Gewichtszunahme. Diese er- 
reicht ebenfalls im 7. Schuljahre ein Maximum mit 5 bis 7 kg. (Vergl. 
Zusammenstellung 2.)!) 


Alter Basel Zürich Berlin; 
11—12 = 5. Schuljahr 31,97 kg 31,3 kg 30,3 kg 
12—13 = ô. 5 36,18 .. 32,4 „ 34,4 „ 
13—14 — 17. k 41,61 „ 39,0 „ 393 „ 
14—15—=8. hs 44,40 „ 413 „ 431 „ 


Dieses Größerwerden ist begleitet von einer Umwandlung der 
kindlichen Organe in die Erwachsener. Es spielt sich in diesem und 


1) Über die körperliche Entwicklung des Schulkindes vergl.: Ernst Höschel, 
Das Schulkind in seiner körperlichen Entwicklung Leipzig, O. Nemnich. — Rob. 
Tschudi, Sozialpäd. Studie. Heft IV. Schweiz. päd. Zeitschrift, 1907. 


Tschudi: Pubertät und Schule. 365 


in den nächstfolgenden Jahren die Entwicklung zur Geschlechtsreife 
ab; die Geschlechtsorgane erlangen ihre Funktionsfähigkeit. Sodann 
macht das Gehirn eine wichtige Entwicklung durch; die feineren 
Elemente desselben, namentlich die Fasern der Hinrinde, nehmen be- 
deutend zu. Und endlich werden die Stoffwechselvorgänge andere. 

Bei den wenigsten Mädchen vollziehen sich diese anatomischen 
und physiologischen Veränderungen ohne Störungen. Beinahe alle 
klagen über allgemeine Müdigkeit, Kopfweh, eigentümliches Stechen 
über einem Auge, über Schwindelanfälle, Bauchschmerzen, Krämpfe 
und Brechreiz und über unruhigen, traumreichen Schlaf. 

Daß durch solche körperliche Schmerzgefühle die Lern- 
freude und Aufnahmefähigkeit und somit auch der Lernerfolg. ver- 
ringert werden, ist einleuchtend. 

Noch stärker aber werden die Unterrichtserfolge beeinflußt durch 
die seelischen Veränderungen, welche der Eintritt der Pubertät 
hervorruft. Es stellen sich namentlich Gefühlsstörungen ein und in- 
folgedessen allerlei Charakterunarten. 

Die Mädchen werden unruhiger und vorlaut. Sie sind zu ein- 
fältigem Lachen, zum Schwatzen und zu Neckereien aufgelegt. Sie 
sind sehr empfindlich, schnell traurig und zum Weinen geneigt, gereizt, 
unverträglich und händelsüchtig, schnell zornig und machen einen 
Steckkopf, oder sie haben gar Wutanfälle. Sie zeigen am Unterrichte 
keine Freude mehr, sie sind gleichgültig und apathisch, haben dafür 
oft einen Hang zum Lügen und Verleumden, zum Schwatzen unsitt- 
licher Reden, zum Gehen mit Knaben. Oder sie sind in sich gekehrt 
und verschlossen, träumerisch oder schwärmerisch, schließen unter 
sich innige Freundschaften, schreiben einander heiße Liebesbriefe oder 
fangen an zu dichten. Wieder andere sind schüchtern und ängstlich, 
so daß sie sich kaum zu antworten getrauen, ja werden, wenn sie 
allein sind, von beängstigenden Zwangsvorstellungen geplagt. 

Zu diesen Gefühls- und Charakterstörungen gesellen sich noch 
hinzu: Gedächtnisschwäche und eine Art Assoziationsstörung. Viele 
Mädchen sind, trotz angestrengtester Aufmerksamkeit, nicht mehr im- 
stande etwas Vorerzähltes oder eine Rechenaufgabe zu wiederholen. 
Oder wenn sie etwas auswendig gelernt haben, ist das Gelernte ihrem 
Gedächtnis bald wieder entschwunden. Sie fangen auch an, eigen- 
tümliche Orthographiefehler zu machen, Verstöße gegen die richtige 
Lautfolge z. B. Voleg statt Vogel usw. Selbst bei Schülerinnen, die 
in den mittleren Klassen der Volksschule fehlerfrei geschrieben, 
schleichen sich mit eintretender Pubertät solche Schreibfehler ein. Es 
sind das nicht gewöhnliche Flüchtigkeitsfehler, sondern diese Ver- 





366 A. Abhandlungen. 





schreibungen sind, ähnlich den auch öfters vorkommenden Ver- 
sprechungen, Assoziationsstörungen.!) 

Selbstverständlich treten nicht alle diese Erscheinungen beim 
einzelnen Kinde auf. Aber jedes Mädchen zeigt gegenüber früher 
eine andere psychische Verfassung und im Klassenverbande sind so- 
zusagen alle genannten Gemüts-, Gedächtnis- und Assoziationsstörungen 
und die daraus resultierenden Unarten wahrzunehmen. 

So mannigfach die psychischen Erscheinungen des Pubertätsalters 
aber sind, so verschiedenartig die Mädchen sich auch zeigen, so lassen 
sie sich doch in wenige Gruppen ordnen. Beinahe bei jedem tritt 
nämlich eine Eigenschaft stärker hervor und gibt ihm ein charakte- 
ristisches, typisches Verhalten, so daß wir geradezu von Pubertäts- 
typen sprechen können. Wenn wir die moralisch Defekten aus- 
scheiden, so können wir folgende 4 Typen erkennen: 

l. Den apathischen Typus; 

2. den ängstlichen Typus; 

3. den träumerischen Typus; 

4. den gereizten, zornigen Typus. 

Im Nachfolgenden werde ich das Charakteristische dieser Typen 
angeben auf Grund meiner Beobachtungen während der Unterrichts- 
zeit und auf Grund der Schilderungen, welche die Mädchen über sich 
selbst in freien Aufsätzchen gegeben haben. 

Die Aufsätze wurden unter meiner Aufsicht in der Schule an- 
gefertigt. Damit die Schülerinnen klar wußten, um was es sich handelte, 
wurde ihnen ungefähr folgendes gesagt: »Ihr habt schon manchmal 
gehört, daß ich zu einem Mädchen die Bemerkung gemacht habe, du 
hast dich ganz verändert, du bist nicht mehr wie früher. Gewiß ist 
dies eueren Eltern und Euch selbst auch schon aufgefallen.e Die 
Kinder bejahten dies und ich fuhr weiter: »Der Lehrer sollte nun 
die Veränderungen einer jeden Schülerin kennen, damit er weiß, wie 
er jede zu behandeln hat. Denn jedes Kind ist, wie ihr auch schon 
bemerkt habt, etwas anders geartet und demnach auch anders zu be- 
handeln. Ihr macht mir daher ein Aufsätzchen: ‚Wie ich mich ver- 
ändert habe.‘ Ihr dürft ruhig alles schreiben, die Arbeiten bekommt 
niemand anders zu sehen als ich. Sie werden nicht ins Reinheft 
geschrieben. « 

Den Aufsätzchen lag folgende Disposition zugrunde: 

a) Veränderungen in bezug auf den Körper (Schmerzen, Schlaf, 

Träume). 


1) Vergl. hierüber: R. Egenberger, Psychische Fehlleistungen. Diese Zeit- 
schrift. 18. Jahrg. Heft 3 ff. 


Tschudi: Pubertät und Schule. 367 





b) Veränderungen in bezug auf Fleiß in Schule und Haus. 
c) Veränderungen in bezug auf Betragen in Schule und Haus 
(Empfindlichkeit, Zorn usw.). 
d) Sonstige Veränderungen, die ich an mir wahrgenommen. 
Über jeden Punkt wurde ein besonderes Aufsätzchen angefertigt. 
Die Arbeiten der Schülerinnen waren für mich sehr lehrreich. 
Sie ließen mich einen Blick tun tief in das kindliche Seelenleben. 
Sie gaben mir wertvolle Aufschlüsse über das eigentümliche Verhalten 
mancher Schülerin. Sie vervollständigten mir das Bild, welches ich 
mir nach meinen Beobachtungen über den psychischen Zustand eines 
jeden Kindes gemacht haite, und ließen die genannten Typen besser 
unterscheiden und charakterisieren. 


1. Der apathische Typus. 


Die Apathischen verhalten sich dem Unterrichte gegenüber teil- 
nahmslos. Sie zeigen am Lernen, ja selbst am Spiel und Turnen 
keine rechte Freude mehr. Tadel läßt sie kalt; es sind die verstockten 
Sünder. 

Die Teilnahmslosigkeit erstreckt sich entweder nur auf einige, 
meistens aber auf alle Unterrichtsgegenstände. »Seit einiger Zeit ist 
mir in der Schule alles gleich. Jetzt scheint es mir, ich werde wieder 
ein bißchen fleißiger. Ich freue mich auf das Rechnen,« schrieb eine 
Schülerin. Eine andere: »Früher lernte ich immer sehr gern. Das 
ist jetzt nicht mehr der Fall. Aufsätze schreiben, das tue ich noch 
gern, auch Singen.«e Und eine Dritte: »In der Schule bin ich seit 
einiger Zeit weniger fleißig. Ich lerne zwar, aber ich habe am Lernen 
gar keine Freude mehr.« Dafür zeigen die Kinder, welche dem Unter- 
richte kein Interesse mehr entgegenbringen, um so größere Lust an 
den häuslichen Arbeiten. Doch fehlt es auch nicht an solchen, welche 
den Schul- und Hausarbeiten gegenüber sich teilnahmslos verhalten. 
»An der Schule habe ich keine Freude mehr und auch zu Hause bin 
ich sehr gleichgültig. Wenn meine Mutter mich etwas heißt, so 
mache ich die Arbeit nur zur Hälfte.« 

Der apathische Gefühlszustand kann durch die Witterung be- 
einflußt, durch Regen- besonders aber Föhnwetter verstärkt werden. 
So berichtet eine Schülerin von sich: »Vor dem neuen Schuljahre ver- 
richtete ich jede Arbeit mit großer Freude. Jetzt ist es anders. So- 
bald ich etwas arbeite, werde ich mürrisch. Ich brauche zur Arbeit 
viel mehr Zeit als früher und mache sie ohne Lust und Freude. Auf 
Fragen meiner Mutter oder anderer Leute mag ich gar keine Antwort 
geben. Früher war es das Gegenteil. Auch in der Schule ver- 


368 A. Abhandlungen. 


minderte sich mein Fleiß. Namentlich wenn es regnerisch ist, mag 
ich nicht lernen. Bei solchem Wetter wäre ich am liebsten ganz 
allein.« 

Der apathische Typus scheint Neigung zu haben in den moralisch 
defekten überzugehen. So erfuhr ich von einigen Schülerinnen, die 
ich zu den apathischen zähle, daß sie unsittliche Reden führten und 
mit Knaben herumzogen. Das ist leicht erklärlich. An der Schule 
haben diese Mädchen keine Freude mehr, an den häuslichen Arbeiten 
auch nicht. Da stellt sich bei ihnen eine Gefühlsleere ein. Und da 
sie in der Zeit des Erwachens geschlechtlicher Regungen stehen, in 
der aus den Genitalorganen dem Gehirne zahlreiche neue Reize zu- 
strömen, kann leicht die Gedankenwelt sich auf jene Organe kon- 
zentrieren. 

Das Erwachen des Geschlechtstriebes gibt sich anfänglich als ein 
unbestimmtes Sehnen kund. »Früher war ich immer fröhlich, jetzt 
nur selten. Ich habe Sehnsucht nach etwas und weiß nicht wonach. 
schrieb eine 13 jährige Schülerin. Stärker machte sich der Geschlechts- 
trieb schon geltend bei einem andern Mädchen, das von sich aussagte: 
»Jetzt sehe ich die Knaben so gerne. Lacht mir einer zu, so habe 
ich die größte Freude.« Dieses unterhielt auch längere Zeit ein Ver- 
hältnis mit einem ältern Knaben. Täglich hatte es mit ihm geheime 
Zusammenkünfte. 


2. Der ängstliche Typus. 

Hierzu gehören die Kinder, welche sich kaum zu antworten ge- 
trauen. Wenn sie aufgerufen werden, zeigen sie einen ängstlichen 
Ausdruck auf ihrem Gesichte. Sie reden mit zitternder Stimme, stoßen 
gerne an und versprechen sich. Oft bringen sie lange kein Wort 
heraus, obwohl sie die Antwort wissen. Es tritt eine gewisse Hemmung, 
eine unrichtige Innervation, in den Sprachwerkzeugen ein, die erst 
nach geraumer Zeit verschwindet. Wir sehen, wie das Kind mit dem 
Ausdruck ringt, wie sich die Spannung dann plötzlich löst und die 
Antwort herausgeschleudert wird. Bei dieser Art des Antwortens 
gerät dann gerne der Satzbau aus den Fugen und die Satzbildung 
wieder ins Stocken. 

Bei andern dagegen versagt plötzlich das Gedächtnis. So er- 
zählte mir eine Schülerin, daß sie vor und nach dem Religionsunter- 
richte das Lied gut hersagen konnte. Wie sie aber während desselben 
zum Aufsagen aufgefordert wurde, kein Wort herausbrachte Eine 
andere schrieb: »Wie die Stunde zu Ende war und ich beten sollte, 
wußte ich nur die paar ersten Zeilen, obwohl ich vor der Unterrichts- 


Tschudi: Pubertät und Schule. 369 








stunde das Gebet gut konnte. Der Herr Pfarrer sagte mir dasselbe 
ein paarmal vor, aber ich brachte vor Angst kein Wort heraus.« Und 
eine Dritte sagte von sich aus: »Wie mich jemand ruft oder wie 
mich der Lehrer etwas frägt, steigt mir das Blut in den Kopf und 
ich weiß gar nichts mehr.« 

Die Ängstlichkeit steigert sich bei einzelnen in eine krankhafte 
Furcht, die oft mit Zwangsvorstellungen verbunden ist. So schrieb 
eine Schülerin: »Ich habe jetzt viel mehr Angst als früher. Kommt 
ein Mann auf dem Trottoir, auf dem ich gehe, so laufe ich schnell 
auf das andere. Ich gehe auch nie allein auf den Abort, es muß 
immer jemand mit mir kommen. Auch schlafe ich nicht ohne Licht.« 

Eine andere Schülerin berichtet folgendes: »In letzter Zeit, alle 
Abend, wenn ich in das dunkle Schlafzimmer gehe, kommt mir eine 
Hexe entgegen und will mich fassen. Ich schlage dann auf sie los 
und sie geht ein Stück zurück. Sie kommt auch, wenn ich im Bette 
liege und neckt mich immer. Dann gehe ich unter die Decke. Sie 
ist eine kleine, dicke Gestalt, hat lange Arme und magere Hände. Sie 
streckt die Arme weit aus. Jeden Abend, wenn ich in das Zimmer 
trete, kommt sie vom Schranke her. Sie geht erst gegen den Morgen 
wieder fort.« Eine weitere Schülerin wird beständig von einem Gespenst 
verfolgt. »Wenn ich in ein dunkles Zimmer gehe oder im Bette bin, 
sehe ich ein Gespenst. Es kommt von der Türe her. Es ist ein 
Mann, bei welchem man nur das Gesicht und die Finger sieht. Die 
Augen streckt er aus dem Kopfe wie ein Verrückter. Er zeigt die 
großen Roßzähne. Die Finger spreizt er, soweit er kann, auseinander. 
Er kommt ganz langsam auf mich zu. Wenn ich mich gegen die 
Wand drehe, so ist er an der Wand. Beständig steht er mir vor den 
Augen. Gegen den Morgen verschwindet er.« 


3. Der träumerische Typus. 

Die Kinder dieser Gruppe sitzen meistens still und ruhig da. Es 
sind diejenigen, welche mit ihren Gedanken anderswo weilen. Wenn 
ihre Aufmerksamkeit nicht auf einen Unterrichtsgegenstand konzentriert 
wird, machen sie eigentümliche Gedankengänge. Sie denken in die 
Zukunft und bauen Luftschlösser. Eine solche Träumerin schrieb: 
»Manchmal habe ich ganz sonderliche Gedanken. Ich bilde mir ein, 
ich würde einmal in ein Schloß gehen und mit einem Könige heiraten. 
Ich würde aber meine Mitschülerinnen nicht vergessen, ich würde 
allen etwas Gutes tun. Ich ließe ein Armenhaus bauen und alle 
Armen pflegen. Zuerst aber würde ich meine Mutter, meinen Vater 
und meine Geschwister in das Schloß nehmen.« Ziehen wir in Be- 


370 A. Abhandlungen. 


tracht, daß dieses Mädchen, obwohl schon 13 Jahre alt, noch Bett- 
und Hosennässerin ist und daß es in letzter Zeit häufig auf der Straße 
an den Glocken der Häuser läutet, so ist obige Träumerei mehr als 
ein leeres Gedankenspiel. 

Die Mädchen, die diesem Typus angehören, sind meistens zärtlich 
und pflegen gerne innige Freundschaften. Eng umschlungen gehen 
sie zu zweien oder dreien in den Pausen und nach der Schule. 

Ihre Freundschaft kann sich in leidenschaftliche Liebe steigern. 
So beobachtete ich zwei Mädchen, die sich im Schulhofe küßten und 
durch Zufall erfuhr ich, daß sie einander Briefe schrieben. Ich bekam 
einige zu lesen und war erstaunt ob der Leidenschaft, die darin zum 
Ausdruck kam. Ich lasse hier zwei dieser Brieflein folgen. Sie kenn- 
zeichnen am ;besten die ungesunde Gefühlslage dieser -13 jährigen 
Mädchen. 

»L. J. O, wie unendlich groß ist meine Liebe zu Dir! Wie 
glücklich fühle ich mich, Dich Freundin zu nennen! Unsere Freund- 
schaft soll ewiglich bestehen; wir wollen unzertrennliche Freundinnen 
sein und bleiben. Uns soll der Tod nur scheiden! 


»Gedenke nah, gedenke fern, 
Gedenke meiner oft und gern! 
Gedenke auch an meinem Grabe, 
Wie sehr ich Dich geliebet habe.« 


Es grüßt und küßt Dich Deine Dich heißliebende Freundin: K, L.« 


Sobald J. in den Pausen einmal mit einem andern Mädchen ging 
und redete, wurde K. eifersüchtig, zog sich traurig, oft weinend in 
eine Ecke zurück und fühlte sich verstoßen, wie folgendes Brieflein 
beweist: 

»L. J. Eine andere hat nun meinen Platz eingenommen. 
L. J. nenust Du das nicht verstoßen? Ich hatte Dich so lieb und 
wollte Dir eine gute Freundin sein und Du hast mich lieblos ver- 
stoßen. Das tat mir sehr weh, daß Du mir schriebst, ich liebe 
Dich nicht mehr. L. J. O, wie glücklich hast Du mich gemacht! 
Als Du mir gestern Nachmittag einen Kuß gabst, da fühlte ich, 
daß Du micht liebst. Ich danke Dir dafür, daß Du mir dieses Glück 
gegönnt hast. Ich will die Hoffnung nicht verlieren und wenn ich 
sie mit ins Grab nehmen muß. L. J. Wenn Du mich denn heiß 
liebst, warum verstoßest mich denn? Nicht wahr, Du bleibst mir 
freundlich gesinnt und ich bin Dir sehr dankbar dafür. Ich grüße 
Dich herzlich, besonders empfange innigsten Kuß von Deiner ver- 
lassenen .. K.« 


Tschudi: Pubertät und Schule. 371 





Bei einer andern Schülerin zeigte sich schwärmerische Liebe zu 
ihrer Sonntagsschullehrerin. Die Schwärmerei äußerte sich darin, daß 
das Mädchen das Fräulein in Gedichten besang. Wenn auch diese 
Gedichte viel Anlehnung an bekannte enthalten, so verraten sie doch 
eine Leichtigkeit in der Beherrschung von Form und Sprache, also 
eine gewisse poetische Veranlagung, die mit der Pubertät zum Aus- 
druck gekommen ist. Hier eine Probe: 

»Die Stunde naht, die Zeit bricht an, Doch ach, es ist mein Liebling nicht, 
Geschwind nun aus dem Haus! Lebt wohl! Es ist die Schwester meiner Sonnen. 
Rasch um die Eck! Hier ist das Ziel! Nur mutig vorwärts! Zage nicht! 


Seh’ ich mein Alles heute wohl? Auch Frieda, Frieda wird noch kommen. 
Die ersten Leute sind vorbei Und sieh’! Ich habe recht gedacht. 
Wann wird sie wohl erscheinen? In weiter Ferne taucht sie auf. 

Doch seh’ ich recht, sie kommt, sie kommt! Ich hab’ mich auf den Weg gemacht 
Mit Freuden will ich zu ihr eilen. Und springe eilends an ihr auf.« 


L. A. geb. 21. V. 1899. 
Noch besser scheint das Nachstehende geraten zu sein: 


»Zwei goldne Augen leuchten Und würden einst diese erlöschen, 
Als Stern’ an meinem Himmel. Zerbrechen, wie Glas zerbricht, 
Was sind mir Stern und Sonnen Wenn die zwei Augen glänzen, 
Was der andern Sterne Gewimmel? Verlang ich den Schimmer nicht. 
Und würden die ewig leuchten So glänzet denn hienieden, 

In wunderschöner Pracht, Glänzt in mein Herz hinein 
Wenn die zwei Augen fehlen, Dann finde ich den Frieden 

Ist's um mich dunkle Nacht. Auf dieser Welt allein.« 


L. A. geb. 21. V. 1899. 
Bei andern träumerischen Mädchen tritt Neigung zur Melancholie 
auf. »Früher war ich immer fröhlich, jetzt bin ich schier alle Tage 
traurig. Ich weiß selbst nicht warum. Besonders wenn ich nachts 
in das Bett gehe, überfällt mich eine große Traurigkeit; ich muß dann 
immer an den Vater denken.« So schreibt ein Mädchen, das be- 
ständig von dem Gedanken geplagt wird, sein Vater könnte sterben. 
Eine andre Schülerin sagt von sich aus: »Vor etwa einem halben 
Jahre wohnte ich einem Konzerte bei. Da sang eine Sängerin eine 
Reihe von Molltönen. Seither muß ich immer, wenn ich allein bin, 
diese Töne singen. Dann wird mir ganz schaurig zu Mute und ich 
sehe mich auf Gräbern.« 


4. Der gereizte, zornige Typus. 
Die Mädchen, welche zu diesem Typus gehören, sind sehr empfind- 
lich und gereizt. Gegen Mitschülerinnen sind sie oft unverträglich 
und händelsüchtig. Eine harmlose Neckerei kann sie in Zorn bringen. 


372 A. Abhandlungen. 





Während die Ängstlichen und die Träumer auf Tadel des Lehrers in 
Weinen ausbrechen, geraten diese in Wut, werden störrisch und 
machen einen Steckkopf. »Ich bin gleich aufgeregt. Wenn man mich 
nur ein wenig barsch anredet, so gerate ich in solchen Zorn, daß ich 
manchmal ganze Nächte daran herumstudiere und nicht schlafen kann. 
Solches muß mir nur in der Schule passieren. Auch zu Hause geht 
es mir nicht anders. Ich suchte schon manchmal diesen Zorn zu 
dämmen, aber ich kann es einfach nicht. Von dieser raschen und 
starken Aufregung wußte ich früher nichts.« 

Eine andere Schülerin schrieb: »Sobald der Lehrer in der Schule 
mit mir schimpft, mache ich einen Kopf, obgleich ich es nachher 
bereue. Wenn ich in das Reinheft schreiben muß und ich meine, 
ich hätte schön geschrieben, der Lehrer mir dann aber Note drei 
macht, so gerate ich in eine solche Wut, daß ich das Heft am liebsten 
zerreißen möchte. Ich muß dann immer an das drei denken und 
kann lange nicht mehr arbeiten.« Diese Schülerin hatte auch einmal 
in der Schule einen Wutanfall. Als die Zeugnisse ausgeteilt wurden 
und sie gesehen, daß sie in Ordnung und Reinlichkeit Note zwei 
hatte, geriet sie in Zorn und machte einen Steckkopf. Als dann ein 
Mädchen meinte, sie werde diese Note wohl verdient haben, sprang 
sie, wie außer sich, auf dasselbe los und wollte es schlagen und ver- 
kratzen. Nur mit Mühe konnte ich diese Schülerin beruhigen. 

Wenn sich Zorn und Wut gelegt haben, folgt bei diesen Mädchen 
eine Depression, die um so länger anhält, je heftiger die Erregung 
war. »Ich bin nachher traurig und das geht mir den ganzen Tag 
nach. Dann kann ich hinsitzen und ein ganz trauriges Gesicht 
machen,« schrieb die erstere von diesen beiden Schülerinnen weiter. 
Eine andere sagte: »Früher war ich nicht so empfindlich, nicht so ge- 
reizt und auch nicht so schnell böse. Jetzt hat man mich bald be- 
leidigt. Dann verberge ich mich irgendwo oder schließe mich gar in 
ein Zimmer ein. Man kann mich dann nicht gar bald fröhlich machen.« 

* * 
* 

Wir sehen: Die Pubertät bedingt tiefgreifende psychische Ver- 
änderungen. Sie ruft namentlich Gefühls-, dann aber auch Gedächtnis- 
und Intelligenzstörungen hervor. Eigenschaften, die tief im Innern 
geschlummert, kommen jetzt zum Vorschein und geben dem Kinde ein 
charakteristisches, typisches Verhalten. Es war uns möglich, die 
Mädchen nach der am deutlichsten hervortretenden Eigenschaft in 
Typen zu ordnen. In bezug auf den Stärkegrad, mit dem die charakte- 
ristische Eigenschaft auftritt, läßt sich in jedem Typus eine Steigerung 
wahrnehmen. 


Tschudi: Pubertät und Schule. 373 








Die Apathie erstreckt sich entweder nur auf die Schul- oder nur 
auf die Hausarbeiten oder dann auf beide. Der Mangel an Freude 
an körperlicher und geistiger Betätigung kann auch einen Ausfall an 
ethischen Gefühlen hervorrufen und zu einer unsittlichen Denkrichtung 
und Handlungsweise führen. 

Die Ängstlichkeit kann sich so steigern, daß unrichtige Inner- 
vationen der Sprachwerkzeuge, Gedächtnisstörungen oder gar krank- 
hafte Furcht, begleitet mit Zwangsvorstellungen, auftreten. 

Die Träumerei, die mit einem zärtlichen Wesen verbunden ist, 
kann sich in heiße Liebe und Schwärmerei oder aber zur Melancholie 
steigern. 

Die Gereiztheit kann zu Zorn und Wut führen, die ihre Ent- 
ladung in Wutanfällen findet. 

Ob und wieweit die wahrgenommenen Gefühlsstörungen als krank- 
haft zu bezeichnen sind, hängt von der Stärke und Dauer derselben ab.) 

Meine Beobachtungen haben mich gelehrt, daß in einer städti- 
_ schen Mädchen-Volksschule die Zahl derjenigen, deren Störungen eine 
solche Stärke erreichen, daß sie krankhaft genannt werden müssen, 
größer ist, als gemeinhin angenommen wird. Gewiß wird, wenn die 
Schule nicht besser als bis anhin Rücksicht auf die Pubertät nimmt, 
die Zahl der an nervösen Erkrankungen leidenden Frauen zunehmen. 
Nach einer Arbeit von Dr. med. W. Maier,?) Dozent an der Universität 
Zürich und Arzt an der Irrenanstalt Burghölzli-Zürich, ist ja auch 
in den letzten Jahren die Zahl der Geistes- und Gemütskranken in 
erheblichem Maße gestiegen. Ob die Schule an dieser Zunahme nicht 
auch mit Schuld trägt? 

Es gibt eben eine Reihe von Psychopathen ohne Intelligenzdefekte 
oder wenigstens ohne solche, daß sie der Hilfsschule oder den Spezial- 
klassen zugewiesen werden müßten, eine Menge von Kindern, die eine 
solche Reizbarkeit des Nervensystems zeigen, daß sie an der Grenze 
zwischen normal und anormal stehen. Solche Kinder können, wenn 
ihnen die Schule (und das Elternhaus) nicht die nötige Schonung zu- 
kommen läßt, leicht dauernden Schaden nehmen. Vorübergehende 
Störungen können bleibende werden. 


1) Ein gutes Hilfsmittel, diese richtig einschätzen zu lernen, bildet Heft 67 
der Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung: Hermann, Grundlagen für 
das Verständnis krankhafter Seelenzustände beim Kinde. 2. Aufl. Langensalza, 
Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1911. 

2 Dr. W. Maier, Die Verhütung geistiger Störungen. Schweiz. Blätter für 
Schulgesundheitspflege. Jg. 11, Nr. 2 (Februar 1913), S. 23—27; Nr. 3 (März 
1913), S. 39—42. 


374 A. Abhandlungen. 





Es ist daher ungemein wichtig, daß der Erzieher mit der Psycho- 
logie und der Psychopathologie des Pubertätsalters bekannt gemacht 
werde. Je besser er die psychische Verfassung eines Kindes kennt, 
desto bessere Unterrichtserfolge wird er erzielen, ohne dessen Gesund- 
heit zu gefährden. Je mehr sich der Lehrer in das Studium der 
Seele im Pubertätsalter vertieft, um so mehr wird er einsehen, daß 
wir es in diesem Lebensabschnitt mit Seelenzuständen zu tun haben, 
die an das Krankhafte grenzen, wenn sie nicht schon krankhaft sind. 
Der Volksschullehrer muß in gewissem Sinne Heilpädagoge sein und 
werden. Er muß es in der Beurteilung des Seelenzustandes der ihm 
anvertrauten Schüler zu einer gewissen Meisterschaft bringen. Er soll 
erkennen, ob in einem bestimmten Falle eine kindliche, hemmungs- 
fähige Ungezogenheit, oder aber eine außerhalb des Willens befind- 
liche, krankhafte Äußerung vorliegt. 

Nur dann kann er die erzieherischen Maßnahmen richtig treffen 
und nur dann kann seine Arbeit von Erfolg begleitet sein. 


3. Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der 
Testmethode. 
Von 
Franz Weigl, München-Harlaching. 

Die Untersuchung der Intelligenz von Kindern, wie sie nach 
mannigfachen Methoden von der experimentellen Psychologie neuer- 
dings vorgenommen wurde, ist insbesondere auch für die Hilfsschulen 
und die Anstalten für geistig mangelhafte Kinder von Bedeutung. 
Wir haben uns in der Münchener Arbeitsgemeinschaft für experi- 
mentell-pädagogische Forschung der dortigen katholischen päda- 
gogischen Vereine mehrfach mit diesen Untersuchungen befaßt, zu- 
nächst bei einzelnen normalen Kindern, dann in ganzen Klassen der 
Volksschule. Als Leiter der Arbeitsgemeinschaft war ich besonders 
daran interessiert, den Wert dieser Aufnahmen auch bei Hilfs- 
schülern zu erproben, nachdem unter den Lehrkräften der Normal- 
schule die Methoden starke Anerkennung gefunden hatten. 

Ich untersuchte deshalb die sämtlichen Schüler und Schülerinnen 
der Hilfsschule an der Silberhornstraße in München, an der 
ich wirke, auf den Grundlagen der Testserien nach der Binetschen 
Methode. Der Leiter der Schule, Oberlehrer Lesch gab hierzu be- 
reitwilligst in dankenswerter Weise die Genehmigung und die Kollegen 
der Schule, die Herren Huber in Klasse I, Graf in Klasse III und 
Pschorn in Klasse IV, unterstützten mich namentlich bei der proto- 


Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. 375 





kollarischen Aufnahme der Schüleraussagen in tatkräftigster Weise, 
für die ich dankbar bin. Unser übereinstimmendes Urteil über den 
Wert der Aufnahmen für die korrekte Beurteilung des Schülermaterials 
ist nicht zuletzt der Anlaß dafür, daß im folgenden über die Unter- 
suchung eingehender berichtet wird. 

Um den Bericht vollständig zu machen, seien die verschiedenen 
psychologischen Methoden der Intelligenzprüfung zunächst kurz ge- 
schildert und mit einer kritischen Prüfung auf ihre Brauchbarkeit in 
der Hilfsschule bezw. für Hilfsschüler versehen. 


I. Die psychologischen Untersuchungsmethoden für Fest- 
stellung der Intelligenz. 


Die Formulierung der Kapitelüberschrift deutet schon an, daß 
wir hier die Untersuchungen, wie sie namentlich von Bayerthal in 
Worms mit Kopfmessungen unter Bezugnahme auf intellektuelle 
Wertung vorgenommen wurden, außer Betracht lassen. Damit soll 
kein Urteil über jene Methode ausgesprochen sein. Wir glauben nur, 
daß dem Lehrer die psychologischen Untersuchungsmethoden näher 
liegen, namentlich wenn sie eine spezifisch-pädagogische Orientierung 
besitzen oder zulassen und sich möglichst dem gewohnten Umgang 
von Lehrer und Schüler anpassen. 

Solche Methoden sind in den letzten Jahren von der experimen- 
tellen Psychologie dem Pädagogen mehrfach an die Hand gegeben 
worden, die er mit mehr oder weniger großen Variationen schulmäßig 
gebrauchen kann. 

Während ursprünglich alle Untersuchungen z. B. der Reaktions- 
zeit, der Sinneswahrnehmung, der Auffassungs- und Assoziationsfähig- 
keit gelegentlich auch auf die Intelligenz bezogen wurden, versuchte 
man bei eingehenderer Beschäftigung mit dem Intelligenzproblem ihrem 
Wesen nahe zu kommen, zunächst, indem man die Kombinationsfähig- 
keit ins Auge faßte. 

Von diesem Standpunkt aus hat Ebbinghaus im 13. Band der 
von ihm herausgegebenen »Zeitschrift für Psychologie »Über eine 
neue Methode zur Prüfung geistiger Fähigkeiten und ihre Anwendung 
bei Schulkindern« (S. 401 ff.) berichtet. Die Methode besteht im 
wesentlichen darin, daß fehlende Silben in Texten, die den Schülern 
gedruckt vorgelegt werden, zu ergänzen sind. Zwei Beispiele für 
reifere und jüngere Schüler gibt Ebbinghaus S. 458 an: 


376 A. Abhandlungen. 





Obere Klassen. 
Belagerung Colbergs 1807. 

Gleich des näch - Tages stellte sich - neue Kommandant, Major von Gneisenau, 
der Gar -- als ihren jetzigen Anf -- vor, und d -- Feierl -- begleitete er - einer 
A ---, die so - rucksvoll und rü - war, wie wenn ein g -- Vater mit sei - lieben 
-- spräche. Alles - auch da - dergestalt ersch --, daß die -- bär -- Krieger - wie 


Kinder w -- und mit schluchzender -- ausr --: sie wollten mit - für K -- und 
Va -- leben und - ben. Darauf machte - sie - den Grunds -- bekannt, nach -- 
er - befehligen --, wessen sie - von ihm zu vers - - hätten und was er von -- 
erw --. Usw. 


Untere Klassen. 
Gullivers Reisen. 

Nach langer Wand -- in dem fremden Lande fühlte ich - so schwach, daß 
ich -- Ohn - nahe war. Bis - Tode - mattet s - ich ins Gras nieder und - bald 
ein, fester als -- mals in -- Leben. Als ich er --, war der Tag längst -- brochen; 
die S -- strahlen schienen - ganz unerträglich ins - -, da ich auf - Rücken -. Ich 
wollte auf --, aber sonderbarerweise konnte ich - Glied rühren; ich f -- mich wie 
- lähmt. Verwundert bl - - ich um mich, da entdeckte -, daß -- Arme und B --, 
ja selbst meine damals sehr l -- und dicken Haare mit Schnüren und Bind - - an 
Pflöcke -- stigt waren, welche fest in der Erde --. Usw. 


Die Verrechnung beschreibt er S. 423 ff. so: Bei der Kombi- 
nationsmethode wurde zunächst dreierlei gezählt: erstens die Zahl der 
überhaupt ausgefüllten Silben, zweitens die Zahl der dabei über- 
sprungenen Silben, drittens die Zahl der sinnwidrig ausgefüllten Silben, 
sowie die Verstöße gegen die vorgeschriebene Silbenzahl. Diese drei 
Werte wurden dann in folgender Weise gegeneinander aufgerechnet. 
Jede übersprungene Silbe wurde als halber Fehler gezählt. Denn ließe 
man sie einfach unberücksichtigt (was bei der Zählung der aus- 
gefüllten Silben selbstverständlich bereits geschah), so kämen diejenigen 
Schüler zu gut weg, die mit der Übergehung der eigentlichen Schwierig- 
keiten sich die ganz leichten Kombinationen heraussuchten und von 
diesen nun natürlich eine größere Anzahl fertig stellten. Jede sinn- 
widrig ausgefüllte Silbe dagegen und ebenso jeder Verstoß gegen die 
vorgeschriebene Silbenzahl eines Wortes zählte als ganzer Fehler. 
Dann wurde die Gesamtsumme der Fehler von der Bruttozahl der 
ausgefüllten Silben in Abzug gebracht und der so erhaltene Wert als 
Maß für das Quantum der richtig geleisteten Arbeit betrachte. Von 
einer verschiedenen Bewertung der Sinnfehler je nach dem Grade der 
Sinnwidrigkeit wurde abgesehen. Die Sache wäre zu kompliziert ge- 
worden; außerdem mußte bei dem großen Schülermaterial, das Ebbing- 
haus zur Verfügung stand, ein Hilfsarbeiter zur Bewältigung der 
Resultate herangezogen werden, und so konnten nur Regeln aufgestellt 
werden, deren Anwendung von individuellem Ermessen ganz un- 
abhängig ist. 


Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. 377 





Zur Verwertung dieses Tests bei der Intelligenzprüfung im all- 
gemeinen ist zu sagen, daß er wohl als wertvoll anzuerkennen ist. In 
der Fähigkeit des Schülers die fehlende Lücke auszufüllen, kommt 
sicher eine intellektuelle Leistung zum Ausdruck. Die Intelligenz 
dürfte aber in dieser Kombinationsgabe nicht erschöpft sein, und so 
stellt sich der Gedanke ein, dieses Prüfungsmittel wohl bei der Fest- 
stellung der Intelligenz beizuziehen, aber nicht ausschließlich ent- 
scheiden zu lassen. 

Gegen die ausschließliche Anwendung dieses Tests bei Schwach- 
sinnigen kommt aber noch ein weiterer Gesichtspunkt mit in Betracht. 
Bei dieser Prüfung wird zum guten Teil die sprachliche Gewandtheit 
und Ausdrucksfähigkeit des Prüflings ausschlaggebend. Bei den 
Schwachsinnigen ist diese besonders gering und so würden wir an 
einem Teilsymptom die ganze Anlage messen, wodurch irreführende 
Schlüsse nicht zu vermeiden wären. 

Ähnliches gilt von der durch Meumann für die Intelligenzprüfung 
stark betonten Masselonschen Probe. Auf dem I. Deutschen Kon- 
greß für Jugendbildung und Jugendkunde in Dresden!) und ausführ- 
licher in der »Zeitschrift für pädagogische Psychologie und experimen- 
telle Pädagogik« (1912, Nr. 3) berichtete er über seine Methode. Sie 
besteht darin, daß zwei oder mehrere Wörter, aus denen der Schüler 
Sätze bilden soll, so gewählt werden, daß zwar mehrere Beziehungen 
zwischen ihnen hergestellt werden können, daß aber eine ganz be- 
stimmte Beziehung die beste Lösung darstellt. Meumann gibt an, es 
zeige sich dabei im allgemeinen, daß die intelligenteren Schüler die 
determinierte Beziehung wählen, während die unintelligenten die un- 
bestimmtere, weniger determinierte oder eine rein sprachliche, häufig 
ganz sinnlose Verbindung der Worte wählen. Als Beispiele führt er 
an: es werden die Worte gegeben: Katze — Schläge. Ein unintelli- 
gentes Kind schreibt: Die Katze bekommt Schläge. Das intelligente 
Kind überlegt sich, daß die Katze doch nicht immer Schläge bekommt, 
sondern daß ein Grund oder ein Anlaß dazu gegeben werden muß, 
es schreibt daher z. B.: Die Katze bekommt Schläge, wenn sie ge- 
nascht hat. Oder es werden die Worte gegeben: Himmel — rot. Ein 
unintelligentes Kind schreibe: Der Himmel ist rot. Ein intelligentes 
dagegen: der Himmel ist rot des Abends und des Morgens, wenn die 
Sonne tief am Himmel steht und durch den Dunst scheint. Noch 
deutlicher würden die Unterschiede der Intelligenz hervortreten, wenn 
man mehrere Worte nach gegebenen Gesichtspunkten zusammenstellt. 


1) Vergl. den bei Teubner erschienenen Bericht. II. Teil. Leipzig 1912. 
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 25 


378 A. Abhandlungen. 





Es wurden z. B. die Worte diktiert: Baumwolle, Wolle, Seide. Ein 
unintelligentes Kind habe geschrieben: Aus Baumwolle macht man 
Wolle, aus Wolle macht man Seide. Ein intelligentes Kind schreibe: 
Baumwolle, Wolle und Seide sind Stoffe, aus denen man Kleider macht. 

Gerade der täglich in der Schule stehende Lehrer muß diesen 
Versuchen gegenüber schwere Bedenken aussprechen, wie ich sie 
auch mehrfach zum Ausdruck gebracht habe. 

Zum ersten prüft Meumann mit seiner Methode nicht das intelli- 
gente und unintelligente Kind; jeder Praktiker hat wohl die Erfahrung 
gemacht, daß auch ein intelligentes Kind sich bei Lösung der obigen 
Aufgaben mit den Sätzen: »die Katze bekommt Schläge« oder »der 
Himmel ist rot« zufrieden geben würde. Es spielt hier zu viel die 
momentane Laune des Kindes, seine Aufmerksamkeit, sein Interesse 
an der Arbeit mit herein, selbst wenn das Kind die Aufgabe erhielt, 
die Sache so gut als möglich zu machen. 

Zum zweiten ist zu bedenken, daß das, was Meumann hier prüft 
zum großen Teil Kenntnisse sind. Es kommt dabei in Frage, ob 
der Schüler zufällig schon einmal davon hörte oder nicht, ob er diese 
Verbindungen durch ein reges häusliches Leben oder in vorausgehenden 
Schulklassen schon einmal hörte, oder ob er sie erst neu herstellen 
muß, was im einzelnen Fall nicht nachkontrolliert werden kann. Wer 
die vielen Beispiele durchsieht, die Meumann in der erwähnten aus- 
führlichen Darstellung gibt, wird in der Überzeugung bestärkt, daß 
hier sehr viel Wissen des Kindes und weniger Intelligenz ge- 
prüft wird. 

Ich habe dafür auch Belege gesammelt in Aufnahmen bei 501 
zehn- bis vierzehnjährigen Schülerinnen von Volksschulklassen und 
höheren Mädchenschulen. Mit der größten von Meumann geforderten 
Sorgfalt und nach seiner Instruktion, wie sie sich in dem oben er- 
wähnten Aufsatz findet, wurden die Wortpaare bezw. -gruppen zur 
Bearbeitung gegeben. Es zeigte sich, daß sowohl das Wissen tat- 
sächlich von großem Einfluß war, wie auch Übereinstimmung von 
Intelligenz und Leistung vielfach nicht zutraf. Es ist hier nicht der 
Ort auf das ganze Material einzugehen, nur so viel sei angeführt, daß 
z. B. von den 52 Schülerinnen einer Volksschulklasse, denen u. a. die 
Begriffe Soldat — Vaterland zur Verbindung gegeben waren, 
folgende Leistungen erzielt wurden, die wir hier mit ihrer Anlagen- 
note vergleichen: 

Anlagennote: I I, II ID, IV 
Zahl der Schülerinnen mit richtiger Lösung 3 1 17 4 2 
a 5 „ falscher a 1 — 2 2 = 


Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. 379 








Es haben also sehr mangelhaft veranlagte Mädchen ebenso gute 
Lösungen erzielt wie intelligente und umgekehrt gut beanlagte schlechte. 
Noch deutlicher tritt namentlich letzterer Gesichtspunkt bei folgenden 
Beispielen der gleichen Klasse hervor: 


Anlagennote: I I, HI II, IV 

Begriffspaar: Tanne — Winter. 

richtige Lösung . . . 21 1 15 3 1 

falsche 5 maha aS — 4 3 1 
Begriffspaar: Elektrische Bahn — Zeit. 

richtige Lösung . . . 18 -— 10 4 1 

falsche 3 E N.i 1 9 2 a 
Begriffspaar: Trinken — Armut. 

richtige Lösung . . . 21 1 13 4 1 

falsche s no pag — 6 2 1 


Für Hilfsschüler hat sich die Methode vollends als unbrauch- 
bar erwiesen. Sie verstehen meist nicht, was sie mit den beiden 
Worten anfangen sollen, und wagen sich gar nicht an die Satzbildung 
infolge der sprachlichen Mangelhaftigkeit, wenn ihnen vielleicht auch 
die Gedankenverbindung vorschwebt. In der unten näher zu be- 
schreibenden Untersuchung war dieser Test, eingeordnet in eine Serie 
anderer Prüfungsmittel, aufgenommen, das Resultat war außerordent- 
lich überzeugend für die geringen Erfolge, die damit zu erzielen sind. 

Auf der Basis dieses Versuches, der gedanklichen Inbeziehung- 
Setzung mehrerer Begriffe, beruhen auch die in Frankfurt aus- 
geführten Aufnahmen, über welche Georg Ries im 56. Band der 
»Zeitschrift für Psychologie« von Ebbinghaus (Leipzig 1910, S. 321 ff.) 
unter dem Titel »Beiträge zur Methodik der Intelligenzprüfung« be- 
richtet hat. Seine Methoden »beruhen auf der größeren oder ge- 
ringeren Fähigkeit verschiedener Personen, zwischen 2 gegebenen Be- 
griffen eine Denkbeziehung herzustellen«e. In dem ersten Versuch 
wurden folgende Wortpaare verwendet (S. 323): 


Hunger — Ohnmacht, Tauwetter — Hochwasser, Unglück — Entsetzen, Licht 
— Helligkeit, Bewegung — Müdigkeit, Kampf — Sieg, Glück — Freude, Reibung — 
Wärme, Menschenmenge — Lärm, Stoß — Schmerz, Flucht — Rettung, Kälte — Eis, 
Feind — Haß, Tod — Trauer, Faulheit — Unwissenheit, Feuer — Hitze, Güte — 
Dankbarkeit, Anstrengung — Erfolg, Kraft — Anziehung, Fleiß — Lob, Schlag — 
Ton, Frömmigkeit — Vertrauen, Befehl — Gehorsam, Nahrung — Gesundheit, Schön- 
heit — Bewunderung, Sünde — Strafe, Beleidigung — Ärger, Fäulnis — Geruch, Er- 
oberung — Beute, Stärke — Mut, Hilfe — Rettung, Betrug — Entdeckung, Ver- 
letzung — Klage, Wohltat — Undank, Staat — Schutz, Verlust — Armut, Gefahr — 
Untergang, Krankheit — Genesung, Arbeit — Verdienst, Leichtsinn — Not, Ge- 
spräch — Zwietracht, Befehl — Widerspruch, Unfall — Verwirrung, Angebot — 

25* 


380 A. Abhandlungen. 





Kauf, Heldentat — Ruhm, Regelmäßigkeit — Schönheit, Lüge — Scham, Friede — 
Wohlstand, Almosen — Dank, Kenntnisse — Amt, Verbrechen — Unruhe, Geschäft — 
Reichtum, Unruhe — Schlaflosigkeit, Beispiel — Regel, Übung — Fertigkeit, Mäßigkeit 
— Gesundheit, Wohlfahrt — Üppigkeit, Habgier — Betrug, Hitze — Erkrankung, 
Zufriedenheit — Verträglichkeit, Schuld — Übel, Rechnung — Schrecken, Furcht — 
Geisteskrankheit, Gewinn — Genußsucht, Eile — Vergeßlichkeit, Sturm — Schiffbruch. 
Vor jedem Versuch erhielten die Schüler folgende Instruktion: 


»Ich werde euch jetzt eine Reihe von Wörtern vorlesen, von denen jedesmal 
zwei zusammengehören. Nach jedem Wortpaare mache ich eine kleine Pause, in 
welcher ihr überlegt, wie der Sinn der beiden Wörter zusammenhängt. (An 3 bis 
4 Beispielen wird der Zusammenhang der Wörter mehrerer Wortpaare klar ge- 
macht.) Gleichzeitig bestrebt ihr euch die betreffenden Wörter als zusammen- 
gehörig zu behalten, damit ihr, wenn ich zum Schluß eines dieser Wörter nenne, 
euch entsinnen könnt welches Wort dazu gehört. Dieses Wort sollt ihr dann jedes- 
mal auf eurem Zettel aufschreiben, oder einen Strich machen, wenn es euch nicht 
einfällt.« (S. 325.) 

Den Schülern wurden an jedem Versuchstage 15—20 Wortpaare 
vorgelesen. Auf Grund der Gesamtleistung wurde eine Reihenfolge 
der Schüler aufgestellt und mit der von den Lehrern bestimmten 
Reihenfolge verglichen. 

Die Versuche ergaben bei normalen Kindern sehr günstige Resul- 
tate. — Für schwachsinnige kommen sie dagegen kaum in Betracht. 
Man versuche nur, die obige Instruktion in eine für Hilfsschüler 
passende Form zu übertragen! (Forts. folgt.) 


4. Psychische Fehlleistungen. 
Von 
R. Egenberger, München. 
(Schluß.) 


Agraphie. 
Normaler Prozeß beim Schreiben. 

Die Schule pflegt drei Arten des Schreibens: Spontan-, Diktat- 
und Abschreiben. 

Beim Abschreiben ist ein Vorbild vorhanden, es wird vom opti- 
schen Bilde ausgegangen und durch Schreibbewegungen ein neues 
optisches Wortbild erzeugt. 

Beim Diktat wird durch akustische Reize, die von einer zweiten 
Person ausgehen, im Schüler das optische Schriftbild erweckt und 
durch schreibmotorische Tätigkeit ins Sichtbare übersetzt. 

Beim Spontanschreiben ist der Weg weiter, der optische oder 
akustische Wortreiz fehlt hier. Das Wort und dessen Schriftbild muß 
selbst gefunden werden. 


Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 381 





Man kann schließlich dem Anfänger die Hand beim Schreiben 
führen, da kommt zum akustischen und optischen Reize noch ein 
schreibmotorischer hinzu. 

Normal ist der Werdegang beim Erlernen der Schreibkunst, wenn 
auf Grund optischer, akustischer und schreibmotorischer Reize, das Kind 
nach einiger Übung befähigt ist, gesprochene Laute und Wörter, die 
Namen gesehener Gegenstände, Urteile usw. in Schrift zu übersetzen. 

Schreibstörungen. 

Recht zahlreich sind die Fälle, daß Kinder trotz vieler Übung 
und vielem Fleiße die Formen und Linien der Schrift nicht wieder- 
geben können, und zwar gelingt ihnen meist das Spontanschreiben 
nicht, aber auch das Abschreiben macht manchen Schwierigkeiten. 
Vielen gelingt zwar das Ab- oder Spontanschreiben der Buchstaben, 
aber sie vermögen die Buchstabenfolge nicht einzuhalten, andere 
unterscheiden die ähnlichen Buchstabenformen nicht, ersetzen den 
einzelnen Buchstaben durch einen ähnlichen (optische, akustische und 
motorische Ähnlichkeit!). 

Die Agraphie ist nicht eine beliebige Unsicherheit oder Ungeübt- 
heit, sondern eine Störung, die nicht im äußeren Organe, sondern im 
Zentralgebiet ihren Sitz hat. Agraphie ist totale oder partielle Un- 
fähigkeit zu schriftlicher Darstellung. Ein Kind, das an Agraphie 
leidet, wird in der Zeit, in welcher seine Altersgenossen den schrift- 
lichen Ausdruck sich aneignen, das Schreiben nicht oder in ganz 
wenigen und unvollkommenen Fragmenten erlernen. Ein allgemeiner 
Klassenunterricht richtet bei solchen Störungen nicht viel aus. 

Agraphie treffen wir bei Schwachsinnigen recht häufig; aber 
nicht immer ist der geistige Tiefstand so hochgradig. Ich sah schon 
Kinder, die gewandte Sprache und ganz normale Lebenserfahrungen 
hatten, sogar fließend und leicht das Lesen erlerhten, aber infolge 
von Agraphie nicht imstande waren, auch nur ein Wort spontan zu 
schreiben, ja nicht einmal einen Buchstaben nachschreiben konnten. 
Schon mehrmals sah ich Fälle, daß zwar die Buchstaben und Wörter 
in Schönschrift abgeschrieben werden konnten, daß aber die ganze 
Schreibkunst vollständig versagte, sobald ein Wort spontan, aus der Er- 
innerung niedergeschrieben werden sollte. Solche vermögen trotz ihres 
Schönschreibens nicht einmal den eigenen Namen aufs Papier zu bringen. 

Agraphie kann eine selbständige Störung sein. Ich hatte einen 
Schüler Ke., der an Agraphie litt, fließend und frühzeitig das Lesen 
lernte, auch in schöner Schrift zwar abschreiben, aber nicht ein Wort 
spontan niederschreiben konnte. Er war ein guter Zeichner und 
der beste Schüler im Modellieren. 


384 A. Abhandlungen. 





Linen für Linien geblie für geblieben 

Liember Gott für lieber Gott Kanflaen für Kaufladen 
Plasche für Flasche hineingewefen für hineingeworfen 
Spbil für Spiegel Blakraut für Blaukraut 
heraschenkt für hergeschenkt angegom für angekommen 


Gewitte für Gewitter 


Zur Zeit habe ich in meiner Klasse einen Schüler Hö., der für 
e ein i oder auch umgekehrt schreibt, das gleiche tut die Schülerin 
Kow., während die Schülerin Berch. o und u nicht unterscheidet; die 
Schülerin Sp. A. unterscheidet b und d nicht. 


Lautagraphie. (S. Tafel III u. IV.) 


Lautagraphie ist das Unvermögen, die Laute des Wortes in Buch- 
staben umzusetzen. Meist kann hier schon das Wort nicht in seine 
Einzelbestandteile aufgelöst werden. Das Wort ist solchen Kindern 
lediglich ein Lautkomplex. Diktat- und Spontanschrift ist solchen 
Kindern unmöglich, sie schreiben bei solchen Gelegenheiten Buch- 
stabenreihen nieder, die oftmals an das betreffende Wort gar nicht 
erinnern; es besteht also totale Unkenntlichkeit. Das Abschreiben ist 
hier aber möglich; denn wenn auch die einzelnen Buchstaben ver- 
wechselt werden, so können sie doch von Schreib- und auch Druck- 
schrift abgeschrieben werden. Vergl. Fall Heimbr. (Tafel III.) 

Der Fall Ke. (Tafel IV) zeigt, daß in der Spontanschrift doch ein 
Teil der Buchstaben vorhanden ist. Man beobachtet hier, daß dem 
Knaben der ganze Satz nichts anderes als ein Lautkomplex ist. — 
Abschreiben ist ihm leidlich gelungen. Der Knabe hat nach und 
nach die Lautagraphie überwunden; er lernte spontan und nach Diktat 
zu schreiben. Solche Kinder lassen gerne Buchstaben aus. 

Zur Lautagraphie darf man sowohl die Antizipationen als auch Post- 
positionen rechnen. 

Ist es zwar häufiger der Fall, daß zu wenig Buchstaben aufs 
Papier gebracht werden, daß also viele Buchstaben weggelassen werden, 
so treffen wir wieder geradezu typische Fälle, daß überzählige Striche 
oder Buchstaben niedergeschrieben werden. Hier muß auch darauf 
hingewiesen werden, daß manche Schüler bei Substantiven lange Zeit 
hinter den großen Anfangsbuchstaben noch den entsprechenden Klein- 
buchstaben setzen, z. B. Eesel, Eeier. 

Wie wenig Schwachbegabte die Laute aus dem Worte heraus- 
finden, zeigen folgende Beispiele: 

Kofflen, Korff, Karoffle, Garlof, Garfol = Kartoffel. 


Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 385 





Zwies, Zwien, Zwiefen, Zwief — Zwiebel. 
Diad, Jadt, Jadg = Jagd. 

Heimbr., 13jähriges Mädchen, kam als zwölfjährige Schülerin von 
auswärts in die Hilfsschule. 

Sie zeigte sich unfähig, spontan etwas niederzuschreiben (vergl. 
Tafel II). Auf eine optische Agraphie weisen die zahlreichen Fehler 
hin, welche darin bestanden, daß sie z. B. v durch p, F durch J, R 
durch K, N durch A usw. ersetzte. Auf Lautagraphie dagegen weisen 
die vielen Auslassungen und Umstellungen hin z. B.: Zısm = Zahn, 
gessim = gerissen, verhrt — verkehrt, Jrizi = Fritzi, schen = 
schreiben, Kschriten = schreiben, ret = recht, Halduch = Haltung, 
giter —= Kinder, liglaus — Nikolaus, Sascht — Schlacht; Morgen gegt 
die kok Vokaeng am (M. geht. d. große Vakanz an). Burter = Bruder; 
gestren — gestern, Snese — Sense, kierg — krieg. 

Vermengungen in dem Sinne, daß ein ähnliches Element eines 
Buchstabens als Bestandteil eines anderen Buchstabens angesehen wird, 
kommen oft vor. Sowohl optische, als schreibmotorische Eindrücke, 
können die Schuld an solchen Vermengungen tragen. Kommt nach 
a ein r, dann kommt es oft vor, daß sie den zweiten Abstrich des a 
als ersten Abstrich des r betrachtet und dieses dann vollendet. Da- 
mit wird aus ar or, z. B. wor statt war, schorf statt scharf, Isor 
statt Isar usw. 

Der charakteristischste Fehler bei den Abschriften ist, daß das 
Kind dem r am Ende einen ı-Strich anfügt, ebenso, aber nicht so 
häufig dem b, B, o und a, also: r, bı, Bı, 01, an Hier handelt es 
sich also um einen rein ausgeprägten Fall von hartnäckigem Bei- 
behalten eines überzähligen ı-Striches. Man beachte die folgenden 
Beispiele aus dem Tagebuche des Mädchens. 

Überzähliger ı-Strich als charakteristischer Fehler. 


11. V. 10: Gesterin (3 ><) 16. VI. 10: Drie (Drei) 
15. „ Strım (Sturm) (4 x) 21. „ Urıban (3 ><) Gesterım 
8, Jriizi (Fritzi) 3044 y Jwi u. Jumi 
3. VI. 10: Erıde 1. VI. 10: Gesterın, habem 
4. „ Gariten, unserım 6; 5 ıverkaufen 
82 95 unserım, schorıf lZer ins (ins) 
(scharf), Gestern 12. IX. 10: drüben 
10: % Gestern, geriacht (ge- 16. „ Früh 
bracht) 10. y Pferıd, gekoımmen 
16. „ Gänse (Gänse) 24. „ Stammm 
e ‚»:; Driischel Il a Septemmber, Gesterın 


(2 x) 


386 


A. Abhandlungen. 





.19. IX. 10: Gesterın 
4. X. 10: Oktoıber, Soınntag, 
Sommtag 


16. XII. 10: herunter 
21. „ Bıuben, Bıub 
4. I. 11: Osternn, noıch; micht, 


di. i Eiin (n), runter, t) vomı Maurm, gebıaut, 
Lamm (Baum) Bıalcken, werıden, 
ra rıunter, vomi gezoıgen, Krıäftige 
8, nunt, Bıund ze: Pferid 
13. „ Talkirıchen 10. „ Dächerm, gefrorenren 
le y 4 x vom gefrorren 
21.. ; Liiedchen 13. „ Dachrıinne 
28. „ mmachen, Daichstul 17. „ täglichen, schoın 
19. „ Moıntag, koımmt 18, y ınicht, bıin, Kirıche 
5. XI. 10: worıden 19: +%% schon, biin, Soinntag, 
Bi. i überall Heimbrıand 
16, t nigkollaus (Nikolaus) 20. „ schoın 
18.» 5 Schriiner (Schreiner) 27. „ Gebriurtstag 
Try s = 30. „ schon 
I% j bıin 1. I. 11: Febriuar 
22. „ biin (trotz 2 maliger 3.6.8.11: Knochen, kriıcht, noich 
Korrektur) 10. II. 11: Gestern 
BA» jai bın Di: 5 Februar 
e Chniistkind - 14 -y » 
2. XII.10: Gesterın, worıden 15. 16. 17. 18. „ , Brıuder, eine 
N 5 krıiegt 20. I. 11: „  „ noch 
9.05 Briücke TS 75; „  „ Tliechen 
ie Berig, Burg 22. „ A 
I5 -g Trıambahn 235 4; „  , koıcht, wird 
L6. 5, Bıub (trotz Korrektur) 24. 27. 28. „  , biitter 
a Ky P Bıub 2. II. 11: Böıwe, Fledermaus 


Am 2. März ist dieser Fehler zum letztenmal anzutreffen. 


Ich 


konnte in noch etwa 40 Einträge Einsicht?) nehmen und nicht einmal 
kehrte dieser Fehler wieder; er war ab 2. März 1911 wie weggeblasen. 


Umstellungen und Nachwirkungen. (S. Tafel V, VI, VII.) 

Hier ist die Reihenfolge der Buchstaben nicht in Ordnung. Wird 
ein Buchstabe, der erst später auftreten sollte, vorausgenommen, so ist 
das die Vorausnahme (Antizipation); wird aber ein Buchstabe, der 

1) Auch bei der Verbesserung schreibt das Mädchen die gleichen Fehler wieder. 

?) Dank der Liebenswürdigkeit des Herrn Lehrers Ettmayr. 


Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 387 





schon aufgetreten ist, im Verlaufe der Rede an falscher Stelle noch- 
mals wirksam, dann haben wir die Nachwirkung (Postposition). 
Dazu kommen dann noch die Wortvermengungen, welche entstehen, 
wenn ganze Teile verschiedener Wörter vermengt werden. 

Bei der Antizipation und Postposition sind sämtliche Laute des 
Wortes in Buchstaben umgesetzt worden, aber der Buchstabe ist nicht 
an seinen richtigen Platz gesetzt worden. Die Beispiele zeigen, daß 
ein Kind 4—5 mal die Darstellung eines Wortes versuchte, aber immer 
wieder zu einer anderen Umstellung gelangte. 

Solche Umstellungen sind für manche Kinder ein ständiger, 
typischer Fehler. Ich lernte jetzt 4 Fälle kennen, in denen dieser 
Fehler fast auf jeder Schreibseite vertreten war. In einer IV. Klasse 
der Normalschule schrieb ein Knabe: dei (die), ienen (einen), blad 
(bald), Kanbe (Knabe), Fahrzueg (Fahrzeug), Sei (Sie), Gurbe (Grube), 
Afpel (Apfel), gelrent (gelernt), gestirten (gestritten), Krübis (Kürbis), 
frieern (frieren), Zugvögle, wärmeer (wärmere), rabeinet (arbeiten). 

Schwachbegabte Kinder schrieben: drie (drei), wri (wir), Bort 
(Brot), Wrifel (Würfel), Terppe (Treppe), schraf (scharf), Satal (Salat), 
slost (sollst), gostelen (gestohlen), ziew (zwei), uht (Hut), falu (faul), 
Deckle — Deleck — Delcke (Deckel). 

Diese Umstellungen sind zur Lautagraphie zu rechnen, und sie 
treten mitunter regelmäßig bei einem Kinde auf. Ein solches Kind 
kann zwar das Wort in seine Laut- und Buchstabenelemente auflösen, 
aber die Buchstabenfolge kann nicht sofort bestimmt werden. 

Nachwirkungen haben wir vor uns, wenn z. B. geschrieben wird: 
Nachbararin (Nachbarin). Nachdem ein Wort mit »st« vorausging, 
wurde geschrieben: Haustbrot (Hausbrot), Hefst (Heft), stprechen 
(sprechen); nachdem geschrieben war: Mahlzeit, stolz, schrieb ein 
Schüler einer Normalklasse: krummz (krumm). 

Die Beispiele zeigen die Voraus- und Nachwirkungen als An- 
gleichung, z. B. Tuten Tag, ade Tutter (Mutter) oder hhau (schau), 
sson (schon). Solche Angleichungen sind nichts anderes als das be- 
harrliche Auftreten eines Buchstabens, der mehrere andere zu ver- 
drängen vermag. Hier wirken aber die optischen Bilder stark ein, 
während andererseits die Auflösung des Wortes in die Laute, weniger 
sicher gelingt. Man kann viele Angleichungen besser als optische 
Agraphie bezeichnen. 

Tafel VI enthält unten einige Beispiele, welche überzählige Buch- 
staben oder Buchstabenelemente enthalten. Nach meinen Beobach- 
tungen machen diesen Fehler besonders jene Kinder, welche Störungen 
im Gebiete der Zahl und des Zählens aufweisen. 


388 A. Abhandlungen. 





Umstellungen, ein charakteristischer Fehler des Hilfsschülers Kapfen. 
Das Material verdanke ich der Güte des Herrn A. Ettmayr. Man be- 
achte, wie der Fehler allmählich immer seltener wird. 
4. V. 1910: Tamrbauer (Trambauer) 


6. V. „dei (die) 

9. V. „ Tafle (Tafel) 

10. V. „ nue (neu) 

25. V. „  Tausgeirssen (... gerissen) 
27. V. „  Firtzi (Fritzi) 

28. V x dei (die) 

31. V. „ Eerd (Erde) 

3. VI. „ garbe (grabe) 

25. VI. „ gefarhen 

27. VI. „ uasegzoen (ausgezogen) 
10. XI. „  tärgt (trägt) 

22. XI. „ Jrae (Jare-Jahre) 

9. XII. „ Birke (Brücke) 

10. XI. „ mri (mir), Griffle (Griffel) 
2. I. 1911: naganen (angegangen) 
10. I. „  gefroern (gefroren) 

18. IL.. „ ierk (krieg) 

4. II. „.  kohlschawrz (kohlschwarz) 
30. V. „ eisnen (seinen) 


Zur Lautagraphie sind auch jene typischen Fälle zu rechnen, in 
denen ein Schüler zwar die Laute eines Wortes in Buchstaben über- 
setzt, dabei aber keine Rücksicht auf Dehnung und Schärfung, auf 
weich und hart gesprochene Laute nimmt. Auch hier fehlt es an 
feiner akustischer Unterscheidung, wozu noch kommt, daß optische 
Erinnerungsbilder nicht wirksam zu werden vermögen. 

Beispiele: hapen (haben), dengte (denkte), Pläch (Blech), keflogen 
(geflogen), Schdolz (Stolz), Puben (Buben), Gnosbe (Knospe). 


Vermengungen. (S. Tafel VIII.) 

Das sind wiederum ganz begreifliche Fehler. Ist das optische 
Schriftbild nicht lebhaft vorstellbar, hängt Aufmerksamkeit und Auge 
am Detail und ist die Fähigkeit, das Ganze zu überblicken, gering, 
dann ist es leicht möglich, daß das Kind vermittels der Ähnlichkeits- 
assoziation auf Irrwege gelangt. Vergl. Tafel VII. Hier ist immer 
der letzte Teil eines Buchstabens als ein Teil des nachfolgenden an- 
gesehen; es wird also der letzte Teil des 1 zum Bogen des a; aus 
dem letzten Teil des e wird der Anfang des u, des g; bei »wer« wird 


Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 389 


der letzte Teil des e als vorletzter Teil des r betrachtet, also ist dann 
nur noch der r-Bogen anzufügen. 

Etwas ähnliches zeigen die Beispiele: Pater, Hrden usw. Der 
Knabe will Vater schreiben; er macht richtig den ersten Bogen des V. 
Nachdem er so weit ist, drängt sich der Abstrich des P ins Bewußt- 
sein, der hier ja gut angebracht wird. Das P wird dann vollendet. 
Bei Erden ist es gerade so; Vorschwung, obere Schleife und Keilstrich 
sind Bestandteile des E und H; bei geringer Aufmerksamkeit ist eine 
Verwechslung und Verirrung naheliegend. Viele Buchstaben enthalten 
solche ähnliche Elemente und das sind kritische Stellen, die die Ver- 
mengung herbeiführen. 

Man beachte noch die Wörter: schrank, Uhr; hier sieht man, wie 
der Schüler den gleichen Fehler beging, sich aber sofort selbst korri- 
gieren konnte. 


Motorische Agraphie. (S. Tafel IX.) 

Fall Staud.: Der Knabe besuchte eine zweite Volksschulklasse 
und hatte gute Fortschritte aufzuweisen. 

Nun hatte der Knabe das Unglück, vom I. Stock seines Wohn- 
hauses herab auf die Straße zu fallen. Er erlitt eine Gehirnerschütte- 
rung und lag 25 Tage bewußtlos da. Er besserte sich langsam und 
ging wieder zur Schule. Lesen konnte er zwar, aber er konnte die 
Zeilen nicht mehr verfolgen, er las bald in der Mitte, bald oben, bald 
unten. Ebenso war es bei Schreiben, die Buchstabenformen waren 
mangelhaft, Wörter schrieb er nicht mehr; er war unfähig, zwischen 
zwei Linien einen geraden Strich so zu schreiben, daß ihn diese 
Linie oben und unten begrenzten. 

Fall Ju.: Dieser Knabe war nicht ungeschickt im Zeichnen und 
Modellieren, ebenso im Turnen, aber beim Eintritt in die Hilfsschule 
vermochte er die Schriftformen nicht nachzubilden. Lesen lernte er 
ganz normal. Nach und nach, allerdings mit 2—3jähriger Verspätung, 
lernte er auch das Schreiben. Es kam aber oft vor, daß er die 
Schreiblinien verließ. Siehe Tafel IX: Sense, Säbel, fest usw. 

Bei motorischer Agraphie fehlt der Hand die zentrale Direktion. 
In schwereren Graden wird nur gekritzelt. Bei Schwachsinnigen tritt 
die motorische Agraphie oft in Verbindung mit Apraxie auf. 


Agraphie und Apraxie. (S. Tafel X.) 
Apraxie bei angeborenem Schwachsinn ist ein häufig vorkommendes 
Gebrechen. In meiner I. Hilfsschulklasse 1911/12 befinden sich 
4 Kinder, die diese Störung zeigen. Nicht als ob eine totale Un- 


390 A. Abhandlungen. 





fähigkeit des Handelns bestünde, bei diesen 4 Kindern betrifft die 
Störung das Schreiben, das Zeichnen, das Modellieren, die weibliche 
Handarbeit, die Knabenhandarbeit, die praktischen Tätigkeiten, wie 
Sperren mit dem Schlüssel usw. und insbesondere das Turnen und 
das Spiel. 

Fall Ka.: Ein 6 Monatkind, gesunde Eltern und Geschwister. Der 
Knabe ist jetzt 8 Jahre alt, ein Zwerg von 1,04 m Höhe und 15 kg 
Gewicht. Er ist rachitisch ; erfolgreich wurde seine Rückgrats- 
krümmung behandelt. Bis zum 6. Lebensjahre ist er meistens gelegen. 
Seine Sprache zeigt Stammeln und Agrammatismus, sein geistiger 
Horizont ist äußerst eng; denn er ist als Kind selten über die Tür- 
schwelle gekommen, hat nie mit Kameraden im Hofe oder auf Spiel- 
plätzen gespielt. Er hat auch mit Spielzeug wenig anfangen können. 
Körperlich und geistig ist er noch heute ein kleines Kind. Er kann 
nicht springen, er hüpft nur; seine Hände sind ganz klein und 
schwächlich. 

Seinen Schulranzen kann er alleine, allerdings umständlich, öffnen; 
anziehen tut er sich nicht allein. Reifschlagen kann er nicht, Ball- 
fangen ebensowenig, Reiffangen ist ihm unmöglich, Fangspiele sind 
ihm des Laufens und des Packens wegen nicht gelegen. Werkzeuge 
kann er nicht gebrauchen; er kann keinen Nagel einschlagen, nicht 
bohren, nicht sägen usw. Proben aus dem Modellier- und Schreib- 
unterrichte siehe Tafel X. Fig. 1 ist ein Fuß aus Ton. Anscheinend 
ist dieser Fuß gut gelungen; es scheint aber nur ein Zufallsprodukt 
zu sein; denn auf meine Veranlassung, nochmals einen solchen Fuß 
zu modellieren, ist das nie mehr gelungen. 2 und 3 sind Fische, 4 ist 
ein Mann, 5 und 6 Bäume. Man beachte die Zeichnung: Pferd. Die 
Schriftprobe zeigt die gänzliche Unbeholfenheit. 

Eine totale Störung zeigt sich bei ihm auch im Gebiete der Zahl 
und der Töne. Lesen lernt er ganz gut; seine Fortschritte im Sprechen, 
Beobachten, Urteilen sind sichtlich. 

Fall Des.: Das Mädchen ist 9 Jahre alt, schwachsinnig, ohne 
Zahlbegriffe, die Sprache ist ganz gut; es fehlt aber bedenklich an 
Gedanken und an der Gedankenprägung. Es besteht Apraxie, welche 
sich im Modellieren, Schreiben, Zeichnen, in Handarbeit und im Turnen 
und Spielen zeigt. Im Fangspiel springt sie zwar, aber sie vermag 
nicht im Laufe zu greifen, erwischt also niemand; den Reif bringt sie 
durch Schlagen nicht in Lauf. 

Die Agraphie ist mit Alexie verbunden. 

Fall Einö.: Ein schwerer Stotterer, der fast kein Wort hervorzu- 
bringen vermag. Einfache Befehle führt er ganz richtig aus; er ist 


Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 391 


nicht so unklug, als man obenhin glauben möchte. Aber er kann 
nicht sprechen infolge Stotterns; dazu kommt Störung des Schreibens, 
Modellierens, des Zeichnens usw. Nach und nach hat er iundn 
leidlich geschrieben, sonst aber nichts! 

Fall Wallr.: Geistig fast auf der Stufe eines Idioten; er hat aber 
Sprache und hat schon mit 1 Jahr das Sprechen begonnen. Die In- 
telligenzprüfung hat ergeben, daß er viele Namen kennt und anwenden 
kann; sobald aber Vorstellungsreihen, Angabe des Zweckes, Grundes, 
ja selbst die Angabe einfacher Merkmale und Kennzeichnung der 
Tätigkeit verlangt wird, antwortet er nicht mehr. Spontan redet er 
fast nichts, und wenn er redet, dann handelt es sich ums Essen. 
Zum Unterrichte ist er nicht tauglich; es fehlt ihm ganz und gar 
die Aktivität, also das willkürliche Fixieren, das willkürliche Auf- 
merken, das willkürliche Handeln. Er will nicht spielen, nicht 
sprechen, nicht arbeiten, nicht modellieren, er will nicht horchen, nicht 
dahin schauen, wo man es von ihm wünscht, nicht singen, nicht 
zeichnen, nicht schreiben, nicht lesen, nicht rechnen. Auf Aufforde- 
rungen reagiert er mit Abwehrbewegungen und Schmerzrufen; er 
sucht sich zu entfernen unter lauten Rufen nach seiner Mutter. Er 
will aber essen, er will den Apfel des Lehrers, das Frühstück des 
Mitschülers, er will frei im Schulzimmer herumlaufen, er will zu dem 
Mitschüler Ka., zu dem er freundlich ist, während er mit allen übrigen 
nichts zu tun haben will. Ka. ist ein schwächliches Zwerglein, von 
dem er keine Beeinträchtigung zu gewärtigen hat. 

Es besteht also Störung der Aufmerksamkeit und des Willens. 
Vermittels der unwillkürlichen Aufmerksamkeit aber lernt er einige 
Kleinigkeiten. Trotzdem er nicht singen will, kann er es doch nicht 
verhindern, daß die Lieder der Mitschüler in sein Ohr dringen. Er 
hat Ton- und Wortgedächtnis, lernt also wider seinen Willen Lieder. 

Er zieht sich nicht aus, setzt sich mit Ranzen und Mantel in die 
Bank. Er kann den Mantel nicht an den Kleiderhaken hängen, er 
findet den Aufhänger nicht, d. h. er sucht ihn nicht. Er hängt seinen 
Mantel schließlich so auf den Haken, daß er an irgend einem Teile 
hängen bleibt. Anfänglich warf er den Mantel einfach zu Boden. 
Anziehen kann er sich nicht; er setzt sich nicht die Haube auf, 
sondern trägt Hut, Ranzen, Mantel in der Hand nach Hause, wobei 
er das eine oder andere dann verliert; er weiß nicht, ob er sich im 
Unterrichtszimmer, auf dem Spielplatz oder im Arbeitssaal ausgezogen 
hat. Er holt sich seine Kleider nicht selbst, sondern gibt nur 
Schmerzrufe von sich. Müdellierton will er nicht angreifen, er wehrt 
sich mit Schreien und Flucht. Er kann nicht hammern, bohren, sägen, 


399 A. Abhandlungen. 





schneiden. Gibt man ihm eine Säge in die Hand, dann haut er da- 
mit wie mit einem Beil. Beim Hammern versucht er wenigstens zu 
klopfen. Im Handfertigkeitsunterricht hat er in 4 Monaten noch nicht 
einen Gegenstand gefertigt; er greift gar nicht zu; er wehrt sich gegen 
jede Tätigkeit und Bewegung. Verflossenen Herbst sollte er seinem 
Vater, der an der Bahn einen Gemüsegarten hat, bei der Kartoffel- 
ernte helfen, er war aber nicht imstande, nach dem Beispiele der Ge- 
schwister, die Kartoffeln vom Boden aufzulesen und in den Korb zu 
werfen. 

Im Schullokal fiel ihm sein Schulranzen auf die Füße; er blieb 
stehen, schaute nicht zu Boden, räumte das Hindernis nicht aus dem 
Wege, sondern mit Schmerzgebärden machte er uns auf seine trost- 
lose Lage aufmerksam. 

Vor geschlossener Tür fing er an laut zu schreien, statt selbst 
aufzuklinken. — Sein Zehnuhrbrot hat er in der Hosentasche. Er 
war nicht imstande, das Brot herauszuholen; er versuchte die ersten 
4—6 Wochen, dasselbe von der vorderen Hosentüre aus zu erreichen, 
brachte aber nur den unzugänglichen Hosensack ans Tageslicht. In 
seiner Verlegenheit kam er dann aus seinem Platz gelaufen mit lauten 
Ausrufen: meine Semmel! meinen Apfel! — Neulich waren wir auf 
dem Spielplatz, er konnte keinen Reif zum rollen bringen, keinen Ball, 
keinen Mitschüler fangen. Im Scherze zog ich ihm seine dicke, warme 
Haube herunter bis über die Augen. Die Schule war aus, auf dem 
Gange begegne ich dem Wallr., der wie ein Blinder tappt; er hat 
seine Haube nämlich noch nicht in die Höhe geschoben. 

Charakteristisch sind seine Stimmungen. Soll er etwas tun, kommt 
etwas Neuartiges, Fremdes, bei lauten Geräuschen, langer Schuldauer, 
Hunger, traten ihm Schulgenossen zu nahe, sieht er beim Schulschlusse 
nicht sofort seine Mutter, so gerät er in einen erregten Affektzustand, 
wobei er sich unbeschreiblich gebärdet, und der lange andauern kann. 
Ist kein Anlaß zu einem Affekt gegeben, so beherrscht ihn dennoch 
täglich eine äußerst schmerzliche Stimmung. Die ersten Wochen 
zeigte er in der Schule nur die stärkste Unlust, obwohl er jeden 
Morgen nicht ungerne zur Schule ging. In der Schule sprach er kein 
Wort; plötzlich fing er an die Augen zu rollen, er verdrehte den 
Arm und schlug gegen seine Zähne, wobei er brummte und grollte. 
Er kümmerte sich um niemand, man konnte zwecks Beobachtung 
seines Gebahrens einen Lehrer der Nachbarklasse holen, er ließ sich 
nicht stören. Nach einigen Monaten hat sich die Unluststimmung 
sichtlich gemildert, dafür trat die lustvolle Stimmung um so stärker 
hervor. Er bekommt jetzt Lachanfälle, geht aus seinem Platz, macht 


Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 393 
Sprünge, hält sich am Tisch und hüpft und lacht hell auf für sich. 
Auch hier läßt er sich nicht stören, gibt auf Fragen nicht gerne Ant- 
wort und lacht fort. Mitunter legt er sich in wohligster Stimmung auf 
den Boden oder auf 2 Sitze und lacht voller Seligkeit. 
Bei Fragen wiederholt er gerne das letzte Wort. In unserer 
Klasse ist ein Stotterer, diesen ahmt er nach. 
Faßt man seinen Zustand zusammen: so ergibt sich: 
1. Niedere geistige Funktionen werden vollzogen, höhere nicht. 
(Es fehlt Urteil, Zahl, Form usw.) 
Sprache ist vorhanden. Stotterer ahmt er nach. 
Fehler der Aktivität (Aufmerksamkeit, Wille, Handlung). 
Unfähigkeit zu manueller Tätigkeit (Spiel, Arbeit, turnen, schreiben, 
zeichnen, modellieren, praktische Verrichtungen). Es besteht 

Apraxie, d. i. Unfähigkeit des Handelns. Das Tasten ist aber 

nicht gestört. 

5. Zu der Störung der Aufmerksamkeit, des Willens, des Handelns 
tritt noch eine Gemütsstörung hinzu. (Altruistische Gefühle 
hat er nicht; er freut sich, wenn andere Kinder sich wehe 
tun oder wenn ihnen wehe getan wird; er äußert stark und 
anfallartig Lust und Verstimmung.) 

In diesem Falle handelt es sich sicherlich um eine schwerere 
Geistesstörung. Nach längerer Beobachtung neigen die Psychiater 
dazu, diesen Fall als Dementia praecox zu bezeichnen. 





P m 


Schrift eines moralisch Entarteten. (S. Tafel XI u. XII.) 
Sechsjähriger Knabe: Sinnesorgane sind normal; die motorischen 
Funktionen sind überaus leicht erregbar; er ist in ständiger, auffälliger 
Bewegung, hüpft, bewegt Arme und Kopf. Die Schreibbewegungen 
sind hastig und wenig präzis, auf die Einzelheiten achtet er nicht. 
Recht schlampig sind auch die Turnbewegungen. Einigen Dingen, 
z. B. den Zahlen, der Druckschrift, dem Schatten, der Landkarte 
wendet er die größte Aufmerksamkeit zu, während er Eltern, Schwester, 
Menschen, Tiere, gesellschaftliches Verhalten usw. ganz vernachlässigt. 
Im Rechnen hat er aus sich selbst es zu ziemlicher Fertigkeit ge- 
bracht; ebenso im Lesen und Schreiben von Druckschrift. Freilich 
ist hier infolge Mangels an geordnetem Unterricht, die systematische 
Ordnung und der folgerichtige Aufbau nicht vorhanden. Der Knabe 
ist Ausländer, wechselt oft seinen Aufenthaltsort, lebt mit den Eltern 
in Seebädern, Kurorten usw. Gedächtnis und Phantasie sind völlig 
intakt. Die Kombinationsgabe außerordentlich entwickelt. Das Vor- 
stellungsleben konnte der fremden Sprache wegen nicht untersucht werden. 

Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 26 


394 A. Abhandlungen. 








Sein Verhalten gab Eltern und Erziehern zu den stärksten Klagen 
Anlaß. Mit überstarkem Willen setzt er seine Absichten und Wünsche 
durch. Er widersetzt sich, opponiert lächelnd, tut mit Absicht Ver- 
kehrtes und grübelt nach, wie es möglich wäre, eine Sache noch ver- 
kehrter zu machen. Er schüttet Wasser auf die elegantesten Möbel, 
schmiert Farbe auf Teppiche, versudelt Papier, Hefte, Bücher; ein 
Fläschchen Kölnisches Wasser im Werte von 15 M gießt er auf ein- 
mal aus; er schreibt auf die weiße Tischdecke. 

Bei meinen Unterrichtsversuchen weigerte er sich, das zu tun, 
wozu er keine Lust hatte. Dem Knaben mangelt ganz und gar 
die Lenksamkeit, weshalb der Knabe trotz intellektueller Begabung 
nur ganz geringe Fortschritte im Unterrichte machte. Selten, daß er 
sich etwas zeigen und erklären ließ. Gezeichnetes und Modelliertes 
aus meiner Hand zerriß und zerschlug er, ehe es noch vollendet war; 
hatte ich noch Zeit, meine Sachen in Sicherheit zu bringen, dann griff 
er mich an und suchte es mir zu entreißen. 

Aus ähnlichen Gründen durfte man ihn nicht mit seiner drei- 
jährigen Schwester, ein liebes und gesundes Kind, allein in einem 
Zimmer lassen. Seiner Erzieherin machte er das Leben tatsächlich 
sauer. 

Seine Schrift (S. Tafel XI u. XI): Er soll n schreiben; er 
schreibt aber Doppel-n, dann dreifaches und vierfaches n. 

Er soll Keilstriche schreiben; plötzlich macht er absichtlich an 
Stelle einer geraden Linie einen Bogen; in der folgenden Zeile ver- 
sucht er ähnliches. 

Er soll f schreiben; sofort sucht er mit Absicht das f verkehrt 
zu machen. 

r; hier wird ihm gesagt und gezeigt, daß die Striche eng bei- 
sammen sein müssen; er tut absichtlich das Gegenteil; neuerdings 
korrigiert, macht er es doppelt verkehrt. Die folgende Zeile schreibt 
er dann manierlicher. 

h; er schreibt absichtlich zunächst etwas anderes; mein gütliches 
Zureden ist ihm gleichgültig. 

f; meiner Aufforderung, für den Haken genügend Platz zu lassen, 
kommt er in absichtlich übertriebener Weise nach. 

sch; er vergrößert absichtlich; er hat dann Vorliebe, statt dem 
Unterrichte zu folgen, Reihen von möglichen und unmöglichen Buch- 
staben zu schreiben. 

h; macht es absichtlich verkehrt; ebenso bei Apfel; obwohl er 
vorher schon ganz hübsch dieses Wort schrieb. 

r; er geht auf meine Aufforderung nicht ein. 


Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 395 





o; das erstemal leidlich; der letzte Teil des o wird nun von 
Buchstabe zu Buchstabe absichtlich verhunzt. 

K; er will Schnörkel anbringen, ähnlich den Initialen in Büchern usw. 

t; gibt einem Buchstaben plötzlich eine falsche Lage. 

fui; hier sucht er vom u-bogen zum i-Punkt eine Verbindung 
herzustellen. Das hat er sehr oft getan. 

Gerne schrieb er bei Buchstaben oder Übungen jeden folgenden 
größer, so daß er auf eine Schreibseite einen großen Buchstaben setzte. 
Nahm ich ihm dann den Bleistift, dann begehrte er gewaltig auf, 
suchte den Bleistift mir zu entreißen und verweigerte jede weitere 
Tätigkeit. 

F und M zeigen, wie er es wieder verkehrt machen will. 

Auch den Ziffern beim Rechnen suchte er absonderliche und 
verkehrte Formen zu geben. 

Auch den Bleistift ruinierte er, wenn es ihm gefiel. 

Auf meinen Rat wurde der Knabe in eine völlig neue, geeignete 
Umgebung gebracht. Trotz mancher guten Seite seiner Intelligenz, 
ist doch zu befürchten, daß der moralische Schwachsinn die gesunde 
Entwicklung der Intelligenz ungünstig beeinflußt. 


5. Die experimentelle Ermüdungsforschung. 
Von 
Marx Lobsien, Kiel. 
(Fortsetzung. 


b) Die Rechenmethode, 
die sich noch weiter dem schulgemäßen Betriebe annähert, wurde zu- 
erst von Burgerstein zur Messung der Ermüdung angewendet. Er 
benutzte vier Reihen einfacher Additions- und Multiplikationsaufgaben, 
die schriftlich gelöst werden mußten. Die Einzelarbeit konnte in etwa 
zehn Minuten geleistet werden. Zwischen jede Rechenleistung von 
zehn Minuten schob Burgerstein eine Pause von fünf Minuten ein, 
während derer das Einsammeln der gelösten Aufgaben erfolgte. Die 
erste Additionsaufgabe wurde in der Weise gebildet, daß die Ziffern 
von 0 bis 9 willkürlich in buntem Wechsel nacheinander aufge- 
schrieben wurden. Daneben wurde eine ähnliche zweite Ziffernreihe 
gesetzt, so daß eine zwanzigstellige Zahl entstand. Der zweite Sum- 
mand kam auf ähnliche Weise zustande. Beispiel: 
27583 140693501 894726 
+ 69413258070 769412837 


26* 


396 A. Abhandlungen. 





Durch Umstellung der Ziffern können dann weitere Additions- 
aufgaben gebildet werden. Die Multiplikationsaufgaben wurden so 
konstruiert, daß der obere Summand der voraufgegangenen Additions- 
aufgabe als Multiplikand, die Zahlen von 2 bis 6 als Multiplikatoren 
Verwendung fanden: 

27583140693501894726 
x 2 

Eine Reihe Forscher hat diese Methode mit geringen Abweichungen 
angewendet, wie Friedrich, Ebbinghaus u.a. Manche verlängerten 
die Arbeitszeiten auf eine halbe oder volle, ja auf mehrere Stunden, 
wie Schulze. Schulze benutzte lediglich einfache Addieraufgaben, 
wie 5+2, 4+5 usf. Andere ließen kurze Rechenversuche erst nach 
einer oder mehreren Unterrichsstunden ausführen, um an der Qualität 
und Quantität der gelösten Aufgaben den Grad der Ermüdung zu er- 
kennen. — Eine tiefgreifende Veränderung nahm Kemsies vor. Das 
eben skizzierte Verfahren war ihm zu einseitig und mechanisch, 
darum gestaltete er es so um: Die Rechenarbeiten wurden aus dem 
Klassenpensum für Kopfrechnen, das eben absolviert war, gewählt, 
stellten also keine starke Belastung her. Das Arbeitsstück enthielt 
zwölf gemischte Exempel aus dem Zahlenkreis von 1—1000; die Ab- 
wechselung war nach dem Verfahren einer Lehrstunde gedacht. Als 
Beispiel diene folgendes: 


417 +338 Überschreiten eines Zehnerraums 


234 + 592 r „ Hunderterraums 
345 + 479 A beider Räume 
563 — 328 
725 — 453 ù wie oben 
843 — 658 

74,8 Multiplikand unter 100; Multiplikat. über 5 
139,5 „ zwischen 100—200; 3 
247,3 f. „200—249; 2 
291:7 
385:8 Divid. zwischen 201—499, Divisor 6—9 
476:6 


Drei zusammenhängende Aufgaben lagen immer in demselben 
Horizont; die Reihenfolge wurde streng innegehalten. Die Rechen- 
stücke wurden mitten in die verschiedenen Lehrstunden gelegt, um 
zu verhindern, daß durch Ungeduld, Unlust oder gesteigerten Arbeits- 
antrieb, der sich gegen das Ende der Stunde leicht einstellt, ein 


Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 397 





störender Faktor hineinkomme. Die einzelne Versuchsdauer betrug 
zwölf Minuten. Zur Kompensation wurde an jedem Versuchstage der 
Rechenunterricht um den Betrag der gesamten Versuchszeit gekürzt. 
Für jede Einzelaufgabe wurde eine Minute Arbeitszeit angesetzt. 
Innerhalb jeder Aufgabe folgten aufeinander: 1. Vorsprechen derselben 
durch den Lehrer. 2. Zweimaliges Nachsprechen derselben durch die 
Schüler im Chor (für beides waren etwa 10 Sekunden notwendig). 
3. Lösung in durchschnittlich etwa 20 Sekunden. 4. Niederschrift der 
Resultate. 5. Pause von 11/,—2 Minuten. 

Bei allen diesen Versuchen haben wir es noch nicht mit soge- 
genannten fortlaufenden Arbeitsmethoden in strengerem Sinne zu 
tun. Die fortlaufende Rechenmethode hat vor allem Kraepelin 
und seine Schule ausgebaut. Die Versuche werden in der Weise an- 
gestellt, daß die Versuchsperson in eigens dazu gedruckten Heften 
ohne Unterbrechung längere Zeit, nach Umständen mehrere Stunden 
lang, die untereinander stehenden Ziffern addiert. Wenn die Summe 
bis über hundert gestiegen ist, werden die Hunderter einfach fort- 
gelassen, und zu dem Überschuß an Einern wird weiter hinzuaddiert. 
Alle fünf Minuten ertönt ein Glockensignal. Sobald das geschieht, 
macht die Versuchsperson einen Strich hinter der zuletzt addierten 
Zahl. Nach Ablauf des Versuchs läßt sich dann sehr leicht feststellen, 
wieviele Zahlen in je fünf Minuten von den einzelnen Personen addiert 
wurden. Die Lösung der Aufgaben geschah in den ersten Unter- 
suchungen der Kraepelinschen Schule lediglich im Kopfe und nicht 
schriftlich; man verzichtete also auf eine genauere Kontrolle, vor 
allem ließ man etwaige Fehler unberücksichtigt. Erst später fand eine 
schriftliche Fixierung der Resultate statt. (In der Ambergschen Arbeit 
im ersten Bande der »Psychologischen Arbeiten« wird zwar die Richtig- 
keit geprüft, aber erst in der letzten Abhandlung desselben Bandes 
von Rievers und Kraepelin wird ausdrücklich erwähnt, daß schrift- 
liche Aufzeichnung stattgefunden habe S. 656; aber vergl. dazu 
Miesemer.) Hernach fanden, entsprechend der jeweiligen Absicht des 
Experimentators, methodische Veränderungen bezüglich der Zeitlage 
statt. Man ließ entweder eine bestimmte Zeit — 5 Minuten — hin- 
durch addieren, legte aber zwischen die beiden Arbeiten Pausen von 
verschiedener Länge in der Absicht, deren Wirkung zu erkunden, 
oder man richtete die Aufmerksamkeit auf die Wirkung längerer 
Arbeitszeiten. 

c) Die Diktiermethode 
ist ihrer ganzen Eigenart nach darauf angewiesen, größere Arbeiten 
als Probeleistungen für die Ermüdungsmessungen zu verwenden. Der 


398 A. Abhandlungen. 





erste, der diese Methode in diesem Sinne zur Anwendung brachte, 
ist der russische Psychiater Sikorsky. Seine Originalarbeit ist, nach 
Altschul, unbekannt, wohl überhaupt nicht veröffentlicht worden, wir 
kennen sie nur nach seiner ausdrücklich als Extrait bezeichneten 
Mitteilung in den Ann. d’hyg. publ. Sie hat den Anstoß zu allen 
weiteren Ermüdungsmessungen gegeben. Sikorsky stellte im ganzen 
24 Einzelversuche an, teils des Morgens vor Beginn, teils abends am 
Schluß des Unterrichts. Er erwähnt nichts, was Höpfner ihm zum 
Vorwurfe macht, über den Umfang und den Text seiner Diktate. 
Wohl findet sich eine gesonderte Wertung der Fehler als Versehen 
und eigentliche Fehler des Wissens und der Aufmerksamkeit. Die 
Fehler des Wissens ließ er mit gutem Grunde außer Beachtung. Er 
konstatierte eine Zunahme der Fehler in den nachmittäglichen Diktaten 
gegenüber den am Vormittage angefertigten von 33 /,. 

Höpfner ließ in einer Schulklasse von fünfzig Knaben im Alter 
von etwa neun Jahren zum Zweck der Versetzung ein Prüfungsdiktat 
anfertigen. Für dasselbe kamen neunzehn Sätze in Betracht, die im 
Durchschnitt je dreißig Buchstaben enthielten. Jeder Satz wurde ein- 
mal vorgelesen, dann einmal von einem Schüler wiederholt und schließ- 
lich noch einmal von der ganzen Klasse. Darnach hatten die Kinder 
den Satz aus dem Gedächtnis niederzuschreiben. Die Arbeit dauerte 
etwa zwei Stunden. Als Höpfner hernach bei der Korrektur die er- 
heblich größere Zahl der Fehler in der zweiten Diktatstunde gegen- 
über der ersten auffiel, kam er auf den Gedanken, das »Diktat psy- 
chologisch zu verwerten«e. Innerhalb der ersten Diktatstunde beob- 
achtete er ein stetes Sinken der Fehlermenge von Satz zu Satz, inner- 
halb der zweiten aber eine Zunahme — wenn auch in starken Schwan- 
kungen — vom Doppelten auf das Siebenfache. Wertvoll ist an der 
Arbeit Höpfners die scharfsichtige und außerordentlich interessante 
Fehleranalyse, die deutlich die Ermüdungswirkung in dem Sinne 
widerspiegelt, daß die später erlernten Wörter, grammatikalischen und 
sprachlichen Bildungen, also: die jüngeren und noch nicht in dem 
Umfange gefestigten Assoziationen, der Ermüdung weitaus geringeren 
Widerstand entgegenzusetzen vermögen, daß ihre Reihen zuerst ge- 
lichtet werden. — Friedrichs Untersuchungen mittels der Diktier- 
methode unterscheiden sich formell von der Höpfnerschen. Er 
stellte mehrere Diktate zusammen, von denen jedes zwölf Sätze mit 
annähernd gleicher Buchstabenzahl enthielt und reklamierte für die 
einzelnen Sätze und die ganzen Diktate gleiche Schwierigkeitsgrade. 
Inhaltlich und formell boten die Diktate den Schülern nichts Neues; 
jedes schwierige Wort war im voraufgegangenen Rechtschreibeunter- 


Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 399 


richt schon besprochen, buchstabiert und geschrieben worden. Die 
Versuche wurden angestellt: 1. vor der ersten, 2. nach der ersten 
vormittäglichen Schulstunde, 3. nach der zweiten vormittäglichen Stunde; 
zwischen der ersten und zweiten lag eine Pause von acht Minuten, 
3.a) nach denselben Stunden aber ohne Erholungspause, 4. nach drei 
vormittäglichen Schulstunden; zwischen der ersten und zweiten, zweiten 
und dritten Stunde, je eine Pause von fünfzehn Minuten, 4.a) nach 
drei vormittäglichen Schulstunden; eine fünfzehnminutige Pause nur 
zwischen der zweiten und dritten Stunde, 4.b) nach drei vormittäglichen 
Schulstunden ohne Pause, 5. vor der ersten nachmittäglichen Stunde, 
6. nach derselben, 7. nach der zweiten mit einer Pause nach der 
ersten von fünfzehn Minuten, 7.a) nach der zweiten nachmittäglichen 
Unterrichtsstunde ohne Pause. 


E. Kombinierungen. 

Neben der Benutzung der Methoden für sich allein besteht noch 
die Möglichkeit der Kombinierung zweier oder mehrerer. Solches 
Verfahren hat den Vorzug, daß es den Prüfling von mehreren Seiten 
anfaßt. Die Anwendung nur einer Methode ist und wirkt einseitig, 
schon dadurch, daß dann mit der Möglichkeit gerechnet werden muß, 
daß für die gesonderte Arbeit Sonderbegabungen der Prüflinge 
fördernd oder — sofern sie auf anderm als dem Prüfungsgebiete 
liegen — hemmend, auf jeden Fall aber für den Versuch störend 
wirken. Eine Vereinigung mehrerer Methoden auf dieselbe Gruppe 
von Versuchspersonen ist sehr wohl geeignet, solchen Störungen er- 
folgreich entgegenzutreten. 

Nicht nur in abwehrendem Sinne und im Interesse zuverlässigerer 
Ergebnisse würde ein derartiges Kombinieren von besonderem Werte 
sein — es würden ganz neue Einblicke zu erwarten sein in das Ver- 
halten einzelner physischer und psychischer Leistungen gegenüber den 
Ermüdungswirkungen untereinander. Ich denke unter andern an die 
Ermüdungsverhältnisse zwischen der leiblichen und geistigen Leistungs- 
fähigkeit des Individuums, an die Entscheidung der Fragen: Gehen 
sie parallel oder divergieren sie, bewegen sie sich in Wellen mit 
parallel oder entgegengesetzt lagernden Kulminationspunkten? usf. 
Oder man überlege die geistigen Leistungen: Welche von ihnen halten 
der Ermüdung am ehesten Stand, welche unterliegen ihr schneller 
und dauernder? u. a. Sicherlich werden sich hier individuell ver- 
schiedene Verhaltungsweisen aufzeigen und zu Typen vereinigen lassen 
— Leistungstypen —, die für die praktische Pädagogik von nicht zu 
unterschätzendem Werte sein möchten. 


400 A. Abhandlungen. 





Solche Überlegungen sind aber nur dann möglich, wenn die Be- 
obachtungsbasis eine einheitliche ist, d. h. dieselben Prüflinge einer 
umfänglichen experimentellen Beobachtung unterworfen werden. Eine 
Zusammenordnung vun Ergebnissen, die an verschiedenen Versuchs- 
personen, zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Bedingungen 
gewonnen wurden, zu einem einheitlichen Ganzen ist nicht statthaft, 
denn sie bietet für sichere Schlußfolgerungen keine hinreichend ge- 
festigte Grundlage. Dazu kommt dann noch insbesondere, daß das 
heute vorliegende Beobachtungsmaterial vielfach noch so unsicher, so 
widersprechend ist, daß schon aus diesem Grunde eine gewaltsame 
Vereinigung sich verbietet. 

Die Kombinierung stößt aber auf mancherlei Schwierigkeiten. 
Diese sind teils versuchstechnischer Art. Einerseits würden sie einen 
großen Aufwand an Kraft und an Zeit beanspruchen, über die schwer- 
lich zu verfügen sein wird. Möglich, daß sich eine Reihe von 
Forschern bereit finden würden, sich in den Dienst der Sache zu 
stellen, aber es würde schwer halten, Prüflinge in wünschenswerter 
Menge zu gewinnen. Soweit es sich um Schüler handelt, würden 
Laboratoriumsversuche zu leicht wegen ihrer monotonen Exaktheit, 
Langeweile, Überdruß wecken, andrerseits müßten sie auf Zeiten ver- 
legt werden, die für die Hauptarbeit des Schülers gewohntermaßen 
nicht in Frage kommen u. a. Die Schulversuche würden aber ent- 
weder einen großen kostspieligen Aufwand an Apparaten notwendig 
machen oder so viel Zeit beanspruchen, daß sie im Interesse eines 
geordneten Unterrichts nicht zugelassen werden könnten. 

Zwar könnte man sich dadurch einen Ausweg schaffen, daß die 
Anwendung verschiedener Methoden auf verschiedene korrespondierende 
Tage verteilt würde. Damit würde man aber mancherlei Schwierig- 
keit in Kauf nehmen müssen, es würde die Wahrung des cetera paria, 
die schon bei Anwendung derselben Methode so große Mühe macht, 
in noch weit höherem Maße gefährdet sein. 

So erklärt sich, daß relativ wenig und wenig umfangreiche Kombi- 
nierungen vorliegen. Ich mache nur auf das kombinierte Verfahren 
Telgatniks aufmerksam, über das er in Burgersteins Handbuch 
der Schulhygiene berichtet. Seine Prüflinge waren 25 Volksschüle- 
rinnen, die vier Versuchen unterworfen wurden. 1. Die Aufmerksam- 
keit wurde dadurch geprüft, daß den Mädchen die Aufgabe gestellt 
wurde, in ihrem Lesebuche eine Seite aufzuschlagen und die Buch- 
staben eines jeden der ersten fünf Zeilen zu zählen. Die fünf ein- 
zelnen Summen notierten sie auf einer bereitgehaltenen Schreibfläche. 
Dann mußten sie im Kopfe Additionen und Subtraktionen vollziehen; 


Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 401 





die Aufgaben, mehrere Paare zweistelliger Aufgaben, waren an die 
Wandtafel geschrieben. Das Resultat notierten die Prüflinge ebenfalls. 
Als zweite Aufgabe stellte sich Telgatnik, die Merkfähigkeit zu 
prüfen, und zwar handelte es sich dabei um das unmittelbare Behalten. 
Hier war das Verfahren folgendes: Sechs ein- bis dreisilbige Wörter 
und je vier ein- bis zweistellige Zahlen wurden entweder von dem 
Versuchsleiter vorgesprochen und von den Schülerinnen im Chor 
wiederholt — oder vorgeschrieben, gezeigt und weggelöscht. Im un- 
mittelbaren Anschluß an die Darbietung mußten die Versuchspersonen, 
was sie gesehen und im Gedächtnis festgehalten hatten, auf das Papier 
niederschreiben. Nun wurde das Wiedererkennen, das Sicherinnern 
geprüft. Zu diesem Zwecke erhielten die Kinder Blätter, die be- 
schrieben waren mit 100 Wörtern und 50 Ziffern. Unter den Ziffern 
und Wörtern befanden sich auch diejenigen, die bei der Prüfung der 
Merkfähigkeit benutzt worden waren. Die Schülerinnen mußten die- 
jenigen unterstreichen, die sie glaubten bei den voraufgegangenen 
Versuchen gehört oder gesehen zu haben. — Diese vier Teilprüfungen 
wurden vor und am Schluß des Unterrichts, der von 9—2 Uhr dauerte, 
und außerdem noch zweimal während desselben ausgeführt. Einen 
Mittelwert, den Telgatnik aus allen vier Versuchen errechnete, be- 
zeichnete er als Maßstab in doppeltem Sinne: einmal als solchen der 
»Arbeitsfähigkeit« überhaupt, sodann aber auch für die Wirkung der 
Arbeit, des Spiels, der Pause usf. 

Wir sind am Ende einer Wanderung angelangt, deren Aufgabe 
war, einen Überblick zu gewinnen über die Bemühungen, einen brauch- 
baren Maßstab zur Wertung der Ermüdung zu erlangen. Ich hoffe, 
daß weitaus die meisten und wertvollsten Bestrebungen dabei berührt 
worden sind. Die große Fülle der Methoden drängt notwendig dazu 
hin, nunmehr eine Prüfung ihres Wertes zu unternehmen, ihnen 
kritisch zu begegnen. Ein Überblick über die Gesamtheit der Me- 
thoden bewahrt am ehesten vor einseitiger Stellungnahme. 


Drittes Kapitel. 
Wesen der Ermüdung. 


1. Allgemeine Bemerkungen. 

Man will einen Maßstab gewinnen, den Grad der Ermüdung, oder, 
durch den negativen Koeffizienten charakterisiert, das Maß der ver- 
minderten Leistung zu bestimmen, sofern diese Verminderung ursäch- 
lich geknüpft ist an die erfahrungsgemäß gegebene psychologische 
Erscheinung der Ermüdung. Vom Gegebensein dieser Erscheinung 


402 A. Abhandlungen. 





überzeugen teils subjektive, teils objektive Merkmale. Die subjektiven 
Merkmale sind aber die primären; sie werden mit den objektiven 
Kennzeichen der Leistungsherabsetzung als ursächlich verknüpft, sie 
erst prägen für die Veränderung als ursächlich das entscheidende, 
charakteristische Merkmal: Ermüdung. Die Ermüdung ist immer 
zunächst ein subjektives Erlebnis, das zumeist mit einem objektiv 
erfahr- und nachweisbaren Effekt, nämlich dem der psychophysischen 
Leistungsverminderung verbunden ist. 

Sowohl der subjektive Tatbestand, den man als Ermüdung be- 
zeichnet, wie auch der ihm zugeordnete äußere, objektive, ist sehr 
komplexer Natur, und daraus erklärt sich, daß die Zuordnung nur 
sehr schwer eindeutig gelingen will. Zwar nicht, wenn man sich mit 
der allgemeinen, als sicher bestätigt geltenden Erfahrung begnügt: Der 
psychische Erfahrungskomplex, den wir Ermüdung zu nennen gewöhnt 
sind, und eine gegen eine gewisse Norm herabgesetzte Leistung sind 
zusammen gegeben. Diese Wahrheit ist so millionenfach beglaubigt, 
daß man jeglicher, gar mühsamer Forschung entraten könnte — so- 
fern jene ausreichte! Aber nicht nur ein theoretisches Interesse, das 
eine analytisch-synthetische Bearbeitung des Ermüdungsphänomens 
zum Gegenstand hat, also ein vorwiegend psychologisches und physio- 
logisches Interesse, auch ein praktisches erfordert dringlich ein ge- 
naueres Studium der Zuordnung der Ermüdungskomponenten zu den 
objektiven Erfolgen, eine genauere Erforschung der kausalen Ver- 
hältnisse einerseits in der Absicht prophylaktisch wirken zu können, 
Schädlingen zu begegnen, andrerseits um ratend, helfend, in allge- 
meinerem Sinne pädagogisch einzuwirken, um solche praktische Arbeits- 
methoden zu empfehlen, die gesunde, optimale, d. h. mit möglichst 
geringem Kraftaufwande wertvolle Leistungen dauernd zu ermöglichen. 
Denn tief greift das Problem der Ermüdung in alle praktische Be- 
tätigung ein. Nicht nur der Arzt, nicht nur der Pädagoge, sondern 
auch der Nationalökonom ist lebhaft daran interessiert. 

Diese theoretischen und praktischen Interessen aber gehen viel 
weiter, als daß sie sich mit der allgemeinen Vulgärbeobachtung be- 
gnügen könnten. Sie müssen messend an das Problem der Ermüdung 
herantreten. Das würde offenbar dann auf nicht große Schwierig- 
keiten stoßen, wenn die subjektive Ermüdung ein genau abstufbares 
Maß an die Hand zu geben vermöchte, d. h. die dem ermüdeten 
Subjekt bewußten Empfindungs- und Vorstellungskomplexe. Das ist 
aber keineswegs der Fall; sie sind höchstens zu werten als Signale, 
daß der Zustand der Ermüdung sich subjektiv bemerkbar mache, 
sonst aber so vielfach determiniert, daß sie über den tatsächlichen 


Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 403 








Stand der Leistungsfähigkeit oft nur täuschen. Die Beziehung zwischen 
der Gefühlslage und den in Frage kommenden tatsächlichen psycho- 
physischen Zuständen ist nicht eindeutig; der Wille vermag sogar 
umdeutend einzugreifen. Das Gefühl der Müdigkeit kann sich be- 
merkbar machen, während tatsächlich noch, oft gar recht bedeutende 
— Leistungsfähigkeit vorhanden ist, und umgekehrt weiß man, daß es 
sich nicht einstellt, trotzdem die Arbeit stundenlang fortgesetzt worden 
ist. Dazu ist die jeweilige Stimmung nicht ohne Einfluß. Der Zage, 
Gedrückte wird viel eher von dem Gefühlskomplexe gepackt, den wir 
gewohnt sind, Unlust oder Müdigkeit zu nennen. Die Angst, die Ge- 
fahr beflügelt die Kräfte und vermag Leistungen zu forzieren, die 
hernach, bei ruhiger Beurteilung, Staunen und Verwunderung erregen. 
Mancherlei Nahrungs- und Genußmittel vermögen das Gefühl der Er- 
schlaffung zu verscheuchen oder künstlich zu erzeugen. Typische 
Eigenart mancher Arbeiter ist, daß sie zu Beginn der Arbeit oft müh- 
sam ein Trägheitsmoment zu überwinden haben, daß ihnen die Ein- 
stellung auf die Arbeit also nur schwer gelingt, während sie hernach, 
wenn sie »im Zuge sind«e, große, durch kein Ermüdungsgefühl ge- 
trübte Leistungsfähigkeit an den Tag legen. Im Gegensatz dazu stürzen 
andere mit einem Übermaß von Optimismus auf die geforderte Arbeit 
und nach kurzer Zeit stellt sich das hemmende Gefühl der Unlust 
mit steigender Wirkung ein. Das subjektive Ermüdungsgefühl ist also 
ein durchaus trüglicher Maßstab und für sich allein, unkontrolliert 
und unkorrigiert, völlig unbrauchbar, die Ermüdung eingehender zu 
werten. Kein Wunder, daß, solange man sich auf dieses allein ver- 
ließ, so widersprechende Meinungen sich hervordrängten, so wenig 
Zuverlässiges über die Ermüdungswirkungen in den praktischen Er- 
scheinungsformen zu finden war. Man mußte mit allen Mitteln danach 
trachten, objektive, von der Persönlichkeit möglichst unabhängige, 
Methoden anzuwenden. Man mußte danach trachten, unter den Er- 
müdungssymptomen solche aufzufinden, die nicht einseitig unter der 
Wirkung des täuschenden Ermüdungsgefühls stehen, vielmehr solch 
gewisse Unabhängigkeit und Konstanz aufweisen, die eine zuverlässigere 
Vergleichsmöglichkeit und Meßbarkeit gestatten. Man mußte ein be- 
stimmtes Bezüglichkeitsverhältnis, eine Korrelation zwischen der 
tatsächlichen Ermüdung und gewissen Symptomen von so eindeutigem 
Werte suchen, daß unter allen Verhältnissen und Umständen die 
Symptome unverfälscht blieben und — ihre genaue quantitative Ver- 
änderlichkeit behielten. Wir werden hernach erfahren, wie man sich 
diese Veränderlichkeit und die tatsächliche Ermüdung der Abnahme 
der Leistungsfähigkeit als in geradem Verhältnis zueinander stehend 


404 A. Abhandlungen. 








von vornherein dachte; wir werden weiter sehen, daß für bestimmte 
Symptomenreihen diese Annahme ein Vorurteil bedeutet, daß nicht 
eine stete quantitative Abnahme für die Entstehung und das Vor- 
handensein von Ermüdung charakteristisch ist; wir werden weiter 
sehen, daß aber für die Wertung der angewandten Methode dieses 
Vorurteil vielfach von verhängnisvoller Bedeutung gewesen ist. 

Es möge zwischenhinein bemerkt werden, daß das Bestreben, den 
Ermüdungsmaßstab solchen Symptomen zu entnehmen, die möglichst 
weitab liegen von der Beeinflussung durch das Ermüdungsgefühl, 
schwer an gewissen Gefahren vorbeifindet. Zunächst kommt man sehr 
leicht dahin, solche Symptome zu wählen, die ganz an der Peripherie 
der Ermüdungswirkung liegen, man wählt Zufälligkeitssymptome 
in dem Sinne, als unter vielen andern eine nebensächliche Äußerungs- 
weise verminderter Leistungsfähigkeit geprüft wird. Je näher das 
Symptom dem Zentrum der Ermüdungswirkung liegt, desto einwand- 
freier wird es von dieser — so sollte man annehmen — beeinflußt, 
desto wertvoller muß es als Ermüdungsindex sein. Je weiter ab an 
die Peripherie es liegt, desto vieldeutiger droht es zu werden. Aller- 
dings, je zentraler die Lage des Symptoms, desto schwieriger, je weiter 
peripher, desto einfacher und schneller gestaltet sich seine messende 
Wertung. Diese Bequemlichkeit erkauft man aber damit, daß man 
nicht genau die Ermüdung und das Symptom zuzuordnen imstande 
ist. Man weiß nicht anzugeben, ob Überdruß, Langeweile, Unauf- 
merksamkeit, Abgelenktheit, Stimmung u. v. a. oder die Ermüdung 
allein in den quantitativen Symptomwandlungen zum Ausdruck kommt, 
— genauer ausgedrückt: Weil dieses Moment der eindeutigen Zu- 
ordnung eine Hauptschwierigkeit aller Ermüdungsmessungen ist, steht 
man bei der Wahl peripherer Maßsymptome in besonders großem Maße 
Hemmungen gegenüber — oder muß sie gänzlich unbeachtet lassen. 
— Umgekehrt, je näher der Index dem Zentrum gewählt wird, desto 
mehr sieht man sich darauf verwiesen, einzelne Seiten der Ermüdungs- 
wirkung herauszugreifen und zu verfolgen. Damit ist andrerseits der 
Vorteil verbunden, daß man eine genauere Analyse der begleitenden 
psychophysischen Umstände zumeist wird vornehmen können. 

Bevor man aber in Erwägungen eintreten kann über die Frage, 
welchen Index man wählen wolle, muß das Wesen der Ermüdung 
einer Betrachtung unterzogen werden. Die Ermüdung ist eine psycho- 
physische Erscheinung, sie muß also nach beiden Seiten, der physio- 
logischen wie der psychischen eine Würdigung finden. Dieser muß 
die Frage vorangestellt werden, ob diese doppelte Erscheinungsweise 
auf zwei oder auf eine Ursache zurückzuführen sei oder nicht. Selbst- 


1. Erster Ungarischer Landeskoigreß für Kinderforschung in Budapest. 405 





verständlich dürfen dabei keinerlei metaphysische Erörterungen platz- 
greifen, sondern die Angelegenheit muß lediglich auf Grund der 
Tatsachen entschieden werden, die die neuere Ermüdungsforschung 
zutage gefördert hat. Die Frage lautet genauer formuliert so: Hat 
die geistige Ermüdung ihre Ursachen in psychologischen, 
die leibliche in physiologischen Vorgängen und Zuständen, 
oder ist die leibliche, bezw. die geistige Zustandsänderung 
das entscheidende für beide Formen der Ermüdung? 
(Forts. folgt.) 


B. Mitteilungen. 


1. Erster Ungarischer Landeskongress für Kinder- 
forschung in Budapest. 
Mitgeteilt von K. G. Szidon-Budapest. 


Anläßlich ihres zehnjährigen Bestehens veranstaltete die Ungarische 
Gesellschaft für Kinderforschung einen Landeskongreß, der vom 17. bis 
20. März in Budapest tagte. Die Einleitung dazu bildete die einen Tag 
früher abgehaltene Jahresversammlung. Da wurde die Geschichte der Ge- 
sellschaft vorgelegt. Wir erfuhren daraus, daß die Wirksamkeit der 
Gesellschaft nunmehr die Erziehungsangelegenheiten des ganzen Landes 
beeinflußt, 1300 Mitglieder zählt, im letzten Jahre 12670 Kronen ver- 
wendete, ferner über drei Fachabteilungen, sieben Filialvereine, eine eigene 
Monatsschrift, einen Buchverlag und zwei andere Unternehmungen verfügt, 
endlich Laboratorien und ein pädologisches Museum besitzt. 

In Anwesenheit des Unterrichtsministers, zweier Staatssekretäre, des 
Bürgermeisters, der Vertreter verschiedener Institutionen un@unter zahl- 
reicher Beteiligung des Landes (ungefähr 500 Mitglieder) eröffnete der 
Präsident des Vorbereitungskomitees Ladislaus Nagy den ersten Landes- 
kongreß für Kinderforschung. 

I. Dozent Edmund Wessely-Budapest sprach über »Kinder- 
forschung und Pädagogik«. Er betont mit Nachdruck den wissen- 
schaftlichen Grundcharakter der Pädagogik, deren Bestimmung es ist, 
Richtung und Gesetze der Entwicklung der Kultur zu studieren, sowie 
ihre großen, wertvollen geistigen Schätze der Menschheit zugänglich zu 
machen. Um diese heilbringenden Ziele zuverlässiger zu erreichen, müsse 
eine kulturelle Organisation geschaffen werden, die es jedem Sterblichen 
ermögliche, seine intellektuellen Ideale nach Lust und Bedarf vollauf 
zu stillen. 

Zwecks sicherer Verwirklichung dieser Arbeitsziele stellt er folgende 
Anträge: 

1. Die Gesellschaft möge behufs wissenschaftlichen Erkennens des 
Kindes im Rahmen der bestehenden pädagogischen Fachsektion eine Arbeits- 


406 B. Mitteilungen. 





gemeinschaft gründen, in der Erfahrungsmaterial für die theoretische Päda- 
gogik erbracht werden solle. 

2. Der Kongreß trachte daher, daß das Unterrichtsministerium baldigst 
an den Universitäten Lehrstühle für Kinderforschung und experimentelle 
Pädagogik errichte. 

3. Der Kongreß beschließe, daß Pädologie Gegenstand jeder Mittel- 
schullehrerprüfung sei; künftige Seminarlehrer sollen sich zumindest zwei 
Semester hindurch damit beschäftigen, und die Resultate der Kinder- 
forschung mögen in allen Lehrerbildungsanstalten eingebürgert werden. 

I. Universitätsprofessor Ludwig Lechner-Klausenburg hielt einen 
Vortrag über »Kinderforschung und Medizin« und stellte nachstehende 
Leitsätze auf: 

1. Es sind alle diejenigen Eigenschaften von Ahnen, Eltern, des 
Embryos, des Lebens vor der Geburt sowie des Kindesalters amtlich oder 
vermittels der Schul- und Hausärzte zu erforschen. 

2. Die körperliche und seelische Entfaltung ist durch parallele Ver- 
gleichungen bis ans Ende der einander ablösenden Lebensalter zu studieren. 
Daran müssen auch die Schulärzte beteiligt und physiologisch-psychologische 
Laboratorien errichtet werden. 

3. Es sind alle gesellschaftlichen Verhältnisse, welche die physische 
und psychische Entfaltung hemmend, richtunggebend oder schädlich be- 
einträchtigen, bei den zum Studium erwählten verlassenen, kranken, 
sträflichen oder vor einem Beruf stehenden Kindern zu ergründen, wozu 
die Patronagevereine, Jugendgerichte, persönlich mitarbeitende Kommissäre 
und Ärzte mit herangezogen werden sollen. — Der Kongreß beschloß zu 
beantragen, allenthalben Schulärzte anzustellen und Kinderforschung als 
Kolleg der Mediziner einzuführen. 

II. Über »Kinderforschung und Rechtspflege« referierte Uni- 
versitätsprofessor Paul Angyal-Budapest. Drei Typen stellte er auf, 
wonach das Kind mit der Justiz in Beziehung geraten kann: Im ersten 
Fall bleibt des Kindes Individualität noch außer acht, da kommen nur 
seine privatrechtlichen Ansprüche in Betracht. Im zweiten Verhältnisse, 
wo es als Mittel der Gerichtsverwaltung, wie z. B. als Zeuge, vorkommt, 
müsse bereits sein Seelenleben berücksichtigt werden. Jedoch vollends 
unentbehrlich erweist sich die Kinderforschung in dem Kreise, wo das 
Kind schon als Objekt der Justizpflege eine Rolle spielt, mithin die Frage 
die Lösung heischt, welches Verfahren sträflichen Minderjährigen gegenüber 
verwertet werde, um sie zu brauchbaren Mitgliedern der Gemeinschaft 
machen zu können. Danach wurde zum Beschluß erhoben, Pädologie als 
Kolleg für Rechtshörer zu erwirken. 

IV. Kinderasylleiter Primarius Dr. Melchior Edelmann-Großwardein 
beleuchtete das Thema »Kinderforschung und Kinderschutz«, und 
unterbreitete folgende Anträge: 

Da die Leiter, Ärzte, Lehrpersonen und Pfleger der Kinderschutz- 
Institute nur im Besitz pädologischer Kenntnisse zielbewußt und erfolgreich 
zu wirken vermögen, muß ihnen Gelegenheit geboten werden, sich in 
diesem Wissenszweig auszubilden, oder, falls der Besuch eines solchen Lehr- 


1. Erster Ungarischer Landeskongreß für Kinderforschung in Budapest. 407 





kursus unerreichbar, ist es ihre Pflicht, sich der Disziplin schlechtweg 
theoretisch durch Selbstbildung zu widmen. 

Die Gesellschaft für Kinderforschung möge eine kurze und allverständlich 
gehaltene »Unterweisung« herausgeben, aus der alle Angestellten der hierher 
gehörigen Anstalten (Kinderasyle, Heime, Kolonien) die wichtigsten Methoden 
der Kinderforschung erfahren, um sich derselben im Dienste des Kinder- 
schutzes bedienen zu körnen. 

V. Der Nachmittag am 17. war der Gruppe »die schaffende Arbeit 
in Erziehung und Unterricht« vorbehalten. Den ersten Vortrag hielt 
Bürgerschullehrerin L. Domonkos-Szegedin über »Die Psychologie 
der schaffenden Arbeit«. Sie erhärtete, daß die heutige Arbeits- 
methode der Ausgestaltung der Kinder kaum entspricht, hingegen die 
Inanspruchnahme der Aktivität am sichersten zu geistiger Selbständigkeit 
führt, mithin das rezeptivre Wesen zu einem produktiven gestaltet. Im 
Unterricht kann die schaffende Arbeit als methodisches Prinzip in zwei 
Formen Anwendung finden. Erstlich erleichtert sie die geistige Arbeit 
der Erfassung, befriedigt der Kinder suchende und nachspürende Neigungen 
und ist für den Massenunterricht von großer Bedeutung. Die zweite 
Richtung bewährt sich als genetisches Hilfsmittel; dient zum Erwecken 
der schöpferischen Tätigkeit und zur zuverlässigsten Entäußerung der 
unbewußten Kräfte. 

VI. »Didaktik der schaffenden Arbeit« behandelte Seminarlehrer 
A. Urhegyi-Budapest. Er forderte: 

Der Kongreß lasse überall den Arbeitsunterricht vorherrschen und 
ändere das bisherige formalistische und verbalistische Lehrverfahren; dieser 
Gedanke soll in den Fortbildungskursen für Lehrer in breitestem Rahmen 
vorgetragen und immer durch Ausstellungen u. dergl. auf der Tagesordnung 
gehalten werden. 

VI. Als dritter sprach Direktor P. Guttenberg-Budapest über 
»Schaffende Arbeit und Gesellschaft«. Die Jugend befaßt sich von 
zarter Kindheit an gerne mit leiblichen Arbeiten. Tätigkeit ist das erste 
Bedürfnis im Organismus des Kindes, anfangs ahnt es nicht die Tragweite, 
doch während des Interessierens müsse es sich durch geeignete Anweisung 
dessen bewußt werden, daß es die Arbeit zum Wohle seiner Neben- 
menschen zu erledigen habe; dadurch steigert sich sein Vergnügen, aber 
auch das soziale Gefühl wird zugleich genährt. Auf den höheren Stufen 
der Volkserziehung seien jene Gesichtspunkte in der Wahl der Hand- 
arbeit maßgebend, welche durch die Vorbereitung zum Berufe nahe- 
gelegt werden. 

VII. Karl Ballay sprach über »Die formelle Beschäftigung 
des Kleinkindes«e. Nachdem er die Bedeutung, die biologische Grund- 
lage und den Zweck der Beschäftigung erörtert, beantragte er: Die Aus- 
bildung der Kleinkinderbewahrer basiere auf psychologisch - pädagogischer, 
die Praxis aber auf pädologischer Grundlage. Deshalb müssen vorerst die 
pädagogischen Lehrkräfte für Kinderbewahranstalten in den Methoden dieser 
Wissenschaftszweige gründlich vorgebildet werden; die bereits wirkenden 
Bewahrer aber sollen in ständigen Fortbildungskursen die nötigen Kenntnisse 


408 B. Mitteilungen. 











sich aneignen. Weiter möge mit Benutzung der neueren Prüfungen und 
experimentellen Resultate ein Leitfaden herausgegeben werden, welcher 
gemeinhin alle wichtigen Fingerzeige zu enthalten hätte. 

IX. Am 18. wurden die Sitzungen fortgesetzt. Der Vormittag war 
-der individuellen Erziehung gewidmet. Zuerst begann Dr. Ludwig Gockler- 
Budapest mit dem Thema »Die Systeme des individuellen Unter- 
richts in der Schule«. Als Hauptproblem gelte, im Rahmen des 
Massenunterrichts einen angängigen individuellen Unterricht zu erreichen. 
Die sich diesem Ziel entgegenstellenden Hindernisse wären derart zu über- 
winden, daß die ungewöhnlich zurückbleibenden oder besonders rasch fort- 
schreitenden Schüler in entsprechende Gruppen verteilt werden müßten, 
diejenigen aber, die in verschiedenen Lehrgegenständen gleichmäßige Fort- 
schritte machen, zusammen verbleiben können. Ferner sollten Versuche 
angestellt werden, in etlichen Volks- und Mittelschulen die Zöglinge nach 
dem Schlusse eines Semesters schon weiter aufsteigen zu lassen. Das 
Jahressystem mitsamt dem Sitzenbleiben und Wiederholen falle gänzlich, 
und an dessen Stelle trete das stufenweise Gruppensystem. Vorläufig 
könnten schlechtweg gesonderte Klassen »für schwächere Schüler«, wie sie 
bereits in einer hauptstädtischen Kommunal-Mädchenbürgerschule existieren, 
eingerichtet: werden. Ferner sollten besondere Institute für geistig zurück- 
gebliebene und krüppelhafte Kinder ins Leben gerufen werden. 

X. Dozent Alexander Imre-Budapest sprach »Vom Notengeben«. 
Dieses ist nur insofern von erziehlicher Wirkung, als es nicht bloß den 
Fortgang im Lernen, sondern vielmehr des Schülers Individualität und 
seine Lebensverhältnisse in Betracht zieht. In der Volksschule genüge es 
vollends einfach zu bestimmen, daß der Zögling versetzt wird. In der 
Mittelschule erscheint das Notengeben wegen des Fachsystems derzeit 
unabwendbar, obwohl dessen schädlicher Einfluß auch hier aufs minimalste 
zu reduzieren sei und höchstens drei Noten zulasse. Die Fleißzensur sei 
unabhängig von dem allgemeinen Fortgang, die des Betragens wieder soll 
nie mit einer Ziffer allein, sondern mit einer kurzen Charakteristik jedes 
Schülers ausgedrückt werden. Bei jeglicher Klassifizierung müsse be- 
stimmt werden, ob der Zögling seit der letzten Zensur einen Fortschritt 
aufwies, und worin er sich offenbarte. 

XI. Dozent Dr. Adolf Juba-Budapest behandelte »Die ärztliche 
Untersuchung der Schüler«. Eine individuelle Erziehung kann nur 
dort statthaben, wo ein gehörig vorgebildeter, pädagogisch geschickter 
Schularzt die Gesundheit stets mit wachsender Aufmerksamkeit verfolgt. 
Als Mitarbeiter in der Schulhygiene müssen die Lehrpersonen gleichfalls 
eine entsprechende Schulung genossen haben. Deshalb ist es notwendig, 
eine systematische ärztliche Untersuchung mit Vermerkung und Mitteilung 
aller Gesundheitsdaten allerorts einzubürgern. Die Arbeit kann, wo ein 
Schularzt unmöglich ist, von Gemeinde- oder Kreisärzten erledigt werden. 
Sowohl die Ärzte als auch die Lehrer müssen während des Studiums in 
Schulgesundheitslehre Ausbildung erhalten. Ferner müßte angebahnt werden, 
die geistigen Fähigkeiten der Zöglinge einer psychologischen Prüfung unter- 
ziehen zu können. 





1. Erster Ungarischer Landeskongreß für Kinderforschung in Budäpest. 409 





XI. Die »Schulen nervöser Kinder« beleuchtete Dr. J. O. 
Vertes-Budapest. In der seit 4 Jahren bestehenden Staatsschule für 
nervöse Kinder befinden sich zwei Schülerkategorien, und zwar Bürger- 
schüler und Gymnasiasten vereinigt. Daß dies beiden hinderlich ist, be- 
weisen die gemachten pädagogischen Erfahrungen. Auf die guten Schüler 
wirkt drückend die langsame Auffassung und das linkische Verhalten der 
schwächlichen, die allmählich ihr geistiges Zurückbleiben bemerken und 
schließlich nur entmutigt und natürlich mit weniger Erfolg ihren Pflichten 
nachzukommen vermögen. Dieser auffallende Unterschied läßt sich auch 
im Wort- und Vorstellungsschatz auf Grund der schriftlichen Aufgaben 
und Zeichnungen nachweisen. Vortragender wünschte deshalb die heutige 
Lehr- und Erziehungsanstalt für nervöse Kinder in zwei Institute zu 
teilen. Da die Schule zumeist von Gymnasiasten (33 °/,) besucht wird, 
müßte in erster Reihe für diese gesorgt werden. 

XII. Über »Hilfsschulen« berichtete Direktor Mathias Eltes- 
Budapest. Er gab einen Überblick über die Entstehung, Verbreitung und 
Organisierung der Hilfsschulen, dann über die Ausmusterung, Aufnahme, 
Erziehung, Unterricht und Weiterfortbildung der Schwachbefähigten ; endlich 
besprach er deren Lebensberuf, die gesellschaftlichen Pflichten, die Rolle 
der Lehrer und Ärzte, sowie die üblichen Einwände und deren Kritik. 
Überall. wo die Einwohnerzahl 10 000 übertrifft, sollen Aushilfsklassen, in 
bevölkerten Städten aber Hilfsschulen für schwachbefähigte Schüler eröffnet 
werden. Für die schwerer belasteten geistig minderwertigen Kinder mögen 
auf verschiedenen Plätzen des Landes mit Landwirtschaft verbundene ge- 
schlossene Beschäftigungsanstalten errichtet werden, wo die Unglücklichen 
zeitlebens eine Zufluchtsstätte finden könnten. 

XIV. Ein Referat »Individualitäts-Charakterblätter« er- 
stattete Seminaroberlehrer Ernst Laszczik-Großwardein. Der Lehrer 
vermag ohne Individualisation und ohne Umformung des Lehrplans sein 
Ziel nicht zu erreichen. Es helfen ihm die Charakterblätter über viele 
Schwierigkeiten hinweg, zumal diese geeignet sind, die Masse der Be- 
obachtungen in Evidenz zu halten, ferner den Entwicklungsgang der 
Einzelnen für die Schule, ja das Leben und vielleicht sogar die Justiz bei 
wissenschaftlicher Diskretion aufzubewahren. Deshalb rät Vortragender, 
der Kongreß lasse Individualitäts-Charakterblätter verfassen und überreiche 
sie allen Lehr- und Erziehungsanstalten mit der Bitte, diese nach An- 
weisung zu benützen. 

XV. Im Anschluß daran präsentierte Bürgerschullehrer Béla Pataki- 
Budapest ein »Soziales Stammblatt«, in ‚welchem 16 alle Lebens- 
verhältnisse des Schülers betreffenden Fragen verzeichnet sind. 

XVI. Der letzte Nachmittag war dem Thema der »sittlichen 
Welt der Kinder« gewidmet. Dazu ergriffen mehrere Redner das 
Wort. Zunächst Schulleiterin Ir&ne Szäsz-Budapest über »Das sitt- 
liche Leben des Kindes«. Sittlichkeit heiße Uneigennützigkeit. 
Grund der Sittlichkeit sei das sittliche Gefühl. Sie besprach weiter sitt- 
liches Denken und sittlichen Charakter, wie auch die Frage, ob der sittliche 
Unterricht berechtigt sei, und weiter den falschen Weg der sittlichen Er- 

Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 27 


410 B. Mitteilungen. 





ziehung. Die Handlungen des ganz kleinen Kindes dürfen in sittlicher 
Beziehung nicht in Betracht kommen. Die erste Lüge zeugt nicht von 
sittlichem Verfall, sondern ist ein Anzeichen der geistigen Entfaltung. 

XVIIL Dr. Margarete Dösai-R&öv&6sz-Budapest behandelte »Die 
sittlich verwahrlosten Kinder vonbiologischem und psycho- 
logischem Standpunkte«. Sie umschrieb eingehend den Begriff der 
Verwahrlosung, wie auch das Wesen des Übels und die Formen der Er- 
scheinung. In eine Gruppe reiht sie die geistig Schwächlichen ein, bei 
denen die Teilerscheinung der Gefühlsveränderung für die Minderwertigkeit 
des ganzen Individuums deutlich spreche, und die ihre regelwidrigen 
Handlungen gewöhnlich als Werkzeuge Erwachsener ausüben. Diese vermag 
die Heilpädagogik sowohl körperlich als geistig ins richtige Geleise zurück 
zu bringen. Zur zweiten Gruppe gehören die geistig Unruhigen, die inter- 
essanter, wertvoller aber auch gesellschaftlich gefährlicher und schwerer 
erziehbar sind. Bei diesen müsse die eigentliche individuelle Arbeit ein- 
setzen, hierbei können die verschiedentlichsten exakten psychologischen 
Kenntnisse nicht minder die psychoanalytischen Methoden nicht umgangen 
werden. Nicht die Unterdrückung oder die gewalttätige Verhinderung der 
Gefühle, vielmehr allein deren Ableitung darf das richtige Verfahren sein; 
denn lediglich auf diese Weise erlangt das Kind sein Recht, Freude zu 
genießen, ohne anderen schaden zu müssen. Immerhin könnten hier- 
bei Beobachtungsanstalten und Fürsorgeheime von größtem Nutzen und 
Heil sein. 

XVII. Über »Die äußern Ursachen kindlicher Verwahrlosung« 
sprach zuletzt Bezirksrichter Dr. E. Kärmän-Erzsebetfalva. Bei Kindern 
müsse die Gesellschaft eine solche Ausgestaltung erhalten, daß das heran- 
wachsende Individuum auch mit minderwertigem Selbstbewußtsein hinein 
gelangen könne. Der Mangel einer derartigen Organisation ist die Ursache 
der Verlotterung. Äußerlich wird diese also durch eine materielle oder 
sittliche Verlassenheit und auch durch die Verfehlungen des Kindes ver- 
ursacht. All dem vorzubeugen und die Verbesserung, das gerichtliche 
Verfahren sowie das Mitwirken der Allgemeinheit sind die gewöhnlichen 
kriminalätiologischen Ursachen. Die Notwendigkeit der gesellschaftlichen 
Organisation die Vereinigung der gesondert wirkenden Institutionen, endlich 
die Teilnahme der Gesellschaft in der Verwaltung ermöglichen, den Ursachen 
der Verwahrlosung rechtzeitig vorzubeugen. 

XIX. Den Abschluß der Vorträge bildete der von Dr. Lad. 
Nögrädy-Budapest über »Kinderforschung und Kinderliterature. 
Da die heutige Jugendlektüre fast durchweg auf geschäftlicher Basis be- 
ruht, die Moral und den Geschmack des Kindes schlechthin verödet, ja 
oft solche Leidenschaften gebiert, die das ganze Leben des Lesers ver- 
giften, müsse Wandel geschafft werden, dessen erste Bedingung eine 
unparteiische vertrauenswürdige Kritik wäre. Ein solch kritisches Forum 
müsse errichtet werden. Diese Körperschaft müßte jedwede Jugendarbeit 
gründlich prüfen und über ihren Wert entscheiden. Diese Urteile könnten 
durch die Monatsschrift »Das Kind« aber auch sonst in die Öffentlichkeit 
gelangen und somit die kindliche Seele vor Schund und Schaden schützen. 


2. Bitte betreffend städtische Heilkurse für Stotterer. 


411 








Allen Vorträgen folgten anregende Diskussionen und Debatten, doch 
kann ich des zur Verfügung stehenden Raumes halber nicht alle Anträge 
in vollem Wortlaute bringen, möchte aber meinerseits schon anderen 
Ländern zuliebe folgender Bemerkung nicht entraten. Der Kongreß soll 
die Regierung ersuchen, eine eigene, selbständige Pädologische Fach- 
sektion im Unterrichtsministerium zu errichten, die mit der Gesellschaft 
für Kinderforschung engste Fühlung unterhalte und deren einzige Be- 
stimmung es wäre, nicht nur den Lehrpersonen, vielmehr jedem, dem des 
Kindes Wohl am Herzen liegt, wann immer mit Rat und Tat beizustehen. 
Eine solche amtliche Fachabteilung wäre am geeignetesten, den grandiosen 
Gedanken der Kinderforschung, von der fürwahr eine körperliche Er- 
tüchtigung, ein geistiges Gedeihen und eine sittliche Gesundung künftiger 
Generationen abhängt, allmählich aber zuverlässig seinem Ziele näher 
zu bringen. 

Vom 19.—21. veranstalteten Lechner, Ranschburg, Nagy, Szántó und 
andere mehrere auf die Vorträge sich beziehende Demonstrationen. 

Im Zusammenhang mit dem Kongreß fand eine Ausstellung für Kinder- 
forschung statt, die vom 16. bis zum 23. März dauerte. Es waren aus- 
gestellt Apparate, die bei psychologischen Experimenten und ärztlichen 
Untersuchungen der Schüler Verwendung finden, ferner kinderhygienische 
Sammlungen, jugendliterarische Produkte, die Schätze unseres pädagogischen 
Museums, und endlich Spezialausstellungen moderner Erziehungsanstalten. 


2. Bitte betreffend städtische Heilkurse für Stotterer. 


Der Unterzeichnete bittet die Leser der Zeitschrift für Kinderforschung, 
in deren Wohnorten städtische Heilkurse für Stotterer eingerichtet sind, 
um Beantwortung folgender Fragen: 

Seit wann sind die Heilkurse eingerichtet ? 
Nehmen Knaben und Mädchen daran teil? 
Wieviel Teilnehmer hat jeder Kurs? 
Wieviel Stunden werden wöchentlich erteilt? 
Wie lange dauert der Kursus? 
Ist der Besuch obligatorisch oder fakultativ? 
Besuchen die Kinder die Stunden regelmäßig oder unregelmäßig? 
Aus welchen Schuljahren werden die Kinder dem Kursus zugewiesen ? 
Wer leitet die Kurse? 
Wieviel Prozent der Teilnehmer wurden geheilt? 
Sind Schule und Haus über die Maßnahmen zur Heilung 
des Stotterübels unterrichtet worden? Auf welche Weise? 
(Vorträge, Flugblätter, Besuch der Stunden usw.). 
12. Haben Sprachheilkurse für Leiter von Stottererheilkursen im Wohnort 
des Lesers stattgefunden? Finden demnächst welche statt? 
Für jede auch noch so kurze Antwort bin ich dankbar. 
Leipzig-R., Lorckstraße 6. M. Steiner, Taubstummenlehrer. 


OEIN TERN T 


me 


27* 


412 B. Mitteilungen. 





3 Lokale Hilfsverbände zur Lösung des 
Schwachsinnigenproblems. 


In Springfield, Mass., ist, wie wir » The Training School«, X1 (March 
1913) entnehmen ein »Central Philanthropic Council Committee 
for the Study of the Feeble-Minded« begründet worden. Wir teilen 
die Leitsätze der neuen Organisation hier mit: Es ist ihr Zweck, 

1. Fälle geistigen Defekts in der Gemeinde ausfindig zu machen und 
aufzuzeichnen ; 

2. Eltern und Vormünder zu veranlassen, besserungsfähige Fälle in den 
öffentlichen Spezialschulen oder in privaten Schulen für atypische 
Kinder oder in staatlichen Instituten für Schwachbefähigte zur Er- 
ziehung unterzubringen ; 

3. die Arbeitgeber zu interessieren für geistig defekte arbeitsfähige 
unter Obhut stehende Personen ; 

4. danach zu streben, alle nicht unter Obhut stehenden Schwachsinnigen 
aus den (Gemeinden zum ständigen Schutz den staatlichen Ein- 
richtungen zuzuführen ; 

5. freiwillige Hilfskräfte zu gewinnen, die wenn nötig die Arbeiten der 

Gesellschaft zur Durchführung bringen; 

. regelmäßige monatliche Zusammenkünfte abzuhalten ; 
. eine vertrauliche Karthotek mit den Protokollen über jeden Fall zu 
unterhalten ; 

8. solche Tatsachen zu protokollieren, die in Verbindung mit einem 
geistigen Defekte auftreten und im stande sind, das gesamte Problem 
zu erhellen, und in der Gemeinde Interesse zu erwecken für die 
Feststellung der Ursachen und der Vorbeugungsmöglichkeiten geistiger 
Defekte; 

9. nach Möglichkeit die Öffentliche Meinung auf die Notwendigkeit zur 
Schaffung von Erziehungsmöglichkeiten für Schwachsinnige hin- 
zuweisen und auf die Gefahren, die nicht unter Obhut stehende 
Schwachsinnige für das Gemeinwesen bedeuten. 

Wenngleich wir in Deutschland schon ähnliche Organisationen haben, 
so verdienen diese Leitsätze doch auch bei uns Beachtung und Befolgung. 

Jena. Karl Wilker. 


PX E- 


4. Kurse in der Kinderfürsorge. 

Das Archiv deutscher Berufsvormünder in Frankfurt a. M. plant in 
Gemeinschaft mit dänischen und schwedischen Organisationen einen In- 
formationskursus in der Kinderfürsorge, der außer in Deutschland auch 
einige Tage in Dänemark und Schweden stattfinden soll. Die Teilnahme 
von Ausländern an den Kursen, die bisher das Archiv deutscher Berufs- 
vormünder veranstaltet hat, ebenso wie die zahlreichen und ständigen 
Beziehungen des Archivs im Ausland legten es nahe, die Fragen der 
internationalen Verständigung in der Kinderfürsorge näher zu 
prüfen. Diese Erwägungen ergeben das Bedürfnis nach Formen der gegen- 
seitigen Fühlungnahme, die über die bisherige ungenügende Einrichtung 


5. Zeitgeschichtliches. 413 


großer Kongresse hinausgingen und zugleich die praktische Tätigkeit einer 
ständigen internationalen Auskunfts- und Vermittlungsstelle in Kinder- 
fürsorge und Jugendschutz ergänzten, wie sie das Archiv seit Jahren be- 
treibt. Verhandlungen des Archivs mit dem Vorsitzenden des dänischen 
Oberpflegschaftsrates und weiter mit dem Verband der dänischen Er- 
ziehungsvereine sowie mit dem schwedischen Armenpflegeverbande, führten 
zu dem Plan eines gemeinsamen Kurses von etwa 10 Tagen, der im 
Deutschen Reiche (Hamburg, Hannover, Göttingen), in Dänemark (Kopen- 
hagen) und in Schweden (Malmö) stattfinden wird. In Dänemark hat 
sich bereits eine vorläufige Kommission gebildet, bestehend aus den Herren 
Overretsassessor Brun, Graf Ahlefeld Laurvig zu Lundgaard und Schul- 
direktor Professor Bauditz. Verhandlungen dieser Herren in Norwegen 
mit dem Chef für das Justiz- und Kultusdepartement und mit dem Chef 
des Gefängniswesens in Christiania haben gezeigt, daß auch dort Interesse 
für die Veranstaltung besteht, und daß man beabsichtigt, sich daran zu 
beteiligen. Die Teilnehmerzahl soll 20 nicht übersteigen. Erwünscht ist 
Beherrschung von zwei Sprachen (deutsch und dänisch oder deutsch und 
schwedisch), doch kann von diesem Erfordernis abgesehen werden. Die 
Teilnehmergebühr wird etwa Mk. 25.— betragen. Der Kursus soll, wenn 
möglich Ende August, Anfang September ds. Js. stattfinden und wird be- 
sonders die Fragen der Behandlung gefährdeter und schwer erziehbarer 
Kinder und Jugendlicher erörtern. Vorträge und Besichtigungen wechseln 
miteinander und werden durch persönlichen Meinungsaustausch unter den 
Teilnehmern ergänzt. Teilnehmer aller Länder sind willkommen. Vor- 
läufige Anmeldungen sind an das Archiv deutscher Berufsvormünder, 
Frankfurt a. M., Stiftstraße 30, zu richten. 


5. Zeitgeschichtliches. 


In einem Aufruf an die deutschen Lehrervereine in der »Deutschen Schule«, 
Jg. 17, Heft 3 (März 1913), S. 179, 180, bitten der Vorsitzende des Deutschen Lehrer- 
vereins, G. Röhl, und der Vorsitzende der Pädagogischen Zentrale des Deutschen 
Lehrervereins, C. L. A. Pretzel, um Mitteilungen über alle innerhalb der Lehrer- 
vereine bereits bestehenden oder ins Leben tretenden pädagogischen Arbeitsstellen, 
um die Pädagogische Zentrale zu einem wahren vermittelnden Organ zwischen 
diesen pädagogischen Arbeitsstellen auszugestalten. Die Ergebnisse der 
einzelnen Gruppenarbeiten sollen in den Jahrbüchern der Zentrale einer weiteren 
Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. 

Der Verband Deutscher Kinderhorte hat eine Auskunftsstelle für alle 
Hortangelegenheiten in Charlottenburg, Goethestraße 22, eingerichtet. Sie 
steht in Verbindung mit dem Charlottenburger Jugendheim. 

n Ein neugegründeter »Fürsorgeverein für taubstummblinde Kinder in 
Österreich« erstrebt die Errichtung einer Lehranstalt, in der die Kinder neben 
dem Unterricht auch die gehörige Pflege finden. 

Das preußische Abgeordnetenhaus hat in seiner Sitzung vom 13. März 
1913 beschlossen, die Regierung zu ersuchen, zur Unterstützung der auf Be- 
kämpfung des Kinderelends gerichteten charitativen Bestrebungen 
einen bestimmten Fonds bereitzustellen, sowie den Betrag zur Förderung der 
Bestrebungen für die gefährdete oder verwahrloste Jugend vom 1. April 
1914 an beträchtlich zu erhöhen (der jetzt in den Etat dafür eingestellte Betrag 
beläuft sich auf 30000 Mark). s 


414 B. Mitteilungen. 





Stiftungen, Schenkungen usw.: die städtischen Kollegien in Hannover 
beschlossen die Errichtung einer Stiftung von 300000 Mark in erster Linie für 
Zwecke der Jugendpflege aus Anlaß des Regierungsjubiläums des Kaisers. 

Infolge des überaus starken Besuchs der Hochschule für Frauen in 
Leipzig und des rastlos fortschreitenden inneren Ausbaues sind schon jetzt be- 
deutende räumliche Erweiterungen notwendig. Im März wurde ein umfassender 
Neubau in Angriff genommen. In dem neuen Gebäude sollen vier Hörsäle, dar- 
unter einer für 400 Personen, sowie zwei wissenschaftliche Institute untergebracht 
werden. Die gesamte Bausumme für den Erweiterungsbau ist von einem Gönner 
der Anstalt gestiftet worden. 

Ein Deutsches Land-Waisenheim wird Hermann Lietz in der Nähe 
des Landerziehungsheims Ilsenburg auf dem Landgut Veckenstedt an der Ilse er- 
richten. Die Arbeit soll mit der Aufnahme von je etwa 9 bis 10 Knaben und 
Mädchen in zwei Familien beginnen. Aufgenommen werden sollen gesund veranlagte 
und entwicklungsfähige Ganz- und Halbwaisen. Mit dem Heim soll ein Kindergarten 
für Kinder des nahen Dorfes verbunden werden. Der Plan ist von Dr. Lietz näher 
im 15. Jahrbuch der Deutschen Land-Erziehungsheime (Leipzig, R. Voigtländer) ent- 
wickelt. Sonderdrucke des Aufsatzes (sowie nähere Auskunft) sind zu erhalten durch 
Major a. D. Richard Seebohm, Jena, Kochstraße 3/I. 

Das am 15. Mai 1913 eröffnete Kaiser Wilhelm-Kinderheim in Ahlbeck 
soll im ganzen 150 Kinder gleichzeitig aufnehmen, die vom Berliner Verein für 
Ferienkolonie aus den ärmsten Berliner Kindern ausgewählt werden. 

Ferienkurse für beschäftigungs- und aufsichtslose Knaben sind 
auf Anregung des Vereins für Knabenhandarbeit in Bern eingerichtet. 


Der Gemeindevorstand der Stadt Eisenach hat am 12. Februar 1913 eine 
städtische Poliklinik für Sprachstörungen eingerichtet, die in eine medizinisch- 
pädagogische Fürsorgestelle für sprachgebrechliche, schwer erzieh- 
bare und leicht abnorme Kinder ausgestaltet werden soll. Die Leitung hat 
Dr. med. Höpfner, leitender Arzt an Professor Denhardts Sprachheilanstalt in 
Eisenach. 

In Wien wurde am 13. März 1913 eine erste staatliche Schulzahn- 
klinik eröffnet. 

Die Achte Tagung des Archivs Deutscher Berufsvormünder (Frank- 
furt a. M., Stiftstraße 30) soll am 22. u. 23. September 1913 in Stuttgart abgehalten 
werden. Zur Erörterung sind bestimmt: Die Unterstützung des Vormundes durch 
Gerichte und Behörden; die Fürsorge für wandernde Jugendliche; die gegenseitige 
Unterstützung der Berufsvormünder; Berufsvormundschaft in Württemberg. 


Die Münchener Gesellschaft für Kinderheilkunde veranstaltet eine Sammel- 
forschung über das Vorkommen der Kinderlähmung in Bayern, um 
übersehen zu können, ob in Bayern ein epidemischer Ausbruch derselben zu be- 
fürchten ist, da Fälle von spinaler Kinderlähmung im Jahre 1912 häufiger be- 
obachtet wurden. \ 

In Berlin ist eine hohe Kinosteuer eingeführt worden, die bewirkte, daß 
gleich bei ihrem Inkrafttreten gegen 100 kleinere Kinos ihren Betrieb einstellten. 
Die anderen Kinos haben die Steuer durch Erhöhung der Eintrittspreise abzuwälzen 
versucht. Dadurch ist der Besuch nach den eigenen Angaben der Kinobesitzer in 
einer im April 1913 in Berlin abgehaltenen Protestversammlung um rund 60%, 
zurückgegangen. 

In sämtlichen thüringischen Staaten ist am 1. April 1913 ein Kinogesetz 
in Kraft getreten, nach der u. a. das Programm für Jugendvorstellungen jeweils zwei 
Tage vor der Aufführung an die Polizeibehörden einzureichen ist, denen das Recht 
zusteht, eine nichtöffentliche Prüfung der vorzuführenden Films zu fordern. Als 
Altersgrenze für Jugendliche gilt das 17. Lebensjahr. 


Alle staatlichen Lehrerseminare Ungarns werden im Laufe dieses Jahres 
psychologische Laboratorien erhalten. Die Fachlehrer wurden in besonderen 
Kurgen experimentalpsychologisch ausgebildet. Die angehenden Lehrer sollen so für 


5. Zeitgeschichtliches. 415 


das Kinderstudium empfänglicher gemacht und zu berufenen Förderern der Kinder- 
forschung entwickelt werden. 

Das Bayerische Ministerium für Kirchen- und Schulangelegen- 
heiten hat die Kreisregierungen angewiesen, für die Direktorate der höheren 
Mädchenschulen Verfügungen zu erlassen, daß in der 6. Klasse der höheren 
Mädchenschulen im naturkundlichen Unterricht und in der Frauenschule beim 
haushaltungskundlichen Unterricht die Genußmittel und ihre Gefahren, ins- 
besondere der Alkohol, eingehend behandelt werden. 

Der Deutsche Bund abstinenter Frauen errichtet ein alkoholfreies Er- 
frischungshaus, das »Königin-Luise-Haus«, nahe dem Leipziger Völkerschlacht- 
denkmal, das vor allem der Jugend dienen soll. Es sind dafür etwa 200000 Mark 
aufzubringen. Außer freiwilligen Beiträgen ist die Zeichnung von Anteilscheinen 
zu 100 und zu 1000 Mark sehr erwünscht. Anfragen sind zu richten an Fräulein 
Gustel von Blücher, Dresden-A. 7, Liebigstraße 12; Geldsendungen und 
Zeichnungen auf Anteilscheine an Frau Doris Heidemann, Leipzig, Königstraße 14 
(Postscheckkonto Leipzig 13 470). 

Nach Feststellungen Thomas-Illenau waren unter 620 in Zwangserziehung 
befindlichen Zöglingen Badens 322 = 51,9°/, geistig anormal. Der größte 
Teil von ihnen kann zwar in den Erziehungsanstalten verbleiben. Doch ist die Mit- 
wirkung psychiatrisch vorgebildeter Arzte an ihnen dringend erforderlich. 

Die Ergebnisse der Schulstatistik über das Volksschulwesen im 
Deutschen Reiche vom Jahre 1911 liegen nunmehr vor. Wir teilen daraus 
folgende Daten mit. Es betrug die Zahl der 


öffentlichen vollbeschäftigten Schulkinder auf 1 Lehr- 

Volksschulen Lehrer u. Lehrerinnen überhaupt kraft 
1901 59187 124.027 22513 8924 779 60,9 
1906 60 584 137 213 29 384 9 737 262 58,4 
1911 61557 148217 39268 10 309 949 54,9. 


Die Zahl der Schulkinder, die auf eine Lehrkraft kommen, ist demnach immer noch 
eine zu große. Zudem unterliegt sie in den einzelnen Städten und Landesteilen 


beträchtlichen Schwankungen. betrug die Zahl der auf eine Lehrkraft 

entfallenden Schulkinder 1911 z. B. in 
Berlin . . 2. .2....839,7 
Ostpreußen . . . . 541 
Hannover . . . . . 55,0 
Sachsen . . . . . 55,5 
Rheinprovinz. . . . 57,6 
Schlesien . . . . . 63,1 
Preußen . . . . . 56,5 
Bayem. . a a oi a DOT 
Württemberg. . . . 57,8 


Königreich Sachsen . 54,7. 


Dem Bericht des Pfleg- und Jugendfürsorgeamtes der StadtLeipzig 
über das Ziehkinderwesen mit gesetzlicher Vormundschaft im Jahre 
1912 entnehmen wir, daß im Berichtsjahr 12757 Kinder in den Rah eu der 
Ziehkinderabteilung geführt wurden. Die Sterblichkeit aller Kinder im Alter bis zu 
einem Jahre betrug in Leipzig bei den 


ehelichen Kindern unehelichen Kindern 
1911 1912 1911 1912 
22,32%), 11,54%, 31,10%, 19,63 %,,. 


Als Unterhaltungskosten wurden für außerehelich geborene Kinder 463579 Mark 
eingenommen. Es wird betont, daß die Bedeutung der gesetzlichen Vormundschaft 
nicht erschöpft ist mit der Beitreibung dieser Unterhaltungskosten, sondern daß ein 
großer Teil ihres Wertes auf dem Gebiete der persönlichen Fürsorge liegt. Be- 
schlossen wurde die Fortführung der gesetzlichen Vormundschaft für uneheliche 
Kinder über das 14. Lebensjahr hinaus möglichst bis zur Volljährigkeit (von 
Ostern 1913 an). Der Bericht enthält außerdem den Bericht des Städtischen Kinder- 


416 B. Mitteilungen, 


arztes sowie den Text eines Flugblattes »Zur Verhütung des Sommerdurchfalles 
der Säuglinge«. 

Eine Lichtbildersammlung zur Belehrung über die Tuberkulose ist 
nach dem Material des Deutschen Zentralkomitees zur Bekämpfung der Tuberkulose 
von dem Berliner Lehrer Friedrich Lorentz zusammengestellt worden. Die 
Sammlung enthält 25 zum Teil farbige Lichtbilder; sie kostet in verschließbarem 
Kasten 48 Mark. Ein besonderer Prospekt ist auf Wunsch vom Verlag für Schul- 
hygiene, P. Johannes Müller, Charlottenburg 5, Spandauerstraße 10a, zu beziehen. 

Besondere Jugendschriften für Hilfsschulkinder sollen unter dem 
Titel »Marholds Bücherei, Schriften zur Anregung und Förderung 
unserer Jugend« im Verlag von Carl Marhold in Halle a. S. erscheinen. Der 
orientierende Aufruf darüber, der in der »Hilfsschule«, Jg. 6, Heft1 vom Januar 1913, 
S. 20—22, abgedruckt ist, ist unterzeichnet von Otto Kampe (Bergedorf-Hamburg, 
Bismarckstr. 20) und Eduard Schulze (Halle a. S., An der Universität 2); beide 
nehmen Wünsche, Anregungen usw. entgegen. 

Die wichtige Monographie über »Die Epilepsie« von O. Binswanger ist 
soeben in zweiter neubearbeiteter Auflage bei A. Hölder, Wien und Leipzig, er- 
schienen. Der Umfang beträgt 548 Seiten, der Preis 15,40 Mark. 

Als Heft 2 der Schriften des Allgemeinen Fürsorge-Erziehungs-Tages E. V. 
ist der »Bericht über die Verhandlungen des Allgemeinen Fürsorge- 
Erziehungs-Tages vom 24.—27. Juni 1912 zu Dresden« erschienen. Er ist 
herausgegeben von Pastor Seiffert und Pastor Friedrich, erschienen im Kom- 
missionsverlag von Carl Marhold-Halle a. S. und kostet bei einem Umfang von 
288 Seiten 2 Mark. 

Der Vorbericht und die Verhandlungen der 6. Konferenz der Zentral- 
stelle für Volkswohlfahrt in Danzig am 17. und 18. Juni 1912 sind als 
Heft 8 und 9 der Schriften der Zentralstelle für Volkswohlfahrt erschienen (Berlin, 
Carl Heymann, 1913). Heft 8 behandelt »Familiengärten und andere Klein- 
gartenbestrebungen in ihrer Bedeutung für Stadt und Land« (VIII und 
364 Seiten nebst 19 Tafeln. Preis geheftet 8 Mark, gebunden 9 Mark), Heft 9 die 
»Pflege der schulentlassenen weiblichen Jugend« (IV und 274 Seiten. 
Preis geheftet 5 Mark, gebunden 6 Mark). Beide Bände enthalten reichliches Zahlen- 
material. In Heft 9 sind die Tatsachen aus der somatischen Anthropologie, die Be- 
merkungen über die gesundheitlichen Verhältnisse und die über Verwahrlosung und 
Kriminalität besonders wichtig für unsere Leser. Zum Teil sind die Zahlen in 
übersichtlichen Tabellen zusammengestellt und in Diagrammen verdeutlicht. 

Der vor kurzem erschienene 6. Bericht über die gesamten Unterrichts- 
und Erziehungsanstalten im Königreich Sachsen, auf Grund von Er- 
hebungen der Königlichen Ministerien des Kultus und öffentlichen Unterrichts, des 
Innern, der Finanzen ünd des Krieges vom 1. Juni 1911 im Königlich Sächsischen 
Statistischen Landesamt zusammengestellt, ist durch das letztere (Dresden-N., Ritter- 
straße 14) zu beziehen. Der Preis für dieses 170 Quartseiten umfassende Werk 
ist auf 4,50 M (zuzüglich Porto) festgesetzt worden. Der Bericht enthält eine Zu- 
sammenstellung von statistischen Angaben über die Unterrichts- und Erziehungs- 
anstalten aller Art, also die höheren Lehranstalten und Volksschulen, die Anstalten, 
die auf bestimmte Berufe vorbereiten, wie die Hochschulen, die Seminare, die mili- 
tärischen Bildungsanstalten, die Lehranstalten für künstlerische Ausbildung und die in 
Sachsen besonders zahlreichen Lehranstalten für allgemeine und besondere gewerb- 
liche Fachbildung. Auch die Fürsorge für Kinder, die noch nicht schulpflichtig 
sind, oder die besonderer Öffentlicher Fürsorge bedürfen, ist berücksichtigt. 

Der schulärztliche Bericht der Stadt Crefeld für das Schuljahr 1911/12, 
erstattet von Stadtarzt Kreisarzt Medizinalrat Dr. Berger, ging uns zu. Der Be- 
richterstatter tritt dafür ein, den Schulbeginn in das 7. Lebensjahr hinauszuschieben. 
Verschiedentlich traten Bedenken bezüglich der gesundheitlichen Zuträglichkeit der 
Arbeiten gewerblich beschäftigter Kinder auf. Von den Ostern 1911 in die Hilfs- 
schule aufgenommenen Kindern waren nur 43°/, als Säuglinge natürlich ernährt. 
In den oberen Klassen der Volksschulen wie des Gymnasiums wurde auf die Schäd- 
lichkeit des Alkoholgenusses hingewiesen, 


C. Zeitschriftenschau. 417 





Von einem erfreulichen Arbeitseifer zeugt der Vierte Rechenschafts- 
Bericht über die Berlin-Brandenburgische Krüppel-Heil- und Er- 
ziehungsanstalt (Berlin S. 59, Am Urban 10—11) für die Zeit vom Oktober 1910 
bis zum September 1912. Der 64 Seiten umfassende Bericht ist mit zahlreichen 
Abbildungen versehen, sowie mit einer farbigen Tafel, die Lage und Anordnung des 
neuen Hauses im Grunewald, mit dessen Ausschachtungsarbeiten im Juli 1913 be- 
gonnen wurde, veranschaulicht. 

Pastor W. Ilgenstein (Charlottenburg, Goethestraße 5) hat im Selbstverlag 
einen Auszug aus seinem Buche »Die Gedankenwelt der modernen Arbeiterjugend« 
unter dem Titel »Aus dem Lager der sozialdemokratischen Jugend- 
bewegung« erscheinen lassen. Das Heft ist zur Massenverbreitung in nationalen 
und christlichen Vereinen bestimmt. Zur Orientierung über die sozialdemokratische 
Jugendbewegung, natürlich vom gegnerischen Standpunkt aus, ist es geeignet. Der 
Einzelpreis des Heftes im Umfang von 31 Seiten beträgt bei portofreier Zusendung 
30 Pfennig. 

Über die Abstinenzbewegung unter der katholischen Jugend 
Deutschlands unterrichtet die »Schutzengelbundnummer« der Zeitschrift »Der 
Morgen« (Leutesdorf a. Rh... Wir entnehmen daraus, daß im Schutzengelbund etwa 
100000 Kinder organisiert sind. 


C. Zeitschriftenschau, 


Kinderschutz und Jugendfürsorge. 
Massnahmen. 


Rosenbaum, F., Berufskunde im letzten Schuljahr. Zeitschrift für Jugenderziehung. 
3, 11 (15. Februar 1913), S. 326—328. 
Dem letzten Schuljahr sollte eine systematische Berufskunde eingegliedert 
werden. Vor allem muß vor der Erwählung des Berufs eines »ungelernten Arbeiters« 
gewarnt werden. Der Lehrstoff ist leicht zusammenzutragen. 


Preßler, Otto, Statistik und Berufsberatung. Der Säemann. 1912, 10 (Oktober), 
S. 441—449. 

Zahlreiches statistisches Material. — Es wäre verfehit, die allgemeine Berufs- 
statistik oder die Unterrichtsstatistik in den Dienst der Berufsberatung (Jugendpflege) 
zu stellen. Für die Jugendpflege müssen die Erhebungen jährlich gemacht und 
möglichst bald veröffentlicht werden. Die Bedeutung der Berufsberatung als eines 
wichtigen Zweiges der Jugendpflege wird auch der Staat einsehen müssen. Zweck- 
dienlich wäre die Einberufung einer Konferenz zur Festsetzung der allgemeinen 
Richtlinien für die statistischen Erhebungen, die für die Berufsberatung und den 
allgemeinen Berufsnachweis unbedingt erforderlich sind. 


Jacobi, Eugenie, Schulküchen. Deutsche Schulpraxis. 33, 3 (19. Januar 1913), 
8. 23—24. 

Schulküchen bestehen in Deutschland seit etwa 20 Jahren. Sie wollen die 
Schülerinnen der oberen Volksschulklassen hauswirtschaftlich ausbilden (einfache 
Lebensführung). Die Königsberger Schulküchen werden als Muster eingehend be- 
schrieben. 


Kossak, Margarete, Spielsachen. Zeitschrift für Jugenderziehung und Jugend- 
fürsorge. 3, 7 (15. Dezember 1912), S. 191—196. 


418 C. Zeitschriftenschau. 


Man darf sich nicht nur mit dem besten Spielzeug begnügen, sondern muß 
ihm überhaupt die höchste Beachtung schenken. Man muß deu Gesichtspunkt 
immer beachten, daß das Spiel dazu da ist, die Eltern erkennen zu lernen, welchen 
Beruf ihre Kinder ihrer Beanlagung nach zu ergreifen haben. 

Nemes, Leopold, Der Kinematograph {und das Kind. A Gyermek. VI, 1912, 
7—8, 8. 438—440. 

»Die Kinematographen vermögen sehr tiefdringend auf die Seele der Kinder 
zu wirken«e. Die Schulen sollten deshalb selbst Kinos einrichten oder doch gute 
Kinovorstellungen vermitteln. Gegen verschiedene Punkte lassen sich schwere Be- 
denken erheben. 

Appens, W., Schundliteratur und Klassenlektüre. Deutsche Schulpraxis. 32, 43 
(27. Oktober 1912), S. 341—342. 

Durch Klassenlektüre läßt sich den Kindern vieles von dem, womit wir den 
Schund verdrängen wollen, näher bringen, als es ihnen durch bloße Privatlektüre 
kommt. An einem Beispiel wird das gezeigt. Für die Klassenlektüre ließe sich 
Zeit gewinnen, wenn man die Lesebücher (heute literarische Zettelkästen) um- 
arbeiten würde. 

Bechtold, F., Zur Bekämpfung der Schundliteratur. Deutsche Elternzeitschrift. 
4, 4 (1. Januar 1913), S. 66—68; 5 (1. Februar), S. 83—85. 

Beantwortet die Frage nach dem Wesen der Schundliteratur und kennzeichnet 
demgegenüber die Eigenschaften der guten Literatur. Zur Bekämpfung der Schund- 
literatur sind zu fordern: gut eingerichtete Bibliotheken und Kinderlesezimmer mit 
eigenen Ausleihzeiten für Kinder, Aufstellung von Bücherautomaten usw. Am 
Kampfe gegen die Schundliteratur sollten sich alle Kreise beteiligen. 


Bleicher, Fr., Über Jugendlektüre und Jugendschriften. Deutsche Elternzeitschrift. 
IV, 2 (1. November 1912). S. 32—33; 3 (1. Dezember), S. 51—52. 

Eine ganze Reihe guter Jugendschriften, durch die der Schund verdrängt 
werden kann, werden namhaft gemacht. 

Landsberg, J. F., Das Jugendgericht. Der Rettungshaus - Bote. 33, 4 (Januar 
1913), S. 84—85. 

In der Möglichkeit der Erziehungsmaßnahmen fehlt im deutschen Gesetz- 
entwurf die besoldete hauptamtliche Schutzaufsicht durch staatlich angestellte Jugend- 
fürsorger. »Wir müssen überhaupt eine bessere Form der Verbrechensbekämpfung 
finden. Sonst ruiniert sich der Staat allmählich finanziell, und wir werden von der 
Strafknechtschaft erdrückt. Besonders die Kinder müssen wir aus dem Kerker er- 
lösen, in den sie — als ganz schuldlose Opfer — ein falsch konstruiertes Ge- 
rechtigkeitsideal derzeit immer noch zu schleudern bereit ist. « 

Göring, M. H., Welchen besonderen Schutz gewähren das Strafgesetzbuch und 
der Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch den Jugendlichen? Zeitschrift 
für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns. V, 2 
S. 144—149. 

Kurz besprochen werden Verbrechen und Vergehen gegen die Sittlichkeit, 
gegen das Vermögen und gegen Leib und Leben. Es würde »gewiß nützlich sein, 
wenn man das Verabreichen von alkoholischen Getränken an Minderjährige unter 
14 Jahren unter Strafe stellen würde«. 

Krukenberg-Conze, Elsbeth, Die Frauen und die Reform der Jugendgerichts- 
barkeit. Der Vortrupp. 2, 4 (16. Februar 1913), S. 126—128. 

Die Verfasserin tritt besonders dafür ein, Frauen bei der Beurteilung von 


C. Zeitschriftenschau. 419 


Kindern vor Gericht zuzuziehen, und erörtert die Möglichkeit der weiblichen Schöffen- 

tätigkeit. 

Feisenberger, Der strafrechtliche Schutz unserer Kinder. Deutsche Elternzeit- 
schrift. IV, 1 (1. Oktober 1912), S. 11—13. 

Die kurze Zusammenstellung zeigt, daß nach vielen Richtungen hin schon in 
unserm heutigen Recht für den strafrechtlichen Schutz der Jugend gesorgt ist. Mit 
Recht vermißt der Autor den Schutz der Jugend gegen die Gefahren des Alkohols, 
Holitscher, Arthur, Zwei Freunde der Kinder in Denver. Zeitschrift für Jugend- 

erziehung und Jugendfürsorge. 3, 7 (15. Dezember 1912), S. 184—191. 

Eine anmutige Schilderung der Tätigkeit des amerikanischen Jugendrichters 
Ben Lindsey in Denver und seiner Bedeutung für die Kinder aus eigener An- 
schauung. (Aus des Verfassers Buch: Amerika, Heute und Morgen. Berlin, 
S. Fischer.) Ferner eine kurze Beleuchtung der Kinderarbeit in Amerika, deren 
Beseitigung allein von den Sozialisten gefordert wird. 

Ibrahim, J., Über die Ausbildung von Säuglingskrankenpflegerinnen nach ein- 
heitlichen Grundsätzen. Deutsche Med. Wochenschrift. 38, 46 (14. November 
1912), S. 2176—2179. 

Es wird ein Ausbildungsprogramm vorgelegt, dessen Durchführung aber nur 
durch Einführung des staatlichen Diploms ermöglicht werden kann. 

Bünzli, B., Mutterschafts-Versicherung. Zeitschrift für Jugenderziehung und 
Jugendfürsorge. 3, 6 (1. Dezember 1912), S. 153—156. 

Reichsgesetzliche Mutterschaftsversicherung bedeutet Frauen- und Kinder- 
fürsorge im weitesten und besten Sinne. Die Arbeit referiert im wesentlichen über 
Wilhelm Platzs Buch über die reichsgesetzliche Mutterschaftsversicherung (Tübingen, 
J. C. B. Mohr). 


Erfolge. 


Wild, A., »Für die Jugend«. Zeitschrift für Jugenderziehung und Jugendfürsorge. 
3, 7 (15. Dezember 1912), S. 181—184. 

Die Stiftung dieses Namens will zum Wohle der Jugend zu bestimmten Zeiten 
Wohlfahrtsmarken und -karten verkaufen. Für den ersten Verkauf heißt die 
Losung: Bekämpfung der Kindertuberkulose. 

Pinkus, Felix, Kinderhilfstag. Zeitschrift für Jugenderziehung. 3, 10 (1. Februar 
1913), S. 281—283. 

Durch den Blumentag 1911 wurden 156000 Fr. zusammengebracht. Für 
1913 ist eine gleiche Veranstaltung geplant, die der Verfasser in Schutz zu nehmen 
sucht gegen vielfach erhobene Vorwürfe. 

Gierke, Anna v., Schulkinderpflege und Volkserziehung. Zeitschrift für Kinder- 
schutz und Jugendfürsorge. 4, 11 (November 1912), S. 305—310. 

Der Darstellung liegen die praktischen Erfahrungen der Verfasserin aus dem 
Cbarlottenburger Jugendheim zugrunde, dessen Ziel die Durchführung einer möglichst 
guten Schulkinderfürsorge in Charlottenburg ist. Wie das Jugendheim arbeitet und 
organisiert ist, wird eingehend gezeigt. Damit wird auch zugleich der Nachweis 
erbracht, daß die Schulkinderpflege in Beziehung zur allgemeinen Volkserziehung 
treten kann. 

Die Berufspflegschaft des Kinder-Rettungs-Vereines in Berlin für eheliche Kinder. 
Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. 4, 12 (Dezember 1912), S. 333 
bis 338. 


420 C. Zeitschriftenschau. 


Ein juristischer Mitarbeiter des Leiters Pastor Pfeiffer sucht ein kurzes Bild 
der berufspflegschaftlichen Arbeit zu entwerfen, um zu zeigen, daß die Berufspfleg- 
schaft eine ebenso segensreiche und notwendige Einrichtung ist wie die Berufs- 
vormundschaft. Sie ist bisher in Literatur und Praxis aber kaum beachtet. Zur 
Berufspflegschaft eignen sich die Unterhaltungspflegschaft, die Vermögenspflegschaft 
und die Erziehungspflegschaft (Personenfürsorgepflegschaft). 

Goldbaum, Helene, Fürsorgeeinrichtungen für vorschulpflichtige Kinder in Wien. 
Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. 4, 12 (Dezember 1912), S. 342—344. 

Die Verfasserin zeigt, was in Wien bereits für vorschulpflichtige Kinder getan 
ist und wie und wo weitergearbeitet werden muß. 

Ehrlich, Marg., Städtische Fürsorgeerziehung in Groß-London. Deutsche Schul- 
praxis. 33, 5 (2. Februar 1913), S. 38—40. 

Eine einheitliche Regelung der F.-E. für ganz Großbritannien erfolgte durch 
die Children-Act vom 1. April 1909. Besonders hervorzuheben ist die rasche Er- 
ledigung des F.-E.-Verfahreus und der Jugendgerichtsfälle. Bedauerlicherweise er- 
streckt sich die F.-E. nur bis zum 16. Lebensjahre. Von den 1901—1905 ent- 
lassenen Zöglingen waren 1907 90°/, befriedigend (bei den Mädchen nur 80°/,). 
Von den 1904—1906 Entlassenen waren 1910 89°/, in festen Stellungen, 6°/, waren 
gerichtlich bestraft, 4°/, unbekannt, 1°/, verstorben. Seit 1871 haben die englischen 
Industrial Schools 34925 Zöglinge hinausgeschickt. 

L., Das neue belgische Kinderschutzgesetz vom 15. Mai 1912. Zeitschrift für 
Kinderschutz und Jugendfürsorge. 4, 12 (Dezember 1912), S. 338—342. 

Das neue Gesetz bedeutet einen wesentlichen Fortschritt für Belgien und kann 
darüber hinaus in mancher Hinsicht als Richtung gebend bezeichnet werden. Die 
Arbeit erörtert die wichtigsten Bestimmungen des Gesetzes ziemlich eingehend, ins- 
besondere den Abschnitt 2 des Gesetzes, der sich als ein modernes Jugendgerichts- 
gesetz darstellt. 

Müller-Schürch, E. Herm., Neuere Gesetze in der Schweiz in ihrer Bedeutung 
für die Fürsorge. Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des jugend- 
lichen Schwachsinns. V, 1, 8. 1—21. 

Übersicht über in Betracht kommende Bestimmungen aus dem Zivilrecht, dem 
Strafrecht, der Fabrikgesetzgebung. 

Silbernagel, Alfred, Strafrecht und Jugendfürsorge. Schweizerische Blätter für 
Schulgesundheitspflege. 11, 1 (Januar 1913), S. 2—6. 

Das Wort Zwangserziehung ist im schweizerischen Strafgesetzbuch ersetzt 
durch das Wort »Fürsorgeerziehung«, das Wort schuldig in bestimmten Fällen durch 
das Wort »fehlbar«e. Der Verfasser legt dann seine Stellung dar zu verschiedenen 
Artikeln: Kindestötung, Kindesaussetzung, Mißhandlung und Vernachlässigung, Über- 
anstrengung von Kindern, Entführung (Kinderhandel). Wenn die Schweiz auch in 
der gesetzlichen Bekämpfung des Kinderhandels den anderen Staaten vorangehen 
würde, dann würde sie ein »Werk des Fortschrittes und der Menschlichkeit« be- 
schließen. 

Fawer, E., Das neue bernische Armen-Polizeigesetz. Zeitschrift für Jugend- 
erziehung und Jugendfürsorge. 3, (1. Januar 1913), S. 227—229. 

Das Gesetz, dessen wesentlichste Punkte in Kürze mitgeteilt werden, enthält 
mancherlei Kinderschutz- und -fürsorgebestimmungen. 

G. H.-S., Fürsorge für bedürftige Schulkinder in der Stadt Aarau im Jahre 1912. 
Zeitschrift für Jugenderziehung und Jugendfürsorge. 3, 6 (1. Dezember 1912), 
S. 160—163. 


C. Zeitschriftenschau. 421 





An der Kinderspeisung nahmen durchschnittlich täglich 146 Schulkinder teil. 
Ferienversorgung genossen 62 Kinder gegen Entschädigung, 48 völlig unentgeltlich; 
die Gewichtszunahme betrug im Durchschnitt 4!/, Pfund. An der Milchkur nahmen 
145 Kinder während 18 Tagen teil. In Landaufenthalt wurden 6 Schüler gebracht. 
Mit Schuhen wurden 16 arme Kinder bedacht. 
von Egloffstein, Leo, Witzwil (Zur Gefängnisreform). Der Vortrupp. 2, 4 

(16. Februar 1913), S. 115—118. 

Eine kurze Beschreibung der Berner Strafanstalt, deren wesentlichstes Prinzip 
Arbeitserziehung ist unter Wahrung möglichster Bewegungsfreiheit der Gefangenen. 
Troll, M., Begründung und Ausgestaltung der Pflege der schulentlassenen weib- 

lichen Jugend. Deutsche Blätter für erziehenden Unterricht. 40, 8 (15. No- 
vember 1912), S. 73—75; 9 (22. November), 5. 83—85; 10 (29. November), S. 93 
bis 95. 

Für die weibliche Jugendpflege müssen besondere Einrichtungen getroffen 
werden. Die Arbeit im Mädchenheim wird auf Grund der praktischen Erfahrungen 
in Schmalkalden dargestellt. Die Arbeit bietet viele Anregungen und auch zum 
Teil wertvolles Material. Sie erörtert alle in Betracht kommenden Fragen. 
Löffler, H., Zur Mädchenfortbildungsschulfrage. Deutsche Blätter für erziehenden 

Unterricht. 40, 10 (29. November 1912), S. 98—100. 

Überblick über den gegenwärtigen Stand der Frage der allgemeinen Mädchen- 
fortbildungsschule. 

Winzer, H., 18. Thüringer Lehrerversammlung und Mädchenfortbildungsschule. 
Ebenda S. 100—101. 

Die von Hänssel zu der Oktoberversamminng aufgestellten, hier mitgeteilten 
6 Thesen wurden von den etwa 1000 versammelten Lehrern und Lehrerinnen ein- 
stimmig angenommen. 
von Schenckendorff, Fortbildungsschule und Jugendpflege. Der Arzt als Er- 

zieher. 8, 1912, 10, 8. 111—112. 

Die Arbeit befaßt sich mit den körperlichen Übungen (Turnunterricht) in der 
allgemeinen Pflichtfortbildungsschule und der Stellung des Zentralausschusses für 
Volks- und Jugendspiele dazu. 

Staatsbürgerliche Erziehung und Schülerabstinenzvereine. Deutsche Lebenskunst. 
20, 4 (15. Februar 1913), S. 55. 

Sehr zu begrüßen ist das gegenwärtige Aufblühen der Germania, Abstinenten- 
bund an deutschen Schulen, der gegenwärtig 700 Schüler als Mitglieder zählt. 
Dickhof£f, E., Reformideen und Reformpraxis im deutschen Volksschulwesen. Die 

Deutsche Schule. XVI, 9 (September 1912), S. 544—554. 

Der Verfasser stellte für seinen Vortrag auf dem Deutsch-amerikanischen 
Lehrertage drei orientierende Leitfragen auf: 1. Welches sind die Ursachen der 
modernen Schulreform? 2. Welche Änderungen im Schulbetriebe werden angestrebt? 
3. Wie verhält sich die Schulpraxis zu diesen Forderungen? Die knappe Orientierung 
berücksichtigt auch die Fragen der Kinderforschung, der Jugendfürsorge, der Schul- 
gesundheitspflege usw. 

v. Drigalski, Über Ergebnisse und Erfolge bei der Bekämpfung der Säuglings- 
sterblichkeit im Jahre 1911. Deutsche Med. Wochenschrift. 38, 34 (22. August 
1912), S. 1601—1604. 

Bericht über die Tätigkeit und die Erfolge der Vereinigung zur Bekämpfung 
der Säuglingssterblichkeit in Halle a. S. mit zahlreichen Zahlen und mancherlei 
Vergleichsmaterial. 


422 C. Zeitschriftenschau. 





Lederer, Max, Der III. Deutsche Jugendgerichtstag in Frankfurt a. M. Zeitschrift 
für Kinderschutz und Jugendfürsorge. 4, 11 (November 1912), S. 310—318. 
Eingehender Bericht, der die Veranstaltung als durchaus gelungen lobt. 
Wilker, Karl, Zur Geschichte und Entwicklung der Jugendgerichte. Deutsche 

Monatsschrift für Rußland. I, 10 (14. Oktober 1912), S. 915—922. . 
Die Arbeit gibt einen Überblick über die Entwicklung und den augenblick- 
lichen Stand der Jugendgerichtsbewegung in den verschiedenen Kulturländern. 


Jugend- und Schulhygiene. 


25 Jahre im Dienste der Schulgesundheitspflege. Zeitschrift für Schulgesundheits- 
pflege. 26, 1 (Januar 1913), S. 1—6. 

Ein Rückblick auf die Entwicklung der Geschichte, zugleich Beitrag zur Ge- 
schichte der Schulhygiene. 

Schulärzte an den Mittelschulen in Bayern. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 
26, 2 (Februar 1913), S. 156—158. 

Wortlaut der Dienstanweisung. 

Moldenhauer, Der staatliche, obligatorische Schularzt in Württemberg. Zeitschrift 
für Schulgesundheitspflege. 26, 3 (März 1913), S. 184—188. 

Hinweis auf die Bedeutung des neuen Oberamtsarztgesetzes vom pädagogischen 
Standpunkte aus. Das Gesetz bedeutet einen wesentlichen Fortschritt auf dem Ge- 
biete der Schulhygiene. 

Gohde, G., Über schulärztiiche Tätigkeit unter Zugrundelegung der Dienstordnung 
für die Schulärzte in Potsdam. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 26, 3 
(März 1913), S. 209—216. 

Überwacht werden nur die Volksschulen. Die Dienstanweisung wird im 
einzelnen kritisch besprochen. Manches darin geforderte unterbleibt in der Praxis. 


Reorganisation des schulärztlichen Dienstes in Basel. Schweizerische Blätter für 
Schulgesundheitspflege. 11, 3 (März 1913), S. 42—45. 
Besprechung des Gesetzes betr. Anstellung eines Schularztes vom 14. August 
1912 und der dadurch dem Schularzt erwachsenden Aufgaben. 


Stephani, Zwanglose Betrachtungen zu schwebenden schulärztlichen Fragen. Zeit- 
schrift für Schulgesundheitspflege. 26, 3 (Februar 1913), 8. 145—156. 

Bemerkungen zu Einzelfragen aus der Literatur, die mit der individuellen 
Schülerhygiene zusammenhängen und für die Gestaltung der Dienstanweisungen 
Bedeutung haben (Beratungssprechstunde, Verkehr mit den Eltern, nebenamtliche 
oder hauptamtliche Schularzttätigkeit, Unterrichtserteilung durch den Schularzt, 
soziale Fürsorgemaßnahmen). 

Stephani und Wimmenauer, Schulzahnklinik oder freie Zahnarztwahl. Zeit- 
schrift für Schulgesundheitspflege. 26, 4 (April 1913), S. 225—243. 

Es handelt sich um Organisationsfragen: freie Zahnarztwahl nach Mannheimer 
Vorbild oder Schulzahnklinik. —- Lediglich aus Zweckmäßigkeitsgründen schließt 
sich die Schulzahnpflege der Schule an. Sie ist zu betrachten als eine Tätigkeit auf 
dem Gebiete der sozialen Hygiene. Während die schulärztliche Tätigkeit Fürsorge 
für die Gesamtheit ist, ist die schulzahnärztliche vornehmlich Einzelpflege. In An- 
lehnung an die Mannheimer Verhältnisse werden die Vorzüge und Nachteile der 
beiden Organisationsmöglichkeiten besprochen. »Eine im Interesse der Schule ge- 
boten erscheinende Notwendigkeit der Etablierung der schulzahnärztlichen Behand- 


C. Zeitschriftenschau. 423 


lung in einer mit der Schule in mehr oder weniger festem Zusammenhang stehenden 
Klinik besteht unseres Erachtens nicht.« Ein abschließendes Urteil darüber, welchem 
der beiden Systeme der Vorzug gebühre, läßt sich heute noch nicht geben. — An- 
geregt wird nebenbei eine mehr einheitliche Gestaltung der Jahresberichte der Schul- 
zahnkliniken bei der Aufstellung der geleisteten Arbeiten. 


Kürbs, Schulärztlicher Bericht von Eisenach. Zeitschrift für Schulgesundheits- 
pflege. 26, 2 (Februar 1913), S. 158—160. 

Im Sommerhalbjahr 1912 wurden 455 Kinder untersucht. Bei den Eltern 
fehlt oft das rechte Verständnis für die Durchführung der empfohlenen ärztlichen 
Behandlung. »Arg ist noch das Elend in den Wohnungen gewisser alter Stadtteile, 
wo oft sieben Personen in zwei Stübchen zusammenstecken und kaum über zwei 
ordentliche Betten verfügen.« 

Moldenhauer, Die schulhygienische Abteilung in dem städtischen Museum für 
Volkshygiene in Köln und die Lehrer. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 
26, 1 (Januar 1913), S. 33—38. 

Das Museum bietet in erfreulicher Weise den Lehrern Gelegenheit zur An- 
eignung hygienischer Kenntnisse und zu deren Vertiefung. Seine Einrichtung wird 
kurz besprochen. 

Rulot, L’higiöne scolaire à l’Exposition de Dresde en 1911. Les Annales Pedo- 
logiques. IV, 1 (Octobre 1912), S. 42—48. 

Ein kurzer Bericht, der durch etliche Abbildungen schulärztlicher und psycho- 
logischer Apparate ergänzt ist. 

Walker, W., Schulhygiene in Japan. Schweizerische Blätter für Schulgesundheits- 
pflege. 11, 2 (Februar 1913), S. 9—12. 

Notizen aus dem 37. Jahresbericht über das Japanische Schulwesen (Schul- 
jahr 1909/10). Es waren angestellt 12660 Schulärzte. 54°/, aller Elementarschulen 
haben einen Arzt. Von den untersuchten Schulkindern waren der Konstitution nach 


stark mittel schwach 
Knaben . . . . 4,7% 47,4%, 4,9%, 
Mädchen. . . . 42,7% 51,2%, 6,1%, 


Gegenüber den Vorjahren war eine Besserung zu konstatieren. Es besuchten 
die Schule (in °/, schulpflichtiger Kinder) 


Knaben Mädchen 
18734 u o T 39,9 15,1 
1909/10 . . . 98,86 97,26 


Müller, Reiner, Hygienisches aus Nordamerika. Münch. med. Wochenschrift. 
60, 9 (4. März 1913), 5. 475—478. 
Auf S. 476 befinden sich kurze Notizen über Kinder- und Schulhygiene: in 
New York ist ein schwimmendes Säuglingsheim eingerichtet. — Die Schulhygiene 
wird gut gepflegt. Seit 1912 werden in New York alle Schulkinder wöchentlich 
vom Schularzt besichtigt. Hervorzuheben sind Einrichtungen wie Freiluftklassen, 
Dachspielplätze, Schulzahnkliniken, Sonderschulen für tuberkulöse Kinder. Die ge- 
werbliche Kinderarbeit wird überwacht vom National Child Labor Committee (be- 
gründet 1904). 
Gottschalk, R., »Americana Paedagogica«. Die Deutsche Schule. 17, 3 (März 
1913), S. 138—143. 
Einige Mitteilungen aus dem Bericht des Seminaroberlehrers Fr. Beck (er- 
schienen bei Julius Klinkhardt in Leipzig) über das Schulwesen in den Vereinigten 


424 C. Zeitschriftenschau. 





Staaten, aus dem namentlich auf die Notizen über schulhygienische Maßnahmen hin- 
gewiesen sei, die alles Lob verdienen. 


Einige Probleme der Schulhygiene. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. 
4, 11 (November 1912), S. 318—321. 

Autorreferate über die auf der XII. Versammlung des Deutschen Vereines 
für Schulgesundheitspflege nicht gehaltenen Vorträge. 

Kemsies, F., Hygiene und Gymnastik im Film. Zeitschrift für Schulgesundheits- 
pflege. 26, 4 (April 1913), S. 243—248. 

Besprechung einiger Films, die für hygienische Unterweisung von Eltern oder 
Schülern zu gebrauchen sind. 

Baldrian, Karl, Einiges zur Verbesserung der hygienischen Verhältnisse in 
unseren Anstalten. Die Gesundheitswarte. 10, 1912, 11, S. 247—250. 

Macht auf einige Punkte der Anstaltshygiene aufmerksam (Klosetteinrichtungen, 
Nachtbeleuchtung, Luftreinigung). Ohne wesentliche Bedeutung. 

Thiemich, Martin, Abhärtung im Kindesalter. Deutsche Elternzeitschrift. 4, 5 
(1. Februar 1913), S. 78—79. 

Von den Abhärtungsmaßnahmen ist am empfehlenswertesten der Aufenthalt 
in freier Luft. Die Möglichkeit, »anfällige« Kinder durch systematische Abhärtungs- 
kuren widerstandsfähiger zu machen, erscheint gering. Doch ist vor Verzärtelung 
sehr zu warnen. Verweichlichung ist ebenso eine Übertreibung wie Abhärtung im 
landläufigen Sinne. 

Moll, Die körperliche Entwicklung der Schuljugend in Pommern. Zeitschrift für 
Kinderschutz und Jugendfürsorge. V, 1 (Januar 1913), S. 18. 

In den Kreisen mit niederem Stillwert besteht eine relativ hohe Säuglings- 
sterblichkeit und eine schlechtere körperliche Entwicklung der Schulkinder als in 
den Kreisen mit hohem Stillwert und niederer Säuglingssterblichkeit. 

Hanauer, W., Constitution und Krankheiten im schulpflichtigen Alter. Neue 
Wissenschaftliche Rundschau. 1913, 1 (5. Januar), S. 16—19. 

Die Beurteilung der Konstitution der Schulkinder hat eine örtliche Bedeutung, 
Die Zahl der gut entwickelten Schulkinder beträgt fast nirgends in Deutschland die 
Hälfte. Die Zahlen sind von der Gründlichkeit der Untersuchung abhängig: am be- 
kleideten Körper untersucht wurden in Dresden 44,27°/, der Kinder als krank be- 
funden, unbekleidet 79,11°,,. Konstitution, Körpergewicht, Körpergröße sind besser 
bei den Kindern sozial höher stehender Schichten. Die Zahl der gefundenen Krank- 
heiten ist bei ihnen geringer. Besserung ist zu erzielen durch Belehrung, ärztliche 
Behandlung, Unterbringung in Seehospizen usw. In Brünn ließ sich durch der 
artige Maßnahmen in einem Jahr die Zahl der Erkrankten auf den dritten Teil 
reduzieren. 


Fraenkel, Dora, Über die normale Körpertemperatur der Kinder und ihr Ver- 
halten bei Bewegung und Ruhe. Deutsche Med. Wochenschrift. 39, 6 (6. Februar 
1913), S. 267—268. 

163 beobachtete Kinder der Kinderheilstätte in Borgsdorf bei Berlin zeigten 
alle nachmittags erhöhte Temperatur. Die Temperatur läßt sich durch Ruheperioden 
herabsetzen auf die Norm. Die Temperatursteigerung ist durch die Körperbew egung 
bedingt; sie ist in der Regel unabhängig von der Außentemperatur. Ein ver- 
schiedenes Verhalten der Kinder je nach dem Ausfall der Pirquetschen Reaktion 
wurde nicht beobachtet. Wohl aber zeigten neuropathische Kinder eine höhere Be- 
wegungstemperatur als nicht neuropathische bei einer Außentemperatur von 16 bis 


C. Zeitschriftenschau. 425 





250 C. und darüber. Die Ruhetemperatur überschreitet bei den meisten Kindern 

nicht 37,20 C. (im After gemessen). 

Franke, Kurt, Der Schlaf bei Erwachsenen und Kindern. Heilpädagogische Schul- 
und Eliternzeitung. 4, 3 (März 1913), S. 49—51. 

Aus Zeitschrift für Jugenderziehung und Jugendfürsorge, III, 5 (15. November 
1912), S. 124—126, und bereits referiert. — Warum soll in der pädagogischen 
Fachpresse ein Modus einreißen, bereits publizierte Arbeiten als Zweitdrucke weiter 
zu veröffentlichen, ohne die Quelle des Erstdrucks anzugeben? Soll das jedesmal 
erst der Referent feststellen ? 

Thiele, Ad., Bewegung oder Ruhe? Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 26, 3 
(März 1913), S. 161—168. 

Der Schularzt darf das Problem der Leibesschonung, der Körperruhe nicht 
aus dem Auge lassen, denn sie gehört zur Leibesübung. Namentlich vielen Groß- 
stadtkindern ist Ruhe sehr vonnöten. 

Meyrich, O., Puls und Pulsbeobachtungen. Neue Bahnen. 24, 6 (März 1913), 
S. 258—266. 

Die Aufzeichnungen der Pulskurve mit dem Sphygmographen und der Kurve 
des Blutdrucks mit dem Plethysmographen gaben neue Aufzeichnungen über Puls 
und Blutdruck. 5 verschiedene Pulskurven werden in Abbildungen vorgeführt. Für 
den Lehrer können Pulszählungen bei den Schülern in verschiedener Hinsicht wert- 
voll sein. In drei Tabellen werden Zählungsergebnisse mitgeteilt und teilweise be- 
sprochen. Die Pulsfrequenz wird namentlich durch die Turnstunde sehr beschleunigt, 
dann aber auch durch Erregungszustände (die durch Pulsbeobachtung aufgedeckt 
werden können). In den vorliegenden Tabellen konnte ein Unterschied nach den 
Geschlechtern nicht festgestellt werden. »Das Pulszählen stand zuzeiten in medizi- 
nischen Kreisen in einem recht geringen Ansehen, und wir haben ja auch gesehen, 
welch schwankender, unzuverlässiger und zweifelhafter Indikator der Puls unter 
Umständen sein kann. Immerhin ist doch feststehend, daß in einer ganzen Reihe 
von Fällen die Pulsfrequenz einen ganz brauchbaren Maßstab zur Beurteilung der 
Schüler bietet. Freilich liefert er wertvolle Ergebnisse nur dann, wenn man zu- 
nächst durch einige Zählungen die für den einzelnen Schüler normale Pulszahl er- 
mittelt hat.« 

Cohn, Moritz, Wie stillt man zweckmäßig den Durst des Schulkindes während 
der Frühstückspause? Die Pädagogische Praxis. I, 1 (Oktober 1912), S. 38—41. 

Einrichtung von Trinkspringbrunnen in den Schulen ist zu empfehlen; doch 
bedarf deren Benutzung steter Aufsicht und Kontrolle. Wo solche Brunnen nicht 
angelegt werden können, können die Kinder eigene Gläser in der Frühstückstasche 
oder in einer besonderen Tasche neben dieser mitbringen. Milchtrinken sei nur auf 
ärztliche Anordnung hin gestattet, da allzuviel Milchgenuß die Kinder an der Auf- 
nahme fester Nahrung hindert. Statt dessen werde der Obstgenuß gefördert, da 
Obst nicht nur den Durst stillt, sondern auch die Darmtätigkeit anregt. Obst kann 
heute zu allen Jahreszeiten verhältnismäßig billig besorgt werden. 

Rothfeld, Welchen Einfluß haben Schulbetrieb und Schulgebäude auf die Be- 
schaffenheit der Schulluft. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 26, 2 (Februar 
1913), S. 82—104. 

Untersuchungen aus der Chemnitzer Lessing-Mädchenschule mit etwa 1000 
Schülerinnen (vorgenommen im März 1911). Es bestand die Absicht, die Zahl der 
auf Gelatineplatten in bestimmter Zeit entwickelten Keime, resp. Kolonien festzu- 
stellen. Ein Verweilen der Kinder auf den Korridoren kann als zweckentsprechende 

Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 28 


426 'C. Zeitschriftenschau. 


Pausenverwendung nicht betrachtet werden. Als zweckmäßig (wenigstens für größere 
Schulen) erweist sich das Zimmerturnen bei geöffneten Fenstern unter Vermeidung zu 
großer Kopfannäherung an den Boden und zu starker Bewegung von Beinen und Füßen. 
Zu sorgen ist für ausreichende Gelegenheiten zum Reinigen der Füße, für möglichst 
geräumige Zimmer (der Luftkeimgehalt nimmt zu mit der Verringerung des Luft- 
raumes für jedes Kind), für Bindung des Schmutzes an den Fußboden. Als beste 
und schnellste Lüftung ergibt sich die Fensterlüftung. 

Hanauer, W., Luftbeschaffenheit und Ventilation in der Schule. Die pädagogische 

Praxis. I, 2 (November 1912), S. 104—106. 

In 1 g Schulstaub fand man durchschnittlich 1800000 Keime. Der Schul- 
staub ist von den allgemeinen Reinlichkeitsverhältnissen abhängig, deren Wichtigkeit 
besprochen wird. Es muß in den Schulräumen für ständige Ventilation gesorgt 
werden. Der Verfasser empfiehlt, die Lüftungsanlagen durch Einbau von elektrisch 
betriebenen Ventilatoren zu unterstützen. 

Steinhaus, F., Beiträge zur Frage der Ventilation von Klassenräumen. Zeitschrift 
für Schulgesundheitspflege. 26, 1 (Januar 1913), S. 6—33. 

Die Untersuchung stützt sich auf zahlreiche Versuche. Die Frage muß lauten: 
Wie verhüten wir eine Überhitzung der Klassen? Kostspielige künstliche Venti- 
lationsanlagen erscheinen entbehrlich. Natürliche Ventilation durch ständig offen 
gehaltene Oberlichter ist im allgemeinen als ausreichend zu bezeichnen. Zur 
Heizung ist für große Schulen Zentralwarmwasserheizung zu empfehlen. 


Thiemich, Martin, Über die Behandlung der Krämpfe im frühen Kindesalter. 
Deutsche Med. Wochenschrift. 39, 12 (20. März 1913), S. 537—540. 

Nach kurzer Besprechung der Krankheitserscheinungen folgt eine Besprechung 
der im Laufe der Zeit mannigfach gewandelten therapeutischen Maßnahmen. Be- 
tont wird neben der Innehaltung der ärztlich angeordneten Diät und Medikamente 
vor allem Sorge für reine Luft. 

Gastpar, Über Augenuntersuchungen bei Schulkindern. Münch. Med. Wochen- 
schrift. 60, 12 (25. März 1913), S. 647. 

Bei Augenuntersuchungen muß vor allem das Prinzip der feststehenden gleich- 
bleibenden Lichtquelle berücksichtigt werden, namentlich dann, wenn die Unter- 
suchungen in verschiedenen Schulen vorgenommen und verglichen werden sollen. 
So ergab sich bei einer Untersuchung in Stuttgart und Vororten zunächst, daß die 
Landkinder schlechtere Augen hatten als die Stadtkinder. Der Verfasser konstruierte 
einen den Anforderungen entsprechenden Apparat, bei dessen Benutzung sich das 
zu erwartende Resultat ergab, daß die Landkinder bessere Augen hatten als die 
Stadtkinder. 


Fischl, Rudolf, Die Aufgaben der Familie im Kampfe gegen die akuten Infektions- 
krankheiten. Deutsche Elternzeitschrift. 4, 4 (1. Januar 1913), S. 61—63. 
Die Aufgaben werden in kurzer Weise treffend geschildert. Der Arzt ist bei 
der Bekämpfung sehr auf die Mithilfe des Hauses angewiesen. 


Schultz, R., Diphtherie-Erkrankungen und -Sterbefälle im preußischen Staate und 
im Stadtkreise Berlin während der Jahre 1902—1911. Zeitschrift für Schul- 
gesundheitspflege. 26, 2 (Februar 1913), S. 104—108. 

Die Betrachtung der Zahlen ergibt, daß die bisherigen Bekämpfungsmaßregeln 
nicht ausreichend waren. 

Gettkant, Über Klassenepidemien von Diphtherie. Deutsche Med. Wochenschrift. 
39, 3 (16. Januar 1913), S. 123--124. 





C. Zeitschriftenschau. 427 





Erörterung einer Klassenepidemie in einer Schöneberger Gemeindeschule. Es 
kommt vor allem — wie auch in diesem Fall — darauf an, möglichst schnell den 
oder die Bazillenträger zu eruieren und aus der Schule zu nehmen. Die Erkrankung 
konımt allerdings bei dem langwierigen Meldeapparat oft erst spät zur Kenntnis des 
Schularztes. In Berlin-Schöneberg stellt die Schulschwester jeden Vormittag aus 
den Meldungen der Ärzte an das Polizeipräsidium die Erkrankungen fest und meldet 
sie sofort dem Schularzt, der dann gleich wenn nötig die Entnahme von Rachen- 
schleim einleitet und die bakteriologische Untersuchung veranlaßt. 


Harbitz, Francis, Über angeborene Tuberkulose. Münch. Med. Wochenschrift. 
60, 14, (8. April 1913), S. 741 —744. 

Beschreibung eines Falles angeborener tuberkulöser Infektion und Erörterung 
der Frage, wie bald ein neugeborenes Kind nach der Infektion durch seine tuber- 
kulöse Umgebung an Tuberkulose sterben kann. Die allermeisten Tuberkulösefälle 
bei Erwachsenen und bei Kindern beruhen jedoch auf einer Infektion nach der 
Geburt. 
de Besche, Arent, Untersuchungen über die tuberkulöse Infektion im Kindesalter. 

Deutsche Med. Wochenschrift. 39, 10 (6. März 1913), S. 452—454. 

Auf Grund seiner Untersuchungen von 50 nicht ausgewählten Fällen von 
Kindertuberkulose kommt der Verfasser zu dem Schluß, daß sich (in Kristiania) 
etwa 6—8°/, der tuberkulösen Infektionen von Kühen, die übrigen sämtlich vom 
Menschen herleiten. 

Thiele, Ad., Die Bekämpfung der Tuberkulose an den Städtischen Volksschulen in 
Chemnitz. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 26, 4 (April 1913), 8. 273—275. 

Voraussetzung ist: Feststellung des Gesundheitszustandes aller Kinder, Über- 
wachung der kranken und krankheitsverdächtigen, gesundheitliche Beratung der 
Konfirmanden für die Berufswahl. Was in Chemnitz geschieht, wird in knappen 
Worten mitgeteilt. 1911 waren 1,36°/, der Schulkinder tuberkuloseverdächtig oder 
tuberkulös. 143 Knaben und 208 Mädchen wurden der Walderholungsstätte über- 
wiesen. 830 Kinder wurden nach von Pirquet geimpft. 467 Knaben und 571 
Mädchen wurden in der Auskunfts- und Fürsorgestelle beraten. 

Moll, Das Ohrringstechen und seine Gefahren, insbesondere die tuberkulöse An- 
steckung der Stichöffnungen. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. 
V, 1 (Januar 1913). S. 18—19. 

Bericht über einen Beitrag Epsteins zu dieser Frage. Die Tuberkulose des 
Ohrläppchens kann entstehen infolge Tuberkuloseinfektion beim Ohrstechen oder bei 
tuberkulösen Individuen infolge Ansiedlung von Tuberkelbazillen in der Wunde aus 
der Blutbahn. Diese Fälle dürften die häufigeren sein. Die Unsitte, insbesondere 
die Art und Weise der Vornahme derselben bei den Kindern ist zu bekämpfen. 


Maximin, Enquête sur l'usage de la touche et de l’ardoise. Les Annales Pédo- 
logiques. IV, 1 (Octobre 1912), 8. 21-41. 

Die Rundfrage nach dem Gebrauch von Tafel und Griffel erfolgte teils privat, 
teils mit Vermittlung der Behörden. Sie erstreckt sich auf 12 verschiedene Länder. 
In den meisten wird Schiefertafel und Griffel abgelehnt. Aus Sparsamkeitsgründen 
wird in den Volksschulen die Abschaffung aber nicht durchgeführt. 


Vulpius, Oskar, Die neue Verbandsbehandlung der Skoliose nach Abbott. Deutsche 
Med. Wochenschrift. 39, 15 (10. April 1913), S. 695—699. 
Die neue Methode, die eingehend dargelegt wird, erzielt oder erleichtert doch 
die Umkrümmung. Die frappierenden Resultate, von denen verschiedene Abbildungen 
28* 


428 C. Zeitschriftenschau. 


eine Vorstellung ermöglichen, festigen den Glauben, »daß die neue Methode in der 
Tat neue und unerwartete Perspektiven für die Skoliosenheilung erschließt«e. 


Blencke, August, Die Sonderturnkurse in den Schulen und ihre prophylaktische 
Bedeutung in der Krüppelfürsorge. Zeitschrift für Krüppelfürsorge. 6, 1 (Februar 
1913), S. 21—34. 

Zur Kräftigung der Rumpfmuskulatur (leichte Verkrümmungen) sind Sonder- 
turnkurse sehr am Platze, keineswegs aber bei schwereren Skoliosen. Die Kurse 
müssen einheitlichen Charakter tragen. Die Behandlung wirklich schwerer Skoliosen 
erfordert größeren Geldaufwand, ist aber eine dringende Aufgabe. — Die Sonder- 
turnkurse werden noch näher beschrieben. Jeder Kurs zählt höchstens 25 Kinder. 
Diese Kinder werden etwa 7 bis 8 mal im Jahr eingehend untersucht. Sehr viel 
kommt auf die Turnlehrerin an. Die Erfolge sind im allgemeinen zufriedenstellend. 


Hirsch, Max, I. Kongreß zur wissenschaftlichen Erforschung des Sportes und 
der Leibesübungen in Oberhof i. Thür., 20.—23. September 1912. Zeitschrift für 
Schulgesundheitspflege. 26, 2 (Februar 1913), S. 109—116. 

Bericht über Vorträge und Aussprachen. — Es wurde die Gründung eines 
Reichskomitees zur wissenschaftlichen Erforschung des Sportes und der Leibes- 
übungen beschlossen. Der Verlauf des Kongresses berechtigt zu der Hoffnung, daß 
dieser neue Zweig der Wissenschaft vor allem auch für die praktische Ausbildung 
der heranwachsenden Jugend bedeutsame Früchte tragen dürfte. 

Spühler, Rud., Die neue schweizerische Turnschule. Schweizerische Blätter für 
Schulgesundheitspflege. 11, 2 (Februar 1913), S. 17—23. 

Eingehende Besprechung der vorgeschriebenen Turnübungen und Vergleich 
mit den früheren Turnschulen. 

Basler Kinderheilstätte in Langenbruck. Schweizerische Blätter für Schulgesund- 
heitspflege. 11, 1 (Januar 1913), S. 6—9. 

Im Jahre 1911/12 wurden 295 Kinder behandelt. Es wurden entlassen: geheilt 
5709/,, gebessert 42°/,, ungebessert 10/,. 

Steinhardt, Ignaz, Ferienversicherung. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 
26, 1 (Januar 1913), S. 65—76. 

Die Ferienkolonien kommen nur wenigen Kindern zu gute. Nur 2—3°/, der 
Gesamtschülerzahl findet ausgiebige Ferienerholung. Besserung ließe sich durch 
eine »Ferienversicherung» schaffen, deren Plan und Kostenberechnung eingehend 
aufgestellt ist. Eine derartige fakultative Versicherung wäre sehr wohl durchführbar 
und auch durchaus rentabel. 

Westergaard, Harald, Der Alkoholismus der Eltern und die Kinder. Inter- 
nationale Monatsschrift zur Erforschung des Alkoholismus. 23, 4 (April 1913), 
S. 121—136. 

Kritische Besprechung der älteren Untersuchungen Elderton - Pearsons und 
Laitinens. Die Untersuchungen deuten darauf hin, daß die Altersstrecke, die sich 
mit Rücksicht auf Vererbung am vorteilhaftesten untersuchen läßt, das zarte Kindes- 
alter ist, 

Fels, R., Eine Feststellung zu der Arbeit von Dr. Kschischo. Zeitschrift für 
Schulgesundheitspflege. 26. 1 (Januar 1913), S. 38—39. 

Wenn K. vor der Verallgemeinerung süddeutscher Zahlen über den Alkohol- 
genuß der Schulkinder warnt, so ist ebenso sehr vor der Verallgemeinerung seiner 
Zahlen aus Altona zu warnen, da diese Zahlen ganz sicher im Verhältnis zu einer 
etwaigen Durchschnittszahl zu klein sind, weil in Altona zahlreiche Kinder im 


C. Zeitschriftenschau. 429 





Guttempler-Jugendwerk organisiert sind oder doch unter dem Einfluß der dort und 
im benachbarten Hamburg kräftig vertretenen Abstinenzbewegung der Guttempler 
stehen. 
Ehrenpfordt, A., Eine brennende pädagogische Aufgabe. Die Alkoholfrage. IX, 1, 
1913, S. 10—14. 
Nach einer im August 1910 im 9. Schulbezirk Berlins in 23 Gemeindeschulen 
erhobenen Statistik tranken 





gelegentlich täglich 
m 
Wein Bier Branntwein Wein Bier Branntwein 
Knaben (8106) . 1395 5036 1436 53 1828 44 
172%, 621% 178% 065% 2,55% 0,54%, 
Mädchen (8442). 1891 5217 993 121 1873 76 


224%, 618% 11,6% 14% 22% 09% 


Von 1925 täglich Alkohol trinkenden Knaben standen 381 = 19,7°/, unter dem 
Durchschnitt, von 2070 Mädchen 302 = 14,6°/,. »Eine anschauliche und gründliche 
Belehrung sollte man in keiner Schule versäumen, damit nicht Kinder in das Leben 
hinausgeschickt werden, die sich aus Unverstand und Unwissenheit an ihren besten 
Gütern versündigen.« 

Gohde, G., Alkoholfreie Jugenderziehung. Deutsche Lebenskunst. 20, 4 (15. Februar 
1913), S. 53—54. 

Es ist erstrebenswert, daß sich in den Lehrervereinen besondere Ausschüsse 
oder Vereinigungen für Schulgesundheitspflege bilden, wo über alkoholfreie Jugend- 
erziehung und andere Fragen im Rahmen der Schulhygiene gesprochen werden kann. 
Über die Arbeıt einer solchen Vereinigung im Potsdamer Lehrerverein wird berichtet. 
Koopmann, Bewahre dein Kind vor berauschenden Getränken. Deutsche Lebens- 

kunst. 20, 4 (15. Februar 1913), S. 54—55. 

Wenn es Plicht ist, die Kinder nach Kräften vor Krankheiten zu bewahren, 
so ist es erst recht Pflicht, sie vor den Gefahren des Alkoholgenusses zu schützen. 
Der beste Schutz liegt in der Enthaltsamkeit. 

Henneberg, Über die Notwendigkeit eines besonderen Hygiene-Unterrichts in den 
Volksschulen. Zeitsch. f. Schulgesundheitspflege. 26, 3 (März 1913), S. 168—184. 

Die Magdeburger Lehrplankommission lehnte es ab, in den Volksschulen be- 
sonderen Unterricht in Gesundheitspflege erteilen zu lassen, da es nicht Aufgabe 
des Schularztes sein könne, Unterricht zu erteilen, und da die gelegentliche Unter- 
weisung der Schüler durch die Lehrer vollauf genüge. Das gab Henneberg den 
Anlaß, seine Beobachtungen aus einer Knaben-Volksschule zu veröffentlichen. Er 
zeigt, wie durch zweckmäßigen Hygieneunterricht viel gebessert werden könne und 
wie die Schule selbst noch viele hygienische Anforderungen erfüllen lernen muß. 
Aus dem reichen Material sei nur folgendes mitgeteilt: Nur 23,6°%, der Knaben 
hatten eigene Zahnbürsten (bei 700 Knaben). 78 Knaben =11°/, erhielten kein 
warmes Mittagessen; 18 von ihnen bekamen überhaupt keine warme Mahlzeit, die 
übrigen 60 erst abends, »Durch Befragung der Kinder stellten wir fest, daß den 
Eltern in vielen Fällen jedes Verständnis für eine zweckmäßige Ernährung ihrer 
Kinder abging.< 27°/, der Knaben tranken gelegentlich starke Alkoholika (Liköre. 
Rum, Schnaps usw.), 6°/, regelmäßig abends ihr Bier (nur Lagerbier). 12°/, gaben 
an, bisher noch keine geistigen Getränke genossen zu haben (vorwiegend Kinder des 
ersten Schuljahrs). Über 75°, der Knaben hatten bereits geraucht, etwa 7%, 
rauchten öfters. — Es schliefen in einem Zimmer 


430 C. Zeitschriftenschau. 


zu vier Personen 139 Knaben = 19,8 °/, 


„ fünf a 81 + 116, 
„ sechs „ 49 er S 
„ sieben „, 23 = 33 „ 
„ acht na 4 „= 06, 
„ neun ” 2 ” se: 0,3 » 


402 Knaben = 57,4 °/, schliefen zu zwei und drei Personen, nur sehr wenige 
allein in einem Zimmer. Die Schlafräume sind dabei oft ungenügend. Ein eigenes 
Bett hatten 205 Knaben = 29,3 %/,. 471 == 67,3°/, schliefen zu zwei in einem Bett, 
23 = 3,3 °/⁄, zu drei, 1 Knabe sogar zu vier. Von diesen 495 Kindern teilten ihr 
Bett mit 


dem Bruder 283 = 57,2), 
dem Vater 85 = 17,2 „ 
der Schwester 72 = 14,5 „ 
der Mutter 52 = 10,5 . 


einem weiteren Verwandten 3= 0,6 „ 

Resignierend heißt es in dem Bericht: »An den ungünstigen Wohnungsverhält- 
nissen werden wir ja schwerlich etwas ändern können, wohl aber vermögen wir 
Kinder und Eltern über die Notwendigkeit, daß das Schlafzimmer täglich gelüftet 
werden muß, zu unterrichten und sie zur Sauberkeit zu erziehen.« — Die Schlaf- 
dauer ist oft ganz unzureichend. — 44,5°/, der Knaben badeten während des 
Winters überhaupt nicht; 81,5°/, waren Nichtschwimmer. 22°, kämmten sich 
nie; manche davon hatten Läuse, auch in kurz geschorenen Haaren. Die Kleidung 
ist oft unzureichend gereinigt. 25,7°/, der Knaben hatten an den Kontrolltagen 
keine Taschentücher; viele besaßen keine. Schweißfüße finden sich oft. Die Kleidung 
ist unzweckmäßig (Korsett bei Schulmädchen). Die Bücher werden unterm Arm 
getragen (schlechte Haltung). Das Frühstück wird vielfach in Zeitungspapier mit- 
gebracht. — Henneberg glaubt, daß gelegentliche Belehrungen auf die Kinder keinen 
Eindruck machen. »Wir müssen daher auf unsere Forderung, daß besondere Unter- 
richtsstunden für Gesundheitslehre einzuführen sind, bestehen.« 

Berninger, Johannes, Über gesundheitliche Belehrungen in der Schule. Zeit- 
schrift für Jugenderziehung und Jugendfürsorge. 3, 13 (15. März 1913), S. 376 
bis 382. 

Auf der Unterstufe sind gesundheitliche Belehrungen in der einfachsten und 
leichtverständlichsten Weise vorübergehend zu bieten. Themen dafür werden an- 
gegeben. Auf der Mittel- und Oberstufe sind die Fragen teils im naturkundlichen 
Unterricht, teils selbständig zu besprechen. Der naturkundliche Unterricht kann im 
letzten Schuljahr zugunsten der Gesundheitslehre wesentlich zurücktreten. Verfasser 
fand, daß Schüler und Schülerinnen dem Unterricht in Gesundheitslehre stets leb- 
haftes Interesse entgegenbrachten und nach dem Verlassen der Schule denı Lehrer 
oft ihren Dank für empfangene Unterweisungen bekundeten. — Für den Unterricht 
sind verschiedene brauchbare Materialien (Tafeln, Hefte usw.) angegeben. 

Ein Vortrag vor Untersekundanern. Die Abstinenz. XII, 4 (1. April 1913), S. 53 
bis 55. 

Der Vortrag weist in treffender und packender Weise die Schüler auf die 
große Bedeutung der Alkoholfrage für den einzelnen wie für die Gesamtheit hin. 
Rauh, Sigismund, Die Stimmung des Sexuellen in Unterricht und Erziehung. 

Der Säemann. 1913, 2 (14. Februar), S. 58—62. 
Beitrag zur Frage der sexuellen Belehrung unter besonderer Berücksichtigung 


C. Zeitschriftenschau. 431 





der jugendlichen Psyche. »Von dem Tatsächlichen, dem Anatomischen der Sexualität 

sprechen wir so wenig als möglich, eingehender höchstens unter vier Augen.« 

Grimm, Ludwig. Erziehung zur Wirtschaftlichkeit, Einfachheit, Gediegenheit. 
Deutsche Schulpraxis. 33, 8 (23. Februar 1913), S. 57—59; 9 (2. März), S. 68 
bis 70; 10 (9. März), 8. 76—78. 

Der Aufsatz bringt manche bemerkenswerte Ratschläge zur Hygiene des Leibes 
wie des Geistes. Er warnt vor den vielfachen Kulturschäden in drastischer und 
humorvoller Weise und zeigt den Lehrern, wie sie im Unterricht vorgehen können. 
Librowitsch, Sigismund, Die Elternschule. Pädagogischer Anzeiger für Ruß- 

land. 5, 1 (20. Januar 1913), S. 29—40. 

Die Elternschule ist ein Kreis Petersburger Eltern und Kinderfreunde, die 
lebhaftes Interesse für die Entwicklung der Kindesseele bekunden. Diese Einrich- 
tung hat manches gemeinsam mit dem Deutschen Verein für Kinderforschung und 
verwandten Organisationen. Sie legt besonders auch auf Jugend- und Schulhygiene 
großen Wert. 

Wilker, Karl, Deutsche Elternschulen. Pädagogischer Anzeiger für Rußland. 5, 3 
(28. März 1913), S. 129—133. 

Weist unberechtigte Ausstellungen an deutschen Leistungen, insbesondere an 
den deutschen Elternabenden, in dem Aufsatz Librowitschs zurück und bringt den 
Nachweis, daß manche der Einrichtungen, die L. in Petersburg zuerst entstanden 
meint, bereits in Deutschland seit langer Zeit bestehen, so vor allem auf dem Ge- 
biete kinderpsychologischer Forschung. 

Effelberger, J.. Pflichtstundenzahl. Blätter für Taubstummenbildung. 26, 2 
(15. Januar 1913), S. 17—23. 

Die Zahl der Pflichtstunden an Taubstummenanstalten ist erst sehr wenig be- 
hördlich geregelt. Die mitgeteilten Zahlen zeigen, wie notwendig eine derartige 
Regelung aber ist. 

Wehner, K., Heimatlos. Neue Bahnen. 24, 5 (Februar 1913), S. 227—230. 

Viele Kinder sind tatsächlich heimatlos. Diese Heimatlosigkeit schädigt das 
Kind nicht nur physisch, sondern auch moralisch und intellektuell. Die Heimat- 
losigkeit stellt auch ein gut Teil der pädagogischen Arbeit in Frage. 

Baur, Wegweiser für die Tätigkeit der Frauen in der Armen- und Wohlfahrts- 
pflege. Die Gesundheitswarte. X, 7, S. 165—171; 8, S. 182—189; 9, 8. 206 
bis 213; 10, S. 233—241; 11, S. 250—256. 

Kurzer allgemeiner und ausführlicherer spezieller Wegweiser. In letzterem 
werden behandelt: Pflege der gesunden Säuglinge, der kranken Säuglinge; sonstige 
Wartung und Pflege des Kindes; Wohnungskontrolle, Ernährung; Verhalten bei an- 
steckenden Krankheiten; Kraukenpflegemaßnahmen. 

Hanssen, Die Belehrung der Bevölkerung durch Museen für Säuglingspflege. 
Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. V, 1 (Januar 1913), S. 16—18. 

Entwickelt den Plan eines derartigen Museums nach Anlage und Einrichtung, 
Kosten und Betrieb. 

Siegmund, Heinrich, Die Säuglingssterblichkeit und unsere Schulen. Schul- 
und Kirchenbote. 48, 3 (1. Februar 1913), S. 34—38. 

»Kein Mädchen sollte ohne Aufklärung über die beste Ernährung und Pflege 
der Kinder und zwar besonders der Säuglinge die Schule verlassen.« 

Moll, Zur Frage der Sommersterblichkeit. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugend- 
fürsorge. 4, 12 (Dezember 1912), S. 345—347. 


432 D. Literatur. 





Zur Erklärung lassen sich drei Hypothesen heranziehen: die der Milchzersetzung, 
die Infektionshypothese, die Theorie der Hitzestauung. Die Sommersterblichkeit 
kann aber nur durch das Ineinandergreifen aller drei Umstände erklärt werden. Die 
beste Prophylaxe ist eine gründliche Wohnungsreform (Möglichkeit entsprechender 
Entwärmung; freistehende Häuser). Die Arbeit stützt sich referierend auf neuere 
Untersuchungen Liefmanns und Lindemanns. 

Moll, Die Verteilung der Sommersterblichkeit der Säuglinge in Österreich auf Stadt 
und Land. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. V, 1 (Januar 1913), 
S. 19—21. 

Der Gesundheitszustand der Säuglinge erscheint im Wintervierteljahr auf dem 
Lande im Gegensatz zur Stadt am ungünstigsten. Das hängt wohl zusammen mit 
den unhygienischen ländlichen Wohnungsverhältnissen. Daraus ergibt sich die Not- 
wendigkeit der Wohnungsreform als Teilgebiet des Säuglingsschutzes. 

Hoffa, Th., Probleme der Säuglingsfürsorge im Deutschen Reiche. ‚Zeitschrift für 
Kinderschutz und Jugendfürsorge. V, 2 (Februar 1913), S. 46—49; 3 (März), 
S. 81—83. 

Die heutige Säuglingssterblichkeit bedeutet nach Potthoff für Deutschland 
einen Verlust von rund 100 Millionen Mark jährlich. Die Geburtenziffer ist seit 
1902 in Deutschland auf dem Lande im Sinken begriffen, seit 1907 ist in Preußen 
die Säuglingssterblichkeit auf dem Lande höher als in den Städten. Um die länd- 
liche Armen- und Waisenpflege ist es noch recht schlecht bestellt. Hilfeleistung 
für das flache Land muß durch größere Zentralen gebracht werden. Fürsorge für 
das Säuglings- und Kleinkindesalter ist als Unterbau für geordnete Jugendpflege 
dringend notwendig. Vor allem kommt es auf die Bekämpfung der Sommersterblich- 
keit an: Gesunderhaltung der Säuglinge bis zur Hitzeperiode und Verhütung der 
Hitzeschädigung selbst. Die Mütter müssen gründlich belehrt und aufgeklärt werden. 
Offene und geschlossene Säuglingsfürsorge müssen gut ineinandergreifen. 

Hoffa, Th., Der III. Deutsche Kongreß für Säuglingsfürsorge, Darmstadt, 20. bis 
22. September 1912. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. 4, 11 
(November 1912), S. 321—324; 12 (Dezember 1912), S. 348—349. 

Möglichst objektiver Bericht. Eingehend und gut. 


D. Literatur. 


Wilker, Karl, Alkohol und Jugendpflege. Hamburg 30, Deutschlands Groß- 
loge II des J. O. G. T., 1913. 31 Seiten. Preis 30 Pf. 

Dem viel, aber einseitig gebrauchten Schlagwort »Jugendpflege« gibt der Ver- 
fasser einen erweiterten Umfang und einen vertieften Inhalt. Er versteht darunter 
mit Recht die ganze Fürsorge für die gesamte Jugend ohne Ausnahme, also für alle 
noch nicht vollentwickelten Menschenkinder, und geht dabei auf die Hauptquelle 
alles Jugendelends zurück, nämlich den Alkoholismus. In Vortragsform behandelt 
er die vielseitigen Ausstrahlungen dieses ungeheuren Übels, unter dem gerade die 
Jugend unseres Volkes leidet und verdirbt. Was helfen da alle Opfer und Mittel, 
die privatim und »amtlich« für Jugendhilfe und Jugendpflege aufgebracht werden, 
wenn man sich darauf beschränkt, unliebsame Symptome zu bekämpfen, ohne die 
Wurzel des Elends zu treffen! Fürwahr, wir haben keinen Grund, auf unsere Kultur 


D. Literatur. 433 





stolz zu sein, wenn die Gesellschaft nicht fähig ist, aus einer millionenfachen Er- 
fahrung die nächstliegenden Schlüsse zu ziehen, und nicht die sittliche Kraft besitzt, 
nach ihrer besseren Einsicht folgerichtig zu handeln. — Die warmherzige Schrift 
verdient eine Massenverbreitung. 

Berlin. Richard Schauer. 


Wilker, Karl, Alkoholismus, Schwachsinn und Vererbung in ihrer Be- 
deutung für die Schule. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer 
& Mann). Preis 1,20 M. 

In der vorliegenden Schrift hat einer unserer besten Sachkenner mit bewunderns- 
wertem Fleiß die Ergebnisse der neueren Forschung über Keimschädigungen und 
Entwicklungshemmungen durch Alkohol gesammelt und übersichtlich zusammen- 
gestellt. Die verheerenden Wirkungen des Alkoholismus von den Quellen der 
Zeugung an bis zum geistigen und sittlichen Zusammenbruch des kindlichen Indi- 
viduums innerhalb der sozialen Gemeinschaft werden anschaulich dargelegt, wobei 
der Verfasser ailein die traurigen Tatsachen sprechen läßt. 22 zum Teil farbige 
Tafeln bieten ein sehr wertvolles Anschauungsmaterial, das besonders denen will- 
kommen sein wird, die Vorträge über den Alkoholismus zu halten beabsichtigen. Die 
Schrift ist als zuverlässige Materialiensammlung vorzüglich zu empfehlen. 

Berlin. Richard Schauer. 


Hoppe, Hugo, Die Tatsachen über den Alkohol. Ein Handbuch der Wissen- 
schaft vom Alkohol. 4., umgearbeitete und vermehrte Auflage. München, Ernst 
Reinhardt, 1912. XVI und 746 Seiten. Mit vielen Tabellen. Preis broschiert 
9 Mark, gebunden 10,50 Mark. 

Kein Buch orientiert den, der wirklich ernsthaft die Alkoholfrage studieren 
will, so gut wie dieses Werk Hoppes, das wohl alles zusammengetragen hat, was an 
wissenschaftlichen Untersuchungen über die Alkoholfrage zusammenzutragen ist. 
Das überreiche Material, eine oft wahrhaft beängstigende Fülle von Zahlen, ist in 
dreizehn großen Abschnitten übersichtlich angeordnet. Hoppe hat sich bemüht, 
objektiv zu sein. Dieser Objektivität muß man es zugute halten, wenn hier und da 
dem einen oder anderen Benutzer des Werkes nicht kritisch genug vorgegangen zu 
sein scheinen sollte. Diese Objektivität ist aber auch ein wesentlicher und lobens- 
werter Zug an diesem Handbuch. Es ist ganz ausgeschlossen, im Rahmen einer Be- 
sprechung ausführlich die Bedeutung des Hoppeschen Werkes zu würdigen. Es mag 
hier nur ganz kurz hingewiesen werden auf die für unsere Leser wichtigsten Abschnitte 
des Buches. Es sind das vor allem die drei letzten Abschnitte, obgleich man sich 
nicht verhehlen darf, daß auch jeder der zehn anderen Abschnitte eine Menge wert- 
vollen Materials gerade für den Pädagogen und Mediziner, für den Kinderforscher, 
birgt. Das XI. Kapitel trägt die Überschrift »Alkohol und Entartung« und behandelt 
den Einfluß der Trunkenheit zur Zeit der Zeugung, den Einfluß des chronischen 
Alkoholismus auf die Nachkommenschaft, die Verminderung der Fruchtbarkeit in 
Trinkerfamilien; es wird über die verschiedenen Tierversuche, die für das Ent- 
artungsproblem von Bedeutung wurden, referiert; es wird auch der Degeneration 
ganzer Völker gedacht. Das XII. Kapitel unterrichtet über die pathologischen 
Wirkungen des Alköhols bei Kindern und das XIII. über die Verbreitung der Trink- 
sitten und Trunksucht, namentlich auch über die Verbreitung des Alkoholgenusses 
bei Kindern. Gerade auf die hier mitgeteilten Zahlen, die jeder Lehrer einmal 
kennen gelernt haben sollte, kann nicht nachdrücklich genug hingewiesen werden, 


434 D. Literatur. 





Es wird immer mehr der Forderung nach alhoholfreier Jugenderziehung Rechnung 
getragen. Das bedingt in immer weiteren Kreisen ein erhöhtes Interesse an der 
Akoholfrage, ein Verlangen nach Kenntnis der Tatsachen über den Alkohol. Gerade 
an den Pädagogen tritt oft die Aufforderung heran, Aufschluß über diese oder jene 
Seite der Frage zu erteilen. Das Gebiet der Alkoholfrage ist bereits heute so 
umfangreich, daß es der eingehendsten Beschäftigung bedarf, wenn man nur 
einigermaßen über die Hauptprobleme orientiert sein und bleiben will. Um so not- 
wendiger ist da der Besitz eines Buches, das alles Material enthält, das auch die 
erforderlichen Literaturnachweise bringt, die ein Einzelstudium ermöglichen! 

Jena. Karl Wilker. 


Arendt, Henriette, Kleine weiße Sklaven. Berlin, Vita Deutsches Verlags- 
haus, 1912. 206 S. Viertes Tausend. Preis 2,50 M. 

Ein erschütterndes Buch! Hunderte, Tausende von Kindern werden verkauft. 
Und die wenigsten Menschen wissen es. Es existiert bei uns ein regelrechter und 
äußerst lukrativer Geschäftszweig: der Kinderhandel. Und Behörden und private 
Rettungsvereine wissen nichts davon, wollen nichts davon wissen. Dies Buch er- 
bringt mit grausamer Klarheit den Nachweis, daß im großen Umfange Kinderhandel 
betrieben wird. Dokumente und Aktenstücke werden uns Seite um Seite vorgelegt. 
Ein Material, wie es nur diese Frau sammeln konnte. Und dann folgt die schwere 
Anklage: ich klage die Kirche an, ich klage den Staat an, ich klage die ganze 
menschliche Gesellschaft an. Worte, die in ihrer einfachen Schlichtheit tief er- 
greifen. — Was soll man tun gegenüber all dem Elend? Die Generalvormundschaft 
einführen, Auskunftsstellen schaffen, amtliche Waisenpflegerinnen anstellen, weniger 
die Bureaukratie walten lassen, staatliche Mütterheime einrichten, ledige Mütter 
durch Stillprämien unterstützen, das Verschenken und Verkaufen von Kindern streng 
verbieten, staatliche Kinderasyle schaffen — das sind einige der Reformvorschläge, 
die die Verfasserin macht. i 

Wir hoffen, in einem der nächsten Hefte einen Aufsatz von Schwester Arendt 
aus ihrem Wirkungskreis veröffentlichen zu können. Diesem Buche aber wünschen 
wir eine Verbreitung in vielen Tausenden von Exemplaren, damit es die Herzen 
tausender von Menschen gewinne für die Bestrebungen einer Frau, die in un- 
ermüdlicher Selbstaufopferung für das Wohl armer kleiner Menschenkinder arbeitet 
und wirkt. 

Jena. Karl Wilker. 


Leonhard, Stephan, Die Prostitution, ihre hygienische, sanitäre, 
sittenpolizeiliche und gesetzliche Bekämpfung. München, Ernst 
Reinhardt, 1912. VIII und 307 Seiten. Preis 4 Mark, gebunden 5 Mark. 

Wie wichtig die Frage für den Pädagogen uud Kinderforscher ist, mag man 
aus der Wiedergabe folgender Zahlen ersehen, die Leonhard aufstellen konnte. Bei 
einem Stande von 681 Prostituierten standen 1910 von den Inskribierten (vor dem 
18. Jahre kann kein Mädchen inskribiert werden) 


im Alter von Mädchen 
18 Jahren 2 (1) 
19 5 10 (7) 
20 y 28 (16) 


Die in Klammern beigefügte Zahl gibt die Ziffer der zum erstenmal er- 
krankten an. 


D. Literatur. 435 


Von 481 Aufgegriffenen waren 1910 


im Alter von Mädchen zum erstenmal erkrankt 
15 Jahren 1 _ 
16 „ 8 1 
TE +4: 10 2 
18 , 26 8 
19 „ 28 13 
20 „ 44 14 
Es stellten sich unter Kontrolle 
im Alter von freiwillig gezwungen 
18 Jahren 5 Mädchen 2 Mädchen 
19 ,„ 19 3 12 33 
20 y 39 m 18 s 
Von 176 Prostituierten waren aus der Schule entlassen 
aus Klasse Mädchen 
1 131 
2 32 
3 9 
4 2 
7 1 (Analphabet). 


Ein Mädchen hatte die höhere Töchterschule absolviert. 
Zum ersten Male geschlechtlich betätigt hatten sich 


im Alter von Mädchen 
14 Jahren 2 
15 3 5 
16 „ 14 
I. 39 
18 , 44 
19 , 26 
20 pa 19 


Ich habe diese Zahlen aus Leonhards Buch hier zusammengestellt, eben um 
zu zeigen, daß wir allen Grund haben, uns um dieses Buch zu kümmern. Besonders 
wichtig ist für uns der zweite Teil desselben, der der Prophylaxe gewidmet ist. 
Bei der Bekämpfung der Prostitution hat die körperliche und geistige Erziehung 
eine große Rolle zu spielen. Und mit Recht bemerkt Leonhard: »Damit hört auch 
die Prostitutionsfrage auf, ein rein medizinisch -hygienisches Problem zu sein, sondern 
wird ein eminent soziales, und beginnt schon mit der Erziehung des Kindes« 
(S. 67). Neben dem Elternhaus haben sowohl Lehrer wie Schularzt die Pflicht zu 
sexueller Belehrung. 

Als weitere prophylaktische Maßnahmen machen sich notwendig: Besserung 
der Wohnungsverhältnisse (gesetzliche Aufstellung von Mindestforderungen für die 
Benutzung von Wohn- und Schlafräumen; Regelung des Zusammenschlafens ver- 
schieden-geschlechtlicher und -alter Personen); eine ausgedehnte Jugendfürsorge 
(Fürsorge für uneheliche Kinder, für Kinder von Prostituierten. Müßiggängern, 
Trinkern, sittlich Defekten; Fürsorge für psychopathische Kinder; Fürsorge bei der 
Schulentlassung, Beratung bei der Berufswahl; Haushaltungsunterricht für Mädchen; 
körperliche Ertüchtigung der Fortbildungsschüler; Reformierung des Fürsorge- 


436 D. Literatur. 





erziehungsgesetzes) ; Besserung der sozialen Verhältnisse ; Ermöglichung früherer Ehe- 
schließung; Kampf gegen den Alkoholismus (zugleich Rassenveredelung) ; Schutz der 
unehelichen Mütter (430/, der Düsseldorfer Prostituierten gaben dem Verfasser an, 
daß sie unehelich geboren hatten, und viele erklärten, daß sie dadurch zur 
Prostitution bestimmt seien); Kampf gegen Schund- und Schmutzliteratur und -films; 
Kampf gegen den Mädchenhandel. — Alle diese Maßnahmen werden eingehend und 
gründlich besprochen. 

Der dritte Teil des Buches wendet sich vorwiegend an den Mediziner, der 
vierte an den Juristen, Leonhard betont mit Recht, daß die Erhöhung des Schutz- 
alters für Mädchen von 14 auf 16 Jahre »von der wohltätigsten Einwirkung für die 
Sittlichkeit der Jugend sein würde, ... angesichts der Tatsache, daß jugendliche 
Personen unter 16 Jahren in steigendem Maße einen Prozentsatz der Prostituierten 
bilden« (S. 281), und daß die Strafe der Zukunft, besonders wenn es sich um 
Sittlichkeitsdelikte und Prostituierte handelt, die Besserungsstrafe sein soll. 

Und nun die Aussichten für die Zukunft? Durch Gesetze, Bildung, Erziehung, 
soziale Fortschritte können wir eine Heilung der Schäden erreichen, können wir dazu 
beitragen, daß die Prostitution »mehr und mehr als krankhafte Erscheinung in der 
menschlichen Gesellschaft verschwindet... Und könnte trotz alledem eine Aus- 
rottung der Prostitution auch in ferner Zukunft nie erreicht, so kann doch manches 
gebessert und besonders können die sittlichen und gesundheitlichen Schäden, an deren 
Folgen die ganze Nation zu tragen hat, herabgemindert werden« (S. 297). 

Leonhards Buch will Vorschläge bringen, die sich realisieren lassen. Das tut 
es auch. Gerade darum kann nicht nachdrücklich genug darauf hingewiesen werden, 

Jena. Karl Wilker. 


Neumann -Neurode, Detleff, Kindersport. Körperübungen für das frühe 
Kindesalter. Dritte, verbesserte Auflage. Potsdam, A. Stein, 1912. 76 Seiten. 
Mit 66 Bildern. Preis 2,25 M. 

Die beiden ersten Auflagen dieses nützlichen Büchleins enthielten nur Übungen, 
die ohne Apparat ausgeübt wurden, die aber an manche Erwachsene zu große An- 
forderungen stellten. Diese neue Auflage ist um eine Anzahl Übungen an dem vom 
Verfasser konstruierten Wolmreck bereichert worden. Im Vorwort heißt es u. a.: 
»Nach mehr als zweijähriger Beobachtung einer größeren Anzahl von kleinen 
Turnerinnen und Turnern stehe ich auf dem Standpunkt, daß es von volksgesundheit- 
licher Bedeutung wäre, wenn Wege gefunden würden, nicht nur die Kinder der gut- 
situierten, sondern auch der ärmeren Bevölkerung schon im Spielalter auf die An- 
strengungen der Schule, die jetzt ganz plötzlich einsetzen, durch leichte Gymnastik 
vorzubereiten.« 

Jena. Karl Wilker. 





Verantwortliche Schriftleitung für Abhandlungen und Mitteilungen: Dir. Trüper, 
Sophienhöhe b. Jena; für Zeitschriftenschau und Literatur: Dr. Karl Wilker, Jena, 
Weißenburgstraße 27. 


Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 





Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 


Beiträge zum Kindorforschung und Höilerziehung, 


Beihefte zur »Zeitschrift für Kinderforschung«. 





Im Verein mit 
Dr. G. Anton Dr. E. Martinak Chr. Ufer Karl Wilker 
Geh. Med.-Rat u. Prof. o. ö. Prof. d. Philosophie Rektor d. Süd-Mädchen- Dr. phil 


ander Univ. Halle u. Pädag. a. d. Univ. Graz Mittelschulei. Elberfeld in Jena i. Thür. 
herausgegeben von 


J. Trüper 


Direktor der Erziehungsheimes und Jugendsanatoriums auf der Sophienhöhe bei Jena. 


1. Die Sittliehkeit des Kindes. Von Dr. A. Schinz, Privatdozent der Philosophie 
an der Akademie Neufchâtel. Übers. von Rektor Ohr. Ufer. 46 S. Preis 75 Pf. 
Über J. J. Rousseaus Jugend. Von Dr. med. P. J. Möbius. 338. Preis 60 Pf. 
Die Hilfssehulen Deutschlands und der deutschen Sehweiz. Von A. 
Wintermann, Leiter der Hilfsschule in Bremen. Preis 1 M 25 Pf. 
Die SER: TARESEMERD Behandlung gelähmter Kinder. Von Prof. 
Dr. A. Hoffa in Würzburg. Mit 1 Tafel. 16 8. Preis 40 Pf. 
Zur Frage der Erziehung unserer sittlieh gefährdeten Jagend. Von J. 
Trüper, Dir. des Erziehungsheims Sophienhöhe b. Jena. 40 8. Preis 50 Pf. 
Über Anstaltsfürsorge für Krüppel. Von Sanitätsrat Dr. med. Herm. Kruken- 
berg, Dir. d. städt. Krankenhauses zu Liegnitz, Mit 7 Textabb. 24 S. Preis 40 Pf. 
Die ee der sittlichen Entwicklung und Erziehüng des Kindes. 
Von Dr. H. E. Piggott. 87 8. Preis 1 M 25 Pf. 
Psyehopathische Minderwertigkeiten als Ursache von Gesetzesverletzungen 
Jugendlicher. Von Dir. J. Trüper. 62 8. Preis 1 M. 
Der Konfirmandenunterricht in der Hilfssehule. Von Heinrich Kielhorn, 
iter der Hilfsschule in Braunschweig. 40 S. Preis 50 Pf. 
ber das Verhältnis des Gefühls zum Intellekt in der Kindheit des 
Individuums und der Völker. Von O. Flügel. 45 S. Preis 75 Pf. 
. Einige Aufgaben der Kinderforsehung auf dem Gebiete der künstlerischen 
Erziehung. Von Conrad Schubert, Rektor in Altenburg. 31 S. Preis 50 Pf. 
Strafrechtsreform und SRERAIRIRUTSE: Von W. Polligkeit, jur. Dir. der 
Cent. f. priv. Fürsorge in Frankfurt a/M. 25 S. Preis 50 Pf. 
. 16 Monate Kindersprache. Von Dr. H. Tögel. 36 S. Preis 50 Pf. 
Die Bedeutung der chronischen Stuhlverstopfung im Kindesalter. Von 
Dr. Eugen Neter. 28 S. Preis 45 Pf. 
. Zur Frage des Bettnässens. Von Dr. med. Hermann. 188. Preis 30 Pf. 
Warum und wozu betreibt man Kinderstudium? Von A. J. Schreuder, 
Direktor des Med.-Päd. Instituts zu Arnheim. 40 8. Preis 50 Pf. 
17. Psyehelogische Beobachtungen an zwei Knaben. Von Gottlieb Friedrich, 
Gymnasial-Professor in Teschen. 79 S. ‚Preis 1 M 25 Pf. 

18. Die Abartungen des kindlichen Phantasielebens in ihrer Bedeutung für 
die päd. Pathelogie. Von Dr. med. Julius Moses. 32 8. Preis 50 Pf. 

19. Hygiene der Bewegung. Von Dr. H. Pudor. 44 8. Preis 75 Pf. 
20. Zur Frage der Behandlung unserer jugendlichen Missetäter. Von J. 
Trüper, Dir. des Erziehungsheims Sophienhöhe b. Jena. 34 8. Preis 50 Pf. 

21. Die Verwahrlosung des Kindes und das geltende Reeht. Von Dr. 
Heinrich Reicher, Privatdozent a. d. Wiener Universität. 32 S. Preis 50 Pf. 

22. Über Vorsorge und Fürsorge für die intellektuell schwache und sittlieh 
gefährdete Jugend. Von Dr. M. Fiebig, Schularzt in Jena. 50 8. Preis 75 Pf. 


23. Über Arbeitserziehung. Von Pastor Plass, Direktor des Erziehungsheims am 


tr „ A >. Hal = Sit = BEE Zt 7 2 


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Urban, Zehlendorf. 22 8. Preis 40 Pf. 
24. Ds S ue seiner Bedeutung für die Entwicklung des Kindes. 
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lin, Rektor in Mannheim. 44 8. Preis 75 Pf. 





Zu beziehen durch jede Buchhandlung. 





Verlag von Hermann Beyer & Sönne (Beyer & Mann) in Langensalza. 


Heft 

25. Wesen und Aufgabe einer Schülerkunde. Von Dr. E. Martinak, Professor 
der Pädagogik an der Universität Graz. 18 S. Preis 30 Pf. 

26. Die forensische Behandlung der Jugendlichen. Von W. Kulemann, Land- 
gerichtsrat in Bremen. 218. Preis 40 Pf. 

27. Die Impressionavilität der Kinder unter dem Einfluss des Milieus. Von 
Dr. Adolf Baginsky, Professor an der Universität Berlin und Direktor des 


Kaiserin Friedrich-Kinderkrankenhauses. 21 8. Preis 40 Pf. 
28. Rachitis als eine auf Alkoholisation und Produktionserschöpfang be- 
ruhende Entwicklungsanomalie der Bindesubstanzen. Von Dr. M. Fiebig, 
Schularzt in Jena. 38 S. Preis 75 Pf. 
29. Psyehasthenisehe Kinder. Von Dr. Th. Heller, Direktor der Erziehungsanstalt 
für geistig abnorme Kinder Wien-Grinzing. 18 S. Preis 35 Pf. 
30. Die Fürsorge für die schulentlassene Jugend. Von Dr. Felisch, Geh. 
Admiralitätsrat. 17 S. Preis 30 Pf. 
31. Farbenbeobachtungen bei Kindern. Von Dr. Karl L. Sehaefer, Professor 
an der Universität Berlin. 16 8. Preis 30 Pf. 


32. Über die Möglichkeit der Beeinflussung abnormer Ideenassoziation dureh 
Erziehung und Unterricht. Von Hugo Landmann, Oberlehrer am Trüperschen 


Erziehungsheim Sophienhöhe b. Jena. 21 S. Preis 40 Pf. 
33. Über hysterische Epidemien an deutschen Schulen. Von Kurt Walther Dia, 
Lehrer in Meißen. 46 S. Preis 75 Pf. 
34. Die psyehologische und rag ige Begründung der Notwendigkeit 
des praktischen Unterrichts. Von Dr. A. Pabst, Direktor des Handarbeits- 
seminars in Leipzig. 20 S. Preis 40 Pf. 
35. Die oberen Stafen des Jugendalters. Von Dr. H. Schmidkunz in Halensee 
bei Berlin. 20 8. Preis 40 Pf. 
36. Fröbelsche Pädagogik und Kinderforschung. Von Hanna Mecke in Cassel. 
18 8. Preis 35 Pf. 
37. Über individuelle Hemmungen der Aufmerksamkeit im Schulalter. Von 
J. Delitsch, Hilfsschul-Direktor in Plauen i. V. 25 8. Preis 50 Pf. 
38. Die Taubstumm-Blinden. Von G. Riemann, Kgl. Taubstummenlehrer zu 
Berlin. Mit 2 Tafeln. 218. Preis 45 Pf. 
39. Beitrag zur Kenntnis der Schlafverhältnisse Berliner Gemeindesehüler. 
Von Dr. L. Bernhard, Schularzt in Berlin. 13 8. Preis 25 Pf. 


40. Wohnungsnot und Kinderelend. Von A. Damaschke. 17 S. Preis 30 Pf. 
41. Jugendliche Verbrecher. Von Dr. G. von Rohden. 188. ‘Preis 35 Pf. 
42. Die Bedeutung der Hilfsschulen für den Militärdienst der geistig Minder- 
wertigen. Von Dr. Ewald Stier, Stabsarzt in Berlin. 26 S. Preis 50 Pf. 
43. Der Zitterlaut R. Von O. Stern, Tbst.-L. in Stade. Mit 2 Fig. 388. Pr. 75 Pf. 
44. Psychologisches zur ethisehen Erziehung. Von Professor Dr. han 
Witasek. Mit 1 Tafel. 17 8. Preis 30 Pf. 
45. Zur Wertschätzung der Pädagogik in der Wissenschaft wie im Leben. 
Von J. Trüper, Dir. d. Erziehungsheims Sophienhöhe b. Jena. 28 S. Pr. 50 Pf. 
46. Fingertätigkeit und Fingerreehnen als Faktor der Entwicklung der Intelli- 
genz und der Rechenkunst bei Schwachbegabten. Von H. Nöll. 60S. Pr. 1 M. 
47. Der erste Sprechunterricht (Artikulationsunterricht) bei Geistessechwachen. 
Von Hauptlehrer Strakerjahn. Mit 2 Textabb. u. 1 Tafel. 255S. Preis 60 Pf. 
48. Das staatliche Kinderschutzwesen in Ungarn. Von Dr. Franz v. Torday. 
Oberarzt des Budapester staatlichen Kinderasyls. 37 S. Preis 80 Pf. 
49. Die Prügelstrafe in der Erziehung. Von Dr. O. Kiefer. 428. Preis 75 Pf. 
50. Der Tic im Kindesalter und seine erziehliche Behandlung. Von Gustav 


Dirks. 29 S. Preis 60 Pf. 
51. Zur Literatur über Jugendfürsorge und Jugendrettung. Von K. Hemprich, 
27 8. Preis 50 Pf. 


52. Kind und Gesellschaft. Von Konrad Agahd in Rixdorf. 388. Preis 60 Pf. 
53. Der Kinderglaube. Von H. Schreiber, Lehrer i. Würzburg. 708. Preis 1 M 25 Pf. 
54. Psyehopathische Mittelschüler. Von Dr. phil. Theodor Heller, Direktor der 

Heilerziehungsanstalt Wien-Grinzing. 26 8. Preis 50 Pf. 





Zu beziehen durch jede Buchhandlung. 





Verlag von Hermann Beyer & Sönne (Beyer & Mann) in Langensalza. 


Heft 
55. Über den Einfluss der venerischen Krankheiten auf die Ehe sowie über 
ihre Übertragung auf kleine Kinder. Von Prof. Æ. Welander, Stockholm. 
43 8. Preis 75 Pf. 
56. Die Bedeutung des Unterrichts im Formen für die Bildung der Anschauung. 
Von H. Denzer. 25 8. Preis 50 Pf. 
57. Über den Einfluss des Alkoholgenusses der Eltern und Ahnen auf die Kinder. 
Von Dr. A. H. Oort, Arzt a. Sanat. Rheingeest b. Leiden, Holland. 208. Preis 40 Pf. 
58. Jugendsehatz-Kommissionen als vollwertiger Ersatz für Jugendgorichts- 
höfe. Von Kuhn-Kelly, Präsident u. Kinderinspektor der Gemeinnützigen Ge- 
sellschaft der Stadt St. Gallen. 19 S. Preis 40 Pf. 
59. Das amerikanische Jugendgericht und sein Einfluss auf unsere Jugend- 
rettung und Jugenderziehung. Von Dr. B. Maennel. 34 S. Preis 50 Pf. 
60. Die Entwieklung der Gemütsbewegungen im ersten Lebensjahre. Von 


Martin Buchner in Passau. (Mit 4 Tafeln.) 20 8. Preis 50 Pf. 

61. Frühreife Kinder. Psychologische Studie von Dr. Otto Boodstein, Stadtschulrat 
in Elberfeld. 43 8. Preis 75 Pf. 

62. Der Arzt in der Hilfssehule. Von Geh. Reg.- u. Med.-Rat Prof. Dr. Leu- 
buscher und Hilfsschullehrer Adam. 26 S. Preis 50 Pf. 

63. Die Suggestion im Leben des Kindes. Von Hans Plecher, München. 36 S. 
Preis 60 Pf. 

64. Das Beobachtungshaus der Erziehungsanstalten. Von J. Petersen, Direktor 
des Waisenhauses in Hamburg. 19 S. Preis 40 Pf. 


65. Über den gegenwärtigen Stand der Kunsterziehungsfrage in Österreich. 
Von Prof. Alois Kunzfeld in Wien. (Mit 1 Doppeltafel.) 34 S. Preis 75 Pf. 
66. Straffällige Schulknabeu in intellektueller, moralischer und sozialer Be- 
ziehung. Von C. Birkigt, Lehrer an der Kgl. Landesstrafanstalt zu Bautzen. 
42 S. Preis 65 Pf. 
67. Grundlagen für das Verständnis krankhafter Seelenzustände (psyeho- 
pathischer Minderwertigkeiten) beim Kinde in 30 Vorlesungen. Von Dr. med. 
Hermann, Merzig a/Saar. (Mit 5 Tafeln.) 2. Aufl. 194S. Preis 3 M., geb. 4 M. 
68. Lüge und Ohrfeige. Eine Studie auf dem Gebiete der psychologischen Kinder- 
forschung u. der Heilpädagogik. Von Kuhn-Kelly, Präsident u. Kinderinspektor 


der Gemeinnützigen Gesellschaft der Stadt St. Gallen. 23 S. Preis 40 Pf. 

69. Die Sinneswahrnehmungen der Kinder. Von Dr. phil. Hugo Schmidt. 33 S. 
Preis 50 Pf. 

70. Der Selbstmord im kindlichen und jugendlichen Alter. Von Dr. med. 
Neter. 22 8. Preis 40 Pf. 

71. Zur Kenntnis der Ernährungsverhältnisse Berliner Gemeindesehüler. Von 
Dr. L. Bernhard, städt. Schularzt in Berlin. 28 8. Preis 45 Pf. 

72. Einfluss von kar at ae dar, i auf die körperliche Entwicklung unserer 
Volkssehuljugend. Von Dr. H. Roeder-Berlin. 17 8. Preis 30 Pf. 

73. Die sozialen und psychologischen Probleme der jugeudlichen Verwahr- 
losung. Von Dr. Julius Moses, Arzt in Mannheim. 32 8. Preis 50 Pf. 

74. Wie weit reicht das Gedächtnis Erwachsener zurück? Von Gregor 
Schmutz, Landes-Taubstummenlehrer in Graz. 27 S. Preis 45 Pf. 


75. Ursachen der Verwahrlosung Jugendlicher. Von J. Delitsch. 358. Pr. 60 Pf. 
76. Beobachtungen über die geistige Entwieklung eines Kindes in seinem 

ersten Lebensjahre. Von Dr. T. Ischikawa, Irrenarzt in Tokio. 538. Pr. 90 Pf. 
77. Ein Experiment zur Einübung von Aufmerksamkeit. Von Dr. phil. Y. Motora, 

Professor an der kaiserl. Univ. zu Tokio. (Mit 3 Tafeln.) 16 S. Preis 30 Pf. 
78. Die Behandlung der jugendlichen Rechtsbreeher im russisehen Straf- und 
Strafprozessreeht. Von Eugenie Breitbart-Schuchmann aus Odessa (Rußland). 
118 S Preis 1 M 80 Pf. 
79. Über die angeborene Wortblindheit und die Bedeutung ihrer Kenntnis 

für den Unterricht. Von Dr. med. F. Warburg, Köln. 218. Preis 40 Pf. 


80. Zeitfragen. Von J. Trüper. 32 8. Preis 50 Pf. 
81. Die staatsbürgerliehe Erziehung im Lehrplan der Volksschule. Von R. 
Lambeck, Rektor a. D. in Remscheid-Hasten. 63 S. Preis 1 M. 





Zu beziehen durch jede Buchhandlung. 





Verlag von Hermann BEYER & SöHne (BEYER & Mann) in Langensalza. 


Heft 


82. 
83. 


. Das Jugendge 


; ee der österreichischen Sehulreform. Von Dr. Ludwig 





Lehrpläne für den Unterricht in der Hilfsschule nebst methodischer An- 
weisung. Von Rud. Weiß, Dir. d. Hilfssch. zu Zwickaui/S. 1358. Pr. 2 M 70 Pf. 
Verfassung und Erziehungsplan des Kindergartens. Von M. Damrow. 
IV u. 72 §. Preis 1 M 60 Pf. 
Personalienbuch. Von J. Trüper. 2. Aufl. XX u. 31 8. Preis 80 Pf. 


. Die Pflanzenkenntnis bei den Kindern unserer Elementarklasse. Von 


E. Mentzel, Seminarlehrer in Altenburg. (Mit 4 Tafeln.) 358. Preis 65 Pf. 


. Die reine Kinderleistung. Von R. Egenberger, München. (U. d. Pr.) 
. Richtlinien für die Stoffauswahl im Unterrichte sehwachsinniger Kinder. 


Von Fr. Rössel. 20 8. Preis 30 Pf. 


. Erholungsheime für schulpflichtige Kinder der Grossstadt. Von Richard 


Schauer. 90 S. Preis 1M 60 Pf. 
Die Waldschule. Von Karl König, Kreisschulinspektor in Mülhausen i. Els. 
VID u. 124 S. Preis 2 M 20 Pf. 
Zur Analyse des kindlichen Geisteslebens beim Sehuleintritte. Von 
A. Vincenz. 66 S. (Mit 14 Tafeln.) Preis 2 M 40 Pf. 

gericht in Pinas i. Vgtl. Von F. Schmidt, Amtsrichter, und 
J. Delitsch, Schuldirektor. 45 8. Preis 75 Pf. 


i bie Beurteilung Jageodiiher Schwachsinniger vor Gericht. Von Prof. 


Ziemke-Kiel. 20 8 Preis 35 Pf. 


f iihi epen Jugendkunde und Universität. Von Dr. Karl Wilker. 


62 8. Preis 1 M. 
Singer. 
Preis 40 Pf. 


. Kinderprügel und Masochismus. Von Dr. Michael Cohn, Kinderarzt in 


Berlin. 20 8. Preis 30 Pf. 
Über den Einfluss des Antikenotoxin auf die Hauptkomponenten der 
Arbeitskarve. Von Marx Lobsien, Kiel. 28 S. Preis 45 Pf. 


. Weises Betrachtung über geistesschwache Kinder. Von Max Kirmsse, 


Lehrer a. d. Erzichungsanstalt Idstein i. T. Mit 2 Abb. 97 S. Preis 1 M 50 Pf. 


. Beobachtungen über die typischen Einwirkungen des Alkoholismus auf 


nsere Sehüler. Von Richard Schauer. 27 S. Preis 45 Pf. 
ber die Formen der krankhaften moralischen Abartung. Von Dr. G. 
Anton, Geh. Med.-Rat u. Prof. a. d. Univ. Halle 18 S. Preis 30 Pf. 


. Biogenetik und Arbeitssehule. Von Prof. Dr. Ad. Ferrière. 728. Pr. 1M 60Pf. 
. Soziale Fürsorge für die aus der Hilfsschule Entlassenen. Von Johannes 


Delitsch. 20 8. Preis 35 Pf. 


. Ziehen und die Metaphysik. Von O. Flügel. 19 S. Preis 35 Pf. 
S Ple Psychopathologie der Pubertätszeit. Von Oberarzt Dr. Mönkemöller. 
98. 


Preis 50 Pf. 


. Ist die Entmündigung psyehopathisch Feuer ratsam, und wann 


r. F. Schmid in Jena. 


soll sie eingeleitet werden? Von Amtsgerichtsrat 
18 S Preis 35 Pf. 


j Über Lernweisen und Lernzeiten bei sehwachsinnigen und sehwer- 


schwachsinnigen Kindern. Von Kurt Lehm, Dresden. Mit 4 Abbildungen. 
36 Seiten. Preis 70 Pf. 


. Stoffsammlung zum Sprechunterricht auf der Vor- bezw. Unterstufe der 


Hilfsschule. Von Kurt Lehm, Dresden. (U. d. Pr.) 
Die experimentelle Ermüdungsforschung. Von M. Lobsien, Kiel. (U. d. Pr.) 


. Die experimentelle Gedächtnisforschung. Von Dr. N. Braunshausen, 


Professor am Gymnasium in Luxemberg. (U. d. Pr.) 


. Psychische Fehlleistungen. Von R. Egenberger, München. (Mit 12 Tafeln.) 


50 Seiten. Preis 1 M 20 Pf. 


. Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. Von Franz 


Weigl, München-Harlaching. (U. d. Pr.) 


. Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung bezüglich der sogenannten 


113. 


RAS haenen Konstitutionen. Von Prof. Dr. TA. Ziehen. (U. d. Pr.) 
as Problem der Schulorganisation auf Grund der Begabung der Kinder. 
Von Dr. Willy Heinecker. (U. d. Pr.) 








Zu beziehen durch jede Buchhandlung. 





Bere 
EREEREER 


AE E A E E E 





A. Abhandlungen. 


1. Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung bezüglich 
der sogenannten psychopathischen Konstitutionen. 
Von 


Prof. Th. Ziehen, Wiesbaden. 


Die Ärzte und insbesondere die Nerven- und Irrenärzte haben 
an der Fürsorgeerziehung Minderjähriger, wie sie durch das Gesetz 
vom 2. Juli 1900 für Preußen neu begründet worden ist, ein hervor- 
ragendes Interesse, weil nachweislich viele der Individuen, welche 
unter dies Gesetz fallen, krankhaft veranlagt oder krankhaft verändert 
sind und für diese Individuen die Fürsorgeerziehung geradezu auch 
als therapeutische Maßregel betrachtet werden muß. Dem Arzt muß 
daher auch bei der weiteren Ausgestaltung der Fürsorgeerziehung 
eine gewichtige beratende Stimme zukommen. Diese gerade jetzt zu 
erheben liegt aller Grund vor, da sich die Mängel, welche der Für- 
sorgeerziehung in ihrer jetzigen Gestalt sowohl in der gesetzlichen 
Regelung wie in der praktischen Ausführung anhaften, nachgerade so 
fühlbar gemacht haben, daß eine Umgestaltung nicht länger auf- 
geschoben werden kann. 

Vor allem haben die Erfahrungen des letzten Jahrzehnts uns eine 
Kategorie pathologischer minderjähriger Individuen genauer kennen 
gelehrt, für welche sich die Fürsorgeerziehung in ihrer jetzigen Form 
als besonders unzureichend erwiesen hat. Es sind das die sogenannten 
psyehopathischen Konstitutionen. Im folgenden soll daher das 
Wesen und die Bedeutung dieser psychopathischen Konstitutionen 

Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 29 


443 A. Abhandlungen. 





kurz erörtert!) und dann ausführlich ihre Beziehung zur Fürsorge- 
erziehung im Hinblick auf eine Reform derselben besprochen werden. 


1. Wesen der psychopathischen Konstitutionen. 


Man versteht unter psychopathischen Konstitutionen (psycho- 
pathischen Minderwertigkeiten, wie man sie früher auch oft unzweck- 
mäßig genannt hat) oder »Distitutionen« krankhafte, teils angeborene, 
teils erworbene Zustände auf geistigem Gebiet, welche durch folgende 
Merkmale sich von den ausgesprochenen, vollentwickelten Geistes- 
krankheiten (Psychosen) unterscheiden: 

a) den relativ leichten Grad der dauernden Störungen, 

b) den vorübergehenden Charakter der schweren Symptome, 

c) das Ausbleiben eines längeren Verlustes des Krankheits- 
bewußtseins. 

Der relativ leichte Grad der dauernden Störungen ist als ein rein 
quantitatives bezw. intensives Merkmal an sich natürlich nicht von 
erheblicher Bedeutung. Es soll vor allem damit auch ausgedrückt 
werden, daß die Symptome vielfach sich auf eine Tendenz zu dieser 
oder jener Krankheitserscheinung, auf eine pathologische Reaktions- 
weise gegenüber gewissen Einwirkungen beschränken. Es wird das 
erste Merkmal also besonders wichtig durch den Gegensatz zum zweiten 
Merkmal: auch schwere Symptome können bei den psychopathischen 
Konstitutionen auftreten, sind aber, wenn sie auftreten, vorüber- 
gehend. Hierher rechne ich namentlich Sinnestäuschungen, Wahn- 
vorstellungen und Angstanfälle. Der Psychopath hat gelegentlich 
die farbenprächtigsten, plastischsten Halluzinationen, aber eine solche 
Halluzination tritt nur vereinzelt und nur momentan auf. Ebenso 
verhält es sich mit den Wahnvorstellungen. Das psychopathische 
Kind hat zuweilen ein dauerndes krankhaftes Mißtrauen, aber nur 
ausnahmsweise steigert sich letzteres zu einer ausgeprägten Ver- 
folgungsidee, und wenn eine solche hier und da auftritt, so ver- 
schwindet sie durchweg schon nach kürzester Zeit. 

Hiermit hängt auch das dritte Merkmal eng zusammen. Das 
Krankheitsbewußtsein geht dem Psychopathen auch bei den eben er- 
wähnten schweren Symptomen nur vorübergehend verloren. Er glaubt 


1) Eine ausführliche wissenschaftliche Darstellung derselben habe ich in den 
Charite-Annalen Bd. 29—36 gegeben, eine kurze populäre in der Schrift: Die Er- 
kennung der psychopathischen Konstitutionen und die öffentliche Fürsorge f. psycho- 
pathisch veranlagte Kinder. Berlin 1912. Vor allem verweise ich aber auf die 
Darstellung in meiner Psychiatrie. 4. Aufl. Leipzig 1911, S. 687 ff. u. 572 ff. 


Ziehen: Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung. 443 


zwar zuweilen im Augenblick der Halluzination an ihre Realität, 
aber mit ihrem Verschwinden erkennt er fast stets sofort ihre Irrealität. 
Ebenso wird er vòn einer Wahnvorstellung nicht selten momentan 
beherrscht, so daß er an ihrer Richtigkeit nicht zweifelt und in ihrem 
Sinn handelt, aber schon nach kurzer Zeit kehrt die Einsicht und 
das Krankheitsbewußtsein mehr oder weniger klar zurück. 

Zu den genannten Hauptmerkmalen, die allerdings, wie sich als- 
bald ergeben wird, noch einer Ergänzung bedürfen, kommen noch 
einige weitere Merkmale, die zwar nicht allen psychopathischen Kon- 
stitutionen zukommen und allerdings auch bei vielen vollentwickelten 
Psychosen vorhanden sind, aber doch wegen ihrer außerordentlichen 
Häufigkeit bei den psychopathischen Konstitutionen für die praktische 
Erkennung große Bedeutung haben. Es sind dies: 

d) die sehr ausgebreitete Beteiligung aller oder fast aller 
psychischer Prozesse, 

e) die Häufigkeit neuropathischer Begleitsymptome und 

f) der überwiegend chronische Charakter der meisten psycho- 
pathischen Konstitutionen. 

Was die Ausbreitung der Symptome über das gesamte psychische 
Leben betrifft, so ist in der Tat die psychopathische Konstitution eine 
Gesamtveränderung der Persönlichkeit, der psychischen »Konstitution«: 
es handelt sich, wie man oft auch sagt, um »psychopathische Persön- 
lichkeiten«.. Man darf nur nicht außer acht lassen, daß manche 
psychopathische Konstitutionen bestimmte seelische Gebiete ganz vor- 
zugsweise befallen. Man kann z. B. in manchen Fällen mit gutem 
Recht von einer »affektiven«, in anderen von einer »paranoiden« 
psychopathischen Konstitution sprechen, weil in einem Falle die 
Symptome vorzugsweise auf dem Gebiete der Affekte, im anderen 
vorzugsweise auf dem Gebiete der Wahnbildung liegen. Immerhin 
handelt es sich auch in solchen Fällen nur um ein Überwiegen, 
nicht um eine ausschließliche Beschränkung auf ein psychisches 
Gebiet. 

Die Häufigkeit neuropathischer Begleitsymptome äußert sich darin, 
daß die psychopathische Konstitution sehr oft mit neurasthenischen, 
hysterischen und anderen körperlichen Symptomen verknüpft ist. Auch 
die Vergesellschaftung mit dem sogenannten Tic impulsif, d. h. krampf- 
haften, sehr entfernt an Veitstanz erinnernden, nicht in Anfällen auf- 
tretenden Zuckungen vor allem in den Gesichtsmuskeln, bei der 
hereditären psychopathischen Konstitution gehört hierher. ferner die 
gelegentlichen vereinzelten epileptischen (sogenannten ek- und epi- 

29* 


444 A. Abhandlungen. 








lamptischen) Anfälle!) bei Reflexreizen, schweren Affekten, Alkohol- 
genuß usf. 

Der überwiegend chronische Charakter bedarf einer be- 
sonderen Erläuterung. Die meisten psychopathischen Konstitutionen 
sind, wie dies bis zu einem gewissen Grade schon im Wort »Kon- 
stitution«e liegt, länger dauernde Zustände. Zu einem großen Teil 
sind sie sogar in der ersten Anlage des Individuums begründet und 
sonach als sendogen« zu bezeichnen, womit selbstverständlich nicht 
ausgeschlossen ist, daß sie, wenn auch angeboren, doch erst in der 
späteren Kindheit oder auch erst in der Pubertät klar hervortreten. 
Zu einem kleineren Teil sind sie »exogen« und erworben, wie z. B. 
die traumatischen und, die toxischen psychopathischen Konstitutionen. 
Dabei ist jedoch zu beachten, daß unverhältnismäßig oft auch die 
traumatische und die alkoholistische psychopathische Konstitution sich 
‚auf dem Boden einer endogenen Prädisposition entwickelt. Das Trauma 
und der Alkoholismus rufen mit anderen Worten oft nur deshalb eine 
psychopathische Konstitution hervor bezw. bedingen eine schwerere 
psychopathische Konstitution, weil sie auf ein prädisponiertes Gehirn 
einwirken. Für den Alkoholismus gestaltet sich der ätiologische 
Konnex noch insofern komplizierter, als auch der Alkoholismus selbst 
sehr oft durch eine endogene psychopathische Konstitution bedingt 
oder wenigstens gefördert ist. Der Hereditarier unterliegt bei seiner 
Impulsivität der Verführung leichter und gerät auch leichter unter 
die dauernde Herrschaft eines bestimmten Genußhungers als der 
Unbelastete, zumal er auch gegenüber Abstinenzsymptomen (im 
weitesten Sinne) viel widerstandsloser ist. 

Alle angeführten Merkmale genügen noch nicht, um begrifflich 
und praktisch die psychopathischen Konstitutionen allseitig sicher ab- 
zugrenzen. Sie müssen noch unterschieden werden von den leichtesten 
Formen des angeborenen und auch des erworbenen Schwach- 
sinns. Da für die Fürsorgeerziehungsfrage fast nur der erstere, die 
sogenannte Debilität?), in Betracht kommt, soll von dem leichten er- 
worbenen Schwachsinn hier ganz abgesehen werden. Diese Debilität 
nun stimmt in den oben angeführten Merkmalen durchweg mit den 
psychopathischen Konstitutionen überein. Sie unterscheidet sich aber 
von ihnen durch den sogenannten Intelligenzdefekt, d. h. die 
1) Diese vereinzelten epileptischen Anfälle bei psychopathischen Konstitutionen 
dürfen natürlich nicht mit der epileptischen psychopathischen Konstitution, wie sie 
sich oft auf dem Boden einer echten Epilepsie entwickelt, verwechselt werden. 

?) Die schweren Formen des angeborenen Schwachsinns werden als Imbezillität 
und Idiotie bezeichnet. 





Ziehen: Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung. 445 





Schwäche des Gedächtnisses, der Begriffsbildung und des 
Urteils. Bei der psychopathischen Konstitution ist das Gedächtnis 
nicht defekt. Die Erinnerungen des Psychopathen werden wohl durch 
seine Phantasie umgestaltet, so daß allerhand Erinnerungstäuschungen, 
Phantasielügen (Pseudologia phantastica) usf. zustande kommen, aber 
als solche sind sie nicht defekt. Ein quantitatives Minus liegt nicht 
vor, sondern durch ein Plus der Phantasietätigkeit kommt es zu 
qualitativen Veränderungen, Ausschmückungen und Entstellungen. 
Ebenso ist die Begriffsbildung und die Urteilsfähigkeit des Psycho- 
pathen nicht defekt. Er gelangt wohl gelegentlich zu inhaltlich falschen 
Wahn- und Zwangsvorstellungen, aber außerhalb dieser speziellen Wahn- 
und Zwangsvorstellungen sind seine Begriffe und Urteile logisch in- 
takt, während sie bei dem Debilen allenthalben leicht defekt sind. 

Auch im Gefühlsleben läßt sich dieser Gegensatz verfolgen. 
Gerade dieses ist bei dem Psychopathen oft besonders schwer gestört. 
Es handelt sich aber bei ihm nicht um einen Defekt der Gefühle. 
Allerdings begeht der Psychopath oft genug Strafhandlungen, welche 
ethische Gefühle — Ehrgefühl, Dankbarkeit, Pflichtgefühl usf. — ver- 
missen lassen. Tatsächlich fehlen diese jedoch nicht im Sinne eines 
krankhaften ursprünglichen Defekts, sondern sie haben nur entweder 
durch Verwahrlosung allmählich ihren Einfluß verloren, oder sie 
werden durch übermächtige, abnorm starke pathologische Gefühle und 
Affekte, zuweilen auch durch bestimmte Störungen des Denkens außer 
Wirkung gesetzt. Anders bei dem Debilen. Die Handlungen des- 
selben können, äußerlich betrachtet, denjenigen des Psychopathen 
vollkommen gleichen, also z. B. ebenfalls pflichtwidrig, ehrlos, ver- 
brecherisch usf. ausfallen (so z. B. bei der fälschlich als »moralisches 
Irresein« bezeichneten Varietät), aber hier handelt es sich um einen 
ursprünglichen krankhaften ethischen Defekt. Man kann verfolgen, 
daß schon in früher Kindheit — auch unabhängig von jeder Verwahr- 
losung — die ethischen Begriffe und ihre begleitenden Gefühle defekt 
waren. Das Gehirn des Debilen ist nicht fähig, den Begriff der Pflicht 
mit dem ihn begleitenden Gefühlston des Pflichtgefühls zu bilden, 
und deshalb gelangt der Debile zu unmoralischem Handeln. Es bedarf 
keiner Verwahrlosung oder Verführung, es bedarf vor allem keiner 
übermächtigen pathologischen Gefühle und Affekte usf, um ihn zu 
strafbaren Handlungen zu treiben. Alle diese Momente kommen nur 
oft genug fördernd und begünstigend hinzu. Das Wesentliche ist 
und bleibt der Defekt. 

Ich will diese wichtige Differenz noch an einem Spezialfall aus- 
einandersetzen. Ein 14jähriger Junge, der schwer erblich belastet ist 


446 A. Abhandlungen. 





und schon oft impulsive, d. h. ungenügend motivierte plötzliche Hand- 
lungen begangen hat, der außerdem an dem oben erwähnten Tic 
leidet, nachts im Schlaf spricht, ab und zu Jähzorns- und Angst- 
anfälle hat, in der Schule ganz gut mitkommt, sieht im Ladenfenster 
ein Schmuckstück liegen. Dabei steigt ihm der Gedanke plötzlich 
auf: das nimmst du und gehst ins Theater. Keine Gegenvorstellung 
tritt dazwischen. Er stiehlt das Schmuckstück, versilbert es, schenkt 
einem armen Knaben, dem er begegnet, etwas und geht selbst 
ins Theater. Am folgenden Tag hat er Reue und gesteht den Dieb- 
stahl. Die Verführungen wiederholen sich. Er unterliegt ihnen öfter 
und öfter. Schließlich begeht er auch wohl überlegte Diebstähle. Die 
nachträgliche Reue bleibt nun aus. Den Erlös der Diebstähle verwendet 
er nur zu seinem Vergnügen. In diesem Beispiel, das ich in dieser oder 
jener Variante zahllose Male erlebt habe, handelt es sich sicher um 
eine psychopathische Konstitution und nicht um eine Debilität. Die 
unmoralischen Handlungen beruhen nicht auf einem krankhaften 
ethischen Defekt, sondern auf pathologischer Affekterregbarkeit und 
Impulsivität. Erst nachträglich kommt es zu einer ethischen Ver- 
kümmerung, welche einen krankhaften ethischen Defekt vortäuscht. 
Demgegenüber sieht der schwachsinnige Knabe einen glänzenden 
Gegenstand liegen. Oft ist er über seinen Wert gar nicht einmal 
orientiert. Das Gefühl des Unrechtes fehlt ihm während und nach 
der Handlung. Vorhaltungen und Strafen bleiben wirkungslos, weil 
er für die Strafbarkeit kein oder kein genügendes Verständnis hat. 
In der Schule kommt er nicht mit. Seine weitere Laufbahn kann 
mit derjenigen eines Psychopathen völlig übereinstimmen. Auch er 
kann von Strafhandlung zu Strafhandlung gelangen. Und doch ist 
die Entstehung und die pathologische Grundlage ganz verschieden. 
Hier Debilität, dort psychopathische Konstitution. 

Diese Unterscheidung ist auch durchaus nicht etwa nur von 
theoretischer Bedeutung, sondern Prognose und Therapie sind, wie 
sich noch ergeben wird, in beiden Fällen total verschieden. 

Um diese Unterscheidung kurz zu charakterisieren, müssen wir 
also zu den oben genannten Hauptmerkmalen der psychopathischen 
Konstitutionen noch die Abwesenheit eines Intelligenzdefekts 
als wesentlich hinzufügen. 

Dabei ist allerdings die Tatsache anzuerkennen, daß zuweilen sich 
die psychopathische Konstitution mit der Debilität kombiniert. Unter 
201 Fällen psychopathischer Konstitution, die ich beispielsweise im 
Jahre 1910 beobachtet habe, zeigten 27 diese Kombination. Die Tat- 
sache des Vorkommens solcher Kombinationen ist aber doch wirklich 


Ziehen: Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung. 447 





kein Grund, die übrigen 174 Psychopathen mit den Debilen in eine 
Gruppe zusammenzuwerfen. Dann müßten wir überhaupt auf jede 
Unterscheidung und Klassifikation von Krankheitsformen verzichten.!) 
Wir werden also die Existenz solcher Kombinationen anerkennen, 
aber doch unsere Unterscheidung festhalten. 

Ich muß an dieser Stelle darauf verzichten, die Symptome der 
psychopathischen Konstitutionen, ihre Entwicklung und ihren Verlauf 
ausführlich auseinanderzusetzen und ihre Einteilung zu besprechen. 
Nur bezüglich ihrer Ätiologie sei im Hinblick auf die späteren 
praktischen Erwägungen hervorgehoben, daß folgende Ursachen am 
häufigsten sind: 

a) schwere erbliche Belastung (sogenannte degenerative Be- 
lastung), 

b) chronische Giftwirkungen, z. B. Alkoholismus, 

c) Hirnerschütterungen (sogenannte traumatische Fälle), 

d) schwere akute Infektionskrankheiten (namentlich in der 
Kindheit), 

e) schwere Erschöpfung. 

Für die Frage der Fürsorgeerziehung spielen die sub a genannten 
Fälle praktisch die größte Rolle, in zweiter Linie auch die sub c 
und d genannten Fälle, soweit die in Frage kommende Hirnerschütterung 
bezw. Infektionskrankheit sich in jugendlichem Alter abgespielt hat. 


2. Praktische Bedeutung der psychopathischen Konstitutionen. 


Die praktische Bedeutung ‚der psychopathischen Konstitutionen 
ergibt sich einerseits aus ihrer allgemeinen Häufigkeit sowie im 
speziellen ihrer Häufigkeit unter den für die Fürsorgeerziehung in 
Betracht kommenden Individuen und andrerseits aus dem Einfluß 
dieser Fälle auf die sozialen Verhältnisse im weitesten Sinne. 

Über die Häufigkeit der psychopathischen Konstitutionen sei hier 
nur bemerkt, daß speziell von den jetzigen Fürsorgezöglingen sicher 
wenigstens 60—70°/, als pathologisch zu betrachten sind. Die 
Statistiken von Tippel?) Mönkemöller?) u. a. lassen darüber keinerlei 


1) Der Gedanke an solche Kombinationen hat geradezu eine naive Logik - scheu 
bei manchen Neurologen und Psychiatern großgezogen und vielfach zu einer mystischen 
Zerfließlichkeit aller Begriffe und Einteilungen geführt. 

2) Allg. Ztschr. f. Psychiatrie. 1905. Bd. 62. S. 586. 

3) Sammlung Schiller-Ziehen. Bd. 6. 1903. S. 44 ff. Die Statistik des Ministeriums 
des Innern, die z. B. für 1904 nur bei 9,3°/, der neu überwiesenen Fürsorge- 
zöglinge pathologische Zustände (»geistig nicht gesund«) vermerkt, ist sicher ganz 
unrichtig. Die Personen, denen die bez. Feststellungen anvertraut waren, hatten offen- 


448 A. Abhandlungen. 


Zweifel. Der Prozentsatz der Pathologischen unter denjenigen Minder- 
jährigen, welche nach der Intention des Gesetzes in die Fürsorge- 
erziehung kommen sollten, ist sicher noch größer, da bei den jetzigen 
Bestimmungen und der jetzigen Handhabung gerade die psychopathischen 
und debilen Individuen der Fürsorgeerziehung oft entzogen werden.!) 
Es ist ferner mit Bestimmtheit nach den sonstigen Erfahrungen, 
z. B. auch nach der Statistik meiner Poliklinik, anzunehmen, daß die 
Zahl der Debilen wesentlich kleiner ist als diejenige der Psycho- 
pathen. Da nun ausgeprägte Psychosen nur mit einem äußerst 
kleinen Prozentsatz (3,7 %/,, Tippel) in Betracht kommen, so ergeben 
sich für die psychopathischen Konstitutionen wenigstens 30—40 °/,. 
Mit anderen Worten ein Drittel der Fürsorgezöglinge leidet an dieser 
oder jener psychopathischen Konstitution. 

Dieser Prozentsatz bekommt nun, so hoch er schon an sich ist, 
außerdem noch eine über die absolute Zahl weit hinausgehende Be- 
deutung dadurch, daß diese jugendlichen psychopathischen Individuen 
unsere allgemeinen sozialen Verhältnisse im allerhöchsten Maße be- 
einflussen. Wie ich an anderer Stelle ausführlich erörtert habe, ver- 
fallen sie größtenteils späterhin infolge ungenügender Fürsorge der 
Landstreicherei, dem Verbrechen, der Prostitution, der Trunksucht, 
dem Armenhaus oder der Irrenanstalt, sehr oft verbinden sich auch 
diese Endergebnisse oder lösen sich in mannigfachster Weise ab. 
Jedenfalls ergibt sich also aus der großen Zahl der psychopathischen 
Konstitutionen, ganz abgesehen von dem persönlichen Schicksal dieser 
Individuen selbst, eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, 
der allgemeinen Sittlichkeit, und eine enorme Belastung der Steuer- 
zahler, die für Gefängnisse, Armenhäuser, Irrenanstalten usf. in zu- 
nehmender Zahl die Mittel beschaffen müssen. (Forts. folgt.) 


bar weder ausreichendes Verständnis noch ausreichende Vorbildung, um die in Frage 
kommenden Krankheitszustände zu erkennen. Eine Statistik unterbleibt unter solchen 
Umständen besser ganz. 

1) Die Angaben von Böttcher auf dem Allg. Fürsorgeerziehungstag in Dresden 
im Jahre 1912, daß bei 75 °/, der Zöglinge seines Bereichs aktenkundig die Ursache 
der Verwahrlosung bei den Eltern liege, ist sehr mißverständlich., Sie faßt in 
unzweckmäßiger Weise diejenigen Fälle, in welchen die Eltern eine sittliche Ver- 
wahrlosung durch ihre Erziehung verschulden, mit denjenigen zusammen, in welchen 
durch erbliche Übertragung seitens der Eltern Debilität oder psychopathische 
Konstitution bei den Nachkommen aufgetreten ist und zur Fürsorgebedürftigkeit 
bezw. Verwahrlosung geführt hat. 


Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 449 





2. Die experimentelle Ermüdungsforschung. 
Von 
Marx Lobsien, Kiel. 
(Fortsetzung.) 


2. Ermüdung und Erschöpfung. 

Vorher ist in Kürze noch eine Grenzregulierung notwendig, näm- 
lich diejenige zwischen Ermüdung und Erschöpfung. Unsere Aufgabe 
interessiert nur die letztere. Erschöpfung ist nicht mit Überbürdung 
zu verwechseln. Erschöpfung ist ein psychophysischer Tatbestand, 
während »Überbürdung« auf eine praktische Schlußfolgerung deutet, 
die man aus dem Vorhandensein eines gewissen Ermüdungsgrades mit 
Recht oder Unrecht herleitet. Die Erschöpfung möge durch Über- 
müdung genauer gekennzeichnet werden. Sie stellt sich also dar als 
eine gesteigerte Ermüdung. Woran ist sie zu erkennen? Ich gebe 
die Antwort nach Altschul, der folgendes ausführt: Dr. Steinhaus 
hat die allmähliche Ermüdung der Großhirnrinde bei geistiger Arbeit 
sehr treffend charakterisiert. Es steht fest, daß die Großhirnrinde in 
ihrer funktionellen Tätigkeit allmählich und in sich steigerndem Maße 
leidet, wenn besondere Anforderungen an ihre physiologische Arbeits- 
fähigkeit und dazu noch während eines längeren Zeitabschnittes ge- 
stellt werden. Beim Kinde, dessen Großhirnrinde noch in der Ent- 
wicklung begriffen ist, das von allen Dingen immer neue Vorstellungen 
in sich aufnehmen ... und festhalten soll, während seine Assoziationen 
nicht vollkommen sind, wird diese Ermüdung ganz besonders zutage 
treten. Sie wird sich darin zeigen, daß das Kind in seiner Aufmerk- 
samkeit nachläßt ... es folgt dem Unterricht nicht mehr, ist teil- 
nahmslos, entweder zerstreut oder apathisch. Die geistige Ermüdung 
zeigt sich daher entweder in Zerstreutheit, die von einer großen Reiz- 
barkeit begleitet ist, oder aber in starker Hemmung. Dazu gesellt 
sich dann noch die physische Ermüdung, die natürlich ihrerseits die 
Tätigkeit der Hirnrinde ungünstig beeinflußt. — Dr. v. Wayenburg 
sagt: Die geistige Erschöpfung des Kindes macht sich geltend durch 
Unlust zur Arbeit, trägen Gang, Negativismus, Weinen, Lügen, Nasen- 
bluten, Ohrensausen usw. Es macht Fehler, die es früher nicht 
machte, spricht wiederholt falsch, vergißt Wörter usw. — Prof. Dr. 
R. v. Czerny führt aus: Aus meiner eigenen Erfahrung kenne ich 
keinen einzigen Fall, in welchem sich eine Schädigung eines ge- 
sunden Kindes durch Überarbeitung in der Schule sicher stellen ließe. 
Alle Kinder, welche angeblich einen solchen Schaden erlitten haben, 
gehören in die Gruppe der psycho- und neuropathischen Kinder, an 


450 A. Abhandlungen. 





denen nachgewiesen werden kann, daß schon vor dem Schulbesuche 
Krankheitserscheinungen von seiten des Nervensystems bestanden 
haben, und deren abnorme Veranlagung durch unzweckmäßige Er- 
ziehung noch ungünstig beeinflußt worden ist. Und endlich äußert 
sich Wagner: Vergleicht man mit diesen Zeichen der Neurasthenie 
die Symptome der geistigen Überbürdung, so ergibt sich eine weit- 
gehende Übereinstimmung. Hiernach stellt der Zustand geistiger Über- 
bürdung zweifellos eine besondere (zerebrale) Form der Neurasthenie 
dar. — Die genannten Autoren sind mithin übereinstimmend der 
Meinung, daß Übermüdung lediglich eine abnorme Erscheinung sei, 
die bei gesunden Schülern nicht vorkomme. Ihre Beobachtungen 
stützen sich auf ihre Erfahrung, theoretisch wohl auch auf die lange 
Zeit geltende Meinung, daß die Nerven ganz unermüdbar seien. 

Die körperliche Übermüdung führt bei hinlänglicher, nicht unter- 
brochener Steigerung endlich den Tod herbei. Weichardt beschreibt 
die Symptome der Übermüdung folgendermaßen: Der Ermüdungstod 
ähnelt einer langsam wirkenden Narkose. Zwingt man Tiere, ihre Ge- 
samtmuskulatur unausgesetzt maximal zu bewegen, so tritt schon nach 
relativ kurzer Zeit bei dem Tiere ein Zustand hochgradigen Sopors 
ein unter anfänglich geringer Erhöhung, später aber bedeutender Er- 
niedrigung der Körpertemperatur und Verlangsamung der Atmung. 
Werden dann, wenn das Tier sich in diesem Sopor — gleichsam 
narkotisiert — nicht mehr sträubt, noch immer Muskelzuckungen bei 
ihm angeregt, was leicht mit Hilfe von Periostreizen oder mittels 
schwacher faradischer Ströme gelingt, so verlangsamt sich die Atmung 
allmählich bis zum vollkommenen Atemstillstand. Das Tier verendet 
ohne jedwede Schmerzensäußerung, ohne Krampf, ganz ähnlich, wie 
wenn es mit narkotischen Mitteln mehr und mehr schwer betäubt 
worden wäre. ... Wird die Ermüdung auch nur auf kurze Zeit 
unterbrochen, so erholen sich die Tiere überraschend schnell. 

Gemeinsames Kennzeichen der geistigen und physischen Über- 
müdung ist, auf den augenblicklichen Erfolg gesehen, die Reduzierung 
der Leistungen nach Quantität und Qualität auf Null oder doch auf 
ein solches Minimum, daß praktisch und tatsächlich von Leistungen 
nicht wohl geredet werden kann; rücksichtlich des dauernden Erfolges 
muß auf eine vorübergehende oder dauernde gesundheitliche Schädigung 
des Gesamtorganismus hingewiesen werden. Allgemein wird man die , 
Erschöpfung als den Grad der Ermüdung bezeichnen können, bei dem 
die eben genannten Wirkungen vorübergehend oder bleibend sich ein- 
stellen. Der Unterschied zwischen beiden ist auf den Leistungs- 
erfolg gesehen nur quantitativer Art, auf die psychophysischen 


Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 451 





Wirkungen geachtet, durch stark qualitative Veränderungen gekenn- 
zeichnet, die ganz allgemein als Vergiftungssymptome aufgefaßt 
werden. Die Grenze zwischen der Ermüdung und der Erschöpfung 
ist allerdings unmöglich, genau zu regulieren; es kommt erschwerend 
hinzu, daß sie individuell durchaus verschieden gezogen werden muß, 
des weiteren, daß die subjektive Gefühlslage kein unbestechlicher 
Richter ist, noch weniger aber der Experimentator. 

Diese Schwierigkeit läßt die verschiedene Wertung der Forscher 
gegenüber der Grenzregulierung verständlich erscheinen. Manche 
sind geneigt, nahezu jede Ermüdung als Erschöpfung und der Ge- 
sundheit nachteilig aufzufassen, wenigstens sofern man der Schule 
daran die Schuld glaubte in die Schuhe schieben zu dürfen, während 
andere, das erziehliche Moment ins Auge fassend und direkt schädigende 
Wirkungen natürlich abweisend, Arbeit unter tüchtiger und ener- 
gischer Anspannung der Kräfte bis zur Ermüdung keineswegs für 
einen Nachteil, sondern im Interesse einer Erziehung des Willens und 
einer Vorbereitung auf die künftigen Anforderungen des Lebens für 
durchaus heilsam halten — um so mehr als sich die etwa sich ein- 
stellenden vorübergehenden kleinen Schädigungen nach Ausweis viel- 
fältiger Erfahrung sehr schnell wieder ausgleichen, ja sich heilsam 
für die Gesundheit erweisen können. 

Nun wird man sich ja schwerlich mit einer so weitabliegenden 
Grenzfestsetzung begnügen können wie zwischen Ermüdung und Er- 
schöpfung, sondern man wird schon dann von einer Übermüdung 
reden, wenn die Leistungsfühigkeit um ein gewisses Maß unter die 
Norm heruntergeht. Man wird in der Praxis schon dann Ruhepausen 
einschieben, wenn Umfang und Wert der Leistungen im ökonomischen 
Arbeitsinteresse eine größere Abnahme offenbaren. Dieses Interesse 
an einer ökonomischen Arbeitsgestaltung wird schon lange vor dem 
Zeitpunkte eingreifen, wo etwa die Erschöpfung beginnen würde, sich 
geltend zu machen. Allerdings müßte solches Interesse lebendig wirk- 
sam und die Wahrheit durchgedrungen sein, daß ein Übermaß an 
Forderungen unökonomisch, im Interesse wertvoller Leistungen ver- 
schwenderisch ist. Diese objektive Grenzbestimmung ist auf Grund 
der Erfahrung möglich, die allgemeinen Grundlinien derselben sind 
nur mit Hilfe des Experiments zu gewinnen. Um meine Meinung 
zu illustrieren, möchte ich auf zwei Arbeiten näher eingehen, von 
denen die eine die unmittelbare, die zweite die experimentelle Er- 
fahrung mehr in den Vordergrund drängt. 

Prof. Netschajeff in Petersburg untersuchte die Beziehungen 
zwischen den Schwankungen in der Dauer der täglichen Arbeitszeit 


452 A. Abhandlungen. 





(Intensität der Arbeit) und der Schlaf- und Bewegungsdauer, so- 
wie das Verhältnis der Leistungen bestimmter Arbeitstage zu einer 
ganzen Arbeitsperiode. — Die normale Tagesarbeit rechnete er so- 
lange, bis sich seiner Selbstbeobachtung ein »Gefühl der Übersättigung« 
offenbarte. Über die Tagesarbeit machte er sich täglich Notizen. Er 
regulierte 100 gewöhnliche Werktage nach der Dauer der Bewegung 
in frischer Luft und nach der geistigen Arbeit. Die letztere sonderte 
er in schwere und leichte, und rechnete zu der schweren die wissen- 
schaftliche und zu der leichten belletristische Lektüre. Die durch- 
schnittliche Dauer geistiger Arbeit, die ihm die günstigste war, be- 
stimmte Netschajeff auf 61/, Stunden. Innerhalb der Arbeitswoche 
waren der Mittwoch und der Donnerstag die wertvollsten, der Montag 
und der Freitag die am wenigsten ergiebigen Arbeitstage. Diese 
Periodizität in der Wochenleistung wiederholte sich für Netjascheff 
wieder innerhalb der ganzen Arbeitsperiode von 100 Tagen mit un- 
mißverständlicher Deutlichkeit. 

Daneben beobachtete er das Verhältnis der Arbeits-, Schlaf- und 
Bewegungszeiten zueinander während vier Perioden von je 3 Wochen 
Dauer. Er grenzte die Arbeitsperioden wiederum ab nach dem Ein- 
tritt des vorhin charakterisierten Gefühls und konnte auf Grund seiner 
Erfahrungen folgende Übersicht entwerfen, die deutlich ein bestimmtes 
(hier natürlich lediglich individuelles) Verhältnis aller Komponenten 
aufzeigt: 


Pende gosat: ‚geisöge mian Eche Schlaf Bewegung 
1. 43 Std. 25 Std. 56 Std. 14 Std. 
2. 41 „ 29 5 58 „ 13: ; 
3. 41 „ 26 „ 54 y 10 , 
4. 4l „ 28 „ 56 „ I: a 


Allerdings sind diese Zahlen täglichen Aufzeichnungen entnommen, 
die jeweils starkes Schwanken zeigten; trotzdem war Netschajeff 
imstande, für seine Persönlichkeit folgende Verhältnisse als diejenigen 
herauszustellen, die am meisten ökonomisch und am natürlichsten und 
angemessensten waren: Die wöchentliche günstigste Arbeitszeit, die 
mit schwerer und leichter geistiger Betätigung ausgefüllt ward, be- 
trug 37'/, Stunde, die Schlafdauer 58 und die Dauer der freien 
Bewegungen 10 Stunden. 

Selbstverständlich wird man Bedenken hegen können, ob die Ab- 
grenzung durch ein komplexes Gefühl, wie das der Übersättigung, 
ohne Rücksichtnahme auf den objektiven Wert der Leistungen hin- 
reichend einwandfrei gestaltet werden könne, zumal dort, wo die 


Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 453 





Selbstbeobachtung nicht durch den Fachpsychologen und nicht unter 
Direktion einer bestimmten wissenschaftlichen Absicht steht; man kann 
in besonderem Maße Befürchtungen äußern, ob die Netschajeffsche 
Methode auch auf Schüler Anwendung finden könne, zumal dann, 
wenn Arbeit verschiedener Art gefordert wird, Arbeiten mit wesent- 
lich verschiedenen Beliebtheits- und Schwierigkeitskoeffizienten — 
(diese Erwägungen stehen hier nicht zur Erörterung, ich wollte nur 
an einem Beispiel zeigen, wie man in der Lage ist, auf Grund wissen- 
schaftlich geschulter Selbstbeobachtung eine Grenzlinie zu ziehen 
zwischen Ermüdung und Überermüdung); — noch schärfer würde das 
gelingen, wenn nicht lediglich die Selbstbeobachtung, sondern auch 
der ökonomische Gesichtspunkt in einer objektiven Ausdeutung des 
Arbeitsumfangs und seiner Qualität gebührend berücksichtigt worden wäre. 

Als Beispiel einer Grenzregulierung auf experimenteller Grund- 
lage in Absicht auf die ökonomische Seite der Arbeit möchte ich hin- 
weisen auf die Arbeit Prof. Hjalmar Öhrwalls-Upsala: Über den 
Einfluß der Müdigkeit auf den Übungswert der Arbeit, im Skandi- 
navischen Archiv für Physiologie. Öhrwall suchte mit Hilfe der im 
vorigen Kapitel gekennzeichneten Blixschen Methode die Frage ex- 
perimentell zu entscheiden: Muß die Übung, wenn man das best- 
mögliche Resultat zu erhalten wünscht, bis zu dem Augenblick ver- 
folgt werden, da das Müdigkeitsgefühl sich einstellt, oder muß sie 
weiter fortgesetzt oder vorher abgebrochen werden? Öhrwall ordnete 
seine Versuchspersonen in drei Gruppen. Durch das Los ward der 
einen zugewiesen, die Übungen abzubrechen, sobald das Müdigkeits- 
gefühl sich bemerkbar machte; die zweite mußte die Arbeit noch ein- 
mal so weit über diesen Zeitpunkt hinaus fortsetzen, trat z. B. das 
Gefühl der Ermüdung nach sechzig aufeinanderfolgenden Einzel- 
versuchen zuerst ein, dann mußten noch sechzig weitere von den- 
selben Prüflingen dazu getan werden; eine dritte Prüflingsgruppe 
setzte die Übung nur etwa bis zur Hälfte oder Zweidrittel der 
Leistungen der ersten Gruppe fort, zeigte sich erfahrungsgemäß das 
Eintreffen des Müdigkeitsgefühls nach sechzig Übungen, dann machte 
man hernach nur dreißig oder vierzig Einzelversuche. — Das Haupt- 
ergebnis, das Öhrwall seinen umfänglichen, interessanten Unter- 
suchungen mit einem hohen Grade von Wahrscheinlichkeit entnimmt, 
formuliert er dahin, daß Müdigkeitsarbeit hinsichtlich ihres Übungs- 
wertes nicht nur minderwertig, sondern sogar schädlich sei. Wenn 
man die Übung fortsetzt, nachdem die Müdigkeit sich eingestellt hat, 
so setzt man sich der Gefahr aus, dadurch die Fertigkeit zu ver- 
mindern, die man bereits erlangt hat. Die Müdigkeitsarbeit ist un- 


454 A. Abhandlungen. 





ökonomisch auch mit Rücksicht auf ihren negativen Übungswert. — 
Eine andere Frage ist die, fährt Verfasser fort, ob Müdigkeitsarbeit 
für die Gesundheit schädlich sei; darüber sagt natürlich seine Unter- 
suchung nichts. Er gibt aber anheim, zu bedenken, daß Müdigkeit, 
gleich wie Hunger, als Warnungssignal beachtet werden möchte, das 
man zwar nicht zu fürchten brauche, auf das acht zu geben, man aber 
klug täte. Solche Warnungssignale gehören zu den instinktiven Ge- 
fühlen, vor denen man im allgemeinen mehr Respekt haben sollte als 
gewöhnlich der Fall ist. 

Auch Rievers bestätigte experimentell die landläufige Erfahrung, 
daß Ermüdungsarbeit geringen Übungswert hat. Er fand, daß von 
der für je eine halbe Stunde erwarteten Übungswirkung bis zum 
nächsten Tage mehr als doppelt so viel verloren ging, wenn vier 
halbe Stunden, als wenn nur eine halbe Stunde lang gearbeitet worden 
war, eine Herabsetzung des Übungsgewinns durch die Ermüdung, die 
nach Ansicht Kraepelins vollkommen genügen würde, um die 
größere Steilheit des Abfalls zu erklären, die längere Arbeitskurven 
gegen das Ende darzubieten pflegen. 

Die Beispiele offenbaren deutlich Beziehungen zwischen den Ab- 
grenzungen mit Hilfe des Müdigkeitsgefühls und gewissen objektiven 
Wertbestimmungen. Die letzteren beziehen sich hier zwar nur auf 
die Übungswirkungen, aber mit ähnlichem Erfolge kann man auch 
anderweite quantitative und qualitative Maxima der Leistung zum Er- 
müdungsgefühl in Beziehung setzen. Auf jeden Fall wird das Zu- 
sammentreffen der subjektiven und der objektiven Grenzlinien, wo 
sie respektiert werden, deutlich scheiden zwischen geistig-leiblicher 
Frische und der beginnenden Ermüdung. Für die Bestimmung des 
Eintretens der Übermüdung sind damit klare Hinweise insofern dar- 
geboten, als man sagen kann: Die Ermüdung beginnt dort, wo das 
Ermüdungsgefühl als Warnungssignal sich bemerkbar macht und die 
geleistete Arbeit beginnt, unökonomisch zu werden; die Überbürdung 
dort, wo das Gefühl der Ermüdung zu dem des Überdrusses sich 
steigert und objektiv in stark minderwertigen oder völlig wertlosen 
Leistungen zutage tritt. Da setzen auch vollgültige hygienische Be- 
denken ein, während die Ermüdung noch innerhalb normaler Ver- 
hältnisse, innerhalb der Gesundheitsbreite liegt. 

Den hygienischen Bedenken liegt folgender Symptomkomplex zu- 
grunde, den Baur beschreibt: Der Übermüdete hat Kopfweh, leidet 
an Schlaflosigkeit und Schlafsucht, an Appetitlosigkeit, es zeigen sich 
alle möglichen Stimmungswechsel, besonders Launenhaftigkeit, wie sie 
die nervösen Personen in sehr variabler Weise an den Tag legen. 


Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. 455 








Man wird wohl nicht fehl gehen, wenn man die Nervosität, die heute 
so sehr verbreitet ist, auf einen Mangel an Hygiene der Arbeit und 
auf häufige Ermüdung ohne genügende Erholung, also auf Über- 
müdung zurückführt. Wohl können die Erscheinungen der Über- 
müdung durch einen festen Willen, durch Alkohol-, Tee- und Kaffee- 
reize zeitweise überwunden werden. Es werden da sogenannte Reserve- 
spannkräfte herangezogen; je mehr aber von diesen verbraucht wird, 
desto größer werden die Schulden, die nicht heimgezahlt werden 
können und über kurz oder lang den Bankerott des Körpers herbei- 
führen. Die Ermüdungsgefühle und -empfindungen geben uns gleich- 
sam ein Zeichen, mit der Arbeit einzuhalten, doch versagt dieses 
Warnungssignal nicht selten. (Forts. folgt.) 


3. Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der 
Testmethode. 


Von 
Franz Weigl, München-Harlaching. 
(Fortsetzung.) 


Die zweite Methode von Ries besteht darin, »daß die Schüler auf 
ein ihnen zugerufenes Wort mit einem andern reagieren sollten, dessen 
Inhalt zu dem des ersteren im Verhältnis der Wirkung zur Ursache steht. 

Die den Schülern zugerufenen Wörter waren die folgenden: 

Irrtum, Friede, Bestechung, Erziehung, Steuern, Ordnung, Wahl, Geiz, Unter- 
suchung, Bürgerkrieg, Eifer, Nachdenken, Verbannung, Feindschaft, Schlaf, Ver- 
dienst, Anzeige, Gewitter, Reise, Wechsel, Zusammenstoß, Gesang, Umdrehung, 
Blendung. 

Hindernis, Wärme, Neid, Furcht, Windstille, Genuß, Erfahrung, Teuerung, 
Geschwindigkeit, Meinung, Ernährung, Widerspruch, Vertrag, Zuneigung, Verwirrung, 
Wunder, Gesetz, Armut, Wette, Feuersbrunst, Eile, Vorschlag, Trennung, Verkehr, 
Streit, 

Arbeit, Nässe, Erbschaft, Spott, Druck, Beschwerde, Hungersnot, Unfall, Feier, 
Schiffbruch, Erklärung, Fall, Übung, Handel, Kälte, Jahreswechsel, Schluß, Sauber- 
keit, Alter, Zorn, Unterredung, Regen, Vereinigung, Zweifel, Widerstand. (S. 336.) 


Die Instruktion an die Schüler lautete: 

»Ich nenne euch jetzt eine Anzahl Substantive, ihr sollt zu jedem derselben 
ein anderes Substantiv suchen, welches die Wirkung dessen bezeichnet, was in dem 
ersten Substantiv genannt ist.« 

Zum besseren Verständnis der zu lösenden Aufgabe wurden einige Substantive 
genannt, und von den Schülern Antworten dazu gesucht. Diese Antworten wurden 
dann kurz besprochen und gezeigt, warum sie richtig oder falsch sind. (S. 337.) 


Die Ergebnisse mit dieser Methode waren bei den normalen 
Schülern noch günstiger als die mit der ersteren; sie können bei 


456 A. Abhandlungen. 





diesem Material auch zur Rangierung recht gute Dienste leisten. Für 
Hilfschüler dagegen verbietet sich die Anwendung von selbst, da 
immerhin eine gewisse geistige Reife Voraussetzung ist um die Auf- 
gabe erfassen und erledigen zu können. 

Während nun diese Methoden von der Beschäftigung mit normalen 
Prüflingen kommen und weder hierfür vollauf befriedigen konnten noch 
etwa gar bei Hilfsschülern hätten angewendet werden können, wurden 
auch von psychiatrischer Seite mancherlei Versuche gemacht, die 
das Intelligenproblem im Zusammenhang mit der geistigen Erkrankung 
erforschen wollten. Abgesehen davon, daß nun auch hier der Begriff 
der Intelligenz meist zu eng bezw. zu einseitig gefaßt wurde, kommen 
diese Untersuchungen für uns deshalb nicht in Frage, weil sie mehr 
mit dem Erwachsenen als dem Kind rechnen, das in der Hilfs- 
schule für unsere Untersuchungen in Frage steht. 

Als Beispiel und Beleg hierfür seien die Fragen angeführt, 
die der Irrenarzt Dr. Werner H. Becker in dem Aufsatz: »Zu den 
Methoden der Intelligenzprüfung« (»Klinik für psychische und nervöse 
Krankheiten«e von Sommer, Bd. V, Heft 1, Halle 1910, S. 3 ff.) ge- 
stellt wissen will: 

»1. Was ist schwerer, ein Pfund Blei oder ein Pfund Federn? 

2. Die Stubenfliege läuft an der vertikalen, spiegelglatten Fensterscheibe hinauf. 
Wie kann das möglich sein? 

(Hier hat der Verfasser nicht die zoologisch richtige Lösung der Frage ge- 
fordert, sondern sich mit einer rein physikalischen Erklärung, die Scheibe ist nicht 
absolut glatt, völlig zufrieden gegeben.) 

3. In einen Schuhwarenladen tritt ein Herr, fordert ein Paar Stiefel, sucht 
sich ein Paar aus, das 12,50 M kostet, und bezahlt mit einem Fünfzigmarkschein. 
Nachdem der Käufer sich entfernt hat, stellt sich heraus, daß der Schein falsch 
war. Wie groß ist der pekuniäre Verlust des Schuhwarenhändlers, wenn man an- 
nimmt, daß er bei einem Verkaufspreis von 12,50 M einen Verdienst von 2,50 hat. 

4. Eine Dame bekommt Hausbesuch. Bei Besichtigung ihrer Wohnung fällt 


einem Fremden das Bildnis eines jungen Mannes auf. Auf die Frage, wer das sei 
antwortet die Dame: 

Die Mutter dieses jungen Mannes war die einzige Tochter meiner Mutter. 

In welchem verwandtschaftlichen Verhältnis stand die Dame zu dem jungen 
Manne? 

5. Ein Postbote muß zu Fuß den Weg vom Dorfe A nach dem Dorfe B 
machen. Aber es hat geglatteist, und es ist so glatt, daß wenn man einen Schritt 
vorwärts geht, man zwei zurückgleitet. Der Bote kam aber ganz gut hin, und 
zwar zu Fuße; wie machte er das?« 

Der Verfasser sagt dazu: »Ich bin mir bewußt, hier eine Frage vorgelegt zu 
haben, deren Lösung tatsächlichen Verhältnissen und Vorkommnissen widerspricht. 
Man beachte aber den Unterschied der oben erwähnten Rätselscherzfragen mit 
diesem durch logisches Nachdenken ohne Schwierigkeit auffindbaren Endresultat.« 

»6. Herodot erzählt: ‚Eine Löwin kann in ihrem Leben nur ein Junges ge- 
bären, weil das junge Tier in der Geburt mit seinen scharfen Krallen die Gebär- 


Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. 457 


mutter der Löwin zerreißt‘ Was folgt daraus, und weshalb ist der Bericht 
Herodots falsch? 

7. In einem Staate Amerikas ist es Sitte, die Schweine zu erschießen statt zu 
schlachten. Nun war ein Farmer ein schlechter Schütze, weil er auf dem rechten 
Auge blind war und mit dem linken Auge ohne Kopfneigung Korn und Ziel in 
eine Linie brachte. Er legte rechts an und schoß meistens daneben. Nach welcher 
Seite hin wich die Kugel wohl meistens vom Ziel ab? 

8. Ein Lloyddampfer braucht von Bremerhaven nach New-York 7 Tage Fahr- 
zeit. Jeden Tag fährt ein Dampfer ab Bremerhaven, ebenso jeden Tag einer ab 
New-York. Wieviel Dampfern begegnet ein Dampfer, der heute aus Bremerhaven 
abgeht ?« 

Es bedarf keines Wortes, daß diese Fragen für jugendliche 
Anormale nicht in Betracht kommen. Wir sehen uns deshalb auf 
andere Wege der Forschung verwiesen. Können uns alle die bisher 
angeführten Methoden nicht befriedigen, so ist zu relativ vollkommener 
Ausbildung inzwischen jene Methode fortgeschritten, die jeweils 
mehrere Tests zur Prüfung verwendet, mit Testserien arbeitet. 
Diese Arbeit ist zurückzuführen auf die erfolgreichen Versuche des 
leider zu früh verstorbenen französischen Psychologen Binet, der mit 
seinem treuen Mitarbeiter Simon eine größere Anzahl von Tests zu- 
sammenstellte, auf verschiedene Altersstufen aussortierte und dann 
eine Staffelung aufstellte, mit der jeweils einem bestimmten Alter 
entsprechende Aufgaben zugewiesen werden können. Über die Unter- 
suchungen ist fortlaufend berichtet in der Zeitschrift Année psycho- 
logique (Paris, Masson & Co, 1894 ff), auch sei auf das treffliche 
Buch »Die neuen Gedanken über das Schulkind« verwiesen, das er- 
freulicherweise in deutscher Bearbeitung von Anschütz und Ruttmann 
(Leipzig, Wunderlich, 1912) erschienen ist. 

Um die Übertragung der Binetschen Untersuchungen auf deutsche 
Verhältnisse haben sich besonders Stern und sein Breslauer Institut 
mit Bobertag und Chotzen verdient gemacht. In der »Zeitschrift 
für angewandte Psychologie Bd. II, V und VI finden sich die 
Arbeiten, die über die dort vorgenommenen Untersuchungen gründlich 
orientieren. Eine Übersicht gibt auch Stern selbst in dem Werk: 
»Die psychologischen Methoden der Intelligenzprüfung und deren An- 
wendung an Schulkindern« (Leipzig, Joh. Ambrosius Barth, 1912). 

Das Wesen der Binetschen Methode besteht vor allem in der 
Anwendung von Testserien an Stelle von Einzeltests. Die 
Aufgabe war nun, für jedes Lebensjahr der Kindheit eine Serie zu finden, 
die den normalen Leistungen dieses Alters entsprach. An einer großen 
Zahl von Untersuchungen wurden diese Durchschnittsleistungen ge- 
funden, von Bobertag nachgeprüft und auch von unserer Münchener 

Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 30 


458 A. Abhandlungen. 





Arbeitsgemeinschaft der katholischen pädagogischen Vereine für die 
hiesigen Verhältnisse überprüft. Das günstige Resultat ermunterte 
zur Anwendung auf einen praktischen Fall in der Hilfsschule. Das 
Ergebnis der Tests wird genau gebucht und zum Schlusse eine 
Übersicht hergestellt, die positive Leistungen mit +, Versagen und 
Fehlangaben mit — wertet. Aus der Zahl von + und — kann 
(wie unten näher zu ersehen ist) das Intelligenzalter, sein eventuelles 
Übereinstimmen mit dem Lebensalter oder ein Voraneilen und ein 
Zurückbleiben berechnet werden. 

An einem objektiven Maßstab haben wir dann die Intelligenz 
des Prüflings gemessen und erhalten ein ohne weiteres mit anderen 
Individuen vergleichbares Bild, das sogar, wie ich zeigen werde, eine 
Rangierung zuläßt, die dann mit der Rangierung seitens des Lehrers 
verglichen werden kann. 

Die Binet-Bobertagschen Serien, die wir mit kleinen Abweichungen 
anwendeten, haben folgende zu einem bestimmten Abschluß gediehene 
Form: 

Fünfjährige Kinder. 

Nachsprechen 10silbiger Sätze (»ich gehe heute zu meiner Mutter;« >»ich 
wohne in einem großen Hause«). Von diesen zwei Sätzen soll wenigstens einer 
korrekt wiederholt werden. 

4 Pfennige abzählen. 

Definition konkreter Gegenstände durch Zweckangaben. Es sind folgende Begriffe 
zu wählen: Stuhl, Gabel, Zange, Kuchen, Puppe, Haus, Pferd, Soldat, Pfennig, Rose.!) 

4 Zahlen nachsprechen. Das Kind muß imstande sein, die ohne Rhythmus 
vorgesprochenen Zahlen fehlerfrei wiederzugeben. Die von Bobertag vorgeschlagene 
Zahlenkombination von 3—7 stelligen Zahlen ist folgende: 

714 3681 51942 250841 9640518 
286 2964 93718 095827 5928037 

.  Sechsjährige Kinder. 

Asthetischer Vergleich. Drei Gesichtspaare, je ein häßliches und ein hübsches, 
sind zu unterscheiden, 

Drei auf einmal gegebene Aufträge sind fehlerlos auszuführen. Z. B. Nimm 
den Schlüssel und lege ihn auf diesen Stuhl dort, dann mache die Türe auf, bloß 
aufmachen, weiter nichts, zuletzt nimm das Kästchen von der Bank und bring es 
mir her. 

Nachsprechen 16silbiger Sätze: »Ich habe meinem Bruder gesagt, daß er mich 
besuchen soll,« »wenn wir unsere Arbeit gemacht haben, dürfen wir spielen«. 

Zusammensetzen eines Rechteckes aus zwei Dreiecken (ein Rechteck wird in 
der Diagonale in zwei Dreiecke zerschnitten und diese werden dem Kinde gleich- 


1) Das Abzeichnen eines Quadrates haben wir fallen lassen, weil dabei die 
Schulleistung sehr mit in Betracht zu ziehen ist, In der vorliegenden Begriffsreihe 
haben wir den Begriff »Droschke«, der den Kindern vielfach nicht geläufig ist durch 
»Haus« ersetzt. 


Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. 459 





zeitig mit einem anderen gleich großen Rechteck vorgelegt. Es soll die Vorlage mit 
den beiden Dreiecken zusammensetzen, 

Bildbetrachtung: Beschreibung. Es werden drei Bilder aus dem Münchner 
Bilderbogen »Der Pechvogel« vorgelegt. Das Kind muß imstande sein, auf die 
Frage »was ist da los?« nicht nur die Personen und Dinge aufzuzählen, sondern im 
Zusammenhang zu beschreiben. 

Siebenjährige Kinder. 

Nachsprechen von fünf Ziffern (S. o.) 

Kenntnis der Münzen von 1 Pfennig bis 1 Mark. Die Münzen werden vor- 
gelegt, und mit Ausnahme etwa des 25 Pfennig-Stückes muß das Kind die Münzen 
bestimmen können.!) 

Lücken in Zeichnungen erkennen. An Gesichtsdarstellungen, an denen die 
Nase, bezw. ein Ohr, der Mund, und bei einer Frau, der die Arme fehlen, ist von 
den Kindern die Lücke anzugeben. 

Rechts und links unterscheiden. (Zeige das rechte Ohr, das linke Auge usw.) 

Achtjährige Kinder. 

Von 20—1 rückwärts zählen, ohne Fehler. 

Vergleichen von zwei Gegenständen aus dem Gedächtnis, (Du kennst einen 
Schmetterling, du hast auch schon eine Fliege gesehen, ist das das gleiche? 
warum nicht? Ebenso Holz — Glas, Knochen — Fleisch). 

Benennung der vier Hauptfarben (rot-grün-gelb-blau) auf einer Farbentafel. 

Drei leichte Verstandesfragen. (Was muß man machen, wenn man den Zug 
verpaßt hat? Was muß man tun, wenn man etwas kaput gemacht hat, das einem 
nicht gehört? Was muß man machen, wenn man in die Schule geht, und man merkt 
unterwegs, daß es schon später ist als gewöhnlich?) 

Angabe von einem Hauptpunkt aus einer eben gelesenen Zeitungsnotiz (laut 
lesen lassen, ohne Mitteilung, daß das Gelesene nachher wiederzugeben ist. Eine 
»Zeitungsnachrichte: »Am ersten Feiertage zeigte der Arbeiter Michael Werner 
seinem zweijährigen Sohne, den er auf dem Arm hielt, den Christbaum, wobei er 
in der andern Hand die Petroleumlampe hielt. Als Werner um den Weihnachts- 
baum herumging, stolperte er und fiel mit Kind und Petroleumlampe hin, wobei 
die Lampe zerbrach. Die herbeieilenden Nachbarn löschten zwar den sofurt ent- 
standenen Brand, Werner und das Kind erlitten aber solche Brandwunden, daß sie 
nach Einlieferung in das Krankenhaus beide starben.«) 

Neunjährige Kinder. 

Definition durch Oberbegriffe. (Für die oben angegebenen Begriffe muß der 
Oberbegriff angegeben werden, was eventuell provoziert werden kann, indem man 
als Beispiel ein Begriffspaar nennt. Z. B. Rose und Veilchen, Pfennig und Taler, 
Soldat und Jäger, Pferd und Hund, Haus und Kirche, Puppe und Ball, Kuchen und 
Semmel, Zange und Hammer, Stuhl und Tisch, Gabel und Löffel.) 

80 Pfennige auf 1 Mark herausgeben. Auf dem Tisch liegt bereit eine Schul- 
tafel, ein 50 Pfennig-Stück, 5 10 Pfennig-Stücke und 4 5 Pfennig-Stücke. Ich 
sage: »Ich kaufe dir diese Tafel ab für 20 Pfennige und bezahle sie gleich.« Ich 
gebe ein Markstück her; der Schüler muß mit dem bereitliegenden Geld richtig 
herausgegeben. 


1) Das Abzeichnen eines Rhombus haben wir ausgeschaltet. In den Münchener 
Unterklassen wird ein ziemlich intensiver Zeichenunterricht bereits betrieben, der 
diesen Test durch Schulübung in seiner Objektivität beeinflussen würde. 

30* 


460 A. Abhandlungen. 





Bildbetrachtung: Erklärung mit Hilfe unterstützender Fragen. (Jedes der oben 
genannten Bilder hat eine bestimmte Pointe. Diese muß der Schüler auf; dieser 
Stufe auf eine provozierte Frage hin finden. Wenn er z. B. beim ersten Bild 
auch nicht von selbst gleich darauf kommt, daß der Knabe, welcher sich versteckt 
hat, das Fenster eingeworfen hat, so muß er dies doch finden auf die Frage, 
»welcher von den beiden Buben hat nun eigentlich das Fenster eingeworfen«.) 

Angabe des Tagesdatums. 

Ordnen von fünf Gewichten mit 3, 6, 9, 12, 15 Gramm in der richtigen 
Reihenfolge. 

Zehnjährige Kinder. 

Mit drei gegebenen Worten, z. B. München — Fluß — Geld, zwei Sätze bilden. 

Kenntnis aller Münzen. 

Angabe von 6 Erinnerungen aus der obigen Zeitungsnotiz. 

Nachsprechen 26silbiger Sätze (z. B. ich habe meinem Bruder gesagt, wenn 
er heimkommt, soll er gleich wieder fortlaufen und den Arzt holen). 

Nachsprechen von 6 Ziffern (S. o.). 

Elfjährige Kinder. 

Mit drei gegebenen Worten einen Satz bilden. 

Definition abstrakter Begriffe (Neid — Mitleid — Gerechtigkeit). 

Wortdurcheinander zu einem Satz ordnen. Z. B.: 


ein verteidigt wir Ferien auf ich habe Lehrer 
Herrn mutig Hund gereist das sind in meine verbessern gebeten 
guter seinen Land den zu Arbeit meinen 


Kritik absurder Sätze: Ich habe 3 Brüder, Paul, Ernst und ich. Kann man 
so sagen? — Neulich fand man in einem Walde eine Leiche, die in 18 Stücke 
zerteilt war; manche Leute glauben, daß ein Selbstmord vorliegt; ist das möglich ? 
— Gestern verunglückte ein Radfahrer auf der Straße, so daß er sofort tot war. 
Man brachte ihn in ein Krankenhaus, wo man hofft, ihn bald wieder entlassen zu 
können. Ist das möglich? Warum nicht? — Vorhin las ich in einer Zeitung von 
einem Eisenbahnunglück. Es war kein schweres. Es waren bloß 48 Tote. War 
das recht gesagt? — 

Zwölfjährige Kinder. 

Bildbetrachtung: spontane Erklärung. 

In einer Minute zu einem vorgesprochenen Worte drei Reime finden. 

Ergänzung von Textlücken. Die folgende »Geschichte« wird den Kindern vor- 
gelesen mit der Aufgabe, das jeweils fehlende Wort zu ergänzen: »Als meine Eltern 
vorigen Monat verreist waren, wurde mein Bruder plötzlich sehr krank. Ich schickte 
daher sofort zum — und ließ ihn sorgfältig pflegen. Nach zwei Tagen kamen die 
Eltern zurück. Als sie von der Erkrankung meines Bruders hörten, waren sie 
sehr —; als sie aber sahen, daß ich für seine Pflege gesorgt hatte, haben sie sich 
bald wieder —, und haben mich deswegen —. Es stellte sich übrigens heraus, daß 
mein Bruder kurz vorher eine größere Menge unreifes Obst gegessen hatte. Damit 
hatte er sich natürlich —. Die Eltern sagten zu ihm: sei in Zukunft nicht so —. 
Ich hoffe er wird den Eltern —. 

Fünf schwere Verstandesfragen: Was muß man machen, wenn man von einem 
Freund (Freundin) aus Versehen geschlagen worden ist? Was muß man machen, 
wenn man etwas Wichtiges unternimmt? Denke dir, es fragt dich jemand um deine 
Meinung über einen anderen Menschen, den du nur wenig kennst; was würdest du 
dann sagen? Warum entschuldigt man eine böse Tat, die im Zorn ausgeführt wird, 


Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. 461 





eher, als eine böse Tat, die nicht im Zorn ausgeführt wird? Warum soll man einen 
Menschen mehr nàch seinen Handlungen als nach seinen Worten beurteilen? — — 

Was mir diese Testserie für Hilfsschüler sehr wertvoll erscheinen 
läßt, ist unter andern auch ein Gesichtspunkt, der sich mir beim 
Studium der einschlägigen Literatur aufdrängte. 

Allgemein wird man wohl anerkennen, daß die besten Anweisungen 
für die Intelligenzprüfung Abnormer bisher Ziehen gegeben hat. 
In dem Buch: »Die Prinzipien und Methoden der Intelligenz- 
prüfung« (3. Aufl. Berlin 1911) berichtet er darüber, und man sieht, 
wie er ganz selbständig zu seiner auf dem Boden der Testserien- 
prüfung stehenden Methode gelangte. Gleichwohl birgt sie die wich- 
tigsten Tests der Binet-Bobertagschen Serie auch in sich und wird 
dadurch zur Stütze für die Verwendbarkeit der letzteren. Ich will 
hier, der Ziehenschen Einteilung folgend, zeigen, welche Tests Ziehen 
verwendet (die beigefügten Ziffern bedeuten die Seitenzahl in Ziehens 
angeführtem Buch), und mit einem Stichwort jeweils andeuten, wo 
der betreffende Test in der Binetschen Reihe zu suchen ist. 





Ziehen | Binet-Bobertag 





A. Retention.+) 


1. Retentionsfragen( Wie siehteinPfennig, 
r aA ein Briefkasten ... aus?), 
(8. 9). 

2. Die Reihe der Wochentage, Monate, | 
Jahreszeiten (S. 10). 

3. Fragen über jüngste Erlebnisse: Wo | Tagesdatum. 
waren Sie gestern? Welches Datum 
ist heute? usw. (S. 13). 

4. Disparate Aufgaben (Aufgaben aus dem 
kleinen Einmaleins, nach Angabe des 
Resultats müssen 2 Reihen von je 6 
einstelligen Zahlen nachgesprochen 
werden, dann soll er nochmal das zu- 
EIER Exempel angeben), 

. 15. 

5. Nachzeichnen von Figuren aus dem 
Gedächtnis (nach 15 Sek. Expositions- 
zeit), S. 20 ff. 

6. Behalten von Erzählungen (Lokal- | Erzählung, Behalten eines bezw. mehrerer 
nachricht) und gleichzeitig erteilten | Punkte. Ausführung von 3 gleichzeitig 
Aufträgen, (S. 24). erteilten Aufträgen. 








1) Ziehen versteht darunter die abgesehen von den »Empfindungen« notwendige 
Voraussetzung des Gedächtnisses, der Vorstellungsbildung, die »Bedingung der Re- 
produktion«, und will sie gemessen haben am »Lebenswissen«, d. h. dem Wissen aus 
der täglichen Lebenserfahrung. Wir geben hier die Seitenzahlen an, auf dem sich 
im angegebenen Buch das Prüfungsmittel angegeben findet. 


46 


2 


á 


A. Abhandlungen. 





Ziehen | Binet-Bobertag 


B. Vorstellungsentwicklung und 


7. 


10. 


11. 


Vorstellungsdifferenzierung. 


Generalisationsfragen (Was sind der | 


Adler, die Ente, die Gans, der Storch, 
das Huhn, alle zusammen?), S. 26, 
und Spezifikationsfragen (Nennen Sie 
die Möbel, die Sie kennen), 8. 27. 


. Erfragen der Begriffe »Neid«, »Un- 


dankbarkeit« aus einer Erzählung und 
umgekehrt die Aufgabe: Nenne ein 
Beispiel von Neid, S. 28. 


. Unterschiedsfragen (Was ist der Unter- 


schied zwischen Hand und Fuß, Ochs 
und Pferd? usw.), 5. 31. 


C. Reproduktion. 
Reizwortmethode (Auf Zuruf soll die 
Versuchsperson die erste auftauchende 
Vorstellung benennen: Wald, rot, 
Haus, Krankheit, Wein, Stadt, Schuld, 
Vater, Neid, süß, Gift, Fisch, Hoch- 
zeit, berufen, Tod), S. 40. 


D. Kombination. 


Rückläufige Umkehrung bekannter 
Assoziationsreihen (Monate, Wochen- 
tage, Namen rückwärts buchstabieren), 
S. 44 


A Legspielmethoden (inkl. des Legens von 


Worttäfelchen zu einem Satz), S. 45 f. 


. Gleichungsaufgaben. 
. Ebbinghaussche Kombinationsmethode, 


S. 48. 


. Auffassung kleiner Erzählungen mit 


Pointe, S. 52. 


. Verständnis für Vergleiche (Was be- 


deutet das, wenn ich sage der Mann 
wechselt seine Meinung wie eine 
Wetterfahne), S. 57. 


. Bilderprüfung. An der Hand etwa 


von Münchener Bilderbogen, S. 58. 


. Kritikmethode, S. 58 f. 
. Aufsatz oder Brief schreiben, S. 62. 
. Masselonsche Probe (3 Worte zu 


sinnvollem Satz verbinden), S. 63. 


. Bourdonsche Probe (Anstreichen aller 


n und e in sinnlosem und sinnvollem 
Text), 8. 70. 








Erklären der Begriffspaare durch Ober- 
begriff. 


Erklärung abstrakter Begriffe. 


Unterscheiden zweier Begriffe aus dem 
Gedächtnis. 


Rückwärtszählen. 


Lücken in Zeichnungen. Wortdurch- 
einander ordnen. 


Ergänzen der Lücken in der Erzählung. 
Auffassung der Zeitungsnotiz. 


Vorgang bezw. die Pointe eines Bildes 
erfassen nach den Münch. Bilderbogen. 
Kritik absurder Sätze. 


Aus 3 Worten einen Satz bilden. 


Die große Verwandtschaft, die zwischen beiden Untersuchungs- 
methoden hinsichtlich der Aufsuchung von Einzelfähigkeiten besteht, 
bestärkt in der Hochschätzung der Binetschen Methode. (Forts. folgt.) 


1. Psychologische Profile nach Rossolimo. 463 


B. Mitteilungen. 





1. Psychologische Profile nach Rossolimo. 
Von Dr. N. Braunshausen und A. Ensch (Luxemburg). 

Aus den Leserkreisen der »Zeitschrift für Kinderforschung« ist uns 
der Wunsch zugegangen, über die im 3/4. Heft des 18. Jhrg. dieser Zeit- 
schrift veröffentlichten Untersuchungen genauere methodische Angaben mit- 
zuteilen. Wir haben dort auf die ausführliche Darstellung hingewiesen, 
die Rossolimo von seiner Methode in der »Klinik für psychische und 
nervöse Krankheiten«e gegeben hat. Für diejenigen Leser, welche den 
Bericht des russischen Verfassers selbst nicht kennen, möge hier eine 
gekürzte Beschreibung des angewandten Verfahrens folgen. Wir haben 
uns bei unseren Versuchen eng an die Tests und die Weisungen Rossolimos 
gehalten. Nur für die Bilderserien haben wir eigenes Material verwendet, 
das aber ganz im Sinne der originalen Experimente angeordnet war. 

Für die Erforschung der Aufmerksamkeit hat Rossolimo ein vor- 
treffliches Verfahren ersonnen. 10 Kartons mit einer steigenden Anzahl 
von Durchlöcherungen, die immer kompliziertere Figuren ergeben, werden 
der Versuchsperson vorgelegt mit der Aufforderung, in alle Öffnungen mit 
einem spitzen Instrument hineinzustechen und keine zweimal zu treffen. 
Ein unter dem Karton liegendes weißes Blatt erlaubt jedesmal die Kontrolle, 
ob alle Öffnungen vorschriftsmäßig durchstochen sind. 

Bei einer zweiten Serie zur Prüfung der Aufmerksamkeitskonzentration, 
mit Auswahl, verwendet Rossolimo dieselben Kartons; nur sind die 
Öffnungen teils mit Kreuzen, teils mit anderen Figuren bezeichnet, und 
der Auftrag lautet nun, etwa die Kreuze zu durchstechen und alle anderen 
Figuren zu übergehen, oder umgekehrt. 

Dem Umfang der Aufmerksamkeit sind folgende 10 Experimente ge- 
widmet: 1. Simultanes Nachzeichnen eines horizontalen Striches mit der 
linken und eines Kreises mit der rechten Hand. Neuerdings hat Rossolimo 
dies dahin abgeändert, daß die Zeichen nur abwechselnd, nicht simultan, 
mit der linken und rechten Hand gemacht werden. 2. Zählen von Punkten, 
die regellos auf einem Blatt zerstreut sind, während der Versuchsleiter 
dreimal unter dem Tisch klopft und nachher fragt, was während des 
Zählens stattgefunden habe. 3. Im Zentrum eines Blattes steht eine auf- 
fällige Figur. Die Versuchsperson wird aufgefordert, diese nach er- 
folgter Betrachtung zu beschreiben. Darnach wird sie nach einem kleinen 
Kreis gefragt, der in einer Ecke des Blattes sichtbar war. 4. Nachzeichnen 
einer Reihe von mathematischen Zeichen, indem sie gruppenweise von links 
nach rechts und von rechts nach links gezeichnet werden. 5. Bäume 
und Häuser liegen auf einem Blatt zerstreut, das mit einer punktierten 
Linie umrandet ist. Die Versuchsperson wird gefragt, ob das Blatt sich 
irgendwie von anderen Blättern unterscheide, abgesehen von den gemalten 
Figuren. 6. Die Versuchsperson sagt die Wochentage in umgekehrter 
Reihenfolge auf, indem sie bei Freitag und Mittwoch die Augen zu schließen 


464 B. Mitteilungen. 





hat. 7. Vertikale Striche wechseln mit horizontalen ab; die ersteren sind, 
nach einer neueren Änderung Rossolimos, ınit rotem, die anderen mit 
blauem Bleistift nachzuzeichnen. 8. Die Versuchsperson schlägt 5mal mit 
der linken Hand auf den Tisch. Gleichzeitig fällt auch die rechte jedes- 
mal nieder, aber diese macht jedesmal einen Schlag mehr, also zuerst 
einen, dann zwei, dann drei usw. 9. Eine Reihe von kleinen Figuren ist 
nachzuzeichnen, während gleichzeitig die Wochentage von der Versuchs- 
person aufgezählt werden, wenn möglich in umgekehrter Reihenfolge. 
10. Die Versuchsperson zählt laut von 1 bis 7 und klopft beim Nennen 
von 1 siebenmal, beim Nennen von 2 sechsmal usw. 

Eine andere Untersuchung beschäftigt sich mit der Ablenkung der 
Aufmerksamkeit, durch Störungen von seiten des Versuchsleiters, während 
die Versuchsperson die Öffnungen der Kartons durchsticht. 

Die Funktion des Willens wird auf die Fähigkeit geprüft, dem 
Automatismus und der Suggestion zu widerstehen. 

10 Experimente gehen auf den Automatismus: 1. Die Lineale Binets 
werden gezeigt, von denen 10 immer zunehmende Länge haben, während 
5 andere gleich sind. Die Versuchsperson wird jedesmal gefragt, ob das 
Stäbchen größer sei als das vorhergehende. Der Automatismus zeigt sich 
darin, daß auch die 5 gleichen jedesmal für größer gehalten werden. 
2. Die Versuchsperson soll mit dem Versuchsleiter zugleich auf den Tisch 
klopfen. Fährt sie noch einige Male fort, wenn der Versuchsleiter auf- 
gehört hat, so wird das als Automatismus bezeichnet. 3. Die Versuchs- 
person wird aufgefordert, mit dem Versuchsleiter zu zählen und zwar auf 
die gleiche Weise. Nach einigen Zahlen geht der Versuchsleiter zu leisem 
Zählen über. Fährt dann die Versuchsperson mit lautem Zählen fort, so 
gilt das als Automatismus. 4. Nach der gleichen Aufforderung an die 
Versuchsperson fängt der Versuchsleiter wieder an zu zählen, und über- 
springt eine Reihe von Zahlen. Automatismus ist vorhanden, wenn die 
Versuchsperson in der angefaugenen Reihe weiterfährt. 5. Man sagt der 
Versuchsperson, daß man bis zehn klopfen wolle, klopft aber öfters. Die 
Versuchsperson muß mit 10 aufhören. 6. Zwei Buchstaben werden der 
Versuchsperson 3mal vorgesprochen. Sie wird aufgefordert, die Buch- 
staben zu wiederholen und muß mit dem Versuchsleiter nach dem dritten- 
mal aufhören. 7. Auf einem Blatt werden 5 geometrische Figuren ge- 
zeigt; die Versuchsperson soll sie auf einem folgenden Blatt wieder- 
erkennen, wo sie mit anderen Figuren gemischt sind. Der Automatismus ver- 
leitet, mehr Figuren anzugeben, als gesehen worden sind. Der Versuch läßt 
sich besser dahin abändern, daß die 5 gezeigten Figuren auf dem 2. Blatt 
in der gleichen Reihenfolge wiederkehren und daß eine oder mehrere ganz 
ähnliche Figuren direkt darauf folgen. 8. Zählen mit dem Experimentator. 
Dieser hält nach 4 auf. Dasselbe wird von der Versuchsperson erwartet. 
9. Dasselbe Experiment wiederholt mit der Aufzählung der Wochentage. 
Der Versuchsleiter hält nach Mittwoch inne. 10. Man nimmt die rechte 
Hand der Versuchsperson und fordert sie auf, die Augen zu schließen. 
Nimmt man nun darnach die andere Hand und die Versuchsperson schließt 
ebenfalls die Augen, so gilt das als Zeichen von Automatismus. 


1. Psychologische Profile nach Rossolimo. 465 


Für die Widerstandsfähigkeit gegen Suggestion sind folgende Ver- 
suche verwertet: 1. Man suggeriert eine Emotion, indem man erklärt, 
man werde jetzt etwas zum Lachen zeigen, führt aber dann irgend einen 
nichtssagenden Gegenstand, etwa einen Bleistift vor. Es muß aber be- 
merkt werden, daß dieser Versuch nicht immer entscheidend ist, denn 
das Lachen ist auch beim Auftauchen des indifferenten Gegenstandes, 
wegen des Kontrastes zwischen der Erwartung und dem Eintreten der 
Wirklichkeit berechtigt. 2. Eine Wärmeempfindung wird suggeriert, indem 
man der Versuchsperson bei geschlossenen Augen die Hand berührt und 
fragt, ob sie die Hand des Versuchsleiters als warm empfinde. Zieht man 
dann die Hand zurück, indem man ankündigt, sie werde jetzt noch wärmer 
werden, so läßt sich die Versuchsperson manchmal irre führen, wenn 
man einfach die Hand wieder zurücklegt. 3. Die Suggestion einer Be- 
rührungsempfindung geschieht durch ein Verfahren, das an die Webersche 
Tastzirkelmethode erinnert. Man berührt die Hand der Versuchsperson 
bald mit einem, bald mit zwei Fingern. Nachdem man sie wieder mit 
einem Finger berührt und nach der Zahl der Eindrücke gefragt hat, 
berührt man mit einem Finger eine Stelle neben der zuletzt getroffenen. 
Suggestible Personen glauben dann, zwei Finger zu spüren. Hier ist es 
jedoch notwendig zu bemerken, daß der Tasteindruck eine gewisse Zeitlang 
nachklingt, und daß daher möglicherweise, wenigstens bei kurzem Zwischen- 
raum, auch ohne Suggestion zwei Eindrücke empfunden werden können. 
4. Für die Suggestion einer Schwereempfindung bedient man sich zweier 
Holzzylinder von gleichem Gewicht, aber ungleicher äußerer Gestalt. 
5. Eine Farbenempfindung wird suggeriert durch ein Bild einer Blume, 
deren Blüten farbig, deren Blätter aber nicht koloriert sind. Man fragt 
nach der Farbe der Blätter. 6. Für die Raumwahrnehmung bedient man 
sich eines Bildes, das Vater und Sohn darstellt, letzteren aber trotz seiner 
Knabenkleidung größer gezeichnet als den Vater. Man fragt, wer von 
beiden der größere gewesen sei, nachdem man das Bild entfernt hat. 
7. Ein Bild zeigt ein Mädchen, das Futter streut. Nachdem man das 
Bild gezeigt hat, fragt man, auf welcher Seite sich die Vögel befanden. 
Es waren aber keine Vögel gezeichnet. 8. Die Versuchsperson wird auf- 
gefordert, die Namen zu zählen, die der Experimentator vorspricht. Er 
sagt 9 Namen auf, legt aber nach und nach die 10 Finger der Hand 
zurück. Es wird nach der Zahl gefragt. 9. Die Suggestion einer wider- 
sinnigen Idee geschieht durch die Frage: Wann laufen die Kinder mit 
dem Kopf nach oben? 10. Man erklärt der Versuchsperson, man werde 
bis 10 zählen, und dann werde sie nicht mehr imstande sein, die Augen 
offen zu halten. 

Besonders gut gelungen ist in dem Rossolimoschen Verfahren die 
Prüfung der Merkfähigkeit. Am Tachistoskop wird zuerst für die 
Versuchsperson die Zeit der notwendigen Expositionsdauer festgestellt. 
Dann werden 10 einzelne Figuren gezeigt, die jedesmal auf einer Tafel 
unter 8 anderen Figuren wiederzuerkennen sind. Die Tafeln sind den 
Sammlungen von Prof. Netschajeff und teilweise denen von Professor 
Bernstein entlehnt. 


466 B. Mitteilungen, 





Eine zweite Art der Prüfung der Merkfähigkeit stützt sich auf Urteile. 
Es werden 10 Karten gezeigt, auf denen jedesmal 2 Figuren vorkommen, 
die bei weitgehender Ähnlichkeit kleine Unterschiede aufweisen. So finden 
sich auf einer Karte zwei Quadrate, die gleich groß sind, aber verschiedene 
Lage haben, auf einer anderen zwei Kreise, die verschieden hell schraffiert 
sind usw. Die Versuchsperson wird nach den Unterschieden gefragt. 

Die dritte Methode zur Prüfung der Merkfähigkeit wendet das 
Nachbilden von vorgezeigten Figuren an. Und zwar, um jede technische 
Fertigkeit unnötig zu machen, das Nachbilden von Punkten. In einem 
Quadrat mit 9 Feldern werden einzelne Felder mit Punkten markiert; die 
Versuchsperson hat in einem ihr vorgelegten ähnlichen Quadrat die im 
Tachistoskop erschienenen Punkte nachzuzeichnen. 

Eine vierte Methode endlich zeigt tachistoskopisch Farbenquadrate, 
deren Nüancen unter 25 anderen, zum Teil schwer unterscheidbaren, 
wiederzuerkennen sind. 

Ein wichtiger Teil der Intelligenzprüfung bezieht sich auf das Ge- 
dächtnis. Watkins will sogar die Prüfung des Gedächtnisses als den 
wesentlichsten Test bei der Untersuchung der Intelligenz festhalten. 
Rossolimos Methode erstreckt sich auf die verschiednen Seiten der Funktion 
des Behaltens. 

Das Gedächtnis für optische Wahrnehmungen wird geprüft durch 
5 Serien von Tests zu je 10 Experimenten. Zuerst werden 10 lineare 
Figuren sukzessiv gezeigt, und die Versuchsperson hat dieselben auf einer 
Tafel, wo sie mit 15 anderen vermischt sind, wiederzuerkennen. 

Auf dieselbe Weise werden 10 farbige Figuren dargeboten, sodann 
10 Bilder, und ihr Behalten geprüft mit der Methode des Wiedererkennens. 

Größere Schwierigkeit bietet die Prüfung des Behaltens von Bildern 
mit der Reproduktionsmethode. 10 Bilder mit charakteristischem Inhalt 
werden dreimal vorgezeigt und darauf die Versuchsperson aufgefordert, 
aus dem Gedächtnis den Inhalt der Bilder anzugeben. 

Endlich werden 10 Gegenstände, wie ein Buch, ein Bleistift, usw. 
dargeboten, und die Versuchsperson gibt an, was sie davon behalten hat. 

Eine zweite Reihe von Versuchen geht auf das Gedächtnis für Ele- 
mente der Rede. Hier werden nach dem gebräuchlichen Verfahren Buch- 
staben, Silben, Worte, Sätze sowohl optisch als akustisch vorgeführt und 
ihr unmittelbares Behalten geprüft. Daneben werden zwei Serien von 
nebeneinandergestellten sinnlosen Silben und Wörtern optisch und akustisch 
dargeboten, um das Behalten auf assoziativrem Wege zu prüfen. 

Die dritte Seite des Gedächtnisses betrifft die Zahlen. Serien von 
10 Zahlen werden akustisch und optisch zum Behalten aufgegeben. Für 
das Behalten konkreter Zahlen werden 10 Bilder gezeigt, die verschiedne 
Gegenstände, wie Apfel, Mützen usw. in verschiedner Anzahl darstellen. 
Die Versuchsperson wird nach Vorzeigung der 10 Bilder nach der Anzahl 
der einzelnen Gegenstände gefragt. Auf dieselbe Art wird das Behalten 
einer Anzahl von wirklichen Gegenständen und einer Anzahl verschiedener 
geometrischer Zeichen geprüft. 

Unter dem Namen assoziative Vorgänge untersucht Rossolimo die 


1. Psychologische Profile nach Rossolimo. 467 








deutende Auffassung. Eine erste Serie gibt 5 Einzelbilder, deren Inhalt 
zu erraten ist, und 5 Bilderreihen, von denen jede eine Erzählung dar- 
stell. Eine zweite Serie bietet Bilder widersinnigen Inhalts wie z. B. 
eine brennende Kerze, die ihren eignen Schatten wirft. Die Versuchs- 
person wird gefragt, ob das richtig oder falsch gezeichnet sei, und dann, 
worin das Falsche oder Widersinnige bestehe. Rossolimo hat für die 
beiden Serien drei verschiedne Arten von Bildern, je nachdem es sich um 
Kinder, um gebildete oder um ungebildete Erwachsene handelt. Um eine 
Idee von den Bildern zu geben, lassen wir diejenigen mit widersinnigem 
Inhalt für Kinder folgen: 1. Drei Männer ziehen einen Wagen, worin ein 
Pferd sitzt. 2. Eine Dame liest ein Buch mit verbundenen Augen, wobei 
über die Binde eine Brille gesetzt ist. 3. Eine Landschaft beleuchtet von 
Sonne und Mond zugleich. 4. Ein Jäger mit einer Flinte auf dem Rücken 
läuft einem Hasen nach. 5. Eine Kuh schreitet über einen Bach auf 
einem dünnen, runden Steg. 6. Ein Buchhalter spitzt eine Gansfeder mit 
einem großen Beil. 7. Im Dorf ist alles außer den Dächern mit Schnee 
bedeckt. 8. Ein Knabe sitzt auf der Lehne eines Stuhles. 9. Ein Papier- 
drachen hält sich in der Luft trotz einer Krähe darauf. 10. Ein kahl- 
köpfiger Mann kämmt sein nicht existierendes Haar. 

Für die Prüfung der Kombinationsfähigkeit sind 3 Serien von 
10 Tests vorgesehen. 

Die erste bietet gewöhnliche Bilder, die in immer kompliziertere 
Teile zerlegt sind und von der Versuchsperson wieder zusammengesetzt 
werden müssen. Die 1. Figur ist in 2 Teile, die letzte in 9 ganz un- 
regelmäßige Teile zerlegt. 

Dieselbe Operation wird an 10 geometrischen Figuren, die von 
steigender Schwierigkeit sind, vorgenommen. 

Endlich werden aus kleinen Quadraten und Dreiecken Figuren nach- 
gebildet, die der Versuchsperson vorgelegt werden. 

Eine eigne Untersuchung ist dem mechanischen Sinn gewidmet. 
Hier erhält man bei Versuchspersonen gewisser Kreise manchmal günstige 
Resultate, während sie in den anderen Prüfungen versagen. Individuen, 
die ein wenig am Rande der Gesellschaft leben, zeigen oft überraschende 
Findigkeit für kleine mechanische Spielereien. 

Rossolimo hat 10 solcher Tests zusammengesetzt. So sind 3 Metall- 
stäbchen an einem Ring aufgehängt, und die Versuchsperson wird auf- 
gefordert, die Stäbchen vertikal auf den Tisch zu stellen. Ein Schloß 
mit beweglicher Scheibe ist zu öffnen. Verschiedne Arten von mannig- 
faltig gebogenen Drähten enthalten Ringe, welche durch einen kleinen 
Kunstgriff zu entfernen sind usw. 

Die Prüfung der Einbildungskraft erfolgt mit Zeichnungen, welche 
unvollendet sind und ergänzt werden müssen. Es sind: 1. Ein Tischrand 
mit einem Fuß. 2. Ein Haus. 3. Ein Menschenkopf. 4. Ein Kreuz. 
5. Ein Hund. 6. Ein Baum. 7. Eine Kirche. 8. Ein Knabe, der einen 
Karren zieht. 9. Das Wort: Nachtigall, von dem uur 5 Buchstaben ge- 
boten werden. 10. Der Satz: Wenn der Morgen — die grünen — deckt, 
glänzt das Glas wie S--b-r. 


468 B. Mitteilungen. 





Es ist zu bemerken, daß diese Figuren teilweise eine zu schwere 
Aufgabe bieten, da die gezeigten Striche nicht eindeutig genug sind. Aber 
die Idee der Tests ist eine vorzügliche. 

Eine letzte Prüfung bezieht sich auf die Beobachtungsfähigkeit. 
Es werden 10 Tafeln mit Zeichnungen dargeboten. Beispielsweise ist 
auf einer derselben ein Dampfer im Meere sichtbar, das Wasser schäumt 
vor und hinter dem Dampfer. Die Versuchsperson wird gefragt, ob er 
in Bewegung sei. Oder es werden zwei Tische gezeigt, die vollkommen 
gleich sind, von denen aber der eine zwei, der andere nur eine Schieb- 
lade besitzt. Man fragt die Versuchsperson, wodurch sich die beiden 
Tische unterscheiden. Die anderen Tafeln enthalten ähnliche Zeichnungen. 

Das ist das Material, dessen sich die Rossolimosche Methode bedient. 

Die Verwertung desselben für die Berechnung des Profils zeigt ge- 
wisse Eigentümlichkeiten. 

Jeder Serie von 10 Experimenten entspricht ein Feld von 10 kleinen 
Quadraten, in welche jedesmal durch ein + oder — Zeichen vermerkt 
wird, ob das Experiment gelang. Rechnet man nachher die Summe der 
richtigen Antworten für jedes Bild zusammen, und verbindet die End- 
punkte der so entstandenen ÖOrdinaten, so erhält man eine Kurve, die 
einen wirklichen Durchschnitt durch die untersuchten geistigen Fähigkeiten 
darstellt. 

Um einen rechnerischen Ausdruck dieses Profils zu gewinnen, bedient 
sich Rossolimo einer Formel, welche durch Zusammenfassung verschiedner 
Einzelfähigkeiten entsteht. So wird die Durchschnittszahl der gelungenen 
Experimente für Aufmerksamkeit und Willen berechnet. Eine zweite 
Durchschnittszahl umfaßt alle Gruppen der Merkfähigkeit und des Ge- 
dächtnisses. Eine dritte endlich gibt die Durchschnittshöhe der 5 Asso- 
ziationsprozesse, die als Auffassung, Kombinationsfähigkeit, Findigkeit, Ein- 
bildungskraft und Beobachtungsfähigkeit einzeln untersucht worden sind. 
Dazu fügt Rossolimo noch den Prozentsatz der Vergeßlichkeit und be- 
rechnet dann das Gesamtprofil d. h. die Durchschnittshöhe aller auf- 
gezeichneten ÖOrdinaten, so daß beispielsweise der zahlenmäßige Ausdruck 
des Profils von einem Falle progressiver Paralyse, den Rossolimo unter- 
sucht hat, sich folgendermaßen darstellt: 

P 4,1 = (14 +47 + 4,7) + 61,1%. 

Fügt man noch hinzu, daß nach den Berechnungen Rossolimos die 
Profile 1 bis 4 von Stumpfsinn und Imbezillität verschiednen Grades 
zeugen, während die Profile von 4 bis 6 hauptsächlich der Debilität ent- 
sprechen und diejenigen über 6 dem normalen Typus angehören, untersucht 
man dann weiter das Verhältnis der einzelnen Gruppen von Fähigkeiten 
zueinander, so erkennt man, welche Bequemlichkeit der Beurteilung die 
geschilderte Methode bieten kann. Natürlich muß man sich hüten, ihr 
unbedingten Wert zuzuschreiben, aber im Verein mit anderen Faktoren 
der Beurteilung darf sie als sehr zuverlässig bezeichnet werden. 

Deshalb ist es wünschenswert, daß sie weiter bekannt werde — 
welchem Zweck die vorliegende Darstellung derselben dienen soll — und 
daß andere Forscher sie erproben, bezw. auf etwaige Mängel aufmerksam 


2. Drei Originalbriefe eines ehemaligen jugendlichen Gefangenen. 469 





machen. Rossolimo hat schon selbst durch Kürzung der Experimente 
einem berechtigten Einwand zu begegnen gesucht. Wir werden demnächst 
von Untersuchungen mit einem noch weiter vereinfachten Verfahren be- 
richten, das aber alle wesentlichen Punkte der Rossolimoschen Methode 
beibehält. Vielleicht ergibt sich aus dem Vergleich mit weiteren Prüfungen 
der Methode, die etwa noch von anderen Forschern angestellt werden, 
eine definitive Serie von Tests, die eine entschiedene Bereicherung der 
Methodik der Intelligenzprüfungen bilden würden. 


2. Drei Originalbriefe eines ehemaligen jugendlichen 
Gefangenen. 
Ein Beitrag zu dem Kapitel »Neurasthenische Depressionszustände«. 


Von K. Kruppa, Lehrer an der Königl. Landesstrafanstaft Bautzen. 


Um ein möglichst vollständiges Bild des jungen Mannes zu geben, 
dessen Person im Mittelpunkte folgender Skizze stehen wird, schicke ich 
einige Bemerkungen voraus. 

Im Alter von 16 Jahren wurde Fritz B. in die Landesstrafanstalt zur 
Verbüßung einer Strafe von 6 Monaten und 2 Wochen wegen Unter- 
schlagung, Diebstahls und Betrugs von Leipzig aus eingeliefert. Er war 
Kaufmannslehrling und hatte mehrere Bezirksschulen und die Fortbildungs- 
schule besucht. Vom Gericht wurde er als »sehr leichtfertig, zu Ver- 
gehen wider fremdes Eigentum geneigt« bezeichnet. Der Vater war ver- 
schollen, die Mutter verstorben. Eine jüngere und eine ältere Schwester 
standen ihm vollkommen fremd gegenüber, da die Geschwister getrennt 
erzogen worden waren. In seinem eigenhändigen Lebenslaufe berichtet er: 

»Ich, Hermann Fritz B., bin geboren am .... zu Berlin. Mein Vater 
heißt Max B. und war von Beruf Schlosser. Meine Mutter heißt Emilie B. 
geborene P. Ich habe noch 2 Schwestern. 

Ich kam Ostern 18.. in die... Bezirksschule zu Leipzig. Als ich 
11 Jahre alt war, starb meine Mntter. Mein Vater gab uns 3 Geschwister 
in Pflege. Kurz darauf verschwand er plötzlich, ließ uns im Stich und 
ist seitdem verschollen. Von da ab sorgte das Armenamt für uns. Ich 
kam nun zu Herrn Schneidermeister ... in... Diese guten Leute er- 
setzten mir die Eltern in vollstem Maße. Hier blieb ich, bis ich Ostern 19.. 
meine achtjährige Schulzeit beendet hatte und entlassen wurde Nach 
meiner Konfirmation kam ich in die Lehre zu dem Kaufmann Herrm ... 
Hier genoß ich unter Anleitung meines Lehrchefs eine vollseitige und 
gründliche Ausbildung. Ich war sowohl im Kontor als auch im Lager 
tätig. Mein Chef sagte mir auch, daß ich später bei ihm bleiben und einst 
Prokurist der Firma werden könne. Aber mein unverzeihlicher, großer 
Leichtsinn machte mir einen Strich durch meine Karriere. Dies trug sich 
folgendermaßen zu: 

Schon während meiner Schulzeit, als ich noch bei meinen Pflege- 
eltern in B. war, verliebte ich mich in ein Mädchen namens Helene ... 
Solange ich noch in B. war, konnte ich sie jeden Tag sehen. Als ich 


470 B. Mitteilungen. 





aber nach Leipzig kam und sie daher nur sehr wenig sehen konnte, wurde 
ich manchmal arbeitsunlustig, mißmutig und melancholisch. Je älter ich 
aber wurde, um so größer wurde meine Liebe. In letzter Zeit konnte ich 
aber diesen Zustand nicht mehr länger ertragen, entweder mußte ich sie 
mehr sehen, das ging nicht, oder ich mußte versuchen, sie zu vergessen. 
Letzteres tat ich. Am 20. Juli faßte ich den unheilvollen Entschluß, 
Herrn ... (seinem Prinzipal) 600 M zu entwenden, nach Amerika zu 
fliehen, mich dort in die Arbeit zu stürzen und versuchen, sie zu ver- 
gessen. Dies führte ich auch aus. Ich entwendete Herrn ... 600 M 
und fuhr nach Hamburg. Hier scheiterte mein Plan. Ich bekam keine 
Fahrkarte, weil ich keinerlei Legitimationen hatte. Ich war vollständig 
geknickt. Ich wollte nun solange umherirren, bis das Geld alle war und 
mich dann erschießen. Letzteres tat ich aber nicht; einesteils wollte ich 
gern noch leben, andernteils wollte ich wieder gut machen, was ich ge- 
sündigt hatte. — Ich stellte mich der Behörde. — 

Jetzt habe ich Zeit genug gehabt, über meine Tat nachzudenken. Ich 
bereue sie von ganzem Herzen und gelobe Gott, ein besserer Mensch zu 
werden. 

Hermann Fritz B.« 


Als ich beim ersten Zellenbesuche auf seinen Lebenslauf zu sprechen 
kam, äußerte er unter anderm: »Zum Erschießen fehlte mir die Courage.« 
Er hatte in Magdeburg bereits einen Revolver gekauft, fuhr dann planlos 
umher, schlief in Hotels, aß in Automaten und besuchte die Theater. 
Nachdem er noch 8 Tage in der Sächsischen Schweiz verbracht hatte, 
stellte er sich in Dresden der Behörde. Nach dem Grunde seiner Hand- 
lungen befragt, erwähnt er u. a. außer der »unglücklichen Liebe«: »Es ist 
eben viel überreizte Phantasie dabei.« 

Mein erstes Urteil über ihn lautete damals: Leidliche Kenntnisse — 
scheint Reue zu empfinden — gebe die Hoffnung noch nicht ganz auf, 
wenn seine Straftat auch recht raffiniert ausgeführt wurde. Sein Verhalten 
nach der Tat zeigt ihn als einen recht unreifen, fast kindischen Menschen. 

Als er die Strafanstalt verließ, lautete mein Urteil über ihn: 

B. ist gut begabt, aber auffallend faselig. Er ist äußerst schwer zu 
behandeln und leicht zu verletzen; leicht verzagt, vielleicht auch etwaigen 
Versuchungen gegenüber noch willensschwach, aber sonst recht dankbar, 
sobald er die erziehende Liebe in seiner Behandlung fühlt; mehr mit 
väterlich ernsten Worten zu erziehen, als durch barsches und schroffes 
Wesen. Man ist geneigt, sein ganzes Vorgehen und besonders die Gründe 
hierzu (»unglückliche Liebe«) wie auch die Absicht, sich das Leben nehmen 
zu wollen, als eine krankhafte Störung anzusehen, die, in der Pubertät be- 
gründet, als »Jugendirreseine zu bezeichnen wäre. Damit ist der Hoffnung 
Raum gegeben, daß B. nach glücklicher Überwindung jenes Alters ein ganz 
brauchbarer Mensch werden wird. 1) 





1) Vergl. hierzu K. Kruppa, »Flegeljahre und Pubertätszeit als Ursachen der 
Kriminalität Jugendlicher.« Diese Zeitschrift Jg. XIV, 8. 


2. Drei Originalbriefe eines ehemaligen jugendlichen Gefangenen. 471 


Bei seiner Entlassung im März 1908 gab das zuständige Armenamt 
den B. nicht in eine Erziehungsanstalt, sondern er wurde in Rücksicht 
auf seine Eigenart durch freundliche Vermittelung des Fürsorgevereins 
für Strafentlassene und im Einverständnisse mit dem Armenamte erneut 
zu einem Kaufmann in die Lehre gegeben, der sich des jungen Burschen 
ganz besonders anzunehmen versprach. Leider mißglückte der Versuch, 
B. auf diese Weise wieder in geordnete Verhältnisse zu bringen durch 
dessen eigne Schuld. Im August gelangte eine Mitteilung hierher, daß B. 
ohne Grund Ende Juli seine Stellung verlassen habe. B. hatte 18 M zur 
Post befördern sollen, war aber nicht in seine Lehrstelle zurückgekehrt. 

Von diesem Zeitpunkte ab fehlte jede Nachricht über B. Plötzlich 
erhielt ich, fast 4 Jahre später, folgenden Brief: 


Leipzig, den 9. Mai 1912. 
Hochverehrter Herr Kruppa! 


Als ich Ihnen kurz vor meiner Entlassung aus der dortigen Straf- 
anstalt (März 1908) in die Hand versprach, Sie über meine jeweiligen 
Fortschritte draußen im Leben auf dem Laufenden zu erhalten, meinte ich 
es wirklich Ernst damit. Als ich jedoch in Leipzig nach monatelangem 
Streben nichts weiter als eine armselige Adressenschreiber-Stellung er- 
reicht hatte, schämte ich mich, Ihnen (das heißt meiner Ansicht nach) 
nichts Erfreuliches mitteilen zu können. Deshalb verschob ich die Er- 
füllung meines Versprechens von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, bis 
die Angelegenheit schließlich — Gott seis geklagt! — ganz in den 
Hintergrund trat. i 

Wenn ich jetzt nach langen Jahren meinem Versprechen nachzukommen 
versuche, geschieht es, weil während dieser ganzen Zeit, in Perioden voller 
Entbehrungen, in Augenblicken, wo ich Grund hatte, an einem jemaligen 
Entrinnen aus solch unwürdigen, degradierenden Verhältnissen, zu zweifeln, 
mir mehr als einmal Ihre Ermahnungen in den Sinn kamen und schließ- 
lich den Wunsch rege werden ließen, Ihnen, sei es auf die Gefahr hin, 
von Ihnen verachtet zu werden (obwohl ich im innersten Herzen hoffe, Sie 
werden es nicht tun), in Gestalt eines ausführlichen Briefes einmal einen 
vollen Einblick in mein Leben, von dem Zeitpunkt an, der mich nach 
meinem ersten Fehltritt wieder der Außenwelt zurückgab, zu gewähren, 
und es Ihnen dann anheimzustellen, sich für mein weiteres Geschick zu 
interessieren, in welchem Falle ich Ihnen anvertrauen müßte, daß Sie einen 
großen Einfluß auf dasselbe besitzen würden, oder aber mich als ein Ihrer 
Beachtung nicht mehr würdiges Subjekt aus Ihrem Gesichts- und Ge- 
dankenkreis zu verbannen. 

Lassen Sie mich denn beginnen: Am 8. März 1908 in Bautzen ent- 
lassen, fuhr ich, meiner Instruktion gemäß, nach Leipzig, wurde dort von 
der »Innern Mission« aufgenommen und der Schreibstube zuerteilt. Nach 
und nach bekam ich durch deren Verwendung kurze Aushilfsstellen bei 
kaufmännischen Firmen, u. a. auch bei .... Dort unterschlug ich im Juli 
desselben Jahres ca. 50 M, fuhr, durch einen jungen heruntergekommenen 
Kaufmann überredet — und hauptsächlich von ihm zu der Geschichte 


472 B. Mitteilungen. 





verleitet — mit ihm nach Berlin. Das Geld war bald aufgezehrt. Da er 
jedoch in Berlin Verwandte besaß, gelang es ihm, von Ihnen 25 M zu er- 
halten, mit deren Hilfe wir nach Hamburg fuhren. Als dort das letzte 
Geldstück ausgegeben war, verkaufte ich meine Uhr. Zwei Tage darauf 
wieder ohne Geld dastehend, machte er mir den Vorschlag, den Lebens- 
unterhalt durch Betteln zu erwerben. — Noch jetzt verfluche ich diesen 
Augenblick, da ich seit dieser Zeit immer mit halbem Fuße auf der Land- 
straße stand; wollte Gott, ich hätte niemals dieses Vagabundenleben kennen 
gelernt, vielleicht stände ich jetzt besser da! — 

Da mir nichts weiter übrig blieb, mußte ich mich dazu bequemen. 
Er instruierte mich nun dahin: Ich müßte mich an alle kaufmännischen 
Geschäfte wenden, dort als stellenloser Kaufmann vorstellig werden und 
eine kleine Barunterstützung zu erhalten suchen. — Und so lernte ich 
das Betteln! Am 1. Tage brachte ich 35 Pf. zusammen, am 2. zirka 1M 
und so ging es weiter. — Eines Tages blieb mein Reisegefährte aus und 
seit dieser Zeit war er verschollen. Wie ich später erfuhr, hatte er sich 
einer Zechprellerei schuldig gemacht und mußte deshalb eine mehrwöchent- 
liche Gefängnisstrafe verbüßen. 

Von Hamburg wandte ich mich wieder nach Berlin, erhielt schließlich 
Beschäftigung und verbesserte mich nach und nach, bis ich eine Stellung 
mit 90 M monatlich erhielt. Das war im Januar 1909. Nach kurzer 
Zeit bemächtigte sich jedoch meiner eine immer mehr anwachsende Un- 
ruhe und Mutlosigkeit, die ihreu Grund darin fand, daß ich zu bemerken 
glaubte, man fände meine Arbeit zu leichtfertig und ungenügend ausgeführt. 
Dies führte schließlich so weit, daß ich mich hinreißen ließ, Anfang März 
die Stelle Knall und Fall aufzugeben und gleichzeitig die Portokasse, 
welche ca. 200 M enthielt, mitzunehmen. 

Mein nächstes Ziel war London. Acht Tage später war ich dort, 
wirtschaftete mit dem Gelde etwa 6 Wochen, suchte dann Beschäftigung, 
fand keine und sank schließlich so weit, daß ich die Gäste des boarding- 
house, in welchem ich logierte, in ihren Zimmern bestahl und die Sachen 
auf dem Leihhause versetzte. Dies führte in wenigen Tagen zu meiner 
Verhaftung. Vom dortigen Gerichtshof zu 1 Jahr Gefängnis verurteilt, 
verbüßte ich diese Strafe zu Brixton b. London, wurde dann nach Berlin 
ausgeliefert und dort wegen meiner da begangenen Unredlichkeiten mit 
9 Monaten Gefängnis bestraft. Am .... 1911 aus der Anstalt Tegel 
b. Berlin entlassen, fuhr ich wieder nach Leipzig, nahm, da ich keine feste 
Stellung finden konnte, Beschäftigung bei einem Adressenverlag an und 
blieb dort 8 Wochen. Später wandte ich mich zunächst nach Hamburg, 
mich dort 4 Wochen aufhaltend und auch da Adressen schreibend, dann 
nach Hannover, Braunschweig, Magdeburg, Brandenburg, Berlin. — — 
Im Juli (nachdem ich bis dahin nochmals vergebliche Anstrengungen ge- 
macht, wieder in geordnete Verhältnisse zu gelangen) fuhr ich zurück 
nach Leipzig, schrieb wieder 2 Monate lang Adressen bei einem jeweiligen 
Verdienste von 8—12 M in der Woche, bis ich schließlich, dieses Lebens 
herzlich müde, beschloß, im Ausland mein Heil zu versuchen. Größtenteils 
zu Fuß reisend, gelangte ich nach Aachen. Dort glückte es mir, eine 


2. Drei Originalbriefe eines ehemaligen jugendlichen Gefangenen. 473 











Hausdienerstelle mit 30 M monatlich neben freier Station zu erhalten. 
Einen Monat hielt ich es aus, dann, erneut von der Reiselust gepackt, 
machte ich Schluß und fuhr nach Antwerpen. Das war im Anfang des 
Oktober 1911. 

Ich hatte die Absicht, von Antwerpen aus Gelegenheit zur kosten- 
losen Überfahrt nach London zu suchen. Da ich jedoch am Ende des 
Monats immer noch kein befriedigendes Resultat zeitigen konnte, beschloß 
ich, in Gesellschaft eines verlodderten ungarischen Journalisten zu Fuß 
nach Calais zu wandern und dort auf irgend eine Weise die Überfahrt 
nach London via Dover zu ermöglichen zu suchen. Wir passierten Gent, 
Brügge, Ostende, Dünkirchen und langten 8 Tage später in Calais an. 
Dort erwiesen sich jedoch alle aufgestellten Bemühungen als erfolglos, und 
mein Gefährte, entmutigt, schrieb nach Hause um Geld, um wieder nach 
seiner Heimat zu können. Ich trennte mich dann von ihm und schlug 
allein die Richtung nach Paris ein. 8 Tage später, 300 km hinter mir, 
langte ich dort an. — Während der 3 Wochen nun, die ich in Paris ver- 
blieb, habe ich die härtesten Zeiten in meinem bisherigen Leben auskosten 
müssen. Tagsüber von Weißbrot, daß ich in den Bäckereien erbettelte, 
existierend, war ich froh, während der Nacht in einer Kaschemme für 
4 sous auf Bänken übernachten zu können. Schließlich, durch Entbehrungen 
jeder Art von der Bewunderung für dieses moderne Babylon geheilt, 
wandte ich Paris den Rücken und kehrte nach der deutschen Grenze 
zurück, welche ich ohne ernstliche Hindernisse (einmal wurde ich allerdings 
in Sedan wegen Mittellosigkeit aufgegriffen und mit 6 Tagen Haft bedacht) 
Ende November erreichte. 

8 Tage später war ich wieder in Leipzig, suchte und erhielt Be- 
schäftigung als Adressenschreiber und vegetierte in dieser Weise in den 
Tag hinein. Heute bin ich noch keinen Schritt vorwärts gekommen. Wie 
lange ich verdammt sein soll, unter diesen Verhältnissen mein Leben zu 
fristen, weiß ich nicht. — 

Die Ursache aber all dieses Übels, der Umstand, der es vermochte, 
meine Willenskraft und Beständigkeit bis zu diesem Minimalpunkte zu redu- 
zieren, ist — — —- (kein Mensch hat es bisher erfahren, aber Sie, der Sie 
die Tragweite dieses Lasters zu beurteilen verstehen, sollen es wissen) die 
niedrige Leidenschaft unreiner Phantasie, die Onanie! — Sie hat mir zu- 
erst die Achtung vor mir selbst benommen, den Ehrgeiz, das Vorwärts- 
streben in mir erstickt und mich schließlich des teuersten Gutes, das der 
Mensch besitzt, der Gesundheit, bereits teilweise beraubt! 

Das Übrige kann man sich leicht denken: Willen- und haltlos, wie 
ich war, vermochte ich es nicht, mir durch Ausdauer und Beharrlichkeit 
eine geordnete geachtete Existenz zu erringen, die Lust und Liebe zum 
Heimstudium, das mir vordem solche Befriedigung gab, schwand; anstatt 
vorwärts zu kommen, sank ich statt dessen tiefer und tiefer. — — 

Wenn es nun ein Mensch vermag, mir aus diesem Elend zu helfen, 
sind es sicher nur Sie, Herr K.! Dadurch, daß Sie während der Zeit, die 
ich in Bautzen verweilen mußte, solch warmes Interesse an den Tag legten 
und nicht zugeben wollten, daß die Verderbtheit bei mir bereits alle guten 


Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 31 


474 B. Mitteilungen. 








Keime erstickt habe, machten Sie mich zu Ihrem ergebenen Sklaven! Ihr 
Wort soll mir jetzt Befehl sein! Darum, wenn Ihr Mitgefühl für meine 
Lage stärker ist als die Verachtung, die Sie gerechterweise angesichts der 
hier angeführten Tatsachen für mich empfinden müßten, raten Sie mir, 
helfen Sie mir! Zeigen Sie mir den Weg, der mich langsam aber sicher 
diesem moralischen und sittlichen Schlamme enthebt und mir meine Selbst- 
achtung wiedergibt! Dadurch würden Sie mich zu Ihrem ewigen Schuldner 
machen, mir aber auch gleichzeitig die Möglichkeit geben, die Hoffnungen, 
die einst von verschiedenen Seiten auf mich gesetzt wurden, wenigstens 
noch zum Teil zu verwirklichen! 
Fritz B. 
Leipzig, .... straße 1277. 


Ich muß bekennen, daß mich noch niemals ein Brief eines früheren 
Gefangenen so erschüttert hat wie der vorstehende. Darum versuchte 
ich auch mit aller mir zu Gebote stehenden Überredungskunst, B. dahin 
zn bringen, zuerst wieder einmal an sich selbst glauben zu lernen, und 
riet ihm, vor allem den Müßiggang, die Landstreicherei zu lassen und 
ernstlich zu arbeiten, ganz gleich, was es für Arbeit sei. Er solle ver- 
suchen, wenigstens einmal 1 Woche lang sich zu beherrschen und die 
Onanie zu lassen. Ich vermied es ängstlich, etwa die Meinung in ihm 
aufkommen zu lassen, daß ich ihn wegen seiner Vergangenheit verachte, 
riet ihm kalte Waschungen und fleißiges Turnen, bezw. Freiübungen und 
forderte ihn auf, mir nach 1 Woche mitzuteilen, ob es ihm gelungen sei, 
sich aufzuraffen; er solle aber auch dann schreiben, wenn dies nicht hätte 
gelingen wollen. Ganz besonders ging mein Schreiben darauf aus, den 
Willen zu stärken und ihm eine gewisse Beruhigung über seinen Zustand 
zu suggerieren; denn daß ich es hier mit einer psychischen Erkrankung 
zu tun hatte, war mir sofort klar. (Schluß folgt.) 


3. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers 
»Grundzüge der erzieherischen Behandlung sittlich 
gefährdeter und entgleister Mädchen in Anstalten 
und Familien«.!) 
Von Fr. Bergold, Hamburg (Waisenhaus). 


Einleitung. 


In seinem Hefte: »Grundzüge der erzieherischen Behandlung usw.« 
versucht Dr. Hammer, bestehende Mängel und Fehler der Fürsorge- 
erziehungs- und Anstaltspraxis klarzulegen und Vorschläge zur Abstellung 
derselben zu erbringen. 


1) Sonderabdruck aus Dr. Ziegelroths »Archiv für physikalisch -diätetische 
Therapie«. Nur zu wissenschaftlichen und Berufszwecken zu beziehen ausschließ- 
lich durch den Verfasser, Rixdorf-Berlin, Weserstraße 9 pt., Kommissionsverlag 
Max Richter, Frankfurt (Oder), Buschmühlenweg 98. IV und 127 Seiten. 


3. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammer. 475 


Solches Unternehmen wäre anzuerkennen, wenn ihm für seinen 
kritischen und wissenschaftlichen Teil Wahrheit und Wirklichkeit zugrunde 
lägen, und wenn esin bezug auf die gemachten Vorschläge beachtenswerte 
Neuerungsgedanken schaffte. Dieses kann meines Erachtens jedoch von 
der Hammerschen Arbeit nicht gesagt werden. 

L Hammer ergeht sich für die Kritik an den bestehenden Fürsorge- 
erziehungseinrichtungen in schweren und schwersten Anschuldigungen und 
Verdächtigungen sowohl gegen die Fürsorgeerziehungs-, als auch gegen 
die Anstaltspraxis. Er macht sich ein weit verbreitetes Vorurteil gegen 
die Anstalten zunutze und erhebt auf Grund eines unbewiesenen Materials 
seine Anklagen, wodurch er das Ansehen und die Interessen einer staat- 
lichen Einrichtung und deren Institute schwer schädigt. 

I. Hammers Ausführungen über das Sexualleben des Menschen, wie 
dasselbe sich in seinen Äußerungen und in seinen Beziehungen zur Außen- 
welt zeigt, widersprechen in wesentlichen Punkten sowohl der allgemeinen 
Erfahrung als auch den Darbietungen anerkannter Fachleute. Sie können 
insoweit auf keinen Fall für die praktische Erziehung Geltung haben. 

“ IN. Hammers Vorschläge zur Vervollständigung der Fürsorgeerziehungs- 
und Anstaltspraxis stehen in keinem solchen Verhältnis zur Größe des 
Fürsorgeerziehungswerkes, daß sie auf besondere Beachtung, geschweige 
denn auf den Titel »Grundzüge«, Anspruch erheben könnten. 

Hammers erzieherischen Hinweise sind zum größten Teil allbekannt 
und in der Praxis längst verwirklicht, während andererseits die Zweck- 
mäßigkeit und die Möglichkeit der Durchführung einiger anderer Vor- 
schläge bezweifelt werden muß. Seine Prügelmethode spricht dem Stande 
der heutigen Erziehungspraxis einfach Hohn. Sie ist auf das entschiedenste 
zu verurteilen. 

Es lohnte sich nicht, auf die Details der Hammerschen Ausführungen 
einzugehen, wenn nicht ein eminenter Schade von den Anstalten abzu- 
wehren und nachzuweisen wäre, daß die Hammersche Arbeit die an- 
gegebenen Mängel wirklich hat. 


I. Fürsorge- und Anstaltserziehung. 


Wie bereits erwähnt, ergeht Hammer sich in schweren und schwersten 
Anschuldigungen sowohl gegen die Fürsorgeerziehungs- als auch gegen 
die Anstaltspraxis. Unter der Überschrift: »Bedenken gegen die Aus- 
dehnung der staatlich überwachten Erziehung über das 14. Lebensjahr 
hinaus« zählt Hammer verschiedene Punkte auf, mit welchen er die Frage 
beantworten will, ob »überhaupt die Fürsorgeerziehung an sich in der zurzeit 
beliebten Ausdehnung überwiegend nützlich oder überwiegend schädlich ist«. 


Punkt 1. 

»Daß für Eltern, denen das Erziehungsrecht aberkannt wurde, ein 
Vormund einzutreten hat bis zum Alter der Mündigkeit, dürfte un- 
bestritten sein. 

Neu an den Fürsorgeerziehungseinrichtungen ist hingegen das Ein- 
setzen der staatlich überwachten Erziehung selbst dort, wo den Eltern 

31* 


476 B. Mitteilungen. 





nicht nachgewiesen wird, daß sie ihren Pflichten in geringerem Grade 
nachkommen als Durchschnittseltern. Die Erziehungshaft wird selbst gegen 
den Willen pflichttreuer Eltern z. B. über Mädchen verhängt, die als ge- 
fährdet gelten, wenn die Behörde die Überzeugung gewann, daß die völlige 
sittliche Verwahrlosung droht.« 

Hierzu ist zu bemerken, daß das Recht und die Pflicht der Ent- 
scheidung über Unterbringung eines Minderjährigen in Fürsorgeerziehungs- 
»haft« (!) den Behörden von Gesetzes wegen zusteht. Wenn auch niemand 
die Behörden in ihren Entscheidungen für unfehlbar halten wird (die erste 
Ursache zu einem eventuellen Fehlurteil dürfte jedoch fast immer anderswo 
liegen), so kann man doch überzeugt sein, daß dieselben ihr Urteil nach 
bestem Wissen fällen, eventuell steht den Angehörigen der Zöglinge das 
Beschwerderecht zu. Welches Interesse sollte auch eine Behörde daran 
haben, genügend versorgte Kinder in staatliche Erziehung zu nehmen? 
So dürfte das Recht sowohl der Eltern, als auch der Kinder gegen das 
Fürsorgeerziehungsgesetz in jeder Weise ausreichend gesichert sein, auch 
der Eltern, denen »nicht nachgewiesen wird, daß sie ihren Pflichten in 
geringerem Grade nachkommen als Durchschnittseltern«. Im übrigen 
jedoch hat die Behörde unbekümmert um den Wert oder Unwert der 
Eltern über deren Kind die Fürsorgeerziehung auszusprechen, wenn der 
Tatbestand der drohenden oder vollendeten Verwahrlosung des Kindes vor- 
liegt und die Eltern nicht imstande sind, die Voraussetzungen für die 
Fürsorgeerziehung zu verhindern. Ich erinnere nur an die sogenannten 
»aus der Art geschlagenen« Kinder. Und ferner, wer sollte bestimmen, 
welche Eltern für rechtschaffen anzusehen sind und welche nicht? Die 
Eltern selbst und vorzüglich die verkommensten dürften sich meistens für 
»rechtschaffen« ausgeben und gegen die Fürsorgeerziehung ihres »guten 
Kindes« protestieren. 

Noch eine andere Erwägung spricht gegen die Ansicht Hammers den 
Zeitpunkt der Verhängung der Fürsorgeerziehung betreffend. Letztere soll 
in Fällen drohender Verwahrlosung vorbeugend wirken, d. h. die völlige 
Verwahrlosung des Jugendlichen verhüten. . Sie hat also einzutreten, ehe 
der Jugendliche z. B. sich schwererer Vergehen schuldig machte. Dieses 
Moment ist jedoch für Hammer anscheinend bedeutungslos, denn er sieht 
in der Aufnahme in Fürsorgeerziehung nur die zwangsweise zum Zwecke 
der Bestrafung erfolgte Inhaftierung eines Jugendlichen, die gerechterweise 
nur nach vollbrachten Gesetzeswidrigkeiten eintreten könne (daher auch 
seine Verteidigung der der Prostitution zuneigenden und in Fürsorge- 
erziehung genommenen Minderjährigen, die sich keines Vergehens schuldig 
machten (?), sondern nur Handlungen begingen, »die bei älteren Mädchen 
nicht nur geduldet, sondern sogar polizeilich als Teil eines anerkannten 
Gewerbes beaufsichtigt werden«). Mit solcher Ansicht versetzt Hammer 
der praktischen Erfahrung, die den Brunnen zugedeckt wissen will, ehe 
das Kind hineinfällt, einen harten Schlag ins Gesicht. Sollte Hammer 
wirklich noch nichts von den so häufigen Klagen gehört haben, daß die 
Fürsorgeerziehung leider oft zu spät kommt? 

Aber die besprochene Maßregel der Behörde ist es eigentlich auch 





3. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammer. 477 





nicht, gegen welche Hammer sich wendet, sein Pfeil gilt vielmehr den 
ausführenden Organen der Fürsorgeerziehung, den Anstalten. 
Punkt 2. 

»An sich wäre gegen eine solche Maßregel (die eben besprochene) 
nichts einzuwenden (nämlich eben erst hat’s Hammer getan!), wenn es 
feststünde, daß die Erziehungshaftanstalten und die mit der Nacherziehung 
betrauten Familien nicht selbst oft statt eine bessernde, eine ver- 
schlechternde Umgebung darstellten. 

Das steht meines Erachtens aber nicht fest.« 

Trotz der diplomatischen Redewendung: »es steht nicht fest, daß« 
geht unverkennbar aus dem Gesagten scharf und spitz hervor, daß Hammer 
in den Erziehungs»haft«anstalten eine verschlechternde Umgebung für die 
Fürsorgezöglinge erblickt. Er hält offenbar die Gefahr für so groß, daß 
er nicht einmal der Möglichkeit gedenkt, daß die Anstalten in einigen 
Fällen (eine andere Statistik redet von 50—80°/,) vielleicht doch eine 
»bessernde Umgebung« für gefährdete und entgleiste Jugendliche bilden 
könnten. Doch dieser Gedanke kann Hammer schon nicht kommen, denn 


Punkt 3. 
»Wenn eine einzige Berliner Anstalt in einem Jahre 3 (!) von 
50 Pflegevätern wegen Unzucht mit der Pflegetochter — dem in 


Familienpflege gegebenen Fürsorgemädchen — zur Anzeige bringen mußte, 
so könnte man einwenden, es habe vorläufig an guten Herrschaften ge- 
fehlt, und 3 Pflegeväter, die sich am eigenen Pflegekinde vergriffen, seien 
gegenüber den 47 anderen nicht allzusehr in den Vordergrund zu stellen.« 

Bis Hammer das gerichtliche Urteil über die zur Anzeige gebrachten 
Familienväter zur Kenntnis bringt, erübrigt sich eine Betrachtung dieser 
3 Fälle. Nur sei mir gestattet, ein Gegenstück (von mehreren) dazu 
vorzubringen. : 

Der Zahnarzt einer großen staatlichen Anstalt wurde zur Anzeige ge- 
bracht und in gerichtliche Untersuchungshaft genommen, weil er sich an 
einem ihm zur Behandlung übergebenen Fürsorgemädchen (17 Tahre alt) 
in sexueller Beziehung schwer vergangen haben sollte. Das Gericht aber 
stellte fest, daß, wie das Mädchen später selbst zugab, die ganze An- 
schuldigung frei erfunden war. Ist Hammer über die Regungen und 
Äußerungen des menschlichen Sexualtriebes so wenig orientiert, daß ihm 
die häufig zu beobachtende Sucht heranreifender und besonders krankhaft 
gestörter Menschen (hysterischer), andere an ihnen begangener sexueller 
Attentate zu beschuldigen, etwas ganz Unbekanntes ist? Besonders wir 
Anstaltsmenschen stehen fast beständig in der Gefahr, ein Opfer böser 
Verleumdung zu werden. 

Doch Hammer erblickt die ganze Schuld an solchen Vorkommnissen 
in dem Aufenthalte der Kinder in den Anstalten. Die bezüglichen Er- 
fahrungen im alltäglichen Leben nicht beachtend, sagt Hammer: 

Punkt 4. 

»Weiterhin wird die Frage nicht zu umgehen sein, welche Kräfte 
den Entartungen des Liebestriebes entgegengestellt werden sollen, wenn 
die Elternliebe nur aus der Ferne einwirken kann, und ob eine durch 


478 B. Mitteilungen. 





und durch gleichgeschlechtlich entartete Umgebung nicht noch viel 
schlimmer wirkt, als selbst der Unzuchtbetrieb gewerbsmäßiger Freuden- 
mädchen.« 

Die Antwort auf die hier zuerst aufgeworfene Frage nach den 
Kräften, die in der Anstaltserziehung wirksam sein sollen, lautet: Andere 
und vollkommenere Kräfte, als Hammer sie später in Vorschlag bringt! 
Die zweite Frage kommt einer schmählichen Verleumdung gleich. Rechnet 
denn Hammer unsere Anstaltserzieher für nichts, daß er von einer »durch 
und durch gleichgeschlechtlich entarteten Umgebung« spricht? Die Unter- 
ordnung der Erziehungsanstalten unter den »Unzuchtsbestrieb gewerbs- 
mäßiger Freudenmädchen« aber ist zu beleidigend und nackt, als daß man 
daran noch rühren sollte. 

Und doch soll allen und allem Gerechtigkeit widerfahren. Gelingt 
es Hammer, den Wahrheitsbeweis für seine Behauptungen zu erbringen, 
dann ist es an der Zeit, »die Brutstätten der gleichgeschlechtlichen Ent- 
artung«e für immer zu schließen. Im anderen Falle jedoch könnte es 
nicht scharf genug verurteilt werden, daß Hammer die mannigfach treu 
und erfolgreich geleistete Anstaltsarbeit in den Schmutz zieht und eine 
große Wohlfahrtseinrichtung zum Gespött macht. (Forts. folgt.) 


4. Zeitgeschichtliches. 


Karl Andreae, Privatdozent für Pädagogik an der Universität München 
und Dozent für Theorie und Geschichte der Pädagogik an der Technischen Hoch- 
schule, ist im Alter von 72 Jahren gestorben (Mai 1913). 

Eine Panama-Pacific International Exposition soll 1915 in San Francisco 
stattfinden. Für die Veranstaltung von Kongressen usw. ist ein besonderes Komitee 
unter Leitung von James A. Barr, Secretary California Teachers’ Association, ge- 
bildet. Geplant ist von diesem auch ein Internationaler Kongreß für Er- 
ziehung, zu dem bereits vorbereitende Schritte unternommen wurden. 

Die Deutsche Landeskommission für Kinderschutz und Jugend- 
fürsorge in Mähren hat ein eigenes Sekretariat unter Leitung von Fräulein 
Margarethe Roller in Brünn eingerichtet. 

Eine Erste Österreichische Schul- und Reform-Kinogesellschaft 
wurde in Wien gegründet. Sie hat bereits ein Kinematographentheater in Wien 
eröffnet, um so dem Kinoschund wirksam entgegenzutreten. 

An den Ausbildungskursen für Jugendpfleger nahmen im Jahre 1912 
22139 Personen teil, darunter 11755 Lehrer und 2804 Lehrerinnen, sowie 227 Schul- 
aufsichtsbeamte und 686 Geistliche. 

Stiftungen, Schenkungen usw.: Für die Barmer Kinderhorte 
7000 Mark; für ein Kinderheim in Jebenhausen (Württemberg) 45000 Mark; 
für ein Erholungsheim für unbemittelte Kinder in Crimmitschau 
25000 Mark; für Ferienkolonien in Pforzheim 10000 Mark; für ein Jugend- 
heim in Zeitz 150000 Mark; für die Kinderheilanstalt Hannover 5000 Mark, 
für die Kinderheilanstalt zu Salzdetfurth 5000 Mark, für die Erziehungs- 
anstalt zu Godesheim 5000 M, für das Krüppelheim zu Bischofswerder 
5000 Mark, alle von demselben Stifter; für ein Kinderheim in Düsseldorf 
180000 Mark; zur Pflege hilfsbedürftiger Kinder und Augenkranker in 
München 100000 Mark. Die Stadtverordneten von Gelsenkirchen beschlossen 
zum Regierungsjubiläum des Kaisers zum Bau von drei Turnhallen an Volks- 
schulen und zum Ausbau bestehender und zu errichtender Spielplätze 230000 M. 
zu stiften. Der Provinzialausschuß der Provinz Schleswig-Holstein stiftete 


4. Zeitgeschichtliches. 479 





aus gleichem Anlaß 100000 Mark zur Errichtung einer Heilanstalt für tuber- 
kulös erkrankte Kinder auf der Insel Föhr. 

Eine landwirtschaftliche Ausbildungsanstalt für Fürsorgezöglinge 
(etwa 200) soll auf dem städtischen Gute Struveshof bei Großbeeren bei Berlin 
errichtet werden. 

In Gembloux (Belgien) wurde eine landwirtschaftliche Schule für 
mißhandelte Kinder (Ferme école Jules le Leune) eingerichtet, die neben 
körperlicher Ertüchtigung auch die Festigung ans Land (Vorbeugung der Landflucht) 
im Auge hat. 

Schulärztliche Beaufsichtigung für alle höheren Schulen ist in 
Sachsen-Weimar-Eisenach eingeführt. 

Ausdehnung der schulärztlichen Untersuchungen auf die Fort- 
bildungsschüler ist in Meiningen beschlossen. 

Die städtische Schulzahnklinik in Leipzig ist erweitert worden, so daß 
nunmehr auch die dem Pfleg- und Jugendfürsorgeamt unterstellten Kinder, ins- 
besondere Zieh- und Waisenkinder, die noch nicht schulpflichtig sind, unent- 
geltlich behandelt werden können (Bekanntmachung des Pfleg- und Jugendfürsorge- 
amts vom 28. März 1913). 

Dem schulärztlichen Bericht der Stadt Berlin für das Schuljahr 1911/12 
ist zu entnehmen, daß von den Schulanfängern 9,720/ wegen einstweiliger Schul- 
untauglichkeit zurückgestellt wurden. 21,220), der Gemeindeschulkinder standen 
unter schulärztlicher Überwachung, darunter der größte Teil wegen ungenügenden 
Körperzustandes. 

Wir entnehmen dem Jahresbericht des Reform-Realgymnasiums zu 
Kiel über das Schuljahr 1912, erstattet vom Direktor Dr. Harnisch, folgende An- 
gaben: »Nach den Grundsätzen, die für die häusliche Erziehung maßgebend sind, 
genossen: 

















Alkohol Koffein 
(Bier, Wein u. dergl.) | (Bohnenkaffee, Tee) 


gewohn-| ge- 
heits- |legent- gar 
lich | ®® 







Altersstufe 











Vorklassen 0 
Unterklassen 0 
Mittelklassen 0 69 
Oberklassen 0 


Die alkoholfrei erzogenen Schüler erhielten zu Ostern 1911 um 5 Prozent günstigere - 
Versetzungsergebnisse.« 

Über die Durchführung der Fürsorgeerziehung in der Stadt Leipzig 
im Jahre 1912 liegt uns ein sechs Seiten umfassender auszugsweiser Bericht des 
Pfleg- und Jugendfürsorgeamtes vor. Danach ist der Bestand an Fürsorgezöglingen 
von 723 zu Ende 1911 auf 900 zu Ende 1912 gestiegen oder von 12,05 auf 14,73 
berechnet auf je 10000 Einwohner. 

Im Verlag von Gustav Fischer-Jena wird zu Anfang 1914 ein von dem 
Hamburger Schularzt Dr. Moritz Fürst herausgegebenes »Jahrbuch der Schul- 
gesundheitspflege« erscheinen. 

Wir entnehmen dem »Jahresbericht der Deutschen Dichter-Gedächt- 
nis-Stiftung für das Jahr 1912« (Hamburg-Großborstel, 1913. 28 Seiten) 
folgende Angaben: Die Gesamtzahl der Mitglieder hat sich auf 9259 vermehrt. In 
den Jahren 1903 bis 1912 wurden 374 verschiedene Bücher in 534020 Exemplaren 
und im Gesamtladenpreis von 608 837,83 Mark an Volksbibliotheken verteilt. Heraus- 





480 C. Zeitschriftenschau. 


gegeben wurden von der Stiftung bis Ende 1912 insgesamt 1725000 Bände. Die 
Ausstellung gegen die Schundliteratur wurde bisher in 61 Städten gezeigt. 
Wörtlich heißt es: »Leider deuten viele Anzeichen darauf hin, daß die Schund- 
literatur allen Gegenmaßregeln zum Trotz noch keineswegs weit genug zurückgedrängt 
worden ist. Ihr Gewand ist häufig ein anderes, gewissermaßen verschämteres ge- 
worden, ihr Leserkreis hat sich aber nicht genügend verringert. Die Stiftung hat 
die Absicht, dieser neuen Entwickelung der Schundliteratur wahrscheinlich schon 
im nächsten Jahre ihr Augenmerk zuzuwenden« (S. 16). Schon um dieser Be- 
strebungen willen sei die Mitgliedschaft allen Lesern empfohlen (Jahresbeitrag 2 Mark). 


C. Zeitschriftenschau. 


Anormalenpädagogik. 
Tatsachen. 
Kluge, Schwachsinn (Idiotie, Imbezillität). Zeitschrift für Krüppelfürsorge. 6, 1 
(Februar 1913), S. 35—49. 

Referat über den gegenwärtigen Stand an der Hand von 52 Publikationen nach 
übersichtlicher Anordnung. 

Kellner, Die mongoloide Idiotie. Münch. Med. Wochenschrift. 60, 14 (8. April 
1913), S. 746—748. 

In den Alsterdorfer Anstalten finden sich zurzeit 10 Mongoloiden, von denen 
einige Fälle beschrieben werden. Sämtliche 10 Fälle sind Mikro-Brachycephalen 
sie sind in der Körpergröße zurückgeblieben (Mindermaß im Mittel 10,8°/,). Die 
Behandlung ist aussichtslos. An dem Mangel, die Aufmerksamkeit zu konzentrieren, 
scheitern auch die Bemühungen, die an sich schon geringen Geisteskräfte weiter 
auszubilden. Eigen ist dem Mongoloiden ein großes Nachahmungsvermögen auf- 
fallender und komischer Gebärden. Nach Ansicht des Verfassers ist der Mongolis- 
mus in der städtischen wie in der ländlichen Bevölkerung im Zunehmen begriffen. 
Bartsch, Karl, Woran erkennt man den Schwachsinn im Kindesalter? Päda- 

gogisch-psychologische Studien. 14, 3/4, 1913, 8. 12—13. 

Der Verfasser zählt alle möglichen Erkennungszeichen auf, die zum Teil kaum 
oder doch sehr wenig zuverlässig sind. Derartig kurze Arbeiten über so wichtige 
Fragen haben notgedrungen immer viel Mangelhaftes an sich. 

Peters, Amos W., Feeble mindedness as a constitutional anomaly. The Training 
School. X, 1 (March 1913), S. 1—5. 

Die Arbeit soll darlegen, daß es notwendig ist, dem Begriff konstitutionelle 
Anomalie einen konkreten Inhalt zu geben und die Tatsachen, welche die Anormalität 
bedingen, genau zu umgrenzen. Peters schließt sich in seinen Überlegungen wesent- 
lich an deutsche Autoren (Krehl, Mathes, Reichardt) an. Die konstitutionelle 
Anomalie ist erworben oder in den meisten Fällen ererbt, Die Untersuchungen 
darüber sind noch im Gange. 

Wilker, Karl, Über Alkoholismus, Schwachsinn, Vererbung. Eos. 9, 1 (Januar 
1913), S. 1—9. 

Das Interesse des Pädagogen an den Problemen der Vererbung ist ein sehr 
großes. — Für die Schädigung der Nachkommenschaft durch elterlichen Alkoholismus 
ergeben sich nach Schweighofer drei ganz bestimmte Grundtypen, die an der Hand 
von Diagrammen erläutert werden (zunehmende Verschlechterung, Erholung, Misch- 


C. Zeitschriftenschau. 481 


form). Um der drohenden Degenerätion entgegenzuwirken, ist vor allem Erziehung 
der heranwachsenden Generation zu völlig enthaltsamer Lebensweise notwendig. 


Flaig, Alkohol und Epilepsie. Die Alkoholfrage. IX, 1, 1913, S. 58—59. 

Referat über eine Arbeit E. Hermann Müllers (1910), der ein Epileptiker- 
material von 847 Fällen zugrunde lag. Die Resultate werden in der von Müller ge- 
gebenen Zusammenfassung mitgeteilt. Bemerkt sei, daß die Zeugungskurve der 
Epileptiker einen ähnlichen Verlauf aufweist wie die Schwachsinnigenzeugungskurve 
Bezzolas. Alkoholische Heredität wurde viermal häufiger angegeben als die durch 
Epilepsie. 

Kutschera, Adolf, Gegen die Wasserätiologie des Kropfes und des Kretinismus. 
Münch. Med. Wochenschrift. 60, 8 (25. Februar 1913), S. 393—398. 

Als kretinische Degeneration faßt der Autor alles, »was im Endemiegebiete an 
körperlicher und geistiger Entwicklungshemmung durch die kretinogene Schädlichkeit 
verursacht wird«. Bei den Müttern kretinischer Kinder findet man fast immer den 
Kropf (fehlt er bei der Mutter, so findet er sich sicher beim Vater oder andern 
Hausgenossen). Der Kretinismus stellt sich als eine ausgesprochene Familienkrank- 
heit dar. Unter 1466 kretinischen Kindern Steiermarks fand K. 611 = 41,7°/, Ge- 
schwister, die auf 232 Familien verteilt waren; in Tirol und Vorarlberg fanden sich 
unter 426 Kretinen 232 — über 50°/, Geschwister. Um die Kinder vor dem 
Kretinismus zu bewahren, genügt eine Versetzung in ein kropf- und kretinenfreies 
Nachbarhaus. Durch einzelne Fälle wird das Vorkommen von Kropf und Kretinismus 
in bestimmten Wohnungsgemeinschaften deutlich beleuchtet. Auch Kropfepidemien 
beruhen nie auf Wassergemeinschaft, sondern auf Wohnungsgemeinschaft (sie treten 
z. B. in den höheren Schulklassen verbreiteter auf als in den unteren, bei Mädchen 
stärker als bei Knaben, was die Lehrer durch den innigeren Zusammenhang, 
häufiges Küssen usw. erklärten). Möglich ist auch Übertragung durch einen 
Zwischenwirt. 

Biesalski, K., Die spastische Lähmung im Kindesalter und ihre Behandlung. 
Deutsche Med. Wochenschrift. 39, 15 (10. April 1913), S. 699—702. 
Besprechung der Hemiplegien und Diplegien und ihrer Behandlung. 


Schoug, Carl, Die Länge der Inkubationszeit bei der akuten Kinderlähmung (Heine- 
Medinschen Krankheit). Deutsche Med. Wochenschrift. 39%, 11 (13. März 
1913), S. 493—494. 

Für einige beobachtete Fälle kann die Inkubationszeit zu etwa 4 Tagen an- 
gesetzt werden. Der Ansteckungsstoff dürfte wahrscheinlich direkt (z. B. durch 
Mund- oder Nasensekret) übertragen worden sein. (Es käme sonst noch Übertragung 
durch blutsaugende Tiere in Betracht.) 


Lewy, J., Angeborene Skoliosen. Deutsche Med. Wochenschrift. 39. 12 (20. März 
1913), S. 558—559. 

Angeborene Skoliosen sind durchaus nicht so selten, wie noch bis vor kurzem 
angenommen wurde. L. erörtert die ätiologischen Momente und bespricht an der 
Hand von Abbildungen 2 Fälle näher, in denen durch Röntgenaufnahme ein Keil- 
wirbel festgestellt wurde. Anzuwenden sind die bei Skoliosen üblichen therapeuti- 
schen Maßnahmen. Die Aussicht auf Erfolg ist gering. Operative Eingriffe sind 
nicht angebracht. 

Kanngießer, Friedrich, Hat die Blutsverwandtschaft der Eheleute einen schäd- 
lichen Einfluß auf die Gesundheit der Nachkommen? Münch. Med. Wochenschrift. 
60, 14 (8. April 1913), S. 762—763. 


482 C. Zeitechriftenschau. 


Es fanden sich unter den Nachkommen 
sehr schlecht Sehende Taubstumnmó 


Geistesschwache oder Blinde 
nicht blutsverwandter Ehen . 4°, 05% 19/0 
blutsverwandter Ehen . . . 94% 3,19%, 1,9%, 


Die Aussichten, geistesschwache, blinde und taubstumme Kinder zu bekommen, 
sind in blutsverwandten Ehen entschieden größer als in nicht blutsverwandten. Das 
Eingehen blutsverwandter Ehen hält der Verfasser für ein gefährliches Beginnen, 
nicht für rasseveredelnd, wie das andere Autoren getan haben. 

Strohmayer, Wilhelm, Zur Inzuchtfrage. Deutsche Med. Wochenschrift. 39, 19 
(8. Mai 1913), S. 900—902. 

Als praktische Konsequenz ergibt sich aus den kritischen Erörterungen Stroh- 
mayers: »Will man also sichergehen, so heiratet man, wenn man ein geisteskrankes 
Elter oder Geschwister hat, nicht einen Partner, der in denselben Schuhen steckt. 
Daß Paarungen innerhalb der Blutsverwandtschaft, wo diese Klippen alle viel ge- 
fährlicher sind, besser zu meiden sind, versteht sich von selbst.« 

Hegar, August, Beitrag zur Frage der Sterilisierung aus rassehygienischen Gründen. 
Münch. Med. Wochenschrift. 60, 5 (4. Februar 1913), S. 243—247. 

Auf Grund des von ihm untersuchten und durchgesehenen Materials kommt 
Hegar zu der Ansicht, daß eine wesentliche Reinigung des Volkes und Verringerung 
der Zahl der Gefängnis- und Irrenanstaltsinsassen durch Sterilisation geisteskranker 
Rechtsbrecher nicht zu erwarten ist. Die beste Gelegenheit zu wirklich wirksamer 
Sterilisation böte sich bei den Zwangszöglingen. Die Arbeit enthält verschiedene 
Krankengeschichten zu dem Vorgebrachten. 

Geelhaar, A., Fürsorge für Taubstummblinde Die Hilfsschule. 6, 1 (Januar 
1913), S. 23—24. 

Es gibt in Preußen etwa 223, in Deutschland etwa 500 Taubstummblinde. Die 
erste Anstalt für sie wurde vor 20 Jahren begründet (Oberlinhaus in Nowawes bei 
Potsdam; zurzeit 30 Zöglinge beiderlei Geschlechts). Die Taubstummblinden ver- 
tragen keine großen Anstrengungen. Der Unterricht in einem Fach währt daheı 
jeweils höchstens 25 Minuten. 

Steiner, M., Bildungsgang eines taubblinden Mädchens. Blätter für Taubstummen- 
bildung. 26, 6 (15. März 1913), S. 88—91. 

Abdruck des Aufsatzes aus der »Zeitschrift für Kinderforschung«, Jg. 18, 5, 
S. 217—221. Ohne Quellenangabe. 

Radomski, Statistik von 1910. Blätter für Taubstummenbildung. 26, 5 (1. März 
1913), S. 75—77. 

Am 1. Dezember 1910 wurden in Preußen 34804 Taubstumme gezählt. Die 
relativen Zahlen der Taubstummen aus verschiedenen Ländern werden verglichen, 
Die meisten Taubstummen finden sich in Gegenden, wo angeborener Blödsinn und 
Kretinismus heimisch sind und wo epidemische Gehirn- und Kinderkrankheiten zu 
herrschen pflegen. 

Effelberger, J., Zahl der Klassen und Schülerzahl der einzelnen Klassen. Blätter 
für Taubstummenbildung. 26, 6 (15. März 1913), S. 82—88. 

Umfangreiche Statistik. Die Durchschnittsschülerzahl der Taubstummenklassen 
beträgt in Deutschland (1912) 10. Dazu eine Berichtigung in Nr. 8 vom 15. April 1913. 
Clerckx, Enquöte sur l’ötat d’arriöration des élèves dans les écoles primaires du 

canton de Molenbeek-Saint-Jean. Les Annales Pödologiques. IV, 2 (Janvier 1913), 
S. 34—47. 


D. Literatur. 483 








Man hat die Zahl der zurückgebliebenen Kinder für Belgien auf 10—15/, be- 
ziffert. Diese Untersuchung, die 13212 Stadtschüler und 6575 Landschüler in Be- 
tracht zieht, reduziert diese Angabe auf etwa 3°/,. Als Gründe für das Zurück- 
bleiben werden aufgeführt: unregelmäßiger Schulbesuch, geistige Schwäche, körper- 
liche Schwäche, sensorischer Defekt. 


Thomson, Emil, Aufmerksamkeit. Pädagogischer Anzeiger für Rußland. 5, 1 
(20. Januar 1913), S. 1—6. 

Der Verfasser wendet sich an Hand bekannter Veröffentlichungen gegen die 
Anmaßung, ein Urteil über die Aufmerksamkeit zu fällen, wo Hilfe nötig ist. Er 
bedauert lebhaft, daß der Schularzt nicht schon längst Glied der Lehrerkonferenz 
ist und fast noch nirgends sein Amt als Hauptamt verwaltet. 


Büttner, Georg, Fingerzeige für so manches eigenartige Verhalten, für so 
manches plötzliche Verändertsein von Kindern. Evangelisches Schulblatt. 57, 2 
(Februar 1913), S. 73—77. 

Der Verfasser will durch kurze allgemein - verständlich gehaltene Hinweise 
zeigen, wie wichtig es ist, bei plötzlich einsetzender Wesensveränderung von Kindern 
das Augenmerk auf die Kinder selbst, auf ihre körperliche Disposition und Ver- 
fassung zu richten. Besonders betont wird der Einfluß krankhafter Erscheinungen 
auf die Psyche. 

Kirmsse, M., Talentierte Schwachsinnige mit besonderer Berücksichtigung des 
Berners Gottfried Mind (Katzenraffael. Heilpädagogische Schul- und Eltern- 
zeitung. 4, 1 (Januar 1913), S. 9—17. 

Aus dem Bericht über die VIII. schweizerische Konferenz für Erziehung und 
Pflege Geistesschwacher in Bern. — Neben den Aufzeichnungen über Mind (mit 
2 Bildern) finden sich Notizen über die schwachsinnigen Talente im allgemeinen. 
The story of Elise. The Training School. X, 1 (March 1913), S. 5—9. 


Kirk, Eva L., The story of Duncan. The Training School. X, 1 (March 1913), 
Ss. 12—13. 
Beides Krankheitsgeschichten von in Vineland eingelieferten Kindern. 


D. Literatur. 





Lay, W. A. Psychologie nebst Logik und Erkenntnistheorie. Gotha, 
E. F. Thienemann, 1912. VIII und 219 Seiten. Preis geh. 3,50 M., geb. 4M. 
Das vorliegende Buch ist bestimmt, als Leitfaden für den Unterricht an Lehrer- 
seminarien zu dienen. Es hat dem Verfasser Gelegenheit gegeben, eine Reihe von 
Mängeln zu beseitigen, die diesem Unterricht bisher anhafteten, und seine eigenen 
psychologischen und pädagogischen Grundsätze zur Anwendung zu bringen. 

Der Hauptteil des Buches ist mit Recht der Psychologie gewidmet. Lay 
geht von der Grundvoraussetzung aus, die er auch schon in seinen früheren Werken 
vertreten hat, daß der psychische Grundprozeß die bewußte Reaktion ist, d. h. die 
Trieb- und Willenshandlung, so wie der fundamentalste biologische Vorgang die 
Reaktion in der Form des Reflexes ist. Alle sogenannten psychischen Elemente 
sind nur Teilvorgänge der bewußten Reaktion. Diese »biologische« Auffassung der 
Seelenvorgäuge ist charakteristisch für alle folgenden Einzelbetrachtungen. 


484 D. Literatur. 





Als Glieder des psychischen Grundprozesses werden angeführt: Die Wahr- 
nehmung, die geistige Verarbeitung, die Darstellung. 

Unter dem ersten dieser Begriffe werden die Daten der Sinnesphysiologie und 
-psychologie behandelt. Die geistige Verarbeitung umfaßt die Phänomene der Vor- 
stellung, der Apperzeption, der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses, der Phantasie 
und des Verstandes. Der etwas ungewöhnliche Ausdruck der Darstellung bezeichnet 
das dritte Glied des psychischen Grundprozesses insofern es der Ausdruck, die Dar- 
stellung der vorausgehenden geistigen Verarbeitung ist. Da dieser Ausdruck be- 
sonders leicht und stark durch Gefühlselemente hervorgerufen wird, werden die Ge- 
fühls- und die verwandten Willensphänomene unter dem genannten Begriff zu- 
sammengefaßt. 

In der Behandlung der einzelnen Fragen zeigt sich die spezielle pädagogische 
Methode, welche Lay im Unterricht zur Anwendung gebracht wissen will. Er geht 
immer von der direkten Beobachtung eines seelischen Vorganges aus, nicht mehr 
von Beispielen, die der Literatur entlehnt sind, wie eine große Anzahl von Lehr- 
büchern der Psychologie es zur Veranschaulichung der Begriffe zu tun pflegte, 
sondern, nach der Art Meßmers in seinem bekannten Lehrbuch, ruft auch Lay bei 
seinen Schülern den psychischen Vorgang hervor, den er behandeln will, und läßt 
dann durch selbsttätige Beobachtung die Beschreibung desselben machen. Daneben 
zieht er die Resultate der experimentellen Forschung zur Erweiterung der Auffassung 
herbei und stellt in eignen Kapiteln die Forschungen der Kinderpsychologie und Psycho- 
pathologie sowie die Nutzanwendungen für die pädagogische Psychologie zusammen. 

Wenn auch nicht jeder einzelne Punkt in diesen für den Lernbedarf zu- 
geschnittenen Zusammenstellungen einwandfrei ist, und wenn dabei die Gefahr nicht 
ganz vermieden ist, den Lernenden eine Art kompendienartiges Wissen zu über- 
mitteln, so ist doch die Methode in ihren wesentlichen Zügen sehr empfehlenswert 
und zeugt von großem pädagogischen Geschick, so daß bei Richtigstellung gewisser 
Ungenauigkeiten das Buch dem Ziele wohl entsprechen wird, das es sich gestellt hat. 

Weniger befriedigen die umrißartigen Bemerkungen, die unter der Rubrik: 
Logik und Erkenntnislehre geboten werden. Bei der Behandlung des Urteils, des 
Begriffes und des Schlusses zeigt der Verfasser allerdings eine gut durchdachte und 
geschlossene Auffassung. Aber einzelne Kapitel, wie z. B. dasjenige von den Trug- 
schlüssen, wünschte man doch weiter ausgedehnt zu sehen. Die historischen Be- 
merkungen über das Grundproblem der Erkenntnistheorie sind sodann kaum geeignet, 
dem Schüler ein Bild von der Bedeutung und der Entwicklung des Problems zu 
geben. Auch hier ;wäre eine Erweiterung der Darstellung am Platze, die zudem 
gewisse, durch die allzuknappe Fassung hervorgerufene Ungenauigkeiten heben würde. 

Aber das sind Einzelheiten, die bei einer Neuauflage Berücksichtigung finden 
können; die Anlage des ganzen Buches und die angewandte Methode scheinen uns 
eine brauchbare Grundlage für den philosophischen Unterricht an Lehrerseminarien 
zu bilden. 

Luxemburg. N. Braunshausen. 


Abb, Edmund, Pädagogische Psychologie. München, Heinrich Hugendubel, 
1913. 215 Seiten. Preis ? M. 

Ein neues Lehrbuch für den Unterricht in der Psychologie, insofern diese als 
Grundlage der Pädagogik dient. Der Verfasser will, auf den Resultaten der modernen 
Forschung aufbauend, »ein festgefügtes psychologisches und pädagogisches Wissen 
geben«. Er behandelt die psychischen Elemente, die zusammengesetzten psychischen 
Gebilde, das sekundäre Bewußtseinsleben, das Willensleben, das Gefühlsleben, das 


D. Literatur. 485 





psychische Erleben als solches, das Denken, und bespricht dann etwas eingehender 
die pädagogischen Begriffe des Interesses, der Übung und der individualen Typen. 

Die Erkenntnisphänomene überhaupt werden dabei etwas schematisch abge- 
fertigt. Der Leser erhält kaum eine Ahnung von dem reichen Material, das die 
psychologische Forschung auf diesem Gebiet angehäuft hat. 

Aber die Gefühls- und Willenselemente, die einen relativ größeren Raum ein- 
nehmen, als bei dem Gesamtumfang zu erwarten gewesen wäre, haben eine ein- 
dringliche und sehr anerkennenswerte Darstellung gefunden. Hier begnügt sich der 
Verfasser nicht mit kurzen, zusammenfassenden Sätzen, sondern er trägt liebevoll 
viele interessante Beobachtungen herbei, die er anschaulich vorführt und als Grund- 
lage für sehr vernünftige pädagogische Schlußfolgerungen verwertet. Die Arbeiten 
von Meumann sind hier vielfach auf sehr geschickte Weise herangezogen. 

Mit Recht wendet sich unseres Erachtens der Verfasser gegen die Annahme 
sogenannter psychischer Spuren zur Erklärung der Reproduktion. Von einer psychi- 
schen Spur kann nur in bildlichem Sinne gesprochen werden. Allerdings nennt 
man diese Spur gewöhnlich Disposition, aber der Begriff ist doch nach Analogie mit 
der physiologischen Spur gebildet, und darum trifft auch hier die Kritik teilweise zu. 

Weniger können wir es billigen, wenn sich Abb für die Ablehnung der Theorie 
des Unbewußten entscheidet. Seine Kritik ist eine rein terminolugische und es ge- 
nügt, den gebräuchlicheren Namen »Unterbewußtsein« anzuwenden, um die schein- 
bare Schwierigkeit zu heben. Andererseits liegen so viele klinische und experimen- 
telle Beobachtungen für die Tatsächlichkeit des Unterbewußtseins vor, daß es kaum 
angeht, dasselbe einfachhin abzulehnen. 

In einem zweiten Teil läßt Abb einige Proben aus Werken von hervorragenden 
Psychologen der Gegenwart folgen. Von Ebbinghaus-Dürr: Lernen im Ganzen 
und Lernen in Teilen; von Lange: Über Apperzeption; von James-Dürr: Ge- 
wohnheit; von Jodl: Persongefühle; von Meumann: Die geistige Ermüdung; von 
Wundt: Theorie der Hypnose und der Suggestion. 

Mit der Einschränkung, daß die Erkenntnisphänomene etwas zu kurz ge- 
kommen sind, bietet das Buch von Abb viel des Interessanten und Lehrreichen und 
kann als wertvolle Ergänzung neben ähnlichen Handbüchern benutzt werden. 

Luxemburg. N. Braunshausen. 


König, Karl, Der Alkohol in der Schule. Beiträge zur Persönlichkeitsbildung 
für Schule und Haus. Straßburg, Friedrich Bull, 1912. IV und 345 Seiten. 
Preis broschiert 6 M. 

»Die Kampfesfreudigen zu stärken, die Lauen und die teilnahmlos zur Seite 
Stehenden zu erwärmen, allen gangbare Wege zu weisen für die Bekämpfung des 
Alkoholismus in der Schule, das ist die Aufgabe dieser Schrift.« So heißt es im 
Vorwort. Ob der »Schrifte, die zu einem umfangreichen und reichlich teuren 
Buche geworden ist, das gelingen wird, ist eine andere Frage. Leichter wäre es 
ihr vielleicht schon gelungen, wenn sie weniger breit angelegt und ausgeführt wäre, 
so daß man nicht so oft in Versuchung gerät, Seiten zu überschlagen. Und noch 
leichter wäre es ihr wohl gelungen, wenn sie mehr Tatsachenmaterial gebracht 
hätte, das dem Verfasser als Kreisschulinspektor doch aus seinen eigenen Erfahrungen 
auch reichlich zur Verfügung steht. Das bedeutet aber keineswegs, daß ich meine: 
Das Buch hätte noch mehr Zahlenmaterial beibringen müssen. Zahlen bringt es 
mancherlei. Manchmal sind allerdings schon veraltete Statistiken mit herangezogen. 
An anderen Stellen fehlen unerklärlicherweise die Prozentberechnungen (absolute 
Zahlen sind oft wertlos und die Berechnung der relativen Zahlen konnte der Ver- 
fasser seinen Lesern wohl abnehmen). 


486 D. Literatur. 





Auch sonst. läßt das Buch nicht zu rechter Freude kommen, wenigstens den 
nicht, der schon etwas zu Hause ist im Gebiete der Alkoholfrage: die Quellen sind 
bisweilen ungenau angegeben, bisweilen sind sie überhaupt nicht angegeben, bis- 
weilen ist nicht auf sie zurückgegangen und dadurch Falsches untergelaufen (S. 39, 
40, 56, 62, 63, 67, 68, 73, 75, 115, 253, 259, 284). Über das Liebigzitat auf S. 205 ist 
bereits so viel geschrieben, daß es auch König nicht hätte verborgen bleiben dürfen, 
daß sich dieses Zitat nicht benutzen, vielleicht überhaupt nicht halten läßt. U.a. m. 

Eins ist dem Buche nachzurühmen: Der dritte Teil (»Zur Methodik des Alkohol- 
unterrichts«) wird manchem Lehrer gute Dienste leisten. 

Jena. Karl Wilker. 


Jugendpflege im Guttemplerorden 1913. Hamburg, Deutschlands Großloge II 
des I. O. G. T., 1913. 64 Seiten. Preis 50 Pf. 

Heute ist Jugendpflege modern geworden, und Organisationen über Organi- 
sationen werden geschaffen, sie zu betreiben. Der Guttemplerorden bat sich wenig 
um Modernität gekümmert. Er hat seit Jahren treue, stille Jugendarbeit geleistet, 
in die dieses Büchlein dem Außenstehenden einen Einblick gewähren soll. Von 
4 Kinderlogen mit 163 Mitgliedern im Jahre 1899 ist das Jugendwerk auf 550 Jugend- 
verbände mit über 22000 jugendlichen Angehörigen gewachsen. Sicher eine er- 
freuliche Tatsache. Wie die Guttempler sich selbst Arbeitskräfte für ihre Jugend- 
arbeit heranbilden; wie die Wehrlogen, die für die 14- bis 21 jährigen seit 1908 ge- 
schaffen wurden, arbeiten; wie es in einer Jugendloge (für schulpflichtige Kinder 
vom 10. Jahre an) zugeht; was das Jugendwerk für eine einzige Stadt leisten kann 
(Reutlingen); was eine einzelne Persönlichkeit für Erfolge erzielen kann bei be- 
sonders ungünstigen Bedingungen (die abstinente Schule >Jugend« des Lehrers 
A. Hunold in Berge-Borbeck); wie sich die Ferienfürsorge für die Großstadtkinder 
entwickelte; wie die Leibesübungen in den Dienst der alkoholfreien Jugenderziehung 
gestellt wurden — das alles zeigen kurze Schilderungen mitten aus lebensfrischer 
Tätigkeit heraus. Daß verschiedene davon von Lehrern und Lehrerinnen stammen, 
berechtigt zu frohen Hoffnungen auf deren Mitarbeit an einer planmäßigen alkohol- 
freien Jugenderziehung. 

Dem kleinen Hefte wünsche ich einen recht großen Leserkreis, dem es 
Achtung abzwingen möge für eine Arbeit, die heute noch immer von vielen als 
Sonderlingstätigkeit gewürdigt und dementsprechend gering geschätzt wird. 

Jena. Karl Wilker. 


Hastreiter, J, Was jeder junge Mann zur rechten Zeit erfahren sollte, 
München, Ernst Reinhardt, 1912. Vierte Auflage. XIII und 150 Seiten. Preis 
1,80 Mark. 

Es gibt zwei Möglichkeiten für die Beurteilung dieses Buches: entweder lehnt 
man jede Belehrung junger Leute über Geschlechtskrankheiten, deren Prophylaxe 
und Behandlung ab, oder man erkennt eine solche Belehrung als notwendig an. Für 
diesen zweiten Fall ist das vorliegende Buch zu empfehlen, weil es sachlich gehalten 
ist, weil es wissenschaftlich ist, weil es gegen alle Kurpfuscherei, die sich vielleicht 
nirgend so breit macht wie auf dem Gebiete des Geschlechtslebens und seiner 
Krankheiten, scharf Front macht. 

Jena. Karl Wilker. 


Verantwortliche Schriftleitung für Abhandlungen und Mitteilungen: Dir. J Trüper, 
Sophienhöhe b. Jena; für Zeitschriftenschau und Literatur: Dr. Karl Wilker, Jena, 
Weißenburgstraße 27. 





Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 





Verlag von Herrmann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 


Das Seelenleben unserer Kinder 


im vorschulpflichtigen Alter. 


Kinderpsychologische Betrachtungen für Eltern, Lehrer 
und Kinderfreunde. 
Von 
Prof. Dr. Adolf Sellmann. 


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VI und 146 Seiten. Preis 3 M., eleg. geb. 4 M. 


Grundlagen für das Verständnis 


krankhafter Seelenzustände 
(psychopathischer Minderwertigkeiten) 


beim Kinde 
in 30 Vorlesungen. 
Für die Zwecke der Heilpädagogik, Jugendgerichte und Fürsorgeerziehung 


von 


Dr. med. Hermann, 
Anstaltsarzt in Merzig a. d. Saar. 
Mit 5 Tafeln. 


Zweite Auflage. 
XII und 180 Seiten. Preis 3 M., eleg. geb. 4 M. 


Alkoholismus, Schwachsinn und Ver- 
erbung in ihrer Bedeutung für die Schule. 


(Nach dem Manuskript eines am 4. August 1911 in der Internationalen 
Hygiene- Ausstellung zu Dresden gehaltenen Lichtbilder- Vortrages.) 
Von 
Dr. Karl Wilker 


in Jena. 








Mit 3 Tabellen und 2 Figuren im Text, sowie mit 22 Tafeln. 
IV und 33 Seiten. Preis 1 M. 20 Pf. 


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Verlag von Herwann Beyer & Sönse (Beyer & Mans) in Langensalza. 
Encyklopädisches 


Handbuch der Pädagogik. 


Herausgegeben von 
Litt. D. Dr. W. Rein, 
ord. Professor der Pädagogik an der Universität Jena. 


Zweite, erweiterte und verbesserte Auflage. 


Umfaßt 10 Bände à 18 M. 50 Pf. 
und ein Generalregister xum Preise von 4 M. 
Einzelne Teile des ganzen Werkes können nicht abgegeben werden. Der Kauf 
des ersten Bandes oder Halbbandes verpflichtet zur Abnahme der ganzen Encyklopädie. 
Münchener Aligemeine Zeitung 1900, Nr. 179: ». . . Das von Prof. Rein geleitete Unter- 
nehmen kommt einem wirklichen und weitverbreiteten Bedürfnis entgegen. ... Man findet die reich- 
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darf... .« Geh. Hofrat Prof. Dr. Eucken. 


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Dr. Fr. Bartholomäi. 


Neu bearbeitet und mit erläuternden Anmerkungen versehen 
von 
Dr. E. von Sallwürk, 
Geh. Rat, a. o. Mitglied der Akademie der Wissensch. zu Heidelberg. 


1. Band: XII und 456 Seiten. Preis 3 M., eleg. geb. 4 M. 
U. Band: VIII und 467 Seiten. Preis 3 M., eleg. geb. 4 M. 


Handbuch für Jugendpflege. 


Herausgegeben von der 


Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge. 
Schriftleitung: Dr. jur. Fr. Duensing-Berlin. 


Herausgeber und Mitarbeiter des »Handbuchs für Jugendpflege« bieten 
die sichere Gewähr, daß wir es hier mit einer Erscheinung zu tun haben, die 
einer besonderen Anpreisung nicht bedarf. 

Das »Handbuch für Jugendpflege« ist auf 12 bis 15 Lieferungen zu je 
4 Bogen, Lexikonformat, berechnet. Der Preis der Lieferung beträgt 80 Pf. 
Nach Abschluß des Werkes tritt eine Erhöhung des Preises ein. 











Zu beziehen durch jede Buchhandlung. 














Am 1. Oktober 1913 beginnt die 


Zeitschrift für Kinderforschung 


mit besonderer Berücksichtigung 
der pädagogischen Pathologie 


Im Verein mit 


Dr. G. Anton Dr. E. Martinak Chr. Ufer Karl Wilker 


Geh. Med.-Rat u. Prof. o. ö. Prof. d. Philosophie Rektor d. Süd-Mädchen- Dr. phil. 
an der Univ. Halle u. Pädag. a. d. Univ. Graz Mittelschulei. Elberfeld in Jena i. Thür. 


herausgegeben von 


J. Trüper 


Direktor des Erziehungsheims und Jugendsanatoriums auf der Sophienhöhe bei Jena 


ihren neunzehnten Jahrgang. 


Fortan wird monatlich ein Heft im Umfange von 4 Bogen (64 Seiten) 
erscheinen. Der Preis des Jahrgangs wird 6 Mark betragen. 


Langensalza. Hermann Beyer & Söhne 
(Beyer & Mann). 


Wenn die Redaktion und der Verlag der Zeitschrift für Kinder- 
forschung sich entschlossen haben, den Umfang eines jeden Heftes um 
einen vollen Druckbogen zu vermehren, so hat das verschiedene Gründe. 

Die jetzige Zeitschrift für Kinderforschung wurde im Jahre 1896 
gegründet, also in einer Zeit, in der das Studium der Eigenarten des 
Kindes in Deutschland wie in allen anderen Ländern noch etwas neues 
war. Diese Eigenarten näher kennen zu lehren und denen, die sich 
von Berufswegen mit ihnen zu befassen hatten, Pädagogen, Ärzten, 
Juristen, Theologen, einen Meinungsaustausch zu ermöglichen, war ihre 
wesentliche Aufgabe. Ihr Titel 

Die Kinderfehler 
kennzeichnet wohl am besten ihr damaliges Programm. 

Bald aber wurde der Wunsch laut, dieses Programm durch Ein- 
beziehen des normalen Seelenlebens in das Arbeitsgebiet der Zeitschrift 
zu erweitern. Sie wurde also eine 

Zeitschrift für Kinderforschung 
mit besonderer Berücksichtigung der pädagogischen Pathologie. 


Als die erste und einzige Zeitschrift dieser Art hat sie eine weite 
Verbreitung gefunden. Mannigfache Zuschriften an die Redaktion wie 
an den Verlag beweisen, daß sie bei ihren Lesern in hohem Ansehn steht. 

Wenn sie dieses Ansehn wahren will, so liegt darin zugleich die 
Verpflichtung für die Redaktion wie für den Verlag, unermüdlich am 
weiteren Ausbau der Zeitschrift zu arbeiten. 

Zu den Abhandlungen, den Mitteilungen und den Literatur-Be- 
sprechungen wurde eine Zeitschriftenschau gefügt, die sich nicht damit 
begnügte, die für die Leser wichtigen Aufsätze aus verwandten Zeit- 
schriften dem Titel nach anzuführen, sondern die den Lesern mit wenigen 
Worten jeweils den Inhalt und die wesentlichsten Ergebnisse dieser 
Aufsätze bekannt gab, ihnen also einen Überblick über ihr gesamtes 
Arbeitsgebiet bot, wie das in dem Umfange keine andere Zeitschrift bietet. 

Um über aktuelle Tagesfragen, über Kongresse, über wichtige lite- 
rarische Neuerscheinungen möglichst sofort berichten zu können, wurden 
den Mitteilungen zeitgeschichtliche Notizen angefügt, die im neuen 
Jahrgang fortgesetzt und noch weiter ausgebaut werden sollen. 

Zur Erweiterung des Umfanges der Zeitschrift für Kinderforschung 
drängte aber ganz besonders der Umstand, daß bisher viele wertvolle 
umfangreiche Arbeiten eben ihres Umfanges wegen nicht aufgenommen 
werden konnten. Die Zeitschrift für Kinderforschung kann und will 
aber keine Zeitschrift sein, die nur Näschereien, nur »Häppchenkost« 
bietet, wenn das Verlangen danach in unsrer hastenden Zeit auch sehr 
groß sein mag; sie verlangt Leser, die nicht nur lesen, sondern vor 
allem auch arbeiten wollen, und sie betrachtet es als ein gutes Recht 
ihrer Mitarbeiter, daß sie so schreiben dürfen, daß sie, was sie sagen 
wollen, klar und deutlich ausdrücken und sagen können, daß sie in 
die Tiefe gehen können, ohne darum etwa schwer verständlich werden 
zu müssen. 

So wird denn auch die Zeitschrift für Kinderforschung fortan nach 
bestem Vermögen daran mitarbeiten, 

das Seelenleben der Jugend, der normalen wie der anormalen, zu 
erforschen, 

die Ursachen körperlicher wie seelischer Degeneration aufzudecken, 

an der Verbesserung des gesamten Unterrichts- und Erziehungswesens 
durch Anwendung und Verwertung der Ergebnisse wissenschaft- 
licher Forschung mitzuwirken. 

Zur Lösung dieser Aufgaben die besten Kräfte zu gewinnen, wird 
auch fortan das Bemühen der Redaktion sein. 

Wir hoffen, daß unsere Leser die neue Erweiterung unserer Zei- 
schrift mit Freuden begrüßen. Mögen sie zu ihrem Teile dazu beitragen, 
die von uns gemeinschaftlich verfochtenen Ideen zum besten unserer 
Jugend in immer weiteren Kreisen zu Anerkennung zu bringen. 

Jena und Langensalza 

im August 1913. Redaktion und Verlag 
der Zeitschrift für Kinderforschung. 


Aus der Zahl unserer bisherigen Mitarbeiter nennen wir unter andern: 


Konrad Agahd in Rixdorf. 

Dr. Wühelm Ament in Würzburg. 

Luigi Anfosso, Advokat in Fossano (ltalien). 

Lucien Arréat in Paris. 

Dr. Gustav Aschaffenburg, Prof. in Köln. 

Backhausen, Pastor am Stephansstift in 
Hannover. 

Dr. Adolf Baginsky, Direktor des Kaiserin 
Friedrich-Kinderkrankenhauses und Prof. 
an der Universität in Berlin. 

Karl Baldrian, Direktor der Landes-Taub- 
stummenanstalt in Wien. 

Karl Barbier, Taubstummenlehrer 
Frankenthal 

Dr. Bayerthal, Nervenarzt in Worms. 


in 


Fr. Bergold, Lehrer am Waisenhaus 
Hamburg. 

Dr. Oswald Berkhan, Sanitätsrat in Braun- 
schweig 


Dr. L. Bernhard, städtischer Schularzt in 
Berlin. 

Dr. Otto Boodstein, Stadtschulrat in Elber- 
feld. 

Dr. N. Braunshausen, Prof. in Luxemburg. 

W. Carrie, Lehrer in Hamburg. 

Dr. Michael Cohn, Kınderarzt in Berlin. 

A. Damaschke in Berlin. 

Marie Damrow, Leiterin der Schul-Kinder- 
gärten in Charlottenburg. 

O. Danger, Vorsteher der Taubstummen- 
anstalt in Emden. 

Dr. Dannemaun, Privatdozent in Gießen. 

J. Delitsch, Direktor in Plauen. 

Dr. J. Demoor, Brüssel. 

Edwin G. Dexter, Professor an der Uni- 
versität Champaigne (U.S. A.). 

Kurt Walther Dix, Lehrer in Meißen. 

Sigmund Dörr, Lehrer in, Budapest. 

Dr. med. A. Dupont in Ermelo (Holland). 

R. Eyenberger in München. 

Math. Eltes, Direktor in Budapest. 

Max Enderlin, Rektor in Mannheim. 

Dr. Engelhorn, Medizinalrat in Göppingen. 

A. Ensch in Luxemburg. 

Dr. med. Alb. Feuchtwanger in Frankfurt. 

Dr. med. M Fiebig, Schularzt in Jena. 

@. Fischer, Direktor der Blindenanstalt 
in Braunschweig. 

N. Fornelli, Professor der Pädagogik an 
der Universität in Neapel. 

Fr. Frenzel, Leiter der städtischen Hilfs- 
schule in Stolp. 

Dr. Karl Freye in Berlin. 

Gottlieb Friedrich, Gymnasıalprofessor in 
Teschen. 

A. Fuchs, Rektor in Berlin. 

Dr. med. M. Fuhrmann in Hiddesen. 

Dr. med. Y. Fujikawa in Tokio (Japan). 

Dr. P. von Gixyeki, Stadtschulinspektor 
in Berlin. 

Helene Goldbaum in Wien. 

Dr. Manheimer Gommes in Paris. 

Dr. Karl Groos, Universitätsprofessor in 
Gießen. 


| 
| 
| 
| 
| 
| 





H. Grosser, Rektor in Breslau. 

Dr. päd. Maximilan P. E. Grossmann 
in Plainfield (U. S. A.). 

Arno Grundig. Lehrer an der Hilfsscbule 
in Halle. 

Hermann Grünewald, Seminarlehrer in 
Dillenburg. 

Dr. Hermann Gutzmann, 
professor in Berlin. 

J. Chr. Hagen, Direktor in Falstad bei 
Drontheim. 

Dr. phil. Theodor Heller, Direktor der 
Erziehungsanstalt für geistig abnorme 
Kinder in Wien-Grinzing. 

K. Hemprich, Rektor in Freyburg. 

A. Henze, Rektor in Hannover. 


Universitäts- 


| Dr. med. Hermann in Merzig. 


Dr. med. Magnus Hirschfeld, Arzt in 
Charlottenburg. 

Dr. A. Hoffa, Professor in Würzburg. 

Hermann Horrix, Hauptlehrer der Hilfs- 
schule in Düsseldorf. 

Dr. T. Ishikawa, Irrenarzt in Tokio (Japan). 

Dr. phil. Johannes Jaeger, Strafanstalts- 
pfarrer in Amberg. 

Tobie Jonckheere in Brüssel. 

J. Kalpers, Referendar in Lennep. 

Fr. Kemény, Direktor in Budapest. 

Heinrich Kielhorn. Leiter der Hilfsschule 
in Braunschweig. 

Max Kirmsse, Lehrer an der Erziehungs- 
anstalt in Idstein im Taunus. 

Dr. J. L. A. Koch, Direktor der königl. 
Staatsirrenanstalt in Zwiefalten. 

Dr. Ph. Koch in Brüssel. 

Dr. Kohler, Obermedizinalrat in Mügeln. 

Dr. Köhne, Amtsgerichtsrat in Berlin. 


| Friedrieh Kölle, Direktor der schweizeri- 


schen Anstalt für Epileptische in Zürich. 
K. Kölle, Direktor der Anstalt Regensberg- 
Zürich. 
A. König, Seminarlehrer in Altdorf. 

Dr. med. Hermann Krukenberg, Direktor 
des stadt. Krankenhauses in Liegnitz. 
K. Kruppa, Lehrer an der kgl. Landes- 

strafanstalt in Bautzen. 
Carlo von Kügelgen in St. Petersburg. 
Kuhn- Kelly, Präsident und Kinderinspektor 
der gemeinnützigen Gesellschaft in 
St. Gallen. 
Dr. med. A. Kühner in Frankfurt. 
Kulemann, Landgerichtsrat in Bremen. 
Dr. Alois Kunzfeld, Professor in Wien. 
Dr. Adalbert Kupferschmid, dirigierender 
Arzt in Mährisch-Schönberg. 


|! Dr. med. S. Landmann in Fürth. 


R. Lambeck, Rektor a D. in Remscheid- 
Hasten. 


Dr. Leo Langer, Professor in Villach 
(Kärnten) 

Bror Larson, Pastor in Katrineholm 
(Schweden). 


Kurt Lehm in Dresden. 
Fritz Lehmensick, J,ehrer in Jena. 


Dr. Leubuscher, Professor, Geh. Reg.- und | 


Med.-Rat in Meiningen. 

Dr. Ley in Antwerpen. 

Marx Lobsien in Kiel. 

Fritz Loeper, Hauptlehrer an der städti- 
schen Hilfsschule in Barmen. 

Paola Lombroso in Turin. 

Dr. phil. Hermann T. Imkens in Wor- 
cester (U. S. A.). 

Dr. med. Paul Maas in Aachen. 

P. Mac Millan, Direktor des Departement 
of Child Study and Pedagogic Investi- 
gation in Chicago (U. S. A.). 

Dr. bruno Maennel, Rektor in Halle. 

Dr. med. Meltzer, Oberarzt in Waldheim. 

Dr. Bruno Meyer, Professor an der Uni- 
versität in Berlin. 

Dr. Mönkemöller, Oberarzt in Hildesheim. 

William S. Monroe, Professor der Psy- 
chologie und Pädagogik in Westfield 
(U. S. A.). 

Dr. Jules Morel, Chefarzt des Hospice- 
Guislain in Gent, 

W. D. Morrison, Gefängnisprediger in 
London. 

Dr. med. Julius Moses in Mannheim. 

Müller, Regierungsrat in Chemnitz-Alten- 
dorf. 

Dr. Hugo Münsterberg, 
Cambridge (U. S. A.). 
Alexander von Näray-Szabö, Ministerial- 

rat in Budapest. 

Dr. med. Eugen Neter, Kinderarzt in 
Mannheim. 

Dr. Alexander Netschajeff, Professor in 
St. Petersburg. 

Dr. phil. Franz Nietzold, Direktor in 
Dresden. 

Dr. M. Offner, Professor in München. 

Dr. med. A. H. Oort in Rheingeest (Holland). 

Dr. Oppenheim, Professor in Berlin. 

Rosa Oppenheim, Lehrerin in Breslau. 

E. Oppermann, Schulinspektor in Braun- 
schweig. 

Dr. A. Pabst, Direktor des Handarbeits- 
seminars in Leipzig. 

Dr. Peter Petersen in Hamburg. 

J. Pethes, Professor in Czurgo (Ungarn). 

Dr. med. O. Preiss in Elgersburg. 

Plass, Pastor. Direktor des Erziehungs- 
heims am Urban in Zehlendorf. 

Dr. Paul Ranschburg, Direktor des psy- 
cholog. Laboratoriums der kgl. ungari- 
schen heilpäd. Institute in Budapest. 

Dr. Heinrich Reicher, Privatdozent an 
der Universität in Wien. 

Emil Reuschert, Kgl. Taubstummenlehrer 
in Berlin. 

W. Reuschert, Oberlehrer in Straßburg. 

Paul Riemann, Taubstummenlehrer in 
Weißentels. 

Dr. G. von Rohden, Konsistorialrat in 
Spören. Kr. Bitterfeld. 

Dr. med. Römer, Sanitätsrat ın Stuttgart. 

Fr. Rüssel, Lehrer in Hamburg. 

M. Roth, Pastor in Groß-Rosen. 


Professor in 


An Bien 





W. J. Ruttmann in Marktsteft. 

Dr. Karl L. Schaefer, Professor an der 
Universität in Berlin. 

Richard Schauer, Lehrer in Berlin. 

Alwin Schenk, Rektor in Breslau. 

Dr A. Schinz, Privatdozent an der Aka- 
demie in Neufchätel. 

Dr. phil. Hans Schrnidkunz in Berlin- 
Halensee. 

Dr. med. Schmid-Monnard in Halle. 

Dr. pbil, Hugo Schmidt, Direktor 
Hainichen i. S. 

Dr. L. Scholz, dirigierender Arzt der 
Irrenanstalt in Waldbröl. 

H. Schreiber, Lehrer in Würzburg. 

A. J. Schreuder, Direktor des Med.-Päu. 
Instituts in Arnheim (Holland). 

Conrad Schubert, Rektor in Altenburg. 

Eduard Schulze, Lehrer an der Hilfs- 
schule in Halle. 

Rudolf Schulze, Lehrer in Leipzig. 

Schwenk, Direktor der Erzıehungsanstalt 
in Idstein im Taunus. 

R. Seyfert, Schuldirektor in Oelsnitz. 

Martha Silber in Soden-Salmünster. 

Dr. Alfred Sübernagel, Zivilgerichtspräsi- 
dent in Basel, 

en Soennecken, Kommerzienrat in 

nn. 

Dr. Sommer, Prof. a. d. Univ. in Gießen. 

Dr. med. Spanier in Hannover. 

Dr. J. Ssikorsky. Professor in Kiew. 

Dr. Ewald Stier, Stabsarzt in Berlin. 

Strakerjahn, Hauptlehrer in Lübeck. 

Dr. Strohmayer, Privatdozent in Jena. 

Stukenberg, Kreisschulinspektor i. Heppens. 

K. G. Szidon in Budapest. 

P. Thieme, Lehrer in Altenburg 

Dr. Franz von Torday, Oberarzt am 
staatlichen Kinderasyl in Budapest. 

Frederie Tracy, Prof. in Toronto (Canada). 

Dr. Robert Tschudi in Basel. 

Chr. Ufer, Rektor der südstädt. Mittel- 
schule für Mädchen in Elberfeld. 

De Vries in Enschede (Holland). 

Dr. med. F. Warburg in Köln. 

Franz Weigl. Lehrer in München. 

Anton Weiss, Bezirksschulinspektor in 
Braunau. 

Rud. Weiss, Direktor der Hilfsschule in 
Zwickau. 

Eduard Welander, Prof. in Stockholm. 

Dr. F. M. Wendt, Schulrat und Professor 
in Troppau. 

Dr. X. Wetterwald in Basel. 

2 phil. et med. W. Weygandt in Heidel- 
perg. 

N. Widmann., Rektor in Mannheim. 

Dr. med. Wiedeburg in Elgersburg. 

Dr. Stephan Waitasek, Professor in Wien. 

Dr. med. Witry, Nervenarzt in Trier. 

Dr. Wolfert, Geh. Sanitätsrat in Berlin. 

Dr. Julius Zappert, Privatdozent für 
Kinderheilkunde in Wien. 

K. Ziegler in Köln. 


in 


| Dr. Th. Ziehen, Professor in Wiesbaden. 


ZOMME WETER & WANN) LANGENSALZA. 





een 
SEREREKERREI 


| 


A. Abhandlungen. 


1. Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung bezüglich 
der sogenannten psychopathischen Konstitutionen. 
Von 
Prof. Th. Ziehen, Wiesbaden. 

(Schluß.) 


3. Beziehungen zur Fürsorgeerziehung. 


Was kann nun gegenüber diesen großen Gefahren geschehen ? 
Allenthalben hat man ganz richtig erkannt, daß im jugendlichen Alter 
eingegriffen werden muß, und daß in den großen ärmeren Volkskreisen 
die Eltern meistens nicht in ausreichendem Maß eingreifen können 
oder auch nicht eingreifen wollen. Daraus ergab sich mit Notwendig- 
keit eine Einmischung des Staats in die Erziehung dieser Individuen. 
Da nun, äußerlich betrachtet, auch lediglich moralisch verwahrloste, 
also völlig normale Kinder und ebenso leicht schwachsinnige, sogenannte 
debile Kinder dieselben Verhältnisse darboten, so wurden diese 3 Kate- 
gorien bei der Einmischung des Staats in die Erziehung zusammengefaßt, 
und so entstand die moderne Fürsorgeerziehung. 

In Preußen hat, nachdem ältere gesetzliche Bestimmungen (vom 
13. III. 1878 und 23. VI. 1884) sich garnicht bewährt hatten, weil 
sie Individuen über 12 Jahre überhaupt nicht und solche unter 
12 Jahren nur im Fall eines Verstoßes gegen die Strafgesetze berück- 
sichtigten, das Gesetz vom 2. Juli 1900 versucht, die Fürsorgeerziehung 
im modernen Sinne einzuführen. Es ist unzweifelhaft, daß das Gesetz 
schon in seiner jetzigen Gestalt manches Gute gewirkt hat, ebenso 
unzweifelhaft aber und auch allgemein anerkannt, daß es viele Er- 

Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 32 


490 A. Abhandlungen. 

wartungen nicht erfüllt hat und in vielen Punkten verbesserungs- 
bedürftig und verbesserungsfähig ist. Im folgenden sollen speziell 
diejenigen Mißstände dargelegt werden, welche sich bei der An- 
wendung des Gesetzes auf psychopathische jugendliche Individuen er- 
geben haben, und Vorschläge zur Abstellung dieser Mißstände durch 
Abänderung der gesetzlichen Bestimmungen gemacht werden. 

Aus praktischen Gründen empfiehlt es sich, zwei große Kategorien 
von Fällen zu unterscheiden, nämlich erstens solche Fälle psycho- 
pathischer Konstitution, in denen eine Strafhandlung vorliegt, die zur 
Kenntnis des Gerichts oder der Polizei gelangt ist, und zweitens 
solche Fälle psychopathischer Konstitution, in denen eine Strafhandlung 
nicht vorliegt oder wenigstens nicht zur Kenntnis des Gerichts oder 
der Polizei gelangt ist. 

Ich beginne mit der ersten Kategorie, die ich im Interesse 
der Abkürzung unter dem nicht ganz korrekten Ausdruck der »Straf- 
fälligen« (straffälliger jugendlicher Psychopathen) zusammenfassen will. 

Für diese erste Kategorie ist der Weg zunächst durch die Be- 
stimmungen der §§ 55 und 56 des Reichsstrafgesetzbuchs gewiesen.!) 
$ 55 schließt bekanntlich eine strafrechtliche Verfolgung aus, wenn 
bei Begehung der Handlung das zwölfte Lebensjahr nicht vollendet 
war; er erklärt ferner die zur Besserung und Beaufsichtigung ge- 
eigneten Maßregeln nach Maßgabe der landesgesetzlichen Vorschriften 
für zulässig (»können« getroffen werden). $ 56 bestimmt die Frei- 
sprechung für Individuen zwischen dem zwölften und achtzehnten 
Lebensjahr, wenn die zur Erkenntnis der Strafbarkeit der Handlung 
erforderliche Einsicht bei Begehung der strafbaren Handlung gefehlt 
hat. Außerdem besagt der $ 56, daß in dem Urteil zu bestimmen 
ist, ob der Angeschuldigte seiner Familie überwiesen oder in eine 
Erziehungs- oder Besserungsanstalt gebracht werden soll. Auf die 
Verbesserungsbedürftigkeit aller dieser Bestimmungen, soweit sie die 
Altersgrenze und das Kriterium der Einsichtsfähigkeit in die Straf- 
barkeit betreffen, soll hier nicht eingegangen werden, zumal der Vor- 
entwurf des neuen Strafgesetzbuchs bereits die dringendsten Ver- 





1) 88 361 und 362 St. G. B. haben nur untergeordnete Bedeutung für die hier 
zu behandelnden Fragen. Es sei jedoch ausdrücklich bemerkt, daß $ 361 höchstens 
bei als Landstreicher umherziehenden (Z. 3), bettelnden (Z. 4) oder gewerbsmäßiger 
Unzucht verfallenen (Z. 6) Individuen in Betracht kommen könnte, und daß $ 362 
— ganz abgesehen von der zu kurzen Bemessung der maximalen Aufenthaltsdauer 
(2 Jahre) — nur einen Aufenthalt im Arbeitshaus und bei gewerbsmäßiger Unzucht 
verfallenen Individuen nur den Aufenthalt in einer Besserungs- und Erziehungs- 
anstalt oder einem Asyl zuläßt, also Heilanstalten überhaupt nicht erwähnt. 


Ziehen: Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung. 491 


besserungen vorgesehen hat ($ 68 und 69). Nur, soweit die Bedürfnisse 
der Fürsorgeerziehung in Betracht kommen, muß einiges hervorgehoben 
werden. Der wesentliche Mißstand bei der jetzigen Bestimmung ist 
der, daß bei Kindern unter 12 Jahren, die auf Grund des $ 55 
freigesprochen worden sind, nicht wie bei 12—18 jährigen Individuen 
die Frage einer besonderen Erziehung, z. B. also der Fürsorgeerziehung 
ex officio aufgeworfen werden muß, sondern nur aufgeworfen werden 
kann. Damit wird in vielen Fällen die günstigste Zeit für den Ein- 
tritt einer zweckmäßigen Erziehung verpaßt. Nicht jeder Richter 
bezw. jede Polizeibehörde hat das nötige Verständnis, um in allen 
Fällen, in denen es erforderlich ist, die Frage der Erforderlichkeit 
einer besonderen Erziehung aufzuwerfen und sachgemäß zu prüfen. 
Gerade weil das Gesetz das Aufwerfen dieser Frage für fakultativ 
erklärt, wird die Frage sehr oft garnicht aufgeworfen oder nur ober- 
flächlich geprüft. Vom ärztlichen Standpunkt ist dringend zu ver- 
langen, daß durch Gesetz oder Verfügung (bei Polizeibehörden) diese 
Prüfung obligatorisch gemacht wird wie für die 12—18jährigen In- 
dividuen. Auch der Vorentwurf des neuen Strafgesetzbuchs hilft 
diesem Mangel leider nicht ab. Bei dem etwaigen Inkrafttreten des- 
selben wird er sich sogar noch viel fühlbarer machen, da die Grenze- 
der absoluten Strafunmündigkeit von dem 12. auf das 14. Lebens- 
jahr hinaufgerückt werden soll; es müssen sich also die Fälle, in 
denen die günstigste Gelegenheit zum Eingreifen verpaßt wird, noch 
erheblich vermehren. Der Prozentsatz der heilbaren Fälle unter 
den psychopatbischen Konstitutionen ist jenseits des 14. Lebensjahres: 
bereits sehr stark gesunken. 

Der jetzige Zustand ist nach meinen Erfahrungen leider derart, 
daß von seiten der Polizei und des Gerichts bei Strafhandlungen 
strafunmündiger Individuen unter 12 Jahren vielfach garnicht oder 
zu spät eingeschritten wird, obwohl ein Einschreiten dringend ge- 
boten wäre. : 

Wird die Frage überhaupt aufgeworfen und in sachgemäßer 
Weise entschieden, so bietet, wenn ein Eingriff in die Erziehung für 
notwendig erachtet wird, das Fürsorgeerziehungsgesetz im $ 1, Ziffer 2 
eine geeignete Handhabe, um in vielen Fällen des $55 und auch des 
§ 56 der Weiterentwicklung der psychopathischen Konstitution vor- 
zubeugen oder auch ihre Besserung bezw. Heilung in die Wege zu 
leiten. Es heißt hier nämlich, daß die Überweisung an die Fürsorge- 
erziehung erfolgen kann,!) wenn der Minderjährige eine strafbare 


1) Auch dieses »kann« könnte vielleicht durch ein »muß« ersetzt werden. 
32* 


493 A. Abhandlungen. 





Handlung begangen hat, wegen der er in Anbetracht seines jugend- 
lichen Alters strafrechtlich nicht verfolgt werden kann, und die Für- 
sorgeerziehung mit Rücksicht auf die Beschaffenheit der Handlung, 
die Persönlichkeit der Eltern oder sonstigen Erzieher und die übrigen 
Lebensverhältnisse zur Verhütung weiterer sittlicher Verwahrlosung 
‚des Minderjährigen erforderlich ist. 

Dagegen erweist sich das Fürsorgeerziehungsgesetz in seiner 
jetzigen Form als insuffizient, sobald es sich nun darum handelt, die 
auf Grund des $ 2 verhängte Fürsorgeerziehung praktisch durch- 
zuführen. Leider kennt nämlich der $ 2 des Fürsorgeerziehungs- 
gesetzes die Fürsorge nur in Form einer Erziehung in einer ge- 
eigneten Familie oder in einer Erziehungs- oder Besserungsanstalt. 
Ärztlich ist zu fordern, daß erstens auch die Belassung in der eigenen 
Familie unter Aufsicht amtlicher Ärzte und vom Vormundschafts- 
gericht zugelassener Vereine und daß zweitens auch ausdrücklich die 
Unterbringung in einer Heilanstalt (z. B. einem Heilerziehungsheim 
für psychopathische Kinder) genannt wird. Beide Forderungen sollen 
getrennt im folgenden begründet werden. 

Die erste Forderung involviert eine Erweiterung des Begriffes 
der Fürsorgeerziehung, indem sie als eine Form der letzteren auch 
die öffentliche Aufsicht in der eigenen Familie zuläßt.!) Man 
wende gegen diese Erweiterung nicht etwa ein, sie werde dadurch 
überflüssig, daß $ 1666 des B.G.B., dessen Hauptteil ich in der An- 
merkung wegen seiner Wichtigkeit im Wortlaut anführe,2) auch 
andere Maßregeln zuläßt, und daß die Ausführungsbestimmungen?) 
zum Fürsorgeerziehungsgesetz auf solche anderweitigen Maßregeln 
ausdrücklich hinweisen; denn dieser Hinweis versagt in vielen Fällen: 
während das Fürsorgeerziehungsgesetz den Kreis der zu- 
lässigen Maßregeln zu eng zieht, zieht $ 1666 den Kreis der 
zu erfüllenden Bedingungen zu eng. Es gibt zahlreiche Fälle, 


!) Dem Wortsinn nach könnte man übrigens auch die Fassung des $ 2 dahin 
interpretieren, daß die »geeignete« Familie gelegentlich die eigene des Minder- 
jährigen sein könnte, indes wird diese Interpretation kaum jemals durchgeführt, auch 
widerspricht sie wohl dem Sinn des ganzen Gesetzes, wie es jetzt vorliegt. 

?) Dieser lautet: »Wird das geistige oder leibliche Wohl des Kindes dadurch 
gefährdet, daß der Vater das Recht der Sorge für die Person des Kindes mißbraucht, 
das Kind vernachlässigt oder sich eines ehrlosen oder unsittlichen Verhaltens schuldig 
macht, so hat das Vormundschaftsgericht die zur Abwendung der Gefahr erforder- 
lichen Maßregeln zu treffen. Das Vormundschaftsgericht kann insbesondere an- 
ordnen, daß das Kind zum Zwecke der Erziehung in einer geeigneten Familie oder 
in einer Erziehungsanstalt oder einer Besserungsanstalt untergebracht wird.« 

®) Ministerialblatt der inneren Verwaltung 1901. S. 27. 


Ziehen: Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung. 493 
wo ein Mißbrauch, eine Vernachlässigung oder überhaupt irgend- 
welches schuldhafte Verhalten des Vaters nicht vorliegt, also die Be- 
dingungen des $ 1666 nicht erfüllt sind, und doch ein staatliches- 
Eingreifen in die Erziehung unbedingt erforderlich ist. Gerade außer- 
ordentlich viele Fälle jugendlicher psychopathischer Konstitutionen 
gehören hierher, in denen die Schwierigkeiten und Fehlschläge der 
Erziebung garnicht dem Elternhaus, sondern nur der psychopathischen 
Konstitution zuzuschreiben sind. Dann bleibt nur das Fürsorge- 
erziehungsgesetz. Dies sieht auch solche Fälle vor, wie unten noch 
zu erörtern sein wird, zieht also den Kreis der zu erfüllenden Be- 
dingungen in dieser Beziehung richtig, versagt nun aber leider oft in 
dem Punkte der zu ergreifenden Maßregeln, indem es nur die rigorosesten 
Maßregeln kennt,!) die in vielen Fällen ausreichenden leichteren Ein- 
griffe aber ignoriert. In dieser Beziehung bedeutet die Formulierung des 
Fürsorgeerziehungsgesetzes einen Rückschritt gegenüber dem $ 1666. 

Ich kenne beispielsweise zahlreiche psychopathische Kinder im 
Alter von 8—14 Jahren, die irgend ein Delikt begangen haben und 
dringend in Gefahr stehen, geistig und sittlich zu verwahrlosen, deren 
psychopathische Konstitution erheblich genug ist, um die ausschließ- 
lichen ununterstützten Erziehungsversuche der Eltern — oft recht- 
schaffener, wohlmeinender Leute — zu vereiteln, aber doch nicht so 
schwer ist, daß die Versetzung in eine andere Familie oder in eine 
Anstalt notwendig oder auch nur zweckmäßig wäre. Es würde viel- 
mehr eine zwangsweise öffentliche Aufsicht über die Er- 
ziehung in der eigenen Familie auf öffentliche Kosten aus- 
reichen, also eine billigere, schonendere, oft ebenso ausreichende, 
mitunter sogar zweckmäßigere Maßregel. Ich denke mir diese Maß- 
regel so, daß das Vormundschaftsgericht einen beamteten sach- 
verständigen?) Arzt und in vielen Fällen zugleich einen privaten 
Verein (Zentrale f. Jug.-Fürsorge, Kinderhort) mit der Aufsicht und 
der Beihilfe bei der Erziehung betraut und die Eltern, falls sie einen 
solchen Eingriff ablehnen, zur Duldung desselben zwingt, eventuell 
unter Androhung der Unterbringung des Kindes in einer anderen 
Familie oder einer Anstalt. Die Eltern werden übrigens nach meinen 
Erfahrungen, während sie der Entfernung aus der Familie sehr oft 


1) Zum Teil übereinstimmende Erwägungen hat, wie ich erst pach dem Halten 
dieses Vortrages bemerkt habe, kurz vorher auch Petersen auf dem letzten 
Fürsorge-Erziehungstag (Dresden 1912) angestellt. (Verhandl.-Bericht S. 201 ff.) 

?) Beide Attribute müssen vorhanden sein; es gibt leider noch beamtete Ärzte, 
deren Sachverständnis bezüglich psychopathischer Konstitutionen, Debilität usw. un- 
zureichend ist. 


494 A. Abhandlungen. 


widerstreben, weil sie von ihnen leider in der Regel als eine sitten- 
polizeiliche Maßregel aufgefaßt wird, meistens einer solchen ärztlichen 
Aufsicht und ärztlich motivierten Erziehungsbeihilfe durch einen Verein 
nicht ernstlich widerstreben. Es kommt nur darauf an, daß vom 
Gericht die erste Anregung ausgeht, nötigenfalls auch ein Zwang aus- 
geübt werden kann, daß durch gerichtliche Verfügung die Regel- 
mäßigkeit der Durchführung gesichert und alle Kosten den Eltern ab- 
genommen werden. Bei dem jetzigen Zustand hängt es oft von dem 
Zufall ab, ob überhaupt eine solche Aufsicht angeregt wird, von dem 
guten Willen und dem Verständnis der Eltern, ob sie eingeleitet und 
regelmäßig durchgeführt wird. 

Auf Grund vieler Unterhaltungen mit Eltern psychopathischer 
Kinder bin ich überzeugt, daß das allgemeine Odium, welches sich 
jetzt im Volk an die Fürsorgeerziehung knüpft (»er soll lieber klauen 
als in die Fürsorge«), wesentlich auch eben dadurch bedingt wird, 
daß das Fürsorgeerziehungsgesetz nur die rigorosesten Maßregeln kennt, 
die leichteren aber ignoriert. Selbstverständlich gibt es zahlreiche 
Fälle, in denen nur die rigorosen Maßregeln Besserung erzielen und 
Gefahren abwenden können, aber warum deshalb die leichteren Maß- 
regeln für die ebenfalls sehr zahlreichen leichteren Fälle streichen? 
Vielfach ist es auch zweckmäßig, es wenigstens erst mit den leichteren 
Maßregeln zu versuchen und damit auch Zeit für eine sachverständige 
Beobachtung zu gewinnen und eventuell die Eltern von der Not- 
wendigkeit rigoroser Maßregeln (Entfernung aus der Familie) im Guten 
zu überzeugen. 

Schwierigkeiten könnten nur da entstehen, wo sachverständige 
Ärzte und entsprechende Vereine fehlen. Indes ist ein solches Fehlen 
in Städten — und in diesen sind jugendliche psychopathische Kon- 
stitutionen besonders häufig und besonders schwer gefährdet — doch 
sehr selten. Außerdem steht nichts im Wege, daß gelegentlich an Stelle 
eines beamteten Arztes ein privater, aber vom Gericht!) offiziell Fall 
für Fall bestellter sachverständiger (!)?) Nervenarzt oder Anstaltsarzt 


1) Bezw. von der Verwaltungsbehörde, der die Landesgesetze etwa gemäß 
Art. 135 des Einführungsgesetzes zum B.G.B. die Entscheidung über die Unter- 
bringung der bez. Minderjährigen übertragen hätten und der dann auch die geforderte 
Regelung der Aufsicht in der eigenen Familie zufallen würde. Auch an anderen 
Stellen dieser Abhandlung ist diese Eventualität, auch wenn sie nicht ausdrücklich 
hervorgehoben ist, immer mit ins Auge zu fassen. 

?) Ganz vereinzelt findet man übrigens auch Nervenärzte und selbst Irren- 
ärzte, die infolge der Einseitigkeit ihrer Erfahrungen kein ausreichendes Verständnis 
für solche Fälle, z. B. gerade psychopathische Konstitutionen und ihre Besonder- 
heiten, haben. 


Ziehen: Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung. 495 


mit der Aufsicht betraut wird. Endlich steht nichts im Wege, für 
weitere sachverständige Ausbildung beamteter Ärzte, weitere Gründung 
von Vereinen Schritte zu tun. Auch die Beaufsichtigung durch so- 
genannte probation officers (»Bewährungsbeamte«, Rosenfeld), wie sie 
das englische Kindergesetz vom Jahre 1908 (Children Act 1908, 
8 Edw 7. Ch. 67) vorsieht, käme gelegentlich in Betracht.!) Über- 
haupt dürfte diese Aufsicht nicht zu schematisch-gleichmäßig durch- 
geführt werden. 

Die Erfolge sind — davon habe ich mich schon jetzt in den 
Fällen überzeugt, in denen günstige Umstände auch bei der heutigen 
Lage der Gesetzgebung die Durchführung solcher Maßregeln er- 
laubten — durchaus befriedigend. 

Die oben (S. 492) an zweiter Stelle genannte Forderung geht dahin, 
daß in dem $ 2 des Fürsorgeerziehungsgesetzes ausdrücklich auch 
Heilanstalten genannt werden. Da die pathologischen Fälle unter 
den Fürsorgeerziehungsbedürftigen 60—70°/, ausmachen, so ist es 
nur billig, daß auch die für diese in Betracht kommenden Anstalten 
neben den Erziehungs- und Besserungsanstalten ausdrücklich genannt 
werden. In der Praxis mag von verständigen Gerichten trotz der 
jetzigen Fassung schon hier und da auch die Unterbringung in eine 
Heilanstait empfohlen oder angeordnet worden sein, das Fehlen einer 
ausdrücklichen Anführung wird damit nicht gut gemacht. Ich bin 
nach meinen Erfahrungen auch überzeugt, daß diese Unterlassung 
gleichfalls etwas zu dem Odium der Fürsorgeerziehung beiträgt. Der 
Wortlaut und der ganze Tenor des Gesetzes nimmt der Fürsorgeerziehung 
ganz den ärztlichen Charakter, den sie doch in zwei Drittel aller Fälle 
haben sollte. Es ist garnicht abzusehen, weshalb man durch den 
Wortlaut des Gesetzes seine Durchführung gegenüber den Angehörigen 
in diesen pathologischen zwei Dritteln in dieser Weise erschweren 
bezw. auf die Erleichterung durch ärztliche Motivierung verzichten 
soll. Es ist mir nicht selten gelungen, durch Überredung den Wider- 
stand der Eltern psychopathischer Kinder gegen die Unterbringung 
in einer Anstalt zu überwinden, dann aber immer nur durch die 
ärztliche Motivierung. 

Der $ 10 des Gesetzes, in dem die Unterbringung in Krauken- 
und Idiotenanstalten (unter anderen) erwähnt wird, macht die Sache 


1) Für die in fremder Familie untergebrachten Fürsorgezöglinge sieht bekannt- 
lich der $ 11 des jetzigen Fürsorgegesetzes bereits einen »Fürsorger« (eventuell auch 
eine Fürsorgerin) vor. 


496 A. Abhandlungen. 


nicht besser, da er eine solche Unterbringung augenscheinlich als 
Ausnahme behandelt.!) 

Man begegnet übrigens auch in der Tat noch gelegentlich der 
Auffassung, als könnten psychopathische und debile Fürsorgezöglinge 
sehr gut in gewöhnlichen Erziehungs- oder Besserungsanstalten unter- 
gebracht werden. Demgegenüber lehrt schon die oberflächlichste ärzt- 
liche Erfahrung, daß debile und erst recht psychopathische Kinder in 
gewöhnlichen Erziehungs- oder Besserungsanstalten durch den Verkehr 
mit normalen, einfach moralisch verkommenen Individuen meistens 
geradezu moralisch infiziert werden.?) Auf diese Anstaltsfrage komme 
ich unten noch zurück (S. 502 ff.). 

Ich wende mich nunmehr zu der zweiten der S.490 unterschiedenen 
Kategorien d. h. denjenigen psychopathischen Kindern, bei denen 
eine Strafhandlung (im forensischen Sinne) nicht vorgekommen oder 
wenigstens nicht zur Kenntnis des Gerichts oder der Polizeibehörde 
gelangt ist. Die praktische Bedeutung dieser zweiten Kategorie, die 
bei den einschlägigen Erörterungen in der Regel nicht genügend be- 
achtet wird, ist deshalb so sehr groß, weil es sich meistens um 
jüngere Individuen handelt, bei welchen die Fürsorgeerziehung un- 
endlich viel mehr Aussicht hat. 

Indem das Fürsorgeerziehungsgesetz im $ 1, Z.1 und 3 auch für 
solche nicht-straffälligen Individuen eine Fürsorgeerziehung zuläßt, 
bedeutet es in der Tat gegenüber der älteren Gesetzgebung einen 
enormen Fortschritt. Die bezüglichen Bestimmungen lauten: »Ein 
Minderjähriger, welcher das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, 
kann der Fürsorgeerziehung überwiesen werden: 

1. wenn die Voraussetzungen des $ 1666 oder des $ 1838 des 
B. G. B. vorliegen und die Fürsorgeerziehung erforderlich ist, um die 
Verwahrlosung des Minderjährigen zu verhüten; 

3. wenn die Fürsorgeerziehung außer diesen Fällen wegen Un- 
zulänglichkeit der erziehlichen Einwirkung der Eltern oder sonstigen 
Erzieher oder der Schule zur Verhütung des völligen sittlichen Ver- 
derbens des Minderjährigen notwendig ist.« 

Es könnte in der Tat scheinen, daß damit für die psychopathischen 
Konstitutionen (und mutatis mutandis die Debilen) ausreichend gesorgt 


1) Auch der Kommissionsbericht des Abgeordnetenhauses (S. 502) erwähnt nur 
nebenher unheilbare und heilbare geisteskranke und idiotische Fürsorgezöglinge, 
schweigt sich aber über debile und psychopathische ganz aus. 

?) Eine Ausnahme machen nur die relativ spärlichen Anstalten, in denen der 
Anstaltsleiter eine einigermaßen ausreichende Trennung der normalen und der patho- 
logischen Elemente durchzuführen vermag. 


Ziehen: Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung. 497 


sei. In der Praxis erweisen sich diese Bestimmungen jedoch trotz 
ihres richtigen Kerns doch noch als unzulänglich. Zunächst ist 
Ziffer 1 mit dem Verweis auf $ 1666 nur für Fälle eines irgendwie 
schuldhaften Verhaltens des Vaters anwendbar, und ein solches liegt, 
wie oben bereits erörtert, sehr oft nicht vor, und ist überdies, wenn 
es vorliegt, oft sehr schwer nachweisbar. Der Verweis auf $ 18381) 
kommt nur für die relativ seltenen Fälle in Betracht, in denen es 
sich um ein Mündel handelt, für dessen Person dem Vater oder der 
Mutter die Sorge nicht zusteht. Es bleibt also für sehr viele Fälle 
nur Ziffer 3. Hier wird auch das charakteristische Moment, durch 
welches die Fürsorgeerziehung erfordert wird, ganz richtig fixiert: 
Die Unzulänglichkeit der erziehlichen Einwirkung der Eltern oder 
sonstigen Erzieher oder der Schule. wobei zu ergänzen ist: gegenüber 
der psyschopathischen Konstitution oder Debilität oder normalen sitt- 
lichen Verwahrlosung. Die Lücken bezw. der Mangel liegt aber 
darin, daß bei einer solchen Unzulänglichkeit die Fürsorge- 
erziehung nur dann für zulässig erklärt wird, wenn sie zur 
»Verhütung des völligen sittlichen Verderbens des Minder- 
jährigen« notwendig ist. Damit werden nämlich gerade diejenigen 
Fälle der Fürsorgeerziehung entzogen, welche für sie weitaus am 
dankbarsten sind?): jüngere psychopathische (und debile) Kinder, bei 
denen infolge ihrer psychopathischen Konstitution (bezw. Debilität) die 
elterliche Erziehung, sei es überhaupt, sei es ohne Hilfe einer öffent- 
lichen Mitaufsicht, versagt, so daß allerhand ungehörige Handlungen 
vorkommen, bei denen aber von sittlichem Verderben noch nicht die 
Rede sein kann und daher auch von einer Verhütung des »völligen 
sittlichen Verderbens« garnicht gesprochen werden kann. Der Aus- 
druck ist nicht nur für viele Fälle viel zu kraß, sondern auch für 
viele Fälle, die offenbar den Schutz des Fürsorgegesetzes dringend 
erfordern, unrichtig. Das psychopathische Kind, das wieder und 
wieder vom Hause fortläuft, allerhand Phantasielügen vorbringt, Jäh- 
zornsanfälle hat usf., ist sehr oft überhaupt noch garnicht »sittlich 
verderbte. Das Gesetz hat, wie an anderen Stellen, so auch hier viel 
zu einseitig diejenigen Minderjährigen im Auge, deren ungehöriges 
Benehmen und Schwererziehbarkeit auf normaler sittlicher Verwahr- 


1) § 1838 lautet: »Das Vormundschaftsgericht kann anordnen, daß der Mündel 
zum Zwecke der Erziehung in einer geeigneten Familie oder in einer Besserungs- 
anstalt untergebracht wird. Steht dem Vater oder der Mutter die Sorge für die 
Person des Mündels zu, so ist eine solche Anordnung nur unter den Voraussetzungen 
des $ 1666 zulässig.« 

?) Die Ausführungsbestimmungen erkennen dies auch ausdrücklich an. 


498 A. Abhandlungen. 


losung beruht, und vergißt darüber die zahlreichen Minderjährigen, 
deren ungehöriges Betragen und Schwererziehbarkeit auf pathologischen 
Zuständen, Debilität oder psychopathischer Konstitution beruht. Wollte 
man immer erst warten, bis $ 1, Z. 3 zutrifft, also die Verhütung 
völligen sittlichen Verderbens in Frage steht, so käme man in den 
meisten pathologischen Fällen viel zu spät. Das Wort »völlige muß 
also gestrichen werden und neben der Verhütung des sitt- 
lichen Verderbens der positive Zweck der Heilung bezw. 
Besserung hervorgehoben werden. Es könnte also z. B. statt 
»zur Verhütung des völligen sittlichen Verderbens« heißen: »zur Ver- 
hütung des sittlichen Verderbens!) und — bei krankhafter Grundlage 
der Schwererziehbarkeit — zur Heilung des ursächlichen Krankheits- 
zustandes«. 

Offenbar hängt diese zu rigorose Formulierung der Bedingungen 
in § 1, 2.3 mit der eben besprochenen Beschränkung auf zu rigorose 
Maßregeln in $2 eng zusammen. Wenn man nur die stärksten Maß- 
regeln zuläßt, wird man geneigt sein, auch die Bedingungen sehr zu 
erschweren, und andererseits wird man, wenn man nur die schwersten 
Bedingungen ins Auge faßt, geneigt sein, nur die stärksten Maßregeln 
zu berücksichtigen. Beides ist falsch und hat das Gesetz vielfach 
odiös gemacht. Der Einwand, daß für die leichteren Fälle $ 1666 
bleibe, ist, wie ich nochmals hervorhebe, unzutreffend, da dieser 
$ 1666 nur für eine ganz beschränkte Zahl von Fällen, nämlich bei 
irgendwie schuldhaftem Verhalten der Eltern (strenggenommen sogar 
nur des Vaters) in Betracht kommt. Entweder muß also $ 1666 
B.G.B. erweitert werden, so daß er auch bei Unzulänglichkeit der 
Erziehung ohne schuldhaftes Verhalten der Eltern bezw. Erzieher 
Anwendung finden kann, oder im Gesetz über die Fürsorgeerziehung 
muß im $ 1 das Wort »völligen« gestrichen und im $ 2 die öffent- 
liche Aufsicht in der eigenen Familie und die Unterbringung in einer 
Heilanstalt zugefügt werden. 

Die Mängel des jetzigen Gesetzes in den nicht-straffälligen Fällen 
sind mit der soeben besprochenen unzweckmäßigen Formulierung im 
$ 1, Z. 3 nicht erschöpft. Wenn nämlich ein Fall vorliegt, der 
unter $ 1, Z. 1 oder 3 fällt, so ist nicht genügend vorgesorgt, daß 
der Antrag auf Fürsorgeerziehung auch wirklich stets gestellt wird. 
Es heißt zwar ausdrücklich in $ 4: »Zur Stellung des Antrags sind 


D 


1) Auch der Ausdruck »wenn das geistige oder leibliche Wohl gefährdet wird« 
im $ 1666 wäre besser als der jetzige Wortlaut des $ 1, 3. Selbstverständlich 
muß dann auch in $ 135 des Einführungs-Gesetzes zum B. G. B. das Wort »völligen« 
gestrichen werden. 


Ziehen: Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung. 499 


berechtigt und verpflichtet«, aber erstens ist der Kreis der be- 
rechtigten und verpflichteten Personen (Landrat, Gemeindevorstand, 
Vorsteher der Polizeibehörde) zu eng gezogen, und zweitens ist die 
Verpflichtung nicht scharf genug bestimmt. 

Was den Kreis der antragberechtigten und antragverpflichteten 
Personen anlangt, so ist die jetzige unzweckmäßige Einengung desselben 
schon seinerzeit bei der Beratung des Gesetzes beanstandet worden. 
Die definitive Fassung, wie sie jetzt vorliegt, ist trotz der schon damals 
erhobenen Einwände dem $ 4 Absatz 1 vom Herrenhaus gegeben 
worden. Vor allem ist zu vermissen, daß Vater, Mutter,!) Geistlicher, 
Schulvorstand, Lehrer und behandelnder Arzt bei dem Anstoß zur 
Herbeiführung der Fürsorgeerziehung ganz ausgeschaltet sind. Es 
müßte allen diesen Personen wenigstens das Recht zugesprochen 
werden, den Antrag auf Prüfung der Notwendigkeit der Fürsorge- 
erziehung bei dem Gericht?) zu stellen. Das jetzige Fürsorgerziehungs- 
gesetz kennt leider nur eine Kategorie von Personen bezw. Behörden, 
die den Anstoß zur Herbeiführung der Fürsorgeerziehung geben können, 
nämlich die zum Antrag auf Fürsorgeerziehung Berechtigten und zu- 
gleich Verpflichteten. Tatsächlich sind 3 Kategorien zu unterscheiden: 

1. die zum Antrag auf Prüfung der Notwendigkeit der Für- 
sorgeerziehung Berechtigten, 

2. die zum Antrag auf Fürsorgeerziehung Berechtigten, 

3. die zum Antrag auf Fürsorgeerziehung Verpflichteten. 

Da man die erste Gruppe gestrichen und die zweite mit der 
dritten verschmolzen hat, ist man dann — wenigstens teilweise mit 
Recht — zu der oben beanstandeten Einengung des Kreises der zum 
Antrag zugelassenen Personen gelangt. Man wende nicht etwa ein, 
daß der Antrag auf Prüfung (sub 1) jedermann freistehe.®) Mit 
diesem Freistehen ist gar nichts geholfen; Arzt, Geistlicher und Lehrer 
haben dabei nur dasselbe Recht wie irgend ein Fremder und werden 
daher im allgemeinen, wie es auch tatsächlich der Fall ist, da sie 
nicht besonders genannt sind, auch nur in den schwersten Fällen 
und erst nach langem Zuwarten sich zu einem solchen Antrag auf 
Prüfung entschließen. Gegenüber dem oft unvermeidlichen Odium, 
das von seiten der Eltern droht, ist eine ansdrückliche Legitimation 


1) Ich denke hierbei nicht nur an freiwilligen Entschluß beider Eltern, sondern 
vor allem auch an die Fälle, wo entweder nur der Vater oder nur die Mutter von 
der Unzulänglichkeit der ausschließlichen Erziehung in der eigenen Familie über- 
zeugt ist. 

2) Vergl. S. 494 Anm. 1. 

3) Die Ausführungsbestimmungen heben dies ausdrücklich hervor. 


500 A. Abhandlungen. 

garnicht zu entbehren. Dazu kommt endlich, daß das Gericht gar 
nicht verpflichtet ist, einem solchen Antrag stattzugeben.!) Auch 
glaube man nicht etwa, daß die Trennung von Antrag auf Fürsorge- 
erziehung und von Antrag auf Prüfung der Fürsorgeerziehungs- 
bedürftigkeit überflüssig sei, da auch der erstere Antrag nur im 
Sinne eines Antrags auf Prüfung der Fürsorgeerziehungsbedürftigkeit 
gemeint sein könne. Praktisch geht beides weit auseinander. Der 
erstere Antrag ist mit weit mehr Odium und mit weit mehr Ver- 
antwortlichkeit für die Beibringung des Beweismaterials für den 
Antragsteller verknüpft. Wer weiß, welche große Rolle die Furcht 
vor den Racheakten der Eltern und vor den Scherereien und Schwierig- 
keiten der Beweiserhebung in diesen Angelegenheiten spielt, wird be- 
greifen, daß die Unterscheidung der beiden Anträge ganz unerläßlich 
ist, um praktische Erfolge zu erzielen. 

Es wäre also meines Erachtens dringend wünschenswert, daß 

erstens als Personen, die zum Antrag auf Prüfung der Fürsorge- 
erziehungsbedürftigkeit berechtigt sind und deren Antrag von seiten 
des Gerichts (vergl. S. 494 Anm. 1) stets Folge zu geben ist, ausdrück- 
lich genannt werden: Vater, Mutter, behandelnder Arzt, Geistlicher, 
Lehrer bezw. Schulvorstand, Erziehungsverein; 

zweitens unter den zum Antrag auf Fürsorgeerziehung Berechtigten 
auch Vater, Mutter, beamteter Arzt und Schulvorstand 

und drittens unter den zum Antrag auf Fürsorgeerziehung Ver- 
pflichteten wenigstens auch der beamtete Arzt aufgeführt wird. 

Jetzt tritt bei Tausenden (nach meinen Erfahrungen ist das buch- 
stäblich zu nehmen) der Antrag auf Fürsorgeerziehung überhaupt 
nicht oder zu spät ein, weil der erste Anstoß zu einer Prüfung der 
Fürsorgeerziehungsbedürftigkeit zu spät erfolg. Man kann von den 
im $ 4 genannten Antragsbehörden gar nicht verlangen und erwarten, 
daß sie auch noch die dringend erforderliche Initiative in jedem Fall 
rechtzeitig ergreifen. 

Zu alle dem kommt noch hinzu — und damit gelange ich zu 
dem S. 495 an zweiter Stelle genannten Mangel des $ 4 —, daß die 
laut $ 4, 1 antragberechtigten und antragverpflichteten Behörden 
durch die Ausführungsbestimmungen geradezu angewiesen werden, 


1) Der Kommentar von Noelle (2. Aufl, Berlin 1901) charakterisiert die 
jetzige Sachiage ganz richtig durch den Satz: »Da das Vormundschaftsgericht auch 
von Amts wegen einschreiten kann und soll, darf es eine durch Angabe von Beweis- 
mitteln unterstützte Anzeige nicht unberücksichtigt lassen, zumal, wenn sie von 
Behörden oder Beamten ausgeht.« Der von mir gesperrte Satz zeigt ganz 
deutlich, daß iu anderen Fällen keine absolute Verpflichtung besteht. 


Ziehen: Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung. 501 


die Fürsorgeerziehung möglichst lange hinauszuschieben (im einleiten- 
den Absatz). Es hängt dies natürlich wieder zum Teil damit zu- 
sammen, daß das Gesetz, wie oben erörtert, die Fürsorgeerziehungs- 
maßregeln nur in der strengsten Form in Betracht zieht und die 
obligatorische Aufsicht in der eigenen Familie nicht mit einschließt 
und daß man für die leichten Fälle mit dem $ 1666 auskommen zu 
können glaubt, der, wie gleichfalls bereits erörtert, für viele Fälle ver- 
sagt. So erlebt man es denn nicht selten, daß Kinder auf ihren sog. 
Fugues, d.h. bei ihrem pathologisch bedingtem Fortlaufen usf. immer 
wieder polizeilich aufgegriffen werden und doch kein Antrag auf Fürsorge- 
erziehung bei dem Gericht erfolgt oder der Antrag solange aufgeschoben 
wird, bis die Fürsorgeerziehung zu spät kommt. Es ist daher dringend 
zu wünschen, daß diesen Mißständen abgeholfen wird. Dies muß teils 
dadurch erreicht werden, daß auch die Berechtigung zum Antrag auf 
Prüfung der Fürsorgeerziehungsbedürftigkeit ausdrücklich eingeführt 
wird (s. S. 499) und der Kreis der Antragberechtigten und Antrag- 
verpflichteten erweitert wird (s. S. 499), vor allem aber auch dadurch, 
daß die Verpflichtung zur Antragstellung verschärft wird (vergl. S. 498). 
Diese Verschärfung wird allerdings kaum im Gesetz selbst zum Aus- 
druck gebracht werden können, sollte aber in den Ausführungs- 
bestimmungen zur Geltung kommen. Die Anweisungen zu $ 3 und 
4!) in den jetzigen Ausführungsbestimmungen sind nicht ausreichend. 
Auch stellen sie schuldhaftes Verhalten der Eltern und normale 
(moralische) Verwahrlosung zu sehr in den Vordergrund, so daß die 
pathologisch begründete sittliche Gefährdung der psychopathischen 
Konstitution und der Debilität ganz zurücktritt. Noch wichtiger ist 
natürlich, daß auf dem Verwaltungswege die nachgeordneten Polizei- 
und Gemeindeorgane wie auch die Antragsbehörden selbst zu einem 
rechtzeitigen Antragstellen angehalten werden. Insbesondere müßten 
auch die Vormundschaftsgerichte angewiesen werden, über jeden Fall 
verspäteter Antragstellung an die vorgesetzten Verwaltungsbehörden 
zu berichten, damit diese die in Betracht kommenden Antragsbehörden 
auf die begangene Versäumnis aufmerksam machen und über die 
nachteiligen Folgen der letzteren belehren können. 

Hat der Fürsorgeerziehungsbedürftige nun aber glücklich einen 
Antragsteller gefunden und hat das Vormundschaftsgericht auf Antrag 
(oder eventuell auch von Amts wegen) die Fürsorgeerziehung beschlossen, 
so sind noch nicht alle Klippen überwunden. Die Ausführung der 
Fürsorgeerziehung ist durch das jetzige Gesetz ($ 2), wie sich oben 





1) Im Noelleschen Kommentar S. 135 u. 136 angeführt. 


502 A. Abhandlungen. 





bei Besprechung der straffälligen Minderjährigen ergeben hat, in einen 
viel zu engen Rahmen gezwängt. Es fehlt die öffentliche Aufsicht 
in der eigenen Familie, wie sie oben ausführlich erörtert wurde, 
und es fehlt der ausdrückliche Hinweis auf Heilanstalten. Der 
erstere Mangel macht sich bei den nichtstraffälligen Individuen praktisch 
sogar noch viel fühlbarer als bei den straffälligen, weil bei Abwesen- 
heit einer Strafhandlung eine wichtige Pression auf die Eltern weg- 
fällt und es darum doppelt wichtig ist, auch leichtere Maßregeln zur 
Verfügung zu haben und das Gesetz seiner rigorosen Form zu entkleiden. 

In denjenigen Fällen, in welchen der Verbleib in der eigenen 
Familie ausgeschlossen ist, erscheint das Gesetz und seine Ausführung 
ausreichend, wenn die Unterbringung in einer anderen Familie be- 
schlossen wird. Dagegen weist das Gesetz, wenn nur eine Anstalts- 
unterbringung in Frage kommt, die bereits erwähnte Lücke auf, daß 
die Heilanstalten nicht ausdrücklich genannt werden. Außerdem aber 
scheitert die Ausführung recht oft daran, daß keine genügende 
Anstalt zur Verfügung steht. 

Es kann nämlich nicht dringend genug betont werden, daß die 
ungesonderte Unterbringung aller Fürsorgezöglinge in einer Anstalt 
die Erfolge der Fürsorgeerziehung geradezu in Frage stellt. Wie sich 
oben ergeben hat, zerfallen die Fürsorgezöglinge in 3 große Gruppen: 

1. die Psychopathischen, 
2. die Debilen, 
3. die normalen lediglich Sittlich-Verwahrlosten. 

Die Psychopathen und Debilen verfallen weiterhin infolge ihrer 
psychopathischen Konstitution bezw. Debilität oft genug gleichfalls 
der sittlichen Verwahrlosung, aber ursprünglich besteht diese Verwahr- 
losung sehr oft nicht, sie tritt erst als ein Folgezustand der psycho- 
pathischen Konstitution bezw. Debilität auf, wenn keine geeignete 
Behandlung eintritt und alle Schädlichkeiten des modernen sozialen 
Lebens einwirken. Unser ganzes Bestreben geht auch gerade dahin, 
die bedrohten psychopathischen und debilen Minderjährigen schon zu 
einem Zeitpunkt einer geeigneten Anstalt zuzuführen (natürlich nur, 
soweit überhaupt Anstaltserziehung erforderlich ist), wo eine sittliche 
Verwahrlosung noch nicht eingetreten is. Was muß nun geschehen, 
wenn wir in einer Fürsorgeerziehungsanstalt, z. B. einer sogenannten 
Besserungsanstalt, den Psychopathen bezw. Debilen mit schlechthin 
Unmoralischen, die ihre ethische Verwahrlosung lediglich der Ver- 
nachlässigung der Erziehung, der Verführung usf. verdanken, zusammen- 
bringen? Sie müssen erst recht schwer und rasch moralisch infiziert 
werden. Draußen das soziale Leben bietet Verführungen usw. doch 


Ziehen: Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung. 503 


wenigstens nur in einer gewissen Verdünnung; in solchen gemischten 
Anstalten stößt der Psychopath und Debile im Verkehr mit einfach 
unmoralischen Zöglingen oft geradezu auf ein konzentriertes Extrakt 
der Verführungen, denen er durch seine Anstaltsunterbringung ent- 
zogen werden sollte. Die genaueste Aufsicht vermag solche Schädlich- 
keiten nicht fernzuhalten. Der günstige Einfluß der erziehlichen 
Maßnahmen in solchen Anstalten wird daher in vielen Fällen geradezu 
aufgewogen oder sogar noch übertroffen durch die ungünstige Ein- 
wirkung der Umgebung. Ich habe mich oft gewundert, daß die Leiter 
solcher Anstalten überhaupt noch Erfolge bei Psychopathen und 
Debilen erzielten. Selten genug sind sie allerdings nach meinen Er- 
fahrungen. Oft genug habe ich die Mutter eines psychopathischen 
Kindes weinend klagen hören, daß ihr Kind erst in der Besserungs- 
anstalt sittlich verdorben worden sei, Onanieren, Lügen und Stehlen 
gelernt habe oder wenigstens »schlechter herausgekommen sei, als es 
hineingekommen«. In nicht wenigen Fällen habe ich nach meiner 
eigenen Kenntnis des Zustandes im Stillen dieses Urteil bestätigen 
müssen. 

Dazu kommt auch, daß die erziehliche Beeinflussung in diesen 
gemischten Anstalten nicht selten zu wünschen übrig läßt. Man kann 
von dem Leiter eines Besserungshauses nicht wohl verlangen, daß er 
zugleich volles Verständnis für psychopathische und debile Kinder 
hat und die Methoden zur Behandlung und Erziehung dieser Kinder 
beherrscht. Man stellt die Leiter solcher Anstalten vielfach vor ganz 
unmögliche Aufgaben und sollte sich nicht allzusehr wundern, wenn 
der Leiter in dieser verzweifelten Situation schließlich zu ganz 
unerlaubten Maßregeln greift, wie es durch einige Skandalprozesse 
allgemein bekannt geworden ist. 

Ärztlich muß also die Trennung der Debilen und Psychopathen 
von den Unmoralischen, wie ich sie kurz nennen will, verlangt werden. 
Ebenso dringend ist aber weiterhin auch die Trennung der Psychopathen 
von den Debilen. Ich habe diese Notwendigkeit an anderer Stelle!) 
so ausführlich auseinandergesetzt, daß ich hier mich auf einige Worte 
beschränken will. Der Psychopath und der Debile taugen nicht zu 
gemeinsamem Unterricht, da ersterer eine normale, letzterer eine ab- 
geschwächte Intelligenz hat. Bei gemeinsamem Unterricht, sofern er 
dem Niveau des Debilen angepaßt wird, langweilt sich der Psychopath 
und verdummt oder treibt Allotria, oder — wenn der Unterricht der 
Intelligenz des Psychopathen angepaßt wird — kommt der Debile 


1) Erkennung der psychopathischen Konstitutionen usw. Berlin 1912. 


504 A. Abhandlungen. 


nicht mit und könnte ebensogut vom Unterricht fortbleiben; wenn 
vollends der Unterricht einen Mittelweg einschlägt, lernen beide 
Gruppen nichts Rechtes. Ebensowenig aber taugen beide zu gemein- 
samem Verkehr. Bei einem solchen geben die Debilen für den 
Psychopathen ein willkommenes Material für allerhand Streiche und 
Launen ab. In einer Privatanstalt, in der die Zahl der beaufsichtigen- 
den Lehrer bezw. Lehrerinnen naturgemäß sehr viel größer ist, mag 
diesen Nachteilen noch einigermaßen — obwohl auch nur unvoll- 
kommen — gesteuert werden können, in öffentlichen Anstalten ist 
dies vielfach ganz ausgeschlossen. 

Es sind also dreierlei Fürsorgeerziehungsanstalten erforderlich: 
erstens solche für psychopathische!), zweitens solche für debile und 
drittens solche für normale unmoralische Fürsorgezöglinge. 

Die Einwände, welche man gegen diese Sonderung erhoben hat, 
sind sämtlich ganz fadenscheinig. 

So hat man behauptet, eine solche Sonderung sei zu kostspielig. 
In der Tat ist es natürlich kostspieliger drej getrennte Anstalten für je 
100 Psychopathen, Debile und Verkommene zu bauen als eine ge- 
mischte Anstalt für 300 Individuen aller drei Kategorien. Was hindert 
aber, größere Gebiete, einen Regierungsbezirk oder selbst mehrere 
zusammenzufassen und statt dreier gemischter Anstalten für je 300 ver- 
schiedenartige Individuen drei Anstalten ebenfalls für 300 Individuen 
zu bauen, eine für 300 psychopathische, eine für 300 debile, eine für 
300 einfach verkommene Individuen. 

Dabei ist zuzugeben, daß schließlich die administrative Ver- 
einigung und räumliche Nachbarschaft der drei Spezialanstalten 
nicht einmal unbedingt ausgeschlossen ist,?) nur das muß gefordert 
werden, daß die drei genannten Kategorien im Unterricht und Ver- 
kehr völlig getrennt sind. Auch wird man nur ausnahmsweise 
Persönlichkeiten finden, die erzieherisch und unterrichtlich für alle 


1) Ich möchte bei dieser Gelegenheit auch ausdrücklich bemerken, daß für nicht 
zu schwer psychopathische Kinder sehr oft ein kürzerer, z. B. 2—3 monatiger, 
entweder einmaliger oder wiederholter Aufenthalt in einem Heilerziehungsheim aus- 
gezeichnet wirkt (etwa entfernt vergleichbar mit den Huysmansschen Retraiten); er 
genügt oft, um das Betragen und das Lernen für längere Zeit in normale 
Geleise zu lenken. Auch die systematische Abhängigmachung der Aufenthalts- 
dauer von dem Betragen im Sinne des sogenannten Meritsystems (vergl. Raecke, 
Ztschr. f. Erf. u. Beh. d. jug. Schwachs., 1910, Bd. 4, S. 167) scheint mir wohl in 
Betracht zu kommen. 

?) Auch die Anfügung an eine Irrenanstalt als selbständiger Adnex kann 
ausnahmsweise in Betracht kommen (etwa in demselben Sinne, in dem man eine 
»innere« und eine »chirurgische« Abteilung in großen Krankenhäusern vereinigt). 


Ziehen: Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung. 505 


drei Kategorien ausreichend vorgebildet und erfahren sind. Bei dem 
jetzigen Verfahren nimmt man notgedrungen mit halbgeeigneten Kräften 
vorlieb und wundert sich dann noch, wenn die Resultate nicht be- 
friedigen. Für debile Kinder kommt übrigens außerdem die Auf- 
nahme in der Spezialabteilung einer Schwachsinnigenanstalt in Be- 
tracht. 

Geradezu lächerlich ist der Einwand, daß wegen der Übergangs- 
und Kombinationsfälle Spezialanstalten unzweckmäßig oder überflüssig 
seien. Oben ist dieser Einwand bereits widerlegt worden. Diese 
Übergangs- und Kombinationsfälle sind vor allem viel seltener, als 
man am grünen Tisch sich vorgestellt hat. Ich habe bereits früher an- 
geführt, daß kaum ein Siebentel der psychopathischen Konstitutionen 
mit Debilität kombiniert ist. Die Kombination der psychopathischen 
Konstitution und auch der Debilität mit einer sittlichen Verkommen- 
heit, die sich von ihrer pathologischen Grundlage schon unabhängig 
gemacht hat. ist allerdings bei älteren Psychopathen und Debilen er- 
heblich häufiger — aber nur, weil wir die richtige Zeit des Ein- 
greifens versäumt haben. Bei der großen Mehrzahl der Psychopathen 
und Debilen bleiben etwa bis zum 14. Jahr die auffälligen Hand- 
Jungen (das ungeordnete Betragen, die Fugues usf.) noch von der 
krankhaften Grundlage abhängig. Erst nach dem 14. Jahr — begreif- 
licherweise Hand in Hand mit dem Schulaustritt — macht sich ein 
selbständiger ethischer Defekt geltend. die antisozialen Handlungen 
haben sich von ihrer pathologischen Wurzel unabhängig gemacht. 
Meist kommt dann aber auch ein Eingriff überhaupt zu spät. Gerade 
bei der Mehrzahl derjenigen minderjährigen Individuen also, die für 
die Fürsorgeerziehung in einer Anstalt die beste Aussicht geben, 
nämlich der Kinder von 6—14 Jahren, liegt die gefürchtete Kom- 
bination mit einer selbständigen sittlichen Verkommenheit nicht vor, 
und eben für diese Mehrzahl wird die Gründung von Spezialanstalten 
verlangt, in denen die psychopathischen und debilen Kinder vor 
unmoralischer Infektion geschützt sind. 

Was im übrigen die Unterbringung der Übergangs- und Kom- 
binationsfälle betrifft, so wird man sie je nach dem Überwiegen des 
Defekts bezw. der psychopathischen Konstitution bezw. der einfachen 
moralischen Verkommenheit auf die drei Spezialanstalten verteilen, 

Gegenüber der soeben erörterten Unzulänglichkeit der zur Ver- 
fügung stehenden Anstalten wiegt ein anderer Mißstand nicht ganz so 
schwer: der Widerstand der Eltern gegen die Anstaltsaufnahme. Vor 
allem glaube ich, daß dieser Widerstand wesentlich abnehmen wird, 
wenn man die im vorausgehenden nachgewiesenen odiösen Zutaten 

Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 33 


506 A. Abhandlungen. 


und die tatsächlichen Mängel des jetzigen Gesetzes beseitigt. Schon 
der Name »Heilanstalt« statt »Erziehungs- und Besserungsanstalt« 
würde bei debilen und psychopathischen Kindern die Erlangung der 
elterlichen Zustimmung — die doch wenigstens in den pathologischen 
Fällen stets erstrebt werden sollte — erheblich erleichtern. Überhaupt 
kann nicht dringend genug befürwortet werden, daß die ärztliche 
Motivierung in allen diesen Fällen vom Vormundschaftsgericht in den 
Vordergrund gestellt und die bureaukratisch-offizielle Einkleidung 
möglichst zurückgedrängt wird. Es steht gar nichts im Wege, daß 
in vielen Fällen das Vormundschaftsgericht einen beanıteten sach- 
verständigen Arzt direkt ersucht, die Eltern über die Notwendigkeit 
und Zweckmäßigkeit einer Heilanstaltsbehandlung aufzuklären. Ich 
habe diese Aufgabe oft übernommen und meistens mit Erfolg gelöst. 

Freilich stellt sich hier oft noch ein letzter Mißstand des Gesetzes 
in den Weg, der allerdings nichts mehr mit dem ärztlichen Stand- 
punkt zu tun hat, aber die ärztliche Tätigkeit in den einschlägigen 
Fällen so schwer behindert, daß er auch hier zur Sprache gebracht 
werden muß: die Streitigkeit der Kostenfrage!) und der Wider- 
spruch zwischen dem Kammergericht und anderen Gerichten 
bezüglich der Anwendung des Fürsorgeerziehungsgesetzes an Stelle 
des $ 1666 des B.G.B. Erfolgt nämlich die Unterbringung in eine 
Anstalt auf Grund des $ 1666, so haben die Armenbehörden (Armen- 
verbände) die Kosten zu tragen;?) erfolgt sie hingegen auf Grund des 
Fürsorgeerziehungsgesetzes, so fallen die Kosten mit gewissen hier 
nicht näher zu erörternden Ausnahmen dem Kommunalverband zur 
Last. Nun geht das Kammergericht von der durch den Wortlaut des 
Fürsorgeerziehungsgesetzes gewiß gerechtfertigten Auffassung aus, daß 
die Fürsorgeerziehung eine besonders scharfe, nur in den schwersten 
Fällen (»zur Verhütung des völligen sittlichen Verderbens«) zulässige 
Maßregel ist, und weist in seinen Entscheidungen — das Kammer- 
gericht ist in Preußen die oberste Spruchbehörde in Angelegenheiten 
der Fürsorgeerziehung — auf $ 1666 an Stelle des Fürsorgeerziehungs- 
gesetzes hin und legt die Kosten den Armenbehörden auf. Dabei 
ist nun sehr mißlich, daß $ 1666 in allen den Fällen versagt (siehe 
S. 492), in welchen kein Mißbrauch, Vernachlässigung oder sonstiges 





1) Bezüglich des Folgenden verweise ich namentlich auf Vieregge, Die 
Zwangserziehung im Handbuch für Jugendfürsorge. Langensalza, Hermann Beyer 
& Söhne (Beyer & Mann), 1912. 8.100 ff. 

?) Ich setze hier immer den häufigeren Fall voraus, daß die Kosten von dem 
Minderjährigen oder seinen Angehörigen nicht oder höchstens teilweise getragen 
werden können. 


Ziehen: Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung. 507 


schuldhaftes Verhalten des Vaters vorliegt, und daß es also schließlich 
von dem oft sehr schwierigen und zweifelhaften Nachweis eines solchen 
schuldhaften Verbaltens abhängen würde, ob der Armenverband oder 
der Kommunalverband die Kosten trägt. Dazu kommt nun, daß der 
Standpunkt des Kammergerichts vielfach bekämpft wird. Die Ver- 
waltungsbehörden, die Armenverbände, die Vormundschaftsgerichte 
berücksichtigen ihn oft nicht, und das Oberverwaltungsgericht als 
oberster Gerichtshof für armenrechtliche Streitigkeiten bestreitet gleich- 
falls die Verpflichtung der Armenverbände zur Kostentragung. 

Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Ausführuug der vormund- 
schaftsgerichtlichen Beschlüsse auf Anstaltsunterbringung durch solche 
Streitigkeiten und Widersprüche in der bedenklichsten Weise verzögert 
werden kann.!) Vor allem zeigt dieser Mißstand, von dem nach- 
gerade gelegentlich auch die Eltern der bez. Kinder Kenntnis erhalten, 
daß der $ 1666 B.G.B. und das Fürsorgeerziehungsgesetz nicht nur 
die oben erörterten Lücken aufweisen, sondern auch, statt gegenseitig 
ihre Lücken zu ergänzen, zu Widersprüchen selbst unter den gericht- 
lichen Entscheidungen führen. Hier ist eine definitive einheitliche 
Regelung unbedingt erforderlich und dringlich. 

Zusammenfassend möchte ich vom psychiatrischen Standpunkt 
auf Grund aller dieser Erwägungen folgende Abänderungen der Fürsorge- 
gesetzgebung und ihrer Ausführung vorschlagen: ?) 

1. Herstellung einer Übereinstimmung zwischen $ 1666 B.G.B. 
und Fürsorgeerziehungsgesetz und damit auch Regelung der Kosten- 
frage. Die Übereinstimmung kann hergestellt werden entweder 
durch Ergänzung des $ 1666 mit Bezug auf die Bedingungen der 
Anwendung (Zulassung auch derjenigen Fälle, in denen kein schuld- 
haftes Verbalten des Vaters vorliegt, d. h. also namentlich der im 
$ 1,3 des Fürsorgeerziehungsgesetzes berücksichtigten Fälle) oder durch 
Ergänzung des $ 2 des Fürsorgeerziehungsgesetzes durch Zulassung 
auch weniger scharfer Maßregeln (also allgemeinere Formulierung der 





1) Sehr drastisch wird dieser unhaltbare Zustand durch eine Entscheidung des 
Kammergerichts vom 15. 4. 1910 illustriert, die in den Mitteilungen der Deutschen 
Zentrale f. Jugendfürsorge Jahrg. 5, Nr. 4, 8.1 (15. Dez. 1910) abgedruckt ist. 

2) Von Reformvorschlägen, welche die Untersuchung der bezüglichen Kinder 
betreffen, sehe ich in diesem Aufsatz ab. Die hier und da geforderte Herabsetzung 
der oberen Altersgrenze vom 18. auf das 16. Jahr im $ 1 des F.E.G. erscheint 
mir vom ärztlichen Standpunkt durchaus nicht so unbedingt vorteilhaft. Vergl. 
z. B. auch Bürger, Off. Ber. d. Preuß. Med. Beamten-Vereins f. 1911, Sep.-Abdr. 
S. 14 und Kluge, Ztschr. f. Vormundsch., Jugendger. u. Fürsorgeerz. 1910, S. 194. 
Man sollte doch wenigstens erst abwarten, ob sich in Sachsen diese dort eingeführte 
Herabsetzung bewährt. 

33* 


508 A. Abhandlungen. 





Maßregeln, wie sie jetzt schon im $ 1666 vorliegt) und Milderung 
der Bedingungen (Streichung des Wortes »völligen« im $ 1,3). Der 
letztere von beiden Wegen ist vorzuziehen;!) $ 1666 könnte dann 
ganz wegfallen. 

2. Bei Zugrundelegung des Fürsorgeerziehungsgesetzes außer 
Streichung des Wortes »völligen« im $ 1 auch ausdrückliche Erwähnung 
der Heilanstalten ?) (Heilerziehungsheime für psychopathische Konstitu- 
tionen, Schwachsinnigenanstalten für Debile), vor allem ausdrückliche 
Hinzufügung der »öffentlichen Aufsicht in der eigenen Familie« oder 
mit andern Worten Einbeziehung einer solchen öffentlichen Aufsicht 
in der eigenen Familie in den Begriff der Fürsorgeerziehung. Diese 
öffentliche häusliche Aufsicht besteht in der obligatorischen Aufsicht 
durch einen beamteten Arzt oder auch einen anderen sachverständigen, 
gerichtlich beauftragten Arzt (event. auch eine Poliklinik) und durch einen 
gerichtlich beauftragten Verein (event. auch einzelne »Fürsorger«). 

3. Ausdehnung und Unterscheidung der antragberechtigten und 
antragverpflichteten Personen gemäß den Ausführungen S. 22 ff., ins- 
besondere auch Ergänzung des $ 55 St.G.B. im Sinne einer Ver- 
pflichtung des Gerichts bezw. der Polizeibehörde zur Prüfung der 
Fürsorgeerziehungsbedürftigkeit (nach Analogie des $ 56 St.G.B.) 

4. Sonderung in Spezialanstalten für psychopathische, debile und 
einfach verkommene Fürsorgezöglinge, vor allem also auch Begründung 
besonderer Heilerziehungsheime für psychopathische Kinder. 

Am wichtigsten sind die Punkte 1, 2 und 4. Die spezielle 
Formulierung der Abänderungen des Wortlauts des Gesetzes muß 
natürlich ganz den Juristen überlassen bleiben. 

Zum Schluß darf ich wohl gegenüber manchen sehr pessimistischen 
Beurteilungen,3) welche unser Fürsorgeerziehungswesen erfahren hat, 


1) Der jetzt im Preuß. Abgeordnetenhaus vorliegende Antrag Schmedding 
auf Abänderung des $ 1, Z. 1 des Fürsorgeerziehungsgesetzes hilft den im Obigen 
angeführten Mißständen nicht ab. Er beseitigt den Widerspruch nur äußerlich. 

?) Ich vermisse diese übrigens auch im $ 69 des Vorentwurfs des neuen 
Strafgesetzbuchs; sie ist erforderlich, da nicht jede psychopathische Konstitution 
verminderte Zurechnungsfähigkeit bedingt. 

®) Andererseits ist die Berechnung von ca. 70 °/, Erfolgen, welche man für die 
Fürsorgeerziehung auf Grund der Statistik des Preuß. Ministeriums des Innern über 
das Nachleben der Fürsorgezöglinge (1904—1909) aufgestellt hat, irreführend opti- 
mistisch (man hat sogar von 76—86 °/, Geretteten gesprochen). Die Zahl ergibt 
sich nämlich nur, wenn man u.a. die geisteskrank gewordenen und die nicht er- 
mittelten Zöglinge von der Gesamtsumme abrechnet. Man kann mit größter Wahr- 
scheinlichkeit annehmen, daß diese Fälle zum größten Teil als Mißerfolge der 
Fürsorgeerziehung zu rechnen sind. Ich fürchte außerdem, daß die Auskünfte der 


Familienväter usf. oft zu günstige gefärbt waren. Dazu kommt schließlich, daß die 
Beobachtungszeit zu kurz ist. 


Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. 509 


doch die Überzeugung aussprechen, daß das Gesetz vom 2. Juli 1900 
eine zweckmäßige vorläufige Basis geschaffen hat und bei zweck- 
entsprechender Weiterbildung und Verbesserung große Erfolge ver- 
spricht. 


2. Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der 
Testmethode. 
Von 
Franz Weigl, München-Harlaching. 


(Schluß.) 


II. Der Wert der Testserienprüfung für die Hilfsschule. 


Bei der Aufnahme des unten näher zu beschreibenden Materials 
haben wir gefunden, daß die Tests fast durchwegs für den Umgang 
mit den schwachbeanlagten Kindern unserer Hilfsschulen sehr ge- 
eignet sind. Sie vermeiden komplizierte Forderungen und 
stellen nur eine bestimmte und wichtige Seite der zu erforschenden 
Seite der Intelligenzäußerung in den Mittelpunkt. Ohne schwierige 
Instruktionen, in der Form einer Verstandesfrage, wie sie im Unter- 
richt dutzendmal fällt, in der Form eines kleinen Auftrages, wie er 
auch sonst oft zu erfüllen ist, in der Form einer kleinen Arbeit, wie 
sie in der Handfertigkeitsstunde auch oft auftritt, wenden sich die 
Tests an die Kinder. Dies ist deshalb sehr viel wert, weil die 
Hemmungen und Störungen von selbst ausgeschaltet werden, die bei 
Versuchen mit besonderen Vorbereitungen mit all dem »Drum und 
dran«e und bei komplizierteren Instruktionen immer vorhanden sind. 
Für den Prüfenden kommt dabei — nebenzu bemerkt — die ver- 
hältnismäßig einfache Handhabung der Aufnahme seitens des psycho- 
logisch geschulten Hilfsschullehrers und die Einfachheit des not- 
wendigen »Instrumentariums« vorteilhaft in Frage. 

Weiterhin scheint mir bedeutend, daß die Tests der unteren 
Lebensjahre ohne weiteres auch leicht mit Kindern durchgeführt 
werden können, die neu in die Hilfsschule einzutreten haben. Wir 
haben bisher immer die Kinder geprüft. Jeder Lehrer hatte sich auch 
eine gewisse Methode dafür zurecht gelegt. Aber es fehlte der ob- 
jektive Maßstab, der namentlich auch die Prüfung des einen 
Lehrers mit der des anderen, die Feststellung seitens des einen Schul- 
körpers mit der eines anderen Schulkörpers z. B. der gleichen Stadt 
hätte vergleichen lassen. 

Namentlich fehlte dabei dann eine Wertung des Intelligenzdefekts 


510 A. Abhandlungen. 


selbst, so daß man aus der Prüfung heraus den Grad des Defekts 
auch nur einigermaßen hätte feststellen können. Man denke nur 
daran, wie sehr schwankend die Grenzen von debil und imbezill, 
imbezill und idiotisch immer noch waren, und wie u. a. eben hier 
besonders ein objektiver Maßstab und sicherer Gradmesser 
für geistige Leistungen abgegangen ist. Wer in den folgenden 
Darlegungen die Ergebnisse unserer Untersuchung der Berechnungen 
über den Intelligenzquotienten vergleicht und dann überlegt, wie hier 
tatsächlich der Maßstab für die Schwachsinnsgrade abgenommen 
werden könnte, wird schon deshalb die Aufnahme nach dieser 
Methode nicht gering schätzen. 

Mit dieser Abwägung ist auch angedeutet, wie wir in den Auf- 
nahmen eine Hilfe für den Entscheid, ob Besuch der Hilfsschule 
oder Verbleib in der Normalschule zu erfolgen hat, erhalten. Wird 
die Aufnahme vorsichtig von einem mit psychologischer Beobachtung 
vertrauten Lehrer gemacht, so erhält das pädagogische Urteil des bis- 
herigen Klassenlehrers und das medizinisch-psychiatrische Gutachten 
des Hilfsschularztes die wertvollste Ergänzung. 

Macht der Hilfsschullehrer die Prüfung selbst, so gewinnt er 
zudem in der kurzen Zeit der Prüfung eine so vorzügliche Orien- 
tierung über die »geistige Struktur« des Hilfsschulkandidaten, daß 
er sich die Beurteilung und Behandlung in der Schule wesentlich 
leichter machen wird, als wenn er für die Sammlung der besonderen 
Eigenschaften einzig auf die gelegentliche Beobachtung verwiesen ist. 
Es ist ja ein großer Vorzug der Serienprüfung, daß auch Aufmerk- 
samkeit, Auffassungs- und Kombinationsvermögen, Vor- 
stellungs- und Begriffsbildung, Urteilsfähigkeit, Gedächtnis, 
Ermüdung, Interessenrichtung usw. dabei klar zu erkennen sind, 
so daß die ganze Eigenart des Schülers sich in kurzer Zeit vor uns 
auftut. Ich selbst habe in meiner Klasse die Erfahrung gemacht, daß 
mir einige Seiten der geistigen Eigenart von Schülern erst bei diesen 
Testprüfungen zum Bewußtsein kamen, und von Kollegen wird mir 
die gleiche Tatsache bestätigt. 

In diesem Sinne hat es auch sicher seine Berechtigung wenn 
Chotzen in der Zeitschrift »Die Hilfsschule« (1912, Heft 6, S. 162) 
in einem Aufsatz über »Die Bedeutung der Intelligenzprüfungs- 
Methode von Binet und Simon für die Hilfsschulee schrieb: »Die 
Hilfsschullehrer erfahren in einer Untersuchung von 30—40 Minuten 
über die sie interessierenden Dinge hier mehr, als sonst in wochen- 
langer Beobachtung. In wenigen Stunden sind sie imstande, sich über 
alle neu übernommenen Kinder gleich eine vertiefte Kenntnis und 


Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. 511 


ein zutreffendes Urteil zu verschaffen.« Wie viel dies wert ist, weiß 
jeder Lehrer selbst, der die Unzufriedenheit mit der langsamen Orien- 
tierung über das Schülermaterial in den ersten Schulwochen einmal 
gekostet hat. 

Zu dieser Orientierung rechne ich vor allem auch, daß wir durch 
die Anwendung dieser Testserien jene Kinder kennen lernen, deren 
Zurückbleiben in der Normalschule nicht durch Intelligenzdefekte ver- 
anlaßt war — sie zeigen dann normale Leistungen bei den ihrem 
Alter entsprechenden Tests —, sondern durch moralische Minderwertig- 
keit, Willensdefekte, mangelhafte Erziehung, körperliche Krankheit und 
ähnliches. Daß wir diesen Kindern gegenüber in unseren Anforde- 
rungen und in der Behandlung von Anfang an klar sehen, scheint 
mir außerordentlich wichtig. Die Testserienuntersuchung, wie sie hier 
angegeben ist, gibt Gelegenheit gleich am Anfang hier richtig zu 
unterscheiden. 

Mehr als theoretische Überlegungen kann nun die praktische 
Veranschaulichung über die Bedeutung der Aufnahmen sagen. Deshalb 
geben wir hier eingehend unsere Resultate wieder. Wenn wir die 
Nachahmung empfehlen, so möchten wir indessen ausdrücklich zu 
sorgfältigstem Vorgehen raten. Nur dann wird man auch die 
erhofften Ergebnisse erzielen. Wir empfehlen deshalb jedem, der die 
Aufnahmen nach der hier im allgemeinen gegebenen Beschreibung und 
den Verrechnungen machen will, erst eingehend noch die schon er- 
wähnten Arbeiten von Bobertag im Bd. III, V und besonders VI der 
»Zeitschrift für angewandte Psychologie« zu studieren, damit alle Vor- 
sichtsmaßregeln angewendet und die Ergebnisse so einwandfrei werden. 


IH. Das Ergebnis der Aufnahmen in der Münchener Hilfs- 
schule an der Silberhornstraße. 
Das Material, das zur Untersuchung beigezogen war, setzt sich, 


wie bemerkt, aus den 4 Klassen der Hilfsschule an der Silberhorn- 
straße in München zusammen und zwar in folgender Weise: 


Knaben Mädchen Summa 
Klase I. . 12 9 21 
a M- z 15 7 22 
„ IH. . 16 9 25 
a IVa 12 13 25 


Summa 55 38 93 


512 


A. Abhandlangen. 





Tabelle I. 
Die sieben- und achtjährigen Hilfsschüler. 


‚eh 
E 
F=] 
ES} 
=> 
oa 





8 jährig 


7 jährig 





6 jährig 


5 jährig 





Ordnen 5 Gewichte 
Tagesdatum 


Erklärung des Bildes 


provoziert 





BRETTET 





Herausgeben 80 Pf, 
auf 1 M 
Definition durch Ober- 
begriffe 
1 Hauptpunkt aus der 
Zeitungsnotiz 





Pa A E T I 1 E E de h a va oh P Da Ge D 
PETELEGA TARER 
E E E E a E E D a A A a, 














3 leichte Verstandes- 
fragen 


ELLELE TEER EE 





4 Hauptfarben 


El 





Vergleich 2 Dinge aus 
dem Gedächtnis 


Rückwärtszählen 20—1 
Unterschied: rechts - links 


Lücken in Zeichnungen 







WERTET EEE 
UNCERSRETSITIIUZEL 
LU FH ET 
E ETER ETELA 














Münzen 1 Pf. bis 1 M 


Behalten 5 Ziffern 


Bilder beschreiben 
















Rechteck aus 2 Dreiecken 


a ee 
BERBENEREE SZENE ET 
| I HHE I a 
LILIELELEI+II I++] 





Nachsprechen 16 silb. 
Sätze 


LIII I HHHH] I Een 





Drei gleichzeitig erteilte 
Aufträge 


HEHEHE | a 27 





Ästhetischer Vergleich | ++++++ | H+H+H+H+H++++++ | 


4 Zahlen behalten 


ETHE I IAHT HH + 





Definition durch Zweck- 
angabe 


I a ca |] 





4 Pfennig abzählen 


+++ I I ++I +++ 





Nachsprechen 10 silb. 
Sätze 


Alter 


Klasse 


HHHH HH HH ++ 


Te De Te Te TE A elelee] 
g wa g E 2 
= U PET) Š .. . 
a'"sası, ee 
© Pagg Snb ELESE 
25 SSEL o rl RNE Eu SAnS 
EEEE EEEE 
“BR n aaa „HAST Enr 
Br a ee er 
bd od A I ba ha E O uÀ o a A m E a a a A d 
=a mnnon M A N na S Noa 
- pg pi pj e p p a g 


Tabelle II. 
Die neunjährigen Hilfsschüler. 








10 jährig 


9 jährig 


8 jährig 


Unterschied: rechts - links 





Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. 513 


Behalten 6 Ziffern 
Nachsprechen 26silb. Sätze 


6 Erinnerungen aus der 
Zeitungsnotiz 


Kenntnis aller Münzen 
Mit 3 Worten 2 Sätze bilden 


Ordnen 5 Gewichte 
Tagesdatum 




















EEE IS het 














Erklärung des Bildes 
provoziert 


Herausgeben 80 Pf. auf 1 M 
Definition durch Oberbegriffe 
1 Hauptpunkt aus der 
Zeitungsnotiz 
3 leichte Verstandesfragen 
4 Hauptfarben 
Vergleich 2 Dinge aus 
dem Gedächtnis 
Rückwärtszählen 20—1 


| 
| 
| 
| 
| 
| 
l 
| 












LEREN 
ERNA A 
E O A 
ETRNEN 
MESAR 
IIIT 
I=E&1-1-153 
Ta a 
LECITA 
BREMER 


=- 411414 H- 


=+ — -H+ | — || — |—|— 





—|—| — |+—|—|—| — [—— 





i 

| 

| 
FE 
7 

| 

| 

| 


+ 








DORTTAESERESESESBERUSER 
TEELE 
AREL A kE 


I+II HIHI HHHH] I +++ 


LILII E+I I I+++++I+I II+ 
+HI+H+I+HIHI I +HHH+H+ I++ I +++ 















































#| Lücken in Zeichnungen | ++++++] || I+I++I+I+IIIILI 
‘S| Münzen 1 Pf. bis IM | +++ | ++ +++ I HH +++ HH +++ ++ 

Behalten 5 Ziffern | I I I IH III IT IHHII II HH 
| Bilder beschreiben | | FFF I +44 HH HH HH HH HH 
| Rechteck aus 2 Dreiecken| |+} | I | | | 1 +++I+I I ++ HH I I 
Š | Nachsprechen 16silb.Sätze| ++ | +++] +1 + I+++++++ 1 | I ++ 
© Drei gleichzeitig erteilte | I ig tt I+ I +++ 

Ästhetischer Vergleich | ++++4+4+4++++4++4+++++++ | ++++ 
ap) Definition dureh Zweck- | LI HI 
S| 4 Pfennig abzäblen | H HEHEHEHEH EHEHEH HE HH+Hi+H+ 





Nachsprechen 10siib. Sätze | +++++++4+ | +++4+4+++++ | +H+H+++ 


Alter ARMAAAARDANADAFDnn 
Klasse HHen 
DT E Tee, SERIE a ag a S a S 5 
g 2 R- 
Sa aa a a E a E a E B wa 
© Da n5 ER Ds g= ® e 
fz] BB E T r ee- 
G gEESSBHSTGESSSSUISLESSESEN 
zZ SEATZET52732238338585 Band Sn 
RED EB, PA<HEE<«S9a T „47,6 
N u ER EEE a N a A eh O- 
avyon Ndidi aaa 
Nr. SSHÄRNÄSSÄRSHAÄRFSEZFRTEHÄG 
AT. AUNANNAWANAFTMAÄMTAÄTMARrTEHEHH 


A. Abhandlungen. 


514 


Tabelle IL 


Die zehnjährigen 


7 jährig 





5 jährig 


Unterschied: rechts - links 


Lücken in Zeichnungen 


It tr tt Hr HH Hr tt HH +++ 








Münzen 1 Pfennig bis 1 Mark 
Behalten 5 Ziffern 
Bilder beschreiben 

Rechteck aus 2 Dreiecken 


Nachsprechen 16 silbiger Sätze 


Drei gleichzeitig erteilte Aufträge 





HEEZIBEIEEZZIEZZIERZIGEE 
HEZZEEIEREEZEIERZEEEGER 
HEEZIEEIEEEEENEZZUENESENG 


IF HH HH tt HH HH HH HH HH HH HH 





HHEZIHEIEEZIEERZESEETENE 





+++ I I ++ I HH I HH HH HH A+++ 





Art HH 





Ästhetischer Vergleich 
4 Zahlen behalten 


Definition durch Zweckangabe 


FHtt tt tt HH HH HH HH HH + 
I I++H I HH I HH FF HH HH HH HH HH 





IF+t+t tt tt HH tt 





4 Pfennig abzählen 


IF + tt tt tt HH HH HH HH HH HH + 





Nachsprechen 10 silbiger Sätze 
Alter 


Klasse 


Name 





4 
SS2OSOQOSISHZTS2 292939993 
m o o o o o o o o Cn E e E a 


EL E L E ALIE E, E E i S a E ESNE E E LI E Ah Sa T 


34 De N a P 2 Ehe rn ni 
S] ao D w g s a0 E 
S-E . Te u S T H > 2 
283353235292 3833 2435833 5854 
Su 5 50; ôg ongo, E- 3S g 
JALAR ASSESS SACHER 
A E E N E ey NE 
jadadda nooinóa t ada P aige 
ISSESSZSHÄTFSSSGESZÄSE SON G 
nn > ./ 4% 19 IO n0 g O I 0 A DO o oo OS OO DD > 


515 


Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. 


Tabelle III. 


Hilfsschüler. 





11 jährig 


10 jährig 


9 jährig 


8 jährig 


Kritik absurder Sätze 





Wortdurcheinander zu Satz ordnen 








Definition abstrakter Begriffe 
Mit 3 Worten Satz bilden 





Behalten 6 Ziffern 


Naehsprechen 26 silbiger Sätze 


6 Erinnerungen aus der Zeitungsnotiz 





Kenntnis aller Münzen 








LERFIERA 
wu 











VEN 





Mit 3 Worten 2 Sätze bilden 





Ordnen 5 Gewichte 
Tagesdatum 


| 
| 
A aA 
| 
| 


I Re E 


LEPI EFT Fer Frl 
EFT LET IIFE 








Erklärung des Bildes provoziert 


Herausgeben 80 Pfennig auf 1 Mark 





| 

| 
HENEHEZEBEIEREZE. 

I +++ +++ ++ ++++ 








Definition durch Oberbegriffe 


1 Hauptpunkt aus der Zeitungsnotiz 





3 leichte Verstandesfragen 





4 Hauptfarben 


Vergleich 2 Dinge aus dem Gedächtnis 





Rückwärtszählen 20—1 


E EEEE AN A TT 
IIL+I++I+I II FI II FI +++I +I +] 
IF HF Ft HIHI FI FF FF HH tt tt HH HH 
HHHHHI ++ I HF tt I HH HH HH HH HH! 
IF FF FI I + FI ++ I HH HH HH HH HH | 
II+t++ I I I I IF HI tt HH tt HH ++ 

















Tabelle IV. 


Die elf-, zwölf- und dreizehn- 


A. Abhandlungen. 


516 


Unterschied: rechts -links ma Ib 2 Me ru a TEI an Wk a a al 























ei Lücken in Zeichnungen IH IH I Ft FH HH 
# | Münzen 1 Pfennig bis 1 Mark | FI FI FF I FH FFrFe Fr Herr Hr ++ 
| Behalten 5 Ziffern | LIEFERTE TIEF HT 
Bilder beschreiben HH HH HH HH HH HH HH 

Rechteck aus 2 Dreiecken Li ELI HEEEEEH+HI EHEH! +++ 

i pan TI EETENETETEZTISTTEIT TE 
© | Drei gleichzeitig erteilte Aufträge SEELE ESENTER SEES EEE 








Ästhetischer Vergleich 






HHH HEHEHEHEHE HH Hr HH HH HH HH 

















4 Zahlen behalten DERART re 
P Definition durch Zweckangabe HIHI st tt tt HH HH HH HH HH 
a TRE E 
5 4 Pfennig abzählen a ed ee 
Nachsprechen 10silbiger Sätze HIHI ++++++++++++-++4+4+4+4+-4+-+ m 
Alter EEE A ee ee E A R 
Klasse HS SS EI SE epe EEE SS SE SF pippe 
[ie ee 
© o 
© ER CN N Ai . PEE z f 
g N gAn Tus 3 
G g 2 -3 8 Eau Fu k 3 Aah 
“ 5635552332 585=3533332°8355 
= Rn = oDah 208 Fr Au = 
‘iS „SESTESHESEFPrSENSSSE533 
Ber2mdakäÄnkskimiksHarsdPänauonch 
Nr. SERRRERERKRZERBISEHRKEEBÄS 


517 


Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. 


Tabelle IV. 


jährigen Hilfsschüler. 




















Schwere Verstandesfragen 














+|1— 






















































































Vergleich 2 Dinge aus Jdem Gedächtnis 





BRPABRERERDIENAND TERN Lehel 
3 Ergänzung von Textlücken U Kan VO I aa a I a a We iS I a Ka U DR Ra I 
> 3 Reime in 1 Minute BEPESEEE REIT PISTEN 
| Spontane Erklärung von Bildern ERLITT WLLTLLENT ET IT 
Kritik absurder Sätze EE IE FEET I EF T AE RE BE det] 
5 Wortdurcheinander zu Satz ordnen PANETTA e E e E Te E a O 
i Definition abstrakter Begriffe | I I J I Si SIT 
Mit 3 Worten 1 Satz bilden DELTEITITIIPIIT EEE IE EEE EI 
Behalten 6 Ziffern E ERREKIE e IT eae 
t Nachsprechen 26silbiger Sätze N E Va a N EG Dh a PA Fa S) Itı +1 I I +1 
= 6 Erinnerungen aus der Zeitungsnotiz ITALIA EN ATELIER N; 
= Kenntnis aller Münzen FRE LFFLLFEISL FF ELF EIFEL FE, 
Mit 3 Worten 2 Sätze bilden FILTER ILL FETI RT 
Ordnen 5 Gewichte IITFLIPERIFEFFIID Er 11029 
= Tagesdatum LELIA +++ I++ 
3 Erklärung des Bildes provoziert IST FIT I TE 
Herausgeben 80 Pfennig auf 1 Mark ILL I IT++++EI FE FF HE +] +++ 
Definition durch Oberbegriffe a A 1a 3] a Ua Da La La m EN LAN Da Ka LE: GER BD) E LA as o] 

1 Hauptpunkt aus der Zeitungsnotiz II +++I1 1) SEP PEFT | ++ HB. I ++ 
$ 3 leichte Verstandesfragen Hs tt tt tr tt HH HH tt 
a 4 Haupfarben ++ ++ tt tr Hr Hat | 
$ +1 

|| 





+I +++ tt tet tt tt ++ 
| 


Rückwärtszählen 20—1 +I+FFHr FH HH HH Hr IH I HH | 


518 A. Abhandlungen. 


Nach dem Alter gruppierten sich die Kinder folgendermaßen: 


Knaben Mädchen Summa 
q jährig . . 2 1 3 
8; ...10 6 16 
Doy >a 12 12 24 
10? ;. +8,85 -18 7 25 
11; TEE: 7 15 
12. y ale. 32 5 7 
13 , N: — 3 
Summa 55 38 93 


Ausgegangen wurde bei der Prüfung jeweils von den normalen 
Leistungen für das Jahr vor dem Lebensalter des Kindes, sodann 
wurde bei Bedarf noch weiter zurückgegriffen und außerdem wurden 
auch die Testserien des Lebensjahres geprüft in dem der Prüfling 
stand und die eines weiteren Jahres. Nach unten wurden — des 
Gesamtüberblickes wegen — die sämtlichen Altersstufen, auch bei 
den ältesten Kindern, durchgeprobt. Das Ergebnis ist nun in den 
Tabellen I bis IV niedergelegt. Jedes + bedeutet, daß der Schüler 
den Test löste bezw. bei mehreren Beispielen die Mehrzahl korrekt 
behandelte, jedes — bedeutet fehlerhafte Lösung. Die Namen sind 
der Geschlechtsunterscheidung wegen beigefügt, wobei der Hausname 
abgekürzt wurde. Es ist durch die Anfügung der Namen leicht auch 
der Vergleich der späteren Verrechnungen mit den Grundtabellen 
ermöglicht. 

Im einzelnen möchte zu den Ergebnissen bei den verschiedenen 
Schülern noch folgendes bemerkt werden: Beim Nachsprechen der 
Sätze wurde — gerechnet, wenn ein Satz nicht richtig wiedergegeben 
wurde. Bei der Definition durch Zweckangaben wurde im Falle un- 
überwindlicher Schüchternheit die Angabe provoziert durch die sprach- 
liche Hilfe z. B. Die Gabel ist zum —? Das Nachsprechen der Zahlen 
erscheint mir als ein nicht ganz einwandfreier Intelligenztest. Es 
gibt Kinder mit außergewöhnlich stark entwickeltem akustisch- 
mechanischen Gedächtnis; diese sind hier im Vorteil, obwohl sie 
intellektuell tief stehen können. 

Ich habe in meiner eigenen Klasse aus diesem Grunde mit dem 
Zahlenbehalten einen Kontrollversuch gemacht, indem ich auf Grund 
tachistoskopischer Auffassung mit der gleichen Expositionszeit, 
wie sie das Vorsprechen in Anspruch nimmt, die Zahlen be- 
halten ließ; die Abweichung war nur gering. Freilich ist mein Ver- 
gleichsmaterial zu klein, es wäre wünschenswert, daß an größerem 


Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. 519 


Material und zwar auch an normalen Kindern der Kontrollversuch 
durchgeführt würde; er ist ja wohl auch geeignet, in die Typen- 
veranlagung Einblick zu gewähren. Mein Ergebnis der Vergleiche war: 
Richtig wiedergegebene Zahlen bei der 
Name akustischen Darbietung visuellen Darbietung 
5 6 5 6 





D 


St. Michael 
Z. Karl . 
O. Rosa. 
I. Johann . . . 
Sch. Fritz . . 3 2 _ — 8 


Für den ästhetischen Vergleich und die Beobachtung von Lücken 
wurden genau die Zeichnungen verwendet, wie sie von Binet-Simon 
in L’Année Psychologique Bd. XIV, Paris 1908, S. 29 wiedergegeben 
sind. In doppelter Vergrößerung auf eigenen Blättern wurden sie den 
Kindern zur Beurteilung vorgelegt. 

Sehr leicht fiel den Kindern die Ausführung der 3 Aufträge, da- 
gegen sehr schwer die Zusammensetzung des Rechteckes aus den 
2 Dreiecken trotz der Vorlage. Wie die Gesamtübersicht zeigt, wurde 
dieser Test bis in die oberen Jahrgänge hinauf sehr häufig verfehlt. 
Bei diesem Test tritt auch etwas störend in Erscheinung, daß die 
Leistung mit + und — nicht ganz richtig gewertet ist. Manche 
Kinder lösen die Aufgabe spontan mit einem Griff, dem man das Er- 


HeH W W o wm www eo | wm 
SO DDOH DOW WII WW WW DD WW w w 


jN 
J 
w a w w w a www www ww wm w 
set) AE E E E E E | er 
| 
| 


520 A. Abhandlungen. 


fassen der Aufgabe schon gleich ansieht, andere bringen erst nach 
langen verschiedentlichen Versuchen die Lösung zustande; beide 
müssen mit + gewertet werden, obwohl in der ersten Lösung eine 
bedeutend bessere Leistung zu erblicken ist. 

Der Test mit dem Beschreiben der Bilder ist sehr zweckmäßig 
und hat sich auch bei den Hilfsschülern vorzüglich bewährt. Auf- 
fallend ist die Konstanz, die bei manchen Kindern sofort zutage tritt 
und den geistigen Tiefstand verrät, indem z. B. das noch auf der 
Stufe des bloßen Aufzählens der Teilfiguren des Bildes stehende Kind 
nicht einmal durch Zwischenfragen zum Beschreiben zu bringen ist. 
Der Rückstand unserer Schüler tritt auch darin zutage, daß die 
immerhin deutliche Pointe von einer ganz verschwindenden Zahl nur 
erfaßt wird. 

Bei dem Test mit der Kenntnis der Münzen und des Tagesdatums 
tritt wohl etwas störend auf, daß wir diese Dinge von der I. Klasse 
an bereits sehr eifrig üben. Immerhin waren wir überrascht, daß der 
Test trotzdem noch brauchbar war, wie die Ergebnisse zeigen. Dies 
gilt namentlich auch für das »Herausgeben«. Trotzdem wir fleißig 
mit dem Kaufladen rechnen versagten hier sehr viele Schüler, ein be- 
sonderer Beweis dann für den intellektuellen Rückstand. 

Die Unterscheidung von rechts und links, die mancherorts auf 
ihre Brauchbarkeit als Test angezweifelt worden war, habe ich sehr 
zweckmäßig gefunden. Dem einigermaßen geübten Lehrer fällt es 
nicht schwer ein Zufallsergebnis von dem sicheren Unterscheiden 
von rechts und links zu scheiden. 

Das Rückwärtszählen ist schon um dessentwillen als brauchbarer 
Test anzuerkennen, weil wir Hilfsschullehrer längst selbst die Er- 
fahrung gemacht haben, daß wir daraus auf größeren oder geringeren 
Defekt schließen können. Ich hatte schon vor der Bekanntschaft mit 
der Binetschen Methode das Rückwärtszählen als Prüfungsmittel bei 
der ersten Orientierung über einen neueintretenden Hilfsschüler ver- 
wendet. 

Bei der Lektüre war ich dem Vergleich zweier Gegenstände 
skeptisch gegenüber gestanden, die Praxis hat mich gelehrt, daß der 
Test vorzüglich ist. In dem Ergebnis tritt auch die Verschiedenartig- 
keit der Lösung durch die Schüler je nach größerer oder geringerer 
Intelligenz deutlich zutage. 

Zur Prüfung der 4 Hauptfarben haben wir ungefähr 12 >< 12 cm 
große Quadrate aus Buntpapier in sattem matten Farbenton gewählt. 

Die leichten Verstandesfragen brachten überraschend günstige 
Resultate zutage. Es kommt dabei eine gewisse praktische Lebens- 


Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nách der Testmethode. 521 


erfahrung in Betracht, die uns besonders auch erkennen läßt, welche 
Schüler sich später im Leben zurecht finden dürften. 

Die Schwierigkeit des Auffassens von Gelesenem tritt deutlich bei 
der »Zeitungsnotiz« zutage. Dazu kommt bei den Hilfsschülern, daß 
sie im 8. Jahr häufig noch nicht imstande sind, die Zeitungsnotiz 
zu lesen. 

Wie langsam das geistige Reifen vor sich geht, zeigt sich dann 
besonders in den schwierigeren Aufgaben der Bildung von Ober- 
begriffen, der Bildung eines Satzes aus drei gegebenen Worten, der 
Definition abstrakter Begriffe, des Ordnens von verstreuten Wörtern 
zu einem Satz, der Kritik absurder Sätze und aller Tests für die 
zwölfjährigen. 

Es bleibt noch zu erwähnen der Test, der die Ordnung von 
5 Gewichten vorsieht. Er ist außerordentlich wertvoll, wenn er sich 
in die Prüfung mit den anderen Tests einordnet. Die Ver- 
gleichung der Ergebnisse mit denen anderer Tests lehrt uns dies. 

Schließlich sei noch erwähnt, daß die Schülerin Nr. 33, B. Anna, 
die als neunjähriges Kind noch 3 Tests von der Gruppe der zehn- 
jährigen löste auch noch mit der Serie der elfjährigen geprüft wurde, 
aber mit negativem Ergebnis bei den 4 Tests; ebenso versagte Nr. 35 
H. Jakob bei diesen Tests völlig, obwohl er von denen der zehn- 
jährigen noch zwei gelöst hatte. — 

Aus dem eingehend in den Tabellen vorgelegten Material habe 
ich nun die wesentlichsten Verrechnungen vorgenommen, von denen 
im folgenden die wichtigsten Ergebnisse formuliert sind. 

Dem Lebensalter (L. A.) wird das Intelligenzalter (I. A.) gegen- 
übergestellt. Nach dem Vorgange der bisherigen Arbeiten nach Binet- 
Simon, wurde das Kind zunächst der Altersstufe eingereiht, auf der 
es alle Tests mit Ausnahme von höchstens einem richtig löste. Bei 
dem einen kann angenommen werden, daß momentane Indisposition 
das Versagen bedingte. Wird nun auf den höheren Stufen kein Test 
mehr gelöst, so bleibt das Kind auf diesem Intelligenzalter fixiert. 
Löst es aber von weiteren Altersstufen noch Tests so kommen diese 
bis zu 4 nicht Anrechnung. Löst es deren 5 so werden diese als ein 
weiteres Jahr zugute gerechnet, und das Kind rückt um 1 Jahr im 
I A. aufwärts. 10 weitere Tests würden sogar 2 Jahre ergeben. 

Ein Vergleich der ausführlichen Tabellen mit der folgenden Ver- 
rechnung veranschaulicht diesen theoretischen Standpunkt. Aus der 
Differenz von L. A. und I. A. ergibt sich sodann der Intelligenz- 
rückstand (I. R.). 


Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 34 


522 A. Abhandlungen. 


Mit gutem Glück wurde von Stern für die Verrechnung der Er- 
gebnisse noch der Begriff des Intelligenzquotienten (I. Qu.) ein- 
geführt. Er hat den Vorteil, daß er die ziffernmäßige Fixie- 
rung des Intelligenzrückstandes unabhängig von der ab- 
soluten Höhe des Lebensalters macht und die Verschieden- 
heit zum Ausdruck bringt, die verloren geht, wenn nur der 
L R. bezeichnet wird, z. B. bei 8jährigen Kindern mit 2 Jahren 
I. R. oder bei 12jährigen mit 2 Jahren I. R. Im ersteren Falle ist 
natürlich ein größerer Defekt gegeben als im letzteren; die Bezeich- 
nung des Rückstandes wäre aber die gleiche. Als Formel für den 
T @u. ist zu wählen a Hatz. B. ein achtjähriges Kind 2 Jahre 
I. R. so ist sein I. A. 6 Jahre und der I. Qu. %,—= 0,75; hat das 
12 jährige 2 Jahre Rückstand, so ist sein I. Qu. 1%/,,—= 0,83. Deut- 
lich kommt also zum Ausdruck, daß der Defekt nicht so 
groß ist. 

Man kommt mit dieser Berechnung sodann sogar zur 
Möglichkeit, Dreiviertelsintelligenz zu konstatieren, die 
vielleicht als für die Debilität charakteristisch genommen 
werden könnte, ferner eine Zweidrittelintelligenz für die 
Imbezillen, darunter die Leistungen vonidiotischen und über 
0,80 etwa die zweifelhaft Debilen, einfach zurückgebliebenen 
Kinder. 

Besehen wir die Ergebnisse nach dieser Richtung, so findet sich: 





7 jährige: 
Nr. Name Klasse L.A. IA. LR. I. Qu. 
1. K. Alis . . . L 7 5 2 0,71 
2. B. Wilhelm . . L 7 4 3 0,57 
3 P. Elsa. ...1I T 4 3 0,57 

8jährige: 
Nr. Name Klasse L.A. IA LR. I. Qu. 
1. H. Andreas. . I 8 6 2 0,75 
2. Kö. Johann . I 8 6 2 0,75 
3. Ko. Johann . I. 8 5 3 0,63 
4. M. Leonhard I. 8 4 4 0,50 
5. O. Xaver. I. 8 6 2 0,75 
6. S. Elise . I. 8 7 1 0,88 
Ta S. Else I. 8 6 2 0,75 
8. Sch. Fanny . I. 8 T 1 0,58 


Nr. 


B 
g 
(oni 
p 


@ m wo © Go wo 00 0 \ 


Name ILA. 
H. Fritz . 
J. Ludwig 
M. Ludwig . 
S. Josef . 
A. Anna. 
Schw. Marie. 
R. Fanny. 
A. Willy. 


I. 


EHHHHHHH 
ou an 


9jährige: 

Name Klasse L.A. LA L 
B. Johann 
B. Karl . . 
G. Christian . 
Ha. Anna 
R. Elise . 
Sch. Ernst . 
St. Christine. 
H. Johann 
Ludwig 
. Leni . 
. Anna. 
Fanny. 
Hans . 
Anna. 
Josef . 
H. Jakob. 
K. Josef . 
M. Anton 
Sch. Karl. 
F. Agathe 
Ho. Anna . 
Sch. Kathar. 
S. Dora . 
Th. Sophie 


N A AN 
E EEEE AEAEE 
NEADON NOAN N 


BSBEBESHBBBHBEHBFHARRBHTnHnnnn 


10 jährige: 


Name Klasse L.A. IA. LR. 


E. Marie. .. L 10 4 6 
Sch. Heinrich . I. 10 7 3 


DHDHDDWm W 


DDVHWwVvVvP DR RHHHMHDDDRHOID DON ID y 


Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. 


I. Qu. 
0,75 
0,63 
0,75 
0,75 
0,88 
0,75 
0,88 
0,75 


I. Qu. 
0,78 
0,78 
0,67 
0,67 
0,78 
0,78 
0,44 
0,89 
0,56 
0,78 
0,67 
0,78 
0,89 
0,89 
0,89 
0,89 
0,89 
0,78 
0,56 


523 


524 A. Abhandlungen. 


Nr. Name Klasse L.A. LA. LR. I. Qu. 
3. B. Heinrich . . II. 10 8 2 0,80 
4. V. Josef I 10 8 2 0,80 
5. K. Ludwig u 10 8 2 0,80 
6. M. Josef I 10 5 5 0,50 
7. R. Robert. . I. 10 6 4 0,60 
8. St. Michael . 1 10 8 2 0,80 
9. Z. Karl u 10 6 4 0,60 
10. O. Rosa e a IE 10 6 4 0,60 
11. C. Ludwig . . IL. 10 7 3 0,70 
12. Ei. Johann mL. 10 8 2 0,80 
13. I. Alfons . II 10 6 4 0,60 
14. K. Josef . I. 1 6 4 0,60 
15. St. Josef . UI 10 8 2 0,80 
16. W. Jose... IL. 1 8 2 0,80 
17. Sch. Anna . . IV. 10 8 2 0,80 
18. B. Josef . . . IV. 10 8 2 0,80 
19. B. Ludwig . . IV. 10 8 2 0,80 
20. W. Gottfried. . IV. 10 9 1 0,90 
21. W. Hans. . . IV. 10 7 3 0,70 
22. B. Fanny. . . IV. 10 7 3 0,70 
23. K. Maie. . . IV. 10 9 1 0,90 
24 R. Fanny. IV. 10 8 2 0.80 
25 W. Marie. IV 10 8 2 0,80 
ll jährige: 
Nr. Name Klasse L.A. LA. LR. I. Qu. 
1. U. Anna . l. 11 7 4 0,64 
2. J. Johann. u 11 5 6 0,46 
3. Sch. Fritz. z JE 11 6 5 0,56 
4. L. Alois . ML 11 8 3 0,73 
5. N. Hans . M> 11 8 3 0,73 
6. F. Olga DI 11 8 3 0,73 
T. P. Anna . II 11 8 3 0,73 
8. Z. Frieda . II 11 8 3 0,73 
9. F. Johann . W 11 8 3 0,73 
10. K. Heinrich. . IV. 11 9 2 0,82 
11. S. Ferdinand. IV 11 8 3 0,73 
12. F. Auguste IV 11 9 2 0,82 
13. H. Therese IV 11 9 2 0,82 
14 St. Wally. s EV U 8 3 0,73 
15. W. Josef. . . IV. 11 8 3 0,73 


Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. 525 


12 jährige: 
Nr. Name Klasse L.A. LA. LR I. Qu. 
1. G. Marie. . . IV. 12 8 4 0,66 
2. R. Käthie. . . IV. 12 8 4 0,66 
3. W. Lina . . . IV. 12 8 4 0,66 
4. R. Michael . . IV. 12 8 4 0,66 
5. L. Michael . . IV. 12 10 2 0,83 
6. R. Barbara . . IV. 12 8 4 0,66 
T. S. Fanny. . . IV. 12 7 5 0,58 

13 jährige: 
Nr. Name Klasse L.A. LA LR I. Qu. 
1. Z. Brunno . . I 13 7 6 0,54 
2. F. Adolf . . . IV. 13 8 5 0,62 
3. K. Michael . . IV. 13 7 6 0,54 


Von diesen Ergebnissen interessiert des ferneren folgende Ge- 
samtübersicht, die uns zeigt, daß von den sämtlichen Kindern, wie 
wir sie in unserer Hilfsschule hatten, keines zu Unrecht eingereiht 
war. Einige zeigten 1 Jahr I.R. und zwar auf der unteren Alters- 
stufe, wo dies 1 Jahr noch sehr in die Wagschale fällt, die große 
Mehrzahl aber hat dann 2 bis sogar 6 Jahre I. R. Die tabellarische 
Übersicht gibt folgendes Bild: 


Zusammenfassende Darstellung: 
Wie viele Kinder sind im Rückstand um: 





te 0 Jahre 1 Jahr 2 Jahre 3 Jahre 4 Jahre 5 Jahre 6 Jahre Summa 
Total 
7 — — 1 2 — — — 3 
8 ne 4 9 2 1 — — 16 
9 — 7 9 5 2 1 — 24 
10 — 2 12 4 5 1 1 25 
11 — — 3 9 1 1 1 15 
12 — — 1 — 5 1 — 7 
13 — — — — — 1 2 3 
Summa — 13 35 22 14 5 4 93 
in Prozenten 

7 — — 33,3 66,6 — — — 100 
8 — 250 56,2 12,5 6,3 — — 100 
9 — 29,2 37,5 20,8 8,3 4,2 — 100 
10 — 8,0 48,0 16,0 20,0 4,0 4,0 100 
11 — — 20,0 60,0 * 6,7 6,7 6,7 100 
12 — — 14,3 — 71,5 143 — 100 
13 — — — = — 33,3 66,6 100 


Samma: — 139 378 237 151 54 44 100 


526 A. Abhandlungen. 


Das Ergebnis ist vom Standpunkt der Beurteilung der Methode 
für die Prüfung von Hilfsschülern aus sehr befriedigend. Die Über- 
sicht zeigt, daß wir ein klares Bild über die intellektuelle Verfassung 
des Schülers erhalten. Bedenkt man, daß dieses Urteil auf Grund 
einer nur 20 höchstens 30 Minuten erfordernden Prüfung gefällt 
werden kann, wie ich bei vielen Fällen, in denen ich die Prüfung 
vollständig allein vornahm, beobachten konnte, so erhält die Methode 
für das Aufnahmeverfahren an unseren Hilfsschulen eine Bedeutung, 
die jedenfalls durch weitere Aufnahmen nachgeprüft zu werden ver- 
dient. Ich kann es mir nicht versagen noch eine Zusammenstellung 
herzusetzen, die geeignet ist die Brauchbarkeit dieser Prüfung zu er- 
weisen. Ich hatte vor der Aufnahme schon in meiner eigenen Klasse 
die Kinder jeder Altersstufe nach ihrer intellektuellen Beschaffenheit 
in eine Reihenfolge vom besten bis zum tiefststehenden Kinde ge- 
bracht und erbat auch von jedem Lehrer eine solche Rangierung der 
Schüler auf Grund ihrer zum Teil mehrjährigen Beobachtung der Kinder. 

Die Übereinstimmung jener völlig unbeeinflußt entstandenen Listen 
mit den auf Grund der Testleistungen berechneten Listen war nun 
eine zum Teil so überraschend große, daß die Bewährung der Methode 
dadurch in günstigstem Lichte erscheint. Wo größere Abweichungen 
vorhanden, gaben die Kollegen zu, daß von ihnen die Rangierung 
mehr mit Rücksicht auf die Leistung als den wirklichen intellek- 
tuellen Stand geschehen war, was naturgemäß besonders auf der 
obersten Stufe zum Ausdruck kommt, weil dort schon mancherlei 
Fächer behandelt werden. In einigen Fällen wurde auch bei der 
nachträglichen Gegenüberstellung zugegeben, daß die Test-Rangierung 
richtiger sei, und daß sich der Lehrer geirrt hatte, weil er den Schüler 
erst einige Monate in seiner Klasse hatte. In einigen Fällen war 
Schwerhörigkeit des Schülers der Grund für die Abweichung. Die 
Rangierung habe ich in der Weise vorgenommen, daß ich bis zu der 
Altersstufe, die der Schüler normal beherrschen mußte, alle Minus 
zählte und nach der Größe dieser Zahl nun ordnete. Wo mehrere 
Schüler die gleiche Anzahl von Minus hatten, wurde so verfahren: 

1. Wer noch auf einer höheren Altersstufe als der andere ein + 
aufwies, erhielt den Vorzug. 

2. In weiteren Zweifelsfällen wurden die + und — in den Einzel- 
leistungen für die verschiedenen Tests nachgezählt, wobei sich 
ja doch eine Verschiedenheit ergab, weil für manchen Test 
2—3 Teilleistungen zu verzeichnen waren. 


Auf dieser Grundlage ergab sich dann folgendes Bild: 


Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. 


Name 


K. Alois. . 
B. Wilhelm. 
P. Elsa . 


Schw. Fanny 
Kö. Johann . 
S. Elise 

O. Xaver. 

S. Else . . 
Ko. Johann . 
H. Andreas . 
M. Leonhard 


R. Elise . 
B. Karl 

Sch. Ernst 
G. Christian . 
B. Johann 
Ha. Anna 
St. Christine . 


Sch. Heinrich 
E. Marie . 


Name 


R. Fanny. 
A. Anna . 
Sch. Marie 
H. Fritz . . 
M. Ludwig . 
S. Josef 

J. Ludwig 


Hilfsklasse I. 
7 jährige: 
Zahl der Rang nach der 
Minus Testserie 
7 1 
9 2 
9 3 
8 jährige: 
5 1 
7 2 
7 3 
8 4 
10 5 
11 6 
11 7 
18 8 
9 jährige: 
7 1 
8 2 
10 3 
12 4 
13 5 
14 6 
19 7 
10 jährige: 
16 1 
24 2 
Hilfsklasse II. 
8 jährige: 

Zahl der Rang nach der 
Minus Testserie 
4 1 
5 2 
6 5 
6 4 
7 5 
9 6 

10 7 


Rang beim 
Lehrer 
1 
2 
3 


oOoowuDpPprAÄ 


ı:190Puw-— 1% 


Rang beim 
Lehrer 


ossavrvpvH+ 


527 





528 A. Abhandlungen. 
9 jährige: 
Name Zahl der Rang nach der Rang beim 
Minus Testserie Lehrer 
H. Johann 6 1 1 
P. Fanny. 9 2 3 
Ko. Leni. 9 3 2 
K. Anna . 12 4 4 
Z. Ludwig 16 5 5 
10 jährige: 
Kö. Ludwig . 9 1 2 
B. Heinrich . 10 2 1 
D. Josef . . 10 3 3 
St. Michael . 10 4 6 
Z. Karl . 16 5 8 
R. Robert. 17 6 4 
M. Josef . 19 7 5 
O. Rosa 19 8 7 
11 jährige: 
Sch. Fritz. 20 1 1 
J. Johann 26 2 2 
Hilfsklasse III. 
9 jährige: 
Zahl der Rang nach der R beim 
Name Minus Toeiserio ehren 
B. Anna . 5 1 1 
H. Jakob . 5 2 2 
K. Josef . 5 3 7 
L. Hans . 7 4 9 
M. Anton. 9 5 3 
B. Josef . . 9 6 8 
Schw. Kath. . 9 7 10 
Th. Sophie 10 8 4 
Ha. Anna 12 9 6 
S. Dora 12 10 5 
F. Agathe 13 11 12 
Sch. Karl. 16 12 11 
10 jährige: 
W. Josef . 1 2 
St. Josef . T 2 1 





Name 


Ei. Johann 
C. Ludwig 
I. Alfons . 
K. Josef . 


F. Olga 

N. Hans . 
P. Anna . 
Z. Frieda . 
B. Alois . 


Name 


W. Gottfried. 


K. Marie . 


B. Ludwig). 


R. Fanny. 
Sch. Anna 
B. Josef . 
W. Marie. 
W. Hans . 
B. Fanny . 


H. Therese 


K. Heinrich . 


F. Auguste 
W. Josef . 
St. Wally. 
S. Ferdinand 
F. Johann 


Z. Michael 





R. Barbara . 


Zahl der 
Minus 


Rang nach der 
Testserie 


a oa w 


11 jährige: 


14 
16 


vAN 


Hilfsklasse IV. 
10 jährige: 


Zahl der 
Minus 


10 


Rang nach der 
Testserie 


So ou PB umh 


NOT POmD-m 


12 jährige: 


6 
15 


Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. 


Rang beim 
Lehrer 
3 


aD uy Am 


Rang beim 
Lehrer 


oao RAUND 


Ponıwo-m[8 


1) Ist schwerhörig und deshalb vom Lehrer so abweichend rangiert. 


529 


530 A. Abhandlungen. 


Zahl der Ragg nach der Rang beim 


Name Minus Testserie Lehrer 
W. Lina. . ..16 3 4 
R. Käthie. . . . 16 4 5 
R. Michael . . . 17 5 7 
G. Marie. . . . 19 6 6 
S. Fanny!) . . . 22 7 3 
13 jährige: 
F. Adolf . . . . 14 1 1 
K. Michael . . . 19 2 2 


Wer objektiv an die Prüfung dieser Gegenüberstellungen heran- 
tritt, wird die relativ große Sicherheit anerkennen, mit der die Test- 
untersuchung gearbeitet hat. Vor allem in der Bestimmung der ersten 
und letzten Schüler der Reihe besteht fast ausnahmslos Überein- 
stimmung, aber auch in der feineren Nuanzierung in der Mitte der 
Reihen trifft sie häufig zu. Am meisten Abweichung zeigt natur- 
gemäß die oberste, IV. Hilfsklasse, weil hier die sprachliche, rechne- 
rische, realistische Differenzierung der Leistungen dem Lehrer die 
Aufstellung einer fixen Reihe erschwert. 

Wenn ich mit dieser zur Nachahmung gewiß aufmunternden 
Übersicht die Arbeit schließe, so möchte ich nur nochmal in Er- 
innerung bringen, daß bei der weiteren Nachahmung auch mit 
größter Sorgfalt vorgegangen wird. Diese Arbeit konnte nur einen 
Überblick über die Untersuchungsmethoden und die Ergebnisse an 
unserer Schule in München geben. Für die vielen kleinen Details 
zur Vorbereitung auf die Anwendung der Testserie muß das Studium 
der gelegentlich angeführten Bobertagschen Beiträge zu der Frage 
dringend empfohlen werden. 


3. Die experimentelle Ermüdungsforschung. 
Von 
Marx Lobsien, Kiel. 
(Fortsetzung.) 
3. Wesen der Ermüdung. 
In den bisherigen Ausführungen wurde eine Abgrenzung der Er- 
müdung gegenüber der Übermüdung erstrebt. Jetzt möge versucht 
werden, das eigentliche Wesen der Ermüdung zu kennzeichnen. Eine 


1) Hört nur auf 5 cm Entfernung und hat deshalb bei der Testaufnahme so 
auffallend versagt. 


Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 531 


erschöpfende Antwort zwar vermag man heute noch nicht zu geben, 
zumal neueste Forschungen geeignet erscheinen, einer wesentlich ver- 
änderten Auffassung über das Wesen der Ermüdung Wege zu weisen. 

Allgemein gesprochen ist die Ermüdung ihrem Grundwesen nach 
ein Verbrauch von Kraftvorräten. Entsprechend den beiden wichtigsten 
Arten der Ermüdungssymptome, könnte man, sie als Hindeutungen 
wertend, von geistigen und leiblichen Kräftevorräten reden. Die An- 
nahme würde in die Irre führen. Von einem Verbrauch, einem Ver- 
nichten psychischer Kräfte kann keine Rede sein, die Erfahrung 
bestätigt hier vielmehr übereinstimmend lediglich eine Umwandlung 
von Kräften, ein Zusammenwirken zu neuen geistigen Erscheinungen 
und Formen. Man kann also lediglich auf physischem Gebiete 
von einem Kräfteverbrauch sprechen. Damit lehrt man streng ge- 
nommen, daß es eine geistige Ermüdung in dem Sinne, daß nur 
psychische Kräfte beteiligt wären, gar nicht gibt. Die Ermüdung be- 
ruht lediglich auf den körperlichen Grund- und Begleiterscheinungen 
des psychischen Geschehens. Die Natur dieser Kräfte ist uns teils 
unbekannt, teils sind wir imstande, sie bekannten anzuordnen und 
sie zu bezeichnen als mechanische, chemische, elektrische. Ihre letzte 
Quelle haben sie psychisch in der Verbrennung kohlenstoffreicher 
Bestandteile, die durch den Blutstrom immerfort den Muskeln, Nerven 
und dem Gehirn zugeführt werden. In erster Linie sind es die Kohle- 
hydrate, die Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff enthalten, die 
leicht zerfallen und verbrennen. Sie bilden bei der Verbrennung 
Kohlensäure und Wasser. Bei dieser Verbrennung wird Wärme er- 
zeugt, die teils in Bewegung umgesetzt, teils vom Körper ausgestrahlt 
wird. Die durch die Wärme erzeugte Energie wird teils bei den 
Körperbewegungen, teils bei der geistigen Betätigung verbraucht. Bei 
jeder Verbrennung bleiben Schlacken zurück, Verfallstoffe, so auch 
hier. Sie müssen, wenn sie nicht zu einem Hemmnis werden sollen, 
entfernt werden. Andrerseits aber ist notwendig, daß die verbrauchten 
Stoffe, Eiweiß, Fett, Kohlehydrate, Wasser ersetzt werden müssen 
durch neue Zufuhren. Das geschieht teils durch die Nahrungsaufnahme, 
teils durch die Atmung, teils im Körper selbst durch chemische Ver- 
bindungen. 

Der Verbrauch körperlicher Kräfte ist notwendig verbunden mit 
einer Herabsetzung der physischen Leistungsfähigkeit. Diese Herab- 
minderung, also die Abnahme, der Verbrauch physischer Kräftevorräte, 
hat eine psychische Komponente, eine geistige Begleiterscheinung in 
dem Müdigkeitsgefühl. Das Müdigkeitsgefühl ist komplexer Art 
und unter dem Einfluß quantitativer organischer Veränderungen, wie 


532 A. Abhandlungen. 
es scheint in seiner Grundrichtung durch Seitenkomponenten bestimm- 
bar. Man hat somit streng zu unterscheiden zwischen der Ermüdung 
und dem Müdigkeitsgefühl: Jenes ist eine körperliche, dieses eine 
geistige Erscheinung, jenes besteht eben in dem physiologisch be- 
dingten Verbrauch und Verfall der Kräfte, dieses ist psychologisch 
fundiert. Daß beide verschieden geartet sind, geht mit unwiderleg- 
licher Deutlichkeit aus der Tatsache hervor, daß zwischen beiden keine 
durchgehende Kongruenz besteht, worauf oben bereits hingewiesen 
wurde Es kann tatsächlich Ermüdung bestehen, aber es stellt sich 
dennoch kein Müdigkeitsgefühl als Warner ein; andrerseits kann das 
Müdigkeitsgefühl sich viel zu früh, ja wohl gleich mit beginnender 
Betätigung einstellen und über den tatsächlichen Kräftebestand oft 
folgenschwer täuschen. Diese Inkongruenz zwischen Ermüdung und 
ihrem Herolde, dem Müdigkeitsgefühl, ist kein natürliches Verhältnis, 
es deutet auf nervöse Störungen hin, ja man bezeichnet sie, zumal 
die erstere Form, als unfehlbares Kennzeichen vorhandener Neurasthenie. 
»Man macht für die falsche Erziehung die Unrast unserer Tage ver- 
antwortlich. Liegt doch in unserm hastenden Zeitalter des Dampfes 
und der Elektrizität, welches uns zwingt, die Nacht mit heranzuziehen 
zu größter Überarbeit und nervenzerrüttenden Vergnügungen, der 
Zustand der ‚Ermüdung‘ bei Tausenden keineswegs mehr in den 
physiologischen Grenzen, sondern greift nur zu oft und weit hinüber 
in das pathologische Gebiet.« Aber auch jene andere Seite der In- 
kongruenz ist pathologisch oft zu werten, nur möchte sehr oft die 
Wurzel mehr auf seiten der Seele als des Leibes, mehr als Schlaff- 
heit des Willens als Energielosigkeit der leiblichen Organe zu werten 
sein, mehr als eine Folge falscher Erziehung als die Nachwirkung 
kräftezerstörender Einwirkung auf die leiblichen Organe zu deuten sein. 
Auf die organische Seite der Ermüdung gesehen, pflegt man die 
Ermüdung ursächlich zurückzuführen auf das Entstehen und Anhäufen 
schädlicher, hemmender Stoffe, Gifte, Toxine, die nicht schnell genug 
fortgeschafft oder vernichtet werden, andererseits auf den Verbrauch 
und mangelhaften Ersatz von Ernährungsmaterial, das für den Aufbau 
und die Möglichkeit der Funktionen unbedingt notwendig ist. Natür- 
lich können beide ursächlichen Umstände gleichzeitig vorhanden sein, 
der eine in höherem, der andere in niederem Grade; es ist keines- 
wegs notwendig, daß sich beide ausschließen: Ebenso bleibt die Mög- 
lichkeit der Erwägung — Prof. Öhrvall deutet darauf hin — daß 
zwar das Ernährungsmaterial nicht fehlt, daß es aber noch nicht in 
die Form hat umgesetzt werden können, in der es bei der Muskel- 
arbeit verwendet werden kann (wie eine Lokomotive stehen bleibt, 


Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 533 





trotz Überfluß an Kohlen, Wasser usw., wenn nach einem bedeutenden 
Dampfverbrauch neuer Dampf sich noch nicht genügend hat bilden 
können). Man hat die ursächlich verschieden bedingten Ermüdungs- 
formen durch eine verschiedene Bezeichnung gegeneinander abzu- 
grenzen versucht. Verworn und nach ihm Aschaffenburg, Rievers 
und Kraepelin nennen die durch Toxine veranlaßte verminderte 
Leistungsfähigkeit Ermüdung, jene aber, die durch einen Mangel an 
Ersatzstoffen hervorgerufen wird, bezeichnen sie als Erschöpfung. Die 
Bezeichnungen haben keine weitere Verwendung gefunden und sind 
auch nicht unbedenklich, wie Öhrvall mit gutem Recht behauptet, 
denn man kann sie nicht wohl anwenden, ohne eine bestimmte An- 
sicht über die Ursachen zu äußern; die Ursachen aber sind uns bis 
heute nicht völlig klar. Auf Grund neuerer Untersuchungen kommt 
man immer mehr dazu, zu leugnen, daß der eben als Ursache der 
Erschöpfung genannte mangelnde Wiederersatz lebendiger Substanz 
tatsächlich besteht; man ist vielmehr der Überzeugung, daß unter 
physiologischen Bedingungen ein solcher Mangel, der zur Erschöpfung 
führen könne, nur äußerst selten vorkomme. Vielmehr dringt die 
Überzeugung durch, »daß verhältnismäßig schnell ein Verbrauch von 
Sauerstoff einsetze, der unter physiologischen Bedingungen dem Orga- 
nismus nur in beschränktem Maße zur Verfügung steht. Man neigt 
daher dazu, die Erschöpfung geradezu als eine Art von Erstickung 
aufzufassen. Hierbei häufen sich infolge Mangels von Sauerstoff Er- 
müdungssubstanzen in erhöhtem Maße an.« 

Die Kenntnis der Ermüdungsstoffe ist erst ganz jungen Datums. 
»Man hatte, nach dem Ausspruche Prof. Weichardts, ‚geradezu‘ eine 
gewisse Abneigung dagegen, in diese, der allgemeinen Meinung nach, 
noch vollkommene terra incognita genauer einzudringen.< Diesem 
Forscher verdanken wir nach Mosso, Zeutz, Verworn neue bahn- 
brechende Untersuchungen, die geeignet sind, über die physiologische 
Seite der Ermüdung, der leiblichen, wie der geistigen, ganz neues 
Licht zu verbreiten, und es steht bestimmt zu hoffen, daß sie der 
Ermüdungsmessung neue Methoden an die Hand geben werden, 
um zu fruchtbaren und exakten Messungen zu gelangen, wie sie 
sich für die Schulhygiene unter der tatkräftigen Assistenz des 
Berliner Lehrers Friedrich Lorentz, wie bereits erwähnt wurde, 
fruchtbar erwiesen haben. Wegen dieser großen Bedeutung der 
Weichardtschen Forschung möge erlaubt sein, einen Moment dabei 
zu verweilen an der Hand seiner äußerst lichtvollen Darstellung: Über 
Ermüdungsstoffe. Zunächst einige historische Vorbemerkungen! Ranke 
und hernach Mosso gelang der Nachweis, daß in den Muskeln (und 


534 A. Abhandlungen. 


wohl auch in den Nerven) Giftstoffe sich ansammelten, und zwar in 
den Gefäßen, worauf bereits hingewiesen wurde. Schon Ranke fand, 
daß vollständig ermüdete Muskeln, wenn man die Gefäße mit gas- 
freier (physivlogischer) Kochsalzlösung durchspülte, wieder auf Reize 
reagierten, später Kronecker, daß die Erfrischung, die Entmüdung 
viel vollkommener gelang, wenn die Durchspülung mit hypermangan- 
saurem Kali oder mit sauerstoffhaltigem Blute vorgenommen wurde. 
Verworn fand, daß nach Durchspülung der Gefäße mit physio- 
logischer Kochsalzlösung, noch vielmehr aber mit sauerstoffreicher 
Durchspülungsflüssigkeit, die ermüdeten Ganglienzellen wieder leistungs- 
fähig gemacht werden konnten. Aus diesen Ergebnissen durfte man 
offenbar den Schluß ziehen, daß die Ermüdung in ursächlichem Zu- 
sammenhang stehen müsse mit gewissen hemmenden Anhäufungsstoffen 
in den Organen, denn zugleich mit ihrem Vorhandensein war der 
Ermüdungszustand gegeben und nach ihrer Entfernung trat Frische 
und Arbeitsfähigkeit wieder ein. Zugleich ging deutlich hervor, daß 
bei der Anhäufung und Entfernung dieser Stoffe, die schon Mosso 
als Toxine bezeichnete, der Sauerstoff eine wesentliche Rolle spielt 
und zwar in dem Sinne, daß sein Mangel eine stärkere Anhäufung, 
sein Vorhandensein in größeren Mengen auch eine größere Abtötung 
der Giftstoffe im Gefolge hatte. Der Nachweis, daß es sich bei den 
Stoffwechselprodukten, den Ermüdungsstoffen um Giftstoffe handelt, 
ergibt sich aus folgendem: Spritzt man sie einem nicht ermüdeten 
Muskel ein, dann wird, je nach der eingespritzten Dosis, die Arbeits- 
fähigkeit alsbald vermindert oder ganz aufgehoben; er verliert seine 
Bewegungsfähigkeit und wird starr. Mosso in Turin spritzte einem 
Hunde das Blut eines erschöpften Tieres ein, das durch elektrische 
Ströme kis zum Starrkrampf ermüdet war, und erzielte eine ähnliche 
Erschöpfung, ohne daß das Tier sich irgendwie angestrengt hätte. 
Weil nun weiter ähnliche Wirkungen mittels Einspritzung von saurem 
phosphorsauren Kali und verdünnter Phosphorsäure gelangen, glaubte 
man einen Anhaltspunkt für die Deutung der chemischen Natur des 
Giftstoffes gefunden zu haben. 

Über die Methode Weichardts zur Gewinnung des Kenotoxins 
folgendes: Weichardt gewann das Gift anfangs aus dem Muskelsaft 
total ermüdeter Meerschweinchen, die zunächst mittels einer in der 
Kreuzbeingegend befestigten Schnur auf einem sehr rauhen Teppich 
ununterbrochen rückwärts gezogen wurden, bis sie keine Versuche 
machten, nach vorwärts zu laufen. Nun wurden mittels einer Pinzette 
Periostreize ausgeübt, die sehr lebhafte Muskelreflexzuckungen hervor- 
riefen, also zu erneuter lebhafter Ermüdungstoxinproduktion führten. 


Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 535 


Endlich wurden anfangs durch schwaches, dann als die Atmung still- 
stand, durch starkes Faradisieren Reize ausgeübt, um eine möglichst 
starke Anhäufung von Ermüdungstoxin unmittelbar nach dem Tode 
des Tieres zu erwirken. Weichardts Forschungen hinsichtlich der 
Natur des Giftstoffes und seiner Wirkungen mögen kurz skizziert 
werden! Der Muskelpreßsaft eines im Ermüdungssopor verendeten 
Tieres bewirkt, anderen Tieren eingepreßt, alle Stadien der Ermüdung 
entsprechend dem injizierten Quantum. Der Muskelpreßsaft wurde 
einem sehr komplizierten und schwierigen Reinigungsprozeß unter- 
zogen und so ein Präparat gewonnen, die erste Aufgabe des Reinigungs- 
prozesses bestand in der Entfernung der chemisch definierbaren und 
dialysablen Stoffwechselprodukte: Milchsäure, Kreatin, Kreatinin, Harn- 
stoff usf., die fernere in der Beseitigung von reichlich vorhandenem 
Muskeleiweiß. Das übrigbleibende rötlich gefärbte Filtrat wurde im 
hohen Vakuum unterhalb 30° rasch zur Trockne gebracht und die 
zurückbleibenden gelblichen Schüppchen in evakuierten Glasröhren 
eingeschmolzen. In flüssiger Luft aufbewahrt, hielt sich das Präparat 
wochenlang wirksam, d. h. eine 10prozent. Lösung desselben ver- 
anlaßte, kleinen Tieren injiziert, je nach dem injizierten Quantum, alle 
Stadien der Ermüdung, welche mittels unausgesetzter Muskelbewegung 
hervorgebracht werden können. — Das Ermüdungstoxin konnte 
Weichardt später aus Eiweiß in vitro herstellen, unabhängig vom 
Tierkörper. Zunächst gelang ihm, auch aus dem Muskelsaft nicht er- 
müdeter Tiere das Toxin herzustellen, dann aus einer ganzen Reihe 
von Eiweißarten mittels der verschiedensten Reduktionsmittel toxische 
Substanzen herzustellen; für das künstlich in vitro aus Eiweiß abspalt- 
bare Toxin wählte er den Namen Kenotoxin. Er versteht darunter 
»das Giftspektrum der höher molekularen Eiweißabspaltungsprodukte«. 

Prof. Weichardt gelang weiter, die Kenotoxinwirkungen zu be- 
einflussen, zunächst in Form der aktiven Immunisierung. Injiziert 
man Tieren geringe Kenotoxindosen, spürt man nur geringe Wirkungen, 
wählt man große, dann erleiden die Zellen des Versuchstieres große 
Schädigungen; es ist in den nächsten Tagen, sofern es nicht an Atem- 
stillstand bald verendet, gegen Kenotoxin überempfindlich; wählt man 
endlich mittelgroße Dosierungen, die keine dauernde Schädigungen 
im Gefolge haben, dann tritt das Stadium der erhöhten Widerstands- 
fähigkeit gegen Kenotoxin und der erhöhten Leistungsfähigkeit voll 
ein, allerdings erst nach einigen Tagen. Bei geringen Dosen ganz 
reinen Kenotoxins ist dagegen die dadurch veranlaßte Erhöhung der 
Leistungsfähigkeit bereits wenige Stunden nach der Injektion zu be- 
obachten. Das Vorhandensein aktiver Kenotoxinimmunität kenn- 


536 A. Abhandlungen. 


zeichnet sich durch: größere Lebhaftigkeit, erhöhte Temperatur, größere 
Widerstandsfähigkeit gegen Injektion reinen Kenotoxins, erhöhte 
Leistungen nach Ausweis der Kymographionkurven. — Eine weitere 
Form der Kenotoxinbeeinflussung ist diejenige durch Antikörper. »Es 
gelingt, mittels minimaler Mengen eines aus Eiweiß hergestellten 
Antikörpers, Kenotoxin zu beeinflussen, dessen Wirkung aufzuheben.« 
Das Antikenotoxin bezeichnet Weichardt mit dem Namen Hornigen. 

Wieweit möglich sein wird nicht nur mittels des Kenotoxins 
und des Hornigens der Ermüdung besonders in der Schule erfolgreich 
und ohne schädigende Folgen entgegenzutreten, wieweit es ferner 
möglich sein wird, mittels derselben von dem subjektiven Ermessen 
des Experimentators unabhängige zuverlässige Meßbestimmungen der 
Ermüdung zu gewinnen, muß der Zukunft vorbehalten bleiben; be- 
deutsame Ansätze liegen zweifelsohne vor. Möglich ist auch — das 
möge erlaubt sein, hier anzumerken —, daß die Kenotoxinprüfungen 
ein wertvolles Kriterium zu geben gestatten gegenüber den zahlreich 
vorliegenden Methoden zur Erforschung der Ermüdung. — 

Wenden wir uns kurz dem Wesen der geistigen Ermüdung zu! 
Naturgemäß sind wir hier noch mehr auf die symptomatische Charakte- 
risierung angewiesen. Die geistige Ermüdung äußert sich einerseits 
in einer Herabsetzung des Umfangs der geleisteten Arbeit, andrerseits 
in einer Steigerung ihrer Fehler, also Abnahme ihres Wertes; kurz, 
die Ermüdung vermindert das Quantum und die Qualität der Leistung. 
Aber auch hier hat die landläufige Meinung, diese Symptome ständen 
in geradem Verhältnis zu der wachsenden Ermüdung, also nähmen in 
dem gleichen Maße zu wie diese, sich eine Korrektur gefallen lassen 
müssen. Es bestehen Inkongruenzen, die sowohl auf die quantitative, 
wie auf die qualitative Seite der Leistungen sich beziehen. Achten 
wir zunächst auf jene! Die Erfahrung, die experimentelle, aber auch 
die sorgsamere vulgäre, hat ergeben, daß Zu- und Abnahme des 
Arbeitsumfanges und des Arbeitswertes nicht einander parallel gehen. 
Vielmehr kann unter Ermüdungswirkung sehr wohl das Arbeitsquantum 
eine anfängliche oder auch länger währende Steigerung erfahren, 
während die Fehlerhäufigkeit eine Zunahme, der Arbeitswert also 
eine Abnahme zeigt. — Noch deutlicher offenbart sich aber die In- 
kongruenz in folgendem: Unter den Forschern herrscht heute noch 
nicht völlige Übereinstimmung in der Beantwortung der Frage: Wann 
tritt die Ermüdung ein? Diese, die rein logisch erwägend vorgehen, 
schließen so: mit dem Eintritt der Arbeit beginnt auch der Kräfte- 
verbrauch, folglich muß die Ermüdung sofort mit dem Beginn der 
Arbeit einsetzen. Andere schließen in gleichem Sinne, aber auf Grund 


— —_ _ | 


Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 537 


experimenteller Erfahrungen. So urteilt Schulze auf Grund seiner 
Beobachtungen nach sechsstündiger fortlaufender Arbeit: »Die Muskel- 
ermüdung und die geistige Ermüdung bewirken von Anfang an eine 
Verminderung der Arbeitskraft, und zwar sinkt die Leistung am An- 
fang schneller als später.«c Denen gegenüber stehen andere, die be- 
haupten, die Ermüdung setzt nicht gleich ein, sondern erst nach Ab- 
lauf eines gewissen Zeitraums, während dessen die Leistungsfähigkeit 
wachse. So urteilt die Schule Kraepelins, so auch Weichardt, 
der die anfängliche Steigerung erklärt als beruhend auf der Bildung 
von Kenotoxin und der durch dieses veranlaßten aktiven Immuni- 
sierung. 

Bei der Stellungnahme muß man zunächst bedenken, daß ein- 
wandfreie Untersuchungen über die Ermüdungswirkungen nur unter 
der Voraussetzung möglich sind, daß für die bei dem Versuch ge- 
forderten Arbeiten Maximalleistungen zu Beginn der Experimente 
gewährleistet werden, d. h. es müssen den Versuchen Übungskurse vor- 
aufgegangen sein, die eine maximale Übungshöhe erzielten, andernfalls 
ist selbstredend, daß die Übung gegenüber den Ermüdungswirkungen 
stark verdeckend auftritt. Des weiteren ist zu bedenken, daß man 
zu unterscheiden hat zwischen der Ermüdung und ihren Symptomen. 
Man muß wenigstens die Möglichkeit zugeben, daß die Ermüdung 
ihre Wirksamkeit begonnen haben kann, bevor ihre Symptome dem 
Experimentator deutlich werden. Dazu ist weiter zu bedenken, daß 
nahezu überall, wo die Forderung, eine Maximalleistung an den Anfang 
der eigentlichen Versuche zu stellen, erfüllt wurde, dennoch ein so- 
fortiger Abstieg der Leistungen nicht erkennbar war; es offenbarten 
sich gegenüber einem solchen Abstieg Iukongruenzen. Es ist das 
Verdienst der Schule Kraepelins, der Ermüdungsforschung durch 
den Nachweis dieser Inkongruenzen neue und wertvolle Aufschlüsse 
gebracht zu haben, es handelt sich um Inkongruenzen, die gleichsam 
neben der Ermüdung einherlaufen, zumeist aber deren Wirkung für 
den unbefangenen Beobachter überdecken. Sie werden uns hernach 
noch ausführlicher interessieren, deshalb beschränke ich mich an 
dieser Stelle darauf, sie nur namhaft zu machen; es handelt sich um 
Wirkungen der Übung, der Gewöhnung, der Anregung (Arbeitsbereit- 
schaft nennt Kraepelin diese Erscheinung in der Abhandlung über 
die Wirkung kurzer Arbeitszeiten. Bd. IV d. psych. Arb.), des An- 
triebes. Die meisten dieser Erscheinungen sind deutlicher erst bei 
fortdauernder Arbeit nachzuweisen. 

Das Fortschreiten der Ermüdungswirkung ist weiter noch be- 
einflußbar durch Ursachen, die mehr oder minder von der Arbeit als 

Zeitschrift für Kinderiorschung. 18. Jahrgang. 35 


538 A. Abhandlungen. 


solcher unabhängig sind. Wir kennen sie ihrer eigentlichen Natur 
nach nicht genauer, sie sind nur symptomatisch mit hinlänglicher 
Gewißheit experimentell nachgewiesen worden. Sie äußern sich formal 
als Energieschwankungen in Gestalt der Wellenbewegung und zwar 
in periodischer Wellenbewegung. Die Periodizität ist teils in kleineren 
Zeitintervallen nachweisbar, teils aber auch über größere Zeitepochen 
hinaus. Man hat sie in Parallele gestellt zu andern regelmäßig wieder- 
kehrenden Erscheinungen, wie dem täglichen Wechsel in der Nahrungs- 
aufnahme, der Periodizität zwischen Ruhe und Schlaf, (am weit- 
gehendsten Schuyten) zum Wechsel der Jahreszeiten. Diese 
Parallele ist aber eben nichts weiter als eine solche, keine zureichende 
Kausalkonstruktion. Auch die allgemeine Charakterisierung: psycho- 
physische Energieschwankungen ist vorderhand nur eine nicht ursäch- 
liche Bezeichnung gewisser experimentell erwiesener Erscheinungen. 

Neben den quantitativen Schwankungen und Nichtübereinstimmungen 
sind diejenigen qualitativer Art zu unterscheiden. Man kann sie auf 
zwei Hauptursachen zurückführen, eine mehr nach Seite des Objekts, die 
andere nach Seite des Subjekts. Zu den ersteren haben wir diejenigen 
zu rechnen, die in den spezifischen Schwierigkeitsdifferenzen der ge- 
forderten Arbeitsleistungen wurzeln. Die Bestimmung dieser Schwierig- 
keitsunterschiede ist nicht ganz leicht, sie differenzieren sich einerseits 
nach der spezifischen individuellen Begabung; daneben aber muß da- 
mit gerechnet werden, daß ihnen, auch abgesehen von individuellen 
Besonderheiten, ein objektiver Schwierigkeitskoeffizient eigen ist, 
wenigstens, wenn man eine Gruppe von Prüflingen ins Auge faßt. 
Zwar meint Münch in seinem Artikel: Schülertypen (Ztschr. f. päd. 
Psych. I), der Versuch, die Lehrfächer nach dem Maße ihrer Schwierig- 
keit oder ihrer Übungswirkung schlechtbin abzustufen, müsse als ge- 
scheitert gelten, weil viele Bedingungen da modifizierend einwirken, 
aber das Versagen gewisser Schüler gegenüber den Anforderungen 
des einen oder andern Faches — das könne nicht mit dem Hinweis 
auf die fehlende vollere Lehrkunst bestritten werden — sei ein für 
sie natürlich gegebenes und endgültiges. »Die mathematischen Köpfe 
sind schlechterdings eine andere Art von Geistern, als die mathematik- 
feindlichen Freunde der Sprach- und Geschichtsstudien. Im Grunde 
zerfallen alle unsere Gebildeten wesentlich in diese beiden Gruppen, 
und das scheidet sie beinahe mehr als Nationalität.« Doch braucht 
man bei diesem allgemein bekannten Unterschiede nicht zu verweilen 
— die Verschiedenartigkeit der Anforderungen muß notwendig auch 
eine Verschiedenheit in dem Grade der Ermüdungswirkung bedingen. 

Zu diesen vorwiegend objektiv bedingten Bestimmungen der Er- 


Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 539 


müdung gesellen sich subjektive: Unlust, Überdruck, Widerwillen und 
ähnliche Feinde einer energischen Willensanspannung. 

Rückblickend dürfen wir sagen: Das Wesen der Ermüdung ist 
letzten Endes körperlich bedingt. Nach seiner physiologischen Seite 
scheint es relativ einfach, ja, vielleicht auf eine eindeutige Grund- 
ursache zurückführbar zu sein — nach der psychologischen Seite aber 
ist die Ermüdung, so einfach sie in ihrer Wirkung zu bestimmen ist, 
eine sehr komplexe Erscheinung, insonderheit infolge der zahlreichen 
modifizierenden und überdeckenden Begleitphänomene. 


4. Für die Messung besonders wertvolle Symptome. 


Im Anschluß an diese Erörterung mögen die Symptome leiblicher 
und geistiger Ermüdung dargestellt werden, die sich insonderheit 
brauchbar erwiesen haben, zu einem Maßstabe der Ermüdungsintensität 
Verwendung zu finden. Dabei handelt es sich naturgemäß um Vor- 
gänge, teils physiologischer teils psychologischer Art, teils beider zu- 
sammen. Ein Maßstab hat es immer mit etwas quantitativem zu tun, 
mithin kommen als symptomatisch quantitative Veränderungen in Be- 
tracht solche, die einer quantitativen Veränderung unter dem Einfluß 
der Ermüdung fähig sind. Quantitative Veränderungen sind teils 
solche, die im Raume, teils solche, die in der Zeit sich vollziehen, 
teils aber solche, die auf eine äußere Wirkung als Ursache bestimmter- 
Kraftentfaltung beruhen. — Kurz, es kommen solche Symptome in 
Frage, auf die in irgend einer Weise die Zahl Anwendung finden 
kann, die Bestimmungen des Viel und Wenig. Die meßbaren Äuße- 
rungen nach Seite der Extensität in Raum und Zeit und der Intensität 
nach Seite der Häufung von Leistungseinheiten gelten als Symptome 
für die Energie eines jeweils vorhandenen psychophysischen Kräfte- 
zustandes, den man allgemein als Arbeitskraft oder Leistungsfähigkeit 
bezeichnet, dessen Äußerung als Arbeit. Die Ermüdung ist nach der 
symptomatischen, also quantitativen Seite, die uns bier allein inter- 
essiert, eine Herabminderung der Arbeitskraft oder Leistungsfähigkeit, 
ein Kräfteverbrauch. Sie muß daher ganz allgemein in den quanti- 
tativen Formen zum Ausdruck kommen, die erfahrungsgemäß mit 
dem Kräfteverbrauch notwendig verbunden erscheinen: also Ver- 
minderung der Zahl der Leistungseinheiten, Verlängerung der Zeit, 
Verkürzung des Weges. Nun handelt es sich aber nicht um rein 
mechanische-physische Arbeitsverrichtung, sondern zugleich oder nur 
um geistige Betätigung, und diese erlaubt keineswegs immer eine rein 
mechanische Ausdeutung der Symptome, sondern erfordert jeweils, 
daß die richtige Deutung eine Umkehrung des mechanischen Vor- 

35* 


540 A. Abhandlungen. 


zeichens erfährt. Zur Erläuterung erinnere ich an die Schwellen, etwa 
der Hautempfindlichkeit, und ihre Beziehung zur Energie der Auf- 
merksamkeit. Je geringer die räumliche Entfernung zwischen den 
Spitzenabständen, um so größer ist das jeweils vorhandene Quantum 
an Aufmerksamkeitskapazität. Nach rein physisch-mechanischer Auf- 
fassung mußte das Wahrnehmen entfernter Zirkelspitzen mit mehr 
Schwierigkeit verbunden sein als das geringer Distanzen; wenigstens 
haben wir uns auf dem Gebiete daran gewöhnt, das als schwieriger 
aufzufassen und eine Ausdehnung der Wirksamkeit über einen größeren 
Raum als Symptom eines größeren vorhandenen Kräftebestandes zu 
deuten. — Hier aber handelt es sich um ein genau umgekehrtes Ver- 
hältnis, die geringere Wegstrecke ist Kennzeichen größerer Energie. 
Neben diesen zwar umgekehrten aber immerhin einfachen quanti- 
tativen Verhältnissen treten bedeutende Komplizierungen dann auf, 
wenn die Qualität der geleisteten Arbeit gewertet werden muß. Die 
Qualität entzieht sich teilweise einer quantitativen Schätzung, nur die 
Zahl der Fehler erlaubt eine schärfere, ihre Art aber großenteils nur 
subjektive, also willkürliche Schätzung, Man wird also dann am 
sichersten gehen, wenn man entweder gänzlich auf die Qualität der 
Leistung verzichtet und lediglich räumliche und zeitliche oder In- 
tensitätswerte verwendet. Das kann entweder dadurch geschehen, daß 
man die Arbeitsqualität absichtlich ignoriert, aber auch dadurch, daß 
man eine so einfache oft geübte Arbeit ausführen läßt, eine Ermüdung 
zu erzielen, daß das Fehlermachen ausgeschlossen ist oder doch in so 
minimalem Umfange geschieht, daß man dieses Moment vernachlässigen 
kann. Allerdings erkauft man die größere Exaktheit mit einer Ver- 
leugnung wirklicher tatsächlicher Arbeitsweise des täglichen Lebens. 
Will man aber die Wirklichkeitsferne vermeiden, dann muß man 
zumeist auf die genaue Maßbestimmung der zeitlichen und räumlichen 
Verhältnisse verzichten (wenigstens vertragen sie nur eine gekünstelte, 
gewaltsame Einordnung) und sich auf eine Fehlerwertung festlegen. 
Alle Ermüdungsmessung, soweit sie bis heute vorliegt, 
ist bis zu einem gewissen Grade lebensfern. Sie arbeitet unter 
künstlich geschaffenen Verhältnissen und Voraussetzungen, zwar solchen, 
die den tatsächlichen Bedingungen der Praxis möglichst nahe zu 
kommen trachten, sie aber niemals völlig erreichen können und dürfen, 
wenn sie nicht ihre Absicht aufgeben wollen, das Ermüdungsphänomen 
experimentell zu erforschen. Die Bedingungen sind in zweifacher 
Hinsicht als künstlich zu werten und dementsprechend die Resultate 
als Asymptote der wirklichen Verhältnisse, einerseits rücksichtlich des 
verwendeten Maßstabes, andrerseits bezüglich der gemessenen Arbeit. 


Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 541 


Verstehen wir unter einem natürlichen Maßstab denjenigen, dem er- 
laubt ist, dem eigentlich Wesentlichen (wenigstens für das augenblick- 
liche Interesse) des zu Messenden angelegt zu werden, dann unter 
einem künstlichen einen solchen, der nur indirekt, auf dem Wege 
der Umdeutung das ermöglicht. Künstlich sind aber auch zumeist 
die geforderten Leistungen, weil sonst dem Experimentator nicht mög- 
lich ist, willkürliche Veränderungen vorzunehmen, die seiner messen- 
den Berechnung standhalten. Nach diesem Gesichtspunkte möge unter 
den Ermüdungssymptomen eine Auswahl getroffen werden, für die 
maßgebend ist ihr Verhältnis zu dem zu Messenden, hier also der zu 
messenden Arbeitsleistung. Künstlich, das möge noch einmal zu be- 
tonen erlaubt sein, ist das Verhältnis überall bei den Ermüdungs- 
messungen, es kommt mithin nicht darauf an zu sondern zwischen 
künstlichen und rein natürlichen Maßstäben und Maßmethoden, sondern 
Grade der Annäherung zu unterscheiden. Unter den künstlichen Ver- 
hältnissen ist offenbar jenes als das am wenigsten lebensferne zu be- 
zeichnen, da das Maß ein Teil, eine Einheit der geforderten Arbeit 
selber ist. Ich greife ein Beispiel heraus! Will ich mittels des Ergo- 
graphen die Muskelenergie des Zeigefingers messend bestimmen, dann 
besteht in dieser Beschränkung auf diese eine spezielle Aufgabe 
zweifelsohne ein natürliches Verhältnis zwischen Methode des Messens 
und der Muskelenergie. Die Anzahl der kg-m bilden Einheiten der 
tatsächlich geleisteten Muskelarbeit. Anders aber, wenn ich bei dieser 
nächsten engumgrenzten Aufgabe nicht stehen bleibe, sondern beginne, 
die Leistung symptomatisch zu werten! Schon wenn aus zahlreichen 
Fingerleistungen derselben Person unter verschiedenen äußeren Be- 
dingungen, noch mehr aus solchen einer Reihe von Prüflingen ein 
Durchschnitt gewonnen und als allgemeingültig angesprochen wird, 
hebt man sich von den tatsächlichen Verhältnissen, dem natürlichen 
Zusammenhange zwischen Maßstab und Arbeit (Absicht) hinweg. Noch 
in einem höheren Maße künstlich wird das Verhältnis dann, wenn 
die gefundenen kg-m angesprochen werden als Leistungsausdruck der 
physischen Energie des Individuums, gar einer größeren Gruppe von 
Einzelwesen oder überhaupt. Aber noch um einen ganz wesentlichen 
Schritt ins Lebensferne hinein erhebt man sich dann, wenn man in 
der physischen Leistungsenergie des Fingers einen sicheren Maßausdruck 
erblickt auch für die geistige Leistungsfähigkeit, die Energiesumme 
eines jeweilig vorhandenen geistigen Kräftevorrats. — Das Beispiel 
ward aus dem Bereiche der physischen Maßmethoden gewählt. Ich 
hoffe meine Meinung noch weiter deutlich zu machen, wenn ich einen 
Symptomenkomplex auswähle, dessen qualitativ - quantitative Wert- 


542 A. Abhandlungen. 


schwankungen als Ausdruck geistiger Leistungsschwankungen Ver- 
wendung finde. Wenn mittels Darbietung von visuellen Wortbildern 
ohne Sinn eine Prüfung des Gedächtnisses vorgenommen wird, dann 
ist das Ergebnis ein Symptomenkomplex, der in engster Beziehung 
zu der gestellten Aufgabe steht, er bietet, sofern er mit hinlänglicher 
technischer Sorgfalt gewonnen worden ist, in der Tat einen Maßstab 
für die Gedächtnisenergie, die im Augenblick des Versuchs bei der 
bestimmten Versuchsperson nachweislich war; offenbar werden wir 
hier wieder von einem natürlichen Verhältnis reden können. Aber 
wenn man den Versuch zu andern Zeiten wiederholt, und in dem 
Auf und Ab der gefundenen Leistungen nun nicht einfach einen 
Beweis dafür erblickt, daß die Gedächtnisenergie nicht zu allen Zeiten 
und unter allen persönlichen Lebenslagen dieselbe, sondern gewissen 
Schwankungen unterworfen ist, wenn man über diesen zweifellosen 
Tatbestand hinausgeht und nach kausalen Beziehungen sucht, etwa 
derart, daß man die Ermüdung und Erholung für die Schwankungen 
verantwortlich macht, wenn man dann in der Ursachenkette noch ein 
Glied weiter hinaus leitet und für diese Erholung und Ermüdung 
Arbeit verantwortlich macht, die inzwischen verrichtet worden ist, 
wenn man in seinem Kausalbedürfnis gar bestimmte Arbeiten, be- 
stimmte Erholungsweisen verantwortlich macht und nun in den be- 
rechneten Gedächtnisleistungen dafür einen mehr oder minder exakten 
Ausdruck erblickt, — dann hat sich das Verhältnis entschieden ge- 
wandelt, dann ist es kein natürliches mehr, sondern ein recht künst- 
liches. Selbstverständlich dürfte man sich mit einer so oberflächlichen 
Beziehung in Bausch und Bogen nicht begnügen, sondern muß 
genauere Arbeitseinheiten experimentell festlegen und zu den Ge- 
dächtnisleistungen in Beziehung setzen — das ändert aber nichts 
daran, daß das Verhältnis kein natürliches mehr ist, sondern unter 
der Wirkung der Absicht des Experimentators zu einem künstlichen 
geworden ist. Das Verhältnis wird noch um ein erhebliches künst- 
licher, wenn man für die leibliche Ermüdung denselben Maßstab ver- 
werten wollte. 

Als Agens können bei der Ermüdungsmessung die verschiedenen 
Formen der Arbeit, leibliche wie geistige, Verwendung finden; man 
hat aber auch sogenannte Ruhekurven entworfen und spricht auch 
dann, obgleich in uneigentlichem Sinne, von einem Ermüdungsagens. 
Wenn ich sagte in uneigentlichem Sinne, dann ist daran eine be- 
sondere Meinung geknüpft. Von Ruhe kann in einem lebenden Orga- 
nismus überhaupt keine Rede sein. Leben heißt schlechterdings wirk- 
sam sein, die Ruhe ist das kontradiktorische Gegenteil des Lebens, ist 


Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 543 


nichts mehr und nichts minder als seine Aufhebung, der Tod. Wenn 
man also von einem Agens redet, obwohl man dabei die Ruhe im 
Auge hat, dann kann darunter nur verstanden sein ein minderer Grad 
von Betätigung, ein Arbeiten, das nicht unter die direkten bestimmten 
Absichten gestellt ist, das nicht auf eine bestimmte quantitative und 
qualitative Leistungssumme innerhalb eines vorgeschriebenen oder vor- 
genommenen Zeitraums gerichtet ist, wenn nicht gar auf ein solches, 
in das die bewußte Absicht überhaupt nicht eingreift. 

Als Agens können, wie gesagt ward, die verschiedenen Arten 
geistiger und leiblicher Betätigung Verwendung finden, die ver- 
schiedenen Unterrichtsfächer, bestimmte körperliche Übungen, Spiele, 
Spaziergänge. Als Reagens bezeichnen wir mit Baade diejenigen Er- 
müdungssymptome, die geeignet sind, einen genauer vergleichbaren, 
also meßbaren Ausdruck für die Höhe der Ermüdung abzugeben. 

Zwischen Agens und Reagens kann man folgende Verhältnisse 
obwaltend denken, entsprechend den weiter oben angeregten Gedanken: 
Entweder decken sich Agens und Reagens, also das Agens dient zu- - 
gleich als Maßstab für die Ermüdung oder aber Agens und Reagens 
sind wesentlich verschieden, das Verhältnis zwischen beiden ist ein 
künstliches. Im einzelnen bestehen folgende Beziehungen: Das Agens 
ist eine leibliche Arbeit, das Reagens ebenfalls, oder das Agens ist 
eine geistige Leistungsforderung, das Reagens ebenfalls. Unter diesen 
Verhältnissen reden wir von natürlichen Beziehungen. Das Verhältnis 
ist aber auch gekreuzt möglich, daß also ein leibliches Reagens zu 
einem vorwiegend geistigen Agens oder umgekehrt, ein geistiges 
Reagens zu einem leiblichen Agens in Beziehung gesetzt wird. 

Die Ermüdungssymptome, die als Reagens Verwertung finden 
können, lassen sich in 3 Hauptgruppen sondern, solche die charakte- 
risiert sind als eine Verminderung leiblicher, insonderheit muskulärer 
Leistungsfähigkeit, solche die als Herabsetzung im strengeren Sinne 
psychophysischer Leistungsmöglichkeiten und endlich solche, die vor- 
wiegend als Reduzierung geistiger Arbeitsfähigkeit gedeutet werden 
müssen. — Blickt man zurück auf die früher gegebene Übersicht, 
dann ist unschwer die obige Einteilung durch reichliche Beispiele 
aus der praktischen Ermüdungsforschung zu belegen; eine genauere 
Darstellung erübrigt sich. (Forts. folgt.) 


544 B. Mitteilungen. 


B. Mitteilungen. 


1. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers 
»Grundzüge der erzieherischen Behandlung sittlich 
gefährdeter und entgleister Mädchen in Anstalten 
und Familien«. 
Von Fr. Bergold, Hamburg (Waisenhaus). 
(Schluß.) 


Hammer glaubt in folgendem einen Beweis gegen die Erziehungs- 

anstalten zu bringen. 
Punkt 5. 

»Unter den 25 Fürsorgemädchen des Fröbelkrankenhauses, die dort 
einen Tagesbestand bildeten, befanden sich nach der Beobachtung der 
zwischen ihnen lebenden Pflegerinnen 20 Lesbierinnen, 2 Zweifelhafte, 
3 Normale. Innerhalb zweier Monate entpuppte sich eines der hier als 
normal bezeichneten Mädchen als leidenschaftliche Lesbierin. 

Hingegen waren von 131 polizeilich eingelieferten Nichtfürsorge- 
mädchen, die an demselben Tage im Fröbelkrankenhause untergebracht 
waren, nach Angabe der Pflegerinnen: 


Lesbierinnen . . . 50 
Zweifelhaft . . . 8 
Normal. . ...73 


Mit anderen Worten: Rund die Hälfte aller Dirnen betrieb im 
Krankenhause die lesbische Liebe. 

Von den Fürsorgemädchen waren #/, ausgesprochene Lesbierinnen. 
Von den nicht unter Fürsorge stehenden Dirnen waren jedoch nur 50/51 
oder 5/,; ausgesprochene Lesbierinnen.« 

Man möchte eine solche Beweisführung als naiv bezeichnen, wenn sie 
nicht zu ernsten Bedenken Anlaß gäbe. Kehrt sich nicht der Pfeil und 
richtet sich gegen den Schützen? Wie kann Hammer die Erziehungsanstalten 
für die Unzuchtbetätigung der Mädchen in einem Krankenhause verantwort- 
lich machen wollen? Und ist es von einem Mediziner nicht allzu gewagt, 
von einem Krankenhause zu berichten, welches seine Insassen sich in der 
lesbischen Liebe »leidenschaftlich« betätigen läßt und nicht längst Vor- 
kehrungen traf, dieses zu verhindern? Und noch eines sei Hammer zur 
Erwägung gegeben: Die Führung der Zöglinge richtet sich zum großen 
Teile nach der Persönlichkeit ihres Vorgesetzten; das will sagen: Über 
dieselben Zöglinge, die bei einem Erzieher eine musterhafte Gruppe bilden, 
kann ein anderer infolge eigener Unklugheit oder Unfähigkeit die leb- 
haftesten Klagen führen. Dieser Fall kann z. B. eintreten, wenn ein An- 
staltsleiter sein Personal zu ständiger und scharfer Beobachtung der Zög- 
linge auf sexuelle Unzucht hin anhält. Nach einer allbekannten Erfahrung, 
daß man bei seinen Zöglingen die Fehler finden kann, die man bei ihnen 


1. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers Grundzüge usw. 545 


sucht, hat die eben genannte Maßnahme des Anstaltsleiters zur Folge, daß 
die Zöglinge auf Dinge aufmerksam gemacht werden, von welchen sie 
sonst vielleicht ganz unberührt bleiben würden. Dann allerdings vermögen 
»die Brutstätten der gleichgeschlechtlichen Entartung«e, womit aber nicht 
die Erziehungsanstalten bezeichnet sein sollen, selbst bei dem Nicht- 
fachmanne kein Verwundern mehr zu erregen. Der taktvolle Erzieher 
jedoch wird seine bezüglichen Beobachtungen nach Möglichkeit verbergen 
und verhüten, daß er selbst zur »überwiegend schädlichen Umgebung« 
für seine Zöglinge werde. 

Doch abgesehen von diesem allen ist anzunehmen, daß die beobachtenden 
Pflegerinnen des Fröbelkrankenhauses vielleicht aus Übereifer in den Fehler 
der starken Übertreibung gefallen sind. — Meinen Erfahrungen und Er- 
kundigungen nach kommen die Fälle lesbischer Liebe in den Er- 
ziehungsanstalten auch nicht entfernt so häufig vor, als wie 
Hammer sie durch Pflegerinnen in einem Krankenhause hat beobachten 
lassen. Den Hammerschen Ausführungen entgegen steht fest, daß unsere 
gut geleiteten Anstalten sehr wohl imstande sind, eine weitere Aus- 
dehnung der sexuell unzüchtigen Neigungen ihrer Zöglinge (ausschließlich 
solcher, die ihres krankhaften Zustandes wegen in eine andere Anstalt 
gehörten) nicht nur zu verhindern, sondern ebensowohl den Kampf gegen 
dieselben erfolgreich aufzunehmen. Herrschen dennoch in einer Anstalt 
sexuelle Ausschweifungen vor, wie Hammer sie vom Fröbelkrankenhause 
berichtet, so ist ganz sicher ein gut Teil der Schuld auf das Konto der 
ungünstigen Verhältnisse dieser Anstalt zu setzen. nicht aber, wie diese 
ungünstigen Verhältnisse sich unter der Regie des Fürsorgeerziehungs- 
gesetzes entwickelten, sondern allein, wie die mangelnde Befähigung oder 
direkte Unfähigkeit des Anstaltsleiters und -personals sie schufen. 

Es sei die Frage nicht unbetrachtet: Zu welchem Zwecke entwirft 
Hammer von den Erziehungsanstalten ein solch’ grauenvolles Bild? Ge- 
dachte er den Anstalten zu dienen? Durch mancherlei betrübende Vor- 
kommnisse in einzelnen Anstalten und durch eine unbegründete Vorein- 
genommenheit weiter Kreise sind die Erziehungsanstalten bei der Öffent- 
lichkeit und bei verschiedenen einflußreichen Persönlichkeiten in einen üblen 
Ruf geraten. Heißt es da angesichts dieses die Interessen der Anstalten 
wahren und fördern, wenn man zu andern unbegründeten Verdächtigungen 
neue schwerere hinzufügt? Wohl ist jede gerechte Kritik erlaubt, 
und jede Ungehörigkeit der Anstalten verdient an den 
Pranger gestellt zu werden, wenn anders keine Abhilfe 
beschafft wird, doch muß man bei solchem Unternehmen 
allseitige und strenge Prüfung anf Wahrheit und Zweck- 
mäßigkeit des Vorgebrachten durch den Darsteller voraus- 
setzen dürfen. Dieses trifft meines Erachtens bei Hammer nicht zu. 

Es wäre vor allem von Hammer zu bedenken gewesen, daß eine 
große Anzahl von Zöglingen (männlichen wie weiblichen, Kindern wie 
Jugendlichen) bereits vor ihrer Einlieferung in die Anstalt in sexueller 
Beziehung nicht einwandfrei gelebt hat. Während diese Zöglinge alle nun 
draußen in der Freiheit sich unter der Menge mehr verloren und sich mit 


546 B. Mitteilungen. 


ihrem Treiben ohne größere Schwierigkeiten ganz oder teilweise der 
Beobachtung entziehen konnten, sind sie in der Anstalt eng zusammen- 
gerückt und fast jede ihrer Unzuchtsbetätigungen kommt direkt oder in- 
direkt ans Tageslicht.) Muß dieses nun unbedingt dafür bestimmend sein, 
daß die Anstalten »Brutstätten gleichgeschlechtlicher Entartung« seien? 
Meines Erachtens liegt darin gerade der Beweis, daß die Anstalt der rechte 
Aufenthaltsort für sittlich sexuell entgleiste Knaben und Mädchen ist. Nicht 
nur wird die Öffentlichkeit von unsauberen Elementen gesäubert, sondern 
es ist ebenso sehr in der Anstalt die günstigste Gelegenheit gegeben, 
die sexuell entgleisten Kinder und Jugendlichen recht zu erkennen und 
in geeignete Behandlung zu nehmen. Bedeutet dennoch ihre gemeinsame 
Unterbringung mit anderen Zöglingen ein Mangel der Fürsorgeerziehung 
(der in einer nächstens erscheinenden Schrift behandelt werden soll), so 
ist darauf hinzuweisen, daß das Anstaltswesen noch in der Entwicklung 
begriffen ist, vorläufig aber nach Maßgabe seiner Mittel und Kräfte (mit 
relativ gutem Erfolge) alles aufbietet, um ein verderbliches Wirken der 
sexuell unsittlichen Zöglinge zu verhindern. Bis zur weiteren Klärung 
der in Betracht kommenden Verhältnisse aber bleibt es mit Freuden zu 
begrüßen, daß die Herausnahme verdorbener Elemente aus der Öffentlich- 
keit infolge des Fürsorgeerziehungsgesetzes erfolgen kann. 

Zu der bisherigen Beanstandungen Hammers kommen »noch weitere 
nicht unerhebliche Einwendungen«. 


Punkt 6. 


»Die Fürsorgeerziehung wird von den Zöglingen als Strafe aufgefaßt 
und stellt eine weit härtere Einwirkung där, als eine einfache Haft von 
kurzer Zeit, ja als selbst eine jahrelange Gefängnis- oder Zuchthausstrafe.« 

Ohne Frage hat Hammer sich bei der Abfassung seiner Arbeit von 
den widersprechendsten Ideen leiten lassen. Man verfolge nur seine ver- 
schiedenartige Beurteilung der Fürsorgezöglinge. Dieselben Zöglinge, die 
Hammer eingangs seiner Arbeit nicht tief genug verurteilen kann, für 
welche er keine Entschuldigung findet, möchte er jetzt vor der Fürsorge- 
erziehung bewahrt wissen. Bezeichnend ist die Heranziehung des kind- 
lichen Gedankens von der Bestrafung durch die Fürsorgeerziehung zur 
kritischen Betrachtung letzterer. Wenn auch irrig, läßt die erwähnte 
kindliche Denkungsweise doch einige Folgerichtigkeit erkennen. In An- 
sehung ihrer oft nicht wenigen Untaten urteilen die Kinder instinktiv, 
daß sie Strafe verdient haben. Erscheint ihnen da vorläufig die Für- 
sorgeerziehung als diese verdiente Strafe, so werden sie doch später (wie 
dies auch sonst der Fall zu sein pflegt) in der »Strafe« die Erziehung 
erkennen. 

Um aber ein ungefähres Bild von einer Erziehungsanstalt zu geben 
(d. h. nach Hammerscher Schreibweise), sei eine kurze von Hammer zitierte 


1) Die Behauptung, daß sexuell unzüchtige Zöglinge in gut geleiteten Anstalten 
nicht entfernt soviel ihren Neigungen nachgehen können, wie draußen, bin ich 
jederzeit zu beweisen bereit. 


1. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers Grundzüge usw. 547 


Beschreibung des Zuchthauslebens aus der Feder des Anstaltsgeistlichen 
Pastor Huschenbett wiedergegeben: 

»Im Zuchthaus herrscht Grabesstille, die Strafgefangenen dürfen mit- 
einander überhaupt kein Wort wechseln, die strengsten Lattenarreststrafen 
(also Einsperrung in einer mit spitzen Latten belegten Zelle bei leichtester 
Kleidung, so daß der oder die Gefangene mit Striemen bedeckt wird; 
»humanes« Ersatzmittel für Prügel), stehen auf der Übertretung des 
Schweigegebotes, meist arbeiten die Züchtlinge für sich reserviert in den 
Einzelzellen. Da sitzt nun z. B. so eine Frau oder ein Mädchen in ihrer 
einsamen Zelle von früh bis spät und arbeitet ihr Pensum, immer ein und 
dasselbe, dasselbe Stück Militäruniform, dasselbe Stickmuster usw., sie 
arbeitet nicht bloß Wochen, nicht bloß Monate, nein viele Jahre lang 
immer dasselbe in monotonem Einerlei, in lautloser Grabesstille, ihr eigenes 
Denk- und Willensvermögen ist fast vollständig ausgeschaltet; alles ist 
genau vorgeschrieben, alles wird kommandiert: Essen, Arbeiten, Spazieren- 
gehen, Schlafen, Aufstehen, und so geht’s Jahre, oft viele Jahre lang.« 

Und nach solchem wagt Hammer zu sagen: »Die Fürsorgeerziehung 
stellt eine weit härtere Einwirkung dar als selbst eine jahrelange Gefängnis- 
oder Zuchthausstrafe?!« Das bedeutet doch eine Ausschaltung jeder Sach- 
lichkeit und Gerechtigkeit! 

Dennoch spricht Hammer in seiner Behauptung etwas Wahrheit, 
jedoch nur in bezug auf Zöglinge, die sich jeder Erziehung widersetzen, 
weil ein trotziger »Wılle zum groben Ausleben« sie zum strikten »Ab- 
lehnen der herrschenden Sittlichkeitsauffassung«e antreibt. Recht mag 
Hammer weiter in der Behauptung haben, daß die Fürsorgeerziehung »eine 
weit härtere Einwirkung« darstellt, »als selbst eine jahrelange Gefängnis- 
oder Zuchthausstrafe«, wenn die Fürsorgeerziehung so geübt würde, wie 
er sie unter »Anregungsmittel, Lohn und Strafe« vorschlägt: 1) 

»Die Erzieherin beaufsichtigt jeden Handgriff des Zöglings (des trotzig 
widerstrebenden) mit dem Stock in der Hand und zieht bei jeder falschen 
Bewegung je nach der Schwere des Fehlers einen Hieb über die Schenkel, 
die nur ganz leicht bekleidet sein dürfen, ein äußerstes Mittel, das sich 
bei Ausbildung von Tänzerinnen und Zirkusmädchen bewährt hat..... 4 

»Die einzelne Erzieherin soll im allgemeinen nicht weniger wie drei 
Schläge auf einmal und ohne besondere Zustimmung des Leiters der An- 
stalt nicht mehr als sechs Schläge, und nicht mehr als zehn Schläge an 
einem Tage verabfolgen. Der Leiter der Anstalt kann jedoch nach An- 
hörung der Konferenz bis zu zweimal 25 Schlägen als eine zweimalige 
Auspeitschung verhängen.« 

»Bei der schweren Züchtigung — Auspeitschung — wird der Zög- 
ling festgeschnallt; bei der leichten wird er aufgefordert, sich so über 
einen Stuhl zu legen, daß die Hände den Erdboden berühren. Nimmt er 
die Hände vom Boden weg, so zählt der erteilte Schlag nicht.« 

»Damit nicht wiederholt auf dieselbe Stelle geschlagen wird, ist völlige 
Entblößung der Haut erwünscht« usw. 


1) Eine Kritik der Prügelmethode Hammers ist in der Märznummer 1913 des 
Rettungshaus-Boten erschienen. 


548 B. Mitteilungen. 


Zum Vergleich mit diesen seltsam anmutenden Strafmethoden gebe 

ich folgende Erklärung Hammers: 
Punkt 7. 

»Die oft gehörte Behauptung, die »Kinder« würden vor der Be- 
rührung mit Erwachsenen »bewahrte, ist inhaltlich ebenso haltlos wie der 
Ausdruck »Fürsorge« irreführend ist, da gemeinsame Haft vieler Jugend- 
licher schlimmer wirkt, als die Unterbringung von Jugendlichen unter 
Erwachsene zur Verbüßung einer Strafe.« 

Kann solche Erklärung wohl etwas anderes beweisen, als daß Hammer 
sehr wenige Einblicke in die Wirklichkeit des Lebens genommen hat, desto 
mehr sich aber berechtigt fühlt, ein Urteil vom grünen Tisch aus ab- 
zugeben? Also die gemeinsame Unterbringung von Kindern mit erwachsenen 
Verbrechern selbst schlimmster Sorte in Gefängnissen und Zuchthäusern 
ist nicht so gefährlich als die Gruppierung von Kindern zum Zwecke der 
Erziehung?! — 

Daß es ein Mitzweck der Fürsorgeerziehung ist, die Jugendlichen vor 
der entehrenden und schamraubenden Gefängnisstrafe zu bewahren, will 
Hammer nicht einsehen, denn 

Punkt 8. 

»Die Vergangenheit als Fürsorgezögling wirkt dabei ebenso wie eine 
Vorstrafe, selbst wenn man davon absehen wollte, daß die Erziehungs- 
sträflinge oft nicht nur vor dem Gefängnis nicht bewahrt werden, sondern 
auf Veranlassung ihrer Fürsorgeeltern, z. B. der Anstaltsleiter, überhaupt 
erst ins Gefängnis verbracht werden. Als Belastungszeugen, ja selbst als 
Anzeigende treten diejenigen zum Teil vor Gericht auf, die Elternstelle 
an den Zöglingen vertreten.« 

Immer mehr zeigt Hammer, wie wenig er mit dem Wesen und den 
Praktiken der Fürsorgeerziehung vertraut ist. Daß »die Vergangenheit 
als Fürsorgezögling«e wie eine Vorstrafe wirkt, entspricht nur nach der 
Hinsicht den Tatsachen, nach welcher Behörden und vor allem das Pu- 
blikum mit einiger Vorsicht an einmal Entgleiste hinantreten. Und 
niemand wird diese Vorsicht für ungerechtfertigt und für nicht am Platze 
halten. Zum anderen aber glaubt, ınan im Gegenteil zu bemerken, daß in 
gerichtlichen Angelegenheiten das »in Fürsorgeerziehung gewesen« hin 
und wieder als Entlastungsmoment auftritt. Wenn Hammer aber die 
Forderung aufstellen wollte, die Fürsorgeerziehung hat unbedingt das 
Gefängnis auszuschließen, so würde er sich eines großen Unrechtes gegen 
die nicht in Fürsorgeerziehung befindlichen Jugendlichen schuldig machen. 
Jene, die oft schon viele Vergehen auf dem Kerbholze haben, sollten vor 
letzteren bei gleichen Vergehen straffrei ausgehen, obgleich (Hammer 
würde wahrscheinlich »weil«e sagen) ihnen schon einmal die staatliche 
Fürsorge zuteil wurde? Wird auch ein Vater seinen Sohn nicht strafen, 
weil er ihm schon einmal verzieh? Ich denke, der Sohn, der die Liebe 
und Geduld des Vaters mißachtend sich nur noch schlimmerer Vergehen 
als der früheren schuldig macht und trotzig im »Ablehnen der herrschen- 
den Sittlichkeitsauffassung« verharrt, hat eine weit härtere Strafe verdient 
als der, welcher zum erstenmal sündigt. Doch der einseitige Hammer 


1. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers Grundzüge usw. 549 





kennt keine anderen Fehltritte der Anstaltsjugend als die durch den An- 
staltsaufenthalt verschuldete gleichgeschlechtliche Entartung; er kennt nicht 
die Lügenhaftigkeit, Verschlagenheit der Zöglinge, ihre Neigung zum 
Stehlen, Rauben, Entweichen; ihre revoltierende Gesinnung, die hin und 
wieder vorkommenden wörtlichen und tätlichen Angriffe auf die Vor- 
gesetzten; die Brandstiftungen und die nächtlichen Überfälle der Zöglinge, 
er würde sonst nicht bare Widersinnigkeiten zu »wissenschaftlichen und 
Berufszwecken« herausgeben. 

Und wer sagt Hammer, daß die, »die Elternstelle an den Zöglingen 
vertreten, zum Teil als Belastungszeugen, ja selbst als Anzeigende vor 
Gericht auftreten«? Nach seinen eigenen Worten scheide Hammer »das 
Amt von der Persone und sehe in dem anzeigenden Anstaltsleiter die 
vom Staate eingesetzte Persönlichkeit, die unbekümmert den Zögling nach 
Verdienst und Recht behandelt. Im übrigen jedoch ist es Gebrauch, den 
Zögling nach Möglichkeit vor dem Angezeigtwerden zu schützen; hat doch 
schon die Anstalt, wenn kein anderes, das Interesse, sich nicht selbst vor 
den Behörden und der Außenwelt ein schlechtes Zeugnis auszustellen. 

Ein Gesamtüberblick über die von Hammer an der Fürsorgeerziehung 
und den Anstalten geübte Kritik möchte das Schlußurteil Hammers ver- 
muten lassen: Die Fürsorgeerziehung mitsamt den bestehenden Erziehungs- 
instituten stellt ein zweckwidriges und darum verfehltes Unternehmen 
dar und ist von Grund aus zu verwerfen. Das ist jedoch nicht der Fall. 
Hammer findet vielmehr: »Zurzeit ist eine Aufhebung der Fürsorge- 
erziehungsgesetze nicht wahrscheinlich. Nachdem dieser Weg einmal be- 
schritten wurde, erblicke ich die Hauptaufgabe darin, mitzuarbeiten, um 
die möglichst gute Form der Fürsorgeerziehung zu finden, nicht aber in 
einseitiger Bekämpfung der Fürsorgeerziehung nutzlos Kräfte zu ver- 
schwenden.« 

Höchst sonderbar berührt Hammers Auffassung von seiner »Haupt- 
aufgabe«. Wie man an keinem Hause, das von Grund auf schief, morsch 
und baufällig ist, »nutzlos Kräfte« verschwendet, um es wieder bewohnbar 
zu machen, sondern es niederreißt und ein neues an seine Stelle setzt, so 
wäre nach allem von Hammer zu erwarten gewesen, daß er für die Für- 
sorgeerziehung einen Ersatz schaffte, der lückenlos ein Werk ausführte, 
zu welchem bis jetzt noch viele und anerkannt tüchtige Männer 
und Frauen als Lebensaufgabe ihr Bestes leisten. 


Il. Die Prostitution und einiges andere aus dem Sexualleben 

des Menschen. 

Die Bestimmung der Ursachen der sittlich - sexuellen!) Entgleisung 
ist meines Erachtens eine schwierige Aufgabe Ich mute mir nicht zu, 
mich derselben in allseitig zutreffender und umfassender Weise ent- 
ledigen zu können, doch halte ich es nicht für unmöglich nachzuweisen, 
daß die Hammersche Feststellung der »Hauptursache zur sittlichen Ent- 


1) Ich halte die nähere Be:timmung »sexuell«e für unerläßlich; die »sittliche« 
Entgleisung (siehe Hammer) ist ein zu weit gefaßter Begriff. 


550 B. Mitteilungen. 


gleisung« höchst einseitig und irrig ist.!) Nicht soll dies geschehen, 
um überhaupt Hammer eines Irrtums zu überführen, sondern um die 
Schlußfolgerung ziehen zu können, daß seine auf einer falschen Voraus- 
setzung aufgebaute Erziehungstheorie unhaltbar und die an den staat- 
lichen und privaten Fürsorgeerziehungseinrichtungen geübte Kritik un- 
berechtigt ist. Der Nachweis zu letzterem Umstande ist zum Teil schon 
erbracht, er wird lediglich noch einiger Ergänzungen bedürfen; dagegen 
wird die Besprechung der Unhaltbarkeit der Hammerschen »neuen« Er- 
ziehungstheorien im nächsten Abschnitt erfolgen. Die Aufgabe dieses Kapitels 
ist die Betrachtung der Auffassung Hammers von der Prostitution und 
einigem anderen aus dem Sexualleben des Menschen. 

Scheinbar unverfänglich mutet die Behauptung Hammers an: »Die 
Hauptursache zur sittlichen Entgleisung und zur gewerbeartigen 
körperlichen Preisgabe ist der Wille zum groben Ausleben.« 
Gewiß leben die Dirnen anscheinend unsagbar gleichmütig und gleichgültig 
dahin, sie frönen einem Laster, von welchem sie und alle Welt wissen, 
daß es die Beteiligten zu Menschen 2., 3. und 4. Grades macht. Und 
doch lassen sie nicht von ihm. Warum nicht? Weil sie nicht anders 
wollen, sagt Hammer; weil sie nicht anders können, sagen andere. 
Wer spricht die Wahrheit? Diese zu finden ist meines Erachtens für das 
Werk der Fürsorge für die Entgleisten und Gefallenen unbedingt notwendig. 

Von alters her und bei allen Völkern ist die Prostitution ein Spiegel- 
bild »der herrschenden Sittlichkeitsauffassung« von Männern und Frauen 
und des jeweiligen Standes der sexuellen Frage in allen ihren Beziehungen 
gewesen. Soll demnach von der Prostitution als von einer »Schuld« ge- 
redet werden, so kann dieses für die überwiegend meisten Fälle nicht in 
der Bedeutung einer persönlichen Schuld einzelner geschehen, sondern es 
ist auf eine Schuld der gesamten Menschheit zu erkennen. Weiter ist 
es meines Erachtens ein Zeichen von unberechtigter Selbstverherrlichung 
des männlichen Geschlechtes und vom Fehlen des rechten objektiven 
Blickes über die Gesamtlage der Prostitution, den »Willen (der einzelnen 
Frau nämlich) zum groben Ausleben« als die »Hauptursache zur sittlichen 
Entgleisung« hinzustellen. Ganz sicher machen sich die Männer nicht 
nur durch die Inanspruchnahme der Prostitution zur Befriedigung ihrer 
geschlechtlichen Bedürfnisse oder ihrer perversen Neigungen mitschuldig, 
sondern sie sehen ebensowohl in der verdammungswürdigen Zubälterei, 
dem Kinderhandel, der Kuppelei und maßlosen Ausbeutung der Pro- 
stituierten oft genug ein »einträgliches Geschäfte. 

Hammer beklagt sich darüber, daß ihm von den Gegnern seiner 
Anschauung auf seinen »höflichen Briefe um eine Erklärung keine Ant- 
wort geworden sei. Den Grund des gegnerischen Stillschweigens halte 
ich für sehr offensichtlich und füge ausdrücklich hinzu, daß vorliegende 
Zurückweisung der Hammerschen Ausführungen nur aus dem eingangs 
erwähnten Grunde geschieht. Für alle anderen Fälle richtet sich Hammers 
Ausspruch selbst. — 


1) Ich stütze mich in den nachfolgenden Ausführungen auf eigene Beobachtungen 
und vor allem auf Schriften anerkannter Fachleute. 


1. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers Grundzüge usw. 551 


Offenbar versteht Hammer nach religiöser (?) Anschauung unter dem 
Willen des Menschen dessen Befähigung, in jeder Beziehung und in vollster 
Unabhängigkeit von allen umgebenden Personen, Verhältnissen und Um- 
ständen in bezug auf Vornahmen und Handlungen usw. beliebig zu wählen 
und zu entscheiden und aus sich selbst heraus den Antrieb (d. h. des 
Willens) zur Inangriffnahme und möglichen Durchführung des Erwählten 
zu gewinnen. Sodann unterscheidet Hammer einen sittlich guten Willen 
bei einem Menschen, der bestrebt ist, der geltenden Sittlichkeitsauffassung 
entsprechend zu leben, im anderen Falle einen nach unseren Begriffen 
unsittlichen Willen, der seinem Träger zur Sünde gereicht. 

Wie aber will Hammer sittlich und unsittlich an ihren Grenzen 
unterscheiden? Und sind nicht beide Begriffe höchst wandelbar und 
fließend? Wir verurteilen z. B. Handlungen, die bei anderen Völkern und 
zu anderen Zeiten nach den geltenden Sittlichkeitsgesetzen geboten waren. 
Und indem ich dies schreibe und Hammers Schrift eine unsittliche nennen 
muß, weil sie meines Erachtens durch unwahre Angaben und Berichte 
Personen und Einrichtungen übel beleumundet und schwer schädigt, glaubt 
mein Partner mit seiner Arbeit einen Akt der Sittlichkeit ausgeführt zu 
haben, indem er sich berufen und verpflichtet fühlte, seine Stimme zum 
Besten einer großen Aufgabe zu erheben. Es ließe sich also lange hin und 
her streiten, ohne daß man zum Ziele käme. Das eine aber wird selbst 
Hammer zugeben müssen, daß der »unsittliche«e Wille wenigstens zum 
großen Teile in dem Fehlen der Momente beruht, die den Willen des 
Menschen erst zu einem »sittlichen« machen. Diese Momente aber sind 
überwiegend solcher Art, daß ihr Mangel dem einzelnen Individuum nicht 
zum Vorwurf gemacht werden kann. Trifft dieses aber zu, so hat ein 
Gleiches auch für die Folgen besagten Mangels Geltung. Hierbei muß der . 
Einwand: Der gereifte Mann und die gereifte Frau verfügen über Er- 
fahrungen und haben eine tiefere Einsicht, so daß selbst der Mangel 
bildender Einflüsse während der Kindheit wieder wett gemacht werden 
kann, fast ganz unberücksichtigt bleiben, wenn die Verhältnisse in der 
Kindheit und Jugend derartig anhaltend ungünstig wirkten, daß sie un- 
löschbare Spuren bei dem betreffenden Menschen hinterließen. Es bleibt 
eben zu bedenken, daß ein jeder Mensch das Produkt seiner persönlichen 
und äußerlichen Verhältnisse ist. 

Für meine Erziehungspraxis leitet mich der Grundgedanke: Es gibt 
keinen unsittlichen Willen, sondern nur ein Fehlen des sittlichen 
Willens. Dieser Grundsatz läßt den Erzieher gegen die sittlich 
Schwachen und Entgleisten gerecht und milde verfahren und hilft ihm, 
seinen Zöglingen auf ihren Wegen nachzuspüren und nach Auffindung 
der Ursachen ihrer Entgleisung die rechten Mittel zur Heilung zu wählen. 

Eine zutreffende Charakteristik der ihrer Obhut übergebenen weib- 
lichen Polizeigefangenen gibt meines Erachtens die Stuttgarter Polizei- 
assistentin Henriette Arendt in ihrem Buche: »Menschen, die den Pfad 
verloren ...«. Unter der Überschrift: »Die verschiedenen Gruppen von 
weiblichen Polizeigefangenen« unternimmt die genannte Schriftstellerin 
eine Einteilung der weiblichen Polizeigefangenen in drei Gruppen. 


552 B. Mitteilungen. 





»Die erste Gruppe bilden diejenigen, die man gewöhnlich als 
»Gefallene« im weitesten Sinne bezeichnet, das heißt solche, die in einer 
von schädlichen Einflüssen ziemlich freien Umgebung aufgewachsen und 
dann durch Überredung, Leichtsinn und Vergnügungssucht auf Irrwege 
geraten und »gefallen« sind. 

»Zu der zweiten Gruppe gehören diejenigen, die ohne besondere 
Anlage zum Leichtsinn in unglückliche Verhältnisse gerieten, sich nicht 
wieder emporarbeiten konnten und dann im reißenden Strom des Lebens 
Schiffbruch litten. 

»Zu der dritten, der Hauptgruppe, gehören diejenigen, die 
nicht ‚gefallen‘ sind, auch nicht durch Not und Unglück Schiffbruch 
gelitten haben; es sind die erblich Belasteten, von dem Schicksal 
grausam Enterbten, prädisponiert für ein Leben voll Sünde und Elend.e 

Niemand wird sich der ergreifenden Wahrheit solcher Darstellungen 
und der gleichzeitig eingefügten Beispiele aus dem Leben verschließen 
können; sie führt herzbewegend vor Augen, wie sehr der Mensch ein 
gebundener Sklave seiner persönlichen und äußerlichen Verhältnisse ist, 
und daß »der Wille« des Menschen, die Wirkungsweise seiner Verhältnisse, 
niemals eine Allmacht des Menschen bedeuten kann. 

Was wollen dagegen Hammers Statistiken, Aufzählungen und Schil- 
derungen von der Herkunft, dem Stande und dem Berufe der sittlich 
Entgleisten sagen? Beweisen sie denn überhaupt den Satz von dem 
»Willen zum groben Ausleben«? 

Obenan unter den sittlich entgleisten Mädchen erwähnt Hammer 
»1 adelige Dame, Gutsbesitzerstochter«e. Weiterhin gibt er den Lebenslauf 
dieser.!) .... stammte angeblich von einem adeligen Gutsbesitzer. Mutter 
war als Köchin in Stellung da, heiratete später einen Kahnschiffer. Vater 
zahlte Alimente, blieb ledig, und stellte für die Tochter ein Kapital sicher. 
Auch soll er beabsichtigt haben, die Mutter zu heiraten, von dieser Absicht 
abgekommen sein, weil seine zwei Schwestern die Mutter des Diebstahls 
verdächtigten. Mutter erlaubte dem Mädchen nicht, sich zum natürlichen 
Vater zu begeben. Gewerbe des Mädchens: Dienstmädchen.« 

Die Betrachtung des Lebenslaufes der »adeligen Dame« läßt den 
Verdacht auf fahrlässige Irreführung des Publikums durch Hammer gerecht- 
fertigt erscheinen. Das uneheliche Kind einer Köchin, dessen natürlicher 
Vater zufälligerweise »angeblich« ein Gutsbesitzer ist, wird als »adelige 
Dame« (Was das Heroldsamt zu Berlin wohl zu solchem Adel sagen 
würde?) hingestellt, um glaubhaft zu machen, daß »nicht Armut« usw., 
sondern allein »der Wille zum groben Ausleben« bei diesem Mädchen die 
Hauptursache zu ihrer sittlichen Entgleisung war. Nur weniges weitere 
noch wird aus dem Leben der »adeligen Dame« erzählt, doch dieses 
genügt schon, um vor uns ein Bild erstehen zu lassen, welches der 
Hammerschen Zeichnung wenig entspricht. 





') Der Darstellung nach zu urteilen ist der Lebenslauf der unehelichen Tochter 
des Gutsbesitzers auf die »adelige Dame« zu beziehen. Ausdrücklich ist dieses jedoch 
von Hammer nicht gesagt. 


1. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers Grundzüge usw. 553 


Ein Gleiches gilt von Nr. 9 der von Hammer gegebenen Lebensläufe. 

»Christine Leichtfuß! 

Mutter war Näherin und Witwe eines Töpfers, als sie ein Jahr nach 
dem Tode ihres Gatten Christine gebar. Als Vater zeigte die Mutter ihrer 
Tochter einen Schlächtermeister. Ob der Alimente zahlte, weiß sie nicht. 
Zweimal sah sie ihn auf der Straße, ohne daß sie sich grüßten. 

Mutter hatte drei Töchter, darunter die jüngste unehelich. Von den 
drei Töchtern wurde die älteste, ehelich geboren, Kontrollmädchen, die 
jüngste uneheliche, Dirne, die mittlere Fabrikarbeiterin. Die Fabrik- 
arbeiterin gebar zweimal außerehelich von zwei Vätern, blieb Fabrik- 
arbeiterin, verheiratete sich mit dem zweiten Manne, einem Fabrikarbeiter. 
Die älteste Tochter steht seit ihrem 18. Jahre unter Sitte. 

Die jüngste Tochter wurde erst Fabrikarbeiterin, dann aber Kellnerin, 
und machte schon mit 15 Jahren die erste Syphiliskur durch, erst mit 


17 Jahren, nachdem sie bereits geschäftsmäßig — »das war ja mein 
Geschäfte — mit Herren verkehrt hatte, gebar sie ein totfaules Kind 
— im 7. Monat —. 


An ihrer Erziehung arbeiteten: 
1. die Mutter, 
2. der Vormund, ein Rechtsanwalt, 
3. ein Fürsorgestift. 

Der Erfolg war derart, daß Christine mit 13 Jahren das Rauchen 
lernte, später täglich 50- 60 Zigaretten rauchte, ihrer Mutter und auch 
dem Fürsorgestift wiederholt ausrückte und ihre Absicht mit 18 Jahren 
wörtlich so angab: 

Meine Mutter weiß, was an mir ist. Ich bin ein bißchen leicht- 
sinnig, aber sonst nicht schlecht. So sagt wenigstens meine Mutter zu 
mir. Ich bleibe Kellnerin und liebe meinen Beruf. Da können sie mir 
noch so lange einsperren. Es wird niemals ein Dienstmädchen aus mir.« 

Welch eine Fülle von Not und Elend, sowohl leiblicher als auch 
seelischer und moralischer Art mag hinter dem äußeren Leben dieses 
Mädchens gewirkt haben! Eines ist als sicher zu behaupten, daß Leute 
aus gleichen Verhältnissen wie die Leichtfuß vor lauter Not und Ent- 
behrung den Maßstab für ein geordnetes Leben oft ganz verlieren. Sie 
sind zufrieden und klagen nicht, auch wenn sie nur am trockenen Brote 
nagen, das vielleicht noch dazu gestohlen oder erbettelt ist. — Kinder- 
betteleien und -diebstähle. — 

Ein hierher gehöriges Beispiel ist mir erst kürzlich vorgekommen. 

Die Mutter K.... kümmerte sich wenig um ihre Kinder. Letztere 
lebten monatelang nur vom trockenen Brote und Wasser. Da hatte die 
Mutter (?) ihre Kinder eines Tages heimlich verlassen und sie in der 
Wohnung eingeschlossen. Erst als die Nachbarn aufmerksam wurden und 
die Polizei benachrichtigten, konnten die Kinder aus ihrer traurigen Lage 
— sie waren an den beiden Tagen ohne jegliche Nahrung gewesen — 
befreit und einem Waisenhause übergeben werden. 

Die Kinder waren leiblich und seelisch total verkommen. Sie waren 
körperlich so geschwächt, daß sie keine Nahrung bei sich behalten und 


Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 36 


554 B. Mitteilungen. 





ordentlich verdauen konnten. Erst nach einer längeren ärztlichen Be- 
handlung besserte sich ihr Zustand. Dann aber war eine bedeutende 
Gewichtszunahme ersichtlich. Wie der körperliche, so machte auch der 
seelische Zustand der Kinder erfreuliche Fortschritte, so daß sich im Ver- 
lauf von etwa drei Monaten aus unsauberen und unordentlichen Schrei- 
hälsen rotbackige und freundliche Kinder entwickelten. Und dennoch 
legten sie hin und wieder den Kopf auf den Tisch und weinten und riefen 
nach der Mutter. In solchen Augenblicken war alle frühere Not vergessen. 
Was aber, Herr Dr. Hammer, wäre aus den Kindern geworden, wenn sie 
ein paar Jahre länger in den alten Verhältnissen geblieben wären? Un- 
gezählte Beispiele geben die Antwort auf diese Frage. 

Schwerlich wird nach solchen Tatsachen Hammer die Wahrheit um- 
stoßen können: Die persönliche und wirtschaftliche Notlage breiter Volks- 
schichten ist ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Faktor der Demorali- 
sierung und sittlich-sexuellen Entgleisung vieler. Wer dieses leugnet und 
die Vorbedingungen und mit diesen die Möglichkeit eines sittlichen Lebens- 
wandels unter den gegebenen Verhältnissen für jeden Menschen als Satz 
aufstellt, der ist mit dem Ringen vieler Geschöpfe um ein bißchen 
kümmerliches Leben unter den sie bedrückenden ungünstigen Verhältnissen 
wenig vertraut und sicher nicht berufen, über die Opfer menschlicher Un- 
vollkommenheit und Niedertracht ein Urteil zu fällen. Man mag in dem 
Widerstreit von der Größe der verschiedenen Bevölkerungsschichten gegen- 
und untereinander an bis herab zu dem Ringen des einzelnen um das 
tägliche Brot eine beliebige Stellung einnehmen, das Dasein eines erbitterten 
Kampfes wird man nicht hinwegleugnen können, auch nicht die Wahrheit, 
daß dieser Kampf Verwundete und Tote als seine Opfer fordert und nur 
zu oft die Quelle leiblichen, seelischen und moralischen Ruins ist. 

Eine weitere Klärung findet die in Frage stehende Materie durch die 
Betrachtung nachfolgender Aufstellung Hammers: 

»Die Neigung zur Fleischeslust und somit die meines Erachtens nach 
hauptsächlich als Grundlage des Unzuchtsgewerbes in Frage kommende 
Eigenschaft ist eingeboren — nicht jedoch unabänderlich und völlig un- 
beeinflußbar. Jeder gesunde Knabe und jedes gesunde Mädcher hat meiner 
Ansicht nach von innen heraus sinnliche Anwandlungen. Diese sinnlichen 
Apwandlungen sind — weise geleitet — bei denen, die guten Willens 
sind, eine Quelle der Kraft und Stärke, eine Macht, die das Leben erleuchtet 
und erwärmt; übel geleitet und bei denen, die übeln Willens sind, werden 
sie leicht zum verzehrenden und vernichtenden Feuer, zur brennenden 
Qual, die nach neuen immer schlimmeren Reizen giert bis zur völligen 
Vernichtung des unbeherrscht sinnlichen Menschen und derer, die sich in 
Abhängigkeit von ihm begeben.« 

Eine Wahrheit spricht Hammer mit den Worten aus, daß die Ge- 
schlechtskraft »weise geleitet und bei denen, die guten Willens sind, 
eine Quelle der Kraft und der Stärke ist, übel geleitet und bei denen die 
üblen Willens sind, aber zum verzehrenden Feuer wird«. 

Wer aber möchte von sich behaupten, er sei stets »guten Willens« 
und immer »weise geleitet«, jene aber seien »übeln Willens«? Zeigt 


1. Kritische Betrachtung von Dr. mod. W, Hammers Grundzüge usw. 555 


nicht das Leben oft in erschreckender Weise, wie die Geschlechtskraft in 
Augenblicken sinnlichen Taumelns selbst sittlich hochstehenden Männern 
und Frauen zu einem argen Fallstrick werden kann? Vorzüglich verweise- 
ich auf Männer, die die Bibel als »Männer Gottes« preist. Hammer selbst 
sagt an einer anderen Stelle: »Ein völlig einwandfreies geschlechtlich- 
sittliches Leben — mit Ausschluß vom Dirnenverkehre und der Selbst- 
befleckung — führen die meisten Menschen beider Geschlechter nicht, 
wenn sie — wie es bei uns Regel ist — erst Jahre nach Beginn der 
Geschlechtsreife (richtiger hätte Hammer gesagt: nach vollendeter Ge- 
schlechtsreife) in die Ehe treten. Ja bis jetzt ist es mir noch nicht 
gelungen, auch nur einen einzigen Greis oder eine einzige Greisin zu 
finden, die ehrlich von sich behauptet hätten, daß sie ein völlig sittliches 
Leben geführt hätten. Selbst Volkserzieher und andere lebhafte Verteidiger 
der Keuschheit bekannten wiederholt öffentlich, daß sie selbst nicht 
dauernd auch nur ihren eigenen Ratschlägen gemäß gelebt hätten.« Weiter 
berichtet Hammer dann von heiligen Männern, selbst von dem Apostel 
Paulus, daß sie den Anspruch sittlicher Vollkommenheit nicht erheben 
konnten. Wenn das aber vom »grünen Holz« gilt, d. h. von Leuten, die 
den Ruf besonderer Frömmigkeit und strenger Sittlichkeit haben, »was 
soll dann am dürren werden«, d. i. »dem großen Heer der erblich Be- 
lasteten, von dem Schicksal grausam Enterbten, prädisponiert für ein Leben 
voll Sünde und Elend: Vater Trinker, Mutter Diebin, Vater im Zuchthaus, 
Mutter Prostituierte, Vater im Irrenhaus, Mutter Trinkerin oder beide Eltern 
Verbrecher, beide Trinker. _ Oft haben die Eltern ihre Kinder in Kost. 
gegeben und dann nichts mehr von sich hören lassen oder sie mißhandelt 
und gepeinigt, um ihren Tod herbeizuführen, oder sie seit frühester Jugend 
zum Laster angehalten. So wachsen diese Geschöpfe auf, ohne etwas 
Rechtes gelernt zu haben, bettelarm, körperlich schwach, geistig fast immer 
defekt, ohne Glauben, ohne Gewissen, in jeder Sittlichkeit hohnsprechenden 
Wohnungsverhältnissen, von ihren eigenen Leidenschaften gehetzt und ge- 
ängstigt, vom Schicksal grausam verfolgt; sie enden gewöhnlich hinter 
den Zäunen, auf der Landstraße, in den Gossen der Großstadt, im Ge- 
fängnis, im Arbeitshaus oder im Zuchthaus.« (H. Arendt, Menschen die 
den Pfad verloren.) Angesichts solch schreienden Elends bleibt die Be- 
stimmung: Die Hauptursache zur Prostitution ist »der Wille zum 
groben Ausleben« eine Verhöhnung der Wahrheit, eine Verschleierung 
erschrecklicher Tatsachen, eine inhaltsleere Phrase, die auch rein nichts 
bietet, um einem (vielen unbekannten) großen Elende zu steuern. 
Erkennt Hammer, daß »die Neigung zur Fleischeslust eingeboren 
und nicht unabänderlich und völlig unbeeinflußbar« ist, so wird er auch 
folgern müssen, daß die Geschlechtskraft des Menschen sich 
auf Grund der eingeborenen Veranlagung den auf sie ein- 
wirkenden Verhältnissen und Umständen entsprechend ent- 
wickelt. Bei diesem Prozesse kann dem »Willen« des Menschen, der 
ja selbst gleichzeitig der Entwicklung unterworfen ist und ebensowohl von 
dem Triebleben beeinflußt wird, als er unter günstigen Umständen auf 
dieses vielleicht einwirkt, nur eine Rolle zuerkannt werden, in welcher er 
36* 


556 p. Mitteilungen. 


bald als Ursache, bald als Wirkung in Erscheinung tritt. Daß »selbst 
diejenigen Kreise, welche die Willensfreiheit nicht anerkennen, als sittliche 
Pflicht von Staatsanwälten und Richtern verlangen, daß sie sich bei an- 
geblicher Verkennung von Krankheitszuständen nicht auf die Unfreiheit 
des richtenden menschlichen Willens berufen« (Hammer meint wohl: Un- 
vollkommenheit des menschlichen Wissens!), dürfte ein Wissenschaftler doch 
wohl kaum als Beweis für die von ihm verteidigte »Willensfreiheit« ausgeben. 

Daß trotz der Leugnung Hammers »Armut und Brothunger«, wenn 
auch nicht stets unmittelbar, so doch mittelbar das ihrige zur Betreibung 
-der Prostitution beitragen, geht auch aus folgenden seiner Ausführungen 
hervor: Die meisten Menschen führen kein völlig einwandfreies geschlechtlich- 
sittliches Leben, weil sie, »wie es bei uns Regel ist, erst Jahre nach Be- 
ginn der Geschlechtsreife in die Ehe treten«. Was treibt denn den Mann 
(besser gestellte Arbeiter, untere und mittlere Beamte usw.), vorläufig noch 
von einer Verheiratung abzusehen? Ist’s nicht die Sorge um die Existenz 
und weiter eine zum großen Teile aus derselben hervorgegangene bis zur 
Mißachtung sich steigernde Gleichgültigkeit und Bequemlichkeit des Mannes 
gegen ein natürliches und ordnungsgemäßes Familienleben? Und hart 
setzen gleich die Folgen ein und weisen umtändelte, umgarnte, verführte, 
gefallene, prostituierte Mädchenleiber auf. 

Wie dem weiblichen Geschlechte zum Hohn und sich selbst zur 
Geißel geht der Mann ins Bordell. Hier vollführt er, wozu Hammer ihn 
aufruft: »Der Mann trete die Herrschaft über die Frau an!« — Warum 
aber erwähnt Hammer nichts von dem schmählichen »Herrscher« tum des 
Mannes im Bordell? Die maßlosen Anforderungen der Männer an die 
Frauen tragen meines Erachtens zum wenigsten ebensoviel zur geschlecht- 
lichen Entartung letzterer bei, wie die durch eine traurige Konkurrenz 
bedingten Anerbietungen der Frauen. Dies ist um so eher verständlich, 
als der Mann der zahlende Teil ist und also seine Ansprüche stellen kann. 
Daß dies in der Tat geschieht, und zwar in einer Weise, die öffentlich 
wiederzugeben das Schamgefühl verbietet, beweisen viele schriftliche Auf- 
zeichnungen selbst aus weit zurückliegenden Zeiten. 

Hammer beruft sich wiederholt auf die Bibel und vermeint aus ihr 
seine »Anweisungen« zu schöpfen. Ihm sei auch dieses Wort gesagt: 
»Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.< 
Die ganze in Frage stehende Materie im Spiegel strenger Selbstbeobachtung 
geschaut, muß uns in unserm Urteil milder stimmen und ein herzliches 
Mitleid mit »jenen« erwecken. »Der Wille zum groben Ausleben« 
kann nicht die »Hauptursache zur sittlichen Entgleisung« sein. 
Bitter und hart haben die Opfer der Prostitution oft erst gerungen, ehe 
die volle Verzweiflung sie in die Arme des dunklen Lasters trieb. Und 
jetzt, da sie geknebelt in ihm liegen und sich unter seinen Fesseln 
krümmen und winden, füllt sie doch noch oft ein Sehnen und Verlangen 
nach Besserem. Aber gezwungen und gegen ihren Willen fristen sie 
ihr armseliges Dasein und »enden!) gewöhnlich hinter den Zäunen, auf der 


1) H. Arendt, Menschen, die den Pfad verloren. ... 


1. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers Grundzüge usw. 557 





Landstraße, in den Gossen der Großstadt, im Gefängnis, im Arbeitshaus 
oder im Zuchthaus.« 

An dieser Stelle möchte ich ein ergreifendes Gedicht anführen, das 
von einem jungen amerikanischen Mädchen verfaßt ist, das, aus an- 
gesehener Familie stammend, tief in Schande versunken lebte und im 
22. Lebensjahr an den Folgen der Liederlichkeit zugrunde ging. Ihre 
Familie hatte sie verstoßen, als sie, die damals blutjung, schön und viel 
umschwärmt der Verführung unterlag, Verzweiflung und Not hatten sie 
dann in den Tod getrieben. Niemand hat ihr die rettende Hand geboten, 
niemand ahnte die tiefen Seelenqualen, die sie litt. 

Nach ihrem Tode fand der behandelnde Arzt folgendes Gedicht von 
ihrer Hand: 

Prächtiger Schnee. 
= O, wie schön, wie schön, wenn aus den grauen Höhn 
In dichtem Gewimmel, hernieder vom Himmel, 
Sanft und still, wohin sie will, 
A: Weit und breit auf Dach und Gasse 
Sich niederläßt die dichte Masse! 


Die weiße Flocke dort netzt eine Locke; 
Da küßt eine Wange; sei nur nicht bange — 
Im Himmel droben, von Engeln gewoben 
Ist rein ihr Gewand, ohn’ irdischen Tand! 


Wie lacht entgegen dem weißen Regen 
Das Auge der Knaben; sie kommen und traben, 
Schlitten auf Schlitten, gar lustig geritten. 
Mädchen hintenan, auf gleitender Bahn. 


Straße ein und aus, Freude in Saus und Braus. 
In fröhlichem Necken, in Furcht und Schrecken; 
Alt und jung in Schritt und Sprung, 
Eifern, treiben, hasten, schnaufen, 
Zittern, gleiten, drängen, laufen. 


Und jetzt? Das Gleißen des zierlichen weißen, 
Gestöbers, des feinen, des engelreinen! 
Wo ist es geblieben ? Zertreten, zerrieben! 
Kotiger Schlamm, was vom Himmel kam! 


Wie diese Flocke rein war ich einmall 
Wie sie heruntersank vom Himmelssaal, 
So sank von Fall zu Fall bis auf den Grund 
Ich auch, zestreten nun und todeswund. 


Ich nippte, schlürfte, endlich trank ich aus 
Den Taumelkelch bis zu der Hefen Graus. 
Für einen Bissen Brot ein feiles Weib, 
Verkauft, verloren nun an Seel und Leib. 

Ich teilte einst der Flocke reines Weiß, 
Der Unschuld Zier; der Stirne Ehrenpreis. 
Wo find ich noch der Schwestern trautes Paar ? 
Das Mutterherz, den Kranz im goldnen Haar? 


558 B. Mitteilungen. 





Verloren mir und euch, und ohne Gott, 
Auf off’ner Straße jedes Buben Spott, 
Dem Leben feind und vor dem Tod erblaßt, 
Gespenst den Toten, Lebenden verhaßt. 


Und wehe mir, wenn Schauder mich faßt in dunkler Nacht 
Und unter mir kein Lager, ob mir kein Aug’, das wacht, 
Wenn das Gebet versagt, zum Seufzen ich zu schwach, 

Der Himmel mir verschlossen, kein Ohr vernimmt mein Ach! 


Verzweifelt mir das Auge und todesmüde bricht, 
Mein Grab wird heut das Schneefeld, den Kranz die Hölle flicht! 
Und siehe da — die Flocke, des Himmels weißes Kind, 
Läßt sich auf Sünder nieder, so freundlich und so lind. 


O Sünderin, verzage Du nicht in Deinem Weh’ 
In deinem Fall zertreten, wie dort im Schlamm der Schnee, 
Für Dich stieg ja hernieder das weiße Gotteslamm 
Und hat für Dich geblutet am harten Kreuzesstamm. 


Ist es denn wahr, daß ferne sein Ohr mein Ach vernahm, 
Und bis in meine Tiefen sein Blut herniederkam ? 
So will ich ihn ergreifen in meiner tiefen Not, 
Dann wird wie Schnees Weiße die Schuld, die blutig rot! 


In schroffem Widerspruche zu solchen und ähnlichen Klageergüssen, 
wie auch zu den häufig erwiesenen Ursachen der sittlich sexuellen Ent- 
gleisung vieler Mädchen steht folgende Behauptung Hammers: 

»Daß Geschlechtsnot die überwiegende Mehrzahl der Mädchen 
zur Gewerbeunzucht bringt, geht auch aus dem Benehmen der Anstalts- 
insassinnen hervor. 

Alle mir bekannten Anstalten für Freudenmädchen müssen Vor- 
kehrungen treffen lassen, daß die Mädchen nicht mit unzüchtigen Ge- 
bärden die Männerwelt anzulocken suchen, auch die Männerwelt, die 
nicht zahlt.« 

Ein Vergleich vorliegender mit anderen Ausführungen Hammers zeigt 
einen offenbaren Widerspruch. Hammer behauptet früher >... diese sinn- 
lichen Anwandlungen sind — weise geleitet — bei denen, die guten 
Willens sind, eine Quelle der Kraft und Stärke, eine Macht, die das Leben 
erleuchtet und erwärmt.«e Ein solcher Satz kann meines Erachtens nur 
dann Wahrheit sein, wenn der normale Mensch fähig und gehalten ist, 
seine Geschlechtskraft so zu zügeln, daß sie weder ihm noch andern zum 
Schaden, sondern ausschließlich (auch in den Überwindungskämpfen) zum 
Vorteil und Segen gereicht. Ist dieses aber der Fall, dann kann von einer 
in dem von Hammer geschilderten Maße herrschenden Geschlechtsnot 
nicht die Rede sein. 

Doch Hammer sagt: »Der Geschlechtstrieb ist so stark angelegt, daß 
der einzelne Mensch keine Aussicht oder auch nur denkbare Möglichkeit 
hat, ihn voll und unmittelbar unter den jetzt in Deutschland gegebenen 
Verhältnissen zu befriedigen. Eine solche Befriedigung hat der Mann 


1. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers Grundzüge usw. 559 


nicht, sie wird auch der Frau nicht geboten.«e Der in diesen Worten 
ausgesprochene Gedanke ist meines Erachtens total absurd. Der Mensch 
ist sowohl aus Gründen der Sexualhygiene als auch der Sittlichkeit absolut 
nicht berufen, seinen Geschlechtstrieb »voll und unmittelbar zu befriedigen«, 
Dennoch aber ist die Erwähnung der Verhältnisse durch Hammer zu be- 
achten. Hammer gibt zu, daß die Verhältnisse zur sittlichen Ent- 
gleisung drängen können; dasselbe kommt in dem Worte »Geschlechts- 
not« zum Ausdruck. Wie aber kaun Hammer das Nachgeben von 
Männern und Frauen auf den übermäßigen Druck der Verhältnisse 
als »Willen zum groben Ausleben« bezeichnen, zumal dieses Nach- 
geben oft unter heftigen Sträuben und Kämpfen des »sittlichen Willens« 
geschieht? 

Doch dieser Irrtum ist es nicht, der Hammer nachgewiesen werden 
sollte. Die getroffene Schlußfolgerung geschah nur zur Feststellung des 
Widerspruches in den Hammerschen Ausführuhgen selbst. Hammers Aus- 
führungen stehen ebensowohl zur allgemeinen Tatsächlichkeit in Wider- 
spruch! Die Geschlechtsnot bei gesunden und in geordneten 
Verhältnissen lebenden Männern und Frauen existiert nicht in 
dem von Hammer angegebenen Umfange! Sie ist, wie sie nach 
Hammer in Erscheinung tritt, zum großen Teile eine reine Folge des 
Tiefstandes des allgemeinen sittlichen Empfindens und »Wollens«, welcher 
wiederum entweder in ungünstigen persönlichen oder äußerlichen Ver- 
hältnissen oder in beiden zusammen eine wesentliche Ursache hat. Im 
übrigen ist der Mensch verpflichtet zu halten, sich wenigstens nicht zum 
Schaden der Mitmenschen geschlechtlich zu betätigen. Dieses »nicht zum 
Schaden der Mitmenschen« ist ein absichtlich gewählter dehnbarer Begriff, 
der der tatsächlich existierenden Geschlechtsnot (aber nur dieser) ent- 
gegenkommen, zugleich aber auf die aus dem Verkehre erwachsenden 
Pflichten hinweisen will. Es geht jedoch nicht gut an, daß man (wie 
Hammer), der »Not« (?) unsittlicher, entarteter und vertierter Elemente das 
Wort redet. 

Zur näheren Erklärung des Unterschiedes zwischen der von Dr. Hammer 
und von mir angenommenen Geschlechtsnot sei noch der Beweis Hammers 
für seine Behauptung, »daß Geschlechtsnot die überwiegende Mehrzahl 
zur Gewerbeunzucht bringt«, einer kurzen Betrachtung unterzogen. 

Hammer dürfte meines Erachtens überhaupt nicht von einer Ge- 
schlechtsnot reden, höchstens von einem den oft allseitig guten und vor- 
teilhaften Lebensverhältnissen zum Trotz gewollten »groben Ausleben«. 
Denn es hängt nach Hammer »in erster Linie« von dem »Willen« des 
Menschen ab, »von der Stellung, die er einnimmt gegenüber den inneren 
Versuchungen zum Bösen und zum Guten und gegenüber den äußeren 
Umständen, die auf ihn einwirken«, ob bei ihm »die sinnlichen Anwande- 
lungen eine Quelle der Kraft und Stärke, eine Macht, die das Leben er- 
leuchtet und erwärmte, ist. Aber abgesehen davon ist Hammer dem ver- 
fänglichen Irrtum verfallen, die Produkte der denkbar ungünstigsten 
Verhältnisse (denn nur diese werden in die Anstalt aufgenommen) zum 
Maßstabe für die Feststellung einer Wahrheit (?) zu machen, 


560 B. Mitteilungen. 


welche die Allgemeinheit betreffen soll. Der Zustand der Anstaltsinsassen 
aber ist überwiegend kein normaler, deun 

1. in überwiegender Mehrheit hat die sittliche und die sittlich-sexuelle 
Verwahrlosung der Anstaltszöglinge ihren Anfang in der Kindheit letzterer 
genommen. (Im Kindheitsalter ist die sexuelle Betätigung [d. h. der ge- 
schlechtliche Verkehr] kein Bedürfnis) Eine selten ausbleibende Folge 
genannten Umstandes ist die vorzeitig erwachte ungesunde und häufig 
pervers oder abnorm gerichtete Sinnlichkeit der betreffenden Individuen. 

2. Die Geschlechtsnot der Freudenmädchen ist keine naturgemäße 
und allgemeine, sondern überwiegend die Folge der unter i. genannten 
Umstände. Sie beruht dann in der Nichtbefriedigung der vorzeitig wach- 
gerufenen und häufig abnorm erregten und gerichteten Sinnlichkeit. 
Solcher Zustand wird richtiger mit Geschlechts wut gekennzeichnet. 

3. Daß die Freudenmädchen in Anstalten »mit unzüchtigen Gebärden 
die Männerwelt anzulocken suchen, auch die Männerwelt, die nicht zahlte, 
ist kein unbedingt zutreffender Beweis für das Vorhandensein einer Ge- 
schlechtsnot dieser Mädchen. Es kann die Mädchen dazu ebensowohl 
bloße Renommisterei, Gleichgültigkeit oder Trotz gegen die Anstaltsdisziplin, 
vor allem auch die zur zweiten Natur gewordene Gewohnheit antreiben. 
Daß sie die Männerwelt anzulocken suchen, »die nicht zahlt«, bringt 
meines Erachtens mehr die durch die Zwangslage der Mädchen bedingte 
Gleichgültigkeit gegen den zahlenden oder nichtzahlenden Mann zum Aus- 
druck, als die unbezwingliche Sucht nach einem Manne, ganz gleich, wer er ist. 

Daß die Männersucht der Freudenmädchen und Anstaltsinsassen in 
ihrem ganzen Umfange niemals ausschließlich auf Geschlechtsnot zurück- 
zuführen ist, geht auch aus folgendem hervor: 

1. Der geschlechtliche Verkehr zwischen einem Manne und einer Pro- 
stituierten muß in vielen Fällen (streng genommen in allen) als nicht 
normal bezeichnet werden. 

2. Der geschlechtliche Verkehr der Freudenmädchen ist diesen keine 
»Quelle der Kraft und Stärke« usw., sondern fast stets Ursache ihres 
frühzeitigen Unterganges (der »Geschlechtstrieb des Menschen ist so an- 
gelegt, daß er bei gesundem Gebrauche eine ‚Quelle der Kraft‘ für ein 
langdauerndes Geschlechtsleben iste). 

3. Der Unzuchtstrieb hat für die Freudenmädchen meistens die Be- 
deutung des Broterwerbs. (Handeln des Mannes um den Preis!) 

4. Die Sinnlichkeit der Freudchenmädchen wurzelt, abgesehen davon, 
daß sie oft nur eine vorgespiegelte, geschäftliche ist, in ihren groben 
Ausartungen nicht in der naturgemäßen und gesunden Geschlechts- 
veranlagung, sondern stellt (abgesehen von Krankheitszuständen) ein Pro- 
dukt widernatürlicher Unzuchtsbetätigung dar. 

5. Es gibt genügend Mädchen und Frauen, die, obwohl stark sinn- 
lich veranlagt, dennoch nicht zu Prostituierten werden. 

An dieser Stelle sei auch eine Äußerung des bekannten Pastor 
Keller!) zitiert: 





1) Keller, Naturtrieb und Sittlichkeit. 


1. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers Grundzüge usw. 561 


»Die doppelte Moral hat ihre Stärke und Erklärung in einem noch 
schwereren Vorurteil; — es ist die Meinung, die man vom 17. Jahre an 
in höheren Schulen wie Fabriken, Werkstätten wie Kneipen mit der Un- 
fehlbarkeit eines Axioms aussprechen hört: jeder geschlechtsreife Mann 
müsse seinem Naturtriebe auch Folge leisten, wenn er nicht durch Ent- 
haltsamkeit an seiner Gesundheit Schaden nehmen wolle. Darauf stützen 
sich unzüchtige leichtfertige Bücher, Witze, Gespräche und Urteile. Das 
gehört zur geistigen Atmosphäre unserer Zeit. Selbst ernster zu nehmende 
öffentliche Persönlichkeiten, wie Bebel (»Die Frau«e) rechnen einfach mit 
diesem Dogma und bauen darauf, wie auf einer wissenschaftlich fest- 
stehenden Erkenntnis ihre Systeme auf. Ist es wirklich mit der apodikti- 
schen Gewißheit eines mathematischen Beweises, mit der elementaren Wucht 
eines Naturgesetzes ausgemacht, daß sich aus der bloßen Enthaltung vom Ge- 
schlechtsgenuß, aus der Nichtbefriedigung des Naturtriebes schädliche Folgen 
für die Gesundheit des Mannes ergeben, — dann kann es keinen lebendigen 
Gott geben, der in seinen Willensforderungen Keuschheit und Sittlichkeit 
von uns beansprucht! Dann ist das böse, wunde Gewissen, das bei jeder 
solchen Übertretung der sittlichen Schranken den Sünder straft, ein Un- 
sinn. Wie kann ein Gott — oder sagen Sie Natur — mit sich selbst in 
Zwiespalt sein? Wie kann ein natürlicher Trieb in uns hineingelegt sein, 
dem wir nachgeben müssen, wenn wir nicht krank werden wollen, und 
zugleich wäre eine andere Instanz in unserem Gewissen und den Kultur- 
bedingungen der Menschheit etabliert, die für viele Menschen viele Jahre 
hindurch die Befriedigung unter schwere Strafe stellt? Dann dürfte es 
zum Mindesten keine Geschlechtskrankheiten geben.e — 

Aus Vorliegendem ist die Schlußfolgerung zu ziehen, daß die In- 
anspruchnahme der Geschlechtsnot als Hauptursache zur gewerbeartigen, 
körperlichen Preisgabe auf einen groben Irrtum Hammers zurückzuführen ist. 

Dem eventuellen Einwande Hammers, daß er selbst die Prostitution 
entschieden verurteile und bekämpfe, ist zu entgegnen, daß, wenn die Ge- 
schlechtsnot in der von ihm angegebenen Ausdehnung und Weise existiert, 
die Prostitution ohne weiteres nicht nur als notwendiges Übel, sondern 
geradezu als nackte Naturnotwendigkeit unbedingte Existenzberechtigung 
hat. (Dann fort mit aller Sittlichkeit, die nur naturwidrig ist und ein 
Leben herbei, das dem Menschen die »volle und unmittelbare« Befriedigung 
seines toll gewordenen Triebes gewährt!) Will aber Hammer den Ausdruck 
»Geschlechtsnot« dahin verstanden wissen, daß sie eine Folge des »Willens 
zum groben Ausleben« ist, anders eine Folge sittlicher Verirrung und Ent- 
artung im allgemeinen Sinne, dann wäre ein anderer Ausdruck zweck- 
mäßiger und zutreffender gewesen. Not läßt immer auf das Fehlen von 
Naturnotwendigem schließen, zumal wenn man Allgemeinsätze aufstellt. 

Auch in anderer Beziehung verabsäumt Hammer (sich selbst wider- 
sprechend) die verdiente Verurteilung der Prostitution. Im Zusammen- 
hange damit sind seine weiteren Aufstellungen über andere abseits liegende 
geschlechtliche Äußerungen und Forderungen des Menschen als direkt un- 
glückliche zu bezeichnen. So entscheidet er in der sehr verfänglichen 
Frage: »Auf Grund welcher Sittlichkeit ist die Selbstbefleckung ein ge- 


562 B. Mitteilungen. 


- 





ringeres Laster als der Verkehr mit einem Manne« (d. h. in der Prosti- 
tution)? zugunsten der Prostitution. Wie Hammer aber die Äußerung 
wagen konnte: »Für auf die Dauer weniger gesundheitsschädlich halte ich 
für die Mädchen das Zusammenschlafen in einem Bette gegenüber der 
Selbstbefleckung, soweit sie ausschweifend geübt wird«e, muß gänzlich un- 
verstanden bleiben. Man hat sich dabei zu vergegenwärtige, daß Hammer 
heute schon die Anstalten, die doch jede Unzuchtsbetätigung ihrer Zög- 
linge bekämpfen, ganz davon zu schweigen, daß sie zwei erwachsene 
geschlechtsreife Zöglinge sollten in einem Bett schlafen lassen, »Brut- 
stätten der gleichgeschlechtlichen Entartung«e nennt und sie zur »Unter- 
ordnung unter den Unzuchtstrieb gewerbsmäßiger Freudenmädchen« ver- 
urteilt. So unglaublich diese Zusammenstellung erscheint, verdiente das 
Zerrbild der Hammerschen Sexualhygiene und -moral doch bekannt ge- 
geben zu werden. Alles wird jedoch durch den Vergleich des Ganges zur 
Dirne mit dem »Verkehr mit einem Manne« übertroffen. Dem ist ganz 
entschieden zu entgegnen: Die Prostitution, ob staatlicherseits beaufsichtigt 
oder nicht, ist, abgesehen davon, daß sie die Hauptträgerin und Verbreiterin 
der Geschlechtskrankheiten ist, der eigentliche Pestherd aller geschlecht- 
lichen Entartungen, und nicht nur dieser, sondern noch vieler anderer Nöte, 
Verirrungen, Entgleisungen, Verbrechen. Sie ist niemals berufen, einen 
Ersatz für den normalen Geschlechtsverkehr des Menschen zu bieten. Aus 
allen Gründen, aus welchen heraus die Sittlichkeit, Hygiene usw. des 
menschlichen Sexuallebens gefördert werden soll, ist die Prostitution zu 
bekämpfen. 

Die Leichtlebigkeit ist ein Zeichen unserer Zeit. Um so mehr bleibt 
es zu bedauern, daß Hammer eine absolut nicht existierende Geschlechts- 
not für 13—-18 jährige Mädchen als Wahrheit hinstellt und der Lebe- 
welt ein ärztliches (?) Gutachten zur Rechtfertigung ihres 
zügellosen Lebens in die Hand gibt. — 

Aus allem Voraufgegangenen geht hervor, daß zur Minderung der ge- 
schlechtlichen Entartung weiter Kreise bei vielen Menschen vorerst die wirt- 
schaftliche und allgemein sittliche Hebung, bei anderen nur letztere zu erfolgen 
hat. Diesem entsprechend kann auch in der Erziehung geschlechtsreifer, 
sittlich-sexuell entgleister Mädchen nicht die sexuelle Entartung als allein 
dastehendes Hauptmoment einseitig in Frage kommen, sondern die Er- 
ziehung hat, wie auch der bloße Augenschein lehrt, ihre Aufgabe darin zu 
erblicken, soweit dieses möglich ist, in ihren Objekten die oft gänz- 
lich fehlende sittliche Erkenntnis anzubahnen und zu fördern, 
auf welcher Grundlage dann die Mädchen die Unsittlichkeit und Un- 
anständigkeit ihres bisherigen Lebenswandels einsehen und einem neuen 
besseren Leben zustreben lernen. Daß nun solche Erziehung mehr den 
Charakter der Sexualerziehung trägt, muß in Ansehung der Erziehungs- 
objekte selbstverständlich erscheinen. Zu verwerfen aber bleibt immer eine 
Erziehung in der Form einseitiger und gewaltsamer Bekämpfung der ge- 
schlechtlichen Neigungen der Mädchen, nicht nur aus Gründen der Ge- 
rechtigkeit und Billigkeit, sondern vor allem um der Zielbewußtheit und 
des Erfolges der Erziehung willen. 


1. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers Grundzüge usw. 563 


Die Erziehung sittlich-sexuell entgleister geschlechtsreifer Mädchen 
ist, dieser Gedanke dürfte aus allen bisherigen Ausführungen hervorgehen, 
keineswegs einfach und immer sicheren Erfolg versprechend. Ich kann 
die Erfolgsicherheit Dr. Hammers absolut nicht teilen. Seinen Einwand, 
daß er seine Erfolge (?) von anderen und besseren Erziehungsmitteln 
und -wegen abhängig mache, glaube ich bereits entkräftet zu haben. 
Es ist entgegen Hammer anerkannte Erfahrungstatsache, daß die Er- 
ziehungsanstalten vielmehr die Bösartigkeit als die Böswilligkeit zu be- 
kämpfen haben, was ihnen Veranlassung gibt, in ihrem Wirken vorsichtig 
und in ihrem Auftreten nach außen hin bescheiden zu sein. 


III. Kindererziehung, Nacherziehung, Anstaltserziehung. 


Ist am Schlusse des vorigen Kapitels die Forderung aufgestellt worden, 
daß die Anstaltserziehung die sittliche Hebung der sittlich-sexuell ent- 
gleisten Mädchen anzustreben habe, so gewinnt diese Forderung an der 
Notwendigkeit der Anstaltserziehung infolge des Mangels einer rechten 
Kindheits- und Nacherziehung nur noch an Berechtigung und Dringlichkeit. 
Dieser allgemein gehaltene Satz ist weiter dahin zu ergänzen, daß die An- 
staltserziehung individuell zu verfahren hat, d. h. sie hat unter Mitbeach- 
tung der Individualität des betreffenden Zöglings vorzüglich die Momente 
ins Auge zu fassen, die die gänzlich fehlende Erziehung oder die Fehler 
und Mängel derselben ausmachen. In dem Rahmen solcher Erziehungs- 
praxis können natürlich nur solche Individuen eingeschlossen werden, die 
als ganz oder teilweise erziehungsfähig anzusehen sind. Erziehungsunfähige 
Individuen gehören nicht in eine Erziehungsanstalt. 

Das Ideal aller Erziehung ist die Familienerziehung. Diese schöpft 
ihre Kräfte und Ziele unmittelbar aus dem praktischen Leben und gewinnt 
so den Vorzug, daß sie am ehesten und geeignetsten die Kinder für das 
Leben vorbereitet, erzieht. Es ist Hammer zuzustimmen, wenn er auf 
eine gute Familienerziehung so großes Gewicht legt und die Eltern auf- 
ruft, Erzieher ihrer Kinder zu sein. 

Die einseitige Stellungnahme Hammers zu dem Verhältnis zwischen 
Mann und Weib als Eltern jedoch ist aus Tatsächlichkeitsgründen zu be- 
mängeln. Sehr einseitig kehrt Hammer nur die Vorzüge des Mannes 
hervor und verschweigt ganz deren häufiger vorkommenden Mängel und 
Fehler. Die alltägliche Erfahrung zeigt, daß unter Eheleuten der Mann 
längst nicht immer der intelligentere und tatkräftigere Teil ist. Oft erweist 
sich die »Herrschaft« der Frau als Notwendigkeit, womit keineswegs ge- 
sagt ist, daß eine solche Familie bemerkenswerte Nachteile gegenüber der 
Familie erleidet, in welcher der Mann die »Alleinherrschaft« führt. In 
diese Betrachtung ist noch nicht die große Zahl der ausgesprochen un- 
tauglichen und unfähigen Ehe»herren« einbegriffen. Leider nur zu oft 
treten total verkommene Individuen (Saufbolde, Prasser und andere ex- 
zentrische Männer) »die Herrschaft über die Frau« an und vernichten roh 
und brutal die Früchte stiller und duldsamer Arbeit der armen Frau und 
Mutter, 


564 B. Mitteilungen. 





Die Berichte Hammers über die Berufsarbeit der Ehefrauen sind wahr 
und seine Forderungen nach Abstellung derselben nur zu berechtigt. 
Schade darum, daß alle diesbezüglichen Wünsche und Bestrebungen so gut 
wie erfolglos sind. Nur auf eins sei Dr. Hammer aufmerksam gemacht: 
Warum hat er diesen tieftraurigen Lebensverhältnissen ungezählter Frauen 
und Kinder in seinen Aufstellungen über die sittlich-sexuelle Entgleisung 
der Mädchen nicht mehr Rechnung getragen? Er wäre dann gerecht ge- 
wesen. 

Dem kurzen Entwurfe Hammers über Kindersexualerziehung ist im 
großen und ganzen zuzustimmen. Er fördert jedoch keine wesentlich 
neuen Gedanken zutage. Trotzdem ist der energische Hinweis auf die 
Gefahren der vorzeitigen »Aufklärung«, (d. h. der Belehrung über nackte 
Tatsachen) einer Sache, die bei nüchtern denkenden Menschen eigentlich 
längst abgetan sein sollte, zu beachten. Es ist anzunehmen, daß Eltern 
bei Befolgung der gegebenen (besonders für die Anstaltserziehung jedoch 
nicht ausreichenden) Anweisungen und unter gleichzeitiger Beachtung der 
Individualität der Kinder (die von Hammer unerwähnt bleibt, obgleich sie 
ein Hauptmoment in der Erziehungsfrage ausmacht) in ihrer Erziehung 
Erfolg haben werden, soweit ihnen dieser nicht durch andere Umstände 
(teilweise oder gänzliche Erziehungsunfähigkeit des Kindes usw.) gekürzt 
oder unmöglich gemacht wird. 

Letztere Fälle erwähnt Hammer wie folgt: »Trotz aller Willens- 
übunger und trotz aller Aufklärung verunglücken zahlreiche Mädchen und 
Knaben, teils weil sie die ihnen angebotenen Hilfsmittel nicht annehmen, 
teils weil in der Erziehung wichtige Punkte vernachlässigt wurden.« 
Diese Aufstellung läßt die Erwähnung besonders der erblichen Belastung 
vermissen. 

Die eben genannten, trotz aller Willensübung und trotz aller Auf- 
klärung verunglückten »zahlreichen Mädchen und Knaben« sollen nach 
Hammer einer »Nacherziehung« unterworfen werden. Die Notwendig- 
keit letzterer veranlaßt Hammer zur Suche nach einer »Grundlage der Be- 
urteilung in der Nacherziehung«e. Er findet diese Grundlage in folgendem: 
»Einen sicheren Maßstab für die sittliche Umwandlung eines Menschen 
haben wir überhaupt nicht. Selbst äußerlich sittliche Handlungen können 
aus Klugheit, Berechnung, Verstellung begangen werden, wie auch anderer- 
seits äußerlich unsittliche Handlungen aus sittlichen Beweggründen hervor- 
gehen können. Die inneren Beweggründe sind jedoch nicht unmittelbar 
nachweisbar, sondern können nur vermutet werden. Auf Vermutungen 
hin einen Menschen jahrelang einzusperren, ist schon deshalb mit schwersten 
Gefahren verbunden, weil das Gefühl, willkürlich behandelt und auf bloße 
Vermutungen hin bestraft zu werden, nur bei Vorhandensein größten Ver- 
trauens sittlich förderlich ist, beim Mangel solchen Vertrauens jedoch ent- 
sittlichend wirkt. Ein äußerer Maßstab muß somit die Grundlage der 
Beurteilung in der Nacherziehung sein. Dieser äußere Maßstab könnte 
gefunden werden in der Beteiligung an gottesdienstlichen Handlungen, in 
frommen Worten und Werken der Selbstzucht. Er kann jedoch auch rein 
weltlich angenommen werden und in der Arbeitsleistung bestehen.« 


1. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers Grundzüge usw. 565 


Vorliegende Ausführungen sind insofern unverständlich und wider- 
sinnig, als Hammer ebendasselbe, was er anfangs für unangebracht und 
nicht zweckentsprechend erklärt, im nächsten Augenblicke seinem Neuerungs- 
vorschlage zugrunde legt, indem er die »Grundlage der Beurteilung in der 
Nacherziehung« aus äußeren Handlungen finden will. Will Hammer sich 
nicht eines Widerspruchs beschuldigen lassen, so wird er zugeben müssen, 
daß seine bezüglichen Vorbemerkungen unpassend gewählt sind. In Wahr- 
heit verhält sich die Sachlage folgendermaßen: 

Es stehen dem Menschen zur Beurteilung des sittlichen Wertes eines 
anderen dessen Äußerungen in Worten und Handlungen zur Verfügung. 
Von diesen wird unter Mitbeachtung der Individualität des zu Beurteilenden 
und der bereits gesammelten Erfahrungen auf die inneren Beweggründe 
des Handelnden geschlossen (»vermutet«) und nach Befund das Urteil ge- 
fällt. Daß bei solcher Praxis Fehlschlüsse und Fehlurteile vorkommen, 
hat seine naheliegende Ursache. Wie aber bei Fehlurteilen oder gar un- 
gerechten Bestrafungen deren sittlich fördernde oder entsittlichende Wir- 
kung von dem »Vorhandensein oder Nichtvorhandensein größten Vertrauens« 
abhängig sein soll, entzieht sich meiner Erkenntnis. Entweder das Urteil 
und die eventuelle Bestrafung sind gerechtfertigt und man rechnet bei 
beiden unabhängig vom Vertrauen oder Nichtvertrauen mit der Möglichkeit, 
daß sie »sittlich förderlich« wirken, oder Urteil und Bestrafung sind un- 
gerecht und versagen die erhoffte Wirkung. (Eine »entsittlichende« 
Wirkung ist für letztere Fälle nicht naturnotwendig.) 

Doch abgesehen von diesem ist Hammer bezüglich seines Maßstabes 
zur »Beurteilung in der Nacherziehung« zu fragen, ob er nicht auch 
findet, daß nirgends mehr geheuchelt und »aus Klugheit, Berechnung, 
Verstellung« gehandelt wird, als »in der Beteiligung an gottesdienstlichen 
Handlungen, in frommen Worten und Werken der Selbstzucht?« Ein un- 
passenderer »äußerer Maßstab« konnte meines Erachtens nicht gefunden 
werden. Der »rein weltlich« angenommene Maßstab aber, der in der 
»Arbeitsleistung« gegeben ist, dient bereits der Fürsorgeerziehung als 
Grundlage mit. Darum ist der versteckte Vorwurf, daß »viele Anstalten« 
ihre Zöglinge zu einem bequemen Schlendrianwesen erziehen, entschieden 
zurückzuweisen. Man kann unseren evangelischen Anstalten — über die 
katholischen Anstalten kann ich mir kein Urteil erlauben, möchte auch 
einer vor einiger Zeit ergangenen sensationell aburteilenden Zeitungsnotiz 
über eine katholische Anstalt keinen Glauben schenken — das Zeugnis 
ausstellen, daß die Arbeit eines ihrer wichtigsten Erziehungs- 
und Schätzungsmittel ist. Es ist daher die besondere Betonung von 
»Meisterstück und Pensum« (das Hammersche Pensum ist sowohl im 
Verhältnis zu den heute in den Anstalten geforderten Arbeitsleistungen, 
als auch innerhalb seines eigenen Arbeitsplanes zu niedrig bemessen, 
da Hammer selbst eine dreifache Pensumsleistung für möglich hält) in 
der Verrichtung allgemeiner Fertigkeiten (Zimmerreinigen usw.) höchst 
überflüssig. Die in den Anstalten übliche Praxis genügt, um gute 
Arbeit von schlechter und Faulheit von Fleiß zu unterscheiden und die 
Zöglinge zur Treue und Strebsamkeit in der Verrichtung ihrer Arbeiten 


566 B. Mitteilungen. 


zu erziehen. Einen Fehler nur haben die (großen) Anstalten: daß sie den 
Zöglingen einen Einblick in die vielen Kleinigkeiten, deren Beachtung für 
die spätere Bewirtschaftung eines kleinen Haushaltes so überaus wichtig 
ist, nicht gewähren. Dieser Fehler aber läßt sich schwerlich ganz ver- 
meiden. 

Gegen die von Dr. Hammer geforderte Geldentlohnung an die An- 
staltsmädchen sprechen folgende Punkte: 

Die Arbeitsleistungen der Zöglinge entsprechen nicht entfernt den 
Unkosten, die dem Staate durch die Übernahme der Mädchen in Fürsorge- 
erziehung entstehen. 

Die Zöglinge bedürfen besonderer Geldmittel nicht. Sie erhalten alle 
Lebensbedürfnisse. Gegenüber ihrem vorherigen ausschweifenden Lebens- 
wandel ist die Erziehung zur möglichsten Einfachheit dringend erforderlich. 
Dieses bedingt die Vermeidung aller Überflüssigkeiten. Der Vorschlag zu 
einer planmäßigen Verabreichung von Genußmitteln, wie Wein, Bier, 
Tabak (!) an Anstaltsmädchen aber ist meines Erachtens so ungeheuerlich, 
daß Worte über ihn überflüssig sind. Auch übersieht Hammer, welche 
Bedeutung Schmuckgegenstände als Anregungsmittel zur lesbischen Liebe 
und zur Männersucht für die Mädchen haben. 

Die Geldentlohnung hat überhaupt keinen oder doch nur einen sehr 
minimalen erzieherischen Wert, da die Ausgaben der Zöglinge ständig und 
scharf kontrolliert werden müßten. 

In vielen Fällen wird die Geldentlohnung einen bedenklichen Unwert 
zeitigen. (Einschmuggeln verbotener Gegenstände, Genußmittel usw. in die 
Anstalt. Heimliche Beschaffung von unkontrollierten Geldmitteln von An- 
gehörigen. Diebställe an Geld und Genußmitteln. Erpressungen an 
jüngeren und schwächeren Zöglingen. Neid.) 

Die Lohnauszahlung an Zöglinge dient keineswegs der Anstalts- 
disziplin. Neben anderen weckt sie in den Zöglingen unberechtigte An- 
sprüche auf materielle Pflichtgegenleistungen der Anstalten. 

Da die Entlohnung nach den Arbeitsleistungen bemessen werden soll, 
werden in vielen Fällen gerade die schlimmsten Zöglingselemente, die 
häufig die geschicktesten Arbeiter sind, sich in den Besitz vermehrter 
Geldmittel setzen, deren Verbrauch zweckmäßig zu regeln der Anstalt nur 
bei willkürlichem Verfahren möglich ist. Dieses der Anstalt bleibende 
Recht werden die Zöglinge zum eigenen Schaden aber nicht einsehen, 
sondern nur als Ungerechtigkeit (?) betrachten. 

Der Wert der an den Zöglingen geleisteten Erziehungsarbeit macht 
eine Geldentlohnung überflüssig. 
* * 

* 

Einen neuen Gedanken bringt Hammers Aufstellung über »frei- 
willig bleibende Pfleglinge«. 

»Auf Wunsch erfolgt tageweis frühere Entlassung für Leistung jedes 
Überpensums vom Werte einer Tagesarbeit. Macht der Zögling von diesem 
Rechte des früheren Verlassens der Anstalt nicht Gebrauch, so wird er 
als freiwilliger Pflegling im Gegensatz zu den Zwangspfleglingen ge- 
führt und erhält einen abermals erhöhten Lohn. 


1. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers Grundzüge usw. 567 


Freiwillig bleibende Pfleglinge erhalten 5—50 Pf. Tagelohn mit Rück- 
sicht darauf, daß sie nicht mehr ganz so eingehender erzieherischer Ein- 
wirkung bedürfen, und werden — falls sie sich dazu eignen — als Vor- 
arbeiter und Aufsichtspersönlichkeiten verwandt. 

Hilfsvorarbeiter und Hilfsaufseher können auch schon Zwangszöglinge 
werden.« 

Vorstehende Darlegungen zeitigen ein vollständiges Fiasko der 
Hammerschen »Grundlage der Beurteilung in der Nacherziehung«. Bereits 
in dem Kapitel über Lohnzahlungen an Zöglinge wurde nachgewiesen, daß 
in vielen Fällen gerade die schlimmsten Zöglingselemente einen bedenk- 
lichen und unverdienten Vorsprung vor ihren schwächeren und un- 
geschickteren Kameradinnen haben. Dieser neue Vorschlag jedoch reizt 
und zwingt sie, in erhöhtem Maße ihre ihnen von der Natur mitgegebenen 
Kräfte und Fertigkeiten direkt zu ihrem Unheil anzuwenden. Und wo 
Kräfte und Fertigkeiten versagen, da setzen Raffiniertheit, Dreistigkeit, 
direkter Betrug und Vergewaltigung von jüngeren und schwächeren Mit- 
zöglingen (d. h. die feinere, stille, heuchlerische Vergewaltigung) ein und 
helfen ein Werk echt weiblicher Hinterlist und Tücke vollenden. Wohin 
führt da der »äußere Maßstab«, wenn ihm nicht die Einsicht in das 
Seelenleben der Zöglinge zu Hilfe kommt? 

Erweist sich nun der vorgeschlagene Weg zur Bestellung der »frei- 
willigen Pfleglinge« als untunlich, so stehen der Zulassung von »frei- 
willigen Pfleglingen« überhaupt nicht unwesentliche Bedenken entgegen. 

Der gewählte Ausdruck »freiwillige Pfleglinge« ist meines Erachtens 
entweder ein verfehlter, oder aber er betrifft eine Gattung von Zöglingen, 
für welche die Erziehungsanstalt kein Aufenthaltsort mehr ist. Die Ent- 
lassung der Zöglinge erfolgt heute auf ein Gutachten der Anstaltsleitung, 
welche sich in dem Gutachten dahin äußert, daß der Zögling (bis auf 
weiteres) endgültig oder versuchsweise entlassungsfähig ist. Als ent- 
lassungsfähig gilt der Zögling, welcher seiner Verfassung nach der er- 
ziehlichen Einwirkung und Beaufsichtigung nicht mehr bedarf. Zöglinge, 
die »nicht mehr ganz so eingehender« erzieherischer Einwirkung 
bedürfen, legen wohl für einen teilweisen Erziehungsfortschritt Zeugnis 
ab, können jedoch der erziehlichen Beaufsichtigung noch nicht ganz ent- 
behren, sind demnach noch nicht entiassungsfähig. Von einem 
»freiwilligen« Verbleib in der Anstalt kann fulglich bei ihnen nicht die 
Rede sein. 

Gegen einen weiteren Verbleib von Zöglingen in der Anstalt über die 
notwendige Zeit hinaus spricht auch schon der Beruf der Anstalt. Dieser 
ist, daß eine Anstalt ihre Pfleglinge nicht für sich selbst, sondern 
fürs Leben draußen erziehen soll. Die Zöglinge sind sobald als 
möglich der Außenwelt zurückzugeben. — 

Eine offizielle Beförderung von Zöglingen zu Aufsichtspersönlichkeiten 
läuft stichhaltigen Erfahrungsgründen zuwider. Zum wenigsten sollten ge- 
eignete (?) Zöglinge nicht in derselben Anstalt, in welcher sie Zög- 
linge waren, als Erziehungspersonal angestellt werden. Persönlich jedoch 
halte ich die Zöglinge (von ganz vereinzelten Ausnahmen abgesehen) zum 


5068 B. Mitteilungen. 


Erzieher und auch zum Aufseher immer für unfähig und ungeeignet. 
Zumal unter weiblichen Zöglingen erscheint es ausgeschlossen, daß ein 
Zögling sich unter den früheren Kameradinnen auch nur soviel Respekt 
verschaffen kann, daß die Anstaltsleitung ihn mit der Aufsichtsführung 
über eine Gruppe verantwortlich betrauen kann. In derartig eingerichteten 
Anstalten treten aus leicht verständlichen Gründen Unredlichkeiten und 
Disziplinwidrigkeiten stark hervor, die den geeigneten Wucherboden nur 
darin finden, daß sie mit Wissen der Aufseherin (?) geschehen können. 
Die Aufseherin hat dann ein persönliches Interesse, die unter ihrer Leitung 
herrschenden ungehörigen Zustände den Vorgesetzten gegenüber zu ver- 
schweigen. 

Auf diese Weise ist es erklärlich, daß eine Anstaltsleitung von der 
Vorzüglichkeit ihrer Einrichtung überzeugt ist, in Wahrheit aber einer 
heillosen Mißwirtschaft (freilich unwissend) Vorschub leistet. 


* * 
* 


Eine kurze Betrachtung erfordern einige Punkte der »religiös-sitt- 
lichen (geistlichen) Grundlagen der Nacherziehunge. 

Der Ausspruch Hammers: »Gehorsam wird nicht für die Persönlich- 
keit des Erziehers, sondern kraft seines Amtes gefordert. Von vorneherein 
lehre man die Zöglinge, das Amt vom Manne zu unterscheiden«, läßt 
vermuten, daß Hammer das rechte Verständnis für den Erzieherberuf ab- 
geht. Recht versehen ist das Erzieheramt mit der Erzieherpersönlichkeit 
aufs engste verbunden und läßt sich nicht von ihm trennen. Jede Er- 
ziehung ist Persönlichkeitssache. Der Gehorsam wird darum auch für 
die Persönlichkeit des Erziehers gefordert. Letzterer ist dem Zöglinge 
der Inbegriff seines Vermittlers und Führers in der Erziehung zur Sitt- 
lichkeit. (Gehorsam von Amtes wegen oder gegen das Amt gleicht dem 
erzieherisch und sittlich minderwertigen knechtischen Gehorsam gegen 
den augenblicklichen Vorgesetzten und Gewalthaber. Es bleibt natürlich 
bei dem Gehorsam gegen die Persönlichkeit des Erziehers bestehen, daß 
jede Gehorsamsleistung der eigenen sittlichen Bildung und Förderung des 
Zöglings dienen soll. Im übrigen stehen die Zöglinge dem Anstaltser- 
zieher genügend kritisch gegenüber, so daß es keines weiteren Hinweises 
auf Abstandhaltung mehr bedarf. 

Eine ähnlich unfertige Stellung wie in der Erziehung zum Gehorsam 
nimmt Hammer in der Erziehung zur Wahrhaftigkeit ein. Er sagt: 
»Die Erziehung zur Wahrhaftigkeit hat nicht den Zweck, die Pfleglinge 
zu vollem und unbedingtem Vertrauen den Erziehern gegenüber zu 
bringen.« 

An sich wäre gegen diese Aufstellung nichts einzuwenden, wenn sie 
Hammer nicht zu Folgerungen veranlaßte, die geeignet sind, den Erfolg 
der Erziehung zu beeinträchtigen oder ganz zu gefährden. Hammer wird 
zugeben müssen, daß das Vertrauensverhältnis zwischen Erzieher und 
Zögling eine notwendige Vorbedingung für jede Erziehung ist. In be- 
sonderer Weise gilt dies für viele Fälle in der Anstaltserziehung. Bei 
Zöglingen z. B., die oft enttäuscht nun jegliches Vertrauen zu sich selbst 


1. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers Grundzüge usw. 569 





und zu jedem anderen Menschen verloren haben, muß der Erzieher seine 
erste und wichtigste Aufgabe darin erblicken, dieselben zu sich in ein 
möglichst festes und inniges Vertrauensverhältnis zu bringen. Dasselbe 
gilt von allen übrigen Kindern, für welche die Notwendigkeit besteht, in 
ihrem Erzieher einen festen Stützpunkt in der Überweisung ihrer Schwächen 
und Mängel zu finden. Man darf wohl annehmen, daß mancher Mißer- 
folg der Erziehung (nicht nur der Anstaltserziehung) auf den Vertrauens- 
mangel des Zöglings zu seinem Erzieher zurückzuführen ist. Nicht Zweck 
und Ziel der Erziehung zur Wahrhaftigkeit ist das Vertrauen des Zöglings 
zum Erzieher, wohl aber ein unbedingt notwendiges Mittel derselben und 
ein Weg, auf welchem Kinder am schnellsten und leichtesten zur Wahr- 
haftigkeit kommen. 

Der von Hammer vorgezeichnete Weg der Erziehung zur Aufrichtig- 
keit ist meines Erachtens nicht nur ein nicht gangbarer, sondern unter 
Umständen ein der Erziehung direkt entgegengesetzter Weg, der zur Un- 
aufrichtigkeit und Lügenhaftigkeit führt. 

»Nicht alles, was dem Zögling wahr zu sein scheint, soll er jeder- 
zeit aussprechen dürfen. Hingegen soll alles, was er sagt, wahr d. h. 
keine Lüge sein. Um diesem Ziele näher zu kommen, gestatte man 
den Zöglingen, die Aussage zu vermeiden, so weit das irgend angängig 
ist. Will man sich über das Vorleben unterrichten, so weise man den 
einzelnen Pflegling darauf hin, daß er sowohl im ganzen, wie auch im 
einzelnen die Aussage verweigern darf, und daß ihm irgend welche Nach- 
teile aus dieser Verweigerung nicht erwachsen. — Bevor gerichtliche 
Vernehmungen stattfinden, bitte man den Zögling in Erwägung zu ziehen, 
ob seine Aussage ihn nicht selbst belaste.« 

Solchem entgegen ist man in Erzieherkreisen allgemein der Ansicht, 
daß ein Kind, wenn es befragt wird, Rede und Antwort zu stehen hat, 
auch in Fällen begangenen Unrechtes. In letzteren wird man, wenn es 
sich um ein sehr verlogenes Kind handelt und keine Aussicht besteht, 
daß man bei ihm die Wahrheit erzielen wird, entweder das Unrecht 
stillschweigend ganz übergehen, oder das Kind durch Blick, bloßen Auf- 
ruf, kurze Ermahnung wissen lassen, daß man sein Unrecht bemerkt hat, 
oder man wird, wenn man Zenge des Unrechtes gewesen ist, das Kind 
stillschweigend bestrafen usw. Die Erziehung bietet hierin viele Ein- 
wirkungsmöglichkeiten. Es muß da der erzieherischen Weisheit überlassen 
bleiben, die rechte in Anwendung zu bringen. Die Schweigeerlaubnis 
zum Zwecke der Umgehung einer verdienten Strafe aber halte ich unter 
allen Umständen für völlig untunlich und zweckwidrig, sie führt zur Un- 
redlichkeit, Heuchelei, Feigheit und versteckten Bosheit. 

Zu den Vernehmungen eines Zöglings vor Gericht ist zu sagen, daß 
es erzieherisch falsch ist, dem Zögling das Verschweigen ihn belastender 
Momente anzuraten. Man lehre den Zögling vielmehr den Folgen seiner 
Übeltaten gefaßt entgegenzusehen und der möglichen Strafe einen nachhaltigen 
Antrieb zur Besserung zu entnenmen. Dieses verhindert keineswegs, mit 
aller Kraft für den Zögling einzutreten und die Momente hervorzukehren, 
die zu seiner Entlastung geeignet erscheinen. 

Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 37 


570 B. Mitteilungen. 


Mit solcher Praxis habe ich bis jetzt immer die besten Erfolge er- 
zielt. In jedem anderen Falle wird der Zögling wohl einen kurzen 
(äußerst zweifelhaften) Vorteil vor Gericht gewinnen, andererseits aber 
alle Scheu vor letzterem verlieren und seinem Erzieher, der ihn zur Un- 
aufrichtigkeit erzog, seine Fürsorge am ehesten schlecht lohnen. 

* * 
* 

Die Erzieherfrage sucht Hammer in eigenartiger Form zu lösen. Da 
ihm das sexuelle Moment in der ganzen Erziehung das allein vorwiegende 
ist, läßt er dasselbe auch die Erzieherfrage entscheiden. 

Speziell ı zur Bekämpfung der Gleichgeschlechtlichkeit sind in 
Mädchenanstalten »als Vorarbeiter Männer von festem Charakter und 
sittlicher Stärke in möglichst großer Zahl anzustellen. Ebenso ist aus 
Gründen der geschlechtlichen Sittlichkeit die männliche Leitung dringend 
erwünscht. In Knabenanstalten sind hingegen Frauen, die sich auf die 
Erziehung von Knaben verstehen, anzustellen.« 

Diese rein problematische Forderung, die meines Wissens nirgends 
in der Praxis auch nur durch einen Versuch begründet ist, muß doch — 
von Hammer aufgestellt — einiges Verwundern erregen. Auf die von 
Hammer geschilderte Geschlechtstollheit der Menschen eingehend ist die 
Frage aufzuwerfen: Woher will Hammer die vielen »Männer von festem 
Charakter und sittlicher Stärke«e nehmen, die nach seiner Ansicht die 
»Freudenmädchen« erziehen sollen, die in den Anstalten aus »Geschlechts- 
not« »mit unzüchtigen Gebärden die Männerwelt anzulocken suchen, auch 
die Männerwelt, die nicht zahlt=? 

Will Hammer, um der Gefahr einer eingebildeten gleichgeschlecht- 
lichen Entartung in den Anstalten willen die sexuell leicht reizbaren 
Mädchen durch den steten Umgang mit Männern ständig in einer Auf- 
regung halten, für welche keine Aussicht auf Dämpfung besteht? Und 
sollen die Männer, auch wenn sie aus sich selbst nicht in Versuchung 
kommen sollen, weiblicher Klatschsucht und Niedertracht »in großer Zahl« 
ausgesetzt sein? Hammer selbst sagt doch, daß die Unzufriedenheit und 
Gereiztheit des Menschen, die zur »Voreingenommenheit« und »üblen 
Nachrede« führt, in der »geschlechtlichen Nichtbefriedigung die Haupt- 
ursache« hat. Es ist auch weiter nicht erwiesen, daß der bloße Umgang 
mit einem männlichen Vorgesetzten die Mädchen von der Gleichgeschlecht- 
lichkeit abhält. Die Annahme ist nicht so unberechtigt, daß die durch 
den Umgang mit Männern bei den Zöglingen entstandene geschlechtliche 
Erregung sich zu gelegener Zeit in Selbstbefleckung oder homosexuellem 
Verkehr austobt. Zu diesem kommt noch das andere, daß die Anstalt 
überhaupt nicht dazu da ist, der »Geschlechtsnot« der Freudenmädchen 
irgend welche Konzessionen zu machen. 

In etwas gibt Hammer die drohenden Gefahren bei einem anders- 
geschlechtlichen Erzieherpersonal zu. »In Mädchenanstalten drohen bei 
Verwirklichung der hier angeregten Pläne Unzuchtshandlungen der Er- 
zieher, in Knabenanstalten Vergewaltigungen der Erzieherinnen.« 

Wenn aber Hammer diese Gefahren kennt, warum bedenkt er nicht, 


1. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers Grundzüge usw. 571 


daß eine einzige der genannten Handlungen geeignet ist, die Früchte 
jahrelanger und mühevoller Erziehungsarbeit mit einem Schlage zu ver- 
nichten und für lange Zeit jede weitere Erziehung in der betreffenden 
Anstalt unmöglich zu machen? Und wie soll eine Anstalt die Verant- 
wortung tragen, nicht nur sich selbst und ihren Zöglingen, sondern dem 
ganzen Anstaltswesen einen nicht wieder gut zu machenden Schaden zu- 
gefügt zu haben? Darum erscheint es geraten, den Hammerschen Vor- 
schlag kurzerhand abzulehnen. 

Aus anderen als den von Hammer angeführten Gründen ist die 
männliche Mitarbeit in der Anstaltsleitung dringend zu fordern. Die eigen- 
artig angelegte weibliche Natur macht vielleicht weniger die ständig aktiv 
unterstützende, als vielleicht die gleichmäßig tragende und zielbewußt be- 
stimmende Mitwirkung des Mannes im Anstaltsbetriebe erforderlich, wenn- 
gleich auch vereinzelte dringliche Notfälle nur durch die männliche Über- 
legenheit ihre Erledigung finden können. Das umgekehrte Verhältnis 
hätte für die Knaben-Erziehungsanstalten Geltung. 


* + 
* 

Hammers Anforderungen an einem rechten Erzieher und eine rechte 
Erzieherin sind nützlich und gut, doch bieten sie, abgesehen von der ein- 
gehenderen Beleuchtung vom sexuellen Standpunkte aus, welcher jedoch 
in wesentlichen Punkten nicht zuzustimmen ist, keine neuen Gedanken. 
Die ideale Seite des Erziehers, wie Hammer sie ausmalt, ist bereits Gegen- 
stand aller pädagogischen Werke und Schriften und vieler mündlicher und 
schriftlicher Abhandlungen gewesen. Die vorwiegendsten Momente!) aber, 
die die heutige Erzieherfrage in den Anstalten ausmachen, werden durch 
Hammers Ausführungen nicht getroffen. 

Darin stimme ich ganz mit Hammer überein, daß den Erziehungs- 
anstalten und ihrer Praxis heute noch mancherlei Unvollkommenheiten 
anhaften. Dieses aber ist auch den zuständigen Kreisen bekannt. Die 
Tatsache zeigt, wie auch bereits ausgeführt: ist, daß viele anerkannt 
tüchtige Kräfte in der Förderung der Fürsorgeerziehungspraxis ihre Lebens- 
aufgabe erblicken. Welches aber muß dazu der erste Hauptgedanke sein? 
Jede Erziehung ist reine Persönlichkeitssache, wir brauchen 
Erzieherpersönlichkeiten! Haben wir darum in unseren Anstalten 
vor allem erst ein berufsfreudiges und starkes Erzieherpersonal, wie es 
zur Bewältigung der Anstaltsarbeit notwendig ist, dann lösen sich alle 
anderen Anstaltsfragen gleichsam von selbst; dann wird die Fürsorge- 
erziehung, soweit die Anstalten in Fragen kommen und sofern auch nach 
außen hin Vervollkommnungen geschaffen werden, wie es nicht anders 
zu erwarten ist, überhaupt in Wahrheit und Kraft ein wirkliches Fürsorge- 
werk für unsere sittlich entgleiste und gefährdete Jugend sein. 


1) Dieselben sind bereits ausführlich von mir in verschiedenen Artikeln des 
Rettungshaus-Boten klargelegt worden. 
37*+ 


572 B. Mitteilungen. 








Schlußwort. 


Es dürfte sich als vorteilhaft erweisen, in kurzen Sätzen eine Gesamt- 
beurteilung, oder sagen wir richtiger -Verurteilung der Hammerschen Arbeit 
zu geben. 

1. Hammers Ausführungen über die heute geübte Fürsorge- und 
Anstaltserziehung zeugen m. E. von einer offenbaren Unkenntnis auf dem 
Gebiete der in Frage stehenden Materie. Bei der Lektüre der Hammer- 
schen Schrift gewinnt man den Eindruck, als ob Hammer sich bemühe, in 
gewollter Verkennung des wahren Sachverhalts exzentrisch dazustehen. 

2. Ein Gleiches gilt von seiner Beurteilung der Prostitution und 
deren Begleiterscheinungen. 

3. Seine Aufstellungen über die sexuelle Sittlichkeit sind zum Teil 
geeignet, vielen zu einer direkten Gefahr zu werden. 

4. Die Hammersche Arbeit wäre einer kritischen Betrachtung nicht 
wert, wenn nicht die Gefahr bestände, daß weitere Unberufene das zum 
großen Teile bedenkliche Hammersche Material zum Schaden einer groß- 
zügig durchdachten und mit allem Fleiße betriebenen Wohlfahrtseinrichtung 
gebrauchen könnten. 

Außer im Rettungshaus-Boten hat die Hammersche Schrift meines 
Wissens in Anstalts- und Erzieherkreisen nirgends Beifall gefunden. Die 
Entrüstung über dieselbe ist allgemein. 

Die Hammersche Arbeit dürfte hiermit für die Erziehungsanstalten 
ihre Erledigung gefunden haben. 


2. Drei Originalbriefe eines ehemaligen jugendlichen 
Gefangenen. 


Ein Beitrag zu dem Kapitel »Neurasthenische Depressionszuständee«. 
Von K. Kruppa, Lehrer an der Königl. Landesstrafanstaft Bautzen. 
(Schluß.) 


Noch mehr wurde ich in dieser Meinung bestärkt durch den 2. Brief, 
den ich nach reichlich 2 Monaten von ihm erhielt. Dieser hat folgenden 
Wortlaut: 

Leipzig, den 15. 7. 1912. 


Hochverehrter Herr Kruppa! 


Wenn ich Ihren lieben Brief, ganz dazu angetan, aufmunternd, an- 
spornend zu wirken, bisher unbeantwortet ließ, hat mich einzig und allein 
die Scham, Ihnen eingestehen zu müssen, daß Ihr Schreiben wohl auf 
einige Zeit meinen gefaßten Vorsatz aufrecht zu erhalten vermochte, mich 
dann aber nur um so tiefer wieder in den Schlamm sinken ließ, daran 
verhindert. — O, wenn Sie wüßten, Herr K., welche Stunden ich durch 
mein abermaliges und sich dann wiederholendes Straucheln durchgemacht 
habe! Wohl habe ich Ihre Ratschläge, so gut es ging, befolgt, habe mich 
bis zur Erschöpfung müde gearbeitet, geschrieben bis die Augen schmerzten: 


2. Drei Originalbriefe eines ehemaligen jugendlichen Gefangenen. 573 


Aber dann beim Zubettgehen die qualvollen Augenblicke vor dem Ein- 
schlafen, wo ich schlafen wollte und doch nicht konnte, wo die nicht zur 
Ruhe kommen wollenden und nun unbeschränkte Freiheit habenden Ge- 
danken mit unwiderstehlicher Macht immer wieder auf den verbotenen 
Gegenstand zurückkamen. Die Macht der Gewohnheit, jahrelanger Ge- 
wohnheit, machte sich schließlich wieder geltend, und ich — — unterlag! 
— Es ist keine leere Phrase, wenn ich schreibe, daß ich dann infolge 
der darauf folgenden Seelenqualen, ohnmächtigen Zorns über meine Willens- 
schwäche und dumpfer Verzweiflung stundenlang in kaltem Schweiße ge- 
badet lag. Und einmal wieder gefallen, gab es kein wirkliches Aufkommen 
mehr. Was ich in diesen wenigen — vom Laster enthaltsamen und daher 
mit mir selbst zufrieden verlebten — Wochen an Zukunftsplänen aufgebaut, 
sank leicht wie ein Kartenhaus wieder zusammen. 

Dieser, durch beständige Selbstanklagen und auch Furcht und Scham 
vor der Ihnen zur anberaumten Zeit zu gebenden Antwort auf Ihr Schreiben 
unerträglich gemachten Lage glaubte ich dadurch zu entgehen, daß ich 
das bißchen Stellung, welche ich inne hielt, aufgab und mich aufs neue 
dem Landstreicherleben überließ. Der dadurch bedingte ständige Aufent- 
halt in der frischen Luft, sowie der damit verbundene Wechsel täglicher 
Eindrücke würden, so glaubte ich (trügerischer Weise wie auch bei frühern 
Gelegenheiten) meinen Gedanken die nötige Ablenkung bieten und mich 
so vor der zu häufigen Wiederkehr des Lasters bewahren. Jedoch ohne 
Erfolg. Hatte mir vordem das Bewußtsein, mein tägliches, wenn auch 
kärglich zubemessenes Brot auf redliche Weise verdient zu haben, immer 
noch einen gewissen moralischen Halt gegeben, so wurde ich jetzt, nach- 
dem ich durch Betteln gezwungen war, meinen Lebensunterhalt zu er- 
werben, um so leichter eine Beute meiner niedrigen Leidenschaft. 

Jetzt aber, Herr K., nach 6 Wochen langem Umherirren (ich war 
nacheinander wieder in Hamburg, Bremen, Braunschweig, Magdeburg etc., 
u. a. fand ich während dreier Wochen Aufnahme in einem kaufmännischen 
Heim in Bremen) habe ich mich zu dem Entschlusse durchgerungen, noch 
einmal mit allen Kräften ein neues Leben anzufangen. Ich gebrauche 
Ihre Worte: Ich will ernstlich und muß daher emporkommen, muß heraus 
aus diesem moralischen Schlamme. Ständig will ich mir vor Augen halten, 
daß es doch jemand gibt, der sich wirklich um mein Schicksal bekümmert, 
Anteil daran nimmt, wenn ein Mensch bestrebt ist, mit allen Kräften sich 
wieder auf die Höhe zu schwingen, zu der ihn sein Intellekt und das 
Bewußtsein, eine Religion zu haben, befähigt! — — 

In dem Augenblicke, wo ich dies schreibe, befinde ich mich in Witten- 
berg. Ich hatte eigentlich die Absicht, mich nach Breslau durchzuarbeiten, 
aber jetzt, da dieser Entschluß in mir groß geworden ist, will ich nach 
Leipzig zurückkehren, zu dem Ort, der Zeuge der verschiedensten Phasen 
meines bisherigen Lebens gewesen ist, der aber jetzt bezeugen soll, wie 
ich entweder wirklich wieder in die Höhe gelange oder aber endgültig 
zu Grunde gehe. 

Ich werde Ihnen, sobald ich in Leipzig wieder Beschäftigung ge- 
funden habe, meine Adresse zukommen lassen und mich dann äußerst 


574 B. Mitteilungen. 


glücklich schätzen, abermals einen Brief von Ihnen, Herr K., in den Händen 
zu halten. 

In dieser Erwartung und mit dem ehrlichen Versprechen, mich diesmal 
nicht durch einen etwa eintretenden Rückfall entmutigen zu lassen, sondern 
entschlossen vorwärts zu schauen, verbleibe ich für immer 

Ihr 
Sie hochverehrender und reuiger 
Fritz B. 


Das Krankheitsbild, das sich aus vorstehenden Briefen enthüllt, ist 
folgendes: 

B. ist noch nicht über die Zeit des Pubertätsirreseins hinausgekommen 
trotz seiner 21 Jahre, im Gegenteil, seine Selbstcharakterisierung in den 
Briefen zeigt deutlich alle Spuren der Hebephrenie Schon bei seinem 
Hiersein machte B. auf mich den Eindruck, als sei er ein erblich belasteter 
Mensch. Der Umstand, daß sein Vater spurlos verschwunden war, läßt 
vermuten, daß auch diesen die Neigung zu planlosem Umherschweifen er- 
griffen haben mag. wie jetzt auch den Sohn. Selbst Äußerlichkeiten in den 
Briefen B.s, wie die fürchterlichen Satzungeheuer, sind nach Ziehen Kenn- 
zeichen der Hebephrenie. (Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik von 
Rein, 7. Band, Langensalza, Hermann Beyer & Söhne [Beyer & Mann], 
1908, S. 134/135, Artikel über »Pubertätsirresein« von Ziehen.) 

B. zeigt, wie er mehr als einmal Gelegenheit hatte, aus diesem un- 
würdigen Dasein herauszukommen; doch sein Handeln ist direkt entgegen- 
gesetzt, vollkommen unlogisch und ziellos. Ja gerade sein planloses Um- 
herschweifen ist charakteristisch für seinen Zustand. Beim Lesen der 
Briefe werden wir den Eindruck nicht los, daß B. gewissen Wahnvor- 
stellungen nachgibt. 

Die Pubertäts-Melancholie fehlt ebenfalls nicht zum typischen Bilde. 
Sie äußert sich nicht nur in seinen eigenen Worten im 1. Briefe, sondern 
sie wird auch gekennzeichnet durch das Unlogische seiner Handlungsweise, 
durch sein ganzes Verhalten, das direkte Denkhemmungen erkennen läßt. 
Das Verzweifeln an seinem Können, seine Reizbarkeit sind bedeutsam für 
den Depressionszustand. Noch ist zwar seine Entschlußfähigkeit nicht 
ganz verschwunden, aber doch bedeutend herabgesetzt, wie wir das ferner 
noch deutlicher erkennen werden. Es fehlt somit auch nicht der Typus 
in diesem Depressionszustand, den man mit dem Worte Abulie bezeichnet. 

Hand in Hand mit der verringerten Entschlußfähigkeit geht die 
Mutlosigkeit. 

Wir sind geneigt, einen großen Teil der Schuld der zügellosen Onanie 
zuzuschreiben. In neuerer Zeit hat man zwar die Ansicht aufgegeben, 
daß die Onanie allein als Ursache zu psychischen Erkrankungen anzu- 
sprechen sei, und auch ich bin der Meinung, daß man mit der Darstellung 
der schweren Folgen der Onanie mehr schadet als nützt, doch in vor- 
liegendem Falle ist zweifellos eine Mitwirkung dieses Lasters nicht von 
der Hand zu weisen, besonders wenn man B.s Mangel an Selbstzucht, 
seine Verwirrtheit und Mutlosigkeit ins Auge faßt. 


2. Drei Originalbriefe eines ehemaligen jugendlichen Gefangenen. 575 


Die Art des Depressionszustandes könnte man wohl am besten mit 
dem Worte »Stimmungsdepression« bezeichnen. Unverkennbar sind die 
Angstaffekte, die ihn immer aufs neue dazu treiben, die Flucht zu ergreifen. 
Scheinbar verdichten sich diese Affekte bei ihm schon zu direkten Wahn- 
oder Zwangsvorstellungen. Vom Leben erwartet er gar nichts mehr, und 
eine geregelte Berufstätigkeit für längere Zeit ist ihm unmöglich. Daß wir 
es hier mit Zwangshandlungen zu tun haben, geht ferner daraus hervor, 
daß jede Überlegung beim Verlassen des nach langem Suchen endlich ge- 
fundenen Arbeitsplatzes fehlt. Hat er eine Stellung gefunden, so erkennt 
er meist, daß er doch noch mehr leisten kann, als er sich selbst zutraute. 
Doch nur solange währt der gute Einfluß, als ihm die Tätigkeit neu ist. 
Gar bald verblaßt wieder der mit der Neuheit der Stellung verbundene 
Gemütseindruck, und der Depressionszustand macht sich aufs neue bemerk- 
bar. Somit kann man bei B. wohl auch von periodischem Irresein oder, 
da es sich um eine Stimmungsdepression handelt, von periodischer Melan- 
cholie sprechen. 

Körperlich sind die.psychischen Regelwidrigkeiten wahrscheinlich be- 
gründet in Störungen des Herzens und der Blutgefäße; wenigstens lassen 
sie sich vermuten, weil B. bereits jahrelang Onanist ist. 

Nicht unmöglich ist es, daß B. durch falsche Erziehungsmaßnahmen 
seitens Erzieher, Lehrer, Seelsorger, oder auch durch Lesen über die an- 
geblichen furchtbaren Folgen der Onanie veranlaßt wurde, an sich selbst 
zu verzweifeln, zum mindesten aber Befürchtungen wegen seines Gesund- 
heitszustandes zu hegen. Diese Befürchtungen aber tragen, wie Fachleute 
betonen, ganz wesentlich dazu bei, neurasthenische Depressionszustände zu 
erzeugen. !) 

Auf den 2. Brief konnte ich ihm nicht antworten, da er es unterließ, 
mir seine Adresse mitzuteilen. Als der 2. Brief mich aber dazu veranlaßte, 
mich mit dem psychischen Zustande B.s noch eingehender zu befassen 
und durch Bücher von Fachleuten unterrichten zu lassen, mußte ich leider 
auch die Ansicht wiederholt bestätigt finden, daß die Hebephrenie als un- 
heilbar zu betrachten sei, wenn auch zuweilen »wesentliche und lang an- 
dauernde Besserungen«e vorkommen können. Das war für mich um so 
bedauerlicher, da das mir entgegengebrachte Vertrauen und der ganze Zu- 
stand B.s mich direkt reizte zu erzieherischen Maßnahmen. 

Aber schneller, als ich selbst ahnte, sollte ich vor die Frage gestellt 
werden: Was ist mit B. zu tun? 

Nachdem ich nämlich längere Zeit auf eine Nachricht von B. gewartet 
hatte, jedoch vergebens, erschien B. plötzlich persönlich am 24. Januar 
1913 in meiner Wohnung, als ich gerade vom Dienste aus der Anstalt 
nach Hause gekommen war und mich zum Abendessen hinsetzen wollte. 
Ich erkannte ihn zunächst nicht, vermutete aber sofort: einen früheren 
Gefangenen in dem jungen Manne, der, wie dies zuweilen vorkommt, mir 
einen Besuch abstatten wollte. 


1) Vergl. hierzu: Dr. med. Dornblüth, Die Psychoneurosen. Leipzig, 
Veit & Co., 1911. 8. 19. 


576 B. Mitteilungen. 


B.s erste Worte waren: »Herr K., helfen Sie mir, ich bin am Ende, 
ich weiß nicht mehr, was ich machen soll!« Als er nun noch seinen 
Namen hinzufügte, kann man sich mein Erstaunen gewiß denken. 

Ich will den Leser nicht mit den Lebensschicksalen B.s in der Zeit 
vom 15. Juli 1912 bis 24. Januar 1913 ermüden, sondern nur erwähnen, 
daß er den Entschluß, mich aufzusuchen, in Königsberg gefaßt hatte! 
Wahrlich, ein tüchtiger Marsch von Königsberg bis nach Bautzen! In 
Königsberg hatte er eine Stellung gehabt mit einem monatlichen Gehalt 
von 80 M. Ohne Grund hatte er diese Stellung wieder verlassen und 
sich ohne Barmittel bis hierher über Berlin, Leipzig und Chemnitz durch- 
gebettelt! Als ich in ihn drang, er müsse doch einen Grund anzugeben 
wissen, warum er diese gute Stellung, die, wie er selbst sagte, die beste 
gewesen sei, die er je inne hatte, verlassen habe, sagte er: »Ich wollte 
eben zu Ihnen, da Sie der einzige Mensch sind, der mich nicht verdammt. 
Mein Chef hatte erfahren, daß ich bestraft war, und da hielt ich es nicht 
aus, ich schämte mich zu sehr.« Er ging also fort, obgleich sein Prinzipal 
ihn behalten hätte. B. sagte ausdrücklich, ihm wäre nicht gekündigt 
worden, er sei selbst gegangen. 

Zu meinem größten Bedauern mußte ich gerade an diesem Abende 
noch in die Stadt und darum das Zusammensein mit B. abkürzen. Trotzdem 
habe ich versucht, das Bild, das die Briefe von B. boten, noch zu ver- 
vollständigen. 

Eine Charakteristik des vor mir Sitzenden würde folgendes ergeben: 

An dem 22jährigen jungen Manne ließ sich große Niedergeschlagen- 
heit und vollkommene Mutlosigkeit deutlich erkennen. Seine Selbstachtung 
war ganz auf dem Null-Punkte angelangt und seine Unentschlossenheit 
für einen Menschen seines Alters geradezu erbärmlich; alles Heil erwartete 
er von mir. Auch dieser Umstand schien mir die angenommene Minder- 
wertigkeit nur zu bestätigen. Auf alle an ihn gerichteten Fragen gab er 
zwar höflich Antwort, war aber nur sehr schwer zu bewegen, mich an- 
zusehen. Schmerzlich vor sich hinlächelnd, mit den Händen an den 
Knöpfen seines Überrockes spielend, saß er vor mir. Übrigens war er 
auch nicht zu bewegen, etwas zu genießen. Alle Aufforderungen hierzu 
lehnte er mit dem Hinweise ab, er sei satt, nahm aber trotzdem an- 
scheinend gern mehrere mit Wurst belegte Butterbrote und einige ge- 
kochte Eier an. 

Mich hatte aber noch immer nicht der Gedanke losgelassen, daß er 
gekommen war, um von mir in einer Stellung untergebracht zu werden. 

Ich hatte ihm klar gemacht, daß er doch wenigstens erst an mich 
hätte schreiben müssen, und daß sich nicht so im Handumdrehen eine 
Stellung für ihn schaffen lasse. Glücklicherweise besann ich mich auf 
einen Menschenfreund in der Nachbarstadt L., an den ich einen Brief 
schrieb, in dem ich ihm die ganze Lebenslage B.s mit kurzen Worten 
klarlegte. Fast hätte ich das Schreiben wieder zurückgenommen, als B. 
nach dessen Empfang äußerte: »Es ist nur für eine kurze Zeit, wo ich 
Arbeit haben will; ich gehe dann nach London; denn ich komme hier 
doch nicht wieder hoch.« 


2. Drei Originalbriefe eines ehemaligen jugendlichen Gefangenen. 577 


Als er das nötige Geld für Übernachtung und die Reise nach L. er- 
halten hatte (er besaß nur noch 5 Pf.), verließ er mich, doch nicht, ohne 
plötzlich zu äußern: »Herr K., und nun, bitte, schenken Sie mir noch 
Ihre Photographie.« Leider konnte ich seine Bitte nicht erfüllen. Als 
ich ihm dann noch sagte, falls er keine Stellung erhalte, solle er sich an 
mich wenden, ich wolle versuchen, was sich tun lasse, leuchtete sein Auge 
zuversichtlicher als erst, und der Druck der Hand schien zu sagen: »Ich 
will es noch einmal versuchen mit allen Kräften!« 

Wenn ich auch mit aller Wucht versucht hatte, aufs neue ihm den 
verloren gegangenen Glauben an sich selbst zu stärken, so mußte ich doch 
das Vergebliche meiner Bemühungen bald erkennen. 


Zwei Tage später erhielt ich eine Karte, die nur ganz kurz die Mit- 
teilung enthielt, daß er keine Arbeit bekommen habe. (Der Chef des 
Hauses war, wie ich später erfuhr, auf Reisen.) Der ganze Februar ver- 
ging, und ich wartete umsonst auf eine Nachricht von ihm. Endlich, am 
3. März, erhielt ich folgenden 3. Brief: 


Berlin, den 1. März 1913. 
Sehr geehrter Herr Kruppa! 


Leider komme ich meinem Versprechen, Ihnen möglichst bald meine 
Adresse aufzugeben, etwas spät nach. Sie werden es jedoch entschuldbar 
finden, wenn Sie nachstehendes erfahren: 

Nachdem der Versuch, in L. etwas zu erreichen, fehlgeschlagen war, 
versuchte ich, streckenweise nach Berlin zu kommen. Unter anderem be- 
rührte ich auch Cottbus. Hier hatte ich das Mißgeschick, beim Ansprechen 
ertappt zu werden. Nachdem ich 14 Tage in Untersuchung verblieben, 
wurde ich zu 8 Tagen Haft verurteilt, die durch die Untersuchungshaft 
als verbüßt erachtet wurden. — Am 15. Februar traf ich in Berlin ein, 
irrte 8 Tage beschäftigungs- und obdachlos umher, bis ich vor 1 Woche 
Arbeit in einem hiesigen Adressenverlag erlangte. Erst heute war ich 
imstande, eine Wohnung zu mieten und damit das oben berührte Ver- 
sprechen einzulösen. — 

Ich bitte Sie nun flehentlich, Herr K., mich nicht zu verdammen, 
weil ich doch noch einmal mit der Gerichtsbarkeit in Konflikt geraten bin. 
Ich sah keinen anderen Ausweg, hierher zu gelangen, als betteln zu gehen. 
In diesem Falle gilt doch das Sprüchwort: Der Zweck heiligt die Mittel. 
Ich habe erreicht, was ich erreichen wollte, ich bin in Berlin und habe 
ein vorläufiges Unterkommen. Und jetzt werde ich mich allen Anordnungen, 
die Sie bezüglich meines fernern Fortkommens treffen werden, bereitwilligst 
und bedingungslos unterwerfen. Ich bin ja so froh, daß ich jemand 
habe, dem ich alles anvertrauen kann und der Anteil an meinem Geschick 
nimmt. 

Ich schätze mich sehr glücklich, wenn ich einige aufmunternde Zeilen 
von Ihnen in den Händen halte und verbleibe in dieser Hoffnung 

Ihr 
Angabe der Adresse. Fritz B. 


578 B. Mitteilungen. 


Daß dieser 3. Brief dazu angetan war, die Züge des Bildes, daß ich 
mir von B. gemacht hatte, nur noch kräftiger zu gestalten, läßt sich 
leicht begreifen. 

Auch ich bin jetzt der Meinung, daß dem B. kaum zu helfen sein 
dürfte, zumal er die ihm oft gebotenen Gelegenheiten durch Lehrherren, 
Prinzipale usw. ungenützt ließ. 

Ein Brief an ihn kam als unbestellbar zurück, da der Empfänger 
verzogen sei. Durch die Polizei ließ sich sein Aufenthaltsort ebenfalls 
nicht feststellen. 

Es ist darum gar nicht unwahrscheinlich, daß er schon wieder sein 
unstätes Leben begonnen hat. 


3. Der erste heilpädagogische Seminarkursus in Essen 
zur Ausbildung von Hilfsschullehrern und -Leitern 


beginnt vorbehaltlich der endgültigen Genehmigung des Herrn Ministers 
anfangs Oktober 1913 und dauert 4 Semester. 
Die Vorlesungen finden statt in je 2 Doppelstunden an einem 
Wochentage von 3—7 Uhr. 
Das Honorar beträgt: 
a) für Vollteilnehmer für das Semester 30 Mark, 
b) für Hörer der Vorträge und Darbietungen, die keine Gruppen- 
bildung erfordern, für das Semester 10 Mark, 
c) für weitere Interessenten zum Besuch der akademischen Vor- 
träge für das Semester 1 M, für den Einzelvortrag 0,50 M. 


Das Honorar ist am Anfang jeden Semesters bei der Sparkasse Essen 
zu entrichten. Maßgebend für die Zulassung ist der Nachweis einer ent- 
sprechenden theoretischen und praktischen Vorbildung. Die Entscheidung 
über die Aufnahme trifft das Kuratorium. Übergangsbestimmungen und 
Prüfungsordnung stehen in Aussicht. Meldungen werden schon jetzt ent- 
gegengenommen beim Kuratorium des heilpädagogischen Seminarkursus in 
Essen durch Vermittlung des Schulbüros, I. Hagen 20, woselbst auch die 
Anmeldeformulare und der genaue Stundenplan zu haben sind. Es können 
als Vollteilnehmer außer den an Hilfsschulen tätigen Lehrpersonen auch 
sonstige Interessenten, namentlich Leiter und Lehrer an Anstalten für 
Abnorme, zugelassen werden. Als Schluß der Meldefrist ist der 20. Sep- 
tember vorgesehen. 

Die Ausweiskarten für Vollteilnehmer und Hörer werden nach Zahlung 
des Honorars übersandt oder zu Beginn der ersten Vorlesung überreicht. 


Es lesen im I. Semester: 

Reg.-Rat Dr. Schapler-Arnsberg und Schulrat Schreff-Dortmund über 
Geschichte, Wesen und Organisation der Hilfsschule und über Grund- 
lagen der Hilfsschulpädagogik. 

Oberarzt Dr. Kleefisch-Essen über die Funktionen des zentralen 
Nervensystems als Grundlage der physiologischen Psychologie. 


D. Literatur. 579 


Dozent für Philosophie Dr. Dreiling über allgemeine Experimental- 
Psychologie. 

Stadtschularzt Dr. Steinhaus-Dortmund über die Hygiene des Schul- 
kindes mit besonderer Berücksichtigung des Hilfsschulkindes; 


im II. Semester: 
Oberarzt Dr. Kleefisch über Psychognose und Kinderpsychologie. 
Professor Dr. Peretti-Grafenberg über Ursachenlehre, soziale Hygiene 
und Fürsorge. 
Dr. Dreiling über Experimental-Psychologie; 


im III. Semester: 

Oberarzt Dr. Kleefisch über Neuro- und Psychopathologie des Schul- 
kindes. 

Spezialarzt Dr. Lübbers-Gladbeck über Ursachen, Formen und Be- 
handlungsmethoden der Sprachstörungen. 

Stadtschulrat Dr. Gentzen-Essen über eurhythmisches Turnen, Schul- 
orthopädie und Heilgymnastik. 

Daneben finden Übungen statt in experimenteller Psychologie und 
Pädagogik, sowie in der Erkennung und erziehlichen Behandlung der 
Abnormenzustände. 


Das IV. Semester 

dient fast ausschließlich den praktischen Übungen und der eingehenden 
Vorbereitung auf das Examen. 

Die Übungen in der Methodik finden in drei Gruppen statt, und zwar 
in Düsseldorf unter Stadtschulrat Dr. Schmitz, in Dortmund unter 
Stadtschulrat Dr. Kayser und in Essen unter Kreisschulinspektor 
Gerdes. 

Neben diesen ständigen Vorlesungen finden in jedem Semester noch 
mehrere sogenannte akademische Vorträge statt von führenden Ge- 
lehrten auf den einschlägigen Gebieten. Vorgesehen sind auch 
Besichtigungen verschiedner Schulen und Anstalten mit orientierenden 
Vorträgen. 


D. Literatur. 


Theuermeister, Robert, Unser Körperhaus. Wie ich mit meinen Kindern 
über ihren Körper rede. Berlin-Lichterfelde, K. G. Th. Scheffer, 1913. 3. Aufl. 
VOI und 247 Seiten. Preis broschiert 2 M, gebunden 3 M. 

Aus dem Schulleben heraus ist das kleine Büchlein entstanden, das wir an 
dieser Stelle einer warmen Empfehlung für wert erachten. Es ist eine Einführung 
in die Lehre vom Menschenkörper, wie es wohl keine zweite gibt. Nicht streng 
wissenschaftliche Darstellung, die alles bis ins kleinste an Abbildungen erläutert, 
hat Theuermeister für sein Buch gewählt. Er wählte die Sprache der Kinder, 
den Anschauungskreis der Kinder. Er setzte nichts voraus als das, was wir rings 


580 D. Literatur. 


im Leben sehen, beobachten. Er hatte nicht umfangreiche Tafelwerke und große 


Bilder und zerlegbare Modelle nötig, wenn’s auch möglich ist, daß hier und da im 


Unterricht doch mal eins gebraucht wurde (ich denke mir z. B. bei der Darstellung 
des Gehörorgans). Er nutzt die ganze reiche Phantasietätigkeit der Kinder aus. 
Und dabei macht er es möglich, in einem viel früheren als dem sonst üblichen 
Alter wenigstens eine ganze Reihe der behandelten Fragen mit den Kindern zu 
besprechen. 

Das Büchlein vom Körperhaus ist nicht nur für Kinder geschrieben. Es will 
Eltern und Lehrern den geistigen Verkehr mit ihren Kindern und Schülern er- 
leichtern, es will bei Gesprächen oder im Unterricht eine Hilfe sein. Und es wird 
sicher jedem, der es benutzt, zu einer trefflichen Hilfe werden. 

Freilich: ich kann mir diese Unterhaltungen schwerlich in einem andern Tone 
denken als in dem, wie der Verfasser sie darbietet. Und daher möchte ich lieber 
als zu seiner Benutzung durch Eltern und Lehrer noch zur Verschenkung und Ver- 
teilung des schmucken Bändchens an die Kinder raten. Man wird damit Freude 
erwecken. Und man wird damit zugleich zur Gesundung unseres Volkes beitragen. 
Ich habe das Gefühl: dieses Büchlein haben wir lange genug entbehrt. Sorgen 
wir nun dafür, daß es möglichst vielen Menschen zu Freude und Belehrung gereiche! 

Jena. Karl Wilker. 


Wir weisen unsere Leser besonders auf den diesem Hefte bei- 
liegenden Prospekt hin, aus dem sie ersehen, daß unsre Zeitschrift 
vom 1. Oktober ab in erweitertem Umfange erscheinen wird. 

Jena und Langensalza, am 1. August 1913. 


Schriftleitung und Verlag 
der Zeitschrift für Kinderforschung. 








Verantwortliche Schriftleitung für Abhandlungen und a rapote 
Sophienhöhe b. Jena; für Zeitschriftenschau und Literatur: Dr. Karl wi in 
Weißenburgstraße 27. 


Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 




















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A Id 365P 49 


Zeitschrift für Kinderforschung 


der pädagogischen Pathologie 


Im Verein mit 


Dr. G. Anton Dr. E. Martinak Chr..Ufer__ Karl Wilker 


Geh. Med.-Ratu. Prof. 0.8. Prof. d. Philosophie Rektor d. Süd-Mädchen- Dr. phil. 
an der Univ. Halle u. Pädag. a. d. Univ. Graz Mitteischulei. Elberfeld in jena i. Thür. 


herausgegeben von 
J. Trüper 


Direktor des Erziehungsheims und Jugendsanatoriums auf der Sophienhöhe bei jena 


Achtzehnter Jahrgang, 11/12 | 
August/September- Heft 








Langensalza 


Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) 
Herzogl. Sächs. Hofluchhändler 


Wien 
Manz’sche k. u. k. Hof-, Verlags- u. Universitätsbuchhandlung 
1913 








Preis des Jahrgangs (12 Hefte von je 3 Bogen) Er 
4,80 M oder 6 Kr. 


Heft 11/12. Ausgegeben am 1 August 1913. 


Inhalt. 


Kä” Die im ersten Teile dieser Zeitschrift enthaltenen Aufsätze 
verbleiben Eigentum der Verlagshandlung. "= 


A. Abhandlungen: Seite 


1. Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung bezüglich der sogenannten 
psychopathischen Konstitutionen. Von Prof. Th. Ziehen. (Schluß.). 489 
2. Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. Von Franz 


Weigl. (Schluß). . - . “u. 50 
3. Die experimentelle Ermüdungsforschung. Von Marz: Lobsion. (Forts.) 530 
B. Mitteilungen: 


1. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammer’s »Grundzüge der er- 
zieherischen Behandlung sittlich gefährdeter und entgleister Mädchen 


in Anstalten und Familien. Von Fr. Bergold. (Schluß) . . . 544 
2. Drei Originalbriete eines ehemaligen jugendl. EB Von K. Kruppa 
(Schuß) . . .. 572 
3. Der erste heilpädagogische Seminarkursus in Fasen zur r Ausbildung von 
Hilfsschullehrern und -leitern . . . 2 2 2 m m mn nn nn. 578 
D. Literatur: 
Theuermeister, Robert, Unser Körperhaus. Von Karl Wilker . . . 579 


Beiträge aus Österreich-Ungarn sind sämtlich an Universitätsprofessor Dr. 
E. Martinak in Graz, Ruckerlberg, Polzergasse 19, zu senden, alle übrigen an 
Direktor J. Trüper, Jena, Sophienhöhe. 

Alle Beiträge werden vom Verleger mit 40 M für den Druckbogen honoriert. 


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Verlag von Hermann Beyer & Sönne (Beyer & Mans) in Langensalza. 





Beiträge zum Kinderiorschung und Heilerziehung, 


Beihefte zur »Zeitschrift für Kinderforschung«. 
Im Verein mit 


Dr. G. Anton Dr. E. Martinak Chr. Ufer Karl Wilker 


‘Geh. Med.-Rat u. Prof. o. ö. Prof. d, Philosophie Rektor d. Süd-Mädchen- Dr. phil. 
an der Univ. Halle u. Pädag. a. d. Univ. Graz Mittelschulei. Elberfeld in Jena i. Thür. 


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20. 
21. 


Seenen» om re 


herausgegeben von 
J. Trüper 


Direktor der Erziehungsheimes und Jugendsanatoriums auf der Sophienhöhe bei Jena. 


Die Sittlichkeit des Kindes. Von Dr. A. Sehinz, Privatdozent der Philosophie 
an der Akademie Neufchätel. Übers. von Rektor Ohr. Ufer. 46 S. Preis 75 Pf. 
Über J. J. Rousseaus Jugend. Von Dr. med. P. J. Möbius. 338. Preis 60 Pf. 
Die Hilfsschulen Deutschlands und der deutschen Sehweiz. Von A. 
Wintermann, Leiter der Hilfsschule in Bremen. Preis 1 M 25 Pf. 
Die medizinisch-pädagogische Behandlung gelähmter Kinder. Von Prof. 
Dr. a. Hoffa in Würzburg. Mit 1 Tafel. 16 8. Preis 40 Pf. 
Zur Pae der Erziehung unserer sittlich gefährdeten Jagend. Von J. 
Trüper, Dir. des Erziehungsheims Sophienhöhe b. Jena. 40 8. Preis 50 Pf. 
Über Anstaltsfürsorge für Krüppel. Von Sanitätsrat Dr. med. Herm. Kruken- 
berg, Dir. d. städt. Krankenhauses zu Liegnitz. Mit 7 Textabb. 24 8. Preis 40 Pf. 
Die Grundzüge der sittliehen Entwieklung und Erziehüng des Kindes. 
Von Dr. H. E. Piggott. 87 S. Preis 1 M 25 Pf. 
Psyehopathische Minderwertigkeiten als Ursache von Gesetzesverletzungen 
Jugendlicher. Von Dir. J. Trüper. 62 S. Preis 1 M. 
Der Konfirmandenunterrieht in der Hilfssehule. Von Heinrich Kielhorn, 

iter der Hilfsschule in Braunschweig. 40 S. Preis 50 Pf. 

ber das Verhältnis des Gefühls zum Intellekt in der Kindheit des 
Individuums und der Völker. Von O. Flügel. 45 8. Preis 75 Pf. 


. Einige Aufgaben der Kinderforsehung auf dem Gebiete der künstlerisehen 


Erziehung. Von Conrad Schubert, Rektor in Altenburg. 31 S. Preis 50 Pf. 
Strafrechtsreform und Jugendfürsorge. Von W. Polligkeit, jur. Dir. der 
Cent. f. priv. Fürsorge in Frankfurt a/M. 25 S. Preis 50 Pf. 


. 16 Monate Kindersprache. Von Dr. H. Tögel. 36 S. Preis 50 Pf. 


Die Bedeutung der ehronischen Stuhlverstopfung im Kindesalter. Von 
Dr. Eugen Neter. 28 S. Preis 45 Pf. 
Zur Frage des Bettnässens. Von Dr. med. Hermann. 188. Preis 30 Pf. 


. Warum und wozu betreibt man Kinderstudium? Von A. J. Schreuder, 


Direktor des Med.-Päd. Instituts zu Arnheim. 40 8. Preis 50 Pf. 


. Psychelogisehe Beobachtungen an zwei Knaben. Von Gottlieb Friedrich, 


Gymnasial-Professor in Teschen. 79 8. Preis 1 M 25 Pf. 
Die Abartangen des kindlichen Phantasielebens in ihrer Bedeutung fär 
die päd. Pathologie. Von Dr. med. Julius Moses. 32 8. Preis 50 Pf. 


. Hygiene der Bewegung. Von Dr. H. Pudor. 448. Preis 75 Pf. 


Zur Frage der Behandlung unserer jügendlichen Missetäter. Von J. 
Trüper, Dir. des Erziehungsheims Sophienhöhe b. Jena. 34 S. Preis 50 Pf. 
Die Verwahrlosung des Kindes und das geltende Recht. Von Dr. 
Heinrich Reicher, Privatdozent a. d. Wiener Universität. 32 S. Preis 50 Pf. 
Über Vorsorge und Fürsorge für die intellektuell schwache und sittlich 
gefährdete Jugend. Von Dr. M. Fiebig, Schularzt in Jena. 508. Preis 75 Pf. 
Über Arbeitserziehung. Von Pastor Plass, Direktor des Erziehungsheims am 
Urban, Zehlendorf. 22 S. Preis 40 Pf. 
Das Spielzeug in seiner Bedeutung für die Entwicklung des Kindes. 
Von Max Enderlin, Rektor in Mannheim. 44 8. Preis 75 Pf. 





Zu beziehen durch jede Buchhandlung. 








Verlag von Herrmann BEYER & Sönne (Beyer & Mann) in Langensalza. 


Heft 

25. Wesen und Aufgabe einer Schülerkunde. Von Dr. E. Martinak, Professor 
der Pädagogik an der Universität Graz. 18 8. Preis 30 Pf. 

26. Die forensische Behandlung der Jugendlichen. Von W. Kulemann, Land- 
gerichtsrat in Bremen. 218. Preis 40 Pf. 


27. Die Impressionapilität der Kinder unter dem Einfluss des Milieus. Von 
Dr. Adolf Baginsky, Professor an der Universität Berlin und Direktor des 
Kaiserin Friedrich-Kinderkrankenhauses. 21 8. Preis 40 Pf. 

28. Rachitis ais eine auf Alkoholisation und Eredniktionbennhp Ten be- 
ruhende Entwicklungsanomalie der Bindesubstanzen. Von Dr. M. Fiebig 


Schularzt in Jena. 38 8. Preis 75 Pf. 
29. Psyehasthenische Kinder. Von Dr. Th. Heller, Direktor der Erziehungsanstalt 
für geistig abnorme Kinder Wien-Grinzing. 18 S. Preis 35 Pf. 
30. Die Fürsorge für die schulentlassene Jugend. Von Dr. Felisch, Geh. 
Admiralitätsrat. 17 S. Preis 30 Pf. 
31. Farbenbeobachtungen bei Kindern. Von Dr. Karl L. Schaefer, Professor 
an der Universität Berlin. 16 S. Preis 30 Pf. 


32. Über die Möglichkeit der Beeinflussung abnormer Ideenassoziation durch 
Erziehung und Unterricht. Von Hugo Landmann, Oberlehrer am Trüperschen 


Erziehungsheim Sophienhöhe b. Jena, 218. Preis 40 Pf. 
33. Uber hysterische Epidemien an deutschen Sehulen. Von Kurt Walther Dix, 
Lehrer in Meißen. 46 S. Preis 75 Pf. 
34. Die psychologische und pädagogisho Begründung der Notwendigkeit 
des praktischen Unterrichts. Von Dr. A. Pabst, Direktor des Handarbeits- 
seminars in Leipzig. 20 8. Preis 40 Pf. 
35. Die oberen Stufen des Jugendalters. Von Dr. H. Sehmidkunx in Halensee 
bei Berlin. 20 S. Preis 40 Pf. 
36. Fröbelsche Pädagogik und Kinderforsehung. Von Hanna Mecke in Cassel. 
18 S. Preis 35 Pf. 
37. Über individuelle Hemmungen der Aufmerksamkeit im Schulalter. Von 
J. Delitsch, Hilfsschul-Direktor in Plauen i. V. 25 S. Preis 50 Pf. 
38. Die Taubstumm-Blinden. Von G. Riemann, Kgl. Taubstummenlehrer zu 
Berlin. Mit 2 Tafeln. 218. Preis 45 Pf. 
39. Beitrag zur Kenntnis der Schlafverhältnisse Berliner Gemeindeschäüler. 
Von Dr. L. Bernhard, Schularzt in Berlin. 13 8. Preis 25 Pf. 


40. Wohnungsnot und Kinderelend. Von A. Damaschke. 17 $. Preis 30 Pf. 
41. Jugendliche Verbrecher. Von Dr. G. von Rohden. 188. Preis 35 Pf. 
42. Die Bedeutung der Hilfsschulen für den Militärdienst der geistig Minder- 
eh Ye Von Dr. Ewald Stier, Stabsarzt in Berlin. 26 S. Preis 50 Pf. 
43. Der Zitterlaut R. Von O. Stern, Tbst.-L. in Stade. Mit 2 Fig. 38S. Pr. 75 Pf. 
44. Psychologisches zur ethischen Erziehung. Von Professor Dr. han 
Witasek. Mit 1 Tafel. 17 S. Preis 30 Pf. 
45. Zur Wertschätzung der Pädagogik in der Wissenschaft wie im Leben. 
Von J. Trüper, Dir. d. Erziehungsheims Sophienhöhe b. Jena. 288. Pr. 50 Pf. 
46. Fingertätigkeit und Fingerreehnen als Faktor der Entwieklung der Intelli- 
be und der Rechenkunst bei Schwachbegabten. Von H. Nöll. 608. Pr. 1 M. 
47. Der erste Spreehunterrieht (Artikulationsunterricht) bei Geistesschwachen. 
Von Hauptlehrer Strakerjahn. Mit 2 Textabb. u. 1 Tafel. 258. Preis 60 Pf. 
48. Das staatliche Kindersehutzwesen in Ungarn. Von Dr. Franz v. Torday. 
Oberarzt des Budapester staatlichen Kinderasyls. 37 S. Preis 80 Pf. 
49. Die Prügelstrafe in der Erziehung. Von Dr. O. Kiefer. 428. Preis 75 Pf. 
50. Der Tie im Kindesalter und seine erziehliche Behandlung. Von Gustav 


Dirks. 29 S. Preis 60 Pf. 
51. Zur Literatur über Jugendfürsorge und Jugendrettung. Von K. Hemprich, 
27 8. Preis 50 Pf. 


52. Kind und Gesellschaft. Von Konrad Agahd in Rixdorf. 38 8. Preis 60 Pf. 
53. Der Kinderglaube. Von H. Schreiber, Lehrer i. Würzburg. 708. Preis 1 M 25 Pf. 
54. Psychopathische Mittelschüler. Von Dr. phil. Theodor Heller, Direktor der 

Heilerziehungsanstalt Wien-Grinzing. 26 S. Preis 50 Pf. 





Zu beziehen durch jede Buchhandlung. 








Verlag von Hzruanv BEYER & Sönne (Beyer & Mann) in Langensalza. 





Heft 
55. Über den Einfluss der venerischen Krankheiten auf die Ehe sowie über 
ihre Übertragung auf kleine Kinder. Von Prof. E. Welander, Stockholm. 
43 S. Preis 75 Pf. 
56. Die Bedeutung des Unterriehts im Formen für die Bildung der Anschauung. 
Von H. Denzer. 25 S. Preis 50 Pf. 
57. Über den Einfluss des Alkoholgenusses der Eltern und Ahnen auf die Kinder. 
Von Dr. A. H. Oort, Arzt a. Sanat. Rheingeest b. Leiden, Holland. 208. Preis 40 Pf. 
58. Jugendsehatz-Kommissionen als vollwertiger Ersatz für Jugendgerichts- 
höfe. Von Kuhn-Kelly, Präsident u. Kinderinspektor der Gemeinnützigen Ge- 
sellschaft der Stadt St. Gallen. 19 S. Preis 40 Pf. 
59. Das amerikanische Jugendgericht und sein Einfluss auf unsere Jugend- 
rettung und Jugenderziehung. Von Dr. B. Maennel. 34 S. Preis 50 Pf. 
60. Die Entwicklung der Gemütsbewegungen im ersten Lebensjahre. Von 


Martin Buchner in Passau. (Mit 4 Tafeln.) 20 S. Preis 50 Pf. 

61. Frühreife Kinder. Psychologische Studie von Dr. Otto Boodstein, Stadtschulrat 
in Elberfeld. 43 S. Preis 75 Pf. 

62. Der Arzt in der Hilfsschule. Von Geh. Reg.- u. Med.-Rat Prof. Dr. Leu- 
buscher und Hilfsschullehrer Adam. 26 S. Preis 50 Pf. 

63. Die Suggestion im Leben des Kindes. Von Hans Plecher, München. 36 S. 
Preis 60 Pf. 

64. Das Beobachtungshaus der Erziehungsanstalten. Von J. Petersen, Direktor 
des Waisenhauses in Hamburg. 19 S. Preis 40 Pf. 


65. Über den gegenwärtigen Stand der Kunsterziehungsfrage in Osterreich. 
Von Prof. Alois Kunzfeld in Wien. (Mit 1 Doppeltafel.) 34 S. Preis 75 Pf. 
66. Straffällige Schulknabeu in intellektueller, moraliseher und sozialer Be- 
ziehung. Von C. Birkigt, Lehrer an der Kgl. Landesstrafanstalt zu Bautzen. 
42 S. Preis 65 Pf. 
67. Grundlagen für das Verständnis krankhafter Seelenzustände (psyeho- 
pathischer Minderwertigkeiten) beim Kinde in 30 Vorlesungen. Von Dr. med. 
Hermann, Merzig a/Saar. (Mit 5 Tafeln.) 2. Aufl. 194S. Preis 3 M., geb. 4 M. 
68. Lüge und Ohrfeige. Eine Studie auf dem Gebiete der psychologischen Kinder- 
forschung u. der Heilpädagogik. Von Kuhn-Kelly, Präsident u. Kinderinspektor 


der Gemeinnützigen Gesellschaft der Stadt St. Gallen. 23 S. Preis 40 Pf. 

69. Die Sinneswahrnehmungen der Kinder. Von Dr. phil. Hugo Schmidt. 33 S. 
Preis 50 Pf. 

70. Der Selbstmord im kindlichen und jugendlichen Alter. Von Dr. med. 
Neter. 22 S. Preis 40 Pf. 

71. Zur Kenntnis der Ernährungsverhältnisse Berliner Gemeindesehüler. Von 
Dr. L. Bernhard, städt. Schularzt in Berlin. 28 S. Preis 45 Pf. 

72. Einfluss von GEREBIT RENTEN auf die körperliche Entwicklung unserer 
Voikssehuljugend. Von Dr. H. Roeder-Berlin. 17 8. Preis 30 Pf. 

73. Die sozialen und psychologischen Probleme der jugendlichen Verwahr- 
losung. Von Dr. Julius Moses, Arzt in Mannheim. 32 8. Preis 50 Pf. 

74. Wie weit reicht das Gedächtnis Erwachsener zurück? Von Gregor 
Schmutz, Landes-Taubstummenlehrer in Graz. 27 8. Preis 45 Pf. 


75. Ursachen der Verwahrlosung Jugendlicher. Von J. Delitsch. 358. Pr. 60 Pf. 
76. Beobachtungen über die geistige Entwicklung eines Kindes in seinem 
ersten Lebensjahre. Von Dr. T. Ischikawa, Irrenarzt in Tokio. 538. Pr. 90 Pt. 
77. Ein Experiment zur Einübung von Aufmerksamkeit. Von Dr. phil. Y. Motora, 
Professor an der kaiserl. Univ. zu Tokio. (Mit 3 Tafeln.) 16 S. Preis 30 Pf. 
78. Die Behandlung der jugendlichen Rechtsbreeher im russischen Straf- und 
Strafprozessrecht. Von Eugenie Breitbart-Schuchmann aus Odessa (Rußland). 
118 S. Preis 1 M 80 Pf. 
79. Über die. angeborene Wortblindheit und die Bedeutung ihrer Kenntnis 
für den Unterricht. Von Dr. med. F. Warburg, Köln. 218. Preis 40 Pf. 


80. Zeitfragen. Von J. Trüper. 32 8. Preis 50 Pf. 
81. Die staatsbürgerliche Erziehung im Lehrplan der Volksschule. Von #. 
Lambeck, Rektor a. D. in Remscheid-Hasten. 63 S. Preis 1 XM 








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Heft 


82. 


101. 
. Soziale Fürsorge für die aus der Hilfsschule Entlassenen. Von Johannes 


103. 
104, 


105. 


106. 
107. 


108. 
109. 


110. 
111, 
112. 
113. 
114. 


. Die reine Kinderleistung. Von R. Egenberger, München. (U. 
. Richtlinien für die Stoffauswahl im Unterriehte schwachsinniger Kinder 


Lehrpläne für den Unterricht in der Hilfsschule nebst methodiseher An- 
weisung. Von Rud. Weiß, Dir. d. Hilfssch. zu Zwickaui/S. 1358. Pr. 2 M70 Pf. 


60 Pf. 
Personalienbuch. Von J. Trüper. 2. Auf. XX u. 318. Preis 80 Pf. 
on 


. Die Pflanzenkenntnis bei den Kindern unserer Elementarklasse. Vi 


E. Mentzel, Seminarlehrer in Altenburg. (Mit 4 Tafeln.) 358. Preis L Pe 


Von Fr. Rössel. 20 S. Preis 30 Pf. 
. Erholungsheime für sehulpflichtige Kinder der Grossstadt. Von Richard 
Schauer. 90 S. Preis 1 M 60 Pf. 
Die Waldschule, Von Karl König, Kreisschulinspektor in Mülhausen i. Els. 
VII u. 124 S. Preis 2 M 20 Pf. 
Zar Analyse des kindlichen Geisteslebens beim Sehuleintritte. Von 
A. Vincenz. 66 S. (Mit 14 Tafeln.) Preis 2 M 40 Pf. 
. Das Jugendgericht in Plauen i. Vgtl. Von F. Schmidt, Amtsrichter, und 
J. Delitsch, Schuldirektor. 45 S. Preis 75 Pf. 
. Die Beurteilung jugendlicher Schwachsinniger vor Gericht. Von Prof, 
Dr. Ernst Ziemke-Kiel. 20 S. Preis 35 Pf. 
. Jugenderziehung, Jugendkunde und Universität. Von Dr. Karl Wilker. 


62 8. Preis 1 M. 
Geschichte der österreich. Schulreform. Von Dr. Lud. Singer. 268. Pr. 40Pf. 


. Kinderprügel und Masochismus. Von Dr. Michael Cohn, Kinderarzt in 


Berlin. 20 8. Preis 30 Pf. 


. Über den Einfluss des Antikenotoxin auf die Hauptkomponenten der 


Arbeitskarve. Von Marx Lobsien, Kiel. 28 S. Preis 45 Pf. 


. Weises Betrachtung über geistesschwaehe Kinder. Von Max Ki 


irmsse, 
Lehrer a. d. Erzichungsanstalt Idstein i. T. Mit 2 Abb. 978. Preis 1 M 50 Pê. 
Beobachtungen über die typischen Einwirkungen des Alkoholismus auf 


unsere Schüler. Von Richard Schauer. 27 S. Preis 45 Pf. 
Über die Formen der krankhaften moralischen Abartung. Von Dr. G. 
Anton, Geh. Med.-Rat u. Prof. a. d. Univ. Halle 18 S. Preis 30 Pf. 


Biogenetik und Arbeitssehule. Von Prof. Dr. Ad. Ferrière. 728. Pr. 1M 60Pf. 


Delitsch. 20 S. Preis 35 Pf. 
Ziehen und die Metaphysik. Von O. Flügel. 19 S. Preis 35 Pf. 
Die Psychopathologie der Pubertätszeit. Von Oberarzt Dr. Mönkemöller. 
29 8 Preis 50 Pf. 


Ist die Entmündigung psyehopathisch Miadorn E ratsam, und wann 
soll sie eingeleitet weraen? Von Amtsgerichtsrat Dr. F. Schmid in Jena. 
18 S. Preis 35 Pf. 
Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen and sehwersehwach- 
sinnigen Kindern. Von Kurt Lehm, Dresden. Mit 4 Abb. 36 S. Pr. 7OPf. 
Stoffsammlung zum Sprechunterricht auf der Vor- bezw. Unterstufe der 
Hilfsschule. Von Kurt Lehm, Dresden. (U. d. Pr.) 
Die experimentelle Ermüdungsforschung. Von M. Lobsien, Kiel. (U. d. Pr.) 


Die experimentelle Gedächtnisforschung. Von Dr. N. Braunshausen, 
Professor am Gymnasium in Luxemberg. (U. d. Pr.) 
Psychische Fehlleistungen. Von R. Egenberger, München. (Mit 12 Tafeln.) 
50 Seiten. Preis 1 M 20 Pf. 
Intelligenzprüfung von Hilfssehülern nach der Testmethode. Von Franz 
Weigl, München-Harlaching. 40 S. Preis 65 Pf. 


Ärztliche Wünsche zar Fürsorgeerziehung bezüglich der sog. psycho- 
pathisehen Konstitutionen. Von Prof. Dr. Th. Ziehen. 328. Preis 60 Pf. 
Das Problem der Schulorganisation auf Grund der Begabung der Kinder. 
Von Dr. Willy Heinecker. 83 S. Preis 1 M 50 Pf. 
Über die Entwieklung der Seele des Kindes. Von Ferdinand Altmüller. 
Neu herausgeg. von Karl Wilker. 152 S. Preis 2 M 40 Pf. 





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Der Kinematograph 
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Verlag von Hermann Bever & Sönxe (Beyer & Mans) in Langensalza. 


Handbuch für Jugendptlege. 


Herausgegeben von der 


Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge. 


Schriftleitung: Dr. jur. Fr. Duensing- Berlin. 


Herausgeber und Mitarbeiter des »Handbuchs für Jugendpflege« bieten 
die sichere Gewähr, daß wir es hier mit einer Erscheinung zu tun haben, die 
einer besonderen Anpreisung nicht bedarf. 

Das »Handbuch für Jugendpflege- ist auf 12 bis 15 Lieferungen zu g 
4 Bogen, Lexikonformat, berechnet. Der Preis der Lieferung beträgt 80 Pf. 
Nach Abschluß des Werkes tritt eine Erhöhung des Preises ein. 








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und Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 


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Soeben erschienen als Band 16—19 der großen Kehrbach - Flügelschen Herbartausgabe 


Briefe von und an Herbart 


Herausgegeben von 


Dr. Theodor Fritzsch. 
4 Bünde. Preis 20 M. 


Das Werk bringt zum ersten Malo alles nur irgend erreichbare Material für das Leben 
Johann Friedrich Herbarts, des Se dar unter den Philosophen und des Philosophen unter 
den Pädagogen. Es beginnt mit dem Stammbaum Herbarts, brirgt alle Dokumente zu seiner 
Erziehung und läßt Einblicke tun in seinen Entwicklungsgang, es verfolgt das Leben des 
Philosophen bis zu seinem Ende. So ersetzt es eine Herbart-Biogiaphie, die uns noch fehlt 

dieser Gelegenheit sei an die Bände 14 und 15 erinnert, die man kurz nennt: 


Königsberger Akten 


Herausgegeben von 


Dr. phil. h. e. Otto Flügel. 
2 Bände. Preis 10 M. 


Sie zeigen Herbart in seinen Nebenämtern als Leiter des akademischen Seminars, als 
Mitglied bezw. Vorsitzenden der wissenschaftlichen Deputation, des Kollegiums Fridericianam, 
der Prü'ungs-Kommission u. a. Sie gewähren einen Einblick in die Art, wie der preußische 
Staat in einem einzelnen Falle auf dem Wege der Erziehung „durch geistige Kräfte zu ersetzen 
suchte, was er an physischen verloren hatte“. Vom höchsten Interesse aber 
sind die beiden Bände zur Konntnis der Pädagogik wie der Person Herbarts. 

Die Bände 14 und 15 sowie 16 bis 19 sind in einer größeren Auflage gedruckt worden 
und können infolgedessen vorläufig auch apart abgegeben werden. Die Königsberger 
Akten und Briefe fehlen in der Hartenstein schen Herbart- Ausgabe, 
bat, die Besitzer dieser sind nunmehr in der glücklichen Lage, ihr Werk vervollständigen 

zu können. 


Ein %. Band, der verschiedene Nachträge bringt, befindet sich unter der Presse und 
somit liegen binnen m 


Herbarts sämtliche Werke 


Herausgegeben von 


t Karl Kehrbach und Otto Flügel 


20 Bände. Preis 100 M. 
vollständig vor. 

Gerade jetzt, da mit dem Streben nach Durchdringung dos Gedankonkreisoa Herbarts 
oder Widerlegung seiner Thesen zahllose Irrtümer auftreten, gerade jetzt wird es zur Pflicht, 
auf die Quelle zurückzugehen, wenn man in die Gelankenwelt eindringen will, welche die 
pädagogischen und psychologischen Forschungen Herbarts einschließen. Gleichviel ob Freund 
oder Gegn: ob Systematiker oder Hıstoriker, gleichviel ob Lernender oder Lehrer, ob Uni- 
versitätsproissor oder Volksschullehrer, jeder, der sich der hohen Aufgabe der Jugendbildung 
und der Erkenntnis des werdenden Menschen gegenüber stellt, jeder, der in diesen Lebens- 
fragen Wahrheit sucht und einen richtigen Durchgangs- und Streitpunkt in dem Streben nach 
Lösung solcher Probleme erfassen wiil, ist genötigt, sieh an den Urtext Herbarts zu wenden. 
Wem es dabei auf ernstıs und durchdringendes Studium ankommt, der wird aus innerstem 
Bedürfnis nach der zuver'ässigsten Form greifen, in der ihm die gesuchte Erkenntnis dar- 
geboten wird. Dies kann nur eine Ausgabe sein, die die Schriften des Autors in jeder Be- 


riehang so getreu und vollständig wiedergibt, daß man einen klaren Einblick in das 
ganze Werden desselben gewinnt. 


Eine solche Ausgabe der Werke J. F. Herbarts liegt nunmehr vor. 


Zu beziehen durch jede Buchhandlung. 








..——v.- .-.