THE UNIVERSITY
OF ILLINOIS
LIBRARY
= BIR.09
KU
V.\&
LIBRARY
OF THE
UNIVERSITY OF ILLINOIS
Zeitschrift für Kinderforschung
mit besonderer Berücksichtigung
der pädagogischen Pathologie
Im Verein mit
Dr. G. Anton Dr. E. Martinak Chr. Ufer Karl Wilker
Geh. Med.-Ratu. Prof. 0.ö. Prof. d. Philosophie Rektor d. Süd-Mädchen- Dr. phil.
an der Univ. Halle u. Pädag. a. d. Univ. Graz Mittelschulei. Elberfeld in Jena i. Thür.
herausgegeben von
J. Trüper
Direktor des Erziehungsheims und Jugendsanatoriums auf der Sophienhöhe bei Jena
Achtzehnter Jahrgang
Langensalza
Hermann Beyer & Söhne
(Beyer & Mann)
Herzogl. Sächs. Hofbuchhändler -
1913
jl
Alle Rechte vorbehalten.
377,08
KI
v,18
Inhalt.
A. Abhandlungen:
Braunshausen und Ensch, Psychologische Profile . . . 2 2.2...
Egenberger, Psychische Fehlleistungen . . . . . 122. 193. 241. 295.
Freye, Herbarts Pflegesohn P
Lehm. Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen und schwer-
schwachsinnigen Kindern . . ea 13. 61.
Lobsien, Die experimentelle Ermüdungsforschung 132. 201.248. 305. en»
Mönkemöller, Die Psychopathologie der Pubertätszeit . ’
Petersen, Schulreform . . $ x
Reuschert, Charles Michel de l'Épée . OR
Soennecken, Ist für Schulneulinge im allgemeinen und für Hilfsschüler im
besonderen Fraktur oder Antiqua zunächst geeignet? .
Tschudi, Pubertät und Schule . .
Weigl, Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode 374. 455.
Ziehen, Ärztliche Wünsche zur ES OR EETAS der k
psychopathischen Konstitutionen . . .. 4l.
B. Mitteilangen:
Was uns allen dringend nötig ist!. .
Beobachtungen an schwachbefähigten ` Kindern bei der Behandlung der
26.
Nibelungensage . a ,
Zum Problem des Sprachverständnisses TE . 30.
Zeitgeschichtliches . . |. 33. 89. 160. 223. 278. 325. 413.
Die XIV. Konferenz des Vereins für Erziehung, Unterricht und Pegh
Geistesschwacher
Über die Grundlagen des modernen Taubstummenunterrichtes .
Die Rachensprache der Kehlkopflosen nah Amen
Beitrag zur geistigen Entwicklung eines dreijährigen Knaben 2 ame ALS
Bildungsgang eines taubblinden Mädchens . 7 ET ae
Tuberkulose und Schule . .
Ein Schülerbericht aus Trüpers Erziehungsheim auf der Sophienhöhe bei Jena 259.
Bemerkungen zu den engen Majorscher Schriften in dieser Zeitschrift,
Jg. XVII, Heft 9 u. 12. .
Aufruf betreffend Sammlung von Fragebogen, Führungslisten, Individualitäts-
bogen u. dergl., die in Schulen verwandt werden . ;
Selbstbekenntnis eines NE Dee Set kan en we TR D
Züchtigung fremder Kinder . ; en a eg
Die Selbstmorde Jugendlicher . .
Erster ungarischer Landeskongreß für Kinderforschung i in Budapest .
Bitte betreffend städtische Heilkurse für Stotterer . : te
Lokale Hilfsverbände zur Lösung des Schwachsinnigenproblems.
Kurse in der Kinderfürsorge ;
Psychologische Profile Ds Rossolimo . A e ta
Drei Originalbriefe eines ehemaligen jugendlichen Gefangenen ana 469.
Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers »Grundzüge der erzieheri-
schen Behandlung sittlich en und ae: Mädchen in An-
stalten und Familiene. . . Br EEE Ale
IV Inhalt,
Der erste heilpädagogische Seminarkursus in Essen zur KEN von Hilfs-
schullehrern und -leitern
C. Zeitschriftenschau: . . . . 36. 91. 164. 226. 279. 328. 417.
D. Literatur:
Abb, Pädagogische Psychologie
Archiv für Pädagogik
Arendt, Kleine weiße Sklaven.
Arendt, Kinderhändler $ .
Bayer, "Über Vererbung und Rassenhygiene WERE
Braunshausen, Die experimentelle Gedächnisforschung
Cellörier et Dugas, L’Annee Pédagogique . .
Deutsche Anstalten für Schwachsinnige, Epileptische und psychopathische
Jugendliche : =
Deutsche Heil- und Pflegeanstalten für Psychischkranke in Wort und Bild
Die Irrenpflege in Österreich in Wort und Bild. . . . . R
Eingegangene Literatur . el a a ne ABT 193:
Enzyklopädisches Handbuch der Heilpädagogik. Ye Kunde
Fuchs, Hilfsschulfragen .
G rünbaum, Der Kindergarten, seine soziale und pädagogische Bedeutung
Handbuch für Jugendpflege . 5 ;
Hastreiter, Was jeder junge Mann zur rechten Zeit erfahren sollte P
Hoppe, Die Tatsachen über den Alkohol . are
Horrix, Die Ausbildung des Hilfsschullehrers
Internationaler Guttemplertag . ;
Jugendpflege im Guttemplerorden 1913... . $
Kalender für heilpädagogische Schulen und Anstalten >
König, Der Alkohol in der Schule
Kraemer, Experimentelle Untersuchungen zur Erkenntnis des Lernprozesses
Krukenberg, Jugenderziehung und Volkswohlfahrt :
Lay, Psychologie nebst Logik und Erkenntnistheorie
Leonhard, Die Prostitution, ihre hygionisdho, sanat; sittenpolizeilicho und
gesetzliche Bekämpfung . . EN rt
Major, Psychasthenie im Kindesalter ;
Müller, Zur Analyse der Gedächnistätigkeit und des Vorstellungsverlaufes
Neter, Das einzige Kind und der N,
Neumann- Neurode, Kindersport .
‚ Nögrädy, Kind und Spiel .
Rühle, Das proletarische Kind . 7
Schoenebe rger, Psychologie und Pädagogik des Gedächtnisses A
Schweighofer, Alkohol und Nachkommenschaft . . . . g
Sellmann, Der Kinematograph als Volkserzieher?. . . .
Seyfert, Die Unterrichtslektion als didaktische Kunstform .
Siefert, Psychiatrische Untersuchungen über ei
Stritter, Seelsorge unter geistig Abnormen .
Theuermeister, Unser Körperhaus
Wentscher, Der Wille. . . 3
Wilker, Alkohol und Jugendpflege TE
Wilker, Alkoholismus, Schwachsinn und Vererbung ; in ihrer Bedeutung für
die Schule. . . s
Zerwer, Säuglingspflegefibel 3 A
Ziehen, Die Erkennung der psychopathischen Konstitutionen . .
Ziehen, Erkenntnistheorie auf BAM, kernel und physikalischer
Grundlage .
Zur Jugendnot in den gebildeten Volksschichten.
(Ein offener Brief.)
Sophienhöhe bei Jena, im August 1912.
Sehr geehrter Herr!
Wiederholt bin ich gebeten worden, in meinem Erziehungsheim
ethisch gefährdete Jünglinge aus gebildeten Kreisen im Alter von 16
bis zu 25 Jahren aufzunehmen, und, da ich ihre Aufnahme leider
grundsätzlich ablehnen muß, doch Vorschläge zu machen, wo sie am
besten unterzubringen seien. Ich stehe aber im allgemeinen auch
ratlos da.
Dabei habe ich die Beobachtung gemacht, daß die größte Anzahl
dieser jungen Leute jenseits des Pubertätsalters durch die Trinkunsitten
und alle ihre Folgeerscheinungen zugrunde geht oder doch zugrunde
zu gehen in Gefahr ist. So schrieb mir in diesen Tagen wieder ein
Vater von seinem einzigen hochbegabten Sohne: »Er studierte gar
nicht, trieb oberflächliche Romanlektüre, trank und gab die Keusch-
heit auf.«e Und das bekomme ich nicht nur in diesem einen Brief
zu lesen. Genau so oder ganz ähnlich klagen mir jahraus jahrein
viele Eltern.
Es ist aber ungemein schwer, für derartige moralisch verkommene
oder doch aufs höchste gefährdete junge Leute gerade der oberen
Schichten unseres Volkes ein geeignetes Unterkommen zu finden, das
ihnen für das zunächst aufzugebende Lebensziel einen festen Rück-
halt, einen neuen Lebensinhalt und innere wie äußere Gesundung
gewährleistet.
Um nun einen ungefähren Überblick zu gewinnen, wie groß die
Zahl der oft als »verkrachte Existenzen« bezeichneten ehemaligen
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 1
2 Zur Jugendnot in den gebildeten Volksschichten.
Gymnasiasten, Seminaristen, Akademiker usw. ist, wollen wir den Ver-
such machen, eine Statistik zu gewinnen, indem wir an alle Herbergen
und an alle in Betracht kommenden Anstalten usw. die freundliche
Bitte richten, uns anzugeben, wie viele derartige Leute bei ihnen
untergebracht sind oder bei ihnen passieren. Gerade in Norddeutsch-
land soll die Zahl ganz beträchtlich sein. Unter den Ernte- Aushilfs-
arbeitern, unter den Gelegenheitsarbeitern bei Kanalbauten und ähn-
lichen Einrichtungen trifft man sie bekanntlich in großer Zahl.
Daß eine derartige Statistik nicht unbedingt zuverlässig sein kann,
ist gewiß, denn sie wird bei weitem hinter der Wirklichkeit zurück-
bleiben. Aber ebenso gewiß ist, daß durch sie die Grundlagen ge-
liefert werden können, die erforderlich sind zur Erkenntnis von der
Notwendigkeit, heilerzieherische Einrichtungen für solche Fälle zu
schaffen, die uns aber auch die Augen öffnen werden dafür, daß die
Jugendpflege nicht vor den Toren der höheren Schulen, Seminare und
Universitäten halt machen darf.
An dieser Arbeit mitzuhelfen möchte ich auch Sie, sehr geehrter
Herr, durch dieses Schreiben höflichst bitten. Jede Mitteilung, die
zur Aufhellung des großen Elends dienen kann, ist uns willkommen,
sei es statistisches Material oder seien es Berichte von Einzelfällen
oder auch über bereits vorhandene Fürsorgeeinrichtungen. Viele
sorgenvolle Eltern werden es Ihnen danken! Die Ergebnisse werden
wir in unserer »Zeitschrift für Kinderforschung« veröffentlichen.
In vorzüglicher Hochachtung
J. Trüper, Herausgeber der Ztschr. f. Kdf.
rar
en 508
A. Abhandlungen.
1. Die Psychopathologie der Pubertätszeit.
Vortrag, gehalten auf dem Allgemeinen deutschen Fürsorgeerziehungstag in Dresden
am 25. Juni 1912.
Von
Oberarzt Dr. Mönkemöller, Hildesheim.
Von den natürlichen Umwälzungen, die der Mensch auf körper-
lichem und geistigem Gebiete durchmachen muß, ragt in die Fürsorge-
erziehung die Pubertät gebietend hinein. Ist sie doch schon äußerlich
bedeutsam als Markstein, der ihre erste Phase, die Schullaufbahn
der Zöglinge, von der zweiten scheidet, die sie praktisch dem Leben
gewinnen soll. Sie gibt den letzten Schuljahren ihr eigentümliches
Gepräge und erschwert oft die Vollendung des Lehrwerkes. Sie steht
auf ihrem Höhepunkte, wenn es gilt, gerade die schwierigeren Objekte
der Fürsorgeerziehung aus dem Schutze der Anstalt loszulösen.
In der Pubertät spielt sich zunächst die Entwicklung zur Ge-
schlechtsreife ab. Die kindlichen Organe machen die Umwandlung
in die Erwachsener durch und die Geschlechtsorgane erlangen ihre
Funktionsfähigkeit, während sich die Stoffwechselvorgänge ändern.
Gleichzeitig vollzieht sich aber auch die Entwicklung des
Gehirns in einem rascheren Tempo als bisher und seine
feineren Elemente bilden sich weiter aus. Jetzt erlangt der Mensch
die Fähigkeit, auf Grund selbständiger Überlegung zu handeln. Er
geht zum abstrakten Denken über und beginnt eigene Urteile zu bilden.
An Stelle des kindlichen Egoismus treten altruistische Gefühle.
In dieser Zeit wird die geistige Individualität des Menschen ge-
boren. Die Einflüsse der Vererbung beginnen sich in erhöhtem Maße
fühlbar zu machen. Das Wirken der persönlichen Neigungen, der
Anlagen, der Lebensauffassung drückt dem Geiste sein Gepräge auf.
1*
4 A. Abhandlungen.
Die Einheitlichkeit, die alle Kinder in gewissem Maße umfaßt, wird
aufgelockert. An ihre Stelle tritt der erwachsene Mensch in seiner
ganzen Eigenart.
Diese Periode beginnt ungefähr mit dem 13. Jahre und dauert
bis zum 16. Zu beachten ist dabei, daß die sexuelle Pubertät
durchaus nicht mit der geistigen zusammen zu fallen braucht.
Ebenso sind die zeitlichen Verhältnisse dem Wechsel unterworfen.
Sie sind an körperliche, klimatische, nationale Faktoren gebunden.
Von größter Bedeutung ist es, daß gerade bei psychisch nicht ganz
einwandfreien Persönlichkeiten, wie sie so leicht in die Fürsorge-
erziehung verschlagen ' werden, Unregelmäßigkeiten im zeitlichen Ab-
laufe der Pubertät keine Seltenheit sind.
Daß solch ein gewaltiger Umwandlungsprozeß nur zu leicht unter
störenden Begleiterscheinungen von statten gehen kann, liegt in der
Natur der Sache begründet. Es kann um so leichter dazu kommen,
als gelegentlich manche ungünstigen Faktoren die Wucht dieser be-
deutungsvollen Entwicklung vergrößern. Dazu gehört ein abnorm
rasches Wachstum, Entwicklungshemmungen des Schädels, körperliche
Leiden, vor allem schwere Infektionskrankheiten, allgemeine Ernährungs-
störungen und eine fehlerhafte Zusammensetzung der Blutmischung.
Unbestimmte geschlechtliche Gefühle schaffen den Nährboden für
onanistische Exzesse.
Äußere Schädlichkeiten verstärken das Gewicht dieser un-
günstigen Beeinflussung. Gerade in dieser Übergangsperiode beginnt
das Kind aus dem Schutze des Elternhauses herauszutreten. Ihm wird
eine größere Selbständigkeit verliehen. Versuchungen und Kämpfe
treten an eine Persönlichkeit heran, die ihnen oft nicht gewachsen ist.
Die Anforderungen an die Arbeitskraft werden wesentlich gesteigert.
Der Kampf ums Dasein schlägt seine ersten Wellen. Drohend be-
ginnt für das männliche Geschlecht der Alkohol seine unheilvolle
Tätigkeit. Das Weib findet dafür im Fortpflanzungsgeschäft eine
reichlich fließende Quelle der Schädigung.
Spielt sich bei unseren Zöglingen diese Entwicklung in einer Zeit
ab, in der sie noch nicht in den Hafen der Fürsorgeerziehung ein-
gelaufen sind, so häuft sich nur zu oft die Macht der schädlichen Ein-
flüsse. Das unregelmäßige Leben zu Hause, die schlechte Ernährung,
die oft mit Unterernährung gleichbedeutend ist, die mangelnde Er-
ziehung, das ungebundene Leben, die vorzeitige geschlechtliche Be-
tätigung, der Verfall in die Kriminalität mit seinen Aufregungen —
alles das sind Faktoren, die einem normalen Ablaufe dieses Entwick-
lungsprozesses hindernd im Wege stehen.
Mönkemöller: Die Psychopathologie der Pubertätszeit. 5
So bergen die Umwälzungen während der Entwicklungszeit die
wesentlichsten Entstehungsbedingungen für geistige Erkrankungen in
sich. Sie haben ein um so leichteres Spiel als dieser Revolutions-
prozeß oft schon normalerweise unter Erscheinungen verläuft, die
in einem anderen Zusammenhange und in anderer Gruppierung als
Krankheitserscheinungen gedeutet werden müßten.
Ich brauche Ihnen nicht das oft skizzierte und allbekannte Bild
vor Augen zu führen, das der Herr der Schöpfung in den Flegel-
jahren, das das Weib in den Backfischjahren darbietet. Gewaltig er-
schüttern die innerlichen Umgestaltungsprozesse die Psyche des
werdenden Erwachsenen, ohne daß er sich klar ist darüber, was die
neuen Organgefühle, Vorstellungen, Triebe bedeuten sollen. Noch
fühlt er sich der neuen Rolle, die er spielen soll, nicht gewachsen,
oder er sucht schon die Stellung einzunehmen, zu deren Behauptung
ihm die Mittel erst noch verliehen werden sollen. So stellt sich bald
eine gesteigerte Reizbarkeit ein, die mit störrischem Wesen einhergeht.
Gern beherrscht eine zerflossene, weichliche Stimmung das Feld. Un-
begründetes Weinen paart sich mit dumpfem Vorsichhinbrüten. Oder
es kommt zu zornmütiger Erregung, die in unpassenden Momenten
und in zweckloser Kraftvergeudung ihre Entladung sucht. Dann
wieder gewinnt eine gehobene Stimmung und ein frisches und fröh-
liches Draufgängertum die Oberhand. Überschwenglichkeit paart sich
mit geziertem Wesen. Dazu gesellen sich noch vereinzelte Krankheits-
symptome, die dafür sprechen, daß das gesamte psychische Leben: er-
schüttert ist: religiöse Schwärmerei, Zerstreutheit, schreckhaftes Auf-
fahren aus dem Schlafe, versunkenes Hindämmern und kurze Be-
wußtseinsverluste.
Alles das läuft in der Regel ab, ohne sich in Taten umzusetzen,
die der Mitwelt eine nähere Beschäftigung mit diesen Lebensäußerungen
des in vulkanischer Tätigkeit begriffenen Organismus nahelegten. Nur
zuweilen macht sich die lebhafte Tätigkeit der Einbildungskraft, die
Abhängigkeit von der schwankenden Stimmung, die geschlechtliche
Erregbarkeit in unvermittelten Handlungen Luft, wie dieser Alters-
periode überhaupt eine lebhafte Impulsivität des Auftretens und
das Handeln aus dem Augenblicke heraus anhaftet.
So verkörpert diese Zeit, in der die Eigenschaften des Kindes
mit denen des Erwachsenen in buntem Wechsel und ohne organische
Verbindung nebeneinander hausen, einen außerordentlich labilen
Zustand, in dem die krankhaften Züge oft das Feld zu beherrschen
scheinen. Wenn diese nun auch in der Regel nach Ablauf dieser
Zeit wieder vom Schauplatze abtreten, bleibt dieser Übergang doch
6 A. Abhandlungen.
darum so bedeutsam, weil er nicht selten bisher verborgen ge-
bliebene pathologische Anlagen zum Leben erstehen läßt.
Ihm ist auch die Macht verliehen, bestehende Krankheitszustände
schärfer auszuprägen oder eine deutliche Verschlechterung auszulösen.
Und darin liegt seine Bedeutung für die Fürsorgeerziehung, die
einer solchen Menge von Persönlichkeiten gerecht werden muß, die
nach Vererbung und Veranlagung schlechter gestellt sind als ihre
Altersgenossen. Denn das Vorhandensein solcher unfertigen Krank-
heitszüge beweist ja immer, daß eine gewisse Anwartschaft auf
eine geistige Krankheit besteht. Ob es dazu wirklich kommen soll,
wird durch die verschiedensten Umstände bedingt, in erster Linie
durch das Maß der erblichen Belastung und die sonstigen ursächlichen
Faktoren, die im geistigen Leben des Einzelnen schlummern. Die Un-
zulänglichkeit der persönlichen Anlage wird durch den Ansturm der
Pubertät an das Tageslicht gezogen. Die geistigen Schwächlinge, die
im Kampfe um das Dasein später im Hintertreffen zu stehen be-
stimmt sind, schreiben sich jetzt selbst das Zeugnis ihrer Minder-
wertigkeit durch die eigentümliche Richtung, die sie ihrem Lebens-
wege geben und durch die mangelnde Widerstandsfähigkeit und geringe
Kraft, mit der sie sich in den neuen Verhältnissen zurechtfinden.
Und wenn diese Minderwertigkeit bisher nur verschwommen blieb
und sich nicht in eine bestimmte Diagnose einkleiden ließ,
deutet dieser Entwicklungsabschnitt der allgemeinen krankhaften Ver-
anlagung den Weg, den die Weiterentwicklung der Krankheit zu
nehmen hat.
So bleibt die Pubertätsentwicklung immer ein gewichtiger Prüf-
stein der geistigen Leistungsfähigkeit. Es ist kein Wunder,
daß in dieser Periode der Prozentsatz der geistigen Erkrankungen
rasch und bedeutend steigt. Das weibliche Geschlecht wird um so
empfindlicher betroffen, als die erbliche Anlage bei ihm mehr ihre
Opfer fordert als beim Manne. Zudem sind die körperlichen Um-
gestaltungsprozesse tiefgehender als bei jenem. Die mannigfachen
Faktoren des Geschlechtslebens greifen tiefer in das geistige Leben ein.
Nur zu oft wird ihr Gewicht durch schwere Ernährungsstörungen —
Blutarmut und Bleichsucht — verstärkt.
Im allgemeinen haben die akuten Störungen psychischer Art in
dieser Zeit noch günstige Heilungsaussichten. Leider setzt jetzt aber
auch die Krankheit ein, die an Zahl und Bedeutung alle anderen in
den Schatten stellt: das Jugendirresein, die Dementia praecox.
Im allgemeinen nimmt man an, daß ihr ein innerlicher Vergiftungs-
prozeß zugrunde liegt. Da ihre Wurzeln zum überwiegenden Teile
Mönkemöller: Die Psychopathologie der Pubertätszeit. 7
in die Pubertät hineinragen, liegt die Annahme sehr nahe, daß sie
mit den Umwälzungen im Stoffwechsel, die sich in dieser Zeit ab-
spielen, in irgend einem Zusammenhange steht. Daß beide auf einem
ähnlichen Boden erwachsen sein müssen, läßt sich auch daraus schließen,
daß wir in manchen Formen des Jugendirreseins viele Züge wieder-
finden, die auch den gesunden Entwicklungsjahren eigen sind, nur
daß sie hier ins maßlose vergröbert sind und gern eine groteske Ge-
staltung annehmen. j
Auch hier werden die schwierigsten Probleme ebenso mühelos
wie unzureichend gelöst. Auch hier ist das Urteil im Nu fertig.
Auch hier ist man mit den Schlüssen schnell bei der Hand, wenn sie
sich auch meist als Kurz- und Trugschlüsse erweisen. Abgerissen
und sprunghaft geht die Gedankenbildung von statten. Eine be-
ständige, leichte Erregung macht sich in albernem Lachen, in einer
affektierten Sprechweise, in läppischen Scherzen Luft. Der angehende
Jüngling sucht durch rauhes Auftreten seine Männlichkeit zu erweisen.
Er bricht die Witze vom Zaun, berauscht sich an tönenden Redens-
arten und bringt dieselben Schlagwörter bei jeder Gelegenheit an.
Außerdem kündigen hier aber schon sehr bald intellektuelle
Störungen das fortschreitende Zerstörungswerk an, das diese tückische
Krankheit im Gefolge hat und das mit der vorzeitigen Verblödung
oder doch mit einer deutlichen Einbuße der gesamten geistigen Fähig-
keiten endet. Oder es kommt zu einer Verfälschung des ganzen Ge-
dankeninhalts und zu unbestimmten Verfolgungs- und Größenideen.
Es kann nicht meine Aufgabe sein, auf die verschiedenen Ge-
staltungsformen dieses proteusartigen und krausen Krankheitsbildes
einzugehen. Ist es in seine ausgeprägteren Stadien eingetreten, dann
entgeht auch dem Laien nicht, daß es sich um eine schwere Geistes-
krankheit handelt.
Man muß sich nur bei jeder psychischen Veränderung, die in
die Zeit der Geschlechtsreifung fällt, bewußt bleiben, daß sie in den
Bereich dieses folgenschweren Verblödungsprozesses geraten kann.
Praktisch wichtiger für die Schullaufbahn und erst recht im
Reiche der Fürsorgeerziehung sind die schleichend und unauffällig
verlaufenden Formen dieser Krankheit.
Die Kinder werden still und in sich gekehrt. Energielos brüten
sie vor sich hin und schließen sich von ihren Mitschülern ab. Dabei
werden sie widerstrebend in ihrem ganzen Wesen. In dumpfer Ver-
bissenheit fügen sie sich nur schwer der Autorität. Ihr ganzes
Verhalten, ihre Sprechweise nehmen etwas läppisches an. Der Fleiß
läßt nach, die Aufmerksamkeit wird abgestumpft, das Gedächtnis
8 A. Abhandlungen.
schwindet zusehends, die Pflichttreue den Aufgaben gegenüber sinkt
auf das bescheidenste Maß. In der Schule sitzen sie in schlaffer
Haltung da, ganz in ihre Träume versunken, oder kichern ohne jeden
Grund vor sich hin und treiben Allotria. Lassen die Leistungen
immer mehr nach, so entziehen sie sich den drückenden Anforde-
rungen, indem sie einfach die Schule schwänzen und sich planlos
herumtreiben. Mit der Wahrheit nehmen sie es immer weniger genau.
Ungeniert betteln sie fremde Leute an. Ohne alle Gewissensbisse ver-
greifen sie sich am fremden Eigentum und vernaschen das unredlich
erworbene Gut. Immer größer wird die Gemütsstumpfheit, die Inter-
essen schrumpfen ein, Mitgefühl, Lebensfreude, Strebsamkeit — alles
geht im Strudel der Krankheit unter, wenn nicht robustere Krank-
heitserscheinungen die Herrschaft an sich reißen.
Nur zu oft wird dieser unerklärliche Stillstand in der Ent-
wicklung übersehen oder doch falsch gedeutet. Auf den höheren
Schulen sucht man diesen Ausfall durch erhöhte Arbeit zu decken
und durch die Presse und andere Hilfsmittel wett zu machen. Anstatt
das Ziel zu erreichen, treibt man diese Opfer der Pubertät in die
ausgesprochene Psychose hinein.
Oder man macht für diesen Nachlaß in den Leistungen die
Schule verantwortlich, während man bei genauem Zusehen erkennen
muß, daß es sich um schlecht veranlagte Persönlichkeiten handelt.
Bei ihnen stellen die gesteigerten Anforderungen nur ein wenig be-
deutungsvolles ursächliches Moment dar, während es in Wirklichkeit
die Pubertät ist, die bei einer so morschen Grundlage in ihrem
geistigen Zerstörungswerke nur zu leichtes Spiel hat.
Bei einem verhältnismäßig recht großen Prozentsatze der Fälle
von Jugendirresein sehen wir nämlich, daß schon lange vor seinem
Ausbruche gewisse Eigentümlichkeiten bestanden: zurückhaltendes
Wesen, Widerspenstigkeit, Zerfahrenheit und Gespreiztheit. Man kann
kaum die Annahme zurückweisen, daß man in diesen auffälligen
Symptomen, die sich nicht selten bis in die früheste Kindheit zurück-
führen lassen, schon die ersten Alarmzeichen der Krankheit zu sehen
hat. So lassen sich sogar manche Krankheitssymptome der Idiotie,
das Grimassieren, das Speicheln, das dauernde Beibehalten derselben
Haltung ohne großen Zwang dahin deuten, daß sie eine Frühform der
Dementia praecox darstellen.
Wie die Pubertät hier den längst begonnenen Vernichtungsprozeß
von neuem zu entzünden vermag, so bringt sie auch die verhältnis-
mäßig seltenen psychischen Abweichungen des Kindesalters zur
stärkeren Ausprägung. Erst jetzt verleiht sie ihnen eine solche Schärfe
Mönkemöller: Die Psychopathologie der Pubertätszeit. 9
der Symptome, daß die krankhafte Veranlagung für ihren Träger
drückend und für die Allgemeinheit störend wird. Die Psychosen
treten in ihr Mannesalter.
Das gilt in erster Linie von der angeborenen geistigen
Schwäche, der Imbezillität, von ihr, die unter den psychopathi-
schen Elementen der Fürsorgeerziehung das erste Wort hat und in
ihren verschiedenen Abstufungen und Schattierungen sich am meisten
dem Zwecke der Erziehung störend in den Weg stellt.
Das Symptom, das ihr den Namen verleiht und besonders von
Laien in praktischer Beziehung meist in den Vordergrund gestellt
wird, die Intelligenzschwäche, prägt sich oft erst in den Ent-
wicklungsjahren deutlich aus oder kommt doch dann der Umgebung
mehr zum Bewußtsein. Das liegt wohl in erster Linie daran, daß
diese geistigen Invaliden nun höheren Anforderungen gegenübergestellt
werden, und daß eine Erweiterung ihres Wirkungskreises selbständiges
Denken und eigenes Schaffen von ihnen verlangt. Wenn sie nun in
ihrer Unzulänglichkeit versagen, erweitert sich die Kluft, die sie von
ihren gesunden Kameraden trennt, die in harmonischer Entwicklung
rascher zum Ziele eilen. Manchmal erlahmt jetzt auch die kümmer-
liche Schaffenskraft, die sie noch durch die Schullaufbahn durch-
geschleppt hatte. Es kommt zu einem förmlichen Stillstand der
geistigen Entwicklung. Oder es läßt sich sogar ein deutliches Zu-
rücksinken von dem schon erreichten Niveau feststellen. Dieser
Rückbildungsprozeß unterscheidet sich in nichts vom Jugendirre-
sein. Zu diesen Formen von Dementia praecox, die sich auf die
Imbezillität aufpfropfen, gesellen sich noch gelegentlich die wunder-
lichen Formen der Willenssperrung, das widerstrebende Wesen und
die merkwürdigen Gewohnheiten in Haltung und Bewegung. Dann
geht es mit der erziehlichen Beeinflußbarkeit reißend zu Tal. Es
bleiben die traurigen geistigen Ruinen übrig, an denen sich Behand-
lung und Erziehung vergebens abmühen.
Von größter Wichtigkeit für die ganze Stellung der Mitwelt gegen-
über, für die Brauchbarkeit zu einem Berufe, für den Verfall in die
Kriminalität ist eine andere Beeinflussung der Imbezillität, die in der
Pubertät wurzelt. In den Kinderjahren ist, von manchen Ausnahmen
abgesehen, der Durchschnittsimbezille leidlich lenkbar. Er fügt sich
sogar oft williger den Einflüssen der Erziehung als normale Kinder,
wie er sich eben jedem geistigen Übergewichte beugt. Er ist meist
zufrieden, wenn man ihn in Ruhe läßt. Anders, wenn die Unruhe
der Pubertät über ihn kommt, der er in seiner Unzulänglichkeit noch
ratloser und widerstandsloser gegenübersteht wie seine gesunden
10 A. Abhandlungen.
Altersgenossen. In ihm ringen die Impulse dann noch mehr nach
Betätigung. Sein schwacher Geist vermag ihrer noch weniger Herr
zu werden. Mit Ethik und Moral, die ihn unterstützen sollten, ist es
sowieso bei ihm schlecht genug bestellt. Dafür hat sich sein Körper
um so kräftiger entwickelt und verleiht ihm die Muskelkräfte, um
seinen Drang in Taten umzusetzen. Da ihm wegen seines engen
geistigen Horizontes höhere Ziele verschlossen sind und er sich nur
zu oft geärgert und verspottet sieht, überläßt er sich ohne Hemmung
jedem Triebe und jeder Begierde. Die Initiative wächst. An Stelle
des passiven Schwachsinnigen tritt der aktive Imbezille, dessen
Schaffenslust der Mitwelt wenig Freude macht. Dann erfolgt nur zu
leicht der Ausschlag ins Kriminelle. Der asoziale Imbezille, der
in der zweiten Phase der Fürsorgeerziehung so gefürchtet ist, dem
sich das Stigma der Unerziehbarkeit immer mehr aufprägt, tritt erst
jetzt sein Debut an.
Daß die Pubertät an dieser Ausgestaltung der kriminellen
Persönlichkeit den Löwenanteil hat, geht auch daraus hervor, daß
sich manche Schwachsinnszustände, die sich in dieser Periode ent-
wickeln, zuerst lediglich durch kriminelle Ausschläge kund
geben. Das ist insofern bedeutsam, als man bei einer solchen krimi-
nellen Umgestaltung von Kindern, die sich bis dahin einwandsfrei ge-
führt haben, nie den Verdacht außer acht lassen darf, daß es sich um
die ersten Vorboten der Dementia praecox handelt.
Um so mächtiger muß der Einfluß der Pubertät auf Persönlichkeiten
sein, die sich schon in ihren Kinderjahren die Anwartschaft auf die
Verbrecherlaufbahn sichern. Das sind die Kinder mit der allgemeinen
ethischen Verödung, mit der schweren Ausprägung der moralischen
Defekte, mit dem eiskalten Egoismus, für die man seinerzeit den Begriff
der Moral insanity prägte. Besteht eine solche krankhafte Grundlage
mit besonderer Hervorkehrung der asozialen Seite, so muß man in der
Geschlechtsentwicklung besonders die Augen offenhalten, weil sich
jetzt diese asozialen Triebe in rücksichtslosester Weise entfalten.
Die gleiche Umwandlung droht auch den psychopathischen
Konstitutionen, oder wie sonst die schönen Namen lauten, mit
denen man die unbeliebten und der Erziehung abholden Elemente
schmückte, die der Fürsorgeerziehung neben der Imbezillität das Herz
am meisten schwer machen.
Das trifft alle die Zwittergeschöpfe, die sich auf der Grenze
zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit behaupten, obgleich sie
bei genauerer Betrachtung der geistigen Krankheit mit Leib und
Seele verschrieben sind. Meist sind sie die Schmerzenskinder der
Mönkemöller: Die Psychopathologie der Pubertätszeit. 11
Fürsorgeerziehung, weil ihre Intelligenz zufriedenstellt und sich ihre
nahe Verwandtschaft mit der Geisteskrankheit dem Laien nie wider-
spruchslos erschließt. So wagt man nicht, ihnen die Entschuldigung
des Vollblutimbezillen zu geben.
Das gilt für alle die Kinder, die sich durch die große Ungleich-
mäßigkeit in der Entwicklung ihrer geistigen Funktionen kennzeichnen.
Die Vielgestaltigkeit der Symptome, die für sie das charakteristische
ist, ohne sie einer bestimmten Krankheitsgattung zuzuweisen, nehmen
sie auch in die Pubertät mit hinüber. Es bleiben auch die Haupt-
züge ihres abnormen Verhaltens. Bald leben sie gleichgültig dahin,
bald schweben sie über den Wolken, bald schleichen sie trübe durch
ihr Kinderleben. Entweder lassen sie sich nur von ihren Trieben
leiten und sprunghaft verläuft ihr ganzes Dasein, oder sie entbehren
des inneren Haltes und fallen willenlos der Verführung zum Opfer.
Dann wieder leiden sie an einem Übermaß von Phantasie oder bleiben
der Spielball ihrer zügellosen Affekte. 3
Alle die krampfhaften Charaktereigenschaften, die in normalen
Zügen des Geisteslebens ihr Paradigma haben, sind beim Kinde in
Andeutungen oft vorhanden, ohne daß man ihnen immer eine tiefere,
pathologische Bedeutung beilegen dürfte. Das ändert sich mit der
Pubertät.
Alle die Züge prägen sich jetzt, wenn die Tendenz zur patho-
logischen Entwicklung zum Durchbruche gelangt, so stark aus, daß
das ganze normale Geistesleben überwuchert wird. Während solche
Kinder vorher meist unter der Masse leidlich unauffällig untertauchten,
setzen sie sich jetzt leicht in scharfen Gegensatz zu ihren Alters-
genossen. Die widerspruchsvolle Charakteranlage wird dermaßen er-
schüttert, daß das geistige Gleichgewicht von nun an dauernd labil
bleibt. Der ganze klinische Verlauf dieser pathologischen Zustände
artet in widerspruchsvolles Wesen und größte Zerfahrenheit aus.
Zu bemerken ist noch, daß die phantastische Lügensucht
gerade in den Entwicklungsjahren auch bei Kindern aufkeimt, bei
denen sich diese Veranlagung bis dahin noch nicht ausgeprägt hatte.
Diese Neigung, die sich gerne auf sexuellem Gebiete ergeht, ver-
schwindet nach einiger Zeit wieder ganz vom Schauplatze.
Einen einschneidenden Abschnitt macht die Pubertät auch in der
Epilepsie. Nicht selten setzt sie erst in der Zeit der beginnenden
Geschlechtsreife ein. Meist läßt sich leicht erkennen, daß die neuro-
pathische Veranlagung schon längst vorhanden war. Man sieht bei
genauerer Nachforschung, daß sie sich durch kleine Anfälle, durch
Schwindelsymptome oder periodisch auftretende Kopfschmerzen kund-
12 A. Abhandlungen.
gegeben hatte. Besonders hoch in Rechnung zu setzen sind als solche
Vorläufersymptome motivlose, kurzdauernde Verstimmungszustände
oder Wutanfälle.
Hier tun neben den sonstigen Einflüssen der Pubertät die geistige
Überanstrengung, Schädelverletzungen und psychische Schädigungen
ihren Dienst als Gelegenheitsursachen, um das Krampfleiden ins Leben
zu rufen. Nicht selten findet man, daß in den ersten Kinderjahren
schon Anfälle aufgetreten waren, wenn diese auch wahrscheinlich mit
den echten epileptischen Krämpfen nicht auf eine Stufe gestellt
werden dürfen. Das beweist wieder die gewaltige Kraft der Pubertät,
die diese anscheinend längst erloschene Neigung zu solchen Ent-
ladungen wieder zum Auflodern zu bringen vermag.
Das Weib hat in dieser Zeit, was diese Ausgestaltung des epi-
leptischen Krankheitsbildes anbetrifft, stark das Übergewicht. Der
höchste Punkt der Erkrankungsziffer liegt hier im 16. Lebensjahre.
Die Pubertätsentwicklung wirkt bei ihm weit verhängnisvoller als
beim männlichen Geschlechte, in erster Linie wohl infolge der tief-
gehenden Erschütterungen, ohne die der Menstruationsprozeß sich
selten anzubahnen pflegt. Das zeitigt bei der Epilepsie eine in prak-
tischer Beziehung wichtige Form, die als menstrualer Typus bezeichnet
wird. Man findet ihn am meisten bei jungen Mädchen, bei denen
das erste Auftreten der Menstruation mit dem Hereinbrechen der
epileptischen Anfälle zeitlich zusammenfiel: dann stellen sich diese oft
längere Zeit gleichzeitig mit dem Eintritte der Periode ein.
Für unsere besonderen Verhältnisse wieder muß daran erinnert
werden, daß der epileptischen Entartung in diesem Zeitabschnitte
eine verhängnisvolle Strandungsklippe droht. Fast ausnahmslos stellt
sich ja bei dieser unheilvollen Krankheit mit der Zeit eine allgemeine
geistige Verödung ein. Daran beteiligen sich in erster Linie auch das
Ethos, die Moral. Ein grenzenloser Egoismus macht sich breit und
eine verdrossene Reizbarkeit wetteifert mit der Sucht zu einer gewalt-
tätigen Handlungsweise. Während in den Kinderjahren diese all-
mähliche Schädigung noch nicht so sehr auffällt und den Hoffnungen
der Eltern auf eine Weiterentwicklung noch immer Nahrung läßt,
macht ihnen die Pubertät meist einen Strich durch die Rechnung.
Der geistige Zusammenbruch geht jetzt in beschleunigtem Tempo vor
sich. Er vollzieht sich in gleicher Weise in der liebevollen Pflege
des Elternhauses wie in der konsequenten Erziehung der Anstalt oder
in den kümmerlichen Verhältnissen des Proletariats. Wie schon
bei normal verlaufender Entwicklung in der Pubertät gelegentlich
eine Neigung zum Mystizismus auffällt, greift bei den Epileptikern
Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 13
jetzt manchmal eine dumpfe und ungesunde Frömmelei Platz. In
merkwürdigem Gegensatze dazu steht gerade in diesen Jahren oft
ein unverträgliches Wesen und eine verbissene Verdrossenheit, um so
mehr, als den Epileptikern jetzt zum Bewußtsein kommt, wie ihnen
die Krankheit den Weg in das Leben versperrt.
So ist es kein Wunder, daß sie, die mit der Kriminalität durch
die verschiedensten Äußerungsformen ihrer Krankheit in den engsten
Beziehungen stehen, dieses Wechselverhältnis gerade in diesen Jahren
mit frischen Kräften antreten. Die wachsende Körperkraft verleiht
den außerordentlich rohen Handlungen, die so oft eine Entladungsform
dieser Krankheit darstellen, die nötige Unterlage. (Schluß folgt.)
2. Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwach-
sinnigen und schwerschwachsinnigen Kindern.
Von
Kurt Lehm, Dresden.
(Mit 4 Abbildangen.)
Von den Arbeitsergebnissen der Hilfsschulkinder auf ihre geistige
Eigenart zurückzuschließen, ist ein Weg, der, soweit mir die ein-
schlägige Literatur bekannt ist, noch nicht oft begangen wurde. Und
doch kann er für die gesamte Hilfsschulmethodik, für die Hilfsschul-
erziehung von hohem Werte sein. Ja, ich bin sogar der Meinung,
daß auch die Hilfsschullehrpläne den Ergebnissen solcher Forschungen
manchen Gewinn entnehmen könnten zugunsten der Hilfsschulkinder.
Freilich hat es mit Arbeitsergebnissen der Hilfsschulkinder und
daraus abzuleitenden Schlüssen seine Bedenken. Arbeitsergebnisse
sind abhängig von der Gunst der Stunde, von dem jeweiligen geistigen
und körperlichen Zustande des Kindes, und sie können, wofern sich
irgendwelche Abweichungen von der Norm einstellen, sehr beein-
trächtigt werden, so daß der Rückschluß dadurch auch fraglich wird.
Will man aber die Forderung einwandfreier körperlicher, seelischer,
geistiger Ruhe bei Hilfsschulkindern zum Zweck der Erforschung ihrer
Arbeitsergebnisse immer aufrecht erhalten, dann dürfte man — es ist
das auch bei normalen Kindern so — eine Prüfung nie vornehmen
können. Doch läßt sich dieser gefährliche Prüfungsfaktor ausschalten,
um einigermaßen gesicherte Resultate zu erfahren, indem man Tages-
oder Wochenleistungen notiert und auf diese Weise einen Überblick
über den Arbeitsgang der Klasse bekommt, oder daß man nach Er-
ledigung methodischer Einheiten die Ergebnisse zusammenstellt. Mög-
lich ist dieses Verfahren aber nur, wenn die Klassen nicht überfüllt
14 A. Abhandlungen.
sind, da die Prüfung der ganzen Klasse auf denselben Gegenstand hin
unter Umständen Langeweile auslöst, hinwiederum aber sind solche
Einzelrepetitionen auch ganz unerläßlich; die Schwachen unter den
Schwachen haben von einer Chorrepetition nicht viel oder gar keinen
Vorteil, sie wollen und müssen einzeln vorgenommen sein. Für jedes
Fach wird sich natürlich ein besonderes Prüfungsverfahren ergeben.
Daß ich die Prüfungen nicht unter den Wertmesser stelle, wie es in
der Normalschule mit ihren periodisch wiederkehrenden Prüfungen
der Fall ist, möchte ich, um Mißverständnissen vorzubeugen, nicht
unerwähnt lassen; immerhin aber sind die laufenden Aufzeichnungen
ein nicht zu unterschätzendes Hilfsmittel bei Erteilung der Zensuren,
da sie nicht nur über den Stand der Leistungen orientieren, sondern
auch das Arbeitsvermögen, die Kraft des Kindes kennzeichnen,
auf besondere Merkmale aufmerksam machen.
Auf eine andere Schwierigkeit solcher Sammlungen sei noch hin-
gewiesen, sie liegt in dem Wort Sammlung inbegriffen: eine Samm-
lung erfordert Zeitaufwand. Und will man gründlich gehen, so
möchten sich die Beobachtungen auf Jahre erstrecken und es müßten
für einen gewissen Zeitabschnitt dieselben Kinder zur Verfügung
stehen, man müßte für weitere Betrachtungen über denselben Gegen-
stand dann wieder eine andere Kindergruppe haben usf. Es müßte
bei vorzunehmenden Vergleichen sich dann herausstellen, ob die an-
fänglich gemachten Beobachtungen sich wieder einstellen, so daß man
dann mit einigem Recht Verallgemeinerungen ableiten könnte.
Ich habe mir nun vorgenommen, in diesen Zeilen über Lernweisen
und Lernzeiten bei Hilfsschulkindern zu schreiben. Ich tue es auf
Grund von Aufzeichnungen die zum Teil bis 1908 zurückdatieren und
sich auf Sprechen, Lesen, Schreiben erstrecken. Ich lege die Tatsachen
vor, mache aufmerksam auf eigenartige Erscheinungen, weise auf Mittel
hin, durch die üble Erscheinungen gemildert, beziehentlich beseitigt
werden können. Ich gebe dabei der Hoffnung Raum, daß diese Zeilen
eine Anregung sein möchten zu dem eingangs erwähnten Versuch,
von den Arbeitsergebnissen der Hilfsschulkinder auf die geistige
Eigenart zu schließen. Anspruch auf erschöpfende Behandlung des
Themas machen meine Ausführungen keineswegs, sie wollen nur
Wege zeigen, in welcher Richtung etwa die Beobachtungen und Auf-
zeichnungen sich bewegen können.
Ich beginne mit dem Sprechunterricht.
Dafür reichen meine Aufzeichnungen bis Ostern 1910; zu dieser
Zeit erhielt ich die Vorklasse, den Stundenplan setzte ich wie folgt
fest; er ist im wesentlichen bis heute so geblieben und hat sich bewährt.
Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 15
‘la Std. "a Std. 1 Std.
Montag
Dienstag Anschauen
Mittwoch Ci EN
Donnerstag Sprecher _ Religon Formen, Tätigkeitsübungen.
Freitag } Anschauen
Sonnabend Religion
Wo in diesem Plan das Rechnen auftritt, was im Formen getan
wird, wie die Tätigkeitsüäbungen einander ablösen, wie Anschauungs-
und Religionsunterricht gehandhabt werden, darüber zu sprechen tut
hier nicht not; über die Stellung des Sprechunterrichts in diesem Plan
will ich weiter unten Erörterungen vornehmen.
Zum Führer durch den Sprechunterricht in der Vorstufe nahm
ich folgende Schrift: Der Sprechunterricht bei geistig zurückgebliebenen
Kindern. Ein Leitfaden für Lehrer an Hilfsklassen für Schwachbegabte,
an Idiotenanstalten und für die Familie. Von K. Kölle, Direktor der
Erziehungsanstalt für Schwachsinnige, Schloß Regensberg, Kt. Zürich,
1896. Ich muß etwas ausführlich zitieren, um mein Verfahren ver-
ständlich zu machen.
Kölle schreibt: »Das Sammeln von möglichst viel Begriffen ist
die Hauptaufgabe beim Sprechunterricht der Schwachsinnigen.... Die
Begriffe sind Verstandesregeln, die durch Übung gewonnen werden
können. Diese Übungen gehen bei dem normalen Kinde von selbst
vor sich, das idiotische Kind bedarf der Anleitung.
Die Tätigkeit des Idiotenlehrers beim Sprechunterricht müßte
demnach folgende sein:
1. Begriffsbildung, d. h. hier Ausdruck eines Begriffes durch
ein Wort.
2. Satzbildung.
3. Lautentwicklung.
An dieses wird sich anschließen:
4. Die Schreib- und
5. die Leseübung.
Alle diese Tätigkeiten sind nicht für sich abgesondert und allein
zu üben, sondern sie ergänzen sich gegenseitig und gehen deshalb
nebeneinander her. Lautentwicklung, Lese- und Schreibunterricht
haben deshalb auf dieser ersten Stufe nicht einen eigenen metho-
dischen Gang, der sich nach der allerdings oft nur scheinbar leichteren.
Erlernung der einzelnen Elemente richtet, sondern sie werden ganz
so eingeübt, wie es der Unterricht der Begriffsbildung bedarf. Um-.
16 A. Abhandlungen.
gekehrt richtet sich die Erlernung der Begriffe wieder oft nach der
leichteren Aussprache der Worte. Ebensowenig darf sich der Lehrer
entmutigen lassen, wenn die Resultate bei den einzelnen Übungen
im Anfang oft sehr geringe sind. Es wird z. B. selten gelingen, das
idiotische Kind zu einer reinen Aussprache der Laute zu bringen.
Das kommt oft sehr spät und die verschiedenen Übungen ergänzen
sich immer wieder. Lesen und Schreiben sind zunächst ziemlich
nebensächlich, allein sie sind ein methodisches Mittel, den Lehrer bei
den vielen Übungen und Wiederholungen vor Ermüdung zu schützen,
so z. B. wenn bei der Lautentwicklung ein Laut von einem Kinde
öfters gesprochen werden soll. Es gehört schon ein gesunder Kehl-
kopf dazu, wenn man 6—8 Schülern, oft noch schwerhörigen, einen
Laut 10—15mal vorsprechen will und das stündlich, täglich, ein
ganzes Jahr hindurch.
Dem Sprechunterricht sind natürlich die bekannten Übungen der
Vorschule vorausgegangen, also die verschiedenen Tätigkeitsübungen,
die Unterscheidung von Formen und Farben... Das Sammeln von
möglichst viel Begriffen ist die Hauptaufgabe beim Sprechunterricht
‚der Schwachsinnigen. Sind die Gegenstände im Zimmer alle benannt,
so können die vorhandenen Tabellen benutzt werden. Besser ist es
‚aber, wenn Gegenstände in natura vorgeführt werden. Dabei nimmt
man am besten Rücksicht auf die Einübung der Laute.
Die Vokale werden zuerst geübt und sofort beim Aussprechen
auch geschrieben. Die Buchstaben geben die Anschauung und den
Begriff der Laute »A«, »B« usw. Sie werden bald dem Gedächtnis
eingeprägt und das Lesen dient als Sprechübung.
Da beim Einüben weiterer Begriffe auf die Lautentwicklung Rück-
sicht genommen werden soll, so wird die Auswahl von Gegenständen
am besten nach folgender Tafel getroffen:
1. Die Vokale: aeiou
Später schließen sich noch an: ä ö ü au äu ai ei eu.
Die Konsonanten:
b (p) m £ (v ph) w
d (t) l n r s (ĵf) sch z x
g (k q c) ng h ch.
Da die Vokale in jedem Wort geübt werden, so ist es nicht ge-
rade nötig, Gegenstände zu sammeln, an denen dies besonders ge-
schieht« usw.
Den Hauptwert legt Kölle auch bei den Sprechübungen auf die
Begriffsbildung. Begeistert bin ich damals an die Arbeit gegangen
wo
Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 17
und habe ein ganzes Jahr nach seiner Vorschrift gearbeitet. Nur in-
sofern wich ich ab bezw. mußte ich abweichen, als ich das Buch-
stabenlesen ausschaltete. Der Gedanke aber, eine begriffliche Methode
für den ersten Sprechunterricht gefunden zu haben, machte mich
außerordentlich glücklich. Ich befaßte mich zunächst mit folgender
Auswahl aus Kölles Wortgruppen: Ball, Band, Baum, Papier, (oben),
Perle, Mann, Mantel, Fahne, Dach, Wage, Wagen, Faden, Lampe,
Löffel, Nadel, Nagel, Rad, Reifen, Leiter, Deckel, Tafel, Tür, Tisch,
Trommel, Trompete, Nest, Reiter, Sand, Salz, Schaufel, Schuh, Ring,
Garn, — Kohle, Ofen, schwarz, Feuer, heiß; Hose, Jacke, Weste,
Kragen, Schürze, Kleid, Schleife; Kopf, Haar, Nase, Mund, Kinn,
Hals, Arm, Hand, Finger, Bein, Fuß, Zehe, Zähne, Zunge; Bank,
Diele, Decke, Wand usw.
Kölle bringt die Wörter nicht in dieser Folge, aber ich konnte
seinen Gang nicht einhalten, weil die Sprachgebrechen der Kinder
dazu in Widerspruch standen; bald gefiel mir auch das bunte Durch-
einander nicht mehr, ich begann zu konzentrieren. Da ich aber bei
den täglichen Wiederholungen über die Fortschritte des einzelnen
Kindes mir doch kein klares Bild machen konnte, so begann ich auf-
zuzeichnen. In nachstehenden Tabellen sei eine Auswahl aufgeführt.
Sie erweisen die Materialschwierigkeiten der rein begrifflichen Methode
beim ersten Sprechunterricht, heben die Lernzeiten hervor und lassen
sprechtechnische Gesetze erkennen. j
Wort: Ball JE Band
Zeit: | 18.4.10 | 19.4.10 |8.1.12| 21.4.10 27.4.10 | 8.6.10 |8.1.12
Kind: |
A. all B — alm an, ana, anda — —
B. — — — œ œ œ -
C. Bai Bala -- Bam Ban and —
D. Ba |l- (7.7.10) t Băd and (gedehnt, |wieam27.4.| F
mitsprechen) |
E. — | — 0 -— — | — 0
F. _ _ _ = — _ —
G. — —- — Ban d Ban - d —
H. — — — Bam an, Ban — —
I. — — 0 |— ! Nach B —! —! 0
J. — - O |— !einatmend —| | —! 0
K. Balm Balaball | 0 Bam Han - Hand | -— | 0)
Ban - Band |
L. — — — — — —
— = richtig gesprochen. œ = fehlte.
7 = gestorben. ~ = kurz und leicht, fast verschwindend.
0 = Aus der Klasse ausgeschieden. ! = falsche Atemführung.
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 2
18 A. Abhandlungen.
Wort: Baum Papier oben
Zeit: |26.4.10) 3.5.10 18.1.12] 29.4.10 |9. 6.10] 30.4.10 |17.9.10 |s. 1.12
Kind: | |
À. om B, sam | — bier _ omem | öbe | —
B. œ œ u œ œ œ obban | —
C. Bo B, aum, Bau| — Papie u omen o - bem —
D. Bümm |B, äm (9.6.10) 7 Mabber — momem | o-be |
E. — — I Q “n = ZA Edi | o0
F. — — | 0 — — — — 0
G. aum B, aum -— bier — obm ben —
H. | Bömm |— au, sehr | — | Päpie*) — obm ben -—
| gepreßt |
I. —! | —! 0 —! — =! | —! 0
J. —! —! 0 Papi! |! — —! | —! 0
K. Baub | Baul, Baun 0 — — — 0
L. — — — bier*) | — omben obem —
*) a sehr kurz, kaum vernehmbar. — **) r nur angedeutet.
Wort: Mann Mantel
psn pommpoppe E
Wort:
Zeit:
Kind:
A.
B.
C.
D.
E.
F:
G.
H.
I.
J.
K.
L.
Lhampe !
Lambdem | Lambde, —
10.1.12] 6.5.10
|
Bār-le | Berle — œ Mantlel =
Bär - le — œ Man - tel —
Bär - le — = Nadl Man - tel —
Bär - le $ — Mantl Mankl +
= 0 — -— —- 0
— 0 — --— -- | 0
Bä-r-1-le Bär - le _ Mantl Man-tel | —
Bärle = -— Mantel | —
e = dunkel Mantēl
Per - le 0 Wann — E 0
Per - le ! 0 Mhand ! [Mhanthel !/Mantelmantel.... 0
Bär - le 0 -— _ — 0
Bärle — _ œo Mantl =
Lampe Nadel
30. 6. 10 22.12.10 10.1.12| 7.6.10 | 29.6.10 /10.1.12
la, ela,elam| Lhambe — Näche Na - del _
— -= — Nadl — —
— — — Nade -- —
am - be Lam - be + Nadl Na - del t
— _ 0 — — 0
— — 0 — — 0
— — — Nadle Na - del —
= — — Nadil Na - dēl —
— — 0 — — 0
Lhampe ! |Lampelampe ... 2 Nhadel ! |Nadelnadel...| 0
— — — 0
— — Nagl — | Nagel
Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bsi schwachsinnigen Kindern.
19
Löffel
Reifen
30.8.10 |12.1.12| 22.6.10 20.8.10 | 12.1.12
Kind:
A. Sittl Lö - fe — Heidse Rei - fen —
B. Läddl — — œ Rei - fen —
C. Lödde Lö - fel — Reide — —
D. Mebbl Le - fe } Mebm R-ei-fe +
E. Löffl — — — 0
F. — — 0 — — 0
G. Lägge Lö - fel — Reipm Reiwen —
H. Läfde — — Reifen _ —
L — — 0 — — 0
J. Lhöffel ! —! 0 — | — ! Rh 0
K. — — 0 _ — 0
L. Leffle | Löffl = Reife = =
Wort: Fahne Dach Wage
Zeit: |10. 5. 10/20. 6. 10112.1.12[10. 5. 10/20. 6. 10/8. 1. 1224. 5. 10| 13.9.10 [12.1.12
Kind: | |
À. Hame (Fah-ne| — chad | Dachd | — | Wawe; Wake —
B. œ œ — Dă ıDä-ch|i — | Wake — —
C. Fame |Fah-ne| — Dă Dă — | Wadel | Wa- ge —
D. Bahne | F, Fa F Dă |Da-ch| +t Wahe | Wa -ge i
E. — — 0 — — 0 — | - 0
F. _ 0 — | — 0 — — | 0
G. |Hahne | Fhane | — | chach |Da-ch| — | Wade jübtnoch g,k|Wa-ke
H. | Fahnö — — Dă |Da-ch| — œ — —
(dunkel)
$ —— — 0 Dä — 0 Hvase | — 0
J. JjFhahne! — 0 Gach | D, Da 0 Vhare | Wha-ghe.| 0
K. — — 0 == _ 0 Wach Wage- 0
| | wage...
L. Bane |F-ahne, — Dah |Da-ch! — [Waache] — —
Wort: Wagen Faden
Zeit: 28. 5.10 T7111 15. 1.12 2.6.10 24.6.10 15.1.12
Kind: |
A. Wadn Mare,Wa-ken — Haned, Ha-den Fafden —
B. œ — —— Fa - den = —
C. Wadn — — Fade Fa - den —
D. Magn t (81.8.10 f Baden Fafe (30.8.10) +
| Wa- gen) |
E. -= — 0 = — 0
F. _ 0 0 = re 0
G. Wachdn Wa -then | Waachen Hadn | Fha *) | Faten
H. Wagn _ _ — — —
I. Hvagn = 0 = A: 0
2 Whachn | — 0 Fhaden — 0
K. - = 0 = — | 0
L. — — — Hade Fanden —
*) h als Gleitlaut.
2*
20 A. Abhandlungen.
Wort: Leiter Deckel
Zeit: | 28.6.10 | 9.9.10 4.7.10 | 7.9.10 | 21.10.10 [19.1.12
Kind:
A. Heită Later — Ebbel Kedl De - ke —
B. Leită — — Dakl kel De - kel —
C. Leike — — Dedd& kel De - kel —
D. Heid Lei - ter t Dödd& g De - ge t
E. — — 0 — — — 0
F. — — 0 _ _ — 0
G. Leita Lei - ter — Dedd! k | kel =
H. Leiter Leiter — Dackel De - kel Deckel | Deckel
(dunkel) (dunkel) | (dunkel) |
I. — — 0 Kekel De - kel Deckl 0
J. Lheita ! Leiter- 0 Khekhel ! | Deckēl- Deckel- 0
leiter... . | deckäl... | deckel...
K. — — 0 Deckl De - kel — 0
L. Leita Lei - ter _ Deddl De - kel De - kel _
Wort: Tafel Tür
Zeit: 11.7.10 2.10.10 | 22.1.12 15.8. 10 6.12.10 22. 1.12
Kind: |
A. Habl | Fadel | — Kike r —
B. Dahlfel Tafe | Tafal — Tüa Tü - re —
C. Dafl Dafle — Dü Dü - re —
D. Babl Da - fe t Düa Dü - he +
E. — — 0 — — 0
F. — — 0 — — 0
G. Dawl Dabel — Düh Dü - he —
H. [Dafel (dunkel) Dafeel — Düah Tü - ree —
i; Daf! | Tafl 0 =- — 0
J. Dhafhel ! | Dafeldafel... 0 Thü ! Türetüre... | 0
K. Dadl Dafel 0 — o 0
L. Dafl Ta - fel — Tüar | Tü-re —
Wort: Tisch Trommel
Zeit: 18. 8. 10 6.9.10 | 26. 1.12| 22.8.10 21. 10. 10 26. 1.12
Kind: |
A. Dschidsch Di-sch | — Bomml Dēr - ommel | Dörommel
B. Di Di - sch — Gomml De&rommel —
C. Di Di - sch — Dumml Derommel =
D. Did Di - sch rt Bomml . ommel F
E. Dis Die - sch 0 — — 0
F. Dis Die - sch 0 — — 0
G. Dis Di - sch Tiesch Romml Rommel Rommel
H. Dis Di - sch — Sommeel Rommeel | — und
Zommel
I. Thisch ! — 0 Thrhomml ! | Thrommel ! 0
J. Thisch ! Thisch ! 0 Thrhomml ! | Thrommel ! 0
K. Dis — 0 Domml Derommel 0
L. Dis Di-sch | — Domm! Derommel —
Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 21
Wort: Trompete Reiter
Zeit: | 29.8.10 | 29. 11. 10 26. 1. 12 5.9.10 29.11.10 |29. 1.12
Kind: |
A. Bomkeene | De - rombede |Dörombede Heite Rei —
B. | Brombreede | Derom - bede | — Reita — —
C. Romlm |Derom-be-de — Reigar Rei - ter —
D. Bobeene om - be - de + Nader Rei - ter E
E. _ — 0 — — 0
F. — — | 0 — — 0
G. Romrede |Rom-be-de| Rompete Reidar Reite —
H. Dombeeder |De- rom-beda| — und —
| Zompete Reită Reitér
E Thromberhe — 0 Rheither ! — 0
J. Ghrombede | =! 0 Rheither ! (Reiter Reiter... 0
K. Dombde Durombede 0 Reitä Rei - ter 0
L. | Brombreede | Drom - bede | — Reită Rei - ter -—
Wort: Salz Schuh
Zeit: 16. 9. 10 25.11.10 | 29.1.12 3.10. 10 | 22.11.10 | 29.1.12
A. Sa Sal Sals Suh | — —
B. Sal Sals -= Suh | — k =
C. Sal Sal - s 5 Suh | — | =
D. Hads Hads, dsa, dsal T Duh | Duh +
E. = — | 0 Su | — NA)
F. 0 0 o Da Re: N 0
G. Hald Sal Salt Huh | Sch-huh | —
H. Sal Sals — Suh Sch | —
I. Sals | _ 0 0 0 0
T. Shals! | Salzsalz.... | 0 0 0 0
K. Salt Sals 0 0 0 0
L. Sals — — Suh — Suh
Kragen
Zeit: | 13.10.11 15.12.11 | 29.1.12 | 17.11.11 | 20.12.11 |30. 1. 12
Kind:
A. Gonn Dann Garin Gagn iGagen |K-ragen
B. Gran Gar -n — Gragren Gra - gen =
C. Gann Gar Gar-n Kagn Ka - gen —
D. Gag Ga-r t Găchn Ger - agen t
E. Garin — 0 — — 0
F. 0 0 0 0 0 0
G. Thann Ga -r Gann chache karen Drāchen
H. Gann Garin Gar-n Krachn Kra - gen —
L 0 0 0 0 0 0
J. 0 0 0 0 0 0
K. 0 0 0 0 0 0
L. Dran Ka, ra Darn Drāchn | Kra-ken p =
2 B. Mitteilungen.
Schleife
17.12.11
Wort: f; Schürze
20.12.11
21.11.11 28.11.11
Kind:
A. Dördsche | Schör-se | Schärze Heie eife —
B. Schatze Schür - ze — Lerfă Schuleife —
C. Sasse Bör - se u Lende Suleife —
D. Matze ü -ze t Meebe Sch - lei - fe t
E. Sörze _ 0 Sleife — 0
F. 0 0 0 0 0 0
G. Hatte ü Sür-se | Schirze Leibe eife Hleife
(Zunge hinten)
H. Sörsi Schür - ze — Leifă Sleife —
L 0 0 0 0 0 0
J. 0 0 0 0 0 0
K. 0 0 0 0 0 0
L. Sörze Sür - ze — Leife Schl - eife | —
(Schluß folgt.)
B. Mitteilungen.
1. Was uns allen dringend nötig ist!
Von Dir. Dr. H. Schmidt-Hainichen i. S.
Zur Abfassung folgender Zeilen veranlaßten mich Tatsachen, die ich
in unserm Öffentlichen Schulwesen seit längerer Zeit beobachte. Nicht nur
in meiner derzeitigen Stellung als Direktor eines größeren Schulwesens,
sondern auch schon früher in verschiedenen Stellungen als Lehrer und als
Besuchender an größeren und kleineren Schulen habe ich efnen Mißstand
bemerkt, der vermutlich so allgemein verbreitet ist, daß eine Abhilfe
dringend notwendig ist.
Es trägt sich wöchentlich mindestens einmal zu, daß mir Kinder zur
Bestrafung vorgeführt werden. Ich soll über sie schwerere Strafen ver-
hängen, für die der Lehrer entweder die Verantwortung ablehnt, oder die
ich ihm gar nicht zumuten will. Gewöhnlich handelt es sich um Sitt-
lichkeits- oder Eigentumsvergehen, Vagabundieren und Roheiten aller Art.
Ist der Knabe noch nicht 12 Jahre alt, erledigen sich diese Fälle dadurch
sehr rasch, daß ich in Gemeinschaft mit seinem Lehrer irgend eine päda-
gogische Strafe unter denen herausgreife, die uns vom Gesetze ganz deut-
lich vorgeschrieben sind, d. h. wir wägen sorgfältig ab nach Grund und
Fulge, Vergehen und Strafe, Veranlassung und Ausführung, wie es Mensch-
lichkeit und pädagogisches Gewissen fordern. Wir kommen so gewöhn-
lich auf eine erzieherische Strafe, von der wir einen günstigen Erfolg für
das sittliche Leben des Kindes erwarten. Eine gleichzeitige Mitteilung an
die Eltern verfehlt dabei ihren guten Zweck in den seltensten Fällen.
Der Strafweg unseres Sächs. Gesetzes umfaßt nach der Verordnung zu
$ 22 folgende Strafen, die wegen ihrer wohldurchdachten Anordnung und
erprobten Wirksamkeit hier aufgeführt sein mögen. Zulässige Strafmittel
in der Volkschule sind:
1. Was uns allen dringend nötig ist! 23
Erinnerungen und Verweise.
Vorhaltung im Beisein des Ortsschulinspektors, Direktors, des Lehrer-
kollegiums oder aller Schüler.
Anweisung von Strafplätzen oder Zurücksetzung in der Klassen-
ordnung.
Zurückbehalten und Nacharbeiten in der Schule.
Schriftliche Anzeige an die Eltern.
Nur nach mehrfach fruchtlos gebliebener Anwendung eines der vor-
genannten Strafmittel oder wegen frecher Widersetzlichkeit oder grober
Unsittlichkeit ist eine mäßige körperliche Züchtigung, aber stets nur in
angemessener, schicklicher und die Gesundheit nicht gefährdender Weise
gestattet. ;
Anders liegen die Dinge, wenn das Kind bereits über 12 Jahre alt
ist und es dem Gerichte oder der Polizei in die Hände fällt. Da
zeigt sich fast immer die Tatsache, daß Behörden, die eine Strafe für ein
Kind festsetzen sollen, gar kein Verständnis für pädagogische
Einsichten und erzieherische Erwägungen besitzen. Woher
sollten diese auch kommen? Der Vollstreckungsbeamte hat es meist
mit Dieben, Landstreichern usw. zu tun, also mit dem Abschaum der
Menschheit, bei denen vielfach gewiß Grobheit, scharfe Behandlung
oder Gewalt durchaus am Platze ist. Es fällt nun dem Beamten schwer,
dem Kinde und seinem Fehltritte gegenüber von seinen Gewohnheiten
beim Verhöre oder in der Behandlung abzuweichen. Vor allen Dingen
fehlt es ganz und gar an der Erkenntnis, daß die kindliche Lüge,
das Vagabundieren und die Diebereien anders zu beurteilen sind als beim
Erwachsenen; — und — sollten solche Erkenntnisse vorhanden sein, so
wird es von den Behörden meistens als sehr unbequem, ja vielfach als ganz
unmöglich empfunden, von ihrem gewohnten Schema in der Beurteilung oder
Strafe abzuweichen und pädagogischen Gründen Raum zu geben. Der
beste Beweis dafür ist mir die Tatsache, daß alle Anzeigen der Polizei
an die Schule ein- und dasselbe Gepräge tragen und u. a. nach Fest-
setzung des Tatbestandes alle mit der stehenden Formel schließen: »X. er-
klärt, er wisse, daß man nicht stehlen darf!« — oder: »der Knabe hat die
nötige Strafeinsicht !«
Dieser Umstand — nämlich die Strafeinsicht — spielt ja dabei für
die Strafbemessung eine bedeutende Rolle. Es soll z. B. einem 13jährigen
Knaben Begnadigung zuteil werden, nachdem er seit langer Zeit den so-
genannten Strafaufschub genossen hat. Man hat aber beobachtet, wie der
Knabe wieder seinen Nachbar in der Schule bestahl. Er hat IIIb in der
Gesamtzensur, ist zweimal sitzen geblieben und steht somit hinter seinen
l1jährigen Mitschülern geistig weit zurück. Der Lehrer müßte nun auf
die Frage nach der Strafeinsicht antworten: »Der Junge ist nach seiner
Begabung und seinem sittlichen Urteile und Willen noch nicht so reif wie
seine i11jährigen Mitschüler!« Statt dessen urteilt er: »Der Knabe kennt
das 7. Gebot, — er weiß auch, daß Diebstahl gerichtlich bestraft wird.«
Das weiß aber übrigens ein pfiffiger Sechsjähriger auch schon — und
niemand denkt daran, ihn verantwortlich zu machen, wenn er meinetwegen
24 B. Mitteilungen.
durch den Zaun kriecht und heruntergefallene Äpfel aufliest, um sie zu
essen. Das Mißverständnis liegt hier in der juristischen Ver-
wechslung von Strafeinsicht und sittlicher Reife. Die sogenannte
Strafeinsicht Jugendlicher ist oft nur ein wertloses Ergebnis ihres mecha-
nischen Gedächtnisses.
Nun ist es eine schwierige Sache, den Laien, Eltern und Bebörden
für solche pädagogischen Erkenntnisse ein Verständnis beizubringen, —
gewöhnlich lassen sie sich nicht überzeugen. Ja, sogar ältere Lehrer
kannten bei Vergehen von Kindern nur Prügel und eine harte Sitten-
zensur als ratio sufficientis. Dadurch kann aber kaum eine sittliche Besse-
rung erzielt werden. Auf Grund meiner pädagogischen Diagnose, ja schon
meinem Gefühle folgend, würde ich zu ganz anderen Maßnahmen greifen;
aber es gelingt nicht immer, eine gute Diagnose zu stellen, ja, es
ist oft ganz unmöglich.
Da steht einer vor mir, ein schmaler, blasser, abgelumpter Barfüßer.
Man hat ihn mir vorgeführt, weil er zum vierten Male beim Vagabun-
dieren erwischt wurde. Er antwortet mir auf meine Fragen trotzig, kurz
und gleichgültig. Es hat ihn diesmal sein Schicksal erreicht, als er auf
seiner Zigeunerfahrt im Garten eines Bauern seinen Hunger stillen wollte,
der sich nach dem weiten Morgenmarsche eingestellt hatte. Was ist zu
tun? — Der Besitzer und die benachrichtigte Polizei dringen auf Strafe.
Was tun? — Hiebe? Nein, das würde nichts helfen, denn sie haben be-
reits ihre Wirkung versagt. Der tiefer denkende Lehrer ahnt oft, daß in
dem Knaben Vorgänge sich abspielen, deren Art und Weise wir nicht im
entferntesten kennen. Warum vagiert der Knabe? Ein Direktor einer
Besserungsanstalt antwortete in einem solchen Falle: »Wenn alles nichts
nützt, kommt der Knabe in eine Besserungsanstalt! Was wollen Sie denn
weiter tun?« Es wurde ihm die treffende Antwort gegeben: »Ich suche
vor allen Dingen zu erforschen, warum der Junge vagiert!«!)
Damit bin ich am eigentlichen Sitze des Übels angekommen: wir
können keine genaue pädagogische Diagnose stellen! Es nützt
mir nichts, wenn ich über die Heldentaten des vagabundierenden Knaben
ein Aktenstück anlege und feststelle, daß er bereits viermal als Jandwirt-
schaftlicher Sommerarbeiter vermietet war. Erst die genaue und einwand-
freie Beantwortung der Frage, ob der Knabe durch die landwirtschaftliche
Lohnarbeit bildungsunfähig geworden oder in seiner sittlichen Entwicklung
gehemmt worden ist, gewähren die Möglichkeit, genaue Richtlinien für
Strafen zu geben, das pädagogische Gewissen zu schärfen und die Volks-
bildung und Volkssittlichkeit zu heben.
Ein Lehrer gab mir einst den Rat, doch den Schularzt darüber zu
befragen. Dieser war ehrlich genug, mir einzugestehen, er könne mir
nicht helfen. Die Regeln zur Festsetzung eines Krankheitsbildes für den
Körper sind übrigens auch andere als bei Krankheiten der seelischen Ent-
wicklung. Es ist z. B. ganz unmöglich, psychisch fehlerhafte Vorgänge zu
1) Vergl. Dr, A. Spitzner, Die pädag. Pathologie im Seminar-Unt. Gotha,
Thienemann, 1901. 8.10.
1. Was uns allen dringend nötig ist! 25
einheitlichen Gruppen zu verknüpfen, so daß jede Erscheinung auf einen
anderen Fehler im Gesamtbilde hinweist.- Das ist bei Kindern vollends
gar nicht möglich; da kann die Diagnose sich immer nur auf einen
hervorragenden Fehler beziehen, der bald mit diesem, bald mit jenem
anderen verbunden sein könnte. Am ersten könnte man eine gewisse
Sicherheit bei den Krankheitsbildern der eigentlichen Kinderpsychosen für
möglich halten. Allein auch diese zeigen eine so außerordentliche Ver-
schiedenheit der Symptome, daß ihnen nicht viel Vertrauen geschenkt
werden darf. Die Unsicherheit wird selbstverständlich noch viel größer,
wenn man in den Fehlersaal der heranwachsenden Jugend tritt, in welchem
jeder Patient sich gewissermaßen trotz seiner Fehler, die er mit anderen
Jugendlichen teilt, immer noch als ein Unikum darstellt.
Demnach ist eine der wichtigsten Aufgaben der angewandten psycho-
logischen Pädagogik, die Grundzüge zu einer einwandfreien, pädagogischen
Diagnose zu liefern. Das ist eine Aufgabe, die noch gelöst werden muß.
Sie ist leicht, wenn man sich hütet, das pädagogische Krankheitsbild mit
dem psychiatrischen zu verwechseln. Die Diagnose in der Psychiatrie
besteht nur aus Klassifikation. Gewiß ist in jeder Klassifikation auch
ein Stückchen Diagnostik enthalten; wenn ich weiß, zu welcher Klasse
ein pädagogischer Fehler gehört, habe ich damit schon ein gewisses Er-
kennungszeichen für andere; daneben ist die psychiatrische Diagnostik aber
überwiegend auch Symptomatologie.
Diese Bedeutung hat das Wort Diagnostik in der pädagogischen Patho-
logie nicht. Sie ist nicht damit erschöpft, daß ein hervorragender Fehler
als Sammelname für den ganzen Fehlerkomplex gefunden wäre, d.h. man
kann nicht aus einer einzigen Eigenschaft des Kindes ein Charakterbild
entwerfen. Sie darf ferner nicht aus dern äußeren Verhalten des Kindes
auf Feblerhaftigkeiten schließen, das hat keinen Wert für die pädagogische
Pathologie. Sie muß vielmehr ein Verfahren einschlagen, das schon überall
da angewendet wird, wo Beobachten und Denken, Erfahrung und Theorie zu-
sammenwirken, um den Tatsachenbestand nach seinem Ursprunge
und seiner Veranlassung zu verstehen. Die Tatsachen müssen vor allen
Dingen auf die psychischen Motive zurückgeführt werden, die uns die
wahren Anfangsursachen der Fehlerhaftigkeit in dem inneren Getriebe des
geistigen Geschehens anzeigen. Erst mit der richtigen Anwendung
und Verwertung des psychologischen Wissens hat man für eine Fehler-
gruppe diejenige Diagnostik gewonnen, die auch zur Erkenntnis für
jeden anderen Fehler aus derselben Familie hinreicht und befähigt. Es
handelt sich also nicht um ein Hineinzwingen eines Fehlers in eine
Schablone, sondern darum, die Differenzen zwischen der geistigen Gesund-
heit und den davon abweichenden Zuständen im Kinde, also das
Quantum seiner Bildsamkeit, zu bestimmen. Daraus erhellt
wieder, daß die pädagogische Diagnose unbedingt den Zusammenhang mit
der psychiatrischen und psychologischen Diagnostik wahren muß, wenn sie
in ihrem Gebrauche auf einige Sicherheit rechnen will.
Zur Leistung dieser Arbeit gehört allerdings ein reiches, zu be-
arbeitendes Erfahrungsmaterial. Nur reich erfahrene Leiter von Erziehungs-
26 B. Mitteilungen.
heimen wie der Herausgeber dieser Zeitschrift — Schullehrer und -Leiter
lernen die Kinder nur sehr einseitig kennen —, denen die Vorgeschichte
aller ihrer Zöglinge bis ins Einzelne bekannt ist, können dieses Problem
sicher lösen. Es genügt uns Praktikern zunächst ein kleines Schriftchen,
das in wenig knappen Sätzen die Grundsätze der Theorie und
die Regeln ihrer praktischen Anwendung auf die abnormen Kinder
enthält.
2. Beobachtungen an schwachbefähigten Kindern bei
der Behandlung der Nibelungensage.
Von Fr. Rössel, Hamburg.
(Mit 7 farbigen Abbildungen [in Heft 2].)
Dieser Versuch wurde in Trüpers Erziehungsheim auf der
Sophienhöhe bei Jena ausgeführt.
Da in einer Anstalt die Erziehungsarbeit nicht mit dem Unterrichte
aufhört, sondern sich über den ganzen Tag erstreckt, war es möglich, im
Verkehr mit den Kindern beim Spiel, bei der Arbeit, auf Spaziergängen,
bei Tische und im Schlafsaal die einzelnen Naturen von allen Seiten ge-
nau kennen zu lernen. Deshalb konnten auch die Äußerungen der Kinder
auf ihren Wert hin genau kontrolliert werden, und ein Hineintragen von
Inhalt seitens des Lehrers war weit mehr ausgeschlossen, als es unter
anderen Umständen hätte der Fall sein können.
Die Klasse vereinigte die in der Anstalt vorhandenen Schwachbefähigten
in sich und war innerhalb des Klassenaufbaues die intellektuell am tief-
stehendste. Denn bekanntlich sind im Erziehungsheim Kinder aller In-
telligenzgrade vorhanden bis hin zu den Überbegabten, für die heute vielfach
(z. B. auf der Tagung des Bundes für Schulreform in Dresden) Sonder-
schulen gefordert werden. Diese Klasse bestand aus neun Kindern, acht
Knaben und einem Mädchen. Das Alter bewegte sich zwischen neun und
vierzehn Jahren. Die Gruppierung der Klasse war nach dem intellektuellen
Stande des Kindes erfolgt. Sie gehörten durchschnittlich zu den Imbezillen.
1. W. Sch., psychopathische Konstitution; er ist das einzig lebende
Kind von 13 Geschwistern; ein guter und lieber Knabe.
2. W. N., debil; rechtsseitige Lähmung, schreibt und zeichnet mit der
linken Hand. Er ist aufgeweckt und trotz seiner Lähmung geschickt.
Seine Charaktereigenschaften lassen mitunter zu wünschen übrig.
3. W. J., imbezill; besonders stark treten Hemmungen auf. Gutmütig,
doch mitunter auch jähzornig.
4. N. St., Imbeziller leichterer Art; behaftet mit starken nervösen
Störungen auf motorischem Gebiete. Er ist beständig in Bewegung.
5. F. v. R, »ein Musiksimpel und Schwätzer«; imbezill; passive Natur.
6. St. Kl., imbezill; Neigung zu Hemmungen; ein stiller und zu-
friedener Knabe.
7. 0. B., imbezill; zeigt hysterische Züge; sehr pedantisch.
8. H. Spr, stark imbezill; Neigung zu ideenflüchtigem Geplauder; im
Verkehr mit seinen Kameraden oft zänkisch und unverträglich.
2. Beobachtungen an schwachbefähigten Kindern usw. 27
9. A. Br.; ein imbezilles Mädchen, mongoloider Typus; ein stilles und
gutmütiges Kind mit guten Charaktereigenschaften.
Alle Kinder zeigten im allgemeinen ein geordnetes und regelmäßiges
Betragen und bewegten sich auf günstigen Entwicklungsbahnen.
Die Örtlichkeit der Geschichte war bald gefunden. In der Um-
gebung stehen verschiedene Burgen, die wiederholt das Ziel unserer Nach-
mittagsausflüge waren. Hier sahen wir die dicken Burgmauern von denen
Siegfried eine beim Wettkampfe durchwarf, den hohen Bergfried, auf dem
der Wächter saß und das Kommen von Fremden anmeldete, die Burg-
gräben, über die die Zugbrücke ging, im Tale unten die Wiesen, die
Felder, den Fluß. Der Heimweg führte uns oft durch einen dichten
Wald, in dem die Waldschmiede stand, auch eine Waldwiese war bald
gefunden, auf der der Wettlauf zwischen Siegfried und Hagen stattfand
und auf der Siegfried den Tod erlitt. In kurzer Zeit war reges Interesse
geweckt. Die geringe Anzahl der Kinder ermöglichte eine Aussprache aller,
und da der Lehrplan nicht zum Hasten drängte, kamen oft lebhafte und
interessante Gespräche zustande. Alles wollten sie wissen, z. B. von der
Ausrüstung Siegfrieds, von seinen Erlebnissen in der Schmiede, von dem
Kampfe mit der Brunhilde usw. Fragen wie: Wie groß war er? Wie
sahen seine Schuhe aus? Was war das für ein Stock, den er auf der
Wanderung trug? Hatte er auch eine Mütze? Wie breit war der Bach,
über den er springen konnte? Wie dick war die Burgmauer, die er mit
dem Stein durchwarf? Wie groß war Siegfried? War er so groß wie
Herr N? u. a. m. beweisen, wie sehr die Kinder damit beschäftigt waren,
sich ein möglichst klares Bild von den Gestalten und Vorgängen zu ver-
schaffen. Durch die Klarstellung solcher Fragen wird der Erwerb von Be-
ziehungsvorstellungen, die den meisten Imbezillen im großem Umfange
fehlen, wirksam gefördert. Da die Beziehungsvorstellungen zu jeder
höheren psychischen Tätigkeit unbedingt notwendig sind, wurden solche
Fragen eingehend besprochen, und die Maßverhältnisse an bekannten Per-
sonen und Sachen eingehend erläutert. Fleißiger Gebrauch der Kreide,
vor allem seitens der Kinder, bot eine wirksame Unterstützung bei der
Klärung dieser Vorstellungen. Auch das Modellieren und Zeichnen wurde
in weitgehendstem Maße hierzu herangezogen. Wir formten Hammer.
Amboß, eine Waldschmiede, Helme, Schwerter, Schmuckgegenstände aus
dem Nibelungenschatze (Ringe, Armspangen, Kronen), Kähne, Schiffe,
Türme u.a.m. Bald kamen auch die Knaben und wollten Holzschwerter.
Selbstverständlich wurden sie hergestellt, und zwar soweit es ging durch
die Kinder selbst. Schilde verfertigten sie sich aus Pappdeckeln, Helme
aus starkem Papier, Lanzen waren ebenfalls bald gefunden, und es dauerte
gar nicht lange, da hatte fast jeder eine vollständige Ausrüstung.
Im Zeichnen entstanden Serien von Bildern. Hier war ein Maßstab
gegeben, um zu sehen, wieweit die Kinder sich in die Situationen zu ver-
setzen vermochten. Die zeichnerische Begabung spielte dabei natürlich
eine große Rolle. Ebenso ist es ohne weiteres klar, daß der Grad des
Schwachsinns von grundlegender Bedeutung für den Ausfall der Dar-
stellungen war. Einige Kinder brachten sehr wirkungsvolle, plastisch
28 B. Mitteilungen.
wirkende Bilder, andere mußten erst ihre Zeichnungen erklären, ehe sie
zu verstehen waren. Mancher, der die letzteren sieht, wird geneigt sein,
sie als sinnlose Schmierereien zu betrachten, während doch bei genauerem
Zusehen ein Gedankeninhalt festzustellen ist. Kann aber aus der Dar-
stellung ohne weiteres oder durch mündliche Erklärungen erkannt werden,
daß das Kind den Kernpunkt der Aufgabe erfaßt hat, daß es sich bei
seiner Arbeit etwas gedacht hat, so ist die Zeichnung sowohl für das Kind
als auch für den Lehrer wertvoll. Es ist wichtig, daß durch solche Dar-
stellungen, auch durch Modellieren von Szenen, das Eindringen in die
sachliche Grundlage und in die Verarbeitung des Stoffes gezeigt werden
kann, weil die sprachlichen Äußerungen allein noch lange keinen Anhalt
für ein richtiges Verständnis abgeben.
Wiederholt wurden noch von den Kindern kleine individuelle Züge
angebracht, die im Unterricht keine Erwähnung fanden. Ein Knabe
zeichnete z. B. in ganz unbeholfenen Strichen die Waldschmiede Nun
hatte er gehört, daß es Siegfried in der Schmiede recht schlecht ging.
Dies spann er in seiner Phantasie weiter aus, und auf der Zeichnung sehen
wir Siegfrieds Bett unter der Treppe stehen, während der Meister und
die Gesellen im oberen Stockwerk in Zimmern schlafen. (Abb. 1.)
Nachdem die Kinder Siegfrieds Tod und Kriemhildes Trauer miterlebt
hatten, war die Gelegenheit günstig, durch ein Bild den Inhalt zu ver-
tiefen. Hier war die Einführung eines Bildes gerechtfertigt. Die sach-
liche Grundlage war vorhanden und die Personen waren ihrem Wesen
nach bekannt, so daß eine geeignete Grundlage für das Verständnis des
Bildes gegeben war. Es wurde das ausgezeichnete Bild von Emil Lauffer-
Prag: Kriemhilde an der Bahre Siegfrieds betrachtet. Der Inhalt der Bilder
wurde lebendig erfaßt. Die Kinder, nicht nur die besseren, sondern auch
die tiefer stehenden, fanden alle beteiligten Personen heraus. Auch Gunter,
Brunhilde, Ute, Gernot und Giselher, Gestalten, die nicht so hervortretend
wie Hagen und Kriemhilde dargestellt sind, wurden ohne Mühe erkannt.
Von jeder Person wußten sie etwas Charakteristisches zu sagen: Hagen
fürchtet sich nicht, er ist trotzig, Kriemhilde ruft ihm zu, du bist der
Mörder; ein stark Imbeziller sagte: ich weiß schon, König Gunter hat
Angst, er schämt sich vor seiner Schwester, deshalb versteckt er sich
hinter Hagen; Mutter Ute ist sehr erschrocken; Brunhilde denkt, jetzt ist
mein Plan in Erfüllung gegangen. Einer interessierte sich besonders für
das Schwert Balmung mit dem grünen Edelstein und ein anderer meinte,
der schöne Schmuck Kriemhildes wäre gewiß aus dem Nibelungenschatz.
Diese Äußerungen wurden ohne jede Hilfe gebracht. Sie dürfen des-
halb als ein günstiges Zeichen für das Eindringen in das Verständnis des
Stoffes angesehen werden.
Oftmals kann man bei schwachsinnigen Kindern die Beobachtung
machen, daß sie sich mit dem dargebotenen Stoffe abfinden, ohne nach
dem Fortgange zu fragen, ohne daß sich aus dem geweckten Gedankenkreis
Probleme ergeben. Aufzeichnungen sollen auch hier eine Abweichung
zeigen. Die Geschichte war fortgeschritten bis zum Aufbruch der Bur-
gunden von der Burg Pöchlarn nach dem Hunnenlande. Da wurde die
2. Beobachtungen an schwachbefähigten Kindern usw. 29
Frage gestellt: Was wollt ihr noch alles erfahren? Es kamen folgende
Antworten: Ob Kriemhilde den Hagen bestrafen wird? Wie es den Bur-
gunden im Hunnenlande gefallen wird? Wie es ihnen ergehen wird?
Ob sie doch noch nach Hause zurückkehren werden? Wie es dann weiter
geht? Ob Giselher die Dietelinde heiraten wird? Was das für ein Fest
sein wird? Ob es da auch sein wird wie bei der Doppelhochzeit in Worms?
Ob Rüdiger ein Schiff für die Rückfahrt über die Donau bauen wird?
Der handlungsreiche Stoff bot viel Gelegenheit zur Aufführung
von dramatischen Szenen. Die Burgunden sind auf ihrer Reise nach
dem Hunnenlande bis an die Donau gekommen. Hagen ruft dem Fähr-
mann zu: Ferge hol über! der Fährmann weigert sich. Es entspinnt sich
ein Zwiegespräch zwischen Hagen und dem Fährmann. — Zwei Knaben
führen dies auf. Der eine steht an der Tür, der andere an der gegen-
überliegenden Wand. Die Hände benutzen sie als Schalltrichter und nun
rufen sie sich mit lauter Stimme zu, was Hagen und Ferge miteinander
verhandeln. Oft ließen sich drei bis vier Szenen nacheinander darstellen.
Beim dramatischen Aufführen assoziieren sich die Vorstellungsreihen
mit Bewegungsvorgängen, und somit bekommt der Stoff einen viel festeren
Halt. Die Kinder sind in Tätigkeit, sie hören nicht nur die Geschichte,
sondern sie begleiten sie mit eigenen Erlebnissen. Natürlich bereiteten
derartige Veranstaltungen den Kindern große Freude, und die so ent-
standenen Lustgefühle gaben immer willkommene Impulse für die Ge-
dankentätigkeit.
Vorzugsweise wurden zur Darstellung Kinder mit Hemmungen und
solche mit Neigung zu ideenflüchtigem Geplauder herangezogen. Die ganze
Stimmungslage und das Milieu brachten es von allein mit sich, daß die
Kinder ohne Schwierigkeiten über ihre Hemmungen hinwegkamen, be-
sonders nachdem die kleinen Aufführungen zum ersten Male gelungen
waren. Die andere Gruppe war durch die Schaffung einer scharf be-
grenzten Situation gezwungen, sich auch an das inhaltlich Dazugehörende
zu halten. Die; äußeren Umstände und die Worte der Mitspielenden
gaben den eigenen Gedankenreihen die Stärke, die zur Unterdrückung ab-
schweifender Vorstellungen nötig war.
Die sprachliche Gestaltung des Stoffes bot überhaupt manches
Interessante, sowohl bei den denkend und sprachlich gehemmten Kindern
als auch bei den zur Ideenflucht neigenden. Die sachliche Grundlage, ge-
wonnen aus heimatlichen Vorstellungen und durch eigene Tätigkeit, die
Handlung, die sie ebenfalls vielfach mit eigenen Handlungen begleiten
konnten, brachten die Vorstellungen in Bewegung und lösten die schwer-
fällige Zunge. Alles drängte dahin, selbst davon zu erzählen. Mit Lob
wurde nicht gespart, es stärkte die Lustgefühle und weckte das Selbst-
gefühl. Die Hemmungen wurden so überwunden und die Ängstlichkeit
schwand mehr und mehr. Ein Knabe mit sehr starken Hemmungen war
für gewöhnlich nicht dazu zu bringen, daß er in Gegenwart von Fremden
auch nur ein Wort sprach. Bei der Nibelungengeschichte kam es mehr-
fach vor, daß er in Anwesenheit von Hospitanten große Abschnitte, ohne
zu stocken, wiedererzählte. (Schluß folgt.)
30 B. Mitteilungen.
3. Zum Problem des Sprachverständnisses.
Von J. Heidsiek - Breslau.
1. Geschichtliches. Von Zeit zu Zeit berichten die Tagesblätter
über Personen, die infolge eines Unfalls oder eines heftigen Schrecks
plötzlich die Fähigkeit zu sprechen einbüßten. Im Jahre 1861 unter-
breitete Broca der Société anatomique zu Paris zwei derartige Fälle, aus
deren Sektionsbefund der verdienstvolle Forscher glaubte schließen zu
dürfen, die Fähigkeit zum artikulierten Sprechen sei an die Unversehrtheit
der dritten linken Frontalwindung gebunden. Broca bezeichnete diese
Sprachstörung als Aphemie, hat, soviel ich weiß, den Ausdruck Aphasie
niemals gebraucht und auck an keiner Stelle die Vermutung ausgesprochen,
seine Patienten könnten die motorischen Sprachvorstellungen eingebüßt
haben. Auf diese unglückliche Idee kam erst Wernicke (1874), dessen
Patienten sich umgekehrt verhielten, die bei erhaltenem Ausdrucksvermögen
die hörbare Rede nicht verstanden, trotzdem ihr Gehör scheinbar ein
normales war. Da der nachträglich gefundene Hirndefekt sich seiner topo-
graphischen Lage nach nicht deckte mit der von Broca festgestellten Läsion,
so glaubte Wernicke ein neues Sprachzentrum aufgefunden zu haben, und
zwar einen Hirnbezirk, an dem die Sprachklänge haften sollten. W. be-
zeichnete diese Störung als sensorische Aphasie, im Gegensatz zu
Brocas Aphemie, die von jetzt ab als motorische Aphasie angesprochen
wurde. Die Störungen im Ausdruck sollten auf den Verlust der Sprech-
bewegungsvorstellungen, die Störungen des Sprachverständnisses auf
den Verlust der Sprachklänge zurückzuführen sein.
So hatte man zunächst wenigstens zwei Sprachzentren, ein sensorisches
und ein motorisches, ein Sprach- und ein Sprechzentrum, ein Zentrum für
das Sprachverständnis, ein anderes für den Sprachgebrauch. Damit war
nun auch die Jagd auf die Entdeckung weiterer Sprachzentren eröffnet,
ein lustiges Treiben begann, und es ist gar nicht abzusehen, zu welchen
Überraschungen diese ergötzliche Passion noch führen kann. Lichtheim
konstruierte ein wunderschönes Schema, dessen symetrischer Wohlgestalt
zuliebe die Zahl der Aphasien im Handumdrehen um ein halbes Dutzend
sich vermehrte. Man beobachtete, daß schwere Sprachstörungen meist
Schreib- und Lesestörungen im Gefolge haben. Und schon waren auch
die noch fehlenden Zentren da. Hier haben sich die Sprachklänge
»etabliert«, dort sind die Sprechbeweguggsvorstellungen »deponierte;
drüben »lagern« die optischsensorischen Schriftbilder, nicht weit
davon findet man das »Magazin« der Schreibbewegungsvorstellungen.
Die verschiedenen »Sprachkomponenten« sind so sauber geordnet, wie
die Medikamente in der Apotheke, und diese Komponenten bewegen sich
auf den Linien des Schemas, wie die Puppen im Marionettentheater an
ihren Drähten. Mit der Geschicklichkeit fixer Jongleurs hantiert man
mit den Sprachzentren, so daß es dem Leser sprachpathologischer Schriften
nur so vor den Augen flimmert. Auf Grund zauberhafter Schemata werden
Sprachstörungen postuliert, die niemals zur Beobachtung kamen; aber die
unglücklichen Kranken, die meist infolge eines Schlaganfalles die Sprache
3. Zum Problem des Sprachverständnisses. 31
einbüßten, werden solange inquiriert, bis man das sehnlichst Gesuchte glaubt
gefunden zu haben. Man durchwühlt das Gehirn, rückt der Seele brutal
auf den Leib und übersieht, daß bei diesem Übereifer aller Sinn für
psychologische Denkweise in die Brüche geht. Mit heißem Bemühen sind
die Psychologen und Pädagogen den munteren Schritten der Hirnphysiologen
gefolgt, sie haben sich mit einem wahren Heißhunger über ihre zahlreichen
Publikationen hergemacht, aber die Ausbeute ist eine derartig geringfügige,
daß alles Vertrauen zu dieser neuen Wissenschaft so gut wie dahin ist.
Treffend sagt Hellpach in seinen Grenzwissenschaften der Psychologie:
»Über die Frage des Verhältnisses zwischen Psychologie und
Gehirnanatomie herrscht ein völliges Chaos. Es sind nicht einmal
zwei Gegenparteien mit scharf umrissenen Standpunkten vorhanden,
sondern jeder einzelne beinahe gibt eine andere Antwort, vertritt eine
besondere Schattierung.« Heute ist in Fragen der Lokalisation der Wirr-
warr so groß, daß man sich nicht nur streitet über die topographische
Lage der verschiedenen Zentren, sondern auch darüber, welches denn
eigentlich die sensorischen und welches die motorischen sein könnten, ob
diese beiden Arten von Zentren nebeneinander oder übereinander geschichtet
gedacht werden müssen, ob beide für unser geistleibliches Dasein von
gleicher Bedeutung sind, oder ob sie ihrem Werte nach verschieden ein-
zuschätzen seien. Dieser Streit wird fortbestehen, solange man nicht ein-
sieht, daß es sich nur um ein Spiel mit Worten handelt, solange man die
Ausdrücke »sensorisch« und »motorisch« kritiklos verwendet, ohne klare
Begriffe damit zu verbinden, ohne sich zu vergegenwärtigen, daß es weder
rein sensorische noch rein motorische Bewußtseinsinhalte gibt, daß dagegen
alles Leben aus einer Summe sensomotorischer Akte besteht, die sich kon-
stituieren aus Reiz und Reaktion.
2. Das Verständnis für Naturlaute. Die Natur ist nicht stumm,
sondern die Dinge der Außenwelt haben ihren Eigenton, durch den sie
sich uns auf die mannigfachste Weise bemerkbar machen, so daß wir be-
haupten können, in gewissen Grenzen und im weitesten Sinne des Worts
ein Verständnis für die Stimme der Natur zu haben. Je nach Art der
wahrgenommenen Töne und Geräusche sehe ich im Geiste kosende Tauben,
quakende Frösche, Hunde, Ziegen, bewegte Baumkronen, Wagen oder
Schlitten, ein Klavier, eine Geige usw. Mit diesen Sachvorstellungen
tauchen im Bewußtsein des Normalsinnigen nicht selten auch die ent-
sprechenden Begriffswörter auf; allein notwendig ist dies nicht, denn an
uns selbst können wir beobachten und an Kindern und Sprachkranken
nachweisen, daß das Verständnis für Naturlaute unabhängig von der Sprache
bestehen kann, daß sich Begriffe ohne Worte bilden und behaupten.
Dies Verständnis für Naturlaute erwirbt sich der Mensch auf dem
Wege der Erfahrung und zwar so, daß er sich auf allen Stufen der Ent-
wicklung durch den Augenschein zu überzeugen sucht, woher die frag-
lichen Gehörseindrücke kommen und in welchem Zusammenhang sie zu
den Dingen der Außenwelt stehen.
Das Hörvermögen oder die Empfänglichkeit für akustische Eindrücke
ist zwar eine angeborene Fähigkeit und als solche weder lehrbar noch
32 B. Mitteilungen.
lernbar; aber zu einem Zeichen oder Merkmal für den horchenden Geist
wird das akustische Phänomen erst dadurch, daß es in assoziative Ver-
bindung tritt mit dem Träger oder Erzeuger des Gehörten. Fragen wir
also nach den Bedingungen, unter denen von einem Verständnis für Natur-
laute geredet werden darf, so lautet die Antwort: wenn wir hörbare Ein-
drücke auf ihre Quelle zurückführen können; wenn Naturlaute zu Begriffs-
zeichen geworden sind und in uns Bilder wachrufen, zu denen das
akustische Ereignis eine Teilvorstellung bildet.
Wo das hier beschriebene Verständnis für Naturlaute fehlt, wo zwar
gehört, das Gehörte aber nicht gedeutet werden kann, da reden wir von
Seelentaubheit.
3. Das Verständnis für musikalische Klänge. Nur der Voll-
ständigkeit halber sei auch jener Klasse schallhafter Reize gedacht, die wir
als musikalische Klänge bezeichnen, und die dem Menschen den ersten
ästhetischen Genuß bereiten. Das Kind auf vorsprachlicher Stufe ergötzt
sich bereits an den Weisen der Spieluhr, es unterscheidet Musik von
andern Gehörseindrücken und richtet seine Aufmerksamkeit bald auf jenen
Kasten, dem erfahrungsgemäß die melodischen Töne entqueilen. Und diese
Tonfolgen selbst wirken derart anregend auf den motorischen Apparat
des Kindes, daß es sich vergnügt im Kreise dreht und den Takt der
Musik durch rhythmische Bewegungen andeutet und begleitet. Außerdem
dürfte es fast die Regel sein, daß sprachlose Kinder schon harmonische
Tonfolgen produzieren, und jene pathologischen Fälle, in denen Personen
gewisse musikalische Fähigkeiten bekunden, obwohl sie weder Sprache
verstehen noch sprechen gelernt haben, zählen zu den allerbekanntesten
und sind in Taubstummen-Anstalten durchaus keine Seltenheit.
Wo aller Sion für Harmonie und für den Wohlklang musikalischer
Intervalle fehlt, da reden wir von Amusie.
4. Das Verständnis für Sprachlaute. Sämtliche Schallgattungen
des menschlichen Stimmapparates als Singen, Sprechen, Flüstern, Lachen,
Weinen, Schreien, Niesen, Husten usw. lassen sich insofern als Naturlaute
ansprechen, als wir den Menschen in konkreto und in abstrakto an seiner
Stimme erkennen und ihn von allen anderen tönenden Wesen mit fast
absoluter Sicherheit unterscheiden. Den vornehmsten Gebrauch macht der
Mensch jedoch von seiner Stimme, sobald er sie zwecks Gedankenäußerung
zu artikulierten Lauten moduliert. In diesem Augenblick hört seine
Stimme auf, bloß Naturlaut zu sein, sondern sie wird gleichzeitig zum
Ausdrucksmittel und zum Offenbarungswerkzeug geistiger Vorgänge.
Wenn nun von den Hirnphysiologen und von den Wortführern auf
dem Gebiete der Sprachpathologie behauptet wird, Naturlaute und Sprach-
laute seien in gleicher Weise geeignet, Bedeutungsinhalte oder Sach-
vorstellungen in uns wachzurufen, es seien beispielsweise zum Verständnis
des Wortes »Glockes und des Klanges der Glocke durchaus übereinstimmende
psychophysische Prozesse erforderlich, so handelt es sich bier meines Er-
achtens um einen Irrtum, der für das Problem des Sprachverständnisses
und damit für die ganze Lehre von den zentralen Sprachstörungen ver-
hängnisvoll geworden ist. Die einfachsten Erwägungen führen dahin, daß
4. Zeitgeschichtliches. 33
Naturlaute und Sprachlaute ihrem Wesen und ihrer Wirkung nach ganz
verschieden zu bewerten sind. Der Klang gehört zur Glocke, wie Duft,
Farbe und Form zur Rose gehören. Im Naturlaut treten die Dinge selbst
an uns heran; im Klange präsentiert sich unserem Ohr die Glocke von
einer Seite, die zum Wesen der Glocke selbst gehört. Sprachlaute dagegen
sind rein symbolischen Charakters, ihnen fehlt jede Wesensverwandtschaft
mit dem, was sie zu bezeichnen berufen sind. Naturlaute gehören der
Außenwelt an, Sprachlaute der Innenwelt. Mit Ausnahme von einigen
tierischen Stimmlauten, die wir einigermaßen nachzubilden vermögen, ver-
halten wir uns den Naturlauten gegenüber passiv, den Sprachlauten gegen-
über aktiv. Naturlaute verstehen wir unmittelbar; sie rufen Sachvorstellungen
in uns wach, so wie sie auf uns eindringen. Diese Zauberkraft wohnt
den konventionellen Sprachlauten nicht inne; sie sind vermittelnde Symbole,
die als solche gelernt und verstanden werden müssen. Naturlaute
sind relativ einfache und monotone akustische Signale, die uns nur wenig
besagen und die im eigentlichen Sinne des Wortes nicht gelernt zu werden
brauchen. Der Sperling schwadroniert überall in derselben Tonart, und
überall wird er au seiner Stimme erkannt. Der einfache Satz aber: »Die
Spatzen machen heute wieder einen Heidenlärm«, besagt demjenigen, der
die deutsche Sprache nicht kennt, rein gar nichts. Stellt man aber diesen
Satzklang jenen Schallgebilden gegenüber, an denen alle Menschen den
Sperling erkennen, so gehören wahrlich keine physikalischen Kenntnisse
dazu, um einzusehen und zu begreifen, daß hier jeder Vergleich so
gut wie unmöglich ist. Für das Heulen des Windes, für das Bellen des
Hundes und andere Naturlaute seiner Umgebung hat darum der Eskimo
und der Südseeinsulaner das gleiche Verständnis wie der gebildete Europäer;
die Worte »Sturmgebraus«e, »Hund« und »Hundegebell« versteht jedoch
nur derjenige, der mit der deutschen Sprache vertraut ist. Zum Ver-
ständnis der Sprache gehört demnach mehr als zum Verständnis von
Naturlauten. Diese nüchterne Wahrheit findet die Zustimmung aller
Sextaner, sie steht jedoch in Widerspruch zu einer herrschenden Lehre,
und darum sind zur Klärung des Sachverhalts eingehendere Betrachtungen
erforderlich. (Forts. folgt.)
4. Zeitgeschichtliches.
Die Teilnehmer an den pädagogischen Übungen des philosophischen Seminars
der k. k. Universität Graz haben im Einverständnis mit Professor Dr. Martinak
an Dr. Fr. W. Foerster in Zürich aus Anlaß des ihm zugefügten Unrechts, das
ihn zur Niederlegung seiner Lehrämter bewog, eine Vertrauenskundgebung gerichtet.
Eine »Faculte& internationale de pedologie«, begründet von Fräulein
Dr. Ioteyko, wird im November in Brüssel eröffnet. Die Studiendauer ist auf
3 Jahre berechnet. Das dritte Studienjahr soll den Vurbereitungen zur Erwerbung
des »docteur en sciences pedologiques« dienen.
In Wien werden vom Oktober 1912 an Fachkurse für Volkspflege für
Frauen und Mädchen abgehalten. Dauer der Kurse: 2 Jahre. Zuschriften an:
Ilse von Arlt, Sechshauserstraße 27, Wien XIV.
Ein Ausbildungskursus für Jugendvereinsleiter findet Ende Sep-
tember und Anfang Oktober in Hamburg statt. Anfragen an das Bureau für Jugend-
wohl und Kinderschutz, Hamburg, Stadthausbrücke 11.
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 3
34 B. Mitteilungen.
Es sei nochmals hingewiesen auf den III. Deutschen Jugendgerichtstag,
der vom 10.—12. Oktober in Frankfurt a. M. stattfindet. Von Referenten seien
genannt: Foerster (Zürich), Freudenthal (Frankfurt), Graf Gleispach (Prag),
Allmenröder (Frankfurt), Backhausen (Hannover). Anmeldungen und Zu-
schriften an die Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge, Berlin C. 19,
Wallstraße 89.
Auf dem ersten internationalen Kongreß für christliche (katholische)
Erziehung, der vom 8.—11. September 1912 in Wien tagte, sprach u. a. Seminar-
Oberlehrer Habrich (Xanten) über Experiment und Spekulation in der pädagogi-
schen Psychologie, Prof. P. Theodore Kost, S. V. D. (Mödling bei Wien) über
das Bildungs- und Erziehungswesen der katholischen Missionen.
Ein internationaler Kongreß für Neurologie, Psychiatrie und
Psychologie findet 1914 in Bern statt.
Für den nächsten Verbandstag des Verbandes der Hilfsschulen
Deutschlands wurde vorläufig folgende Tagesordnung aufgestellt: in der Vor-
versammlung werden erörtert »Die soziale Fürsorge für die schulentlassenen Hilfs-
schüler«e und »Das Heimatprinzip im Hilfsschulunterricht« (anderweitige Thema-
stellung vorbehalten), in der Hauptversammlung »Der erworbene jugendliche
Schwachsinn«, » Wichtige Fragen der Hilfsschulorganisation« und »Maßnahmen für
die Kinder, welche auch die Hilfsschule nicht ausreichend zu fördern vermag«.
Der preußische Minister des Innern hat eine neue Verfügung über Für-
sorgeerziehung erlassen (vom 19. Juni 1912), nach der die Einleitung der F.-E.
nicht durch bereits vorliegende Verwahrlosung bedingt sein muß. Es braucht nur
die Gefahr der Verwahrlosung vorzuliegen (z. B. verwerflicher Lebenswandel der
Mutter usw.). Auch bei Kindern, die durch das Zusammenleben mit ihren sitten-
losen oder verbrecherischen Eltern der Verwahrlosung ausgesetzt sind, kann die
F.-E. eingeleitet werden, wenn besondere erziehliche Maßnahmen geboten erscheinen,
wenn die armenrechtliche Unterbringung die Kinder dem schädlichen Einfluß der
Eltern nicht entziehen würde und wenn bei über l4jährigen die Hilfsbedürftigkeit
infolge der Erwerbsfähigkeit ausgeschlossen ist. Es wird noch besonders darauf
hingewiesen, daß auf wirtschaftlicher Notlage der Eltern beruhender drohender
Verwahrlosung in erster Linie durch ausreichende Unterstützung seitens der Armen-
verwaltungen vorgebeugt werden soll. Wesentlichste Aufgabe des Eingreifens muß
es immer bleiben, eine geordnete Erziehung herbeizuführen.
Das österreichische Kultusministerium hat an alle Landesschulbehörden
einen Erlaß betreffend die Unterweisung der Lehramtszöglinge über die
Alkoholfrage gerichtet. Die Unterweisung hat in der Somatologie und in der
Schulhygiene zu erfolgen.
Nach einem von der russischen Duma angenommenen Gesetzentwurf soll in
allen russischen Mittelschulen Antialkoholunterricht erteilt werden.
Dem psychoneurologischen Institut in St. Petersburg ist ein Institut zum
Studium des Alkoholismus angegliedert worden.
Das Heilerziehungsheim der Deutschen Zentrale für Jugend-
fürsorge in Templin (Mark) nimmt Knaben im Alter von 8 bis zu 15 Jahren
gegen ein monatliches Pflegegeld (einschließlich Schulgeld) von voraussichtlich
60 Mark auf. Freistellen sollen mit der Zeit nach Möglichkeit geschaffen werden.
Der Aufnahme geht eine psychiatrische Untersucbung in Berlin voraus. An-
meldungen mit Lebenslauf und Krankheitsbericht des Kindes sind zu richten an die
Geschäftsstelle der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge, Berlin C. 19, Wallstr. 89.
Ferienklassen, in denen die Kinder, die nicht in Ferienkolonien unter-
gebracht sind, spielen oder spazieren gehen, sind in Genf eingerichtet.
In Waldenburg (Schlesien) ist ein Nachtasyl für schwächliche
Arbeiterkinder eingerichtet, denen es im Elternhause an gesunden Schlafräumen
fehlt. Die Kinder erhalten zugleich Abendbrot und erstes warmes Frühstück.
Von der städtischen Armenpflege ist in Nürnberg eine Kindergarten-
schule im Armenhause begründet worden.
4. Zeitgeschichtliches. 35
Einen Schulausflug, bei dem Alkohol getrunken werden muß, soll man
in einer Gemeinde nahe Pforzheim veranstalten. Wenigstens bewilligte der Ge-
meinderat die Mittel dazu nur unter der Bedingung. nachdem zuvor ein Schulausflug
ohne Alkoholgenuß stattgefunden hatte und sehr schön verlaufen war. Wann wird
die Kunde von der Schädlichkeit jeglichen Alkoholgenusses für Kinder bis in diese
entlegene Gegend gedrungen sein ?
Als einzige Möglichkeit, das Übel des Kinematographenschundes an der
Wurzel zu fassen, empfiehlt der preußische Minister des Innern, von Dailwitz,
Jugendliche ausschließlich zu besonderen Jugendvorstellungen zuzulassen, ihnen aber
den Besuch von sonstigen Vorstellungen in Begleitung Erwachsener usw. in keinem
Falle zu gestatten.
In Hagen i. W. soll im Oktober ein Reformkino gegründet werden. Ein
Verein für wissenschaftliche und unterhaltende Kinematographie hat die Sache in
die Hand genommen; Kirchen- und Schulbehörden bringen dem Unternehmen ihr
Interesse entgegen.
Die Gemeindevertretung von Eickel (Ruhrkohlenrevier) beschloß einstimmig,
ein Kinematographentheater einzurichten und zu betreiben, um so erfolgreich
gegen den Kinoschund und -schmutz zu wirken.
Aus Anlaß des Festes des 100jährigen Bestehens der Firma Krupp in Essen
wurden Stiftungen in Höhe von 14 Millionen Mark ins Leben gerufen. Es be-
finden sich darunter 500000 Mark zur Erleichterung der Unterbringung von Frauen
und Kindern in den Kruppschen Kranken- und Erholungshäusern. 500000 Mark
für die Stadt für allgemeine Wohlfahrtszwecke, wobei an die Schaffung eines
größeren Sport- und Spielplatzes für die Essener Jugend gedacht ist (doch
kann die Stadt auch andere Vorschläge machen!), die Zinsen von 500000 Mark, um
Essener Bürgern, insbesondere auch ihren Frauen und Kindern, die Aufnahme in
die städtischen Krankenhäuser durch Gewährung von Freibetten und auf andere
Weise zu erleichtern.
Stiftungen, Geschenke usw.: Für kranke Kinder der Stadt Würzburg
100000 Mark; für die Kleinkinderschule in Eltville 25000 Mark; für kranke und
erholungsbedürftige Kinder unbemittelter Eltern in Mülheim 10000 Mark; die
gleiche Summe für den gleichen Zweck in Parchim; je 1000 Mark für eine Milch-
spende und für die Kleinkinderbewahranstalt in Freiberg; aus Anlaß des Kaiser-
besuches in Dresden planen die städtischen Kollegien die Stiftung eines Fonds von
50000 Mark, der jährlich um 30000 Mark erhöht werden und außer für die Ver-
besserung der Wohnungsverhältnisse für die Einrichtung von Spielwiesen dienen soll.
Der Verein abstinenter Philologen deutscher Zunge hat einen Schriftenzettel
über Veröffentlichungen zur Frage »Alkohol und Jugend« neu heraus-
gegeben. Er kann bezogen werden vom Schriftführer des Vereins: Professor Dr.
R. Ponickau, Leipzig-Gohlis, Cöthenerstraße 52.
Im Verlage von Carl Marhold in Halle a. S. erschien aus Anlaß des All-
gemeinen Fürsorgeerziehungstages in Dresden (23.—25. Juni 1912) eine ausführliche
Darstellung der »Deutschen Fürsorgeerziehungsanstalten«e. Der erste Band
umfaßt 725 Seiten mit 732 Abbildungen, Plänen und Grundrissen und kostet in
Halbfranz gebunden 30 Mark. Herausgegeben wird das verdienstvolle Werk von
Direktor Pastor Seiffert in Straußberg.
In unserer Sammlung »Beiträge zur Kinderforschung und Heil-
erziehung« (Langensalza, Hermann Beyer & Söhne [Beyer & Mann]) sind in
letzter Zeit u. a. folgende Hefte erschienen: Ludwig Singer, Geschichte der
österreichischen Schulreform (26 S., 40 Pf.); Marx Lobsien, Über den
Einfluß des Antikenotoxin auf die Hauptkomponenten der Arbeits-
kurve (28 Seiten, 45 Pf.); Richard Schauer, Beobachtungen über die
typischen Einwirkungen des Alkoholismus auf unsere Schüler (27 S.,
45 Pf.); G. Anton, Über die Formen der krankhaften moralischen Ab-
artung (18 S., 30 Pf.); Adolphe Ferrière, Biogenetik und Arbeitsschule
(72 8., 1,60 M).
3*
36 C. Zeitschriftenschau.
Die Zeitschrift für Lichtbilderei und Kinematographie »Bild und Film«
(Verlag der Lichtbilderei G. m. b. H. in M. Gladbach), die sich in kurzer Zeit durch
ihr energisches Eintreten für eine Kinoreform große Sympathie erworben hat,
wird vom 1. Oktober an monatlich erscheinen. Schon um der dadurch erreichten
schnelleren Berichterstattung willen (z. B. über die Filmzensur) ist das aufs leb-
hafteste zu begrüßen.
Die Herausgeber und der Verlag (B. G. Teubner) des »Säemann« haben ähn-
lich unseren »Beiträgen zur Kinderforschung und Heilerziehung« zur Publikation
größerer Beiträge eine Sammlung von »Säemann-Schriften« ins Leben gerufen.
Es erschienen bisher: Kosog, Unsere Rechtschreibung und die Notwendigkeit ihrer
Reform; Potpeschnigg, Aus der Kindheit bildender Kunst; Reichhold, Archi-
tektur und Kunsterziehung.
Der Vortrag von Dr. Mönkemöller über die Psychopathologie der
Pubertätszeit, der am 24. Juni 1912 auf dem allgemeinen deutschen Fürsorge-
erziehungstag gehalten wurde und dort großen Anklang fand, erscheint außer als
Abhandlung in diesem Heft gleichzeitig auch als Heft 104 der »Beiträge z. Kinder-
forschung und Heilerziehunge im Verlage von Hermann Beyer & Söhne (Beyer
& Mann) in Langensalza. 29 S. Preis 50 Pf.
Druckfehler-Berichtigung: Auf Seite 542 und entsprechend vorn im
Inhaltsverzeichnis sowie im Inhaltsverzeichnis des ganzen Jahrgangs XVII der
»Zeitschrift für Kinderforschung«, S. VII, ist der Name des Oberarztes der Alster-
dorfer Anstalten bei Hamburg, Dr. med. H. G. W. Kellner, versehentlich falsch
gedruckt. Es muß heißen Kellner anstatt Keller.
C. Zeitschriftenschau.
I. Psychologie.
1. Ergebnisse der Beobachtungspsychologie.
Nieden, Kinderseelenkunde — Kinderpsychologie. Ihr Wesen, ihre Bedeutung
und ihre Erkenntnisquellen. Deutsche Blätter für erziehenden Unterricht. 39, 41
(5. Juli 1912), S. 409—412; 42 (12. Juli), S. 417—420.
Einige allgemeine Betrachtungen, die sich zum Teil gegen Übertreibungen und
Einseitigkeiten wenden. Sie betreffen zum Teil die Ausbildung der Kindergärtnerinnen.
(Verschiedentlich lassen sich Bedenken nicht unterdrücken.)
Queck-Wilker, Hanna, Ein erstes Lebensjahr. Deutsche Elternzeitschrift. III, 7
(1. April 1912), S. 105—109; 8 (1. Mai), S. 127—129; 9 (1. Juni), S. 141—144;
10 (1. Juli), S. 157—160; 11 (1. August), S. 173—176; 12 (1. Sept.), S. 189—192.
Beobachtungen an einem Kinde nach Tagebuchaufzeichnungen. Nach Monaten
angeordnet. Mit zahlreichen Abbildungen nach photographischen Aufnahmen.
2. Ergebnisse der Pathopsychologie und Psychopathologie.
Major, Gustav, Die Psyche der jugendlichen Verbrecher. Wissenschaftliche
Rundschau. 1912, 21 (1. August), S. 425—430; 22 (15. August), S. 445—452.
Im wesentlichen Mitteilung von zum Teil bereits früher veröffentlichten Kranken-
geschichten, die ziemlich zusammenhanglos aneinandergereiht sind.
Briefe über den Geruchssinn der Taubblinden. Evs. 8, 2 (April 1912), S. 121—128.
Briefe von Wilhelm Wade, Frau E. M. Barrett, Helen Keller und einer Taub-
stummenlehrerin, die die Ausbildung des Geruchssinns bei manchen Menschen,
namentlich den Taubblinden, behandeln.
C. Zeitschriftenschau. 37
II. Anormalenpädagogik.
1. Tatsachen.
Bratz, Was kann Erziehung gegen ererbte Anlagen erreichen? Zeitschrift für
Schulgesundheitspflege. 25, 7 (Juli 1912), S. 510—527.
Zum Teil auf eigene Beobachtungen und Untersuchungen gestützt. — Die er-
erbte Geistesverfassung des Menschen stellt sich als ein Mosaik dar, in das die Einzel-
teile aus den Erbmassen der Ahnen teils als kleinste Elementarstückchen, teils als
größere synthetische Komplexe im Erbgange auf verschlungenen Wegen gelangt
sind. Die Erziehung ist für die geistige Entwicklung durchaus nicht wirkungslos.
Bei eingehendster Berücksichtigung der Ergebnisse moderner Erblichkeitsforschung
erweist sich eine Erziehung gegen ererbte Anlagen doch als sehr wohl erreichbar.
Schott, Psychiatrie und Fürsorgeerziehung in Württemberg. Allgemeine Zeitschrift
für Psychiatrie. 69, 1912, 4.
Unter 80 Zöglingen der Rettungsanstalt Schönbühl fand sich erbliche Belastung
bei 48°/,. Trunksucht der Eltern lag bei 42°/,, der Umgebung bei 650/9 vor.
60—70°/, waren Psychopathen, etwa 40°), minderbegabt. — Der Verfasser fordert:
psychiatrische Untersuchung und dauernde Kontrolle des Zöglingsmaterials, psychia-
trische Kurse für die Erzieher, kriminalistische Kurse für Juristen, Anstaltsleiter
und Amtsärzte, Einrichtung von Beobachtungsstationen unter psychiatrischer Leitung.
Büttner, Georg, Über wortblinde Kinder. Neue Bahnen. 23, 10 (Juli 1912),
S. 457—462.
Im wesentlichen nur Referat über Warburgs Arbeit in der »Zeitschrift für
Kinderforschung«, Jg. VI, 4 (Januar 1911), 8. 97—113, ohne daß das aus der Arbeit
deutlich hervorgeht.
Treiber, P., Orthographie und Veranlagung bei anormalen Kindern. Zeitschrift
für die Behandlung Schwachsinniger. 32, 7 (Juli 1912), S. 125—131.
Glaubt, durch Wiedergabe einiger Diktate und Briefproben sprachkranker
Kinder dargetan zu haben, wie eng die Rechtschreibung mit den Anlagen eines
Menschen zusammenhängt.
Marcus, Kollman, Orthopädische Fürsorge für Kinder. Archiv für Orthopädie.
X1, 2/3.
Die Bezeichnung soll den Ausdruck Krüppelfürsorge ersetzen. Die Aufgaben
der Fürsorge werden gekennzeichnet, wobei mehr Wert auf ambulante Behandlung
als auf Behandlung in Krüppelheimen gelegt wird. In Posen ist die Fürsorge vor-
züglich organisiert; sie wird als Muster für andere Städte dargestellt.
Astrand, Gustav, Das Blindenwesen in Schweden. Eos. 8, 2 (April 1912),
8. 108—118.
In Schweden kamen 1900 6,7 Blinde auf 10000 Einwohner (ständige Abnahme).
Die Fürsorge begann vor 100 Jahren und erfolgte wie in den anderen germanischen
Ländern. — Die Arbeit enthält zahlreiche wertvolle Daten.
Büttner, Georg, Schwachbegabte an höheren Schulen. Eos. 8, 2 (April 1912),
S. 128—137.
Besprechung der Tatsachen an der Hand der vorhandenen Literatur.
Major, Gustav, Psychopathen. Neue Bahnen. 23, 11 (August 1912), S. 521—525.
Die Definition für psychopathisch veranlagte Kinder ist mißglückt. Der Ver-
fasser hält sich auch gar nicht streng an sie. Er betont, daß für Psychopathen
eigene Heilerziehungsheime nötig seien. Er regt an, Material über Psychopathen
38 C. Zeitschriftenschau.
in den Schulen aufzustellen, das er zu sammeln und zu einer Denkschrift zu be-
arbeiten bereit sei (ob Major dazu die geeignete Person ist, läßt sich nach dem von
Rössel geführten Beweis seines Plagiates von Ziehen u. a. wohl stark bezweifeln).
Auch erklärt sich Major bereit, seine »Gedanken und Erfahrungen zur Verfügung
zu stellene. Das ganze ist aber noch sehr unklar. Ein Ausfall gegen die Schul-
ärzte ist vollkommen deplaziert. Mit welchem Recht darf Major S. 523 schreiben :
>In meiner Anstalt, die ich früher in Berlin leitete ....«? Unseres Wissens war
er nur einige Zeit Direktor des Erziehungsheims Kinderschutz in Zehlendorf, das
ihm kaum gehört haben kann. Gegen derartige Ungenauigkeiten, wie sie sich öfter
bei Major finden, und gegen die seltsamen Überhebungen in diesem Aufsatz muß
aufs schärfste protestiert werden.
Porada, Warum erreichen die Erziehungsanstalten für Schwachsinnige nicht immer
ihren Zweck? Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger. 32, 7 (Juli 1912),
S. 131—134.
Besprechung einiger Mißstände, besonders in der Vorbildung der Heilerzieher
und des Pflegepersonals.
2. Konsequenzen.
Major, Gustav, Zur Prophylaxe des jugendlichen Schwachsinns. Die Gesundheits-
warte. X, 5, S. 110—116; 6, S. 133—146; 7, S. 160—165.
Zusammenstellung der Ursachen (lückenhaft; ohne Quellenangaben). Angaben
prophylaktischer Maßnahmen (viele Irrtümer und Ungenauigkeiten: die Vasektomie
ist dem Autor ganz unbekannt; die Alkoholfrage ist ihm nur lückenhaft. die Arbeit
der Abstinenten, nicht der Abstinenzler, kaum bekannt usw.; dazu finden sich ganz
unglaubliche Druckfehler und Satzungeheuer).
Büttner, Georg, Vom Formen in der Hilfsschule. Eos. 8, 1 (Jänner 1912),
S. 51—53.
Sucht kurz darzulegen, daß das Formen für die Hilfsschulen besonders ge-
eignet ist.
Friedl, Josef, Der Sprach- und insbesondere der Sprechunterricht bei Taub-
stummen. Eos. 8, 1 (Jänner 1912), S. 45—50.
An den geringen Sprecherfolgen der taubstummen Kinder trägt die Organisation
der Anstalten und Internate die Schuld. Zur Förderung des Sprecherfolgs werden
zehn Grundsätze aufgestellt.
Heidsiek, J., Ausgangspunkte und Abc-Fragen der Taubstummenbildung. Blätter
für Taubstummenbildung. 25, 7 (1. April 1912), S. 97—100; 9 (1. Mai), S. 129
bis 132; 12 (15. Juni), S. 180—184.
Untersucht den Begriff der Taubstummheit, die Stellung des Taubstummen
und das Sprachproblem im allgemeinen, die sprachliche Sonderstellung des Taub-
stummen (gegen das Sinnenvikariat).
Schneider, M., Methode und Erfolg. Blätter für Taubstummenbildung. XXV, 9
(1. Mai 1912), S. 137—139; 10 (15. Mai), S. 149—153; 11 (1. Juni), S. 162—166.
Beschäftigt sich im wesentlichen mit der neuesten Schrift Vatters über »die
reine Lautsprachmethode« und verteidigt seine eigene Methode gegen diesen.
3. Erfolge.
Pralle, Heinrich, Unter Sorgenkindern. Neue Bahnen. 23, 10 (Juli 1912),
S. 462—467.
C. Zeitschriftenschau. 39
Bericht über den Handfertigkeitsunterricht im Hamburger Seehospital (mit 4 Ab-
bildungen). Die Handarbeit will in erster Linie der Beschäftigung dienen, weniger
ausgesprochen pädagogischen Zielen.
Clemenz, Ein neues Anstaltsgebäude der Alsterdorfer Anstalten. Zeitschrift für
die Erforschung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns.. V, 3—5,
S. 254—262.
Die gesamten Kosten für Bau und Einrichtung betragen 200000 M (1540 M
pro Pflegling). Als neue Einrichtung finden sich Rampenbauten an der Außenseite
des Hauses, die z. B. bei Feuer für die schnelle Entfernung der Patienten sehr
wertvoll werden können. Beachtenswert für Kinderheime u. ä.
Meltzer, Zur Weihe der Königlichen Landesanstalt Großhennersdorf am 5. No-
vember 1911. Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger. 32, 5 (Mai 1912),
S. 99—106.
Kennzeichnet die Aufgaben dieser Anstalt, die für bilduugsunfähige schwach-
sinnige und geisteskranke Kinder bestimmt ist.
Jacobi, Eugenie, Krüppelpflege im Oberlinhaus in Nowawes. Eos. 8, 1 (Jänner
1912), S. 43—45.
Ganz kurzer Bericht, der über die hauptsächlichsten Einrichtungen orientiert.
Roller, Karl, Die Schulen des London County Council. Neue Bahnen. 23, 10
(Juli 1912), S. 450—457.
Berücksichtigt auch die Freiluftschulen, die Blindenanstalten (für 300 Blinde),
die Taubstummenanstalten (für 650 Taube), die 91 Hilfsschulen (für etwa 7000 Kinder),
die 37 Krüppelschulen (für etwa 2700 Kinder).
Schenk, Alwin, Die Fürsorge für die Geistesschwachen in den Vereinigten Staaten
von Amerika. Eos. 8, 1 (Jänner 1912), 3. 33—43.
Reisebericht. (Vergl. Zeitschrift für Kinderforschung, XVII, 1 ff.)
Jacobi, Eugenie, Hamburgs Zentralbibliothek für Blinde. Deutsche Schulpraxis.
32, 32 (11. August 1912), S. 254.
Kurze Besprechung der Einrichtung mit Daten über Bücherbestand, aus-
geliehene Werke usw.
K., Die neue Provinzial-Taubstummenanstalt in Königsberg i. Pr. Blätter für Taub-
stummenbildung. 25, 13/14 (1. Juli 1912), S. 219—222.
Kurze Beschreibung der am 18. Oktober 1911 eröffneten Anstalt (mit 2 Ab-
bildungen).
Wagner, Georg, Ein Besuch der Leipziger Hilfsschule für Schwachbefähigte.
Schul- und Kirchenbote. 47, 15/16 (1. August 1912), S. 245—247.
Anerkennender Reisebericht, der auch einige Kindertypen schildert.
Kirschenheuter, Franz, Ein Sportfest in der königlichen Landesblindenanstalt
zu Budapest. Eos. 8, 2 (April 1912), S. 118—121.
Bericht und Hinweis auf den großen Wert.
Dreßler, Zur Neuordnung des Berliner Hilfsschulwesens. Die Hilfsschule. V, 5
(Mai 1912), S. 125-131.
Kritische Besprechung der einen Fortschritt bedeutenden Neuordnung vom
Standpunkt des Berliner Hilfsschullehrers aus.
Ehricke, A., Zur Methodik der Fortbildungskurse. Die Hilfsschule V, 5 (Mai
1912), S. 131—135.
Angaben über deu Kursus der Stadt Essen, der sich in mehrfacher Hinsicht
von den bisherigen Kursen unterscheidet.
40 C. Zeitschriftenschau.
Büttner, Georg, Von der Gartenarbeit in der Hilfsschule. Zeitschrift für die Be-
handlung Schwachsinniger. 32, 7 (Juli 1912), S. 134—143.
Bespricht die verschiedenen Vorteile der Gartenarbeit, im wesentlichen sich
stützend auf Urteile namhafter Autoren (Trüper, Wintermann, Raatz, Kielhorn,
Bayerthal, Langermann, Dolch u. a.).
Ziegler, K., Ist die elementare, objektiv beschreibende Aufsatzform in der Schwach-
sinnigenschule unter allen Umständen zu verwerfen? Zeitschrift für die Behand-
lung Schwachsinniger. 32, 4 (April 1912), S. 79—83; 5 (Mai), S. 85—94.
An der Hand seiner Erfahrungen als Hauslehrer eines jetzt 17 Jahre alten
schwachbegabten Jungen, die eingehend dargestellt werden, kommt Verfasser zu der
Ansicht, daß man die elementaren objektiv beschreibenden Darstellungsübungen nicht
unbedingt ablehnen soll. Vielfach ist ohne sie gar nicht auszukommen.
Ziegler, K., Über einen Fall sehr geringer Rechenfähigkeit. Die Hilfsschule. V, 7
(Juli 1912), S. 181—192.
Zeigt, daß es auch bei der hochgradigsten Rechenunfähigkeit noch Möglich-
keiten zu rechnerischer Beschäftigung gibt. Namentlich läßt sich mit dem mechani-
schen Zählverfahren in hoffnungslosen Fällen noch manches erreichen.
Albrecht, Werkunterricht im Rechnen. Die Hilfsschule. V, 7 (Juli 1912),
S. 192—194.
Beispiel für werkunterrichtliche Darstellung der »6« in der Hilfsschule.
Wendig, Otto, Beobachtungen und Erfahrungen in einer D-Klasse. Blätter für
Taubstummenbildung. XXV, 11 (1. Juni 1912), S. 166—170; 12 (15. Juni),
S. 177—179.
Die Abteilung zählte 11 Kinder, die für gewöhnlich als schwachbefähigt be-
zeichnet werden. Mit seiner Uuterrichtsmethode erzielte der Verfasser schöne Er-
folge. Er hofft, seiner Klasse eine Lautsprache zu schaffen, die den Verkehr von
Mund zu Mund gestattet.
Querll, W., Der Erfolg ist ein Beweis. Blätter für Taubstummenbildung. 25, 13/14
(1. Juli 1912), S. 215—219.
Unterrichtsresultat einer Artikulationsklasse von 12 gut begabten Schülern
1911/1912. Am Ende des ersten Schuljahrs verstanden die Kinder durchschnittlich
558 Worte, sie gebrauchten sicher 280 Worte.
Sanders, Luzie M., Wie meine Kinder erzogen wurden. Eos. 8, 1 (Jänner
1912), S. 20—24.
Aus »The Association Review«. — Einfacher Bericht einer tauben Mutter über
die Erziehung ihrer beiden tauben Töchter. Überraschende Erziehungserfolge
wurden erzielt.
Rothfeld, Städtische Fürsorge auf dem Gebiete orthopädischen Turnunterrichts.
Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 25, 5 (Mai 1912), S. 350—354.
Daten aus einem zusammenfassenden Bericht in den Mitteilungen der Zentral-
stelle des deutschen Städtetages. Die Erfolge werden überall als zufriedenstellend,
zum Teil sogar als günstig bezeichnet.
Klotz, Rudolf, Zur Ätiologie der Rachitis, auf Grund ihrer therapeutischen Be-
einflussung durch Hypophysenmedikation. Münchener Med. Wochenschrift. 59, 21
(21. Mai 1912), S. 1145—1148.
Mit Hypophysenchrombehandlung wurden überraschende Erfolge erzielt (in
5 bis 6 Wochen). Das therapeutische Resultat läßt die Annahme berechtigt er-
scheinen, daß es sich bei der Rachitis um Störungen im Phosphorstoffwechsel (nicht
im Kalkstoffwechsel) handelt,
C. Zeitschriftenschau. 41
Katscher, Leopold, Die Linkskulturbewegung. Wissenschaftliche Rundschau.
1912, 22 (15. August 1912), S. 456—457.
Ganz kurze Darstellung der Frage und Würdigung ihrer Bedeutung.
Meyer, H. Th. Matth., Der Kongreß für Rassenhygiene. Der Säemann. 1912, 5
(Mai), S. 221—223.
Ders., Der zweite Kongreß für Familienforschung, Vererbungs- und Regenerations-
lehre am 11., 12. und 13. April 1912 zu Gießen. Zeitschrift für Schulgesundheits-
pflege. 25, 6 (Juni 1912), S. 444—447.
Kurze Berichte über pädagogisch wichtige Vorträge und Mitteilung der andern
verhandelten Themata (verschiedene störende Fehler!).
Lourie, A., Stoffwechselversuche und Therapie bei der mongoloiden Idiotie. Zeit-
schrift für die Behandlung Schwachsinniger. 32, 5 (Mai 1912), S. 94—99.
Vorzügliche Erfolge mit Cal. phosph., bezw. Cal. glycer. phosph. Therapie.
Beschreibung von vier Fällen. (Vorläufige Mitteilung.)
Sauer, Versammlung des Vereins preußischer Taubstummenlehrer zu Würzburg.
Blätter für Taubstummenbildung. 25, 16 (15. August 1912), S. 242—246.
Kurzer Bericht.
Eltes, Matthias, Dr. v. Näray-Szabö. Eos. 8, 1 (Jänner 1912), S. 30—32.
Zur Feier seines 25jährigen Dienstjubiläums werden seine Verdienste um die
ungarische Heilpädagogik gewürdigt.
Schumann, Paul, Samuel Heinicke über die Denkart der Blinden. Eos. 8, 1
(Jänner 1912), S. 25—30.
Entnommen aus den »Gesammelten Schriften Samuel Heinickes«. Geschicht-
licher Beitrag.
Kirmsse, Max, Josef May und die Anwendung der Lautsprache im k. k. Taub-
stummeninstitut zu Wien. Eos. 8, 1 (Jänner 1912), S. 1—11.
Beitrag zur Geschichte der österreichischen Taubstummenbildung. Es werden
in ihr vier Epochen unterschieden: 1779—1792 die französische Methode dominiert
(Gebärdensprache); 1792—1819 die deutsche (Lautsprache); 1819—1867 die ge-
mischte (Gebärden- und Lautsprache, gegründet auf die Schriftsprache); 1867 bis
zur Gegenwart die reine Lautsprachmethode.
Schumann, Paul, Frankfurt und Leipzig. Eos. 8, 1 (Jänner 1912), 8. 11—20.
Weist an der Hand von Briefen Kosels nach, daß dieser die Frankfurter An-
stalt nach dem Vorbild der Leipziger gründete und auch durchaus nach der Leipziger
Methode verfuhr (kontraktliche Bindung).
Wegwitz, Franz, Zu Johann Friedrich Jenckes 100. Geburtstag, den 27. Juni
1912. Blätter für Taubstummenbildung. 25, 13/14 (1. Juli 1912), S. 194—196.
Wollermann, E., Was Sicard von seinem Meister de l'Epée sagt. (Übersetzung
aus Cours d'instruction d'un sourd-muet von Sicard). Ebenda. S. 210—214.
Beides Beiträge zur Geschichte des Taubstummenw esens.
Ill. Kinderschutz und Jugendfürsorge.
1. Tatsachen.
Frauen- und Kinderarbeit, Zeitschrift für Jugenderziehung. II, 23 (15. August
1912), S. 713—715.
Kurzer Auszug aus dem vom schweizerischen Industriedepartement veröffent-
lichten Bericht der eidgenössischen Fabrik- und Bergwerkinspektoren für 1910 und
1911. Ohne zusammenfassende Daten.
42 C. Zeitschriftenschau.
Rambousek, Kinderarbeit in der Haarnetz-Hausindustrie. Zeitschrift für Kinder-
schutz und Jugendfürsorge. IV, 5 (Mai 1912), S. 155—156.
Im Prager Handelskammersprengel sind in dieser Industrie etwa 10000 schul-
pflichtige und 2000 vorschulpflichtige Kinder beschäftigt. Oft Arbeit bis in die
Nacht hinein; Wachhalten der Kinder durch starke Alkoholika, Kaffee usw. Die
ganze in Betracht kommende Volksklasse der betreffenden Territorieu ist in geistiger
und körperlicher Beziehung in der Entwicklung gehemmt. — Angestrebt muß werden:
schulärztliche Aufsicht der arbeitenden Kinder; Garantieren eines regelmäßigen
Schulbesuchs; Hebung der wirtschaftlichen Lage.
Zizek, F., Die Kinderarbeit in Österreich. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugend-
fürsorge. IV, 5 (Mai 1912), S. 157.
Kurze Wiedergabe der wichtigsten Zahlen.
Roggenburg, Kinderschutz und Lehrerschaft. Zeitschrift für Kinderschutz und
Jugendfürsorge. IV, 5 (Mai 1912), S. 164—165.
Führt drei Beispiele vor, die anregen sollen, wichtigen Fällen so lange nach-
zugehen, bis ein Erfolg erzielt ist.
2. Massnahmen.
Matthias, A., Erziehung und Märchenlesen. Deutsche Elternzeitschrift. III, 8
(1. Mai 1912), S. 125—127.
Die Märchen gehören nur in gesunde Häuser. Für kranke und nervöse Kinder
eignen sie sich nicht.
Stülpnagel, Ein Wort zur Jugendpflege. Der Tag. Nr. 141 (19. Juni 1912).
Vermißt ausreichende Unterstützung der Ferienkolonien und ähnlicher Einrich-
tungen bei der Jugendpflege. Die Gemeinden sollten für die Großstadtkinder Garten-
land zu eigener Betätigung beschaffen.
Brunner, Karl, Die dramatische Kunst des Kinematographen. Zeitschrift des
deutsch-evangelischen Vereins zur Forderung der Sittlichkeit. 26, 6 (15. Juni
1912), S. 41—42.
Spricht den Kino-Dramen jede Berechtigung ab.
Samuleit, P., Die Kino-Frage vor der Deutschen Lehrerschaft. Volksbildung,
1912, 12. Deutsche Blätter für erziehenden Unterricht. 39, 44 (23. Juli 1912),
S. 441—442.
Bericht über die Erörterungen dieses Problems auf der Berliner Pfingsttagung
des Deutschen Lehrervereins. i
Zieting, Gedanken zu dem Verbandsthema »Soziale Fürsorge für die aus der Hilfs-
schule Entlassenen«. Die Hilfsschule. V, 4 (April 1912), S. 103—105.
Einige Bemerkungen allgemeiner Art und Wiedergabe eines Fragebogens, den
der Hilfsschulverband der Provinz Brandenburg seinen Mitgliedern im Hinblick auf
das Verbandsthema übersandt hat.
Achinger, C., Haus- und Klasseniektüre. Evangelisches Schulblatt. 56, 6 (Juni
1912), S. 254—274.
Wichtig als Beitrag zum Kampf gegen die Schundliteratur.
Bergold, Fr., Woher sollen die Rettungshäuser die erforderlichen Geldmittel
nehmen? Der Rettungshaus-Bote. 32, 9 (Juni 1912), S. 197—202.
Eine großzügige Agitation soll das Publikum für die Rettungshäuser gewinnen.
Wie das einzuleiten ist, wird angedeutet.
C. Zeitschriftenschau. 43
Rother, Wie kann der Fürsorger die Pflegeeltern beeinflussen? Der Rettungs-
haus-Bote. 32, 9 (Juni 1912), S. 208—210; 10 (Juli), S. 220—222.
Anweisungen zur Beeinflussung der Pflegeeltern.
Negenborn, Schularzt und Aushebung. Der Tag. Nr. 154 (4. Juli 1912).
Tritt ein für Nachahmung der schweizerischen Rekrutenprüfung, um so un-
brauchbare Elemente vom Heere fernzuhalten.
Schultze, Ernst, Der Lebensnery der Volksbibliotheken. Zeitschrift für Philo-
sophie und Pädagogik. 19, 8 (Mai 1912), S. 332—339.
Der eigentliche Lebensnerv ist die Bücherauswabl. Einige allgemeine Ge-
danken darüber.
Silbernagel, Alfred, Internationale Jugendfürsorge. Zeitschrift für Jugend-
erziehung. 2, 17 (15. Mai 1912), S. 518—525.
Kurzer Überblick über die bisher in dieser Angelegenheit getanen Schritte.
Umschreibung des Aufgabenkreises. Andeutung der Organisation.
Ludin, Alfred, Wie gewinnt man das Volk für gute Literatur? Zusammenfassungen
und Vorschläge. Zeitschrift für Jugenderziehung. 2, 17 (15. Mai 1912), S. 525
bis 530; 18 (1. Juni), S. 565—569.
Übersichtliche Darstellung von Vorschlägen betreffend Ausstattung und Ver-
trieb von Lesestoff, Vorschläge zur Erziehung zu guter Literatur durch Schule und
Haus. Befürwortet wird der Zusammenschluß aller in Betracht kommenden Faktoren.
Hättenschwiller, A.. Die Berufswahl im Mittelstande. Zeitschrift für Jugend-
erziehung. 2, 19 (15. Juni 1912), S. 581—586; 20 (1. Juli), S. 617—622.
Weist hin auf die vielen Schwierigkeiten und auf die daraus erwachsenden Auf-
gaben. Insbesondere muß die Jugendfürsorge sorgen, daß der Zustrom zu den un-
gelernten Berufen aufhört. Angabe guter Literatur zu dieser Frage.
Presler, O., Berufswahl. Der Säemann. 1912, 6 (7. Juni 1912), S. 266—272.
Weist nachdrücklich hin auf die dem Staat erwachsenden Aufgaben bei der
Organisation der Berufswahlbeihilfe.
Lazar, Erwin, Ärztliche Probleme in der Fürsorgeerziehung. Zeitschrift für
Kinderschutz und Jugendfürsorge. IV, 5 (Mai 1912), S. 150—155. — Heilpäda-
gogische Schul- und Elternzeitung. III, 4 (April 1912), S. 67—73; 7 u. 8 (Juli-
August), S. 125—128.
Beide Arbeiten stimmen bis auf geringfügige stilistische Abweichungen überein.
Erörtert, wann und wie der Arzt in die F.-E. eingreifen soll, zum Teil an einzelnen
Fällen aus der Praxis. Das wichtigste Moment für Anwendung der F.-E. ist im
psychischen Zustand des Kindes zu suchen. Zur Untersuchung ist ein gründlich
psychiatrisch geschulter Arzt nötig. Anweisungen über Aufgaben und Tätigkeit des
Arztes in der F.-E.
Tews, J., Kinderlesezimmer. Deutsche Blätter für erziehenden Unterricht. 39, 38
(14. Juni 1912), 3. 388—389.
Aus »Volksbildung«, Jg. 42, 10. — In der Kinderlesehalle soll das Kind finden,
was es in der Regel an anderer Stelle nicht finden kann (alle möglichen Hilfsmittel
zum Nachschlagen usw.).
3. Erfolge.
Tormann, Franz, Jugendwandern in Verbindung mit militärischen Übungen.
Deutsche Schulpraxis. 32, 18 (5. Mai 1912), S. 142—143.
Bericht über eine längere Wanderfahrt (2 Tage) mit Volksschülern.
44 C. Zeitschriftenschau.
Wilker, Karl, Hat die Fürsorgeerziehung in Preußen Erfolge oder nicht? Evan-
gelisches Schulblatt. 56, 5 (Mai 1912), S. 217—224.
Auf Grund zahlreichen Zahlenmaterials, das in einer Statistik des preußischen
Ministeriums des Innern niedergelegt ist, muß man zu der Ansicht gelangen, daß
die F.-E. nicht so erfolglos ist, wie oft angenommen wird.
Katscher, Leopold, Fortschritte der Jugendgärtnerei. Zeitschrift für Jugend-
erziehung. 2, 16 (1. Mai 1912), S. 494—497.
Kurzer Überblick über die bisherige Entwicklung.
Hepp, J., Aus der Praxis der Schülergärten. Ebenda. S. 497—499.
Bericht über die Züricher Schülergärten.
P., Jugendgerichtstag in Winterthur. Zeitschrift für Jugenderziehung. 2, 18
(1. Juni 1912), S. 557—564.
Kurzer Bericht, hauptsächlich aus den Thesen bestehend.
Katscher, Leopold, Eine Jugendgerichtskonferenz. Zeitschrift für Jugend-
erziehung. 2, 20 (1. Juli 1912). S. 622—625.
Kurzer bemerkenswerter Bericht über eine im Frühjahr 1912 in London ver-
anstaltete Konferenz. Die Versammlung beschloß, der Regierung eine Denkschrift
zu überreichen, in der die Notwendigkeit besonderer Jugendrichter in den Groß-
städten, besonderer Jugendgerichtsgebäude und Verwahrungsheime gefordert werden
soll. Sie war ferner der Ansicht, daß Fälle von Überfällen Erwachsener auf Kinder
unter 16 Jahren vor dem Jugendgericht in Gegenwart der Mutter des Kinder ver-
handelt werden sollten.
Gaßmann, E., Schweizerischer Jugendgerichtstag in Winterthur. Schweiz. Blätter
für Schulgesundheitspflege. X, 6 (Juni 1912), S. 81—87; 7 (Juli), S. 97—102.
Eingehender Bericht.
Ullmann, H., Die Jugend und die Parteien. Der Säemann. 5 (Mai 1912), S. 198.
bis 202.
Weist hin auf die Gefahren einer parteipolitischen Jugendpflege, die uns droht..
Vidal, Überwindung der Stillhindernisse durch die Mutterberatungsstellen. Münch.
Med. Wochenschrift. 59, 24 (11. Juni 1912), S. 1327—1329.
Die Mutterberatungsstellen müssen sich auch mit anscheinenden Kleinigkeiten
befassen. Aus der beigefügten Tabelle ergibt sich, daß es möglich ist, bei richtiger
Beaufsichtigung der Kinder »die Säuglingssterblichkeit auf ein praktisch ganz be-
deutungsloses Maß zu reduzieren«.
Herzfelder, Henriette, Das Recht des unehelichen Kindes im neuen schweize-
rischen Zivilgesetzbuch. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. IV,
5 (Mai 1912), S. 137—142.
Besprechung des wichtigen am 1. Januar 1912 in Kraft getretenen Gesetzes-
vom Jahre 1907.
Enquete, betreffend die Regelung des Kinematographenwesens. Zeitschrift f. Kinder-
schutz und Jugendfürsorge. 1V, 5 (Mai 1912), S. 160—163.
Bericht über vom Ministerium des Innern in Wien im April 1912 veranlaßte
Verhandlungen.
Galli, Briefe aus Italien. Münch. Med. Wochenschrift. 59, 30 (23. Juli 1912),
S. 1681—1682.
Enthält beachtenswerte Notizen über neue städtische Einrichtungen zum Schutze
der Jugend in Rom. (Säuglingsheim, städtische Kindergärten, Kinderklubs, Freiluft-
C. Zeitschriftenschau. 45
schulen, Ferienkolonien.) Es ist in Rom in wenigen Jahren ein wohlgefügter
Komplex von Jugendfürsorgeinstitutionen entstanden.
Koebner, Franz, Das Wandermuseum der Zentrale für Säuglingsfürsorge in
Bayern. Münch. Med. Wochenschrift. 59, 33 (13. August 1912), S. 1814—1815.
Übersicht über die einzelnen Gruppen des jüngst der Öffentlichkeit über-
gebenen Museums.
Metzler, J., Eine amerikanische Waisenaustalt. Pädagogischer Anzeiger für Ruß-
land. 4, 7 (Juli 1912), S. 398—401.
Schilderung eines Besuches in der Waisenanstalt der Stadt New York in Has-
tings-on-Hudson. Vorhanden sind 10 einzelne Wohnhäuser für je 20 Kinder.
Greef, Aus der Praxis der Jugendschriften- Kommissionen. Evangelisches Schul-
blatt. 56, 8 (August 1912), S. 341—347.
Stellt einige Richtlinien für die Beurteilung von Jugendschriften auf, die sich
in der Praxis bereits mehr oder weniger bewährt haben.
IV. Jugend- und Schulhygiene.
Schlesinger, Eugen, Schüleruntersuchungen an höheren Schulen. Internatio-
nales Archiv für Schulhygiene. VIII, 1 (Januar 1912), S. 1—30.
Das Material soll die Zweckmäßigkeit der Anstellung von Schulärzten auch an
höheren Schulen dartun. Die Untersuchungen erstrecken sich auf über 900 Schüler
des 1., 4., 7. Schuljahrs. Die Ergebnisse werden verglichen mit denen von Unter-
suchungen an Volksschülern.. Die Ergebnisse mögen im Original nachgelesen
werden. Betont sei, daß in den Volksschulen vorwiegend die unteren Klassen, in
den höheren die mittleren (Pubertätsjahre!) schulärztlicher Überwachung bedürfen.
Die Ergebnisse selbst sind zahlenmäßig in verschiedenen Tabellen niedergelegt.
Büttner, Georg, Die behinderte Nasenatmung mit ihren körperlichen und geistigen
Schädigungen bei Schulkindern. Die Gesundheitswarte. X, 7, S. 151—160.
Zusammenstellung der Ursachen, der Krankheitserscheinungen, der hervor-
gerufenen Störangen und der zur Behandlung in Betracht kommenden Faktoren.
Bei frühzeitiger Anordnung zweckdienlicher Maßnahmen sind auch die Erfolge groß.
Hartmann, K. A. Martin, Zur Förderung der Sexualpädagogik. Deutsches Philo-
logen-Blatt. 10, 6. März 1912.
Empfehlung von Rohleders »Grundzüge der Sexualpädagogik«. Abdruck des
dazu von Hartmann verfaßten Geleitworts.
Mayer, Adolf, In usum Delphini. Zeitschr. f. Jugenderziehung. II, 23 (15. Aug.
1912), S. 709—713.
Beitrag zur Frage der sexuellen Belehrung. Die »Aufklärung« soll von seiten
der Eltern, nicht von seiten der Schule erfolgen.
Grassmann, Karl, Sexualpädagogische Fragen. Münchener Med. Wochenschrift.
59, 33 (13. August 1912), S. 1815—1819.
Bekämpft die extremen Forderungen der neusten Sexualpädagogik, verwirft alle
obligatorischen direkten Unterweisungen von seiten der Schule.
Hartmann, K. A. Martin, Die Pflicht der Schule gegenüber den Gefahren des
jugendlichen Tabakrauchens. Auf Grund neuerer Untersuchungen. Deutsches
Philologen-Blatt. 28, 31. Juli 1912.
Es steht wissenschaftlich fest, daß das Rauchen für den jugendlichen Orga-
nismus schädlich ist; es erschwert die erziehliche und unterrichtliche Arbeit be-
46 D. Literatur.
deutend. Es ist deshalb gegen das Rauchen anzukämpfen, aber nicht durch die
bekannten Rauchverbote der Schulordnungen, sondern durch Appell an die Einsicht
der Eltern und Schüler. — Der Aufsatz ist auch als Sonderdruck erschienen und
vom Verfasser (Leipzig-Gohlis, Fechnerstr. 6) zu beziehen.
Borowka, W., Bericht über die schulhygienische Literatur Rußlands für die Jahre
1909 und 1910. Internationales Archiv für Schulhygiene. VIII, 1 (Januar 1912),
S. 75—107.
de Biehler, Mathilde, und Eugène Piasecki, La littérature polonaise concer-
nant l'hygiène scolaire pendant l'année 1910. Ebenda. &. 108—135.
Oker-Blom, Max, und J. Lydecken, Die schulhygienische Literatur in Finn-
land in den Jahren 1907—1910. Ebenda, S. 136—144.
Feltgen, Ernst, Bericht über die zur Schulhygiene in Beziehung stehenden Ver-
öffentlichungen in Luxemburg aus den Jahren 1909, 1910 und 1911. Ebenda.
S. 145—152.
Mehr oder weniger eingehende Literaturberichte; nur zum Teil kritisch. Ver-
schiedentlich sind Autoren-Namen falsch angegeben.
D. Literatur.
Handbuch für Jugendpflege. Herausgegeben von der Deutschen Zentrale
für Jugendfürsorge. Schriftleitung Dr. jur. Fr. Duensing -Berlin. Langen-
salza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1912. 12 bis 15 Lieferungen
zu je 4 Bogen, Preis je 80 Pf.
Wir haben in der letzten Zeit verschiedene Handbücher erhalten, die über
pädagogische Teilgebiete unterrichten. Und zwar führen sie alle als erstes Wort
in ihrem Titel das Wort: »enzyklopädische. Wir hatten derartige alphabetisch
angeordnete Nachschlagewerke nötig; sie sind uns in kurzer Zeit unentbehrliche
Werke unsrer wissenschaftlichen Bibliothek geworden.
Nun gilt es heute, ein neues Handbuch anzuzeigen. Das Epitheton »enzy-
klopädisch«e führt es zwar nicht, obgleich das in einer Zeit übermäßigen Hastens
und Eilens vielleicht nicht so unvorteilhaft sein dürfte: vielen Menschen ist es bald
zur Gewohnheit geworden, das Lexikon oder ein enzyklopädisches Handbuch als
einziges Buch zu benutzen und zu »lesen«. Dieses neue Handbuch führt den
schlichten, aber bedeutsamen Titel: Handbuch für Jugendpflege. Es kommt
zu rechter Zeit als rechtes Werk! Denn heute drängt alles mit oft fast beängstigen-
dem Ungestüm nach einer Organisation der Jugend in Jugendvereinen, -verbänden
und -bünden oder ähnlichen Institutionen. Man kann das angesichts der bisherigen
Lage in unserem Volke begrüßen und gutheißen, man kann aber auch gewichtige
Bedenken demgegenüber haben. Unleugbar besteht die große Gefahr, daß wir über
dieser unserer (gewiß nicht entbehrlichen und gering zu bewertenden) Organi-
sationsarbeit und -tätigkeit die Jugend selbst eigentlich ganz vergessen. Dazu
kommt noch ein weiteres Moment: namentlich seit dem bekannten Januar - Erlaß
des preußischen Kultusministers vom Jahre 1911 und durch ihn wurden weitere
Kreise auf die dem Kundigen schon lange nicht mehr verborgene Jugendnot hin-
gewiesen und zu eigener Mitarbeit auf dem Gebiete der Jugendpflege angeregt oder
gar gedrängt. Manchem dieser Mitarbeiter und Arbeiter war und ist aber noch
der und die Jugendliche recht fremd. Die Psyche des Knaben, des Mädchens
D. Literatur. 47
jenseits des Pubertätsalters ist — wir haben wiederholt darauf hinweisen müssen —
uns noch fremd, noch unerforscht oder doch so gut wie fremd und unerforscht.
Was wir wissen, das muß aber dem auf dem Gebiete der Jugendpflege tätigen
möglichst klar und vollständig bekannt gemacht werden. Dazu kommt, daß gerade
die führenden Persönlichkeiten (gemeint sind hier natürlich die in der praktischen
Arbeit führenden und tätigen Männer und Frauen) über ein ziemlich umfang-
reiches Wissen auf verschiedenen Gebieten (Pädagogik, Psychologie, Medizin, Rechts-
pflege usw.) neben gründlichem Können verfügen müssen. Man hat dies durch
verschiedenartige Kurse zu übermitteln gesucht. Aber wertvoller und für weite
Kreise zugänglicher als derartige Kurse mit dem gesprochenen Wort sind Bücher
mit möglichst anregendem geschriebenen Wort.
Ein solches Buch zu schaffen ist nicht leicht. Das Werk in die Hand ge-
nommen zu haben ist ein großes Verdienst sowohl der Deutschen Zentrale für
Jugendfürsorge in Berlin, und speziell von Dr. Frieda Duensing, wie des
Verlages Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
Drei Lieferungen (192 Seiten) dieses neuen Buches liegen bisher vor. Diese-
drei Lieferungen berechtigen heute schon zu dem Urteil, daß Herausgeber und
Verlag beflissen sind und gewesen sind, ein wahrhaft gediegenes Werk zu
schaffen, das aller Voraussicht nach einzig in seiner Art sein und bleiben wird.
Das gilt auch besonders hinsichtlich des bei der vorzüglichen Ausstattung ganz.
gering zu nennenden Preises, der hoffentlich zu weitester Verbreitung des Hand-
buchs wesentlich beiträgt.
Der Inhalt des Werkes ist in zwei Hauptteile gegliedert. Der erste behandelt
die allgemeinen Grundlagen, der zweite Träger und Formen, Inhalt und Ziel der
Jugendpflege. Man ersieht schon aus dieser kurzen Angabe, daß die Anlage eine |
gründlich durchdachte und, wie man aus dem Studium des Inhaltsverzeichnisses
leicht merkt, fein durchgeführte ist. Weiter lassen aber auch die ersten Lieferungen
erkennen, daß für die Bearbeitung der einzelnen Abschnitte nur erstklassige Autoren
gewonnen wurden. Sohnrey, Jaeger, Rosa Kempf, Curtius, Marie Martin,
Th. Ziehen, Boruttau, Kisskalt, Vieregge, Köhne, Röder u. a. gaben für
die bisher vorliegenden Lieferungen Beiträge. Auf einzelne Abschnitte zurückzu-
kommen wird sich Gelegenheit bieten, wenn uns das Werk abgeschlossen vorliegt.
Und das wird hoffentlich nicht allzu lange mehr dauern.
Einstweilen mag es genügen festzustellen, daß Behörden wie Private, daß-
Pädagogen und Theologen, Mediziner und Juristen in diesem Handbuch einen Weg-
weiser durch das gesamte Gebiet der Jugendpflege finden, wie sie ihn sich kaum
besser wünschen können.
Jena. Dr. Karl Wilker.
Kalender für heilpädagogische Schulen und Anstalten. Herausgegeben
von Fr. Frenzel, J. Schwenk, Dr. Meltzer. Achter Jahrgang, 1912--1913.
Halle a. S., Carl Marhold, 1912. XVI und 254 S. Preis 1,20 Mark.
Der Kalender, in dessen Herausgeberkollegium als Vertreter der Medizin
Dr. Meltzer neu eingetreten ist, enthält wie immer ein reiches statistisches
Material, und zwar nicht nur aus deutschen Anstalten, sondern auch aus solchen
Ungarns, Österreichs, der Schweiz, der nordischen Länder und Nordamerikas. An-
regend und wertvoll sind auch die von Max Kirmsse zusammengestellten histori-
schen Daten.
Jena. Dr. Karl Wilker.
48 D. Literatur.
Internationaler Guttemplertag. Hamburg 1911. 3. bis 14. Juni. Verlag von
Deutschlands Großloge II des Internationalen Guttempler - Ordens, Hamburg 30.
346 und 80 8. Preis 3 M.
Von allen alkoholgegnerischen Organisationen ist der Internationale Guttempler-
orden die anerkannt bedeutendste. Die Berichte über seine Veranstaltungen, und
namentlich dieser Bericht, verdienen daher wohl unsere Beachtung. Einmal gewinnt
man aus seinem Studium ein Bild von der großzügigen Arbeit, die sich zu einem
nicht geringen Teil ja auch mit praktischer Jugendpflege befaßt; zum andern ent-
bält der Bericht aber auch eine Fülle wertvoller Vorträge im Wortlaut. Hinzu-
weisen ist hier besonders auf Kraepelins Ausführungen »Zur Psychologie des
Alkoholse, auf Laitinens Untersuchungen »Über den Einfluß kleiner Alkoholgaben
auf den Verlauf der Tuberkulose im tierischen Körper, mit besonderer Berück-
sichtigung der Nachkommenschaft«, auf die Vorträge von Weygandt (Die Not-
‚wendigkeit einer alkoholfreien Jugenderziehung) und Temme (Jugendpflege und
Alkohol). Im Anhang finden sich zahlreiche gerade für den Lehrer sehr wertvolle
‚graphische Darstellungen.
Wenn wir aber heute noch ganz besonders auf diesen Bericht hinweisen, so
geschieht das deshalb, weil infolge des (Geheimerlasses des bayrischen Kultus-
ministers gerade das Jugendwerk des Guttemplerordens viel besprochen wird. Von
besonderem Werte ist da diese gewissermaßen authentische Darstellung der Gut-
:templerarbeit, die ein Jahr vor dem erwähnten Erlaß gegeben wurde. Möge der
Bericht in weite Kreise richtige Anschauungen von einer im höchsten Maße volks-
‚erzieherischen Arbeit tragen!
Jena. Dr. Karl Wilker.
Eingegangene Literatur.
M. Bresgen, Die Furcht, ihre Herkunft und Heilung. sowie ihre Bedeutung für
Erkrankung und Genesung. S.-A. aus der Zeitschrit »Fortschritte der Medizin«.
Halle, Carl Marhold. 6 S.
A. Schüz, Kunst, Wissenschaft und Religion im Bunde. (Zur Erinnerung an
Julius Koch.) Unterhaltungsbeilage der Deutschen Reichspost, Jg. 41, Nr. 127,
3. Juni 1912.
Robert Gaupp, J. L. A. Kochs Psychiatrische Lehren in ihrer Bedeutung für
die Entwicklung der klinischen Psychiatrie. Ein Beitrag zur Festschrift beim
100jährigen Jubiläum der ältesten württemberg. Staatsirrenanstalt Zwiefalten
(29. Juni 1912). 46 S.
Annual Reports of New York University 1910—1911. University Building, Was-
hington Square, East, New York City, 1912. 111 8.
Book of the Inauguration. Ebenda. 112 S.
Verantwortliche Schriftleitung für Abhandlungen und Mitteilungen: Dir. J. Trüper,
Sophienhöhe b. Jena; für Zeitschriftenschau und Literatur: Dr. Karl Wilker, Jena,
Weißenburgstraße 27.
Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
SO30303080808080808080808080808
S a IR < dr iD 4: > < < > Ss > < N a Para e `AE 2 < ar s
IB EASTA + K JAS *: JAS *: BA STAS IAK Q:
O8
808080808080808080808080808080
A. Abhandlungen.
1. Die Psychopathologie der Pubertätszeit.
Vortrag, gehalten auf dem Allgemeinen deutschen Fürsorgeerziehungstag in Dresden
am 25. Juni 1912.
Von
Oberarzt Dr. Mönkemöller, Hildesheim.
(Schluß.)
Auch für die Hysterie stellt die Pubertät den Zeitpunkt dar,
der ihre Stellung zur Mitwelt und die Tragweite der Krankbeit für
ihren Träger selbst entscheidet. Dabei ist es nicht überflüssig, daran
zu erinnern, daß es sich hier um das klinische Krankheitsbild der
Hysterie handelt und nicht um die Mischung von Willensschwäche,
Übertreibung und Launenhaftigkeit, wie sie von Laien noch immer
gern mit diesem Namen belegt wird. Vorübergehende hysterische Er-
scheinungen sind in der Jugend gar nicht so selten. Wir finden
diese hysterische Beeinflussung des Kindes unter anderem in den be-
kannten Schulepidemien, bei denen manche Nervenkrankheiten
auch auf Kinder übertragen werden, die in ihrem späteren Leben der
Hysterie in vollstem Maße abgeschworen haben.
Das Krankheitsbild der Hysterie in seiner typischen Aus-
bildung tritt uns aber vor der Vollendung der geschlechtlichen Ent-
wicklung nur ausnahmsweise entgegen. Beim weiblichen Geschlechte
bringt wieder das Erwachen des Menstruallebens den Stein ins Rollen.
Natürlich gedeiht auch hier die Krankheit nie auf völlig gesundem
Boden. Wir sehen schon vorher, wie die allgemeine hysterische Ver-
anlagung an leichte körperliche Krankheiten anknüpft, um deren
Symptome in übertrieben schwerer und hartnäckiger Ausprägung bei-
zubehalten. So wird auch eine Fülle der verschiedensten körperlichen
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 4
50 A. Abhandlungen.
Symptome produziert, nur daß es sich immer lediglich um Einzel-
erscheinungen handelt. Meist aber tritt uns hier nur der allgemeine
hysterische Charakter entgegen: die Beeinflußbarkeit durch fremde
Personen, die hysterische Selbstsucht, die Gier nach dem Außergewöhn-
lichen und die Neigung, sich selbst in den Mittelpunkt des Interesses
zu stellen, die sich mit einer starken Überreizung der Phantasie
verbindet.
Erst die Pubertät verleiht dieser allgemeinen hysterischen Ver-
anlagung die Kraft der schweren Nervenkrankheit, die sie mit einer
Geisteskrankheit identisch macht. Wenn jetzt das geschlechtliche
Moment in das Krankheitsbild eintritt, wird es um einen Faktor be-
reichert, der gerade hier eine herrschende Stellung einnimmt. Jetzt
setzen oft die schweren hysterischen Krampfzustände ein, nun erst
nimmt das Krankheitsbild die schillernde Vielgestaltigkeit an, über die
es zu verfügen vermag. Die einzelnen Symptome gewinnen an Wucht
und Nachhaltigkeit. Während die Aussichten der Kinderhysterie im
allgemeinen nicht schlecht sind, drückt die durch die Pubertät be-
dingte Verschlimmerung die Heilungsaussichten gewaltig herunter.
Ethik und Moral leiden jetzt jähen Schiffbruch. Dafür haben
wir wieder in den physiologischen Vorgängen der Pubertät einen
Parallelvorgang, der uns diesen ethischen Zusammenbruch ver-
ständlich macht.
Auch bei Mädchen, die sich sonst nicht in das Psychopatho-
logische verirren, tritt hier nämlich manchmal eine moralische Ver-
schlechterung auf. Sie entwickeln einen starken Hang zum Intri-
guieren. Sie verfallen der Lüge, es kommt zum Verleumden anderer
Personen, ja sogar zu Diebstählen. Diese triebartigen Anwandlungen
einer vorübergehenden moralischen Verschlechterung erfahren bei
hysterisch Veranlagten eine wesentliche Steigerung.
Auch hier beginnen sich die Fäden, die in überreichem Maße die
Hysterie mit der Kriminalität verbinden, zu spannen. Der hysterische
Lügner und Betrüger hüllt sich jetzt in sein phantastisches Gewand.
Verleumdung, Beleidigung, Hehlerei treten ihre Herrschaft an. Rück-
sichtslos erschließen sich die krankhaften Seiten des Geschlechtslebens.
Auch die unbestimmten Krankheitserscheinungen, die wir nach
Schädelverletzungen auftreten sehen, fallen gelegentlich in dieser
Periode schwerer ins Gewicht. Gerade in der Vorgeschichte unserer
Fürsorgezöglinge finden wir eine nicht geringe Menge von Unfällen,
denen eine ursächliche Bedeutung nicht ganz abgesprochen werden
kann. Der kindliche Organismus in seiner großen Ausgleichsfähigkeit
vermag sich ja mit gar vielem abzufinden, sogar mit den schweren
Mönkemöller: Die Psychopathologie der Pubertätszeit. 51
und fortgesetzten Mißhandlungen, die unsere Alkoholistensprossen über
sich ergehen lassen müssen. In diesem Zeitpunkte, der auch von dem
gesunden Nervensystem seinen Tribut erhebt, bricht die Leistungs-
fähigkeit des Kindes gelegentlich zusammen, und die für diese
Krankheit so bezeichnende Ermüdbarkeit senkt sich auf ihre Träger
herab.
Für ein weiteres Erbteil so vieler unserer Fürsorgezöglinge ist
noch die Pubertät die kritische Zeit, für den Hang zum Alkoholismus.
Wenn die Trunksucht der Eltern ihre Schatten in das geistige Leben
der Nachkommen wirft, so vermag sie das in dem verschiedenartigsten
Gewande: sie kann die Form des Schwachsinns, der Epilepsie, der
allgemeinen Psychopathie wählen. Für diese alle gilt die gleiche Er-
fahrung, daß sie, wenn sie in den Bann der Pubertät geraten, ihr
einen besonders schweren Zoll zahlen müssen. Ob auch die Sucht
nach der Aufnahme geistiger Getränke direkt als solche vererbt
werden kann, oder ob sie von den Nachkommen der Alkoholisten nur
als eine Teilerscheinung der allgemeinen geistigen Entartung über-
nommen wird, ist nicht zu erweisen. Tatsache ist, daß, wenn diese
Neigung zum Ausbruch kommt, sie sich gern in die letzten Phasen
der Geschlechtsentwicklung verwebt.
Für die Fürsorgeerziehung, unter deren Pflegebefohlenen der
elterliche Alkoholismus als erblich belastender Faktor weitaus an erster
Stelle steht, ist das um so eher zu berücksichtigen, als sich diese
Sucht vorher kaum bemerkbar macht. Obendrein fällt sie gerade in
die Periode, in der die Zöglinge wieder mehr in die Welt heraus-
treten. Die verschiedenen Berufe, die den regelmäßigen Alkoholgenuß
als einen selbstverständlichen Bestandteil ihrer Tätigkeit betrachten,
unterstützen das beginnende Vernichtungswerk.
Unter den ausgesprochenen Psychosen, die sich außer dem Jugend-
irresein in dieser Zeit zu entwickeln beginnen, ist hauptsächlich das
manisch-depressive Irresein zu nennen. Mehr wie andere hat
es seine Vorbilder in häufigen Begleiterscheinungen der normalen
Pubertät, die wieder oft nur eine stärkere Ausprägung der im Kindes-
alter bestehenden allgemeinen Gemütslage darstellen. Wir alle
kennen die stillen und schweren Charaktere, die von den kleinen Sorgen
des Kindesalters heftiger angefaßt werden wie ihre Altersgenossen; wir
kennen auch die wohlgemuten, stets zu allen möglichen Streichen
aufgelegten Naturen, bei denen die geringsten Anlässe die Stimmung
über die Mittellinie emporschnellen lassen.
Wieder kommt es in den Entwicklungsjahren zu einer schärferen
Ausprägung dieser Schwankungen in der Stimmung, ohne daß man
. 4*
52 A. Abhandlungen.
gleich versucht zu sein braucht, an eine ernsthafte geistige Störung
zu denken.
Die vorübergehende Verkörperung der manischen Stimmungs-
Jage haben wir in den Flegeljahren. Überwältigend erfüllt die be-
neidenswerten Vertreter dieser Zeit das Bewußtsein der zunehmenden
Kraft und größeren Leistungsfähigkeit. Die wachsenden Interessen
beflügeln ihre Schritte. Der geistige Horizont erweitert sich und mit
ihm das Selbstgefühl. Leicht werden die Hemmungen der Vernunft
über den Haufen geworfen. Da die sittliche Reife noch fehlt und
Verbote und Strafandrohungen bei dem herrschenden Widerspruchs-
geiste dieser Altersperiode das Gegenteil von dem erzielen, was sie
erreichen sollen, kommt es zu übermütigen Streichen, die sich nur zu
gern über die Grenzen des sittlich und gesetzlich Erlaubten heraus-
wagen. Eine rastlose Unstetigkeit des ganzen Wesens vervollständigt
die Ähnlichkeit mit dem Triebhandeln der Manie.
Die Kehrseite der Medaille bilden vorübergehende Verstimmungs-
zustände. Gerade in dieser Umbildungsperiode versinken manche
Kinder förmlich in Gefühlsseligkeit. Sie versenken sich mit Wollust
in ihre kleinen Leiden, sie schwelgen im Gefühle alles des Schweren,
das sie zu tragen haben. Es kommt sogar zu Lebensüberdruß bei
weichen Naturen, die sich nicht verstanden glauben. Sie spielen auch
gelegentlich mit wenig nachhaltigen Selbstmordideen.
Der Eintritt der Geschlechtsreife verschüchtert diese sensitiven
Wesen noch mehr. Kommt es zu sexuellen Ausschreitungen, so
können sich die Gewissensbisse und die allgemeine Abspannung zu
heftigen Angstzuständen verdichten.
Spielen sich diese Vorgänge auf krankhafter Grundlage ab,
so kann es zu dauernden krankhaften Verstimmungen nach beiden
Seiten hin kommen. So brauchen nur erbliche Veranlagung und un-
günstige äußere Einflüsse ihr Spiel zu treiben. Dann stellen sich die
schweren Hemmungszustände ein im Denken und Handeln, die Ver-
sündigungsideen der Melancholie oder die gehobene Stimmung, der
Bewegungsdrang, die Ideenflucht der Manie.
Auch wenn man den physiologischen Stimmungsschwankungen
einen recht großen Spielraum einräumen darf, ist nie aus dem Auge
zu lassen, daß diese Erscheinungen die ersten Anfälle später regel-
mäßig wiederkehrender Störungen sein können. Sie erfordern schon
deshalb ernste Beachtung, weil der Schlüssel für manche Schülerselbst-
morde, die man nur zu gern der Schule anhängen will, in diesen
krankhaften Zuständen zu finden ist.
Besonderen Anfechtungen ist in dieser Beziehung wieder das
Mönkemöller: Die Psychopathologie der Pubertätszeit. 53
weibliche Geschlecht ausgesetzt. An manche Frauen stellt jelde
Menstruation in psychischer Beziehung hohe Anforderungen und um-
kleidet sich mit allen möglichen geistigen Krankheitssymptomen, wenn
auch nur in leichtester Andeutung. Den meisten von ihnen macht
aber die erste menstruelle Entladung besonders viel zu schaffen.
Manchmal kommt es vorher zu periodisch auftretenden, in 3—4 wöchent-
lichen Terminen ablaufenden kurzen Anfällen von Niedergeschlagen-
heit, bei denen sogar das Bewußtsein getrübt sein kann. Das Ein-
treten der Menstruation läßt sie meist wie mit einem Schlage ver-
schwinden.
Gefährlicher sind die länger dauernden Veränderungen der
psychischen Persönlichkeit, die in die Zeit vor dem ersten Eintritte
der Menstruation fallen. Sie stellen sich gerne dann ein, wenn diese
verspätet eintritt. Schwere Störungen im Gedankenablaufe gehen mit
einer ausgesprochenen psychischen Verstimmung einher. Quälende
Angst und ein ungeheurer innerer Druck beherrschen das geistige
Leben und können sich mit Zwangsvorstellungen und Sinnestäuschungen
verbinden.
In dieser Zeit kommt es gerade bei Mädchen, die sich fern von
der Heimat unter ungünstigen Dienstverhältnissen befinden, zu einer
besonders starken Steigerung dieser Unlustgefühle. Das spannende
Druckgefühl sucht sich durch triebartige Handlungen zu entlasten.
Das Heimweh, unter dessen Maske diese Zustände meist einher-
gehen, auch wenn die Sehnsucht nach der Heimat ganz in den Hinter-
grund tritt, treibt sie von dem Orte fort, an dem sie sich gerade be-
finden. Es kommt zum böswilligen Verlassen des Dienstes und zur
Vagabondage. Das Verlangen, der quälenden Angst Herr zu werden,
sucht sogar in schweren Verbrechen das Ventil zur Lösung der
inneren Spannung. In diesem Zustande sind Mordtaten begangen
worden und die Tatsache, daß nicht selten als Entlastungsmittel die
Brandstiftung gewählt wurde, hat sogar seinerzeit zur Aufstellung der
Lehre einer besonderen Feuersucht, der Pyromanie, geführt.
Den übrigen psychischen Krankheiten ermangelt in dieser Zeit
noch das Bürgerrecht. Ganz vereinzelt treten akute Verwirrtheits-
zustände auf, die unter heftigen Sinnestäuschungen einhergehen
und meist auf das Konto erschöpfender-Krankheiten zu setzen sind.
Dann fällt noch in diese Zeit die sogenannte originäre Paranoia,
eine außerordentlich seltene Krankheitsform. Schon in den Kinder-
jahren sich schleichend entwickelnd, wird sie durch die Pubertät in
ihrem Wachstum stark gefördert. Ganz langsam entwickeln sich Größen-
ideen, die meist auf die Abstammung Bezug haben. Still und ver-
54 A. Abhandlungen.
sonnen grübelt das Kind über sein Schicksal nach, wird mißtrauisch
gegen seine Eltern, zieht sich von der Welt und seinen Altersgenossen
zurück und versenkt sich in phantastische Lektüre, bis sich schließlich
ein kompliziertes Wahnsystem ausgebildet hat.
In praktischer Beziehung ist es wichtiger, daß auch manche
Nervenkrankheiten, die ja nicht selten zu den Geisteskrankheiten
in einem sehr intimen Verhältnisse stehen, jetzt von diesem verwandt-
schaftlichen Rechte einen regeren Gebrauch machen. Die allgemeine
Nervosität, die als ererbtes und von frühester Jugend auf über-
kommenes Krankheitsbild weitergeschleppt wird, pocht auf ihre Rechte.
Jetzt gibt auch die erworbene Nervenschwäche, die Neur-
asthenie, ihre Visitenkarte ab. Falsche Erziehung, geistige Über-
anstrengung, sexuelle Ausschreitungen setzen auf der Grundlage der
angeborenen Schwäche des Nervensystems dessen Leistungsfähigkeit
herab. Schlaflosigkeit, Kopfdruck, Verdauungsbeschwerden paaren
sich mit einer reizbaren Schwäche und dem Unvermögen zu geistigen
Leistungen.
Wie Epilepsie und Hysterie haben jetzt auch andere Nerven-
krankheiten schwere Krisen durchzumachen, die leicht mit einer Ver-
kehrung ins Kriminelle endigen. So umkleidet sich der Veitstanz,
die Chorea, mit psychischen Krankheitssymptomen. Es kann bei einer
allgemeinen, leichten Erregung und einem stärkeren Hervortreten des
Trieblebens bleiben. Die allgemeine psychische Verschlechterung
gipfelt aber auch ab und zu in heftigen Erregungszuständen, die sich
durch einen sinnlosen Zerstörungstrieb auszeichnen und sogar in
schweren Gewalttaten ihren Austrag finden.
Auch die Zwangsvorstellungen und Zwangshandlungen
schießen jetzt in Blüte. Beim Kinde sind sie in leichterer Form keine
große Seltenheit. Aber erst die Pubertät beschwört das ganze Heer
der Zwangskrankheiten herauf. Jetzt erst gelangen die schweren
Formen zur Ausbildung. Wie alle psychischen Umwandlungen dieser
Zeit gewinnen sie jetzt eine aktive Gestaltung und drängen dann
wieder leicht in die kriminelle Laufbahn.
Wie diese ganze Periode unter dem Zeichen der Geschlechts-
entwicklung steht, so machen wir oft die traurige Erfahrung, daß
die ungeordneten und exzessiven Äußerungen des Geschlechtstriebes
sich in alle die sonstigen geistigen Störungen hineinverweben. Wieder
sind es meist die Minderwertigen, die auch hierin der krankhaften
Veranlagung opfern. Manchmal nehmen diese geschlechtlichen Ab-
weichungen eine Sonderstellung ein. Denn diese Zeit ist deshalb
so bedeutsam, weil es sich jetzt entscheidet, welchen Weg die ge-
Mönkemöller: Die Psychopathologie der Pubertätszeit. 55
schlechtliche Betätigung des Einzelnen nehmen soll. Die krankhaft
Veranlagten fangen an, die angeborene Anlage in die Tat umzusetzen.
Dem Geschlechtstrieb wohnt in dieser Zeit eine außerordentliche
Gewalt inne. Die normale Form der Betätigung steht ihm noch nicht
offen. Der jugendliche Charakter ist noch nicht genügend gefestigt,
um diesen Anreizungen standzuhalten. So drängt der ungeheure Trieb,
der manchmal deutlichen periodischen Schwankungen unterworfen ist,
stürmisch zur Lösung. Es kommt zu maßlos gesteigerter Onanie und
zur Masturbation mit Altersgenossen. Oder der sexuelle Drang sucht
in den läppischsten Formen seine Befriedigung. Bei den Mädchen
tritt dafür der frühzeitige Hang zur Prostitution kompensierend ein.
Es ist eine Fülle von krankhaften Erscheinungen, die sich in
diese Periode hineindrängen kann. Eine bestimmte Psychose, die
man lediglich der Pubertät zurechnen könnte, gibt es nicht. Wohl
aber vermag diese Umwälzung den verschiedenen Krankheitsprozessen
das gleiche Gepräge zu verleihen, das sie wenigstens äußer-
lich eint.
Überschauen wir alles das, was sich an Psychopathologischem in
diese Zeit hinein verirren kann, so muß es bei oberflächlicher Be-
trachtung überwältigend und niederdrückend wirken. Und es könnte
nur zu leicht scheinen, als ob die Psychiatrie sich wieder in dieser
wichtigen Phase der Fürsorgeerziehung eine ungebührlich einflußreiche
Stellung sichern wollte Das liegt ihr ferne. Ihre Pflicht nur ist es,
immer wieder darauf hinzuweisen, wie tief die Wege des Psycho-
pathologischen in diese schwerste und verantwortlichste aller Erziehungs-
formen hineinführen, und daß die Kenntnis dieser Vorgänge ihr Werk
nur erleichtern kann. Zudem bleibt eine solche Zusammenstellung
dieser krankhaften Prozesse immer ein sehr konzentrierter Extrakt.
In ihm drängt sich alles das zusammen, was an Bedeutung und
Wichtigkeit der Symptome sich in der Praxis verteilt, in Einzelfälle
auflöst und durchaus nicht immer in so ausgesprochenen und kräftigen
Symptomen seine Ausgestaltung sucht. Es soll auch nur darauf hin-
gewiesen werden, daß es zu dieser Verkehrung ins schlechte kommen
kann. Es braucht aber durchaus nicht dazu zu kommen. Man darf
auch die krankhaften Vorgänge dieser Sturm- und Drangperiode nicht
ohne weiteres mit dem Maße messen, das man an die geistigen
Krankheitsvorgänge anderer Altersperioden anzulegen gezwungen ist,
Bei der Labilität und Veränderlichkeit, die hier oft das einzige
Konstante sind, darf man immer darauf rechnen, daß sich ein gutes
Teil dieser auffälligen Symptome wieder ausgleicht, sobald einmal
dieser geistige Umbildungsprozeß zum Abschluß gelangt, sobald der
56 A. Abhandlungen.
Organismus zur Ruhe gekommen und der Charakter gebildet ist. Aber
trotzdem bleibt noch an dauernder Schädigung recht viel übrig.
Die Pubertät als krankheitsschaffender Faktor stellt einen so
bedeutungsvollen Wendepunkt dar, daß sie immer die ernsteste Be-
achtung verdient.
Das gilt wahrlich nicht in letzter Linie für die Fürsorgeerziehung.
Auf den ersten Blick scheinen die Aufgaben, die ihr zufallen, doppelt
und dreifach schwer. Empfängt sie ja doch ein Material in ihre
Obhut, das aus den schwierigsten Verhältnissen heraus gerissen ist
und sich meist in diesem drangvollen Umkristallisierungsprozesse be-
findet, das unter dem Drucke erblicher Belastung und kümmerlicher
Veranlagung seufzt und wenn nicht die Keime so doch wenigstens
die Veranlagung zur geistigen Krankheit in sich birgt. Die Fürsorge-
erziehung verlangt von ihnen die Unterordnung unter fremdes Gebot,
den Verzicht auf Freiheit und Ungebundenheit, die Abkehr von ihren
bisherigen Anschauungen, eine Umbildung der sittlichen Gefühle, die
Unterdrückung des Trieblebens, den ernsten Willen zur Arbeit. Alles
das sind Forderungen, deren Erfüllung den schwankenden Gemütern
gerade in dieser Blütezeit der Impulsivität ganz und gar gegen den
Strich geht. Sie wird ihnen um so drückender, als der gewaltige
krankhafte Einschlag die Aussichten mehrt, daß diese vorübergehende
pathologische Färbung in eine dauernde krankhafte Verkehrung aus-
läuft. Die Gefahr scheint gar nicht fern zu liegen, daß dieses straffe
Regime ungewollt Schwierigkeiten schafft, die der labilen Psyche
unüberwindbar sind, daß sie da züchtigt, wo die Verantwortungs-
fähigkeit für Tun und Lassen nur karg bemessen zu sein scheint, und
daß sie statt zu fördern verschlimmernd auf diese schwankenden Zu-
stände einwirkt.
Das sind aber Befürchtungen, die bei näherer Betrachtung ge-
waltig zusammenschrumpfen. Immer wieder muß man sich vor Augen
halten, daß sich auch solche geistigen Erschütterungen restlos aus-
zugleichen vermögen, bei denen es kaum noch zu erwarten war. Das
liegt eben daran, daß diese psychischen Schwankungen sich im Schutze
des Elternhauses austoben, dessen stetige Ruhe und zielbewußte Leitung
das geistige Gleichgewicht aufrecht erhält, das alle sonstigen Fährlich-
keiten nach Möglichkeit abwehrt und dem Tasten des sich zur Selb-
ständigkeit durchringenden Geistes die Wege weist. Damit ist aber
auch für die Fürsorgeerziehung gesagt, wie sie sich mit dieser Gefahr
abzufinden hat. Wie sie dazu berufen ist, die Pflichten des Eltern-
hauses zu übernehmen, so hat sie diese Aufgabe erst recht in dieser
kritischen Zeit zu lösen.
Mönkemöller: Die Psychopathologie der Pubertätszeit. AT
Wenn bei den Zöglingen, die in die Fürsorgeerziehung eintreten,
nicht selten gerade in dieser Periode der Ausschlag ins Krankhafte
erfolgt, so liegt das in erster Linie daran, daß sie ohne jede ziel-
bewußte Leitung, nur auf die schwache innere Kraft gestützt, diesen
Kampf durchfechten müssen, allen Schädlichkeiten preisgegeben in
körperlicher und geistiger Beziehung vernachlässigt. Wie zerrüttend
ein solches Milieu wirken muß, liegt auf der Hand. Wenn daher die
Fürsorgeerziehung schon im allgemeinen ein dringendes Interesse daran
hat. den Kampf gegen die Verwahrlosung so frühzeitig wie möglich
aufzunehmen, so-ist es das allermindeste, wenn sie verlangt, daß
wenigstens die Umwälzungsprozesse der Pubertät den Anfechtungen
des zerrissenen Milieus des Elternhauses entzogen werden. Sie muß
darauf bestehen, daß sich gerade die innere Umgestaltung, das Aus-
wachsen zur gereiften Persönlichkeit unter ihrer umsichtigen Leitung
vollzieht.
Dadurch verliert auch der Gedanke viel von seinem Schrecken,
daß so viel Psychopathologisches in dem Fürsorgeerziehungsmateriale
steckt. Auch dessen Anwartschaft auf eine Wendung zum Schlechten
wird recht wesentlich gemindert, wenn dem krankhaften Nährboden
die schädigenden Gelegenheitsursachen entzogen werden. Will die
Fürsorgeerziehung diese Aufgabe lösen, dann kommt es bei diesen
pathologischen Elementen allerdings um so mehr darauf an zu wissen,
daß man es eben mit Objekten zu tun hat, die in diesem Stadium
eine besondere Rücksichtnahme erheischen. Und darum kann man
sich nicht früh genug über die Wertung des Geisteszustandes klar
werden. Man darf nicht abwarten, bis die Pubertät dafür gesorgt hat,
daß diese Abkehr vom Normalen sich auch dem widerstrebendsten
Auge erschließt.
Wenn sich schon vorher aus den verschiedensten Gründen die
Schaffung einer lückenlosen Vorgeschichte und womöglich
eine psychiatrische Feststellung des Geisteszustandes belohnt
macht, ist sie für diese Phase gar nicht zu entbehren.
Damit soll durchaus nicht gesagt sein, daß der Erzieher diese
suspekten Zöglinge nun immer mit Glacöhandschuhen anfassen solle,
sobald diese Klippen des Erziehungswerkes in Sicht kommen. Im
Gegenteil! Zuerst scheint zwar bei vielen dieser Vertreter der Minder-
wertigkeit, wenn sie nun in das Empfindsame, Reizbare, Schwärmerische,
Unausgeglichene dieses inneren Gärungsprozesses versinken, eine zarte
Hand am Platze zu sein. Und doch wäre das eine falsche Medizin!
Man soll sich in diesen Fällen immer bewußt bleiben, daß diese
psychische Verstimmung eine schlimme Wendung nehmen kann.
58 A. Abhandlungen.
Dementsprechend soll man solche von vornherein mehr gefährdete
Zöglinge unausgesetzt im Auge behalten. Beobachtet man sie, wenn
diese Zeit gekommen ist, mit verständnisvoller Sorgfalt, dann ist es
noch immer Zeit, im richtigen Augenblicke sachverständige Hilfe in
Anspruch zu nehmen und die Behandlung nach den durch die Lehren
der Psychiatrie gebotenen Grundsätzen einzurichten. Läßt man diese
Vorsicht nicht aus dem Auge und ist man imstande, diese Vorgänge
richtig zu deuten, dann braucht man, auch wenn die Lebensäußerungen
eine etwas bunte Gestaltung annehmen, nicht von den straffen und
zielbewußten Grundsätzen abzugehen, ohne die eine erfolgreiche Für-
sorgeerziehung nicht bestehen kann.
Man darf natürlich, wenn diese Zeit gekommen ist, nun auch
nicht säumen, Zöglinge, die aus dem physiologischen Rahmen gar zu
sehr herausfallen, in das ihnen zukommende Regime zu versetzen.
Man sollte vor allem auch für die Degenerierten, deren Asozialismus
jetzt das erlaubte Maß überschreitet, Zwischenanstalten schaffen. Wenn
ich bei meinen Untersuchungen an schulpflichtigen Zöglingen
keinen oder höchstens doch ganz vereinzelte Fälle aufzufinden ver-
mochte, die eine solche Zwischenanstalt beanspruchten, so beweist das
am besten die Bedeutung, die die Pubertät für die Aussonderung dieser
pathologischen Elemente in sozialer Beziehung hat.
Man braucht es im übrigen nicht zu tragisch zu nehmen, wenn
die Psyche jetzt keinen zu erfreulichen Anblick gewährt. Man kann
sich leichter damit abfinden, wenn die Besserung auf ethischem Gebiete
nicht die gewünschten Fortschritte macht, oder wenn sogar eine un-
erklärliche Verschlechterung die Mühe der Erziehung so übel zu
lohnen scheint.
Man soll sich auch gerade in dieser Zeit besonders davor hüten,
die Aussichten für die Zukunft zu schlecht zu stellen. Wenn
im Kindesalter und erst recht in der Pubertät die Labilität groß ist,
ist auch die Erholungskraft des kindlichen Gehirns um so bedeutender.
Psychische Störungen gleichen sich leichter aus, wenn auch immer
die geistige Erkrankung auf eine Schwäche des Nervensystems hin-
deutet, die in gewissem Grade ein Mene Tekel für spätere Erkrankungen
bleibt. So sollte das Verdikt der Unerziehbarkeit auch bei minder-
wertigen Zöglingen in diesem Zeitpunkte nur in den schwersten Fällen
und nur mit der größten Vorsicht gefällt werden.
Es. gewährt auch einen gewissen Trost, wenn man weiß, daß
manche in sonstigen Lebensaltern in ihren Heilungsaussichten sehr
ungünstige Formen von Geisteskrankheit, wenn sie in der Pubertät
ausbrechen, einen günstigen Verlauf nehmen können. Man hat sogar
Mönkemöller: Die Psychopathologie der Pubertätszeit. 59
Fälle beobachtet, in denen die Psychosen in der Jugend sozusagen
ein kritisches Ereignis darstellen, das die früheren Hemmnisse der
geistigen Entwicklung beseitigt, daß solche Kinder geistig regsamer,
für die Umgebung erträglicher und sozialer werden. Allerdings tut
man gut daran, seine Hoffnungen auf eine solche Spätentwicklung
nicht zu hoch zu spannen.
Man kann es, wenn man in seinem Urteile ganz sicher ist, ver-
antworten, solche psychisch schlechter gestellten Persönlichkeiten in
besonders schweren Fällen nicht die Zickzacksprünge entgelten zu
lassen, zu denen sie die Veranlagung und der Drang dieser Periode
treiben, wenngleich eine solche Rücksichtnahme in dem schwierigen
Milieu der Anstalt nur mit großer Mühe durchzuführen ist.
Im allgemeinen aber verlangt gerade diese Periode,
was immer wieder hervorgehoben werden muß, eine kräftige und
energische Leitung, die sich von der Sentimentalität dieser Epoche
nicht anstecken zu lassen braucht. Der Freiheitsdrang muß gezügelt
werden, wenn er nicht ausarten soll. Geht die Erziehung mit Ruhe,
Gleichmäßigkeit und Zielbewußtsein vor, dann kann sie sich
ruhig auch der strengeren Mittel bedienen, ohne eine psychische
Schädigung befürchten zu müssen.
Sie braucht nicht auf das Straf- und Züchtigungsrecht zu ver-
zichten, wenn sie sich auch daran erinnern muß, daß mit dem Ein-
treten der Männlichkeit die Strafen, deren man ja auch im all-
gemeinen nach Möglichkeit entraten soll, eine gewisse Um-
wandlung verlangen. Selbstverständlich muß die Erziehung
sich dabei wohl bewußt bleiben, daß bei manchen Krank-
heitsformen, auf die ich jetzt nicht einzugehen brauche,
und in gewissen Situationen die Strafe unter keinen Um-
ständen angewandt werden darf. Beherzigt sie das, dann braucht
sie sonst auch vor dem Minderwertigen selbst in diesem kritischen
Zeitpunkte nicht halt zu machen.
Das gilt auch für das Verhalten in der Schule. Man darf es
in den letzten Schuljahren dem Schüler nicht zu übel nehmen, wenn
er sich schwerer zu konzentrieren vermag, wenn er unaufmerksamer
wird und träumt, wenn er in seinen Fortschritten nachläßt und dafür
mit um so kümmerlicheren ethischen Leistungen aufwarte. Man tut
gut daran, wenn man solche Schüler, bei denen sich dieses Nachlassen
in unauffälliger Weise bemerkbar macht, einer besonderen Beobach-
tung würdigt und nie den Gedanken an ein beginnendes psychisches
Leiden auszuschalten trachtet.
Man soll sich auch davor hüten, bei minderwertigen Schülern,
60 A. Abhandlungen.
die nur mit Mühe und Not durch die einzelnen Klassen geschleppt
werden müssen, so lange zu warten, bis die Pubertät den völligen
Zusammenbruch ins Werk setzt. Besser ist ein rechtzeitiger Verzicht
auf den normalen Ablauf der Schullaufbahn und unbekümmerte In-
anspruchnahme der Hilfsschule auch in einer Zeit, die schon für
diese Umsattelung etwas vorgeschritten erscheint. In solchen Fällen,
in denen die physiologische Einwirkung der Pubertät einen patho-
logischen Werdegang zu nehmen droht, kann man das Maß seiner
Ansprüche herabsetzen. Sonst aber braucht man sich vor dem Ge-
spenste der Überbürdung auch in dieser kritischen Zeit nicht zu
fürchten. Dafür bürgt schon die Art des Materials und des Lehr-
ganges, der von den Aufgaben höherer Schulen nicht beschwert ist.
Man kann dem Geiste ruhig alies das zumuten, was von einem
normalen Schüler entsprechend seiner allgemeinen Veranlagung ver-
langt werden kann. Es ist sogar sehr gut, wenn ihm ein nicht zu
knapp bemessenes Pflichtpensum abgezwungen wird, um eine Ab-
lenkung von dem gärenden Gedankeninhalte dieser Zeit herbeizuführen.
Gilt das schon von der Arbeit auf geistigem Gebiete, so ist die
körperliche Arbeit geradezu ein wichtiges Gebot. Auf diese Weise
kann sich die steigende Muskelkraft auf legalem Wege austoben, der
Tatendrang findet hier die zweckmäßigste Befriedigung und gleichzeitig
ist sie das beste Mittel, geschlechtlichen Verirrungen durch die ein-
tretende Ermüdung einen Damm entgegen zu setzen.
In diesem Übergangsstadium, in dem die Abhängigkeit des
geistigen Befindens von körperlichen Vorgängen unbestreitbar ist,
muß eine Kräftigung des Körpers durch gute Nahrung, den Aufenthalt
in frischer Luft, durch eine sorgfältige Hautpflege, durch Turnen und
gymnastische Übungen das erste Gebot sein. Gerade die Über-
wachung der ganzen Lebensführung, wie sie die krankhafte Aus-
gestaltung der erblichen Anlage verhüten soll, läßt sich kaum besser
wie in der Anstaltsbehandlung durchführen.
Man muß sich in diesen Geburtsjahren des Geschlechtstriebes
auch damit abfinden, wenn sich jetzt die Onanie als Inventarstück
dieser Periode erweist. Man muß sich oft darauf beschränken, den
Kindern über diesen schwierigen Zeitpunkt wegzuhelfen und vor allem
das weibliche Geschlecht vor dem Chronischwerden der sexuellen
Neigungen zu behüten. Wie verwerflich sie auch sind und wie sehr
es schmerzt, daß man im Kampfe dagegen oft so wenig ausrichtet, —
man trägt die Exzesse leichter, wenn man weiß, daß es sich in der
Regel um ein ausgleichbares Übel handelt, das mit der Zeit nach dem
Vorübergehen dieser Periode selbst Valet sagt.
Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 61
Der therapeutische Gesichtspunkt, der die Fürsorgeerziehung be-
seelen soll, bei ihren Schutzbefohlenen in diesem Zeitpunkte die
schlummernde Anlage vor schädlichen Gelegenheitsursachen zu be-
wahren, muß sie auch bestimmen, manchen den Eintritt in die Familien-
pflege länger zu verwehren. Nimmt die Geschlechtsentwicklung eine
etwas auffallendere Gestaltung an, dann tut man am besten daran,
diese Stürme im Hafen der Anstalt austoben zu lassen und ihnen erst
später mehr Freiheit und größere Selbstbestimmungsfähigkeit zu ge-
währen.
Mit Rücksicht auf die Gefahren, die den erblich Belasteten gerade
in dieser Zeit vom Alkohol drohen, kann auch nicht früh genug mit
dem Kampfe gegen diesen Erbfeind der Degenerierten vorgegangen
werden. Vor allem muß eine energische und anschauliche Aufklärung
über seine Schädlichkeit erfolgen.
Eine kritische und richtige Behandlung verwahrloster Persönlich-
keiten, die dem Maße der geistigen Minderwertigkeit — auch auf
diesem Gipfel ihrer krankhaften Laufbahn — gerecht wird, ohne den
Zügel der straffen Erziehung schleifen zu lassen, wird für immer
eines der schwierigsten Probleme der Fürsorgeerziehung bleiben, das
an das Taktgefühl, an den pädagogischen Scharfblick und das psychi-
atrische Verständnis der Erzieher zuweilen recht hohe Anforderungen
stellt. Sie bleibt aber auch ein sehr dankbares Arbeitsfeld. Wer die
Probleme gerade dieser Zeit richtig erfaßt und überschaut,
der wird auch das gesteckte Ziel am leichtesten erreichen,
der wird hier gerade die schönsten Erfolge feiern.
2. Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwach-
sinnigen und schwerschwachsinnigen Kindern.
Von
Kurt Lehm, Dresden.
(Mit 4 Abbildungen.)
(Fortsetzung statt Schluß.)
Einige Ausführungen zu vorstehenden Tabellen.
Gern hätte ich die Zahl der Tabellen vermehrt, doch erschien sie
mir für Zweck und Umfang dieser Arbeit hinreichend. Auch wird
man in den Tabellen die Ergebnisse des Jahres 1911 vermissen.
Diese habe ich ausgeschaltet aus zwei Gründen: es änderte sich der
Schülerbestand bis auf sechs Schüler, auch brachte er mir — ich
greife damit voraus — dieselben Erscheinungen in der sprachlichen
Entwicklung wieder, ich hätte also in der Hauptsache nur Wieder-
62 A. Abhandlungen.
holungen bieten können. Andrerseits verfuhr ich auch von Ostern
1911 an methodisch in anderer Richtung, so daß dadurch die weiteren
Tabellen nicht mehr auf derselben Grundlage sich befunden haben
würden, wie ja bereits die Ergebnisse von 1912 unter diesem neuen
Einfluß stehen. Diese Gründe sollen auch dem folgenden Teil meiner
Abhandlung die Disposition geben.
a) Welche Erscheinungen in der sprachlichen Entwicklung und
Wesenheit der beobachteten schwerschwachsinnigen Kinder ergaben sich?
b) Welches methodische Verfahren erwies sich der geistigen
Eigenart der schwerschwachsinnigen Kinder entsprechend ?
Wenn ich im folgenden vom Sprechunterricht rede, möchte ich
diesen Begriff zunächst nur auf Laut- und Wortsprechen begrenzen.
Vom Satzsprechen gedenke ich in einer besonderen Abhandlung ein-
mal zu schreiben.
Die Klasse im Jahrgang 1910—1911 hatte zwölf Schüler, darunter
befanden sich zwei ziemlich gute Wortsprecher. Die Klasse im Jahr-
gang 1911—1912 setzte sich aus fünfzehn Schülern zusammen, dar-
unter befanden sich drei Kinder, die die behandelten Wörter fast
fehlerfrei sprachen. Es erwiesen sich somit die Vorschüler dieser
beiden Jahrgänge in der großen Mehrzahl als Sprachkranke: fünf Ge-
sunde, zweiundzwanzig Sprachkranke. Es ist damit die zwingende
Notwendigkeit besonderen Sprechunterrichts für die Vorstufe wie für
die folgenden Klassen dargetan. Aus dem Jahrgang 1910/11 gehörten
auch dem Jahrgang 1911/12 an die in den Tabellen mit A, B, C, G,
H, L bezeichneten Schüler.
Nach Maßgabe der Tabellen seien nun einmal die in der Klasse
1910/11 herrschenden Sprechübel zusammengestellt. Die zu sprechen-
den Wörter wurden entstellt durch Weglassung von Vokalen und
Konsonanten, durch Hinzufügung von Lauten, die in den Wortverband
nicht hineingehörten, durch Nachklingen, durch Vorausnahme, durch
Austausch gegen ähnlich klingende Laute, durch falsche Atemführung,
durch fehlerhafte Heraushebung gewisser Lautelemente und andrerseits
durch bedenkliche Verflüchtigung, durch Anwendung von Übergangs-
lauten: ein ganzes Heer von Sprechfehlern, und dabei waren die
Kinder in ihren Sprechorganen gesund.
Dieser Über- oder soll ich sagen Ohnmacht stand ich zunächst
ziemlich ratlos gegenüber. Die Vokale nahm ich durch nach Köllescher
Weisung, probierte aber auch die Konsonanten durch, wobei ich fand,
daß die meisten von allen Kindern ziemlich richtig gesprochen wurden,
so daß es mir nicht recht einleuchten wollte, daß die einzelnen Kon-
sonanten an Begriffswörtern erst erlernt werden sollten. Gleichwohl
Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 63
blieb ich Kölle treu, stieß aber bei den Begriffswortübungen auf
erhebliche sprechtechnische Schwierigkeiten. Das Unterfangen, das
fehlerhaft gesprochene Begriffswort bei allen Kindern in täglicher
Übung zu möglichster Vollkommenheit herauszuarbeiten ohne Hinzu-
nahme neuer Begriffswörter, unterließ ich bald. Dauerübungen in
derselben Richtung halfen nicht über die Klippe.
Ich versuchte auf andere Weise zum Ziel zu gelangen. Ich
arbeitete das einzelne Wort bis zu einer zunächst erreichbaren Voll-
kommenheit aus, nahm neue Begriffe hinzu, griff aber tagtäglich auf
die vorher geübten Wörter zurück, um aufzufrischen und weiter aus-
zubauen. Da ich bei diesen Übungen schon nach einigen Tagen die
Übersicht über den Stand des einzelnen Kindes verlor, nahm ich
meine Zuflucht zu Aufzeichnungen und fand in ihnen einen Weg-
zeiger zu ganz individuellem Verfahren, machte dabei auch für metho-
dische Maßnahmen wichtige Entdeckungen. Ich ersah daraus z. B.,
daß ich im Anfang einen großen Fehler begangen hatte, indem ich
zu rasch über die Vokale hinweggegangen war, und weiter wurde
mir klar, daß der neu zu behandelnde Konsonant mit jedem Vokal
in Verbindung gebracht, nicht ohne weiteres den betreffenden Vokal
wiedererkennen ließ, da durch die silbische Verbindung der Vokal
mancherlei Klangabänderungen erfährt: so war es gekommen, daß ich
bei der Mehrzahl der Schüler vor jedem Worte Laut- und Silben-
übungen hatte vornehmen müssen, um mich dann schließlich dem
Wort selbst zuwenden zu können. Und das war wieder ein steiniger,
ziemlich unvermittelt zur Höhe führender Pfad, und diese Art der
Begriffserwerbung schien mir für meine Schüler nicht angenehm. Es
dauerte bei manchen Wörtern Tage, Wochen, ja Monate, ehe ich das
Ziel einigermaßen erreichte.
Ich suchte einen andern Weg für den Sprechunterricht ausfindig
zu machen, ich hielt mich an die Artikulationsfibel von Rehs und Witt.
Leider reichte für die Vorübungen der Stoff nicht aus; auch erwiesen
sich die einzelnen Gruppen zu wenig in sich geschlossen. Ich er-
gänzte nach andern phonetischen Fibeln, fand aber bei allen denselben
Fehler: Lesefibeln, nicht Sprechfibeln sind sie. Eine wertvolle
Entdeckung machte ich aber bei den Silbenübungen: Sie sind eine
Wohltat für die an Gedächtnisstörungen leidenden Kinder.
Die wenig umfänglichen Silben überblicken sie, merken sie; voran
die einzelnen Laute, dann kleine Lautvereinigungen, die Silben, so
dringen die Sprachelemente als Pioniere der klingenden Sprache vor
ins Lautbewußtsein. Nötig sind solche Übungen auch in der Normal-
schule, denn dem Elementaristen muß die Klangwelt der Sprache auch
64 A. Abhandlungen.
erst erschlossen werden. Bitternot sind solche Übungen aber den
Schwachen und Schwächsten der Elementaristen, den C-Schülern des
Differenzierungssystenis. Ich bin der Überzeugung, daß die Zahl der
Schüler, die in der achten Klasse wegen ungenügender Leistungen in
Deutsch sitzen bleiben müssen, erheblich geringer werden wird, wenn
den grundlegenden Übungen der Laut- und Silbenerfassung und
Wiedererzeugung viel mehr Raum gewährt wird.
Diese Überzeugung ist nicht das Ergebnis einer gedanklichen
Verallgemeinerung, sie ist in der Erfahrung begründet, die sich in
einer Reihe von Jahren bei der Arbeit im Deutschunterricht der
Elementarklasse wiederholte. In dem bei Wunderlich - Leipzig er-
schienenen Buche »Wie ich meine Kinder das Lesen lehre« habe ich
mein Verfahren dargelegt; ich bin damit alljährlich unter reichlicher
Einwirkung auf die Schwachen schnell und sicher zum Ziele gelangt
und hatte alljährlich die Freude, meine Kinder unvermittelt fest vor
die Tatsache stellen zu können, dies meist zwischen Michaelis und
Weihnachten schon: Jetzt könnt ihr das ganze Buch auslesen; jetzt
fangen wir die Fibel an. Und da hub ein freudiges Jauchzen an,
und die Freude steigerte sich bis zur letzten Seite. Das war Lesen,
Hineinlesen ins Buch, nicht Auswendiglesen. Doch dies nicht etwa
mir zu Lob, ich schreibe es um der Sache, vor allem um der Kinder
und unter ihnen um der mir sehr am Herzen liegenden Schwachen
willen.
Mein Buch nahm ich jetzt zur Hand für den ersten Sprech-
unterricht in der Vorklasse. Nach meinem bisherigen Verfahren lag
ein Fehler in der methodischen Einheit » Wortbildung«, insofern
nämlich die Wörter unvermeidlich schwere Lautverbindungen bringen
mußten. Die Wortauswahl traf ich nun immer unter Bedacht darauf,
welches Silbenmaterial meinen Kindern für glattes Sprechen zur Ver-
fügung stand. Hätte ich mich aber ganz und gar nach meinem Buche
richten wollen, so wären wesentliche Schallträger und Lautsinnbildner
sehr spät ins Übungsbereich gezogen worden, die Um- bezw. Doppel-
laute ä ö ü oi ai au. Ich schaltete sie sehr bald ein und konnte auf
diese Weise das Silbenmaterial und den Wortschatz bedeutend ver-
mehren. Nachdem alle Laute behandelt und die Wörter mit ein-
fachen Silbenverbänden durchgenommen waren, begann ich die Ein-
führung in die Wörter mit Konsonantenhäufungen und verfuhr dabei
nach der aus der Elementarunterrichtspraxis als zweckmäßig erfundenen
Methode: Konsonantenfolgen in der Wortmitte, am Wortende, am
Wortanfang. Die Übungsgruppe Kl, Gl gestaltete sich so:
Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 65
a a
e e
i i
o o
u u
KI ? au GI ? au
ei ei
ä ä
ö ö
oi oi
Wortmaterial: a) klagen b) Klasse c) klaps
klar klatschen klitsch
Klara Kleister klatsch
kleben Klemmer Klotz
klein Klapper
Kleid Klumpen
klug
USW.
Dieser Weg war insofern vermittelnder, als die Kinder in etwa
halbjähriger Übung an Silben und Wörtern und Dingen ohne Kon-
sonantenhäufungen sich sprachlich stärken konnten, und dabei eine
gewisse Elastizität der Sprechwerkzeuge erreicht wurde. Nun konnten
sie mit Vertrauen an die Konsonantenhäufungen herantreten. Die
ersten ergaben sich aus silbisch günstig gestalteten Wörtern z. B. Im
aus Selma usw. Auf Konzentration konnte ich allerdings nicht in
dem Maße zukommen, wie ich es gern gehabt hätte. Immerhin war
das Verfahren für die Kinder und für mich befriedigend. Wie sich
auch die Konzentrationsfrage doch noch in Einklang mit dem Sprech-
unterricht bringen läßt, darüber schreibe ich dann noch. In diesem
Zusammenhange scheint es mir zuvor wichtiger, noch eine sprech-
technisch-methodische Frage zu behandeln.
In den Tabellen ist durch Ausrufezeichen auf Schüler mit falscher
Atemführung hingewiesen, ferner sind Fälle von Wort- und Silben-
zerreißung ersichtlich. Diese Übel wollten sich auch nicht beseitigen
lassen. Da beschloß ich, mir Rat bei einem Sprechmeister zu holen
und absolvierte einen sechswöchigen Stimmbildungskursus bei Professor
Eduard Engel-Dresden. Die viele Mühe, die dieser Kursus brachte,
ist mehrfach aufgewogen worden. Zunächst merkte ich bald, daß für
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 5
66 A. Abhandlungen.
mich ein großer Vorteil aus dieser Arbeit erwuchs: Das viele, viele
Vorsprechen in der Vorstufe verursacht mir keinerlei Beschwerden
mehr, und die Art und Weise der Lautwiedergabe wirkt sprachlich
erziehend, die Auffassung erleichternd, auf die Kinder. Vor dem
Kursus erging es mir manchmal wie Kölle, meine Stimme schien mir
oft nicht ausdauernd genug. Professor Engel hat meine Stimme ge-
stählt, Ermüdung kenne ich nicht mehr, ja, das Vorsprechen, die
immerwiederkehrende Durchnahme der Elemente ist mir aufs neue
Gelegenheit, den Gesundungsweg zu beschieiten. Und diesen Weg
gehen meine Kinder mit. Sie erwerben eine sichere Artikulations-
basis, Vokalklang- und Vokaldauer, richtige Stimm- und Atemführung.
Einige Worte zu den drei Punkten. Ausführliches über die
Engelsche Methode in der Hilfsschule habe ich geboten im fünften
Band der Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des jugend-
lichen Schwachsinns (Fischer-Jena) unter der Überschrift: Sprachliche
Erziehung in der Hilfsschule unter besonderer Berücksichtigung der
Methode von Professor Engel-Dresden.
a) Vielfach machte ich bei den Sprechübungen die Bemerkung,
daß die Kinder nicht wußten, wie sie die Zunge einstellen sollten;
und doch ist die Zunge das Hauptsprechwerkzeug. Von ihr hängt
die ganze Vokalbildung ab, und die von Engel geforderte Grund-
stellung — vorderer Zungenrand an den Oberrand der Unterzähne —
läßt sich auch bei Hilfsschulkindern erreichen. Die Zungenlage be-
seitigt die durch das Zurückziehen der Zunge bei aeiouäöü
oi ai au entstehenden Schallräume vor der Zungenspitze, erweitert
dafür aber das hintere Schallrohr, das durch das Zurückdrängen der
Zunge verengt wird und infolgedessen die Entfaltung der Laute, der
Stimme hemmt.
b) Nach Einübung dieser Grundstellung bekamen die Vokale bei
meinen Hilfsschülern andre Klangfarbe. Die Kinder merkten es selbst
und freuten sich darüber. Das schwerstimmkranke Kind A (Tabelle)
hat auch unter diesem Erkennen gestanden und hat Arbeitsfreude in
dieser Methode gefunden. Mit einem einmaligen Nachsagen eines
Vokales war es freilich nicht getan, jeder Vokal wurde in lang-
klingendem Tone gesprochen und dann in Vokalverbänden geübt, so
daß nach und nach die Doppelreihe der Engelschen Vokalschule
entstand
aeiou
ä ö ü oi ai au
Freudig überrascht war ich damals bei Beginn des Engelschen
Kurses, als ich auf diese Übungsgruppe kam. Sie war mir bekannt
Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 67
aus langjähriger Arbeit in Elementarklassen, und wenngleich ich, wie
ich schon vorher angedeutet habe, diese Laute in andrer Gruppierung
behandelte, so war es mir doch höchst erfreulich, in der Engelschen
Grundschule eine stofflich ähnlich meiner Arbeit gruppierte Einheit
vorzufinden; jedoch trat, wie ich auch bemerkt habe, ein andres Ver-
fahren hinzu. Es handelte sich nicht nur darum, daß die Selbst-,
Um- und Doppellaute einzeln gesprochen wurden, sondern daß man
sie zu Lautketten vereinte, daß die Gruppen also so gesprochen
werden müssen:
E
ä ö ü oi ai au
Es entspricht der Lernweise schwachsinniger Kinder, wenn man
nicht eine ganze Lautkette auf einmal vornimmt, sondern aufbaut von
zwei zu drei Gliedern usw. Es ergibt sich dann nach und nach bei
täglicher Übung eine wohltuende und für die Übenden in mancher
Beziehung nützliche Vokallänge.
c) Vokallänge und Vokalklang sind bedingt durch richtige Atem-
führung und Stimmeinstellung. Früher hatte ich mit meinen Sprech-
schülern besondere Atemübungen vorgenommeu, u. a. nach Gutzmann.
Nun sind diese Übungen ohne Zweifel von mancherlei Vorteil. Für
Schwachsinnige bezw. Schwerschwachsinnige tritt aber durch die Kom-
plikation, daß sie beim Sprechen nun auf diese oder jene Atemübung
achten sollen, eine Erschwernis ein. Nach Prof. Engels Methode sind
besondere Atemübungen nicht nötig, es ergeben sich bei Aufbau der
Sprechübungen ganz natürlich der Drang nach größerem Atemvolumen
und die Einsicht in die ökonomische Verteilung des Atems. Mit den
Vokalübungen setzt bei den Kindern von selbst die richtige Atem-
führung ein, und damit bessert sich die Stimme. Das ist das letzte
Rätsel gewesen, vor dem ich bisher bei den Sprechübungen in der
Vorstufe gestanden habe. Doch wer weiß, vor welch neue Rätsel die
Tage nach Ostern uns schon wieder stellen.
Das bisher Dargelegte überschauend bezw. weiterführend, ergeben
sich folgende Tatsachen:
Die seit 1910 beobachteten beiden Vorstufeklassen der Hilfsschule
waren von vielen sprechkranken Kindern besucht; 1910/11 waren es
s31/,%,, 1911/12 80°/, des Klassenbestandes.
Von diesen sprachkranken Kindern kamen 1910/11 bezw. 1911/12
zu guter bezw. leidlicher Aussprache der geübten Wörter 60 bezw.
T5 %,.
5*
68 A. Abhandlungen.
Zu einer verständlichen Aussprache aller geübten Wörter hatten
es unter den Sprachkranken noch nicht gebracht 231/, bezw. 5°%),.
Das Unterziel des Wortsprechens wurde 1910 bis 1912 erreicht
von sechs Kindern in einem Jahreskursus, von neun Kindern in zwei
Jahreskursen; sieben Kinder haben das Ziel mit zwei Jahreskursen
noch nicht erreicht. Unter diesen sieben Schülern befinden sich drei,
die auf eine vierjährige Hilfsschulzeit zurückblicken. Sie besuchten
zwei Jahre die Unterstufe — Vorstufe hatten wir damals noch nicht
— in wohlgefüllter dritter Klasse. Für sie waren diese beiden Jahre
in Bezug auf sprachliche Förderung, wenn auch nicht nutzlos, so doch
nicht in dem Maße nutzbringend, als es dann im Sonderunterricht
möglich sein konnte Wenig gegliederten Hilfsschulen sollten
auf jeden Fall besondere Sprechstunden zugebilligt werden.
Wie wichtig der Sprechunterricht für die Hilfsschule ist, das wird
jetzt auch gesetzlich anerkannt. Der Entwurf für ein Schulgesetz
für das Königreich Sachsen bringt in $ 21 — Hilfsschulle —
folgenden Passus: »Auf die körperliche Ausbildung, die Förderung
der Handgeschicklichkeit und die Pflege der Sprache ist be-
sonderes Gewicht zu legen.«
Nun kann ja freilich der Einwand erhoben werden: es ist der
Erfolg vierjähriger Arbeit doch recht gering; es wäre wohl ratsam,
solche Kinder, die sprachlich so tiefstehend sind, daß sie bei Schul-
eintritt sich nicht mit ein paar Worten verständlich machen können,
die wohl gar zur Geste greifen, entweder gar nicht erst aufzunehmen
in die Hilfsschule oder sie doch bald wieder zu entlassen zugunsten
andrer, sprachlich befähigterer Kinder.
Ich bin anderer Meinung. Die eben dargestellte vierjährige Arbeit
an schwerschwachsinnigen, sprachlich bedenklich zurückstehenden
Kindern läßt mich die Ansicht aussprechen, es möchte mit solch be-
dauernswerten Geschöpfen nicht nach der Schablone verfahren werden,
falls sie sonst nicht unterrichtstörende Eigenschaften haben. Einmal
weiß man nicht, ob sich das Kind doch nicht noch sprachlich ent-
wickelt, wenn die Entwicklung auch langsam vorschreitet; weiter kann
man nicht wissen, ob das sprachkranke Kind nicht auf anderen Ge-
bieten Fortschritte machen wird; es kann sogar der Fall sein, daß ein
sprachlich besser gebildetes Kind hinter dem sprachkranken in andern
Leistungen zurückbleibt. Und es ist doch die Sprache ein so köst-
liches Gut für jeden Menschen, daß die Hilfsschule an ihrem Teil
das Beste dransetzen muß, um auch den sprachlich schwergeschädigten
Kindern das erreichbar Mögliche zu verschaffen, daß sie soweit kommen,
daß sie sich mit wenig Worten (ich denke nicht an grammatisch gut
Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 69
gebaute Sätze) verständlich machen und fortfinden können. Schaltet
man solche Kinder vom Hilfsschulunterricht aus — wer nimmt sich
ihrer zu sprachlicher Erziehung an? Das Elternhaus? Sollte es in
sprachlicher Erziehung mehr vermögen als die Schule? Oder soll der
Zufall dieser Ärmsten Lehrer sein? Ja, wenn diese Kinder in der
ganzen Hilfsschulzeit nur — es ist das viel — die nötige Umgangs-
sprache verstehen lernten, wenn sie es weiter vermöchten, ganz kurz
zusammengehörige Sachganze sprachlich zu bezeichnen, z. B. ein Stück
Butter — ein Pfund Mehl — ich heiße NN usw., so wäre ihnen der
Lebensweg immerhin einigermaßen erleichtert, und die Hilfsschule
könnte sich mit Beruhigung sagen: wir haben das Erreichbare erstrebt
und erreicht.
Und so habe ich mir vorgenommen, nicht mehr nach der ein-
gangs erwähnten Kölleschen Begriffssammlung zu verfahren, sondern
folgende Gruppen — Lebensbilder — zu bearbeiten und mich zu
ihrer lebenspraktischen Verwertung mit dem Elternhause in Ver-
bindung zu setzen:
a) Gegenstände und Tätigkeiten in der Küche.
b) Gegenstände und Tätigkeiten in der Wohnstube.
c) Gegenstände und Tätigkeiten in der Schlafstube.
d) Gegenstände und Tätigkeiten beim Reinemachen.
e) Gegenstände und Tätigkeiten bei der Wäsche.
f) Die einfachen Grußformen im Elternhause.
g) Die einfachen Grußformen auf der Straße.
h) Die einfachen Grußformen in der Schule.
i) Gegenstände und Tätigkeiten in der Schulstube.
j) Teile des Schulhauses vom Keller bis zum Boden.
k) Gegenstände und Tätigkeiten im Schulgarten.
1) Gegenstände, Lebewesen und Tätigkeiten auf der Straße.
m) Was die Kinder beim Kaufmann holen, und was sie da sagen
müssen.
n) Was die Kinder beim Fleischer holen, und was sie da sagen
müssen.
o) Was die Kinder beim Bäcker holen, und was sie da sagen müssen.
p) Was die Kinder im Büdchen holen, und was sie da sagen müssen.
q) Was die Kinder im Milchladen holen, und was sie da sagen müssen.
r) Der Körper des Kindes, seine Tätigkeiten, seine Bedürfnisse.
s) Die Kleidung des Kindes. (Aus was? wozu? woher? Sommer,
Winter?)
t) Tätigkeiten und Gegenstände beim Flicken.
u) Ordnung (Bürste, Kamm, Schwamm und Seife).
70 A. Abhandlungen.
v) Spielbezeichnungen und in Spielen gebräuchliche Ausdrücke.
w) Die für das Zimmerturnen und die Atemübungen gebräuch-
lichen Kommandos.
x) Familienfeste (Geburtstag, Kindtaufe).
y) Kinderfeste (besonders Weihnachten; was das Christkind
bringt usw.).
z) Vom Wetter und den Jahreszeiten.
Diese und ähnliche Stoffe gedenke ich nach zwei Richtungen hin
konzentrisch unterrichtlich zu verwerten. Die einzelnen Kapitel werden
nicht mit einem Male erschöpft; aus jeder Gruppe werden zunächst
im Nacheinander die einfachsten Wörter und Sachganzen herausgegriffen.
Dann beginnt der zweite Turnus; da werden schwerere Wörter und
Sachganzen drangenommen; dann schließt sich ein dritter, wenn nötig
vierter Gang an. Am Jahresende kann jede Gruppe in ihrer jeweilig
erreichten Grenze wiederholend zu einem Sach- und Sprachganzen
aufgebaut werden. Es soll sich demnach der Sprechunterricht nach
folgendem Entwurfe abwickeln.
Phonetische Materielle
Seite des Sprechunterrichts
1. Gang: Wörter ohne Konsonanten-
häufung.
2. Gang: Wörter mit Konsonanten-
häufung in der Mitte.
3. Gang: Wörter mit Konsonanten-
häufung am Ende.
4. Gang: Wörter mit Konsonanten-
häufung am Anfang.
Diesem Lehrgang werde ich eine besondere Behandlung der Selbst-,
Um- und Mitlaute vorangehen lassen. — Die Zukunftspläne haben
sich bis zur Erledigung der Korrektur dieser Arbeit zur erfolgreichen
Tat verwirklicht. Zu Ostern hoffe ich in einem besonderen Heft eine
»Stoffsammlung für den Sprechunterricht in den Unterklassen der
Hilfsschule« vorlegen zu können.
Wird auf diese Weise ein bestimmter Gang, eine bestimmte
Methode für die Jahresarbeit gewonnen, so wird auch der Gang der
einzelnen Stunde in gewissen Beziehungen dadurch mitbestimmt. Auch
sie muß der Forderung auf Berücksichtigung der phonetischen und
materiellen Seite der Sprache und der sprachlichen Eigenart der
Kinder entsprechen. Sie muß also aufweisen
a) sprechtechnische Vorübungen,
b) deren Anwendung im Sachunterricht.
Die Sachstoffe unter a—z.
Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 71
Aus diesem Grunde habe ich seither schon immer den Sprech-
unterricht dem Anschauungsunterricht vorangestellt, wie auch aus dem
eingangs vorgelegten Stundenplan zu ersehen ist. Habe ich die Kinder
auf die lautlichen und silbischen Schwierigkeiten vorbereitet, die der
Stoff des Anschauungsunterrichts bringt, so erwächst den Kindern
ein freudiges Empfinden, wenn sie das neue Ding richtig sagen können,
während die Lust an der Sache wesentlich gedämpft wird, wenn nun
erst die Einzelexerzitien beginnen.
1. Lautübungen,
2. Silbenübungen,
3. Wortübungen,
4. Satzübungen.
Das ist die Übungsreihe, die der Lernweise der sprachlich ge-
schädigten schwachsinnigen und schwerschwachsinnigen Kinder ent-
spricht. Es heißt eben, das Gute, das Kölle bietet, zu verbinden mit
dem, was solche Kinder aus ihrer Eigenart heraus verlangen: be-
sondere sprechtechnische Vorübungen. Ob man nun bei den sprech-
technischen Übungen nach Methode X, Methode Y oder Z verfährt
ist Nebensache, die Hauptsache ist, daß diese Methode dann auch in
der ganzen Schule auf allen Stufen beibehalten wird. Welche Methode
aber auch zur Anwendung komme, es ist im einzelnen zu beobachten
a) bei den Lautübungen:
Suche eine schöne Klangfarbe, Klangstärke, Klanglänge der
Selbst-, Um- und Doppellaute zu erreichen; pflege sie ganz
besonders unter Beachtung der Zungenlage.
b) bei den Silbenübungen:
l. Der Konsonant werde im Einzelstudiun gut gebildet.
2. Bei der silbischen Verbindung behalte der Selbst-, Um- oder
Doppellaut die Führung. In gewissen Fällen ist es gut,
den Konsonanten auffassen zu lassen als eine kurze Unter-
brechung des Vokalklanges.
e) bei den Wortübungen:
1l. Ordne nach der Sprechschwierigkeit in konzentrischen Kreisen
innerhalb bestimmter Stoffgruppen.
2. Den Vorübungen schließe sich mit dem Wortsprechen die
Anschauung an. l
d) beim Satzsprechen:
1. Es setze möglichst bald ein.
2. Der methodische Gang sei so aufgebaut, daß die ersten Sätze
nur aus Begriffswörtern bestehen z. B. Feuer brennt, Hunde
beißen, Mutter wäscht usw.
72 A. Abhandlungen.
Zu Punkt b sei noch ein illustrierendes Beispiel gegeben von
der Wirkung des wie ein Oberton über den Konsonanten liegenden
Selbstlautes. Es handelt sich um ein Kind, das ich nur perioden-
weise beobachten konnte, das darum auch in den Tabellen nicht er-
wähnt ist.
Der er Der Schüler sprach Zum en
eure euer öre ___>
Papier bier Päpier —— >
Zigarre Harre Zigarre — >
Flasche Slasche f, äfla
blau kau b, bl, aüblau
Leo ole Leo
Laterne Lerterne Läterne —— >
Essenkehrer Ehrerkessen Essenkehrer ——— >
Waschlappen Lappwasch Wäschlappen —— >
Für dieses Kind bildeten die langgehaltenen Vokale Ruhepunkte
im Sprechen und Aussichtspunkte nach den nächsten Lauten, Über-
legungsstationen, und diese sind für unsere gedankenschwachen Kinder
recht nötig.
Nun ist es auch eine allgemeine Erfahrung, daß Hilfschulkinder
zum großen Teil zu Energielosigkeit hinneigen, und man täuscht sich
wohl nicht zu selten, wenn man diesen Grund für Unaufmerksamkeit
und Mißerfolge gelten läßt. Und doch kann es vorkommen, daß man
in dieser Annahme einen Fehlschluß tut, wie es mir mit letzt-
erwähntem Kinde erging. Es sollte das Wort Zwieback gesprochen
werden. Zwiegagg bekam ich zu hören. Das b wurde erläutert, die
Mundstellung beobachtet, der Luftstrom an der Hand gespürt, die
Silbenverbindung ba, iba, iback geübt, und doch blieb es bei Zwiegagg,
offenbar war die falsche Aussprache ein Nachklang aus der Zeit des
Kleinkinderstammelns. Und jetzt war der Schüler zehn Jahre alt. Lag
Energielosigkeit vor? Freundliche und ernstliche Ermunterungsworte,
Angriffe aufs Ehrgefühl blieben ohne Erfolg. Die Lösung ergab sich
schließlich dadurch, daß ich das ie in dem Worte Zwieback auffallend
lang vorsprach und sprechen ließ. Es kam dabei zur Überlegung,
und das Wort gelang. Wochen waren in vergeblichem Mühen ver-
gangen, und die Vokallänge brachte schließlich leichten Erfolg, —
Im Anschluß hieran sei erwähnt, daß die Sprechübungen im be-
sonderen für Hilfsschüler einen hohen Wert insofern haben, als sie
zur Selbstbeobachtung, Selbsterziehung und zur Energiegewinnung
anleiten. (Schluß folgt.)
1. Die XIV. Konferenz des Vereins für Erziehung, Unterricht usw. 73
B. Mitteilungen.
1. Die XIV. Konferenz des Vereins für Erziehung,
Unterricht und Pflege Geistesschwacher
wurde zu Bielefeld am Abend des 8. September 1912 durch eine Be-
grüßungsansprache des Vereinsvorsitzenden, Erziehungsinspektors Piper
(Dalldorf), eröffnet. Er gedachte darin mit warm empfundenen Worten der
Verstorbenen, erwähnte kurz die Neugründungen von Anstalten, deren
eine ganze Anzahl zu verzeichnen waren, und machte Mitteilungen über
Direktoratwechsel, Jubiläen, Geschenke für die Vereinskasse usw. Auf die
Verlesung der Neuerscheinungen der Literatur wurde verzichtet; das
Literaturverzeichnis wird dem später erscheinenden gedruckten Bericht bei-
gefügt. In den Vorstand wurde (nach Wiederwahl der ausscheidenden
Mitglieder) Lehrer Gürtler (Chemnitz-Altendorf) zugewählt, nachdem von
Oberarzt Dr. Meltzer mit Recht betont war, daß außer den Direktoren
auch ein Lehrer dem Vorstand angehören müsse.
Die Verhandlungen selbst nahmen am 9. September mit den üblichen
Begrüßungsansprachen ihren Anfang. Besonders erwähnt sei, daß Stadt-
schulrat Dr. Wehrhahn (Hannover) für das brüderliche Zusammenarbeiten
des von ihm vertretenen Verbandes der Hilfsschulen Deutschlands mit dem
Verein für Erziehung, Unterricht und Pflege Geistesschwacher eintrat —
schöne Gedanken und Worte, die leider durch das erste Referat in ihrer
Wirkung arg bedroht schienen.
»Die erziehlichen Aufgaben des Heilpädagogen« lautete das (bereits
höchst unklare) Thema, das sich Dr. Theodor Heller (Wien) zum Vor-
wurf genommen hatte. Der Vortrag selbst wurde, da der Referent ab-
wesend war, zur Verlesung gebracht — leider, wie man ehrlicher Weise
hinzuzufügen gezwungen ist. Denn einmal war dieser Vortrag ein arges
>Sammelsurium« (diese Bezeichnung fiel in der Diskussion), in das z. B.
Freudsche Theorien, Ergebnisse der Immunitätsforschung usw. hinein-
verarbeitet waren. Zum andern und in der Hauptsache waren es Aus-
fälle gegen die Hilfsschulerziehung und gegen die Fürsorgeerziehung, die
das Referat vorbrachte. Positives war nirgends zu merken. Die Wirkung
des Vortrags war denn auch die, daß Dr. Wehrhahn die anwesenden
Hilfsschullehrer bat, auf eine Diskussion verzichten zu wollen; daß Direktor
Schwenk diese Bitte wiederholte; daß Inspektor Piper eine Debatte ab-
lehnte. Ein Teil der Anwesenden war freilich sehr für eine Aussprache,
die von Dr. Krenberger (Wien) eingeleitet wurde, der nach einer energi-
schen Ablehnung der Hellerschen Ausführungen die Anregung gab, die
von Jean Paul herrührende Bezeichnung »Heilpädagogik« auszumerzen.
Im Auslande findet man diesen Begriff sowieso nicht. Und im übrigen
gilt der Satz: »Wir können unsere armen Schwachsinnigen nicht heilen,
74 B. Mitteilungen.
wir können ihnen nur Besserung bringen.e Dr. Meltzer sprach in ähn-
lichem Sinne und sah besonders in dem von Heller aufgestellten Leitsatz 3
eine große Gefahr, da dieser höchst apodiktisch bestimmte: nur der Heil-
pädagoge kann berufen sein, Fürsorgeerziehung zu üben. Demgegenüber
betonte Meltzer unter lebhafter Zustimmung der Versammlung: »Nicht
der Beruf entscheidet, sondern die Persönlichkeit!« Die erregte
und unangenehme Debatte fand mit der Annahme einer Resolution ihren
Abschluß, durch die sich der Verein für Erziehung, Unterricht und Pflege
Geistesschwacher einstimmig mit den Ausführungen Hellers »nicht ein-
verstanden« erklärte und daher »auf eine Debatte verzichtete«.
Dem Unerfreulichen folgt das Erfreuliche! Oberarzt Dr. Kleefisch
(Essen-Huttrop) bot in seinem Vortrag »Mittel und Wege der Zustands-
` erforschung Geistesschwacher« eine ganz vorzügliche Arbeit. Er betonte,
daß die Feststellung und Bezeichnung körperlicher und geistiger Zustände
bei schwachsinnigen Kindern vielfach zu ungenau sei, um ein richtiges Bild
vom Zustand des Kindes zu bieten und die entsprechende Behandlung zu
gewährleisten. Die quantitative Einteilung in Idiotie, Imbezillität, Debilität
genüge heute nicht mehr — eine Bemerkung, die viel erörtert wurde und
zwar in zustimmendem wie in ablehnendem Sinne Zunächst muß der
Arzt eins der aus dem Sammelbegriff Idiotie bereits abgegrenzten Krank-
heitsbilder nach pädiatrisch-psychiatrischen Gesichtspunkten feststellen.
Wegen ihrer großen Bedeutung für die geistige Entwicklung sind vor
allem auch die Sinnesorgane genau zu untersuchen. Augenstörungen werden
z. B. bei 50 °/, der Kinder, mangelhaftes Gehör bei 22 °/, der Schulkinder
angegeben. Der Vortragende gab eingehende Schilderungen verschiedener,
zum Teil von ihm selbst mit großem Fleiß und Geschick ausgearbeiteter
Untersuchungsmethoden, bei denen vor allem der Grundsatz durchgeführt
war, die sprachliche Äußerung der schwachsinnigen Kinder möglichst ganz
auszuschalten. Der Praktiker muß es bei der Untersuchung fertig bringen,
bisweilen nicht nur kindlich, sondern sogar schwachsinnig zu denken —
ein Hinauf-, keineswegs ein Hinabsteigen! Wie man das Kind aus sich
herauszulocken vermag, das zeigte der Vortragende an verschiedenen Bei-
spielen. Bei der ärztlichen Untersuchung der Kinder ist aber auch den
neurologischen Gesichtspunkten mehr Aufmerksamkeit zu schenken; vor
allem müssen im Ausdrucksvermögen (Gebärde, Sprache, Schrift) gestörte
oder gelähmte Kinder aus den Idioten (»Allgemeinbegriff«!) ausgeschieden
werden. Insbesondere sind auch die umschriebenen intellektuellen Aus-
fallserscheinungen genauer zu studieren und nach Agnosie und Apraxie zu
untersuchen. Zum Schluß trat Kleefisch dafür ein, neuaufgenommene
Kinder einer besonderen Aufnahmestation zu überweisen; durch regelmäßige
Konferenzen und Besprechungen die Arbeitsgemeinschaft zwischen Arzt und
Lehrer inniger zu gestalten; die Vorbildung der in Betracht kommenden
Arzte und Lehrer so zu gestalten, daß sie sich besser als bisher bei ihrer
gemeinsamen Arbeit verstehen lernen.
Die Debatte über diesen Vortrag verlief anregend und anerkennend.
Sie gab Anlaß neben einem Antrag auf Ausdehnung des Schulzwanges auf
bildungsfähige Schwachsinnige einen Antrag Pipers anzunehmen, der aller-
1. Die XIV. Konferenz des Vereins für Erziehung, Unterricht usw. 75
dings auch schon auf der XIII. Konferenz in Wiesbaden 1910 angenommen
war, aber wohl in Gefahr geriet, in den Vereinsakten zu verstauben. Hoffent-
lich bleibt er nun vor diesem traurigen Los bewahrt! Er lautet: »Die
Konferenz beschließt, den Kultusminister zu bitten, dahin zu wirken, daß
ein Seminar zur Ausbildung von Lehrkräften an Anstalten und Schulen
von Schwachsinnigen eingerichtet werde.«e — Leider fand bei der Be-
sprechung eine Anregung Kirmsses gar keine Berücksichtigung, die eine
Einbeziehung der in Betracht kommenden Anstalts- und Schulärzie in
diesen Antrag bezweckte.
Der angekündigte Vortrag Kölles (Möhringen) über den ersten Rechen-
unterricht Schwachsinniger mußte gleichfalls verlesen werden, wobei leider
manches unverständlich blieb. Nach Kölle soll die erste Zahlenreihe nur
die Zahlen 1, 2 und 3 umfassen, nicht mehr die Zahl 4, da diese schon
nicht mehr als Einheit, sondern immer als 2 + 2 geschaut wird. — Eine
von einem Herforder Lehrer konstruierte Rechenmaschine, die mancherlei
Vorteile vor den bisher gebrauchten Systemen aufwies, wurde vorgeführt —
gewissermaßen eine Entschädigung für den nicht zur Verlesung eingesandten
Vortrag Israels (Chemnitz-Altendorf), der selbst am Erscheinen verhindert
war, über »Beschäftigung und Spiel in der untersten Vorschulklasse«.
Den Höhepunkt der diesjährigen Konferenz bildete der Besuch der
Anstalt Bethel am 10. September. Den ersten Vortrag nach einer
ebenso herzlichen wie erfreulichen Begrüßung durch einen Chor der
Kranken hielt hier ein Arzt der Anstalt, Dr. med. Blümcke, über
»Krämpfe im Kindesalter, ihre Bedeutung und Beziehung zum jugendlichen
Schwachsinne. Er gab einleitend einige vortreffliche Gedanken über die
Zusammenarbeit von Medizin, Pädagogik und Theologie; wies hin auf die
Notwendigkeit prophylaktischer Maßnahmen (Abstinenz- und Sittlichkeits-
vereine) und ging dann zu seinem Thema über. Krämpfe im Kindesalter
können durch endogene oder exogene Schädigungen veranlaßt werden. Im
allgemeinen decken sich die Ursachen, die Schwachsinn hervorrufen, mit
denen, die Krämpfe bedingen. Ein besonderer Wert kommt den Krampf-
erscheinungen bei der Diagnosenstellung als objektives Symptom zu, da
man bei den jugendlichen Patienten ja nicht mit den subjektiven Krank-
heitserscheinungen rechnen kann. Die Bedeutung der Krämpfe liegt in
den Folgen, die die von ihnen begleitete Grundkrankheit für den Intellekt
haben kann. Es sind daher auch die Krämpfe verschieden zu bewerten.
Ungünstig ist die Prognose hinsichtlich des Schwachsinns namentlich bei
in frühester Jugend beginnenden epileptischen Konvulsionen, die nach
einem Latenzstadium oft durch heftige Erregungen in der Pubertätszeit
wieder ausgelöst werden. Eine günstigere Prognose gestatten Krämpfe als
Ausdruck spasmophiler Diathese oder Kindertetanie. Besonderes Augenmerk
ist sonach dem frühzeitigen Beginnen der genuinen Epilepsie zuzuwenden,
die mit Krampfanfällen anfängt und früher oder später mit Schwachsinn
endet. Der Redner ist dafür, mit dem Begriff der »Zahnkrämpfe« ganz
aufzuräumen. Er ist der Ansicht, daß jeder plötzliche Krampfanfall in
den ersten Lebensmonaten organisch bedingt ist. Niemals wird aus Hysterie
Epilepsie; auch der Name »Hysteroepilepsie« ist nach Blümckes Ansicht
76 B. Mitteilungen.
völlig entbehrlich. Ist Schwachsinn vorhanden, so bieten Krämpfe in der
Anamnese bisweilen wertvolle Fingerzeige für die Beurteilung des Kranken
sowie für seine (ärztliche und erzieherische) Behandlung. Bemerkt sei
noch, daß der Redner unter den belastenden Faktoren am stärksten ver-
treten den Alkoholismus der Eltern fand: so konnte er bei 100 Kranken
einer der Epileptikeranstalten in Bethel 38 mal erbliche Belastung durch
chronischen Alkoholismus der Eltern feststellen.
Die klaren und außerordentlich anregend vorgetragenen Ausführungen,
die durch kurze Krankenvorstellungen (zum Teil sehr seltene Fälle) er-
gänzt wurden, fanden allgemein lebhaften Beifall und viel Anerkennung.
Die Debatte blieb auf einen kurzen Protest Meltzers beschränkt: der
Redner hatte an einer Stelle auch Major zitiert. Dagegen legte Meltzer
Verwahrung ein, da Major des Plagiats überwiesen sei, also kaum mehr
als Autor zitiert werden dürfe — eine Verwahrung, die auf vielen Seiten
lebhafte Befriedigung und Beifall erweckte.
Das zweite Referat dieses Tages hatte Direktor Schwenk (Idstein)
übernommen. Es handelte von »Arbeitskolonien für Schwachsinnige« und
stützte sich wesentlich auf in Idstein gewonnene Erfahrungen. Hier
wurden durch die Arbeitskolonie bedeutende Überschüsse erzielt: im Durch-
schnitt der Jahre 1909—1911 13811 Mark. Besonders geboten ist die
Errichtung von Arbeitslehrkolonien für ehemalige Hilfsschüler; von den
aus der Hilfsschule Entlassenen könnten jährlich rund 700 in derartigen
Kolonien untergebracht werden. Vorläufig würden diese Kinder zweck-
mäßig bereits bestehenden Anstalts- Arbeitslehrkolonien überwiesen. —
Auch an diesen Vortrag schloß sich keine weitere Debatte an.
Lebhaft erörtert wurde dagegen Pipers Vorschlag, die nächste Kon-
ferenz 1915 gleichzeitig mit der Tagung des Hilfsschulverbandes in
München abzubalten; falls mit dem Hilfsschulverband keine Einigung in
dieser Hinsicht zu erzielen ist, soll die nächste Konferenz 1914 in Stutt-
gart stattfinden. Einer Anregung Kirmsses, wegen verschiedener huudert-
jähriger Gedenkfeiern erst 1916 die gemeinsame Tagung zu veranstalten,
konnte nicht stattgegeben werden, da für 1915 bereits alle Vorbereitungen
und Anordnungen getroffen oder im Gange sind. Wohl aber bot sich bei
der Erörterung dieser Fragen endlich einmal Gelegenheit, der hundert-
jährigen Wiederkehr von Seguins Geburtstag zu gedenken.
Nach dem gemeinsamen Mittagessen in der Anstalt, zu dem die
Konferenzteilnehmer eingeladen waren, gab Pastor Friedrich von Bodel-
schwingh einen kurzen Überblick über »die verschiedenen Arbeitsgebiete
der Anstalten in Bethel«. Begeistert und voll Liebe und Wärme. Und
immer erinnernd an den Vater, diesen selten großen Mann, an dessen Grab
in strömendem Regen alsdann ein Kranz niedergelegt wurde. Und über
die Gräber dieses stillen Waldfriedhofes trugen die Hörner die Choral-
melodie. Ein unvergeßlicher Augenblick am Grabe eines Unvergessenen,
Unvergeßlichen!
Die Anstalten selbst wurden in verschiedenen Gruppen unter sach-
kundiger Führung besichtigt. Da wir eine ausführliche Abhandlung über
Bethel planen, soll hier auf eine nähere Beschreibung dieses groß an-
1. Die XIV. Konferenz des Vereins für Erziehung, Unterricht usw. 17
gelegten Werkes verzichtet werden. Nur mag betont sein, daß wohl alle
Besucher hocherfreut waren, hier etwas kennen gelernt zu haben, was all-
gemeiner Anerkennung für alle Zeiten gewiß sein darf.
Den Beschluß der Tagung bildete ein Lichtbildervortrag unseres un-
ermüdlich tätigen und fleißigen Geschichtsschreibers des Schwachsinnigen-
wesens, Max Kirmsses, der in großen Zügen mit der Entwicklung der
Schwachsinnigenfürsorge in Deutschland und einigen anderen Ländern,
insbesondere mit unseren »großen Männern« bekannt machte.
Außer den Anstalten in Bethel wurde noch die Anstalt Witte-
kindshof bei Volmerdingsen (Bad Oeynhausen) besucht. Diese west-
fälische evangelische »Blödenanstalt« wurde am 2. Mai 1887 durch Pastor
Krekeler gegründet. Ihr jetziger Leiter ist der ehrwürdige Pastor Stieg-
horst, der es sich als treusorgenier Anstaltsvater sehr angelegen sein
ließ, seine vielen Gäste aufs beste zu bewirten, aber auch ihnen Bestes
zu zeigen. Über 700 Schwachsinnige weilen in der Anstalt; etwa 150
Kinder besuchen die beiden Schulen. Wir wohnten dem Unterricht in
den Knabenklassen, der von Lehrern in den oberen, von Lehrerinnen in
den unteren Klassen erteilt wurde, bei, sowie dem von Schulschwestern
erteilten Unterricht in den Mädchenklassen. Und wir müssen gestehen,
daß wir mit dem Gehörten vollauf zufriedengestellt waren. Sollen wir
noch eine persönliche Bemerkung einfügen, so ist es die: die Lehrerinnen
und namentlich die Schulschwestern schienen uns dem schwachsinnigen
Kinde näher zu kommen, schienen vor allem weniger mit rein abstrakten
Begriffen zu arbeiten als die Lehrer vielfach. Die Leistungen der Knaben-
Vorschulklasse im Lesen, Legen und Schreiben lateinischer Antiqua (L E-O)
erregten besondere Aufmerksamkeit. Ausstellungen von Lehrmitteln und
Schülerarbeiten in der Mädchen- und Knabenschule boten viel Interessantes,
wenn auch hie und da die Befürchtung ausgesprochen wurde, daß die
eine oder andere Arbeit »zu schön« für Arbeiten schwachsinniger Kinder sei.
So gab auch dieser letzte Tag den Konferenzteilnehmeru Anregungen
in Hülle und Fülle —
Der Besuch von Bethel, der Besuch von Wittekindshof — beide be-
wiesen so recht, daß gerade in diesen gemeinsamen Besuchen ein wert-
voller Bestandteil der Konferenzen des Vereins für Erziehung, Unterricht
und Pflege Geistesschwacher zu suchen ist. Möge er auch bei den
künftigen Konferenzen gebührende Berücksichtigung finden! t)
Jeua. Dr. Karl Wilker.
1) Das den Konferenzteilnehmern gewidmete und überreichte Prachtwerk über
»Deutsche Anstalten für schwachsinnige, epileptische und psychopathische Jugend-
liche,« redigiert von Direktor Pastor Stritter und Oberarzt Dr. Meltzer (Halle a. S.,
Carl Marhold, 1912), wird demnächst unter »Literatur« ausführlich gewürdigt. Es
mag aber hier schon bemerkt werden, daß auf der Konferenz mehrfach und von
verschiedenen Seiten, so namentlich von Oberregierungsrat Müller (Chemnitz-Alten-
dorf), der Wunsch ausgesprochen wurde, daß in einem recht bald erscheinenden
weiteren Bande ein Bild der Anstalten gegeben werde, die in diesem Bande noch
keine Berücksichtigung erfuhren.
78 B. Mitteilungen.
2. Beobachtungen an schwachbefähigten Kindern bei
der Behandlung der Nibelungensage.
Von Fr. Rössel, Hamburg.
(Mit 7 Abbildungen.)
(Schluß.)
Ferner seien einige Erzählungen nach Stenogramm angeführt. Kleine
Hilfen zur flüssigeren Gestaltung wurden gegeben. W. J. erzählt:
»Als die Recken um die Wachtfeuer rumsaßen, auf einmal kam ein
Wachtposten reingerannt. Recken kommen. Da stand Rüdiger und Hagen
auf und sahen, was es für welche waren, ob sie vorbeireiten oder auf das
Lager zureiten. Da kam Hagen schnell zurück, macht euch auf, Dietrich
von Bern kommt. Unterdessen ist Dietrich mit seinen Rittern zu dem
Lager der Burgunden gekommen und er rief, Herr Gernot, Herr Gunter,
Herr Hagen, Herr Dankwart seid willkommen. Aber wißt ihr nicht, daß
die Kriemhilde was Böses im Sinn vor hat? Da sagte Hagen: Laßt sie
nur weinen. Siegfried wird doch nicht mehr aufstehen, der ist lange
begraben. Als das Hagen gesagt hatte, wurde Dietrich von Bern ernst
und sagte, ich will nicht mit dir Streit anfangen, wie Siegfried erschlagen
wurde, aber hütet euch ja, Kriemhilde hat was Böses im Sinne. Und du,
Hagen, nimm dich besonders in acht, dir wird sie am ersten was tun.
Da sagte Volker, wir können nicht mehr umkehren, wir wollen hinreiten
und sehen, was weiter geschieht.«
Derselbe Knabe erzählte folgendes:
»Wie Rüdiger mit sich selbst kämpft. Da kam Kriemhilde und
Etzel zu Rüdiger und Kriemhilde sagte: Rüdiger, weißt du noch, was du
mir in Worms versprochen hast? Du hast mir versprochen, jedes Leid
zu rächen, wenn mir etwas passiert. Bekämpfe die Burgunden. Und
Rüdiger sagte: Nein, Kriemhilde, ich tue es nicht, das sind meine besten
Freunde, die auf Pöchlarn bei mir zu Besuch waren. Die bekämpfe ich
nicht. Aber Kriemhilde sagte: Du mußt sie bekämpfen, du hast mir in
Worms versprochen. Da sagte König Etzel: Rüdiger, wenn du die Bur-
gunden bekämpfst, dann wirst du großer König, so ein König wie ich.
Du mußt die Burgunden bekämpfen, und du mußt mir gehorchen. Und
du mußt kämpfen, die Burgunden haben viele Hunnen erschlagen.
Als Rüdiger allein war, da dachte er für sich, soll ich die Burgunden
bekämpfen oder nicht. In seinem Herzen ging es immer so: sollst du
die Burgunden bekämpfen oder sollst du sie nicht bekämpfen. Endlich
rüstete er sich und zog auf die Nibelungen los, weil er seinem König ge-
horchen mußte.«
Ein anderer Knabe, N. Str., der an schweren Aufmerksamkeits-
störungen litt, erzählte dies:
»Im Saale waren noch Etzel, Kriemhilde und der Gotenkönig Dietrich
von Bern und die ganzen Goten und Markgraf Rüdiger mit seinen Recken.
Da fürchtete sich Kriemhilde und ging zu Dietrich von Bern und sagte:
Rette mich, denn wenn Hagen kommt, bin ich verloren, der wird mich
umbringen, weil ich das angestiftet habe. Da stieg Dietrich von Bern
2. Beobachtungen an schwachbefähigten Kindern usw. 79
auf einen Tisch und schrie: Halt, Ruhe, bis ich raus bin mit meinen
Helden. Da sagten die Burgunden ja. Und da ging Dietrich von Bern,
an der einen Hand die Kriemhilde und an der anderen den Etzel, hinter-
her die Goten und auch Rüdiger ist mit seinen Rittern herausgegangen.
Kaum waren sie draußen, da ging der Kampf von neuem an. Da war
Geschrei, die Toten lagen rum und die Nibelungen haben nicht aufgehört,
bis alle lagen. Und nachher, weil die Luft so dumpfig war, machten sie
die Fenster auf und schmissen die Toten hinaus. Aber die Burgunden
konnten nicht hinaus, sonst möchte Etzel wieder anfangen, weil so viele
Hunnen erschlagen waren.«
Eine sehr anschauliche Schilderung gibt F. v. R. in folgendem:
»Die Schilder krachten und die Schwerter und Lanzen zersplitterten
und im Saale lagen viele Erschlagene. Und das Essen war umgeschmissen
und die Decken flogen herab und die Suppe und alles das war um-
geschmissen und die Tische und Stühle sind umgefallen und im Saale
war eine unangenehme Luft, überall war Blut und die Vorhänge sind
auch runter geflogen.«
Zum Schluß möge noch eine der besten Erzählungen von W. Sch.
Platz finden:
»Wie Hagen und Volker Schildwacht stehen. Hagen sagte: Ihr
Könige legt euch hin und schlaft. Ich stehe draußen Wache, daß die
Hunnen nicht kommen und uns überfallen. Volker stand auf und sagte:
Hagen, ich will dir Gesellschaft leisten, daß du nicht alleine bist. Hagen
war einverstanden. Sie rüsteten sich und gingen hinaus an die Türe.
Und da war es erst still. Auf einmal gabs ein Geklirr und die Hunnen
schlichen auf dem Burghof herum. Als die Hunnen aber an die Treppe
kamen, da sahen sie die beiden. Und da erschraken sie und liefen davon.
Da bindet Volker seinen schweren Helm und die Rüstung ab, geht hinein
und holt die Fiedel und spielt ein Lied. Da dachte er an seine Heimat,
an den Sachsenkönig und wie er mit seiner Braut auf dem Rheine ge-
fahren ist. Beim Sachsenkönig spielte er ganz laut. Da hörte man die
Schilder krachen und Speere anprallen und das Pferdegetrappel, und wie
er seine ersten Narben erwarb, da hatten sie den Sieg.«
Von besonderer Wichtigkeit war, daß die Geschichte auch außerhalb
der Schulstunden weitergesponnen werden konnte. Wurde schon in der
Geschichtsstunde manche Szene dramatisch dargestellt, so waren andere Ab-
schnitte geeignet, die Nachmittage mit Spielen aus der Geschichte
auszufüllen. Über die Wichtigkeit des Spieles im kindlichen Leben braucht
kein Wort mehr verloren zu werden. Um so bedauerlicher ist es, daß
das Spiel des schwachsinnigen Kindes auf einer sehr niederen Stufe zu
stehen pflegt. Sein Spiel wird beherrscht von Eintönigkeit und Gedanken-
losigkeit. Die Phantasie des normalen Kindes schafft neue Spiele, stattet
vorhandene mit neuen Ideen aus und weiß immer belebende Momente hin-
einzutragen. Das fällt beim schwachbegabten Kinde weg. Das Spiel kann
jederzeit abgebrochen werden, ohne daß, wie es bei normalen Kindern der
Fall ist, ein Ausbruch des Unmutes und des Bedauerns auftritt. Bei
erethischen Kindern artet das Spiel bald in ein wüstes Durcheinander aus.
80 B. Mitteilungen.
Sie versetzen sich nicht in das Spiel hinein, verlieren ihre Rolle, ver-
gessen den Gedanken des Spieles und tollen ziel- und zwecklos umher.
Nun war es möglich, Szenen zu Spielen auszugestalten. Bei Sieg-
frieds Aufenthalt in der Schmiede wird gefragt: Können wir nicht einmal
etwas aus der Siegfriedgeschichte spielen? Zuerst sind die Kinder über-
rascht, aber bald kommen sie mit allerhand brauchbaren Vorschlägen. Wir
einigen uns schließlich auf das Thema: Siegfried in der Waldschmiede.
Aber wie wollen wir das spielen? Die Kinder müssen ein passendes
Gelände im Grundstück suchen, sie müssen einen Herd aus Steinen aufbauen,
sie suchen sich Blechstücke und alte Radreifen als Eisenstangen, holen
Hammer und Schürzen. Ein kleines Feuerchen auf dem Herd darf nicht
fehlen. Bald sind die Rolien ausgeteilt, und das Spiel kann beginnen.
Nur zu bald war der Nachmittag für die Kinder vorüber. Es waren für
sie wertvolle Stunden.
Im Anschluß an die Jagd im Odenwalde spielten sie Jagdspiele.
Eine Hälfte stellte die Tiere dar, die andere die Jäger. Die führenden
Gedanken waren im Unterrichte besprochen, beherrschten auch das Spiel
und verhinderten so ein Wirrwarr. Die Wettkämpfe sind schon oben er-
wähnt worden. Wir spielten Steinstoßen, Weitspringen, Wettlaufen und
Lanzenwerfen. Wie wurden da die Kräfte angespannt, um der erste und
beste zu sein, um dem Helden Siegfried zu gleichen.
Es liegt auf der Hand, daß solche Veranstaltungen für schwach-
befähigte Kinder großen Wert haben. Es ist zu überlegen, was gespielt
werden soll und was dazu notwendig ist. Jeder strengt seine schwachen
Kräfte an, um das auszuführen, was gemeinsam gewonnen wurde.
Die Zielvorstellung, erwachsend aus vollwertigen Vorstellungen regelt
und ordnet und hat die Kraft, fremde Reize und Vorstellungen zu unter-
drücken. So kann sich ein sinngemäßes Spielen aufbauen. Das Kind steht
dem Stoffe nicht passiv gegenüber, sondern kann sich in ihm betätigen.
Dabei liegen in diesen Veranstaltungen viele Erziehungsmittel, die ver-
schiedenen Kindesnaturen individuell zu beeinflussen. Schüchterne und
Schwerfällige werden vorwärtsgetrieben, Flatterhafte und Zänkische müssen
in den gegebenen Grenzen bleiben und können nicht so leicht Unzuträg-
lichkeiten ins Spiel bringen, Egoistische müssen sich der Allgemeinheit
unterordnen usf. Ferner haben die Kinder Gelegenheit zu disponieren und
zu kalkulieren, um auf diese Weise handelnd Urteilskraft zu stärken und
Urteile zu gewinnen. —
Noch kurz soll über die Einwirkung auf das Gemüt berichtet werden.
Wenn auch festgestellt werden kann, daß die durchschnittliche Teilnahme
größer war, als es sonst der Fall zu sein pflegte, darf andererseits nicht
verschwiegen werden, daß bei einem Teil der Kinder der erwünschte Ein-
schlag ausblieb. Die Klasse schied sich hier in zwei Teile. Die eine
Gruppe lebte und webte bald in dem Stoffe. Diese Kinder gingen in ihm
auf und betrachteten auch viele andere Erscheinungen des täglichen Lebens
vom Gesichtspunkte der Siegfriedgeschichte aus. Dicke Bäume auf Spazier-
gängen wurden oft daraufhin angesehen, ob sie wohl Siegfried umreißen
könnte; oder: ob er wohl über diesen Bach springen könnte? ob er diesen
Steinblock schleudern könnte? usw. Sie erlebten die Geschichte wirklich
“wzjusuoäuw] u (uuv p 19fog]) ouygs P 1ofogg uuwuney uoa Fujoa
"Spatmyosppean 1P ur paupdais "1
Zeitschrift für Kınderforschung. 18. Jahrg, Hefi 12. Tafel II.
I
L S E e Wa 9 Vo Y
Pr y s
"ai ci
> š
gen mN mn
eu a è Ka
Stp
2. Burg in Worms.
Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
'BZIBSUSFUV] ur (uuv p 190g) vuygg y 15Aog uuumioy uoa Sepoy
"u10Jsuas] q €
ve mV]
we
4. Hagen schlägt dem Fährmann Ferge den Kopf ab.
Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
"wzigsuaäuw] uf (uam p fog) ous P 10Log uuwune uoa Seay
"qovu unpunding uap A Sozquiseg q S
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrg., Heft 1/2.
a,
o Kampf der Burgunden mit den Hunnen.
Verlag von Hormann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
| "vzjesuoäun] u (uueg P Sog) oups X 1ofogg uueuoy uoa ZujIoA
ə "ES w uauuny usp Jw ajdury wap yDeu usdeH} °%
e pr
n N
i 20 DIR TOT i
‘alt yom “Osyp SI "Bunyoswolsopuy anj rys noz
2. Beobachtungen an schwachbefähigten Kindern usw. 81
innerlich und machten die Schicksale des Helden zu ihien eigenen. Sie
begleiteten Siegfried Wochen und Monate hindurch auf seinen Fahrten. Er
war ihr Liebling geworden. Nun sehen sie, wie sein Untergang vorbereitet
wird, können aber noch nicht daran glauben und sprechen immer wieder
aus, es wird schon noch irgend etwas dazwischen kommen, was das Ver-
hängnis abwenden kann (aus dem Gespräch zweier Knaben außerhalb der
Schulzeit). Der Jagdzug beginnt, der Wettlauf findet statt, und Siegfried
trinkt an der Quelle. Wie nun Hagen wirklich dem ahnungslosen Sieg-
fried den Speer in den Rücken wirft, da fühlten diese Kinder das Furcht-
bare der Tat und konnten sich die Tränen nicht erwehren.
Gemütsbewegungen traten auch auf, als Rüdiger von Pöchlarn gegen
die Burgunden kämpfen mußte. Das Miterleven der vergnügten Tage auf
der Burg Pöchlarn und der Verlobung Giselhers mit Dietelinde ließ sie
das Schreckliche eines Kampfes auf Tod und Leben mit dem besten
Freunde wenigstens etwas fühlen.
Eigenartig verhielt sich die zweite Gruppe, die sich aus den stärker
Imbezillen zusammensetzte. Die Kinder zeigten zweifellos auch großes
Interesse, beteiligten sich lebhaft an allen Veranstaltungen, hatten sichtlich
großen Gewinn, entwickelten aber doch nicht die Gefühlsbetonung, die zu
einer Verquickung mit dem Ich notwendig gewesen wäre. Die eigene
Person stand dem Erleben des Helden mehr oder weniger fremd gegen-
über, nicht gerade teilnanmlos, aber doch so, daß sie ihr Ich nicht mit
dem Helden und seinen Schicksalen identifizieren konnten. Es mag aber
auch sein, daß gewisse Eindrücke auf das Gemüt der Beobachtung ent-
gangen sind, denn gerade beim Gefühl und Gemüt ist es außerordentlich
schwierig, echte Regungen zu erkennen und sie von verbalistischen Auße-
rungen zu trennen. —
Während der Behandlung wurde der Eindruck immer mehr verstärkt,
daß die Nibelungensage im Unterrichte schwachbefähigter Kinder, debiler
und leicht imbeziller, einen recht brauchbaren Unterrichtsstoff bildet. Der
Zeitpunkt der Einführung wird naturgemäß verschieden sein. Das muß
der Lehrer auf Grund des geistigen Zustandes und der Urteilsfähigkeit
der Klasse selbst bestimmen. Es wäre verkehrt, wenn man bestimmen
wollte, in der und der Klasse muß die Geschichte geboten werden. Wenn
der Lehrer eine Klasse von Anfang an führt, so wird es ihm nicht schwer
werden, auch den rechten Zeitpunkt zu treffen. Die Hauptmomente bei
vorliegendem Versuche mögen noch einmal kurz hervorgehoben werden.
Die landschaftliche Umgebung bot einen sehr geeigneten
Schauplatz für die Geschichte. Eigenes Schaffen und Handeln
der Kinder begleiteten sie. Es wurde so ein konkretes Anschauungs-
material erworben. Auf diesem vollwertigen und individuellen Vor-
stellungsschatze vollzog sich die Entwicklung der handlungsreichen,
packenden Geschichte, die von einem Teil der Kinder wirklich erlebt wurde.
So wird auch der Geschichtsunterricht »Arbeitsunterricht«, wie das päda-
gogische Schlagwort der Gegenwart es fordert.
Da die Anzahl der Kinder nicht groß war und kein Druck des Lehr-
plans zum Hasten drängte, konnte die Individualität der ıinder in weit-
gehendstem Maße berücksichtigt werden, so daß keiner zu kurz kaın.
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 6
82 B. Mitteilungen.
Von wesentlicher Bedeutung war, daß dem Lehrer die Möglichkeit
gegeben war, auch außerhalb der Schulzeit bei Spiel, Arbeit und Ausflügen
auf die Kinder einwirken zu können. Der ungezwungene Verkehr gab oft
Gelegenheit, Unklarheiten zu beseitigen und den Stoff nach manchen Seiten
hin zu vertiefen.
Es waren alle inneren und äußeren Bedingungen erfüllt, die für das
Erfassen und Einleben in ein Stoffgebiet notwendig sind. Nicht isoliert
stand die Geschichte im Stundenplane, sondern im Mittelpunkt und in inniger,
vielseitiger Verknüpfung mit dem Leben der Kinder. Das aber ist bei
schwachbefähigten Kindern noch mehr erforderlich als bei normalen, wenn
wir ihre kranke Psyche heilen oder doch bessern wollen.
Abb. 1. Siegfried in der Waldschmiede, von W. J.
„ 2. Burg in Worms, von OQ. B.
3. Der Isenstein, von W. Sch.
4. Hagen schlägt dem Fährmann Ferge den Kopf ab, v. W. Sch.
„ 5. Der Bayernherzog reitet den Burgunden nach, von W. N.
6. Kampf der Burgunden mit den Hunnen, von W. J.
7. Hagen nach dem Kampfe mit den Hunnen im Saale, von W. Sch.
3. Zum Problem des Sprachverständnisses.
Von J. Heidsiek - Breslau.
(Schluß.)
5. Das mechanische Sprachverständnis. Der Zweck aller Rede
ist Gedankenmitteilung. In der Unterhaltung ist die Aufmerksamkeit auf
diesen Zweck eingestellt, wir beschäftigen uns mit Sachverhalten, wir
folgen dem Sinne der Rede und übersehen dabei Parallelvorgänge, die
zum Verständnis der sprachlichen Symbole an sich erforderlich sind. Auf
diese, im Unterbewußtsein sich vollziehenden Prozesse kommt es uns hier
aber an, und daher lautet die Frage: Unter welchen Bedingungen kann
ich versichern, ein Wort oder sonst eine Lautreihe verstanden zu haben,
unbekümmert darum, ob diese Lautreihe Bedeutungsinhalte in mir wach-
ruft oder nicht? Die Frage dreht sich also um das mechanische Sprach-
verständnis und betrifft einen ähnlichen Vorgang, wie wir ihn beim
mechanischen Lesen beobachten können. Wie ich eine mir vollständig
fremde aber in bekannten Schriftzeichen gedruckte oder geschriebene
Sprache den Buchstaben nach lesen kann, ohne mit dem Gelesenen einen
Inhalt zu verbinden, ebenso kann ich auch mechanisch Wörter und Sätze
durch das Ohr auflassen und verstehen. Ein Beispiel möge den Sach-
verhalt verdeutlichen. Zwei Herren stellen sich mir vor, Lehmann und
Przybyszewski. Beide Personen haben ihre Namen aus gleicher Entfernung
gleich laut und deutlich gesprochen; Wirkung und Erfolg sind jedoch ganz
verschieden. Wenn ich den einen Namen sofort verstehe, den andern
dagegen nicht, so hätte die Erklärung, der eine Name sei mir bekannt,
der andere dagegen fremd, für uns gar keinen Wert. Es ist eine all-
bekannte Erfahrung, daß fremdklingende Eigennamen im ersten Augenblick
nur selten richtig aufgefaßt, verstanden und behalten werden. Uns kommt
3. Zum Problem des Sprachverständnisses. 83
es aber gerade darauf an, zu erfahren, was man in diesem Zusammenhange
unter Bekanntschaft, unter Auffassen und Behalten, was man unter Ver-
stehen versteht.
Das Gefühl der Gewißheit, eine Lautreihe verstanden zu haben, be-
steht bei mir nur dann, wenn ich die gehörte Lautreihe sofort leise oder
laut, innerlich oder nach außen hin hörbar nachsprechen kann. Wenn
ich einem ungeschickten Redner zuhöre, der sich in gewagte Satz-
konstruktionen verwickelt, so eile ich dem Vortragenden in der Voll-
endung des Satzes nicht selten voraus, ganz so, wie ich vielfach weiterlese,
bevor ich das Blatt umgeschlagen habe. Selbstbeobachtungen, die ich seit
mehr als 20 Jahren nach dieser Richtung hin anstellte, haben mich zu
der Überzeugung gebracht, daß ich beim stillen Lesen und beim Anhören
einer Rede nicht nur sehe und höre, sondern daß meine Artikulations-
organe ausnahmslos daran beteiligt sind. In derselben Reihenfolge, in der
Sprachklänge mein Ohr berühren, lösen sie Bewegungstendenzen aus, die
nach den Sprachwerkzeugen ausstrahlen und sich als Artikulations-
empfindungen bemerkbar machen. Treten in dieser Succession zwischen
Reiz und Reaktion Störungen ein derart, daß die sprachlichen Klangbilder
jene Bewegungstendenz überrennen und den motorischen Apparat der
Sprachwerkzeuge nicht genügend erregen, so hört das Verständnis für
Lautfolgen auf. Dieser Fall tritt regelmäßig ein, wenn wir eine uns voll-
ständig fremde Sprache hören. Ich habe Russen, Ungarn, Türken, Japanern
und Vertretern anderer Sprachgemeinschaften aufmerksam zugehört in dem
Bestreben, wenigstens einen kleinen Satz mechanisch aufzufassen und zu
wiederholen, aber der Erfolg war zumeist ein negativer. Und nicht nur
mit Sätzen erleben wir dies Mißgeschick, sondern schon bei einzelnen
Wörtern können wir in ähnliche Verlegenheit geraten. Polnischen Namen
wie Przybyszewski, Strzewieszyce, Skrzdylewski, Brzytwa, Przyrembel,
Przyzodzice usw. ist unsere Zunge nicht gewachsen, und darum sind wir
ihnen gegenüber scheinbar schwerhörig oder worttaub. Namen dagegen
wie Müller, Lehmann, Krautwurst, Meyer, Silberstein, Baumgarten u. a.
machen uns nicht die geringsten Schwierigkeiten, wir bilden sie innerlich
nach, so wie wir sie erklingen hören: wir verstehen und behalten sie.
6. Sprachserständnis und Sprachgebrauch. Jede Sprache hat
ihren besonderen Laut- und Silbenbestand, die im Zusammenhange der
Rede in den verschiedensten Kombinationen wiederkehren und die der
Mensch während seiner bildsamsten Entwicklungsperiode, wenn auch mehr
oder weniger unbewußt, so doch mühsam erlernt. Dies Lernen besteht
in der gedächtnismäßigen Aneignung von Reiz und Reaktion, von gehörten
und innerlich nachgebildeten Lauten, vielleicht auch nur in dem
Haften jener mechanischen Bewegungstendenz, die sich als Innervations-
gefühl und als das Ergebnis aus Reiz und Reaktion charakterisiert. Kein
Mensch eignet sich zunächst die Sprachklänge isoliert an, um diese
auf einer späteren Stufe mit Artikulationsbewegungen zu beantworten und
zu verknüpfen, sondern Reiz und Reaktion folgen sich auf dem Fuße,
wenn auch in der Ausführung zunächst höchst unvollkommen, und ohne
daß der Sprachschüler über den mechanischen Vorlaut dieser Prozesse
6*
84 B. Mitteilungen.
sich Rechenschaft geben könnte. Die Bahn vom Ohr zu den Artikulations-
organen muß als vorgebildet angesehen werden, und sowohl beim Sprach-
verständnis als auch beim Sprachgebrauch ist eine Erregung dieser Bahn
vorauszusetzen. Der Name Przybyszewski ist nicht ohne Klang, aber er
ist mehr als Klang, und ohne dies Mehr ist kein nachweisbares Ver-
ständnis möglich. Ich persönlich habe kein Verständnis und kein Ge-
dächtnis für die Klangbilder der Sprache allein, und bis heute ist mir
auch keine sonst sprachtüchtige Person begegnet, die eine Lautsprache
tatsächlich verstanden hätte, ohne sich in dieser Sprache wenigstens dürftig
ausdrücken zu können. Bei dem gereiften und normalen Menschen
ist zum Sprachverständnis eine zentrale Erregung notwendig,
die über die Hörsphäre hinausreicht und zu einer inneren
Laut-, Wort- und Satzbildung führen muß. Der Unterschied
zwischen Sprachverständnis und Sprachgebrauch ist demnach kein so
grundsätzlich verschiedener, wie vielfach angenommen wird. Hier wie
dort handelt es sich um gleiche Prozesse, wenn auch in verschiedener
Reihenfolge. Wer eine Sprache im mündlichen Verkehr wirklich
versteht, der hat die Pein des Erlernens bereits überwunden
und ist selbst dann im Besitze dieser Sprache, wenn irgend
eine Störung sein Artikulationsvermögen beeinträchtigt oder
gar aufhebt.
7. Das Problem im Dunkel der Wissenschaft und im Lichte
des Laienverstandes. Um zunächst das Problem noch klarer vor-
zuführen, sei hier ein Zitat aus dem Werke Bastians »Über Aphasie und
andere Sprachstörungens angeführt und in Parallele gestellt zu Beob-
achtungen aus dem Alltagsleben.
In sachlicher Übereinstimmung mit den meisten Autoren sprach-
pathologischer Arbeiten schreibt Bastian: »Es leuchtet ein, daß, wenn ein
Kind vermittelst der Sprache denkt, es das gleiche auch vermittelst der
im Gedächtnis behaltenen Klänge an Worten tun kann. Dies
sind seine linguistischen Symbole für Gedanken, die jedoch im Geiste mit
anderen Sinneseindrücken, ganz besonders mit denen des Gesichtssinnes,
innig verbunden sein müssen. Man kann wohl sagen, daß die meisten
Kinder schon im vierten oder fünften Monat die Namen behalten, mit
denen man viele Gegenstände belegt.«
Darauf habe ich folgendes zu entgegnen: Zunächst widerspricht es
meiner Erfahrung, daß ein Kind von vier bis fünf Monaten schon Sprache
verstehen soll, Allein das wäre nebensächlich. Es handelt sich hier viel-
mehr um diejenigen psychischen Daten, aus denen das innere Wort be-
steht und die beim Verstehen der Sprache in Betracht kommen. Es soll
einleuchten, daß ein Kind im vorsprachlichen Alter, »wenn es ver-
mittelst der Sprache denkt, es das gleiche auch vermittelst der im
Gedächtnis behaltenen Klänge von Worten tun wird.«e Das ist durch-
aus nicht einleuchtend. Es ist zunächst nicht nur nicht einleuchtend,
sondern es ist ein Widerspruch in sich selbst, daß ein Kind auf vor-
sprachlicher Stufe vermittelst der Sprache denkt, und ebensowenig ist
es einleuchtend, daß dieses sprachlose Kind schon in zwei Sprachen
3. Zum Problem des Sprachverständnisses. 85
denken soll. Es denkt zunächst »vermittelst der Sprache<; sodann denkt
es »vermittelst der im Gedächtnis behaltenen Klänge von Worten«. Die
Wortklänge sind seine »linguistischen Symbole für Gedankene. Welches
sind nun seine linguistischen Symbole, wenn das sprachlose Kind ver-
mittelst der andern Sprache denkt? Aus welchen Faktoren konstituiert
sich überhaupt diese andere Sprache? Das alles ist nichtsweniger als
einleuchtend, sondern es ist im höchsten Grade dunkel und unverständlich.
Bis dahin galt das Wort oder der Satz als ein linguistisches Symbol für
Gedanken. Bastian und seine Glaubensgenossen zerlegen das linguistische
Symbol in linguistische Symbole. Neben dem Wort sollen Wortklänge
linguistische Symbole von ganz besonderer Güte sein, Symbole, die ihre
Zauberkraft besonders bewähren bei klugen Haustieren, bei unmündigen
Kindern und gewissen Sprachkranken. Merkwürdig dabei ist nur, daß die
Forscher nicht den geringsten Versuch machen, diese geheimnisvolle Kraft
an sich selbst zu erproben, daß sie nicht selber zu leisten versuchen, was
sprachlose Kinder und »der kluge Hans« mit Hilfe von Sprachklängen
scheinbar zu leisten vermögen. Nicht an Kindern, Kranken und Wesen
niederer Art läßt sich das Problem des Sprachverständnisses lösen, sondern
nur an gereiften und sprachtüchtigen Personen.
Wenn ein mir befreundeter kluger Geschäftsmann telephonisch Auf-
träge erteilt, so läßt er seine Worte regelmäßig wiederholen. Der Herr
»klingelt« seinen Diener an mit den Worten: »Karl, sagen Sie dem Ober-
gärtner: heute und morgen möglichst zurückhalten«. Der Diener in seinem
beschränkten Untertanenverstande wird nicht 2 >< 24 Stunden den Atem
zurückhalten und darüber nachgrübeln, was die eben gehörten »Klänge«
zu bedeuten haben, sondern a tempo wird er antworten: »Ich habe dem
Öbergärtner auszurichten: heute und morgen möglichst zurückhalten.«
Damit ist das Gespräch beendet und mein Freund hat die Gewißheit, ver-
standen zu sein. Der Herr ist psychologischen und sprachphilosophischen
Theorien gegenüber ein reiner Barbar, aber er hat psychologischen Instinkt,
und Hirnphysiologen und Sprachpathologen könnten von ihm lernen. Dieser
Herr weiß, was zum Verständnis der Sprache notwendig ist. Wenn der
Diener sagen würde, er habe den Auftrag zwar verstanden, er habe
»Klänge von Worten« gehört und »im Gedächtnis behalten«, die Worte
selbst aber könne er im Handumdrehen noch nicht wiederholen, so würde
der Herr mit einem solchen Sprachheiligen kurzen Prozeß machen. Der
Laienverstand sagt uns hier, daß, um den Sinn der Worte zu verstehen,
zunächst diese Worte an sich verstanden werden müssen, daß das sinn-
volle Sprachverständnis ein mechanisches Sprachverständnis
zur Voraussetzung hat. Könnte jemand den Sinn der Rede verstehen,
ohne Worte verstanden zu haben, so wäre das ein Sprachverständnis ohne
Sprachverständnis, eine Kunst, von der sich ein normaler Mensch nur
schwer überzeugen läßt. — Damit sollen natürlich die akustischen Elemente
der Lautsprache weder in Abrede gestellt noch unterschätzt werden; aber
unbegreiflich erscheint mir, daß sie, wie fast alle Sprachpathologen behaupten,
getrennt und unabhängig von motorischen Vorgängen gedacht und vor-
gestellt werden können. Es ist mir rein unfaßlich, wie ich einen sprachlich
86 B. Mitteilungen.
formulierten Gedanken, einen Laut, ein Wort, eine Redensart, ein Ge-
dicht usw. innerlich erklingen lassen soll, ohne dabei innerlich zu sprechen.
In meinem Bewußtsein gibt es außer dem Klange, der dem Laute inhäriert,
kein zweites Klangbild, sondern der Laut ist eine schallhuft influierte
Bewegungsvorstellung, er ist eine unteilbare Einheit, eine psychophysische
Modalität, in der sensorische und motorische Elemente untrennbar ver-
bunden sind. Wenn ich Worte höre und verstehe, so bilde ich diese
Worte innerlich nach; im andern Falle bleiben die Worte diffuse
Schallreize, für die ich weder Verständnis noch Gedächtnis
habe. Zum Verständnis der Rede ist kein merkliches Mitsprechen, wohl
aber eine innere psychomotorische Wortbildung unbedingt erforderlich.
Könnte der Diener den Auftrag nicht sofort wiederholen, so würde er es
nach Verlauf einiger Sekunden erst recht nicht können. Den Reizworten
muß unmittelbar und kontinuierlich die Reaktion folgen, unbekümmert um
den Sinn der Worte. Die Wortklänge als Schallreize müssen unverzüglich
im Hörer Bewegungsimpulse auslösen, die denjenigen gleich oder ähnlich
sind, durch die jene Wortklänge entstanden. Der Diener darf nicht Schall
und Wortklänge, sondern er muß Worte hören; Schallreize müssen in
ihm Wortgestalt annehmen. Des Herrn Worte müssen im Stimm-
und Arikulationsorgan des Dieners ihr Echo und ihre Resonanz
finden: des Herrn Worte müssen des Dieners Worte werden. Auf
dieser im normalen Menschen vor- und ansgebildeten Mechanik, die näher
zu ergründen Sache der Physiologen und Physiker ist, beruht die Möglich-
keit des Verständnisses und des lautsprachlichen Verkehrs.
8. Das Sprachverständnis der Tiere. Die Hirnphysiologen sind
zwar genötigt, die bisher angeführten Erfahrungstatsachen anzuerkennen,
aber solche Ergebnisse der Selbstbeobachtung passen nicht recht in die
hypothesenreiche Lehre von der Aphasie, und um dieses überkünstliche
Bauwerk zu retten und einige Sprachstörungen möglichst umständlich er-
klären zu können, zerlegen sie den Sprachlaut in seine Elemente und
machen geisterhafte und kernlose »Sprachklänge« zum Träger und Ver-
mittler des Gedankens. Aber nicht nur mit pathologischen Fällen suchen
sie ikre Theorie zu stützen, sondern sie verweisen nebenbei immer wieder
auf kluge Haustiere und kleine Kinder, die Verständnis für Sprache be-
sitzen sollen, obwohl sie nicht sprechen und bei denen man darum jene
innere Laut- und Wortanschauung nicht voraussetzen dürfe.
Da ist zunächst der kluge Dackel, der »jedes Wort versteht«. »Der
alte Oberförster« hat es selbst erzählt, und der joviale Herr will ewig in
der Hölle braten, wenn es nicht wahr ist. Oberförsters Dackel versteht
rein alles, er versteht »vermittelst der im Gedächtnis behaltenen Klänge
von Worten«, er versteht ohne Bewegungsvorstellungen. Wenn wir
von dem redseligen Don absehen, so scheint es freilich gewagt, in den
Freß- und Bellwerkzeugen des Hundes gleiche oder ähnliche Innervations-
gefühle voraussetzen zu wollen, wie wir sie an uns und in uns erleben.
Aber kann man devn ernstlich von einem Sprachverständnis der Tiere
reden? Auf seiner gegenwärtigen Entwicklungsstufe kann man in Gegenwart
des klügsten Hundes noch die diskretesten Fragen behandeln; man kann
3. Zum Problem des Sprachverständnisses. 87
Bello in allen Sprachen der Welt einen Hundsfott und Schweinhund
nennen, das Todesurteil über ihn aussprechen und andere Teufeleien be-
schließen, ohne sein seelisches Gleichgewicht auch nur im geringsten zu
stören. Der Hund versteht seinen tausendfach gehörten Namen, er reagiert
auf irgend ein bekanntes Hetzwort und holt die Hausschuhe heran, wenn
der Herr die Stiefel in die Ecke schmeißt. Damit ist sein Können und
Wissen aber auch schon zu Ende. Ganz übersehen wird in der Regel
noch dabei, daß das Tier mehr auf begleitende Gebärden als auf Worte
achtet, daß ferner das Verständnis versagt, sobald die Experimente unter
veränderten Situationen stattfinden. — Berichte über Wundertiere tauchen
von Zeit zu Zeit immer wieder auf, aber die Erfahrung hat hinlänglich
gelehrt, daß auch der klügste »Hans« mit seinen Sprachkenntnissen vor
einer ernsten Prüfungskommission nicht zu bestehen vermag. Der Hund
versteht die Sprache seiner Rasse, er versteht die Sprache des Hundes,
nicht aber die Sprache des Menschen: Nur gleichartig organisierte
Wesen verstehen sich.
9. Das Sprachverständnis der kleinen Kinder. Aber das
Kind! Es versteht, ohne zu sprechen; hier ist die Sache doch augen-
scheinlich. Gewiß liegen die Dinge hier anders; denn das Kind von zwei
bis drei Jahren versteht unzweifelhaft mehr, als es selbst zu sprechen
vermag; aber trotzdem handelt es sich auch hier um jene Augenscheinlichkeit,
mit der die Sonne um die Erde sich dreht. Erstens ist das Kind mit
uns wesensgleich und besitzt menschliche Anlagen, die nur noch der Ent-
wicklung harren und die sich nur graduell von den Fähigkeiten des Er-
wachsenen unterscheiden. Zweitens sollten die Hirnphysiologen nicht
unberücksichtigt lassen, daß die Behauptung, das Sprachverständnis eile dem
Sprachgebrauch voran, in dieser Allgemeinheit nicht einmal richtig ist.
Bevor sich bei dem Kinde Anzeichen von Sprachverständnis bemerkbar
machen, hat es schon monatelang seine Artikulationsorgane geübt und
vielleicht mehr Laute hervorgebracht, als es in seinem Leben je sprachlich
verwendet. Drittens wird das Sprachverständnis des Kindes nicht selten
überschätzt (wie bei den Tieren) und ganz übersehen, daß das Verstehen
erst dann überraschende Fortschritte macht, wenn das Kind ernstlich zu
sprechen anfängt. Viertens aber deuten selbst die mißlungenen sprach-
lichen Nachbildungen darauf hin, daß auch beim Kinde präformierte Bahnen
vom Ohre zu den Stimm- und Artikulationsorganen führen, und daß wir
auch da unbewußt bleibende Innervationen voraussetzen dürfen, wo es
noch an der nötigen Übung und Geschicklichkeit fehlt, das Wort der Vor-
lage gemäß zu gestalten. Überhaupt ist zu berücksichtigen, daß die Vor-
stellung einer Bewegung noch weit entfernt ist von der Ausführung und
der vollendeten Bewegung selbst. Ich sehe einem Reckturner zu; es
»kribbelt mir in den Fingern«; ich fühle ausgedehnte Innervationen in
verschiedenen Organen meines Körpers, würde aber die Übung nicht nach-
machen können. Der musikalische Kunstkritiker beurteilt den Sänger
durchaus sachgemäß, obwohl er selbst nicht singen kann. Ähnlich verhält
es sich, wenn das Kind die innerlich gebildeten Worte auszusprechen
sucht. Die Versuche mißlingen meist ebenso jämmerlich, als wenn ein
85 B. Mitteilungen.
Marienbader Kurgast die Kunststücke eines Akrobaten nachzumachen ver-
suchte. An Verständnis für die Bewegungen, an Innervationen und Be-
wegungsvorstellungen fehlt es in allen diesen Fällen nicht, aber es fehlt
an der Fertigkeit und Möglichkeit der Ausführung.
Nicht als Sprachmeister, sondern als Sprachschüler kommt das Kind
zur Welt. Die Anlage zum Sprechen, der psychophysische Sprach-
mechanismus ist ihm angeboren; wäre dies nicht der Fall, so würden alle
»Sprachärztes der Welt sich vergebens bemühen, das Kind zum Sprechen
zu bringen. Die Verbindung der Stimm- und Gehörsnervenfasern innerhalb
des Zentralorgans mag beim Kinde zunächst eine unvollkommene sein,
mag zunächst anatomische und physiologische Mängel aufweisen, aber der
Apparat als solcher muß in seiner Anlage als vorhanden gedacht werden,
wenn anders der Mensch nicht stumm bleiben soll. Richtig ist, daß bei
dem Kinde das Sprachverständnis dem Ausdrucksvermögen voraneilt. Daraus
aber folgern und schließen zu wollen, Sprachschall allein sei ausreichend zum
Sprachverständnis, ist eine kühne aber ungenügend durchdachte Hypothese.
10. Aphasische Sprachtaubheit. Daß zum Verständnis der Rede
motorische Erregungen unerläßlich sind, dafür liefern solche Personen
einen überzeugenden Beweis, die trotz normalen Gehörs weder Sprache
verstehen noch sprechen gelernt haben. Für Sprachstörungen dieser Art
gibt es die mannigfachsten Bezeichnungen. Ich wähle den Ausdruck
»aphasische Sprachtaubheit«, um damit das Wesen des Gebrechens einiger-
maßen zu charakterisieren und zwar im Gegensatz zu einer zweiten Form
von Sprachtaubheit, die peripherer Natur ist und die zurückgeführt werden
muß auf eine physiologisch noch nicht geklärte Störung in der Hör-
mechanik ausschließlich für Sprachklänge Es handelt sich bei apha-
sischer Sprachtaubheit um Sprachkranke, die auf die feinsten Geräusche
achten, die volles Verständnis für Naturlaute haben, die alle Personen
ihrer Umgebung an der Stimme erkennen, die nicht selten durch gewisse
musikalische Leistungen überraschen, die aber trotz dieser weitgehenden
akustischen Fähigkeiten dennoeh stumm geblieben sind und kaum ein
Wort verstehen. Werden diese Personen unter Anwendung aller dem
Taubstummenlehrer zur Verfügung stehenden Mittel zum Sprechen gebracht,
so assoziieren sich auch bei ihnen die Sprachklänge mit den Artikulations-
bewegungen. Diese zunächst sprachtauben Kinder verstehen nach und
nach die Sprache auf dem Wege des Gehörs. Dies Verständnis erstreckt
sich jedoch nur auf solche Lautfolgen, die die Kinder künstlich
sprechen gelernt haben. Allen anderen Sprachgebilden gegen-
über sind sie nach wie vor sprachtaub.
Diese Kinder leiden in Wirklichkeit nicht an einer Hörstörung,
sondern an einer Sprachstörung, und zwar an Aphasie schwerer Art. Nicht
um eine »Inaktivitätslethargie des Ohres« handelt es sich, sondern um
eine Inaktivitätslethargie des psychischen Sprachmechanismus: es fehlt an
Innervation, es fehlt an der nötigen Erregbarkeit und Belebung des inneren
Worts. Und hier zeigt sich nun deutlich, daß das Sprachverständnis nicht
ausschließlich eine Leistung des Gehörs ist. Zum Sprachverständnis
— auch zum mechanischen — gehört, daß der Perzeption der Sprach-
4. Zeitgeschichtliches. 89
klänge durchs Ohr eine physiologische oder verbale Apperzeption im
psychischen Sprachzentrum folgt, daß Schallreize ganz bestimmter Art im
Hörer Wortgestalt annehmen und mit einem motorischen Kern eine un-
trennbare Verbindung eingehen. Wo diese Erregbarkeit im psychischen
Sprachmechanismus eine derart herabgesetzte ist, daß es zu keiner Verbal-
apperzeption kommt, da besteht bei normalem Gehör Sprachtaubheit.
11. Der langen Rede kurzer Sinn. Kurz zusammengefaßt haben
unsere Untersuchungen über das Problem des Sprachverständnisses in seinen
mechanischen Formen zu folgenden Ergebnissen geführt:
a) Die an unser Ohr dringenden Naturlaute werden unmittelbar gedeutet
und rufen in unserm Bewußtsein die zugehörigen Sachvorstellungen
und Situationen wach.
b) Eine gleiche Wirkung ist dem Sprachschall nicht eigen. Um den Sinn
der Worte zu verstehen, müssen zunächst die Worte an sich ver-
standen werden: das sinnvolle Sprachverständnis hat ein mechanisches
Sprachverständnis zur Voraussetzung.
c) Zum mechanischen Sprachverständnis ist erforderlich, daß der Klang-
perzeption durchs Ohr eine Verbalapperzeption im psychischen Sprach-
mechanismus folgt, daß Sprachklänge im Stimm- und Artikulations-
organ des Hörers ihre physiologische Resonanz finden und wenigstens
zu einer inneren Wortbildung führen.
d) Das innere Wort (der Sprachlaut) ist eine schallhaft influierte Be-
wegungsvorstellung.
e) Die logische Zergliederung der inneren Wortanschauung in motorische
und sensorische Elemente führt zu psychologischen Scheinbegriffen,
denn isoliert sind diese Elemente weder denk- noch vorstellbar.
Wenn dieses Resultat nicht gar zu grobe Irrtümer enthält, dann ist
die Lehre von den Sprachstörungen einer ernsten Revision bedürftig; dann
ist vor allen Dingen zunächst aufzuräumen mit jenen wissenschaftlichen
Gespenstern, die nun schon seit Jahren Verwirrung in der Lehrerwelt
angerichtet haben, nämlich mit den Sprachtypen, mit dem Typus der
sprachlichen Sensoriker und Motoriker.
4. Zeitgeschichtliches.
Der Göttinger Psychiater Professor Dr. August Cramer, der auch in unseren
Kreisen bekannt und geschätzt ist, starb am 6. September 1912 im Alter von
52 Jahren. Er hat sich namentlich auch um die Schaffung der am 3. Juni ein-
geweihten ersten deutschen Provinzial- Heil- und Erziehungs - Anstalt für psycho-
pathische Fürsorgezöglinge große Verdienste erworben.
Wilhelm Wundt wurde zu seinem 80. Geburtstag zum ersten Ehrenmitglied
des Instituts für experimentelle Pädagogik und Psychologie des Leipziger Lehrer-
vereins ernannt.
In der schweizerischen Landesausstellung 1914 wird eine umfassende
Gruppe der Erziehung, dem Unterricht und der Berufsbildung gewidmet sein. Im
Programm sind sogar praktische Vorführungen im Schulgarten, in der Schulküche,
in Spielen und Turnen usw. vorgesehen.
Die internationale Bauausstellung in Leipzig 1913 wird sich außer
mit schulhygienisch wichtigen Fragen auch in einer besonderen Gruppe mit dem
Bauen im Spiele des Kindes befassen.
90 B. Mitteilungen.
Ein erster heilpädagogischer Kursus findet vom 19. Februar bis 12. März
1913 in Hannover statt. Anfragen an: Rektor Murtfeld, Hannover, Wörthstr. 1.
Die nächste Versammlung des Deutschen Vereins für Schulgesund-
heitspflege findet 1913 in Breslau statt.
Stiftungen, Schenkungen usw.: 100000 Mark für Jugendfürsorge-
zwecke in Lindau und drei Vorortgemeinden; 40000 Mark zur Erbauung eines
Waisenhauses in Altenburg.
Der Regierungspräsident von Cassel hat alle an der Jugendpflege aktiv
Beteiligten aus staatlichen Mitteln gegen alle Haftpflichtansprüche versichert.
Die Regierung in Minden in Westfalen hat angeordnet, daß in den Schulen
auf dem Lande und in kleineren Städten, in denen kein besonderer Hilfsschulunter-
richt erteilt wird, für die schwachbegabten Kinder besondere Personalbogen ge-
führt werden, die für die betreffenden Kinder nach der Schulentlassung in Militär-,
Gerichts- und anderen Angelegenheiten besonders wertvoll werden können.
In Bremerhaven soll der schulärztliche Dienst auf die Fortbildungs-
schulen ausgedehnt werden.
Die neuen gesetzlichen Bestimmungen in Holland verbieten die Beschäfti-
gung von Kindern unter 13 Jahren in gewerblichen Betrieben. Jugend-
liche dürfen nicht vor 6 Uhr morgens, nicht nach 7 Uhr abends und nicht länger
als 10 Stunden beschäftigt werden.
Der preußische Minister des Innern hat den Regierungspräsidenten eine Ver-
fügung zugehen lassen, durch die eine weitergehende Zentralisierung der Film-
zensur angestrebt wird. Danach bleibt die Prüfung aller von Fabrikanten oder
gewerbsmäßigen Verleihern vorgelegten Films dem Polizeipräsidenten von Berlin
vorbehalten. Diesem steht ein auf literarischem, künstlerischem und erzieherischem
Gebiete erfahrener Berater zur Seite.
Eine »Gesellschaft zur Hebung der Lichtspielkunste hat sieh gebildet,
um -- die Auswüchse der Kinoschundbekämpfung zu bekämpfen.
Die Kinematographenbesitzer Stuttgarts hatten untereinander bei hohen
Konventionalstrafen Beschlüsse gefaßt, durch die ihre Kinos auf ein höheres
Niveau gehoben werden sollten, aber — wie die Polizeidirektion mitteilt — keines-
wegs gehoben wurden, sondern durchaus auf dem tiefen Niveau blieben.
In den württembergischen Lehrerseminaren wurden im Oktober von
unserm Mitherausgeber Dr. Karl Wilker Vorträge über »Die Bedeutung der
Alkoholfrage für den künftigen Lehrer« gehalten.
Eine Statistik der Anstaltsgeistlichen über die Insassen des Zentral-
gefängnisses in Gollnow (Reg.-Bez. Stettin) für die Jahre 1908—1911 er-
gibt: 15,2°/, sind unehelich geboren. Zur Zeit ihrer ersten Bestrafung standen von
den Eingelieferten jährlich durchschnittlich
18 im Alter von 12 Jahren 51 im Alter von 17 Jahren
24 Er} ” 3 13 ” 35 k$] ” „ 18 n
20 ” ” ” 14 kad 37 ”„ „ ”„ 19 kk]
29 ” „ 9 15 kh 33 s. 29 19 20 "235
32 ” ” „” 16 ” 21 ” „ ” „
Von den Gewohnheitsverbrechern (zehnmal und öfter bestraft) waren 46,3°/,
im jugendlichen Alter bereits verbrecherisch geworden; 8,3°/, waren ehemalige
Fürsorgezöglinge. Von allen Straftaten wurden 72,80/, in Trunkenheit oder infolge
von Trunksucht begangen (darunter 68,7°/, der Sittlichkeitsdelikte).
Die Zahl der Analphabeten unter den französischen Rekruten be-
lief sich nach dem Bericht der Korpskommandeure im Jahre 1911 auf 5,65°/,.
Der Bericht über die Verhandlungen der XII. Jahresversammlung
des Deutschen Vereins für Schulgesundheitspflege und der IV. Ver-
sammlung der Vereinigung der Schulärzte Deutschlands vom 28. bis
30. Mai 1912 in Berlin, herausgegeben von Prof. Dr. Selter und Dr. Stephani,
ist als Beiheft (im Umfang von 234 S. mit 17 Textbildern, 1 Tabelle und 1 Tafel)
zu Jg. 25, Nr. 8 (August 1912) der »Zeitschrift für Schulgesundheitspflege« im
Verlag von Leopold Voß in Leipzig und Hamburg erschienen.
C. Zeitschriftenschau. 91
Die auch in Deutschland rühmlichst bekannte »Zeitschrift für Jugenderziehung,
Gemeinnützigkeit und Volkswohlfahrt« (A. Trüb & Co., Aarau) führt vom 15. Sep-
tember 1912 an (Beginn des III. Jahrgangs) den Titel »Zeitschrift für Jugend-
erziehung und Jugendfürsorge«. Die Zeitschrift soll sich nunmehr zu einem
Zentralorgan der gesamten Jugendfürsorgebestrebungen der Schweiz entwickeln, ohne
aber die rein ng a Fragen zu vernachlässigen. Der Bezugspreis mußte
infolge mannigfacher Eıweiterungen von 8 Mark auf 9 Mark für das Jahr erhöht
werden (jährlich 24 Nummern im Umfang von je etwa 2 Druckbogen und mehr).
C. Zeitschriftenschau.
I. Psychologie.
1. Ergebnisse der angewandten Psychologie.
Die Plastiken Jugendlicher und die Psychologie. Die Hilfsschule. V, 8 (August
1912), S. 221—223.
Bericht über einen Teil der Ausstellung des Instituts für angewandte Psycho-
logie. Aus der »Vossischen Zeitung«.
Weigl, Franz, Seelenkunde und Berufswahl. Bayerische Caritas-Blätter. 1912, 6
(Juni), S. 121—125.
Zeigt, wie die moderne Psychologie (namentlich in Amerika) für die Berufs-
wahl nutzbar zu machen ist. Einzelne Beispiele.
II. Anormalenpädagogik.
l. Tatsachen.
Büttner, Georg, Verschiedene Sprachstörungen und ihre Behandlung in der
Schule. Evangelisches Schulblatt. 56, 9 (September 1912), S. 398—409.
Bespricht Stottern (am eingehendsten), Stammeln, Lispeln, Näseln.
Hischer, Karl, Lehrerfreude. Heilpädagogische Schul- und Elternzeitung. III, 7
u. 8 (Juli-August 1912), S. 128—130.
Zwei kurze Schülertypen, deren rechnerisches Talent ganz zufällig zutage kam.
2. Konsequenzen.
Bornemann, L., Gründet Hilfsschulen einklassig! Evangelisches Schulblatt. 56, 9
(September 1912), S. 385—397.
Die statistischen Zahlen werden besprochen. Im engen Anschluß an Dörpfeld
werden einklassige und angegliederte Hilfsschulen gefordert. Bei mehrklassigen
Schulen soll der Lehrer seine Klasse durchführen. Vielfach polemisierend!
Ziegler, K., Behandlung schwachbegabter Kinder im Elternhause. Heilpädagogische
Schul- und Elternzeitung. III, 7 u. 8 (Juli-August 1912), S. 135—146.
Ratschläge an den Vater eines Hilfsschulkindes, hauptsächlich die außer-
schulische Erziehung betreffend, daneben aber auch die Hilfsschularbeit würdigend.
In Briefform.
8. Erfolge.
Griesinger, A., Fürsorge für die Schwachbefähigten nach dem Schulaustritt mit
besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in Frankfurt a. M. Die Hilfsschule.
V, 8 (August 1912), S. 209—221.
92 C. Zeitschriftenschau.
Lehnt die bisherige Einteilung in nicht, teilweise und völlig erwerbsfähige ab
und rubriziert statt dessen in stetige Arbeiter (von den 1903—1909 in Frankfurt
entlassenen 133 Hilfsschülern 36,84°/,). unstetige Arbeiter (46,67°/,) und nicht er-
werbsfähige (16,54 °/,). Für die Unterbringung der schulentlassenen Schwach-
befähigten werden wertvolle Winke gegeben.
Scharff, Meine Erfahrungen mit Professor Engels Stimmbildungsmethode bei der
Behandlung von Sprachgebrechen. Evangelisches Schulblatt. 56, 9 (September
1912), S. 409—413.
Die Methode verdient nach den erzielten auffallenden Erfolgen den Vorzug
vor der Gutzmannschen.
Gürtler, R., Jahresversammlung der Vereinigung zur Förderung des sächsischén
Hilfsschulwesens. Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger. 32, 8 (August
1912), S. 145—148.
Kurzer Bericht über die am 22. Juni stattgehabte Versammlung.
III. Kinderschutz und Jugendfürsorge.
2. Massnahmen.
von Buchka, Jugendgerichte. Der Tag. Nr. 196 (22. August 1912).
Skizziert die Bestimmungen des Verfahrens gegen Jugendliche im liegen-
gebliebenen Entwurf der neuen Strafprozeßordnung, denen sich das zu erwartende
Jugendgerichtsgesetz im wesentlichen anschließen dürfte.
Elwert, Dritter Deutscher Jugendgerichtstag. Der Tag. Nr. 207 (4. September 1912).
Deutet an, welche Forderungen zu dem bevorstehenden Jugendgerichtsgesetz
auf der genannten Tagung erhoben werden dürften. Betont besonders die Not-
wendigkeit prophylaktischer Maßnahmen.
Naab, P. Ingbert, Die moderne Jugendbewegung. Der Tag. Nr. 220 (19. Sep-
tember 1912).
Tritt ein für die konfessionellen Jugendvereine, denn auch in der Jugend-
bewegung werden »die ewig geltenden Wahrheiten der Kirche Christi, die bei einem
großen Teil der Menschheit und auch bei einem großen Teil der Jugend immer
ihren Einfluß bewahren werden,« den endgültigen Sieg davontragen.
Gloor, Adolf, Was für Lesestoff sollen unsere Schülerbibliotheken enthalten ?
Zeitschr. f. Jugenderziehung u. Jugendfürsorge. III, 1 (15. Sept. 1912), S. 17—21.
Sucht die Frage auf Grund praktischer Erfahrungen und Versuche zu be-
antworten.
Zimmer, Hugo Otto, Kinderlesezimmer. Der Säemann. 1912, 9 (17. September),
S. 418—421. :
Durch die Kinderlesezimmer soll den Kindern ihr verlorenes Heim wieder-
ersetzt werden. Sie müssen also mehr Jugendheime als Lesezimmer sein. Dabei
kommt es vor allem auf die richtigen Menschen als Leiter an.
Weimer, Die schulentlassene Jugend. Deutsche Schulpraxis. 32, 34 (25. August
1912), S. 269—272.
Aus des Verfassers »Haus und Leben als Erziehungsmächtee. — Kurze
Orientierung über Jugendfürsorgebestrebungen.
3. Erfolge.
Lüthi, Lina, Aus dem Arbeitsgebiet einer Polizeiassistentin. Zeitschrift für Jugend-
erziehung. II, 24 (1. September 1912), S. 743—747.
C. Zeitschriftenschau. 93
Die Verfasserin ist Polizeiassistentin in Zürich. Sie betont, daß sich ihre
Tätigkeit nur fruchtbringend gestalten könne, wenn Wohnen und Essen der Mädchen
geordnet werde. Einzelne Fälle aus der Praxis werden kurz mitgeteilt. Dringend
erwünscht ist ein eigentliches Obdachlosenheim.
Silbernagel, Alfred, Internationale Organisation der Jugendfürsorge. Zeitschrift
für Jugenderziehung und Jugendfürsorge. III, 1 (15. September 1912), S. 3—14.
Mitteilung über die zum Zwecke der Gründung eines internationalen Komitees
und einer internationalen Union getanen Schritte, insbesondere über eine im Juni
1912 in Paris stattgefundene Konferenz. Zusammenstellung der Urteile maß-
gebender Persönlichkeiten darüber. Ein Komitee zur Unterstützung der vom
schweizerischen Bundesrat in dieser Angelegenheit eingeleiteten interstaatlichen
Aktion wurde noch nicht gebildet. Die Antworten der Staatsregierungen sollen
erst abgewartet werden.
F. R., Kinderhorte. Zeitschrift für Jugenderziehung und Jugendfürsorge. III, 1
(15. September 1912), S. 14—16.
Im wesentlichen Besprechung einer besonders guten Horteinrichtung, die einer
Großberliner Volksschule angegliedert werden soll.
Lohr, Anton, Genügt unsere Zwangserziehung? Bayerische Caritas-Blätter. 1912, 6
(Juni), S. 134—139.
Auf Grund des amtlichen Berichtes über die Zwangserziehung in Bayern 1911.
Es wird dargetan, daß die Hauptursache der Verwahrlosung der Alkoholismus ist.
IV. Jugend- und Schulhygiene.
Wimmenauer, Über die Bestimmung des Ernährungszustandes bei Schulkindern.
Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 25, 9 (September 1912), S. 601—619.
Der Aufsatz bringt als Bemerkungen zu den Münchener Untersuchungen von
Oppenheimer und Landauer eine Erörterung der Frage nach der Bestimmung des
Ernährungszustandes bei Schulkindern überhaupt. Zur Beurteilung kommen in Be-
tracht Inspektionsmethode und (verschiedene) Maßmethoden. Erstere wird in Mann-
heim vorgezogen. Eine Untersuchung von 1175 Knaben und 767 Mädchen der
Volksschule ergab 18,6°/,, bezw. 13,8°/, schlecht ernährte Kinder. Die Feststellung
des Ernährungszustandes durch Wiegen und Messen wird durch ein Beispiel er-
läutert. — Die kritischen Bemerkungen sind sehr beachtenswert!
Poelchau, G., Die Unterernährung der Schuljugend und ihre Bekämpfung durch
Merkblätter, welche Ratschläge über die Ernährung enthalten. Zeitschrift für Schul-
gesundheitspflege. 25, 8 (August 1912), S. 533—561.
Ein Merkblatt des Verfassers wird im Wortlaut wiedergegeben. Vorauf gehen
einige allgemeine Bemerkungen zu dem Thema.
Wallenstein, J., Über die hygienische Aufklärung und Belehrung unserer Schul-
kinder. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 25, 8 (August 1912), S. 593—595.
Der Verfasser teilt kurz seine bereits 1909 vorgetragenen, aber nicht publi-
zierten Erfahrungen mit der Belehrung der Kinder in hygienischen Fragen mit.
Diese Belehrung sollte nur durch den Schularzt erfolgen.
Riedel, Das orthopädische Schulturnen in Lübeck. Zeitschrift für Schulgesundheits-
pflege. 25, 9 (September 1912), S. 619—621.
Für das Turnen werden vorwiegend Kinder mit schwachem Rücken oder
Neigung zu Rückgratsverkrümmung ausgewählt; ausgesprochene oder fixierte Wirbel-
säulenverkrümmungen werden ausgeschieden.
94 D. Literatur.
Rothfeld, Schulturnen und Schularzt. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege.
25, 8 (August 1912), S. 562—574.
Untersucht die Frage, ob Befreiung vom Turnen den entlastungsbedürftigen
Kindern wirklich Nutzen gewährt. An ihre Stelle soll möglichst »Turnschonung«
treten oder aber Überweisung in die allgemeine Sonderturnstunde. Der Verfasser
legt besonderen Wert darauf, das jetzige Schulturnen möglichst förderlich zu ge-
stalten, nicht aber es kurzerhand abzuschaffen.
Franke, Kurt, Die Schulwanderungen im Lichte der körperlichen Erziehung der
Schuljugend. Heilpädagogische Schul- und Elternzeitung. II, 7 u. 8 (Juli-
August 1912), S. 130—134.
Erörtert kurz den guten Einfluß der Schulwanderungen auf gesunde und kranke
Kinder. Tritt ein für Ferienwanderungen der Schüler.
Cohn, Moritz, Eine einfache Methode zur Bestimmung einer richtigen Bestuhlung
sämtlicher Klassen eines ganzen Schulbezirks. Zeitschrift für Schulgesundheits-
pflege. 25, 9 (September 1912), S. 621—623.
Die Methode wird in einem Breslauer Schulbezirk angewandt. Sie besteht im
wesentlichen im Anbringen von 3 horizontalen Linien in jeder Klasse, die die Durch-
schnittskörperlängen angeben, muß aber im Original nachgelesen werden.
Hoffmann, A., Gesundheitspflege und Gesundheitslehre in der Hilfsschule. Zeit-
schrift für die Behandlung Schwachsinniger. 32, 8 (August 1912), S. 149—157;
9 (September), S. 163—173.
lm wesentlichen Bericht über die Internationale Hygiene-Ausstellung 1911.
Es werden für die Praxis Nutzanwendungen daraus gezogen. Zum Teil werden auch
eigene Erfahrungen (Gesundheitslehre ausgebaut zu einer Lebenskunde) mitgeteilt.
D. Literatur.
Bayer, Heinrich, Über Vererbung und Rassenhygiene. Ein allgemein
orientierender Vortrag. Jena, Gustav Fischer, 1912. IV und 50 Seiten. Mit
5 Tafeln und 2 Abbildungen im Text. Preis 2 Mark.
Der Vortrag ist in erster Linie für ärztliche Leser bestimmt, doch kann er
als eine gut geratene Einführung allen empfohlen werden, die dem Probleme inter-
essiert gegenüberstehen. Dr. Karl Wilker.
Schweighofer, Josef, Alkohol und Nachkommenschaft. S.-A. aus der
Wochenschrift: »Das österreichische Sanitätswesen.« Wien I, Alfred Hölder,
1912. 25 Seiten und 23 Tafeln. Preis 1 K 60 h.
Diese Arbeit ist eine der wertvollsten Erscheinungen der letzten Zeit. Der
Verfasser, Direktor der Landesheilanstalt für Geisteskranke in Salzburg, hat mit
staunenswertem Fleiß und Eifer ein großes Material zu der Frage zusammengetragen.
Graphische Darstellungen sind der Arbeit in reicher Zahl beigegeben. Man kann
die degenerierenden Wirkungen des Alkohols an einem Kulturvolke bis in Einzel-
heiten hinein verfolgen und muß daraus unbedingt die gleichen Folgerungen wie
der Verfasser ziehen: Eintreten für die Abstinenzbewegung! Dr. Karl Wilker.
Verantwortliche Schriftleitung für Abhandlungen und Mitteilungen: Dir. J. Trüper,
Sophienhöhe b. Jena; für Zeitschriftenschau und Literatur: Dr. Karl Wilker, Jena,
Weißenburgstraße 27.
Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
Verlag von Hermann BEYER & Söhne (Beyer & Many) in Langensalza.
Beiträge zum Kinderiorschung und Heilerziehung,
Beihefte zur »Zeitschrift für Kinderforschunge.
Im Verein mit
Dr. G. Anton Dr. E. Martinak Chr. Ufer Karl Wilker
Geh. Med.-Rat u. Prof. o. ö. Prof. d. Philosophie Rektor d. Süd-Mädchen- Dr. phil.
an der Univ. Halle u. Pädag. a. d. Univ. Graz Mittelschule i. Elberfeld in Jena i. Thür.
herausgegeben von
J. Trüper
Direktor der Erziehungsheimes und Jugendsanatoriums auf der Sophienhöhe bei Jena.
Heft
27. Die Impressionapilität der Kinder unter dem Einfluss des Milieus. Von
Dr. Adolf Baginsky, Professor an der Universität Berlin und Direktor des
Kaiserin Friedrich-Kinderkrankenhauses. 21 8. Preis 40 Pf.
28. Raehitis als eine auf Alkoholisation und Produktionserschöpfang be-
ruhende Entwicklungsanomalie der Bindesubstanzen. Von Dr. M. Fiebig,
Schularzt in Jena. 38 8, i Preis 75 Pf.
29. Psyehasthenisehe Kinder. Von Dr. Th. Heller, Direktor der Erziehungsanstalt
für geistig abnorme Kinder Wien-Grinzing. 18 S. Preis 35 Pf.
30. Die Fürsorge für die schulentlassene Jugend. Von Dr. Felisch, Geh.
Admiralitätsrat. 17 S. Preis 30 Pf.
31. Farbenbeobachtungen bei Kindern. Von Dr. Karl L. Schaefer, Professor
an der Universität Berlin. 16 S. Preis 30 Pf.
32. Über die Möglichkeit der Beeinflussung abnormer Ideenassoziation dureh
Erziehung und Unterricht. Von Hugo Landmann, Oberlehrer am Trüperschen
Erziehungsheim Sophienhöhe b. Jena, 21 S. Preis 40 Pf.
33. Über hysterische Epidemien an deutsehen Sehulen. Von Kurt Walther Dix,
Lehrer in Meißen. 46 S. Preis 75 Pf.
Die psyehologische und pädagogische Begrändung der Notwendigkeit
des praktischen Unterrichts. Von Dr. A. Pabst, Direktor des Handarbeits-
seminars in Leipzig. 20 8. Preis 40 Pf.
. Die oberen Stufen des Jugendalters. Von Dr. H. Schmidkunz in Halensee
bei Berlin. 20 S. Preis 40 Pf.
Fröbelsche Pädagogik und Kinderforsehung. Von Hanna Mecke in Cassel.
18 8. Preis 35 Pf.
Über individuelle Hommungen der Aufmerksamkeit im Schulalter. Von
J. Delitsch, Hilfsschul-Direktor in Plauen i. V. 25 8. Preis 50 Pf.
Die Taubstumm-Blinden. Von G. Riemann, Kgl. Taubstummenlehrer zu
Berlin. Mit 2 Tafeln. 218. Preis 45 Pf.
Beitrag zur Kenntnis der Sehlafverhältnisse Berliner Gemeindesehüler.
Von Dr. L. Bernhard, Schularzt in Berlin. 13 S. Preis 25 Pf.
Wohnungsnot und Kinderelend. Von A. Damaschke. 17 S. Preis 30 Pf.
Jugendliche Verbrecher. Von Dr. G. von Rohden. 188. Preis 35 Pf.
Die Bedeutung der Hilfssehulen für den Militärdienst der geistig Minder-
wertigen. Von Dr. Ewald Stier, Stabsarzt in Berlin. 26 S. Preis 50 Pf.
Der Zitterlaut R. Von O. Stern, Tbst.-L. in Stade. Mit 2 Fig. 388. Pr. 75 Pf.
Psychologisches zur ethischen Erziehung. Von Professor Dr. han
Witasek. Mit 1 Tafel. 17 8. Preis 30 Pf.
Zur Wertsehätzung der Pädagogik in der Wissensehaft wie im Leben.
Von J. Trüper, Dir. d. Erziehungsheims Sophienhöhe b. Jena. 28 S. Pr. 50 Pf.
. Fingertătigkeit und Fingerrechnen als Faktor der Entwicklung der Intelli-
genz und der Rechenkunst bei Schwachbegabten. Von H. Nöll. 60S. Pr. 1M.
$
gə
[1
BE 5 AB RES 8 gag
Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
Verlag von Heryasys Bever & Sönse (Bever & Mann) in Langensalza.
. Der erste Sprechunterricht (Artikulationsunterricht) bei Geistesschwachen.
Von Hauptlehrer Strakerjahn. Mit 2 Textabb. u. 1 Tafel. 258. Preis 60 Pf.
. Das staatliebe Kinderschutzwesen in Ungarn. Von Dr. Franz v. Torday.
Oberarzt des Budapester staatlichen Kinderasyls. 37 8. Preis 80 Pf.
. Die Prügelstrafe in der Erziehung. Von Dr. O. Kiefer. 428. Preis 75 Pf.
Der Tie im Kindesalter und seine erziehliche Behandlung. Von Gustav
Dirks. 29 S. Preis 60 Pf.
. Zur Literatur über Jugendfürsorge und Jugendrettung. Von K. Hemprich,
278
Preis 50 Pf.
. Kind und Gesellschaft. Von Konrad Agahd in Rixdorf. 38 3. Preis 60 Pf.
. Der Kinderglaube. Von H. Schreiber, Lehrer i. Würzburg. 70S. Preis 1 M25 Pf.
Psychopathische Mittelschüler. Von Dr. phil. Theodor Heller, Direktor der
Heilerziehungsanstalt Wien-Grinzing. 26 S. Preis 50 Pf.
ber den Einfluss der venerischen Krankheiten auf die Ehe sowie über
ihre Übertragung auf kleine Kinder. Von Prof. E. Welander, Stockholm.
43 8
` Preis 75 Pf.
Die Bedeutung des Unterriehts im Formen für die Bildung der Ansehauung.
Von H. Denzer. 25 8. Preis 50 Pf.
. Über den Einfluss des Alkoholgenusses der Eltern und Ahnen auf die Kinder.
Von Dr. A. H. Oort, Arzt a. Sanat. Rheingeest b. Leiden, Holland. 208. Preis 40 Pf.
. Jugendsehatz-Kommissionen als vollwertiger Ersatz für Jugendgerichts-
höfe. Von Kuhn-Kelly, Präsident u. Kinderinspektor der Gemeinnützigen Ge-
sellschaft der Stadt St. Gallen. 19 S. Preis 40 Pf.
. Das amerikanisehe Jugendgericht und sein Einfluss auf unsere Jugend-
rettung und Jugenderziehung. Von Dr. B. Maennel, Rektor in Halle a. S.
34 S Preis 50 Pf.
. Die Entwicklung der Gemütsbewegungen im ersten Lebensjahre. Von
Martin Buchner in Passau. (Mit 4 Tafeln.) 20 S. Preis 50 Pf.
. Frühreife Kinder. Psychologische Studie von Dr. Otto Boodstein, Stadtschulrat
in Elberfeld. 43 S. Preis 75 Pf.
. Der Arzt in der Hilfssebule. Von Geh. Reg.- u. Med. -Rat Prof. Dr. Leu-
buscher und Hilfsschullehrer Adam. 26 S. Preis 50 Pf.
. Die Suggestion im Leben des Kindes. Von Hans Plecher, München. 36 S.
Preis 60 Pf.
. Das Beobaechtungshbaus der Erziehungsanstalten. Von J. Petersen, Direktor
des Waisenhauses in Hamburg. 19 S. Preis 40 Pf.
Über den gegenwärtigen Stand der Kunsterziehungsfrage in Österreich.
Von Prof. Alois Kunzfeld in Wien. (Mit 1 Doppeltafel) 34 S. Preis 75 Pf.
. Straffällige Schulknabeu in intellektueller, moralischer und sozialer Be-
ziehung. Von C. Birkigt, Lehrer an der Kgl. Landesstrafanstalt zu Bautzen.
42 S. Preis 65 Pf.
. Grundlagen für das Verständnis krankhafter Seelenzustände (psycho-
pathischer Minderwertigkeiten) beim Kinde in 30 Vorlesungen. Von Dr. med.
Hermann, Merzig a/Saar. (Mit 5 Tafeln.) 2. Aufl. 1945. Preis 3 M., geb. 4 M.
Lüge und Ohrfeige. Eine Studie auf dem Gebiete der psychologischen Kinder-
forschung u. der Heilpädagogik. Von Kuhn-Kelly, Präsident u. Kinderinspektor
der Gemeinnützigen Gesellschaft der Stadt St. Gallen. 23 S. Preis 40 Pf.
. Die Sinneswahrnehmungen der Kinder. Von Dr. phil. Hugo Schmidt 33 S.
Preis 50 Pf.
Der Selbstmord im kindlichen und jugendlichen Alter. Von Dr. med.
Neter. 228. Preis 40 Pf.
Zur Kenntnis der Ernährungsverhältnisse Berliner Gemeindesehüler. Von
Dr. L. Bernhard, städt. Schularzt in Berlin. 28 S. Preis 45 Pf.
Einfluss von Gebirgswanderungen auf die körperliche Entwieklung unserer
Voiksschuljugend. Von Dr. H. Roeder-Berlin. 17 S. Preis 30 Pf.
Die sozialen und psychologisehen Probleme der jugendlichen Verwahr-
losung. Von Dr. Julius Moses, Arzt in Mannheim. 32 S. Preis 50 Pf.
Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
Be
$: £ Da AL [ER ®%: BS Dr N B > IL A Q: A: BA
EEE OTTO TEEN 4
20208080808080808 O808:0808080808
nun nr ee OS SS I I Ss < zc aAS ZI EEE SE ST iz
A. Abhandlungen.
1. Schulreform.
Von
Dr. Peter Petersen, Hamburg.
In das Leben der Schule läuten mit immer stärkerem Schwingen
die Reformglocken hinein. Vieldeutig ist ihr Geläut, eine bunte Sub-
jektivität müht sich um die Erfassung der Töne, Gesellen aller Tempe-
ramente ziehen die Stränge; selten sind es frohe Osterglocken, oft,
uns viel zu oft, klingt es wie Geläut von Sturmglocken an unser Ohr.
Und doch sah wohl die pädagogische Welt nie zuvor eine so große
Schar der besten Männer und Frauen einer Zeit im Dienste der Schul-
reform, nie hörten wir von solchem Aufgebot geistiger Energie, besten
Willens zu ihrer Lösung. Aber die große Zahl gibt auch zahllose
Lösungen, ja, sie entdeckt noch eine Menge neuer Fragen hinzu; und
das Wirrsal der Probleme, die von Woche zu Woche schwerer fallende
Übersicht der Zeitfragen ist Schuld daran, daß der einheitliche Zug
der Bewegung oftmals abhanden kommt, daß andererseits die Reform
an manchen Orten, besonders bei gewissen Fragen revolutionär auf-
braust und über die Grenzen der Besonnenheit schäumt.
Reform ist nicht Revolution!
Heute ist doch nur eine in rationalistisch-utopistischen Gedanken-
kreisen rückständig verbliebene, streng marxistische Richtung Gegner
dieser These und die letzte Pflegerin naturrechtlicher Anschauungen.
Uns anderen hat die Geschichte mit scharfem Griffel aufgezeichnet,
warum der Glaube der Aufklärung trügerisch war. Revolution ist die
gewaltsame Unterbrechung der geschichtlichen Entwicklung mit der
Tendenz, das Alte durch ein absolut Neues zu ersetzen. Solche Ge-
danken machen einem Jahrhundert Ehre, das an eine allvermögende
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 7
98 A. Abhandlungen.
Vernunft glaubt, unserem Empirismus und Realismus nicht mehr.
Alles, was die Gegner rationalistischer Systeme vor etwa 100 Jahren
auf dem Grunde der Prinzipien aus der Betrachtung des Rechts, des
Staates, der Literatur usw. einzuwenden hatten, darf uns über das
Wesen der Reform aufklären.
Ihr wahres Prinzip hat sich, zunächst unter romantischem Ein-
fluß, unter der Pflege der »historischen Schule« siegreich heraus-
gerungen: das Prinzip der Kontinuität belehrt uns über die Macht
der irrationellen Bestandteile des Staatslebens, wie über die Macht der
Tradition, der Sitte, der religiösen Überlieferungen und Gebräuche,
des Instinktes, der triebartigen Empfindungen. Das glänzendste Bei-
spiel bietet in der französischen Geschichte die napoleonische Zeit mit
dem Wiederaufleben der Zeit vor 1789 und die Restauration mit
ihrem Unvermögen, die durch das Kaisertum geförderten Anlagen und
Grundrichtungen des französischen Geistes zu tilgen und zu ersetzen.
— In Deutschland hatte Hegel den Rationalismus und seine Rechts-
anschauung zum Siege geführt und das Wesen des »selbstbewußten
Geistes«e in der Abstraktion von der Materie, in ihrer Negation ge-
sehen. Auch hier führte erst die Einfügung der historischen Kon-
tinuität auf den rechten Weg der Geschichte. Die Fortbildung der
menschlichen Gesellschaft kann einmal sich bewußt frei gestalten, dem
Wesen der Persönlichkeit analog, daneben aber in ununterbrochener
Einheit, eine Tatschöpfung, gemäßigt durch die sich anknüpfende
Überlieferung. So hat auch Ranke, der große Kenner der Geschichte,
der an ihren lautersten Quellen trank, von der »Kontinuität des Lebens
in den Staaten« gehandelt.
Wer auf den reichen Blättern der Geschichte weiterliest, wird
mühelos tausend Beweise für die Wahrheit dieses Prinzips finden und
als Lohn solchen Forschens den echten geschichtlichen Sinn erwerben,
der zugleich zur rechten Fragestellung anleitet. Nimmt er dann
tätigen Anteil an der Schulreform, so wird er eine weise »Lehr-
meisterin des Lebens« sich zur Seite finden; sie wird ihm rechte
Antwort geben, auch versöhnende, freundliche; denn die Göttin der
Hoffnung zeigt selbst dem Fragenden die Erfüllung durch die nebel-
umschleierte Zukunft.
Reform ist nicht Renaissance!
Renaissance ist Erneuerung eines alten Ideals in Zeiten, denen
es versagt ist, ganz aus eigener Kraft, aus sich selbst ein neues zu
schaffen. Was das Volk entgegenbringt, ist nur die Sehnsucht nach
neuem Leben, ein Drang unruhig und ungestüm, die Leidenschaft zum
Ideal neben der Verehrung und stillen Anbetung; die Kraft zum
Petersen: Schulreform. 99
Selbstschaffen fehlt. Allein, ist erst das vorgestellte Ideal gepackt, da
reißt die sehnende Gewalt des Volkes es an sich und mit sich fort zu
neuen Gebilden und baut auf dem Alten wie in neuen Formen mit
neuen Mitteln unter einem eigenen Ideal der Schönheit. Neu wird
die Lebensführung, wie seine Anschauung anders wird, und das Ideal
der Persönlichkeit wandelt sich in stürmischem Umschwung zu rück-
sichtslosem Lebensgenuß und Brutalität wie zu Adel und feinfühliger
Lebenshaltung.
So wirkt eine Renaissance gewiß auch umbildend — reformierend
— nach völkischer Eigenart auch mannigfach verschieden. Dennoch
ward allen das künstliche Element zum Fluch. Es gebricht dem
Künstlichen an Durchschlagskraft bis zu den Massen des Volkes, und
erst wo von unten herauf der Geist im Ansturm wogt und sucht und
prüft, schließlich erkennt und nun gewaltig will und für sein Wollen
alles einsetzt, da entwickelt sich die unwiderstehliche Stoßkraft des
Ganzen und reißt widerstrebende Dämme fort.
Die große Renaissance führte die Kunst zu einer Höhe, vor der
wir noch heute bewundernd stehen, entfaltete reiche Literaturen und
Gedankensysteme, traf aber die Massen nicht, versagte daher voll-
kommen den religiösen Fragen gegenüber, die stets ein Massenproblem
sind, und ging unter, als deren Lösung urwüchsiger, grundtiefer Kraft
gelang. Der Klassizismus unsrer großen Dichter zeigt heute als Aus-
läufer den Alexandrinismus, philologische Entartung; die unbändige,
phantasievolle Romantik feierte ein kurzes Jubeljahr. Nur wo diese
Perioden an Saiten der Volksseele rührten, die lange, lange stumm
und ungeschlagen dagelegen hatten, wurden sie fruchtbare Anreger —
weil sie das Volk in der Tiefe, im Ganzen trafen, neue Seiten seiner
eigenen Tüchtigkeit, in ihm selber schlummernde Werte weckten.
Reform ist organisches Neubilden!
Niemand weiß, was dies heißt in seinem letzten Grunde: Die
Idee des Nationalismus charakterisiert das 19. Jahrhundert. Dennoch
fühlt nicht nur ein jeder, sondern weiß, was es ist um diese Idee.
Er sieht sie nach und nach alle Völker ergreifen, bald beherrschen
und ihrer Politik, der inneren wie der äußeren, eigentümliches Ge-
präge verleihen. Der Historiker kann weiter gelangen und in »Über-
gangszeiten« die Herauswicklung dieser Idee aus der kosmopolitisch-
universalistischen, ihrem Gegenteil, aufzeigen. Er kann etwa darlegen,
wie diese zerfällt unter dem Druck eines großen Eroberers, der, selbst
noch ganz im Banne der alten, die neue Idee, den Nationalismus, als
seinen Feind, schließlich seinen Besieger erzeugen muß. Aus den
Schriftwerken jener Tage lösen wir die Glieder ab, aus denen wir die
7*
100 A. Abhandlungen.
Kette fügen, die von einer Idee zur andern hinüberleitet. In jeder
haben wir aber eine Neubildung aus der Völker eigener Kraft vor
uns, die keiner Anlehnung, keiner künstlichen Stütze bedarf, jedoch
rückwärts mit der Geschichte verbunden ist.
Derart ist in unseren Tagen die Idee der Schulreform.
Sie ist geboren aus tiefempfundenen Bedürfnissen, die sich mit
voller Konsequenz aus der Entwicklung unseres Volkes in den letzten
Jahrzehnten einstellen mußten, die innerlich, organisch mit seinem
wirtschaftlichen, sozialen und völkischen Aufstieg verbunden sind. Sie
wird demnach von der großen Mehrheit des Volkes und seinen besten
Vertretern getragen und ist von ihnen ins helle Licht der Kritik ge-
stell. Heute ringt sie schon im Bewußtsein eingeborenen Rechtes
nicht mehr um Anerkennung, sondern um Erfüllung. Und nun stehen
wir im grellen Licht des Tages mit den tausend Fragen, und wie Ge-
blendete suchen wir die Pfade zum Ziel. Da mahnt wohl eine rück-
wärts schauende Orientierung mit Recht, nicht den Zusammenhang
mit der Vergangenheit der pädagogischen Entwicklung zu verlieren.
Fruchtbar ist doch nur, was sich organisch fortbildet, was kontinuier-
lich fortschreitet und nicht revolutionär das Alte gänzlich verwirft zu-
gunsten des glitzernden, unerprobten oder nur wenig erprobten Neuen.
Wer dann noch sich vor Vermengung pädagogischer Fragen mit
anderen, besonders politischen, wozu die Gegenwart leider so gern
neigt, hütet, der trägt voll dazu bei, daß in der Schulreform die be-
freiende Tat bald einsetzen kann, und hilft ferner zur Schaffung eines
Zieles mit, dem Männer jedes Alters, jeder Partei gleich begeistert
zustreben können.
Und das sei allein Ziel der Reform, dem der Ergraute und der
Greis neben dem Jünglinge zuschreiten können, beide führend, die
Weisheit, Besonnenheit und reichere Erfahrung des Älteren, die leiden-
schaftsstarke, vom Gefühl getriebene, idcalische Kraft des Jüngeren.
Das letzte Ziel, das Hochziel aller fortschreitenden Bewegung inner-
halb menschlicher Kultur war stets die Wahrheit als innere Wahrheit
des Lebensgehaltes, um sie können jung und alt ringen — gemeinsam.
Auch der Weg zur Wahrheit der Idee kann gemeinsam sein, wofern
er die Schönheit ist: die Schönheit in ehrenvoller Führung des Streites
bei jedem Mittel und in jeder Haltung. Die Schönheit des Wortes,
die allein der edlen Sache würdig ist, sei jedem Führerin auf dem
Wege. Der Stützen gibt es viele, wie Treue, Arbeit, Fleiß, Beharr-
lichkeit, Besonnenheit, Geduld. Aber auf Einigkeit im letzten Ziele,
im Herausarbeiten des letzten Punktes richte jeder einzelne sein
Augenmerk! Was nützt dem einzelnen sein stählernes Gemüt und
Reuschert: Charles Michel de l'Epée. 101
seine stählerne Kraft, wenn er in seiner Starrheit einsam verharrt?
Er wird wie ein unnützer, kraftloser Stahlspan im Haufen wirkungslos
liegen. Wenn aber der große Zug, wenn die magnetische Kraft ihn
durchströmt, dann reckt er sich auf und reiht sich ein, Glied an Glied,
und bildet mit die Einheit, der allein der Sieg beschieden ist.
2. Charles Michel de l’Epee.
Der Begründer der ersten Taubstummenanstalt. Ein Erinnerungsblatt
zu seinem 200jährigen Geburtstage.
Von
Emil Reuschert, Königl. Taubstummen-Lehrer in Berlin.
Der Jahrgang 1712 war für die pädagogische Entwicklung Frank-
reichs von weitgehendster Bedeutung, gehörten ihm doch zwei Männer
an, die durch ihre kühnen, epochemachenden Ideen die erziehende
Menschheit vor neue, große Aufgaben stellten, so daß ihre Namen
schon zu ihren Lebzeiten auf aller Lippen waren. Ich meine Jean
Jacques Rousseau und Charles Michel de l’Épée.
Wenn man berücksichtigt; daß die Namen auch bis auf den
heutigen Tag noch nichts von ihrer Lebenskraft eingebüßt haben, so
kann man ermessen, wie nachhaltig das Auftreten der beiden Männer
auch noch auf die späteren Generationen gewesen ist. Dabei darf
nicht vergessen werden, daß es sich nicht etwa bloß um einen Ein-
fluß im engeren Kreise handelte, sondern daß ihre Anregungen über
die Grenzen ihrer Heimat weit hinaus gingen, wodurch sie für alle
Zeiten zu einem Weltruf gelangt sind.
Rousseaus Gedenktag hat Freunden und Feinden wieder einmal
Gelegenheit gegeben, in einer wahren Flut von Aufsätzen zu dem
Freiheitskämpfer und Gefühlsapostel Stellung zu nehmen. Nun wollen
wir hier auch seinem oben genannten Altersgenossen ein Erinnerungs-
blatt weihen. Auch er strebte eine Emanzipation an und schöpfte
bei seinem schweren Werke immer wieder neue Kraft aus dem un-
versiegbaren, reinen Borne seines reichen Gemütslebens. Und wie
verschieden waren doch sonst diese beiden Menschen!
Charles Michel de l’Epse wurde am 24. November 1712 als Sohn
eines königlichen Architekten zu Versailles geboren. Er besuchte das
»Collöge des Quatre-Nations« mit vorzüglichem Erfolge, um sich dann,
einer inneren Neigung folgend, dem geistlichen Stande zu widmen,
obwohl ihn seine Eltern von seinem Vorhaben abzubringen suchten.
Der junge Priester wurde ein eifriger Gottsucher. In seinen Ge-
wissensnöten wandte er sich jansenistischen Studien zu, was jedoch
102 A. Abhandlungen.
nicht im Sinne der Jesuiten war. Als er sich dann weigerte, ein
Glaubensformular Alexanders VII. zu unterzeichnen, wurde er seines
Amtes entsetzt. Nach diesem Schicksalsschlage ging er zum Rechts-
studium über, und 1733 empfing er seine Ernennung zum Parlaments-
advokaten. In seiner juristischen Laufbahn fand er indessen nicht
die innere Befriedigung; deshalb begrüßte er es mit Freuden, als er
durch Fürsprache des Monsignore Bossuet, Bischofs von Troyes, wieder
ein kirchliches Amt und den Titel eines Kanonikus von Pougy er-
hielt. Als aber sein Gönner seine schützenden Arme über ihn nicht
mehr ausbreiten konnte, setzten die Verfolgungen wieder ein, die
schließlich zu seiner Amtsenthebung führten. Fortan zog sich de l'Épée
zu Paris in das stille Leben eines Privatgelehrten zurück.
Ein Zufall sollte seinem Leben später Richtung und Inhalt geben.
In der Rue des Fosses Saint-Viktor zu Paris wohnten in ihrem väter-
lichen Hause zwei taubstumme Schwestern. Der Pater Vanin des
gegenüberliegenden Ordenshauses der »Brüder von der Christlichen
Lehre« hatte damit begonnen, die beiden stummen Mädchen durch
Bilder zu unterweisen, ohne jedoch eine bestimmte Methode anzu-
wenden. Zum großen Leidwesen der schwergeprüften Eltern hatte
indes der glücklich begonnene Unterricht durch den Tod des mild-
tätigen Ordensbruders bald ein Ende gefunden.
Im Jahre 1760 kam de l’Ep6e gelegentlich einmal in das Haus,
sah die beiden Taubstummen und erfuhr durch die weinende Mutter
das Elend der Familie. Gerührt durch die Klagen der Frau und das
Unglück ihrer Kinder, faßte er den Entschluß, sich der armen Wesen
anzunehmen. Das war für ihn zunächst nichts Leichtes; denn er
hatte von anderen Unterrichtsversuchen an Taubstummen bisher nichts
erfahren. So trat er ohne jegliche Vorkenntnisse, aber voll Mut und
Gottvertrauen an sein neues Liebeswerk heran. Seine reichen Gaben
wurden ihm nun zu großen Aufgaben. Ohne jeden Einfluß von
anderer Seite her gelang es ihm durch unermüdliche wissenschaftliche
Forschungen, einen Weg zu finden, auf dem er dem durch das Ge-
brechen gefesselten Geiste seiner Pflegebefohlenen beikommen konnte,
um ihn dann aus seiner Gefangenschaft zu erlösen und zu freier Ent-
faltung zu bringen. Weil er nicht auf den Vorarbeiten anderer fußen
konnte, so zeigt das von ihm geschaffene Unterrichtssystem eine so
scharf ausgeprägte Eigentümlichkeit, daß es in der Geschichte der
Taubstummenbildung als etwas vollständig Neues auftritt, das von den
bis dahin angewandten Unterrichtsverfahren vollständig abweicht. Es
ist nicht uninteressant, dem Forscher auf seinen Gedankengängen zu
folgen. Wir tun es an der Hand seiner beiden Hauptschriften:
Reuschert: Charles Michel de l'Épée. 103
1. Institution des sourds et muets par la voie des signes möthodi-
ques. 228 Seiten. Paris 1776. Deutsche Übersetzung von Taub-
stummenlehrer G. Brand in Stade 1910. Selbstverlag.
2. La véritable manière d’instruire les sourds et muets, 345 Seiten.
Paris 1784.
Abbé de l’Épóe weist zunächst darauf hin, daß der Taubgeborene
auf natürlichem Wege ohne besondere unterrichtliche Einwirkung in
den Besitz der Gebärdensprache gelangt. Er sagt: »Jeder Taub-
stumme, den man uns bringt, hat schon eine Sprache, die ihm ge-
läufig und um so ausdrucksvoller ist, als sie die Sprache der Natur
ist, die alle Menschen besitzen. In dieser Sprache bringt er es durch
häufige Anwendung zu einer solchen Fertigkeit, daß er sich mit Personen,
mit denen er zusammen lebt, ja selbst mit solchen, die nur vorübergehend
sich ihrer bedienen, bald verständigen kann. Er drückt in dieser
Sprache seine Bedürfnisse, Wünsche, Neigungen, Besorgnisse, seine
Freude, seinen Kummer und Schmerz aus und irrt sich nicht, wenn
andere Personen ihm gegenüber ähnliche Gefühle auf gleiche Weise
äußern. Er empfängt in ihr Aufträge, führt sie treu aus und legt
Rechenschaft darüber ab. Es ist die Sprache der Zeichen.
Man kann ihn deshalb auch unterrichten. Um zum Ziele zu ge-
langen, handelt es sich bloß darum, ihm die französische Sprache noch
zu verschaffen. Welches wird die kürzeste und leichteste Methode
sein? Wird es nicht diejenige sein, welche sich in der Sprache aus-
drückt, an die er sich gewöhnt hat und in der man ihm auch sagen
kann, was er zu wissen nötig hat?«
Nach seiner Meinang konnte es nur darauf ankommen, die natür-
liche Gebärdensprache, die der kleine Taubstumme von Hause aus
mitbringt, im Unterrichte nach dem Plane der Landessprache künst-
lich umzugestalten und auszubauen. »Wenn man seine Sprache
adoptiert und sie nach einer faßlichen Methode in Regeln zwingt,
wird man ihn leicht dahin führen können, wohin man will.«
Im gewöhnlichen Leben erlernt ja der Vollsinnige die Lautsprache
durch das Hören und Nachahmen des sprachlichen Vorbildes. »Gehör
und artikulierte Laute sind das Vehikel für die Erwerbung der Kennt-
nisse, mit denen unser Geist bereichert wird. Nun sind aber die
Wörter der Lautsprache mit den Begriffen, die sie darstellen, nur
durch ein willkürliches, konventionelles Band verbunden. Die einzelnen
Begriffe haben aber nicht mehr Verwandtschaft mit den Lauten wie
mit den Schriftzeichen; darum kann man im Unterrichte auch die
Begriffe mit der Schriftform der Sprache verbinden.«
Wie gestaltete sich nun sein Unterricht? Die Anfänger erlernten
104 A. Abhandlungen.
zuerst durch Vor- und Nachschreiben die einzelnen Buchstaben des
Alphabets. Mit jedem Buchstaben wurde zugleich das handalpha-
betische Zeichen eingeübt. Dadurch konnten die Schüler die Buch-
staben mit Hilfe des Fingeralphabets lesen, und sie wurden jum-
gekehrt auch in den Stand gesetzt, im Fingeralphabet diktierte-Wörter
niederzuschreiben. Das Handalphabet blieb aber bei ihm auf die
Einübung der Schriftzeichen beschränkt und diente dann nur noch
zur Einübung der Rechtschreibung, besonders bei der Einführung von
Eigennamen. Einen weitergehenden Gebrauch desselben als Unter-
richts- und Verkehrssprache verwarf er, und hierin stellte er sich in
` entschiedenen Gegensatz zu Jacob Rodriguez Pereira (1715—1780),
einen aus Portugal eingewanderten Juden, der in Frankreich gleich-
falls Taubstumme unterrichtete. Er wendete sich gegen ihn und dessen
Anhänger (besonders seinen taubstummen Schüler Saboureux de Fontenay)
mit folgender Argumentation: »Wenn ein Daktylologe mit seinen
Schülern von der Tappiserie (Tapete) in einem Zimmer sprechen will,
in dem keine ist, wird er ihnen durch sein Fingeralphabet ein T, a, p,
usw. diktieren. Die Schüler werden dieses Wort ohne Zweifel
schreiben und, wenn man will, auch sprechen; sie würden es sogar
nach einem Diktat auch griechisch oder arabisch wiedergeben; aber
nie kann man wissen, ob sie auch die Sache verstanden haben, die
wir uns vorstellten, als wir ihren Namen sprachen oder schrieben, be-
sonders wenn sie nach dem Schreiben unbeweglich bleiben wie eine
Hermessäule?« Es liegt auf der Hand, daß das Schreiben nach dem
Diktat der Daktylologie bei dem schreibenden Taubstummen keine
anderen Kenntnisse voraussetzt als die 24 Buchstaben des Hand-
alphabets. Abbé de l’Epse meinte also, daß es sich nur um ein
mechanisches Nachschreiben handle. Er fährt dann fort: »Wenn ich
das Zeichen für etwas mache, was man an die Wand legt, was man
oben, unten und an den Seiten mit Nägeln befestigt, und wenn dann
mein Taubstummer dieses Wort schreibt, ohne daß ich ihm einen
einzigen Buchstaben diktiere, kann man da noch zweifeln, daß er mit
diesem Wort den Sinn verbindet, den wir ihm beilegen?«
Abb6 de l’Ep6e fertigte nun Karten an, von denen jede den
Namen eines Körperteiles trug. Bei dem Vorzeigen einer Karte wurde
auf den entsprechenden Körperteil gezeigt, um die Bedeutungs-
assoziationen zwischen den Normalwörtern und den durch direkte
Anschauung gewonnenen Vorstellungen herzustellen. Die Übungen
wurden solange fortgesetzt, bis die Anfänger nach dem Mischen der
Karten Wort und Sache zu verbinden wußten, und zwar hatte sich
der Lehrer seine Arbeit insofern erleichtert, als er nach einem Helfer-
Reuschert: Charles Michel de l'Épée. 105
system die jüngeren durch die älteren Schüler in Form von Spielen
unterweisen ließ, wobei es, wenn sich Fehler einstellten, nicht ohne
Lachen abging.
Damit die Wörter auch in allen ihren Teilen richtig erfaßt wurden,
mußten die Schüler aus einem Setzkasten, in dessen Fächern auf
Täfelchen die einzelnen Buchstaben geordnet waren, die Vokabeln zu-
sammenstellen und dann wieder auflösen.
Die hier geschilderten Übungen waren indes nach seiner Ansicht
noch nicht ausreichend, die Sprache zum bleibenden Eigentum seiner
Schüler zu machen; denn er hatte gefunden, daß »alles was schnell
vorgeht, nicht genug Eindruck macht, um im Gedächtnis zu haften.«
Wie wir in unserer Kindheit die Wörter unzähligemal gehört haben,
ehe sie zu einem sichern Besitztum wurden, so sollen die taubstummen
Schüler sie auf bleibenden Tabellen zunächst immer vor Augen haben.
Zu diesem Zwecke waren an den Zimmerwänden große Tafeln be-
festigt, auf denen in drei senkrechten Kolonnen 600 Haupt-, 600 Zeit-
und 400 Eigenschaftswörter in alphabetischer Reihenfolge angebracht
waren. Der Rest der Tafel war für die übrigen Wortarten bestimmt.
In jeder Stunde sollten nun je 12 Vokabeln der beiden ersten Reihen
und 6 der dritten Reihe durch Gebärdenzeichen erklärt und eingeübt
werden, so daß der tägliche Gewinn ein Wortschatz von 60 Vokabeln
sein sollte. Der Stoff der ganzen Wandfläche (1600) müsse danach
in einem Monate (?) erledigt sein.
Von Anfang an wurde auch die Konjugation der Zeitwörter ge-
übt. Für die Wortarten, die Fälle, Ein- und Mehrzahl, die Zeiten,
die Modusformen, die Personen usw. erhielten die Schüler besondere
von ihrem Lehrer erfundene Gebärdenzeichen. Dann wurde das so
gewonnene Sprachmaterial dazu benutzt, nach dem Diktat durch
methodische Zeichen Sätze niederzuschreiben. Nebenher wurden in
der oben beschriebenen Weise immer neue Wortmassen dem Ge-
dächtnis zugeführt. Abbé Sicard, de l’Ep6e’s Lehrgehilfe und späterer
Nachfolger, schreibt darüber: »Waren die Wörter einmal befestigt, so
hatten die Taubstummen keine Mühe mehr, für die Zeichen die Wörter
zu schreiben und für die Wörter die Zeichen zu geben. Ganze Seiten
der abstraktesten Bücher wurden kopiert. Aber verstanden sie den
Sinn von dem was sie schrieben ?«
Das Lesen bestand in einer bloßen grammatischen Wortanalyse.
In einem Briefe an Samuel Heinicke schildert de l’Epse die Eigenart
seines Verfahrens folgendermaßen:
»Wenn Sie unsere Methode gekannt hätten, so hätten Sie nicht
dem Lehrer von Wien die Frage vorgelegt, ob der Taubstumme,
106 A. Abhandlungen.
welcher die geschriebenen Wörter sieht: ‚Bringen Sie dieses Buch‘
(apportez ce livre) und weiter: ‚Ich möchte, daß Sie dieses Buch mit-
brächten‘ (je voudrais que vous apportassiez ce livre) nicht durch diese
Formveränderung verwirrt und irritiert würde.
Er wird keineswegs irritiert (und Sie werden mich entschuldigen,
wenn ich weiter auf die Grammatik eingehe, sehr geehrter Herr): denn
unser Taubstummer, welcher in der Hand einen Stock zum Zeigen
hat, wird mit demselben auf die Linie der für diesen Zweck ein-
gerichteten Tafel zeigen, wo die Gegenwart der Wirklichkeitsform
»bringen« steht, während er das Wort »mitbrächte« unter der 2. Person
der Mehrzahl des Imperfekts im Konjunktiv des französischen Zeit-
wortes »tragen« (porter) angeben wird, welches ein transitives Zeit-
wort der 1. Konjugation ist; derselbe wird auch hinzufügen, daß es
in der 2. Person steht, weil man zu jemandem spricht, und in der
Mehrzahl, weil wir in unserer Sprache als Höflichkeitsform die 2. Person
der Mehrzahl anwenden (wo die Deutschen die 3. Person der Mehr-
zahl gebrauchen); ferner wird er angeben, daß es im Imperfektum
steht, dieweil nach der Gedankenordnung. welche aus dem Zeitworte
(je voudrais) hervorgeht, die Handlung verrichtet sein sollte, also ver-
gangen ist, obgleich sie in Wirklichkeit in der Zukunft liegt, nach
der Voraussetzung des Wollens (ich möchte — ich würde wollen),
welche ihr vorangeht. Auch wird er angeben, daß es im Konjunktiv
steht, weil der Satz nicht in direkter Rede ausgedrückt und weil ein
Zeitpunkt einem andern zugefügt ist. Außerdem wird er angeben,
daß es transitiv gebraucht ist, weil der Satzgegenstand die Tat aus-
führt; endlich daß es die 1. Konjugation ist, weil es im Infinitiv auf
»er« (porter). endigt. Unser Taubstummer wird bestimmt alles das
ohne Hilfe des Lehrers zeigen (?), und ohne Zweifel werden Sie zu
der Überzeugung gelangen, daß derselbe die Regeln der Konjugation
beherrscht.
Wenn Sie unser Buch gelesen und verstanden hätten, aber es ist
französisch geschrieben, so würde Ihr Brief an den Lehrer in Wien
nicht die drei folgenden Behauptungen enthalten, welche der Wahr-
heit entgegen stehen: 1. das Gehör kann nicht durch das Gesicht er-
setzt werden; 2. sogar mit Hilfe der Schrift und der methodischen
Zeichen kann der Geist der Taubstummen keine abstrakten Begriffe
auffassen; 3. die auf diese Weise angelernten Zeichen und Wörter
müssen bald vergessen werden.«e (W. Reuschert, Deutscher Taub-
stummenlehrer-Kalender. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne [Beyer
& Mann], 1889.)
Es läßt sich nicht leugnen, daß befähigte Schüler auch nach
Reuschert: Charles Michel de l'Épée. 107
dieser Methode Erfreuliches gelernt haben. Wie wäre es sonst mög-
lich gewesen, daß die wohlhabende, gebildete Welt nach Paris wall-
fahrtete, um dort in der Taubstummenanstalt die Wunder dieses Unter-
richtes anzustaunen? Freilich werden viele Schüler vieles nach dem
Diktat nur mechanisch nachgeschrieben haben, was die Besucher als
verstandesmäßig aufgenommen ansahen. Das läßt sich auch aus Sicards
obigen Worten schließen, der doch gewiß ein kompetenter Zeuge war.
I:sımerhin muß aber auch heute noch jeder unbefangene Beurteiler
anerkennen, daß de l’Épée nach bestem Wissen und Gewissen treu
gearbeitet hat, und daß seiner Arbeit auch die Früchte nicht gefehlt
haben. Am Ausgangspunkt einer Entwicklung stehend, hat er für
den Anfang immerhin genug getan. In der Folgezeit ist die Taub-
stummenbildung in ihrer äußeren und inneren Ausgestaltung natürlich
weiter geschritten und de l'Épée ist von anderen des Faches als
Methodiker und Lehrer überholt worden. Als Mensch und Erzieher
ist er aber bis auf den heutigen Tag noch nicht übertroffen worden,
und er kann allen, die auf dem Gebiete werktätiger Nächstenliebe
beschäftigt sind, noch heute als leuchtendes Vorbild vor Augen ge-
stellt werden. Zwar läßt sich gar nicht bestreiten, daß jetzt nach
dieser Seite hin ungeheuer viel geschieht und daß auch die meisten
von denen, die in heilpädagogischen Anstalten lehrend und erziehend
tätig sind, mit Einsicht, Hingebung und Treue ihres Amtes walten;
aber meist steht doch ihrer wenn auch mühseligen und aufreibenden
Arbeit als Gegenleistung die Gewährung eines Gehaltes oder sonst
einer Versorgung gegenüber. Viele würden wohl, wenn sie im Reich-
tum geboren wären, nicht zu diesem Berufe übergegangen sein; denn
die Abnormenlehrer rekrutieren sich bekanntlich nicht aus den Reihen
der Millionärsöhne. Andrerseits werden große Summen von Wohltätern
geopfert, aber meist doch nur aus ihrem Überflusse heraus. Die
reichen Leute, die ihr gesamtes Vermögen hingeben und dann auch
noch ihr ganzes Leben opfern und tagaus, tagein bis zum Tode sich
einem so mühevollen Berufe hingeben, wird man wohl mit der Laterne
suchen können. Abbé de l’Ep6e tat beides. Er opferte in seiner
1770 gegründeten Taubstummenanstalt seinen Zöglingen seine ganze
Habe und gab zugleich sein Herzblut für sie bin, und zwar mit
Freuden. Dadurch ist er zu einem der größten Philanthropen aller
Länder und Zeiten geworden. In seiner Fürsorge seinen Pflege-
befohlenen gegenüber kannte er keine Grenzen. Selbst Hunger und
Frost schreckten ihn nicht ab. Das zeigt uns auch die kleine Ge-
schichte, die der Dichter Bouilly erzählt, die er von Augen- und
Ohrenzeugen erfahren hat. Der Abte hatte ungefähr 14000 Fr. jähr-
108
A. Abhandlungen.
licher Einkünfte; er unterhielt sein Institut fast ganz auf eigene
Kosten, und deshalb erlaubte er sich für seine eigene Person nie,
mehr als 2000 Fr. zu verzehren. Alles Übrige betrachtete er als
Erbteil seiner Zöglinge Während des strengen Winters von 1788,
als er schon sehr alt und kränklich war, versagte er sich einige Zeit
das Holz. Seine Haushälterin wurde es gewahr; an der Spitze von
40 Taubstummen, die alle in Tränen schwammen und ihn durch
Zeichen baten, sich für sie zu erhalten, zwang sie ihn, seinen jähr-
lichen Aufwand für sich selbst um 300 Fr. zu überschreiten. Der
würdige Greis konnte sich nachher darüber nie zufrieden geben, und
oft, wenn er mit den Unglücklichen spielte, die er seine Kinder
nannte, sagte er: »Ich habe euch um 300 Fr. gebracht.«
So schenkte sich der fromme Priester äußerlich arm und wurde
innerlich dadurch um so reicher. Dieses Leben im Dienste der leiden-
den Menschheit, das nur noch Genüge fand, sich seinen unglücklichen
Mitmenschen nützlich zu erweisen, läuterte seinen Charakter dermaßen,
daß sich so leicht niemand dem bezaubernden Einflusse seiner Per-
sönlichkeit entziehen konnte. Als Kaiser Joseph II. nach einem Be-
suche des Pariser Taubstummeninstituts im Begriffe war, dieses zu
verlassen, und der Direktor ihn bis zur Tür begleiten wollte, sagte er,
noch ganz unter dem Eindrucke des soeben Wahrgenommenen stehend,
die denkwürdigen Worte: »Herr Abbé, Ihre Zeit ist zu kostbar, um
sie an eitlen Zeremonieen zu verlieren. Sie sind Gott Rechenschaft
darüber schuldig.« (Kaiser Josephs II. unvergeßliche Gedanken, Aus-
sprüche und Bestrebungen v. Leistener.) Eine ihm daraufhin an-
gebotene einträgliche Prälatur in Österreich schlug Abbé de l'Épée
aus, erbot sich aber, zur Einführung der Taubstummenbildung in den
Habsburger Landen zwei ihm überwiesene Lehrer in seiner Kunst zu
unterrichten. Weltpriester Stork und May waren die beiden Aus-
erwählten, die dann nach ihrem Lehrkursus 1779 die Taubstummen-
anstalt zu Wien begründeten. Ebenso entsandte auch der Kurfürst
von Mainz, Freiherr von Erthal, einen jungen Geistlichen nach Paris,
damit dieser die Unterrichtsmethode de l'Épée’s dort kennen lernen
und dann in seine Heimat verpflanzen sollte. Im Jahre 1780 be-
suchte der russische Gesandte de l'Épée, wünschte ihm im Namen
seiner Monarchin Glück und bot ihm ein ansehnliches Geldgeschenk
an: »,Mein Herr‘, sagte der Abbé, ich emfange keine Geldgeschenke.
Sagen Sie Ihrer Majestät, daß, wenn meine Bemühungen Anspruch
auf ihre Achtung machen dürfen, sie mir es dadurch beweisen kann,
daß sie mir einen Taubstummen zuschickt.« Zu den Besuchern des
Pariser Instituts gehörte auch der Hohenzollernprinz Heinrich, der
Braunshausen und Ensch: Psychologische Profile. 109
Bruder des großen Friedrich von Preußen. Er hatte fortan ein so
reges Interesse an der Sache, daß er sich mehrfach bemühte, den
Methodenstreit zwischen de l’Epse und Samuel Heinicke zu schlichten.
Daß unter den obwaltenden Umständen ganz Frankreich auf seinen
großen Sohn stolz war, kann man sich denken, allen voran der König
und die Königin, die ihm öfters ihre Sympathien zu erkennen gaben.
Ein großes Bild von Gonzague Privat im großen Studiensaale des
Instituts erinnert noch an einen Besuch des Königs Louis XVL, der
Königin Marie-Antoinette und der Hofgesellschaft.
Abbé de l’Epse starb 1789, beweint und beklagt von seinen un-
tröstlichen Schülern. Seine Gebeine haben in der prachtvollen Kirche
St. Roche eine Ruhestätte gefunden. Die Kirche hat nämlich de l'Épée
später wieder für sich reklamiert. Übrigens hatte der Abbé nach der
Begründung seiner Anstalt auch die priesterlichen Funktionen für die
Insassen derselben mit stillschweigender Genehmigung des Erzbischofs,
bei dem er allerdings nie eine gute Nummer hatte, wieder aufgenommen.
-
3. Psychologische Profile.
Eine Untersuchung nach der Methode Rossolimos
von
Dr. N. Braunshausen u. A. Ensch (Luxemburg).
In der von R. Sommer herausgegebenen »Klinik für psychische
und nervöse Krankheiten« hat Dr. Rossolimo (Moskau) eine Methode
zur quantitativen Untersuchung psychischer Vorgänge beschrieben, die
er die Methode der psychologischen Profile nennt, und die bei der
steigenden Bedeutung des Problems der Intelligenzprüfung einer er-
wartungsvollen Aufnahme von vornherein sicher sein kann.
Die Methode des russischen Privatdozenten unterscheidet sich
von den fast allerorts anerkannten Binetschen Tests dadurch, daß sie
zunächst für alle Altersstufen eine und dieselbe Art von Prüfungen
aufweist. Rossolimo behauptet in seinem erwähnten Aufsatz, daß er sie
gleicherweise bei Erwachsenen wie bei Kindern verschiedenen Alters, bei
Normalen wie bei Anormalen, mit Erfolg zur Anwendung gebracht habe.
Ein weiteres Kennzeichen der Rossolimoschen Methode liegt in
dem Bestreben, möglichst alle psychischen Fähigkeiten der Versuchs-
person, auf Grund einer systematischen Zusammenstellung zu prüfen.
Aufmerksamkeit, Wille, Gedächtnis, Merkfähigkeit, Einbildungskraft,
Findigkeit, werden mit geeigneten Tests untersucht, so daß als Resultat
wirklich eine Art Durchschnitt durch das geistige Leben der Versuchs-
person, eine Art Profil derselben, zustande kommt.
110 A. Abhandlungen.
Ein Vorzug der Methode liegt in der großen Zahl der Experi-
mente (10) für jede einzelne Fähigkeit, da auf diese Weise Zufälliges
am sichersten ausgeschieden wird. Auch die Art der Berechnung
gewährt praktische Vorteile, wenngleich die einfache Beurteilung nach
richtig und falsch nicht allen Fällen gerecht wird.
Endlich sind die Experimente so gewählt, daß sie das Schulwissen
fast ganz ausschließen, so daß sie das, was Binet in jahrelangem Er-
proben gesucht hat, reiner bieten als es Binet selbst gefunden hat.
Freilich stehen diesen Vorzügen auch Nachteile gegenüber, aber
das Ganze erscheint in seinen Hauptzügen so richtig ersonnen, und
die von Rossolimo erzielten Resultate wirken so günstig, daß ein Ver-
such mit seiner Methode wohl gerechtfertigt erscheint.
Wir haben sie bei drei Zöglingen der staatlichen Erziehungs-
anstalt in Luxemburg angewandt und möchten im folgenden über die
dabei gewonnenen Resultate sowie über die gemachten Beobachtungen
berichten.
Als Ziel unsrer Untersuchung schwebte uns in erster Linie die
Beantwortung der Frage vor, ob es möglich sei, mit der erwähnten
Methode die Zöglinge gleich bei ihrem Eintritt in die Anstalt so zu
prüfen, daß die Erzieher von vornherein einen richtigen Überblick
über die psychischen Fähigkeiten und Eigenschaften derselben haben
könnten. Es ist klar, daß eine solche Kenntnis die Grundlage für die
Behandlung des einzelnen werden muß, und daß sie manche Fehlgriffe
von vornherein verhindern kann.
Die genannte Anstalt nimmt Zöglinge verschiedenen Alters auf,
die ihr wegen Vergehen von den Gerichten zugewiesen oder wegen
Landstreicherei von der Polizei zugeführt werden. Die Methode von
Rossolimo, die keine Rücksicht auf Altersstufen nimmt, schien darum
besser geeignet, hier zur Anwendung zu kommen und etwaige Minder-
wertigkeiten des Erkennens oder des Wollens aufzudecken.
Als Prüfungsmaterial gebrauchten wir dasjenige von Rossolimo,
das teils bei Zimmermann erworben, teils nach den Angaben des
Urhebers der Methode angefertigt wurde. Von den Zöglingen der An-
stalt ließen wir uns drei zu unsern Versuchen vorführen, die nach
dem Zeugnis der Lehrer als wenig, mittelmäßig und gut begabt galten,
ohne daß wir selbst aber die Beziehung dieser Urteile auf die ein-
zelnen kannten.
Wir lassen nun die gewonnenen Profile folgen, indem wir zu-
nächst jedes für sich allein, in dem Verhältnis seiner Einzelteile
unter sich, betrachten.
Das erste Profil betrifft den Zögling R. J., 11 Jahre und 3 Monate
alt. Es zeigt folgenden Verlauf der Kurve:
R. J.
Konzen-
tration
Umfang
"umy T
Braunshausen und Ensch: Psychologische Profile.
Psychologisches Profil nach Rossolimo.
111
O 1 2a ran
mit Auswahl .......
bei Ablenkung ......
| rom "I OA TI]
für
optische
Wahrn.
4
© für Ele-
S mente
= |der Rede
D
E
E3
AREA
fähigkeit
OBOROT ZOSS Y
binations-
gegenüber Automat. ...
gegenüber Suggestion . .
Meth. d. Wiedererk. . . .
Meth. d. Beurteilung
Reproduktionsmeth.
für Farben ........
lin. Figuren (Wiedererk.)
farb. Figuren en
Bilder z
Bilder (Reproduktion) . .
Gegenstände .......
Boahet; ARs sa a aea a
Silb. opt. (Wiedererk.). .
Silb. ak. (Wiedererk.) . .
Worte ODE. aus
Zahlen-Ziffern opt... . .
Zahlen: ak! 3.4.4.0 0%
Zahl der Bilder ats
Zahl der Zeichen ah:
Zahl der Gegenstände . .
Bilder (gewöhnl).... . -
Bilder (widersinnig) . . .
BRGOr Sai 0.
Inhaltslose Fig.. .....
Einfache Teile ......
NIE Bimdigkeit - i - 2-0: : 3
VIII. Einbildungskraft ........
IX. Beobachtungsfähigkeit. . ....
112 A. Abhandlungen.
Auffällig ist hier zunächst der tiefe Stand der Aufmerksamkeits-
kurve. Über 3 richtige Lösungen gelangt die Versuchsperson sogar
bei den einfachsten Figuren nicht hinaus. Eine gleichzeitige Kon-
zentration der Aufmerksamkeit auf zwei sogar sehr einfache Eindrücke
oder Tätigkeiten ist ihr überhaupt nicht möglich.
Daher nimmt es uns auch nicht wunder, wenn sie gegen Automa-
tismus und Suggestion fast wehrlos ist, denn in allen diesen Fällen
spielt der Wille eine erste Rolle. Wir haben es also jedenfalls mit
einem willensschwachen Subjekte zu tun.
Dagegen scheint die Versuchsperson ein scharfes Auge für un-
mittelbar aufgenommene, konkrete Eindrücke zu haben. Die Genauig-
keit in der Auffassung linearer Figuren ist, bei der Methode des
Wiedererkennens, sehr groß. Dasselbe gilt für die Kombination von
farbigen Bildern und inhaltlosen Figuren, die sehr eindrucksvoll auf
das Auge wirken. Sogar ein gewisser Scharfsinn zeigt sich, wenn
konkrete Eindrücke, wie bei den Prüfungen für Einbildungskraft, er-
gänzt werden sollen oder, wie bei der Findigkeit, eine manuelle
Fertigkeit mit ins Spiel kommt.
Daneben zeigt die Gedächtniskurve wieder einen unglaublichen
Tiefstand. Sie erhebt sich nur einigermaßen, wenn es sich um das
Behalten von anschaulichen Bildern oder Zahlen von Bildern und
Gegenständen handelt. Die optische Darbietung der Elemente der
Rede konnte nur für Buchstaben und Ziffern angewandt werden,
da die Versuchsperson des Lesens und Schreibens nur in geringem
Maße kundig ist.
Jedesmal aber, wenn es sich um eine abstraktere Tätigkeit handelt
oder um die Kombination von komplexeren psychischen Elementen,
versagt die Versuchsperson völlig.
Schon bei der Zeitfeststellung für die kürzeste Wahrnehmungs-
dauer zeigte sich übrigens, daß sie erst bei einer Öffnung des Tachisto-
skops (wir benutzten ein einfaches Falltachistoskop von Zimmermann),
die ca. 60 Tausendstel Sekunden entspricht, die dargebotenen Figuren
aufzufassen imstande war.
Also schwaches Gedächtnis und schwacher Wille bei einigermaßen
entwickelter Fähigkeit, konkrete Eindrücke unmittelbar zu erfassen
und zu verwerten, so stellt sich das psychische Bild unsres Zög-
lings dar.
Ein zweites Profil betrifft den 141/4 Jahre alten L. P. Hier die
erhaltene Kurve:
Braunshausen und Ensch: Psychologische Profile.
Psychologisches Profil nach Rossolimo.
Konzen-
tration
"wznv
Umfang
einfach =. 0.40% %
113
F gegenüber Automat. ...
z gegenüber Suggestion . .
F
z Meth. d. Wiedererk. . . .
> Ge- Meth. d. Beurteilung ..
Z | nauigkeit | Reproduktionsineth.
= für Farben ........
lin. Figuren (Wiedererk.)
für farb. Figuren si
optische | Bilder 2
Wahrn. | Bilder (Reproduktion) . .
Gegenstände .......
Buchst. ‚opt. run 4-0. s
Buchst: als...‘ 4 22. oc
= Silb. opt. (Wiedererk.). .
a für Ele- Silb. ak. (Wiedererk.) . .
© AED N n A OT
G mente Worte ak
= [der Rede, Worte ak... .......
E Worte opt. (assoz.). ...
s Worte ak. (assoz.) ....
z Bätze opt. =... =. ce
BALSO AE o or rie
Zahlen-Ziffern opt... ..
für Zahlen ak. ........
Zahlen Zahl der Bilder .....
Zahl der Zeichen ze:
Zahl der Gegenstände ..
Bilder (gewöhnl.). ... .
Bilder (widersinnig) . . .
binations-
fähigkeit
Bilder rs un iR
Inhaltslose Fig... .. . -
Einfache Teile ......
VIL Eindigkeit: a 43.005025. 4%
OS8IZOT J-ZONSV ` X FA
VIII. Einbildungskraft ........
IX. Beobachtungsfähigkeit.. . . - .
Zeitschrift für Kinderforschung.
18, Jahrgang.
114 A. Abhandlungen.
Die Kurve der Aufmerksamkeit, die bei leichteren Prüfungen
ziemlich hoch ist, sinkt und sinkt, je mehr Hindernisse für die Kon-
zentration, durch Auswahl und Ablenkung, dazwischen treten. Auch
der Widerstand gegen Automatismus und Suggestion ist gering.
Mit der Methode des Wiedererkennens läßt sich eine ziemlich
große Genauigkeit in der Auffassung von Figuren nachweisen. Sobald
aber die Aufgabe schwieriger wird, wie bei der Beurteilungs- und
Reproduktionsmethode, fällt die Kurve steil ab. Das Gedächtnis für
Figuren und Bilder, wofern es sich nicht um Reproduktion handelt,
ebenso wie das Behalten einer Anzahl von Gegenständen oder Zeichen
ist eher gut zu nennen. Sobald aber Elemente der Rede behalten
werden sollen, sinkt das unmittelbare Gedächtnis auffallend tief,
einerlei ob es sich um sinnvolle oder sinnlose Eindrücke handelt.
Die sogenannten Assoziationsprozesse zeigen ein günstiges Bild.
Nur die Deutung widersinniger Bilder und das Hervorheben oder
Verstehen einzelner Merkmale durch die Beobachtungsfähigkeit lassen
erkennen, daß es sich nicht um eine reine Erhöhung der eigentlichen
Abstraktionsprozesse handelt. Das Zusammensetzen von Bildern und
Figuren ebenso wie die Prüfungen für Findigkeit, durch welche der
Hochstand der Kurve in diesem Teil bedingt ist, sind ja stark an
äußerliche Anschaulichkeit geknüpft.
Die Wahrnehmungsdauer beim tachistoskopischen Sehen betrug
ca. 15 Tausendstel Sekunden.
Als Gesamtbild ergibt sich also eine Herabsetzung der Willens-
stärke, eine gewisse Fähigkeit im Auffassen und Kombinieren von
äußeren Eindrücken, zugleich genügendes Behalten dieser letzteren,
nicht aber der mehr komplexen oder abstrakten Elemente der Sprache.
Ein drittes Profil bezieht sich auf den 14!/,jährigen M. J.
(Siehe 3. Profil, S. 115.)
Wenn wir mit einem Blick den Verlauf der Kurve überfliegen,
so fällt gleich auf, daß die Gedächtnis- und Assoziationsprozesse sich
auf einer ziemlichen Höhe halten, während die Genauigkeit der Merk-
fähigkeit und die Willensmomente sich wenig über das Minimum
erheben.
Wir haben es also hier jedenfalls mit einer besser organisierten
Intelligenz zu tun, wenn auch die einzelnen Seiten nicht ganz gleich-
mäßig sind und besonders das Willensleben Defekte aufzuweisen scheint.
Die Verhältnisse der drei Profile zueinander werden deutlicher,
wenn wir für jedes die Zurückführung auf 11 Hauptgruppen vor-
nehmen. So verschwinden manche Unregelmäßigkeiten; die Kurven
werden übersichtlicher und der Vergleich zwischen ihnen leichter.
Braunshausen und Ensch: Psychologische Profile. 115
M. J. Psychologisches Profil nach Rossolimo.
gegenüber Automat. ...
gegenüber Suggestion . .
Meth. d. Wiedererk. . . .
Meth. d. Beurteilung
Reproduktionsmeth. ;
für Farben ........
PROW ‘OT (OTLA "II
lin. Figuren (Wiedererk.)
farb. Figuren Pr
optische | Bilder =
Wahrn. | Bilder (Reproduktion) . .
Gegenstände .......
Silb. opt. (Wiedererk.). .
für Ele- Silb. ak. (Wiedererk.) . .
tuFgonpoH
Zahlen-Ziffern opt. ...
à ni r RR E
Zahl der Bilder .....
Zahlen | Zahl der Zeichen ...
Zahl der Gegenstände . .
Bilder (gewöhnl). ....
Bilder (widersinnig) . . .
binations-| Inhaltslose Teile .....
igkeit | Einfache Teile ......
ossozorq-'zossy ‘KI—'A
116 A. Abhandlungen.
Die folgende Figur zeigt die so reduzierten Profile nebeneinander.
(Siehe Profile S. 117.)
Hier wird die Übereinanderlagerung der drei Kurven ganz augen-
scheinlich. Mit seltenen Abweichungen liegt die Kurve von R. am
tiefsten, dann folgt die von L. und über beiden die von M. Allen
dreien aber ist eine Senkung in der Gegend der Aufmerksamkeits-
wie der Willensprozesse gemeinsam, was auf psychische Anomalie
schließen läßt. Auch die charakteristischsten der Kombinationsprozesse,
die sich gerade auf das beziehen, was man gemeiniglich Intelligenz
nennt, bleiben stark im Rückstand.
Das Bild wird noch klarer, wenn wir die Mittelwerte für die
drei Hauptgruppen der Prozesse, Wille, Gedächtnis, Kombination, be-
rechnen und graphisch nebeneinander stellen. Die Lage ist dann
folgende:
Aufmerksamkeit und Wille
|
|
|
Merkfähigkeit und Gedächtnis . . . . |
|
Kombinationsprozesse . . 2 2.20... |
Ziehen wir nun nach der Anweisung von Rossolimo die letzten,
zusammenfassenden Formeln aus den Profilen heraus, so erhalten wir
folgende Zahlen:
Für R. ist P. 42 = 18 + 41 + 5,3 + 31,7%;
Für L. ist P. 53= 42 + 47 + 6,6 + 38,1%;
Für M. ist P. 66 = 42 + 6,1 + 6,6 + 22,5°%,-
Nach Rossolimo zeugt eine Durchschnittshöhe des Profils von
1 bis 4 von Stumpfsinn oder Imbezillität verschiedenen Grades, die
jedoch die Möglichkeit spezieller pädagogischer Beeinflussung nicht
ausschließt. Dieser Gruppe gehört unsre Versuchsperson R. an, deren
Profil allerdings den höchsten Graden der Gruppe angehört, so daß
wir ihn nach unsrer Untersuchung als einen Imbezillen bezeichnen
dürften, der aber pädagogischer Beeinflussung nicht unzugänglich ist.
a WE
Da, ee EEE
EEN a
nme
RENNER:
1 j
[i . [i
1 Nn I e a > i N ‘a Dre are . u‘ i
a ES E A E EE E E ae E N EE E EI EN ae NE EE
» N ar TA S . I T I S let A . j . 1 j
46
5
Braunshausen und Ensch: Psychologische Profile.
Profil nach Rossolimo.
Aufmerksamkeit . |... |
ar Dre
Merkfähigkeit. .......
nmehmungen .......
Gedächtnis für opt. Wahr-
Gedächtnis für Zahlen”
Auffassung ........
Kombination ....
Findigkeit . ........
Einbildung ..
Beobachtung .........
e
118 A. Abhandlungen.
In die Gruppen 4 bis 6 reiht Rossolimo die intellektuell Debilen
ein, zu welchen demnach unsre Versuchspersonen L. und M., aller-
dings in verschiedenem Grade, zu rechnen wären. M. nähert sich
schon mehr dem Normalen.
Wird noch das Verhältnis der drei Prozeßgruppen eines Profils
hinzugenommen, so ergibt sich, daß keine unsrer Versuchsperson dem
ganz normalen Typus entspricht, da Rossolimo für diesen eine Stetig-
keit der Kurve verlangt, die höchstens um einen Grad von Stufe zu
Stufe steigt. Auch soll die Vergeßlichkeit bei Normalen 20°/, nicht
übersteigen, während sie in unserm günstigsten Fall 22,5°, beträgt.
Unsre Untersuchung führte uns also zu dem Schluß, daß die
drei Zöglinge nicht als geistig vollwertig zu betrachten sind, daß be-
sonders Defekte der Willensprozesse ihre Minderwertigkeit bedingen,
und daß in ihrer gesamten psychischen Veranlagung R. von L. über-
troffen wird und dieser wieder von M.
Sehen wir nun, wie dieses Resultat zu der Wirklichkeit stimmt.
Die nachträglich gelieferten Auskünfte der Anstalt ergeben folgendes
Bild.
R. ist wegen Landstreicherei im Erziehungshaus untergebracht
worden. Einem Zeugnis über Anstaltsführung entnehmen wir: »Mit R.
wurden seit seiner Internierung die verschiedensten Versuche an-
gestellt, in der Schule, im Turnunterricht, bei der Hausarbeit, um ihm
irgendwelche nützlichen Kenntnisse zu vermitteln oder ihn zu prak-
tischer Arbeit anzuleiten. Doch waren alle Anstrengungen erfolglos.
Nur selten beteiligt sich R. am gemeinsamen Spiele seiner Mitschüler.
Kurz er ist ein schwachsinniger Mensch. Wohl aber versteht er es,
mit den Zöglingen liederliche Reden zu führen. Er erzählt ihnen,
wie er auf seiner Wanderschaft bettelnd und stehlend das Land durch-
streifte. Etliche Male von einem Zögling befragt, welches Handwerk
er erlernen werde, gab er zur Antwort: Ich lerne Nichtsmacher.«
L. ist seit vier Jahren wegen Diebstahls in der Erziehungsanstalt
untergebracht. Der Bericht über seine Aufführung betont vor allem
seine Widerspenstigkeit. »Er ist trotz aller Mühe und Sorgfalt, die
auf ihn verwendet wurden, nicht an die Hausordnung zu gewöhnen.
. Wird er mit einer Strafe bedroht oder tatsächlich bestraft, so
erfolgt absolut keine Besserung, er wird noch halsstarriger.«
M. wurde ebenfalls wegen Diebstahls vor 6 Monaten der Anstalt
zugeführt. Er wird als geweckter und aufgeklärter Junge geschildert,
der immer mit den größeren Zöglingen verkehrt, »da die kleinen ihm
zu dumm scheinen«. Die ihm zugewiesene Arbeit versteht er sogleich
und verrichtet sie fleißig. Er erweckt den Eindruck, daß, »wenn er
Braunshausen und Ensch: Psychologische Profile. 119
wirklich so brav ist wie er seinen Vorgesetzten vorplaudert, er mit
der Zeit ein rechtschaffener Mensch werden wird«.
Wie eısichtlich, hatten unsre Schlußfolgerungen in den Haupt-
zügen das Wirkliche getroffen. Und wenn wir die Zöglinge bei ihrem
Eintritt in die Anstalt zu beurteilen und zu klassieren gehabt hätten,
so wäre unser Urteil für die praktischen Zwecke der Hausordnung
wertvoll gewesen.
Wir müssen demnach die Methode von Rossolimo als sehr brauch-
bar für den Zweck bezeichnen, den wir bei ihrer Anwendung ver-
folgten. Sie eignet sich vortrefflich, um eine psychische Prodiagnose
zu stellen. Davon überzeugt man sich noch bei der Untersuchung
selbst, da die Beobachtung der Versuchsperson bei den Prüfungen
eine Fülle interessanter Einzelheiten in ihrem Verhalten offenbart, die
in den Zahlen der Profile keinen Ausdruck finden, die aber doch den
Gesamteindruck des Versuchsleiters bestimmen.
Wenn wir also glauben, die Methode der psychologischen Profile
empfehlen zu können, wenn wir vielfach den Scharfsinn bewundern,
mit dem Rossolimo seine Prüfungen ersonnen hat, um die eigentliche
Begabung und nicht das Schulwissen zu prüfen, wenn wir seine Idee
im ganzen vortrefflich finden, so sind uns doch bei der Untersuchung
einzelne Mängel aufgestoßen.
Zunächst ist die zur Prüfung erforderliche Zeit zu lang. Wenn
Rossolimo 3!/, Stunden angibt, allerdings bei maximalem Tempo der
Geschwindigkeit, so ist in der Praxis sogar diese schon hohe Zahl
noch zu niedrig gegriffen. Zudem ist bei einzelnen Prüfungen die
Zahl der Experimente unnötigerweise auf 10 ausgedehnt, so daß sich
leicht hier eine Beschränkung einführen ließe. Bei den Gedächtnis-
prüfungen wird das sogar notwendig sein, da 10 Eindrücke sogar von
normalen Erwachsenen in der Regel nicht behalten werden und ein
Hinausgehen über die normale Zahl des Behaltens das Resultat über-
mäßig herabdrückt, wie schon die ersten Gedächtnisexperimente von
Binet und Henri nachgewiesen haben.
Dann sind verschiedene Prüfungen, wenigstens für unsre Ver-
hältnisse, zu leicht oder nicht geeignet, so daß einzelne von ihnen
geändert oder weggelassen werden könnten.
Ferner sind die @edächtnisexperimente über Gebühr und Not-
wendigkeit zahlreich. Wir betrachten die optische und die akustische
Darbietung der Elemente der Rede als überflüssig, zumal schon eine
eigne Rubrik für die optischen Eindrücke als solche besteht. Nun
bietet zwar die Verschiedenheit der Darbietung für die Elemente der
Rede auch Unterschiede in ihrer Auffassung, aber es ist bekannt, daß
120 A. Abhandlungen.
etwa der visuelle Typus, dem man Silben akustisch darbietet, sie
direkt in visuelle Bilder umsetzt, so daß er doch nach seinem eignen
Typus behält. Demnach will es uns scheinen, daß man sich mit einer
akustischen Darbietung der Elemente der Rede begnügen könne, da es
ja nicht auf eine Aufsuchung des Vorstellungstypus ankommt und da
die Methode so zugleich besser auch für die Fälle paßt, wo etwa
Lesen und Schreiben nicht oder nur mangelhaft eingeübt sind.
Wir halten es auch für überflüssig, eine eigne Rubrik für Zahlen
anzusetzen, da die konkrete Zahlendarbietung zu leicht scheint und
die Zahlgebilde als solche wohl mit den Elementen der Rede geprüft
werden können.
Endlich sind unter den Prüfungen über Kombinationsfähigkeit
manche, die ihrem Zweck nicht entsprechen, während andere, die etwa
die eigentliche Abstraktionsfähigkeit untersuchen könnten, vollständig
fehlen. Hier müßten Ergänzungen eintreten, die einen lückenloseren
Überblick über die psychischen Dispositionen, von den geringsten bis
zu den höchsten, ermöglichen würden.
Von diesen Erwägungen aus haben wir eine Kürzung und teil-
weise Ergänzung des Rossolimoschen Verfahrens vorgenommen, die
uns geeignet scheint, in Erziehungs- und ähnlichen Anstalten praktisch
angewandt zu werden, ohne sonderlichen Zeitverlust, ohne spezielle
Apparate und doch ohne die relative Sicherheit der Ergebnisse zu
gefährden.
Für jede einzelne Prüfung werden nur fünf Experimente ver-
wendet, so daß schon von vornherein die Hälfte der Zeit gewonnen
wird. Dabei werden aber für jede einzelne Fähigkeit zwei zusammen-
gehörige Serien von Experimenten aufgestellt, so daß die Berechnung
doch auf Grundlage einer zehnstufigen Skala erfolgen kann.
Durch Ausscheidung der Rubrik für Zahlengedächtnis erhalten
wir zehn Hauptgruppen von Fähigkeiten, für welche das Profil auf-
gestellt wird.
An Stelle der Beobachtungsfähigkeit, deren einzelne Prüfungen
uns eher unter die Bezeichnung Findigkeit zu gehören scheinen, setzen
wir die Prüfung der Abstraktionsfähigkeit und zwar durch 5 sog-
Generalisationsfragen — etwa: Was sind Hund, Katze, Pferd usw.
zusammen? — und 5 Erzählungen für Generalisation nach dem
Muster, das Ziehen in seiner »Intelligenzprüfung« bietet.
So würde sich folgendes Schema ergeben, in dem paarweise Serien
von 5 Prüfungen unter jede Hauptrubrik fallen:
una f 1. Konzentration — bei Auswahl.
I. Aufmerksamkeit \2 U miana
VI.
VIL
VIL
X.
. Wille í
. Einbildungskraft í
Braunshausen und Ensch: Psychologische Profile. 121
1. Automatismus.
2. Suggestion.
1. 5 Figuren nach der Methode des Wieder-
. Merkfähigkeit erkennens.
2. 5 Figuren nach der Methode des Beurteilens.
5 lineare Figuren — Wiedererkennen.
. Gedächtnis für optische | 5 farbige Figuren — id.
Wahrnehmungen 5 Bilder — id.
5 Gegenstände —- Reproduktion.
5 Ziffern — id.
. Gedächtnis für akustische | 5 Silben — id.
Eindrücke 5 Wörter — id.
5 Sätze - id.
1. 5 Serien von Bildern, die eine Ge-
Deutende Auffassung schichte ergeben.
2. 5 Bilder mit widersinnigem Inhalt.
1. Kombinieren von Figuren aus Qua-
draten und Dreiecken.
nn a 2. Inhaltslose Figuren aus ihren Teilen
zusammenzusetzen.
1. Mit Bildern — den Bildern für Beobachtungs-
Findigkeit fähigkeit nach Rossolimo entnommen.
2. Mechanische Fertigkeit.
1. Ergänzen nach Figuren.
2. Ergänzen nach Sätzen.
inathierasg J 1 Generalisationsfragen.
REN í 2. Erzählungen für Generalisation.
Wir behalten uns vor, nach diesem abgekürzten Verfahren weitere
Versuche anzustellen. Es scheint uns aber nicht unangebracht, daß
auch
andere Forscher die Rossolimosche Methode erproben, bezw. die
von uns vorgeschlagene Änderung derselben, da der Kern der Methode
nach
statt
unsern Erfahrungen sich als sehr beachtenswert erwiesen hat.
Berichtigung: In der Tabelle auf S. 117 ist unter der Rubrik »Auffassunge
5,5 zu lesen 7,5.
122 A. Abhandlungen.
4. Psychische Fehlleistungen.
Von
R. Egenberger, München.
Man steht vor psychischen Fehlleistungen, wenn psychische Vor-
gänge in ihrem Eintreten oder in ihrem Flusse gehemmt oder gestört
sind, so daß das normale Endresultat nicht erreicht wird. Das Falsche,
die Fehler sind die Symptome einer leichteren oder schwereren
Störung, und nach der Art und Gattung der Fehler, erhält meist die
Störung ihren Namen. Im allgemeinen ist über psychische Fehl-
leistungen sehr wenig bekannt. Sie sind wohl die Quelle vielen Ärgers
und Verdrusses, sind Gegenstand des Jammerns und Klagens, sollten
aber mehr ein Gegenstand unseres Nachdenkens sein und der päda-
gogisch-psychologischen Forschung unterstellt werden. Ihre Erforschung
setzt voraus, daß die zutage tretenden Fehlleistungen in möglichst
großem Umfange beobachtet und gesammelt werden. Ihre richtige
Beurteilung macht es erforderlich, sie in ihrem objektiven Zusammen-
hange kennen zu lernen. Fehlleistungen sind Experimente, die zu
veranstalten sich die Natur selbst erlaubt. Eine endgültige Erklärung
derselben aber zu finden, dürfte nicht so leicht sein; man muß sich
meistenteils damit begnügen, die Arten der Störungen zu beschreiben.
Die Bedeutung und das Wesen der Fehlleistungen aufzudecken, ist
Sache der Psychiatrie und Psychologie; die Bekämpfung der Hem-
mungen und Störungen ist eine Angelegenheit der Medizin und Päda-
gogik. Die Sammlung und Beschreibung der Fehlleistungen ist eine
Pflicht der Schule und des Arztes; denn niemand mehr als der Lehrer
und der Arzt haben in diesem Maße Zugang zu diesem Materiale.
Die kindliche Geistesbeschaffenheit ist für Fehlleistungen sehr
geeigenschaftet; die peripheren und zentralen Organe sind nicht voll
entwickelt und funktionstüchtig, sie sind nicht reif; die Entwicklung
setzt zu früh ein oder hinkt nach. Die Entwicklung der Sinnes-
gebiete, der Sprache, die Begriffsbildung setzt mit Erscheinungen
primitiver Art ein und macht einen jahrelangen Vervollkommnungs-
prozeß durch. Daß bei diesem allmählichen Entwicklungsprozesse
Fehlleistungen in Erscheinung treten, ist sehr begründet, und zwar ist
das Kind für die meisten durchaus nicht moralisch verantwortlich zu
machen, wie es auch nicht für geisteskrank erklärt werden kann.
Beim Kinde sprechen wir von Fehlleistungen, meinen damit vorüber-
gehende, natürlich bedingte Erscheinungen, wobei wir die Norm in
der Vollkommenheit des Erwachsenen finden. Das ist der normale Fall.
Treffen wir dagegen bei dem einen oder anderen Kinde bleibende,
Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 123
konsequent wiederkehrende Fehlleistungen, Fehlleistungen, die die
Bildsamkeit des Kindes in Frage stellen und nur schwer oder gar
nicht zu beheben sind, dann haben wir unter Umständen Störungen
vor uns, welche auf krankhafte Grundlagen, auf Entwicklungshem-
mungen, Degeneration oder Minderwertigkeit hinweisen.
Wir haben es also mit Fehlleistungen zu tun, die allgemein und
nur vorübergehend sich zeigen und Fehlleistungen, die eine wirkliche
Störung bedeuten und nur wenige Individuen befallen. Was bei einem
dreijährigen und sechsjährigen Kinde eine leicht begreifliche Fehl-
leistung ist, das ist, wenn es sich bei einem zehnjährigen Kinde zeigt,
vielleicht ein recht bedenkliches Symptom. Man muß lernen, Bedenk-
liches vom Unbedenklichen zu scheiden. Unter psychischen Fehl-
leistungen muß man mehr das Bedenkliche, die Störung verstehen
und zur Betrachtung heranziehen, obwohl ich andrerseits nicht ver-
kenne, daß auch die sich von selbst behebenden Fehlleistungen,
leichterer und selbstverständlicher Natur, sich sehr für das Studium
eignen.
Die Fehlleistungen betreffen alle Gebiete unserer Geistestätigkeit,
wir treffen sie an im Bereiche des Sprechapparates und der Sprache,
der Urteile, im Bereiche der Assoziation, als Lese- und Schreibstörungen.
Fehlleistungen im Gebiete der gesprochenen Sprache.
Bei dem einen Kinde treffen wir Störungen im Gebiete der
Artikulation, beim andern Fehlleistungen ‘hinsichtlich der Sprachformen
und gar nicht selten tritt uns ein ungenügender sprachlicher Ausdruck
entgegen, der deswegen in Erscheinung treten muß, weil es den Vor-
stellungen und gedanklichen Vorgängen an Klarheit, Ordnung und
Promptheit gebricht. Man darf also unterscheiden: Störungen der
Artikulation und des Sprechens und Störungen des Denkens. Fehlt
es an der Schärfe und Folgerichtigkeit des Vorstellungs- und Ge-
dankenablaufes, so muß sich das am sprachlichen Ausdruck nach-
weisen lassen.
Schwachbegabten gebricht es schon an der nötigen Zahl der
Worte; sie haben für viele sinnlichen Eindrücke überhaupt keine
sprachlichen Bezeichnungen, z. B. von den Farbenbenennungen kennen
schwachbegabte Kinder meist weiß, schwarz, seltener sind die Be-
nennungen rot und grün, und gelb, blau; violett, rosa, orange, lila
fehlen meist ganz.
Selbst von dem Lehrer, bei dem sie jahrelang in der Klasse sind,
kennen sie den Namen nicht. Straßennamen, Personennamen, Namen
von Geschäften, Stoffen, Werkzeugen mangeln ihnen beständig. Vororte,
124 A. Abhandlungen.
in welche man gewandert ist, sind bald vergessen. Mitbewohner des
Hauses, Nachbarn kennen sie dem Namen nach nicht.
Die Wortarmut bekundet sich namentlich dadurch, daß ähnliche
Gegenstände mit einem Worte bezeichnet werden. Wie es einen
Mangel der inhaltlichen Differenzierung gibt, ebenso auch einen Mangel
der sprachlichen Differenzierung, z. B. ein Kind bezeichnet Fenster-
haken, Meterstab, Spazierstock, Zeigestab, Lineal nur mit dem einen
Worte: Stecken. Bei kleinen Kindern finden wir das immer. Ein
Kind bezeichnete mit »gau« alles Eßbare, mit »heiß« alles was Gefahr
oder Schmerz brachte, mit »papa« alles Männliche und mit »mama«
alles Weibliche. Es war imstande, mit vier Namen, das wichtigste,
was ihm begegnete, zu nennen.
Ein neunjähriges geistesschwaches Kind hatte folgenden Sprach-
schatz: papa für alle Männlichen, mama für alle Weiblichen; hupela
für alle Flüssigkeiten und alle Nahrungsmittel; popolo, dundala oder
mimi für das, was ihm begehrlich erschien; päpä für alles, was es
nicht begehrt und nicht will. Dazu kam ein Schimpfnamen: hundela,
den es jenen entgegenschleuderte, welche ihm zu nahe treten wollten.
Nur einen Ausdruck benutzte es für einen Gegenstand; die Choko-
lade bezeichnete es nicht mit popolo usw., sondern mit cholad.
Ein siebenjährig®& geistesschwaches Mädchen unterschied sprach-
lich Speisen usw. nicht, sondern sie behalf sich so, daß sie bei Speisen,
Getränken, Bildern, Gegenständen, welche sie besitzen wollte, einfach
sprach: Mali a, d. h. Marie auch (ich will das haben). Dazu brachte
sie noch zwei Wörter mit zur Schule, mit denen sie fleißig schimpfte;
das waren: lekmosch und lump. —
Wortfindung.
Die Störung der Wortfindung betrifft das Suchen, Finden und
die Auswahl der Wörter; Gegenstände und Tatbestände können ent-
weder gar nicht benannt werden, oder es wird ein falscher Ausdruck
benutzt, oder an die Stelle eines Ausdruckes tritt eine längere Um-
schreibung; das Wort ist vergessen; an Stelle des richtigen Wortes wird
ein verstümmeltes, verändertes, neugebildetes, verwirrtes Wort gesetzt.
Die Ähnlichkeitsassoziationen spielen hier eine bedeutende Rolle;
die Verwechslungen werden durch alle möglichen Grade der Verwandt-
schaft herbeigeführt; hauptsächlich sind es Ähnlichkeitsassoziationen
optischer, akustischer und begrifflicher Natur.
Fehler der Wortfindung sind sehr oft Assoziationsstörungen.
Zwischen dem Richtigen und dem falschen Ersatze bestehen aber
immerhin noch einige assoziative Verknüpfungen.
Die Assoziation, welche von der Sache zum Worte führt, tritt
Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 125
um so eher in Erscheinung und in Tätigkeit, je lebendiger und
plastischer die Vorstellung sich darbietet. Der Schwachsinn aber
zeigt, daß selbst für körperliche Dinge, die wirklich vors Auge treten,
die sprachliche Bezeichnung sehr oft mangelhaft ist.
Am sichersten gesprochen werden solche Wörter, welche tagtäg-
lich benutzt werden müssen. Diese hat auch der Schwachsinnige.
Eigennamen sitzen äußerst locker; man braucht sie nicht oft
und bezeichnet damit eine ganz bestimmte Person und einen be-
stimmten Gegenstand. In der täglichen Sprache kann man sie nur
selten anwenden. Man vergleiche die Bezeichnungen: Feile, Ludwig
Frank und die Wörtchen: schön, gehen! Letztere sind geläufig, liquid
und fehlen nur bei ganz schweren Schwachsinnsfällen und bei be-
stimmten Sprachstörungen.
Fremdwörter sind ebenfalls locker sitzende Wörter, welche von
Sprachunkundigen äußerst leicht verfehlt werden. Influenza, Artillerie,
Elektrizität sind Wörter, die Schwachsinnige sich äußerst schwer an-
eignen.
Wortzusammensetzungen fallen auch schwer und verleiten
insbesondere dazu, irgend einen Teil der Zusammensetzung zu ver-
ändern, so daß anscheinend Neubildungen zutage treten.
Untersucht man die Sprache Schwachbegabter, so muß man zwei
Richtungen verfolgen: 1. wieviel Sprache vorhanden ist; 2. ob der
Wortvorrat jederzeit leicht zur Verfügung steht und mit Sicherheit
dem sprachlichen Ausdrucke dient.
Für sinnliche Gegenstände, die sich in der Umgebung des Kindes
befinden, sind vielleicht die sprachlichen Bezeichnungen zum großen
Teile vorhanden, aber in vielen Fällen sind selbst diese Bezeichnungen
nicht da; noch öfters aber ist der Fall gegeben, daß ein Name dem
Kinde sofort als bekannt erscheint, wenn es denselben hört, es kann
den Gegenstand zeigen, aber spontan den Namen zu nennen gelingt
nicht. Also auch das Konkrete macht Schwierigkeiten. Auch beim
Konkreten geht die Scheidung und Benennung nicht ins Detail, auch
hier fehlt die präzisere Differenzierung. Abstraktes ist etwas Weit-
tragendes und Zusammenfassendes, Loslösung vom Einzelfall. Hiezu
ist der Schwachbefähigte zu wenig beweglich, er bleibt am Einzelfall
kleben. Krankheit ist ihm eben Kopfweh, eine überstandene Krank-
heit; Krankheit ist für ihn soviel, als daß er krank gewesen ist. Im
Schwachbegabten herrscht die Tendenz, haften zu bleiben an dem
Dinge; Abstraktes verlangt das Loskommen vom Einzelnen. Man darf
nun aber nicht glauben, daß der Schwachbefähigte allgemeine Be-
griffsnamen und Gattungsnamen nicht anwende. Gerade die Gattungs-
126 A. Abhandlungen.
namen führt er beständig im Munde, nur bezeichnet er auch die Art
beständig mit dem Gattungsnamen. Das ist die Ökonomie des Schwach-
begabten, welcher für einige Dutzend Artnamen nur einen Gattungs-
namen ‘anwendet; auch wendet er einen Artnamen im Sinne eines
Gattungsnamen an. Alles fliegende Getier wird als Vogel oder
Schmetterling angesprochen; eine Menge verschiedener Insekten nennt
er Käfer; Zeitung, Brief, Marke, Eisenbahnbillett wird als Papier
bezeichnet.
Daß der Schwachbegabte ein Feind der Vielgestaltigkeit ist, be-
weist die Anwendung weniger Pronomen. Der Lehrer wird mit Du
angeredet; die Pronomen da, der, die, wir, sie, ich werden beständig
verwendet, öfters als das bei anderen Kindern der Fall ist, aber sonst
werden andere Pronomen selten, viele nie angewendet. Immerhin gibt
es auch Fälle, daß trotz der großen Anwendbarkeit und Dehnbarkeit
der Pronomen diese nicht oder ganz wenig benutzt werden. Das ist
wohl erklärlich; die Pronomen bewirken eine künstliche Vereinfachung
des Ausdruckes, sie sind ein Siegel (Symbol). Das muß aber besonders
gelernt sein. Hat der Schwachbefähigte das Wort Vater, dann bringt
er immer wieder dieses Wort, denn den Vater mit er, ihn, ihm, sein
zu zitieren, ist eine Mannigfaltigkeit, auf die sich ein Schwach-
befähigter nicht ohne weiteres einlassen kann. Das Hinweisen und
Sichbeziehen auf einen Gegenstand, ohne diesen Gegenstand jedesmal
ausdrücklich zu nennen, gelingt dem Schwachbefähigten nicht; auch
den Lehrer versteht er nur halb, wenn er sich dieser Sprechweise
bedient, und das Lesen in einem Lesebuche ist dem Schwachbegabten
fast unmöglich gemacht, weil hier die seltensten Pronomen auftreten,
die dem Schwachbegabten aber den Gegenstand nicht vorstellbar
machen. Der entsprechende Name zaubert das Bild leichter herbei,
als das flüchtige Pronomen. Beim Pronomen ist erst ein Umdenken
notwendig, der Weg vom Pronomen zum Vorstellungsinhalt ist weiter.
Das Nennen des Gegenstandes ist unmittelbarer.
Dem Schwachbefähigten stehen die sogenannten Begriffswörter
näher, als die Formwörter. Von den Formwörtern eignet er sich nur
die notwendigsten an und bringt diese immer wieder, oft in jedem
Satze z. B. nachher, zuerst, weil, so viel, dann, während andere Kon-
junktionen z. B. dagegen, deshalb, sowohl usw. nicht gesprochen werden.
Die Formwörter dienen einer feineren Unterscheidung in der Be-
zeichnung der Beziehungen und Verhältnisse, sie drücken die Be-
stimmtheit, den Grad, die Zahl, die Modifikation, die Möglichkeit aus.
Ein Schwachsinniger, dem der Zahlbegriff fehlt, verfügt auch über die
Numeralien nicht. Wer die Farbe nicht unterscheidet, bringt die
Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 127
Farbennamen nicht, wer akustische Eindrücke nicht differenziert, hat
auch die speziellen Bezeichnungen nicht in seinem Sprachschatz, soferne
er nicht mit leerem Schalle operiert. Wenn schon soviele konkrete
Begriffswörter fehlen, dann ist es begreiflich, daß Präpositionen, Ad-
verbien usw. nur in einigen Exemplaren vertreten sind. Die Ab-
hängigkeit, den Ursprung, die Zugehörigkeit einer Sache durch einen
bestimmten Kasus auszudrücken, ist ihm oft unmöglich. -— Das alles
hat die Unterrichtssprache zu berücksichtigen.
Man sollte meinen, wer Sprache hat, kann auch bezeichnen, wo
er Schmerzen hat, was er sieht. Ja selbst in dem Fall, in welchem
ein Schwachsinniger die meisten Wörter kennt und sprechen kann, ist
es durchaus nicht selten, daß das richtige und treffende Wort im ent-
sprechenden Moment nicht zur Verfügung steht. Bei geistiger Ge-
sundheit stellt sich angesichts einer Tätigkeit, angesichts eines Gegen-
standes, eines Merkmales dasjenige Wort ein, welches der treffendste
Ausdruck für die gegebene Sache ist. Zwischen Sache und Wort
muß eine feste Assoziation bestehen. Die fehlt sehr oft dem Schwach-
sinnigen; bei diesem besteht Lockerung der Assoziation oder Störung der
Assoziation. Beim geistig Gesunden wird die richtige Assoziation
wirksam; der Schwachbegabte, der ohne diese festen, sicheren
Assoziationen ist, gelangt durch Verwandtschaft und Ähn-
lichkeit am Richtigen vorbei oder unmittelbar daneben.
Zwischen dem Ähnlichen ist keine trennende Wand; das
Ähnliche fließt in eins zusammen. Das ist ein Schwach-
sinnszeichen; der gesunde Geist scheidet noch scharf
zwischen dem Ähnlichen; der Schwachsinnige versagt aber
gerade in der Differenzierung des Ähnlichen. Das ist eine
wichtige Tatsache, die die Psychopathologie lehrt und dieser Satz muß
in der Heilpädagogik beachtet werden und zwar sowohl beim Sprechen,
beim Lesen, Schreiben, beim Singen; in der Fibel sowohl als im Lesebuch.
Sehr viele Fehlleistungen sind also nichts anderes als Assoziations-
störungen, und zwar tritt an die Stelle des Richtigen etwas Ähnliches,
vermittels einer Assoziation.
Wenn nun in der Pädagogik gelehrt wird, stets vom
Ähnlichen auszugehen und auf das Ähnliche hinzuweisen,
so ist das durchaus nicht immer ratsam. In der Hilfsschule
und in den Unterklassen muß man vielmehr von den großen
Unterschieden, von den großen Gegensätzen und großen
Kontrasten ausgehen. Die feinsten Unterscheidungen
zwischen Ähnlichem macht der Gelehrte; dem Kinde und
dem Unbegabten fallen viele Unterscheidungen sehr schwer.
128 A. Abhandlungen.
Beispiele:
Störung der Wortfindung bei Hö.:
Im ganzen Kasten (= Tisch) sind viel (= zwei) Äpfel rum.
(Zahlbegriffe fehlen ganz; das Wort »Kasten« bringt er, weil
im Kasten auch Äpfel sind; gemeint waren aber die Äpfel,
die wir auf dem Tische hatten.)
Darf ich umkehren (= umblättern im Heft).
Der Fisch im Wasser macht quack, quack, quack.
Am Montag ist keine Schule, weil Hitzvakanz (= Weihnachts-
vakanz) ist.
Die Gans fließt (= schwimnt).
Sp. J.: bei der Frau Milli (Milchfrau).
Weis.: hinterm Bauch (statt: Rücken).
Kop.: Briefmann (= Briefträger); das Oktoberfest ist hin (dahin,
vorüber).
Reis.: nunterglicht (hinunter geleuchtet).
Blo.: Die Soldaten haben einen Schulranzen auf dem Rücken.
Zeh.: Das Oktoberfest ist kaput (= vorüber).
Des.: »Briefkasten« für Postkarte; »Briefkarte« für Brief;
»Meine Schwester ist auf dem Gaul gefahren und ich hab mich
in eine Gießkanne g'setzt« (Karussell. Gießkanne ist
hier für Kanapee gesetzt.
Zeh.: »Herr Lehrer, ein Fräulein (= Mädchen der V. Klasse) steht
vor der Tür.«e (Nachdem er aufmerksam gemacht ist, daß das
kein Fräulein sei, sagt er: »eine Mutter ist draußen«.
Th. Meind: G. und W. stehen aufeinander (= beieinander).
Wo man sieht warm es ist (= Thermometer).
Lu.: Die Decke ist schnell heruntergefallen (= plötzlich).
Fall Ber.:
Bürste = abputzen Heft —= lesen
Zündholz = Schachtl Lichtl drin Kalender — Bildl
Baukasten — Spielkarten Buch = Heft
Glas = Fenster
richtig benennt sie:
Uhr Kart'n Ofa (Ofen) Gummiball’n
Tofi (Tafel) Papier Holz Schnur
Falsches und Ersatz:
Bogen Papier — Bildl Zwiebel — Fett
Gummi = reiben Schirm = Apfi
Egenberger: Psychische Fehlleistungen.
(zum Schreiben)
Schere = Kerbi
Riemen = obind’n
129
Schirm = aputz’n
Schlittschuh = rute
Ofenschirm = Ofa
Kohle = Kern Schürhaken = Kois
Salz —= Pfeffer Kohlenkiste = Eis
Essig = Esse Blumentopf — Bluma
Waschschüssel = von awasche Wirt = Wirtshausmann
Schwamm = pus’n Wintermantel = Anzug
Zeitung = les’n
Sigmatismus: s, z werden nicht gut artikuliert, spricht s als sch;
sie schiebt das Unterkiefergebiß hinter das Gebiß des Oberkiefers,
so daß die Unterzähne am Gaumen anliegen.
Verbindungen mit t: to tu konnte sie nicht sprechen, sie trennt die
Silben so: tho thu.
Verwechselt e, u, i, o und u.
Kasse — Tasse
ambn = Ranzen
rena = reden (Näseln)
Wachtelbock — Waffelbrot
ritel = Schlüssel
U = Uhrkette
Wesser —= Messer
satell = Schachtel
chriegt — kriegt schlasch = Flasche
Null = Nudl Teckel = Stock
Bua = Buch Haum = Haube
Hantua — Handtuch rogn = Kragen
Hugi = Kugel pial = Spiegel
ambn = Joppe ? wir waren gestern in Zale??
ambn = Mantel
Kante = Tante
Dieses Mädchen ist geistig ziemlich regsam. Sie stammt aus
einer Familie, in welcher alle 3 Kinder sprachkrank sind. Ein Bruder
leidet an Aphasie, einer ist Stotterer.
Dieses Mädchen leidet aber,
abgesehen von der aphasischen Störung, auch an Gehördefekten. Auf
Anruf reagiert sie sehr oft nicht, ebensowenig, wenn man in weiterer
Entfernung spricht, oder wenn sie den Mund des Sprechenden nicht
sehen kann, z. B. wenn jemand im Weitergehen zu ihr spricht.
Fall: Sp. A.:
Findet den Ausdruck nicht für:
Tinte Krawatte Krug Gießkanne
Heft Stuhl Bierwagen Baum
Billett Mantel Leiter Schürhaken
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 9
130 A. Abhandlungen.
Ersatz durch falschen Ausdruck:
Hals für Lineal
Fingerhut für Ring (Fingerring)
Kleiderschürze für Bürste (Kleiderbürste)
Schurz für Kragen
Nachwirkung: Sie spricht: die Blume ist rot. Nun wird
ihr Ruß vorgezeigt und sie spricht: Da ist rot (Ruß).
Umschrieben:
Schlittschuh = Schuh hin tun Geige = zum spielen
Lederriemen = Schuh Bürste — zum Kleider bürsten
Manchetten = Da her da Topf = Blumen nein tun
Meterstab—zum Messen Bank = Griffel nein tun und zum
Joppe = azog’n hinsitzen
Dasselbe Wort spricht sie:
Spontan: Nachgesprochen:
Stecka inea (Lineal)
Schlüßen Schließen (Schlüssel)
strau fau (Frau)
Bua Bua (Buch)
Geldbeiel Geldbeutel
won odn (Boden)
estn beser (Fenste
Man Wag’n (Wagen)
richtig:
Papier Uhr Messer Holz Handtuch
Scher Spiagel Schachtl Korb Schüssel
Hutsche Ofen Tür
spontan:
Tschapperl = Kappe Sdlasch = Flasche
fa = fsa oder fda — Faden Manta = Mantel
Feise = Seife Ofta = Ofen
Kas= Kasten Kart'n = Karten
Tisch = Stuhl Scham = Schwamm
Buad = Buch Kerba = Korb
Schlüs = Schlüssel Kunl = Kugel
Dessn = Fenster Zwisel = Zwiebel
Schur = Schnur Hef — Heft
Kon = Brett Stecken = Stock
Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 131
Ker = Krug Ofa = Kohlenkiste
Scha = Ofenschirm renta = reden
Kuar = Gebetbuch
u spricht sie wie um.
l spricht sie wie n z. B. ib=in.
l ersetzt sie gerne durch r.
k, g sind ganz undeutlich.
al, ol, ul, aul, eil liest sie manchmal richtig; dagegen liest sie el, il
regelmäßig als en, in oder er, ir. Das liegt an der Enge des Ober-
und Unterkiefers, welche bei e, u, i keine größere Bewegung der
Zunge gestattet. Bei al usw. ist der Zunge die Einstellung erleichtert.
Spricht kein au, dafür nur a.
Zusammensprechen der Laute gelingt ihr lange nicht z. B. t—a, T—ee.
Einschieben von überzähligen Zwischenlauten, Störung des Zusammen-
sprechens und Zusammenschleifens. Es entstehen Zwischenlaute
wie n, ng, u, l, nng, nd, ns, sd z. B. red = rnled, ri=rwi.
Eingesprochene Wörter behält sie nicht, z. B. trotzdem »rot« Dutzende-
male artikuliert wurde, spricht sie in der spontanen Sprache noch
immer rlmo oder etwas ähnliches.
Die Spontansprache ist ganz unartikuliert; nachsprechen tut sie
schlecht. Im Artikulationsunterricht gelingt es zwar, daß sie laut-
richtig spricht, aber sie streift die richtige und die erlernte Aussprache
beim Spontansprechen völlig ab. Dies und der Umstand, daß sie für
viele Dinge den Namen nicht findet, spricht für Erinnerungsaphasie
(amnestische Aphasie). Die äußeren Sprachorgane sind zwar ihrer Ge-
stalt nach intakt, aber die Sprechbewegungen sind völlig ungenügend
und ungelenk. Die Zunge gerät bei g, ch, t, n, w immer wieder an
die falsche Artikulationsstelle. Durch die ungeschickten und unexakten
Sprechbewegungen kommen unverständliche Zusammenschleifungen zu-
stande. Übrigens sind auch die Gehbewegungen, die Schreibbewegungen
und die übrigen Handbewegungen äußerst unpräzis. Dieses und die
unartikulierte Sprache weist auf motorische Aphasie hin. Eine Schwer-
hörigkeit ist nicht nachzuweisen; einfaches Stammeln ist es auch
nicht.
Es würde zu weit führen, alle die einzelnen Sprachstörungen
hier zu erörtern; denn hierüber besitzen wir zahlreiche, eingehende
Abhandlungen. (Forts. folgt.)
9*
132 A. Abhandlungen.
5. Die experimentelle Ermüdungsforschung.
Von
Marx Lobsien, Kiel.
Erstes Kapitel.
Einleitung.
Wirft man einen Blick auf die überaus reiche Literatur, die die
Ermüdungsforschung zum Gegenstande hat, dann erhebt sich die Frage:
Woher dieses, zwar nicht immer in gleichem Umfange, aber doch
immerfort sich hervordrängende Interesse? Es hatte seine Wurzel zu-
nächst in der immer weiter umsichgreifenden Überzeugung, daß die
Schüler, in erster Linie die der höheren Schule, überbürdet würden.
Die Anforderung, die die Schule an die geistige und leibliche
Leistungsfähigkeit stelle, gehe weit über das erlaubte Maß hinaus,
wenigstens wenn man den Durchschnitt der Zöglinge bedenke, be-
ruhe auf einer vollkommenen Verkennung der kindlichen Arbeits-
fähigkeit, sei zugeschnitten auf eine weit das reale Maß über-
schreitende Projektion einer Summe von geistigen und
leiblichen Kräften, die zumeist nur eine geringe Subtraktion an
der Leistungsfähigkeit des Erwachsenen und zwar des Erwachsenen
mit hervorragender Befähigung bedeute.
Man malte sich die Folgen dieser ständigen, dazu oft einseitigen,
geistigen Hochspannung aus; man hatte sie im Sprechzimmer des
Arztes, im Elternhause vor Augen: Das Schreckgespenst der Über-
bürdung wurde von ängstlichen Gemütern ausgemalt; man sah den
Ruin der Jugend und des Volkes vor Augen. Das Gefühl, hier ge-
schehe etwas, dem unbedingt Einhalt geboten werden müsse, ver-
dichtete sich zu der Überzeugung: Unsere Jugend ist überbürdet,
eine Überzeugung, die einst Kraepelin zu der Meinung veranlaßte, es
sei ein Glück, daß nicht alle Lehrer befähigt wären, die Kräfte der
Jugend voll anzuspannen, andernfalls wäre es um sie geschehen. Seine
Meinung fußte auf den damals eben veröffentlichten Untersuchungen
Griesbachs, wohl vorschnell, denn die Griesbachschen Untersuchungen
waren hernach insbesondere Gegenstand eifriger Kontroverse und teil-
weise scharfer Absage. Freilich konnte dem Ansturm gegen das
herrschende System nichts willkommener sein, als ein Bundesgenosse,
der die schneidige Waffe der einwandfreien Messung der Ermüdung,
des exakten Nachweises der Überbürdung führte. Leider ließ man
von vornherein die Frage nicht scharf genug formulieren: Was ist
denn unter Überbürdung zu verstehen? Ja, man muß sehen, daß man
vielfach Ermüdung und Überbürdung identifizierte.
` Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 133
Neben diesem praktischen Antrieb, der auch heute noch vielfach
für Inangriffnahme von Ermüdungsmessungen bestimmend ist, ging
ein theoretischer, rein wissenschaftlicher einher, der zusammenhängt
mit dem Auftreten der experimentellen Psychologie. Die Messung
der geistigen Ermüdung erfordert ein experimentell-psychologisches
Rüstzeug und die theoretische Erwägung, ob überhaupt möglich sei,
mit den Mitteln des Experiments über Wesen und Wirkung der Er-
müdung genauere Aufschlüsse zu erhalten, regte immer von neuem
an, über brauchbare Methoden nachzusinnen. In erster Linie ging
das Besinnen darauf hinaus, einen brauchbaren Maßstab zu finden,
ein Bemühen, das sich immer mehr als ein ungemein schwieriges
herausstellte, in demselben Maße schwierig, wie es sich einem ersten
Überlegen leicht vortäuschte. i
Einige allgemeine Erwägungen.
Eine Messung vollzieht sich ganz allgemein dann am leichtesten,
wenn ein bestimmtes, durch Übereinkommen oder durch gewohnheits-
mäßigen Gebrauch festgelegtes, Quantum eines Quale nur einem un-
bestimmten Quantum desselben Quale angelegt zu werden braucht.
Solche direkte Beweisführung ist aber keineswegs immer möglich,
man ist auf die indirekte angewiesen und damit auf ein Verfahren,
das nicht nur erheblich komplizierter, sondern schon in seinen Voraus-
setzungen oft wenig widerspruchslos und wenig eindeutig ist. Jegliche
indirekte Messung ist nur unter der Bedingung möglich, daß Maßstab
und zu Messendes, obgleich qualitativ verschieden, doch in solchem
Verhältnis zueinander stehen, daß eine Veränderung hier sich dort in
quantitativen Veränderungen, die skalenmäßig bestimmbar sind, auf-
schreibt. Solche Beziehungen, sei ihre Natur welcher Art sie wolle,
werden zumeist durch die Vulgärerfahrung nahegelegt und in gewissem
Umfange bestätigt. Aufgabe der Forschung, speziell der experimen-
tellen ist es, die Skalenwerte im einzelnen exakt festzulegen.
Hier ist als Aufgabe gestellt, die Ermüdung zu messen. Mittels
der direkten Messung ist das unmöglich.
Die Ermüdung wird als leibliche und geistige Ermüdung unter-
schieden, insofern sie vorwiegend physiologisch oder psychologisch
in Erscheinung tritt. Die Scheidung ist nur vom Standpunkte der
Vulgärerfahrung aus erlaubt, wie hernach näher gezeigt werden soll;
in Wahrheit, so steht nach heutigen Forschungen fest, können beide
nicht getrennt werden, hängen vielmehr aufs engste zusammen. —
Weder die körperliche noch die geistige Ermüdung als solche ist
meßbar. Wir kennen den Zustand lediglich aus seinen Äußerungen.
136 A. Abhandlungen.
aufstellen. Daß es kurz gesagt werde: Alle Ermüdungsmaße
haben nur relativen, aber keineswegs absoluten Wert. Ich
möchte deshalb diesen selbstverständlichen Gedanken betonen, weil man
sehr oft — zum Schaden der Sache — dem Irrtum begegnet, als ob
die gewonnenen Werte eine unmittelbare Übertragung auf das wirk-
liche Einzelindividuum gestatten müßten. Aus dem Mißlingen solchen
törichten Beginnens folgerte man oft ein Werturteil über das experi-
mentelle Bemühen überhaupt.
Ferner: Die Messung der Ermüdung geschieht genau genommen
durch die Messung des jeweiligen Standes der Leistungsfähigkeit,
oder durch eine Messung des Umfangs und Werts der geleisteten
Arbeit als Prüfstein der Arbeitsfähigkeit im Zeitpunkte der Messung,
sei sie physischer oder psychischer Art oder beides zugleich. Die
Messung kann nun auf zweifach verschiedene Weise vorgenommen
werden, Weisen die zwei verschiedenen Methoden entsprechen. Ent-
weder man legt in gewissen möglichst genau normierten Zeitabständen
für eine kurze Zeitspanne den gewählten Maßstab an, oder man legt
ihn dauernd an, liest an ihm fortlaufend die Leistungsfähigkeit ab.
Bezeichnet man mit Baade das angelegte Maß als Reagens, die ge-
forderte Arbeit als Agens, dann wird man die beiden verschiedenen
Weisen auch so charakterisieren können: Bei der ersteren findet
fraktionierend eine Reagensprüfung statt, bei der letzteren sind Agens
und Reagens eines und dasselbe. Die letzteren Methoden bezeichnet
man wohl als diejenigen der fortlaufenden Arbeit, nach dem Vorgange
des bekannten Psychiaters Kraepelin-München. Die Bezeichnung ist
zwar nicht unzweideutig, denn auch bei der fraktionierten Reagens-
anwendung ist doch das Agens eine fortlaufende Arbeit. Ich möchte
vorschlagen, bei der Einteilung nicht sowohl auf die geforderte Arbeit
als auf die Tatsache ihrer Maßbestimmung die Aufmerksamkeit
zu lenken und dementsprechend zu unterscheiden: 1. Methoden frak-
tionierender, 2. solche fortlaufender Messung.
Richtet man nun seine Aufmerksamkeit auf die geforderte Arbeit
oder auf die Art und Weise, sie zu messen, dann ergeben sich weitere
Sonderungen. Zunächst, auf die Art der geleisteten Arbeit gesehen, kann
man solche ins Auge fassen, die sich nicht von den gewöhnlichen
unterscheiden, die praktisch tatsächlich gefordert werden, daneben
dann aber auch solche, die durch die Absicht des Experimentators
einer Reihe von Umständen entkleidet sind im Interesse einer ge-
naueren, wenn möglich exakteren Messung. Es mag erlaubt sein,
dieses Moment zu betonen und die ersten als lebensnahe, die
letzteren als lebensferne, oder die ersteren als wirkliche, die
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 137
letzteren als künstliche Arbeiten zu bezeichnen. Offenbar wird das
Streben ernstlich darauf gerichtet sein müssen, möglichst solche Arbeiten
für die Messung zu fordern, die denen entsprechen, die unter normalen
Umständen den Prüflingen zugemutet werden. Es liegt aber auf der
Hand, daß solche Arbeit sich einer einwandsfreien Messung nur sehr
selten fügt, denn sie wird bestimmt durch ganze Reihen quantitativ
verschieden abgestufter Bedingungen, die sehr oft nicht erkennbar,
geschweige denn meßbar sind. Sie sind eben in das so vielgestaltige
individuelle Arbeitsleben der Prüflinge eingetaucht, das einer objektiven
Betrachtung die allergrößten Täuschungen bereiten kann. Je mehr
sich das Agens den tatsächlichen realen Verhältnissen nähert, desto
mehr entzieht es sich einer objektiven Beurteilung, desto mehr ist
man auf eine sorgsame subjektive Analyse angewiesen, die wiederum
nur möglich ist auf Grund von Selbstaussagen der Versuchspersonen.
Diese aber sind nur dann einigermaßen wertvoll, wenn die Prüflinge
imstande sind, sich selbst bei der Arbeit genauer zu beobachten, un-
beeinflußt zu urteilen und sich sachgemäß zu äußern. Das aber sind
Voraussetzungen, die bei jugendlichen Versuchspersonen nicht oft zu
finden sein werden — am allerwenigsten bei fortlaufender Arbeit.
Daraus folgt aber, daß die Methoden fortlaufender Messung sich immer
von der tatsächlichen, lebensnahen Arbeit entfernen, daß sie möglichst
konform und möglichst einfach gestaltete Arbeit fordern müssen, wenn
sie wertvollere Ergebnisse erzielen wollen. In der Tat sehen wir sie
auch operieren mit fortlaufendem Addieren, Silbenzählen, Buchstaben-
abschreiben und ähnlichen Dingen. Man sieht so, daß die angewandte
Maßmethode bestimmte Grenzen respektieren muß, über die sie nicht
hinausgehen darf, Grenzen, die eben ihrer Natur vorgezeichnet sind.
Den Methoden fortlaufender Messung erwächst aus der Beschränkung
andrerseits aber ein ganz gewaltiger Vorzug, nämlich der, daß ihnen
möglich ist, viel sorgsamer in die komplizierten inneren Arbeits-
bedingungen einzudringen; das ist in so überaus verdienstlicher Weise
Kraepelin und seiner Schule gelungen. Sie haben den komplexen
Begriff der Ermüdung durchleuchtet und eine Reihe von Komponenten
ans Tageslicht gefördert, von denen bis dahin höchstens die eine gaor
die andere der Vulgärerfahrung sich offenbart hatte.
Anders die Methoden der fraktionierenden Messung oder der
Messung in gröberen Zeitabständen. Sie stellen stichprobenartig die
Leistungsfähigkeit im Verhältnis zum Normalmaße fest. Ihr Verfahren
ist von vornherein ein viel größeres, summarisches. Sie verzichten
auf die Feststellung der feineren Komponenten, begnügen sich mit
dem komplexen Begriff der Ermüdung und sind lediglich bemüht,
138 A. Abhandlungen.
jeweils ein möglichst genaues Maß zu gewinnen. In der Tat fällt
und steht ihr Wert mit der Genauigkeit der jeweiligen Meßmöglich-
keit. Diese vorausgesetzt, erstreckt sich das Wirkungsgebiet weit
in die pädagogische und schulhygienische Praxis hinein. Daß aber
die Methode der Messung ungleich schwieriger und bedenklicher ist,
erhellt schon aus der Tatsache, daß sie bis heute heißumstritten ist.
Richten wir nunmehr unsere Aufmerksamkeit wieder auf den
Maßstab, der Verwendung findet. Es empfiehlt sich, physiologische
und psychologische Maßmethoden zu unterscheiden. (Wollte man
die Anwendung ins Auge fassen, dann müßte man folgende Fälle
unterscheiden: 1. der physische Maßstab dient der Messung der phy-
sischen, 2. der psychische der Messung vorwiegend psychischer Arbeit,
3. sie dienen wechselseitig als Maßstab.) Eine strenge Sonderung ist
allerdings nicht möglich, die Bezeichnungen wollen nur sagen, daß
jeweils das besonders hervorstechende Merkmal der Namengebung in
erster Linie gedient hat. — Ausgehend von Erfahrungen der experi-
mentellen oder physiologischen Psychologie, teils auch von solchen
des täglichen Lebens und der ärztlichen Praxis, kam man dazu, eine
Reihe verschiedener Messungsweisen zu konstruieren, die in ihrer
Gesamtheit nicht wohl zu einem systematischen Ganzen sich zusammen-
fügen, das verrät, man sei einem festen Plane nachgegangen — wohl
aber zu einigen Hauptgruppen sich anordnen lassen. Die physischen
Methoden kann man unter folgende 5 Gruppen ordnen: 1. Messung
der Muskelenergie, 2. Schwellenmethoden der Sinnesempfindlichkeit,
3. physiologische Methoden engeren Sinnes, 4. Methoden der Messung
taktiler Empfindung, 5. biologische Methoden. Die Bezeichnungen
wollen nicht in dem Sinne verstanden sein, als ob sie immer mit
voller Deutlichkeit von einander Abzugrenzendes bezeichneten, man
wolle sich begnügen, wenn sie dem Sinne nach eine zulängliche
Scheidung charakterisieren. Sie sind auch nicht geprägt worden von
einem einheitlichen logischen Gesichtspunkte aus, sie bezeichnen keine
möglichen Maßmethoden, sondern sie sind vorhandenen gebräuch-
lichen Verfahrungsweisen angelegt worden, und es ließ sich nicht ganz
umgehen, daß hier und da Zwang ausgeübt wurde.
Diesen fünf Hauptgruppen lassen sich folgende Methoden im
einzelnen zuordnen: Zu der Gruppe 1 sind drei Messungsweisen zu
rechnen, die zu bezeichnen sind als dynamometrische, ergographische
Blixsche und Fußhantelmethode Die zweite Gruppe, die der
Schwellenmethoden, läßt sich sondern als Seh-, Hör- und Hautsinn-
prüfung, welch letztere sich bezieht auf die Tast-, Druck- und
Schmerzempfindlichkeit. Die physiologischen Maßmethoden sind ge-
139
telle Ermüdungsforschung.
1e experimen
: Di
Lobsien
uajyez UOA
“ıyosIoperN
Ía a
a uəqrerqosqy
uouqooy uəsə
| l |
e |
OYISTUBTI9UL
qoru
N
uursyoZ
n -uneg -my
| |
|
"go&sd-"pred ‚jogoAsd
| |
oyosıqoAäsd
mn m mn a m nn nn nn rn a
Zunsse}
uoge -39
Vace 1 nn
usgejsyong U0A
m. en
uoyprars
-qmq UOIUBZ
| | |
uogdroz "DS ydeı3 .1eyowowm aaa
sayospnenbumd) uwonemgty ‘agga -oumeug -syd -ousÄydg
l l | | | |
e e e e a
| |
Syastuedaut gewasdıoy ouurg ueradue u
| | |
Á e o ae o aa
zıowgog JonIq IS8L
sıu}qogp uoneu | | |
-quoy EN RS NS
| | | l
yyjqısuos ‘myos ‘Myos
KH snu aoow -eH -19H 488
eyosxng -WÄIg -oppwoury | | |
| | | r
a en a [oawy yder ‘wow
uxojouoy} en mi
| El
yosı3ojorq ‘dug omge} yosıdojoısäyd uajfpayog eLF19UEJOJSNM
le S E a S
oyosısäyd
u e e
'UOpoyzo w Top POLSON
140 A. Abhandlungen.
richtet auf die Messung des Pulses (Druck-Sphygmometer — Volumen-
Plethysmometer), der Atmung (Pneumometer), der Wirkung des elek-
trischen Stromes, der Vibrationsempfindung, des Quinquaudschen
Zeichens, der Körpergröße. Gruppe 4 geht der Messung des natür-
lichen Bewegungsrhythmus und der Genauigkeit der Bewegungs-
schätzungen nach. Endlich die letzte Gruppe erwägt die inneren
physiologischen Ermüdungsursachen prüfend und messend.
Die psychischen Maßmethoden lassen sich nicht streng von den
physischen absondern; denn auch dort, wo man, wie bei der Messung
der Muskelenergie oder der Hautsensibilität einen physischen Maßstab
anlegt, spielen psychische Umstände, besonders die Willensanspannung,
die Energie der Aufmerksamkeitskonzentration, eine sehr bedeutsame
Rolle. Ich möchte die psychologischen Maßmethoden in zwei Gruppen
sondern, die eine Gruppe, die eine psychische Fähigkeit ohne Rück-
sicht auf ihre Bedeutung für den praktischen Unterrichtsbetrieb, also
sozusagen ein mehr theoretisch-psychologisches Geschehen, das sich
genauer für die Beobachtung abgrenzen läßt, als Reagens verwertet
und solche, die sich mit ausgesprochener Absicht, so weit möglich,
den gewöhnlichen Verhältnissen in der Schule zu nähern sucht. Es
möge erlaubt sein, die ersteren als psychologische; Methoden
strengerer Ordnung, die letzteren als pädagogisch-psycho-
logische Maßmethoden anzusprechen. Zur ersten Gruppe gehören:
Die Messung der Kombinationsfähigkeit, des Gedächtnisses, der
Reaktionszeit, der Raum- und Zeitschätzung. Zu Gruppe 2 sind zu
rechnen: Das Zählen von Buchstaben, das Abschreiben, das Durch-
streichen bestimmter Buchstaben, das Niederschreiben von Ziffern, das
Lesen, das Rechnen, das Diktatschreiben. Man sieht deutlich, daß
sich unter den letzteren wieder eine Zweiteilung ermöglichen läßt,
nämlich eine Gruppe solcher Methoden, die eine mechanische Be-
tätigung in erster Linie verlangen, und eine zweite, die sich den tat-
sächlichen Verhältnissen mehr nähern. Die ersteren kann man, ohne
ein Mißverständnis befürchten zu müssen, als schulfremde oder
mechanische, die andern als nichtmechanische pädagogisch - psycho-
logische Methoden bezeichnen.
(Siehe Übersicht S. 139.)
Aus der Übersicht ersieht man, daß man eine große Anzahl ver-
schiedener Wege eingeschlagen hat, der Ermüdung forschend nachzu-
gehen. Die Zahl derselben ist aber mit der Übersicht keineswegs er-
schöpft, sondern es lassen sich unter den Aufgeführten noch eine
große Anzahl von Kombinationen herstellen. (Forts. folgt.)
Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 141
6. Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwach-
sinnigen und schwerschwachsinnigen Kindern.
Von
Kurt Lehm, Dresden.
(Mit 4 Abbildungen.)
(Schluß.)
Ich verlasse nun den Sprechunterricht und wende mich dem
Leseunterricht zu, richte auch dabei das Augenmerk auf Lernweise
und Lernzeiten bei Schwachsinnigen, bezw. Schwerschwachsinnigen,
befasse mich aber nur mit den Elementen, den Schreib- bezw. Druck-
buchstaben und halte Überschau bis Ostern 1908. In den Jahren
1908/10 war die Löbtauer Hilfsschule dreiklassig, die Unterstufe der
dritten Klasse umschloß auch die Schüler mit, die man ihrem geistigen
Niveau entsprechend als Vorschüler bezeichnet und behandelt.
Für meine weiteren Darlegungen nehme ich die beiden folgenden
Schemata als Ausgangspunkt. Die Schemata weisen Jahreskurven auf
und zeigen, mit welchem Erfolge zwei Kinder — eine der Grenze
der Vorklasse nahestehende Schülerin und ein schwerschwachsinniger
Knabe — an der Erlernung der Schreibschriftbuchstaben (66) ge-
arbeitet haben.
(Siehe Tafel A und B S. 142.)
In Tafel A beobachtet man ein ziemlich gleichmäßiges Fort-
schreiten von Jahr zu Jahr, bis die letzte Kurve in der Weihnachts-
zeit einen jähen Sturz verzeichnet und plötzlich abbricht. Diese Kurve
ist ein Beispiel dafür, welch unheilvollen Einfluß auf das Geistesleben
schwachsinniger Kinder die geschlechtliche Lust ausübt. Das Mädchen
wurde vor der Weihnachtszeit lässig und immer lässiger. Ich ver-
mutete einen Entwicklungsvorgang, der die geistigen Kräfte des
Mädchens beeinträchtigte; schließlich aber gab sich mir des Rätsels
Lösung ganz unerwartet: das Mädchen pflegte geschlechtlichen Ver-
kehr mit Knaben. Und wie im Lesen der Schreibschriftbuchstaben
zeigte sich auch in allen andern Fächern ein überraschender Nieder-
gang. Das Mädchen wurde Ende November 1911 ausgeschult.
Einen ähnlichen Fall könnte ich noch tabellarisch skizzieren,
sehe aber um der Raumfrage willen davon ab. Das Mädchen erlernte
etwa drei Viertel der Schreibbuchstaben, schlug dann aber plötzlich
um, so daß sie in ihrem Besitzstand fast auf Null ankam. Hier ver-
ursachte der Eintritt der Menstruation den Rückgang.
Ein anderer Fall bietet sich in Tabelle B. Hier handelt es sich
wie schon bemerkt um einen schwerschwachsinnigen Knaben. Er
142 A. Abhandlungen.
= Jahreskurve Ostern 08/09
----------- = Jahreskurve Ostern 09/10
E AE = Jahreskurve Ostern 10/11
= 1-12... = Jahreskurve Ostern 11/12
Tafel B.
hatte bis Ostern 1910 achtundzwanzig Schreibschriftzeichen lesen ge-
lernt. Im Winter 10/11 begann ein allgemeiner Leistungsverfall, bis
kurz vor Ostern 1911 das Erworbene fast spurlos verloren war. Der
Schüler stumpfte mehr und mehr ab, vor einigen Wochen sah ich
ihn in der Heil- und Pflegeanstalt wieder. Die letzte Kurve bedeutet
den Abstieg zur Idiotie.
An dieser Stelle möchte ich gleich einer Erfahrung Ausdruck
geben, die sich auf das Lesenlernen in der Vorstufe bezieht: ich halte
es für untunlich, Vorschüler mit der Erlernung von Schriftzeichen
als Vorbereitung für das Wörterlesen zu behelligen. Ich könnte
diese Meinung durch statistisches Material stützen. Ich muß aber
mit dem Raum rechnen. Jedoch spricht folgende Erwägung dafür.
Es kommen doch vielfach Kinder aus der Normalenschule zu uns,
die sich die Schriftzeichen nicht merken. Dieses Nichtmerkenkönnen
Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 143
hat seine Ursache einerseits in eigenartigen Zuständen des Kindes,
andrerseits in der Beschaffenheit der Schriftzeichen. Jedenfalls stehen
die Kinder unter dem quälenden Druck ihres Unvermögens, und
nun soll es, wenn sie Vorschüler sind, mit dem alten Elend, dem
alten Leiden wieder losgehen? Es gibt doch bei Vorschülern noch so
viel, sehr viel gut zu machen, daß die Leseexerzitien hinausgeschoben
werden müssen. Und es bringt manchen Vorteil, wenn die Erlernung
der Buchstaben der nächsten Klassenstufe zugewiesen wird. Ich hand-
habe es so, und im Hinblick auf die Zusammensetzung der Hilfs-
klassen bin ich zu diesem Verfahren gekommen. Jede Hilfsklasse,
mag sie noch so gleichartig in ihrem Bestand sein, sie gliedert sich
(der Grund liegt im Lerntempo der Kinder) in Ober- und Unter-
abteilung. Wenn nun die Vorschüler in der nächsten Klasse als
Unterabteilung, ohne daß sie als solche geführt werden, die Buch-
staben erlernen, so haben sie den Vorteil, bei den weiter vorge-
schrittenen Kindern zu sehen, wozu die Buchstaben erlernt werden,
und profitieren dabei manches, wie es in der vierklassigen Normalen-
schule der Fall ist, daß die Unterabteilung eine recht gut vorbereitete
Oberabteilung wird.
Dieses Verfahren gab nach meinen Aufzeichnungen folgende Er-
gebnisse: Die leichteren Fälle kamen in einem Jahre in der Hilfs-
schule zur Beherrschung der Schreib- und Druckbuchstaben und er-
reichten, bei einer beträchtlichen Anzahl sogar mit Einschluß der
Kapitel Konsonantenhäufung, Dehnung, Schärfung, die elementare Lese-
fertigkeit des Wortlesens. Bei andern vergehen zwei bis drei Jahre,
ehe sie zu diesem Ziel gelangen.
Bei allen Kindern aber bedeutet diese Stoffverteilung in Ver-
bindung mit dem methodischen Leselehrverfahren in der Hilfsschule
eine Frleichterung, ein Aufatmen zuerst, und dann eine Kräftigung
und Erstarkung. Das kranke Kind steht zunächst nicht mehr vor dem
ganzen Laut- und Zeichenchaos, es darf mit seinem bisher erworbenen
Eigentum operieren, da gesellt sich der Arbeit das Erkennen bei: ich
kann auch etwas; damit entfaltet sich der Mut, an neue Aufgaben
heranzutreten. Ich habe eine ganze Reihe von Fällen erlebt, in denen
die Kinder mit Eintritt in die Hilfsschule ihre nächtliche Ruhe wieder-
fanden, das Aufschreien und Träumen hörte auf. Dem Überspannen
der Kräfte folgte ein Ausspannen, eine Erholungszeit, ein Zusich-
kommen; dann setzte das Vorwärtsstreben ein.
Weiter oben sagte ich, daß die Erfolge im Leseunterrichte auch
durch die Eigenart der zu erlernenden Schrift bedingt sind. Dazu
eine interessante Beobachtung aus meinen Aufzeichnungen, ehe ich
144 A. Abhandlungen.
auf die Frage der Schriftart näher eingehe. Unter den der Hilfsschul-
unterstufe aus der Normalenschule zugewiesenen Kindern befanden
sich mehrere aus der fünften und sechsten Klasse und sie konnten
doch noch nicht lesen, trotzdem sich ihnen die Gelegenheit geboten
hatte, in den höheren Klassen in Antiqua zu lesen. Von ihr wird
mancherseits behauptet, sie sei die am leichtesten zu erlernende und
am leichtesten zu lesende Schriftart. Diese Kinder nun hatten sich
trotz vorgeschrittenen Alters und, man muß es annehmen, erhöhten
Fassungsvermögens, nur die der bei uns eingeführten Offenbacher
Schwabacher ähnlichen Formen gemerkt, im übrigen hatte die Antiqua
versagt.
Antiqua oder Fraktur? ist für das Lesenlernen in der Hilfsschule
eine wichtige Frage. Zwar ist die Anzahl der Hilfsschüler dem
Normaleschülerbestand gegenüber nicht groß, und man könnte der
Meinung sein, diese Minderheit könnte bei lebens- und volkswirtschaft-
licher Betrachtung der Schriftfrage ausscheiden. Doch hat einmal die
Minderheit das Recht, bei Besprechung der das allgemeine Interesse
beanspruchenden Fragen berücksichtigt zu werden und damit eine
gewisse Wertung zu erfahren, andrerseits ist der vorliegende Fall für
die Allgemeinheit insofern von Bedeutung, als auch die Hilfsschüler
zu brauchbaren Gliedern der menschlichen Gesellschaft erzogen werden
sollen und können und somit an ihrer Einbegrenzung in die Behand-
lung dieser Schriftfrage nicht Anstoß zu nehmen ist. Und nun ein
paar kurze Ausführungen zur Frage Antiqua oder Fraktur.
Latein sei die Weltschrift, Fraktur sei dem Ausländer unbekannt,
ja widerwärtig, behaupten die Antiquafreunde. Sie sagen aber nicht,
daß die Nordgermanen sich der Bruchschrift bedienen, ebenso slavo-
nische Stämme, die von uns ihre Gesittung erhielten. Wieland machte
mit den »verwünschten lateinischen Lettern« bei der Prachtausgabe
seiner Werke im Ausland schlechte Geschäfte. Wieland hat die Worte
` gesprochen: Engländer und Franzosen haben mir gesagt, sie lesen
deutsche Bücher lieber mit deutschen Lettern. Ähnlich erging es dem
Dichter und Selbstverleger Jordan. Für Amerika ließ er sein Werk
»Nibelungen«e in Antiqua drucken. Die Ausgabe ging nicht, er
schickte die in Fraktur gesetzte Ausgabe hinüber und hatte Erfolg.
Gustav Hein schreibt in der Zeitschrift des Allgemeinen deutschen
Sprachvereins 1909: »Ausländer ziehen vor, ihr Deutsch in deutschem
Gewande zu sehen.« Zugunsten der Antiqua wird auch meist die
Frage beantwortet, welche Schrift leserlicher und darum schneller
lesbar sei. Die Antiqua rühmt man dabei um ihrer Klarheit willen,
hier aber handelt es sich darum, welche Schrift der Eigenart der
Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 145
deutschen Sprache am besten entspricht, welche Schrift der Charakte-
ristik unsrer Wortbilder am meisten gerecht wird. Unsre Sprache
weist viel mehr lange und zusammengesetzte Wörter auf als fremde
Sprachen. Bei Macalay sind nach Ruprecht 3900 Buchstaben auf
1000 Worte, bei Treitschke 6116 Buchstaben auf 1000 Worte gezählt
worden. Weiter wird behauptet, die Fraktur sei augenschädlich.
Hermann Cohn, der immer als augenärztlicher Gegner der deutschen
Schrift genannt wird, hat in seinem Lehrbuche der Hygiene des Auges
1892, S. 450 geschrieben: »Nach meiner Überzeugung ist der Nach-
weis nicht geliefert und würde auch schwer zu liefern sein, daß
gerade die deutschen Buchstaben für die Augen gefährlicher seien als
die lateinischen.«e Es sind auch die Lehrervereine nicht allerorten
der Antiqua zugetan. Es sei hier nur die Kundgebung des deutsch-
österreichischen Lehrerbundes vom 31. März 1912 erwähnt, in der 7
heißt: »Im Namen der mehr als 20000 freiheitlichen Lehrer, die i
»deutsch - österreichischen Lehrerbunde« vereinigt sind, geben wir
unserem tiefsten Bedauern Ausdruck über jenen Beschluß der Kom-
mission des deutschen Reichstages, welcher auf Abschaffung der deut-
schen Schriftzeichen gerichtet ist. Während Millionen Deutscher im
Auslande auf Leben und Tod deutsche Eigenart, verteidigen, weiß der
Deutsche Reichstag nichts Besseres zu tun, als die deutsche Schrift
abzuschaffen. Wir hoffen, daß das Plenum des Reichstages das Selbst-
verständliche tun und dem Beschluß der Petitionskommission die Zu-
stimmung versagen wird.e Über die Schrift in der nachschulischen
Zeit hört man auch nicht nur Loblieder auf die Antiqua. P. Weber
sehreibt in den Hamburger Nachrichten: »Meine kaufmännische Er-
fahrung an Lehrlingen lehrt mich ferner, daß die Schüler deutscher
höherer Schulen, an denen vorzugsweise Kursiv-(Latein-)Schrift geübt
wird (Oberrealschulen, Gymnasien), meistens mit einer schauderhaften
Handschrift ins Leben treten, während die Schüler der Volks- und
gehobenen Bürgerschulen, die meistens Bruchschrift schreiben, über
eine sehr deutliche, oft sehr schöne Handschrift verfügen.« Ein ge-
wichtiges Urteil in der Schriftfrage kommt den Korrektoren zu. In
den Fach-Mitteilungen der Deutschen Korrektoren-Vereine vom 1. März
1912 heißt es: »Jeder erfahrene Korrektor wird mir zustimmen,
wenn ich behaupte, daß wir gerade mit den Lateinschreibern die
größten Schwierigkeiten und deshalb von der Abschaffung der deut-
schen Schreibschrift nichts besonders Gutes zu erwarten haben. Wohl
gibt es auch massenhaft unleserliche Manuskripte in deutscher Schrift;
aber daß man selbst bei schönen Handschriften viele Wörter ver-
Zeitschrift für Kinderlorschung. 18. Jahrgang. 10
146 A. Abhandlungen.
schieden lesen kann — was für uns Korrektoren gerade das Schlimmste
ist — das ist bei der deutschen Schrift nicht der Fall. Daß es in
der lateinischen Schrift einen Unterschied zwischen n und u gebe, ist
doch nur ein Schülermärchen. ... Ebenso besteht der Unterschied
zwischen e und ce nur für Pedanten, manche Schönschreiber malen
auch das 1 dem e so ähnlich wie ein Ei dem andern« usw. Die
Stellung der Verleger zur Schriftfrage will ich hier nicht weiter be-
rühren, aber darauf hinweisen, daß sie die deutsche Schriftkunst wieder
mehr und mehr zu Ehren bringen. Indem ich dies schreibe, liegt
mir eine Anzeige des Tempelverlages in Leipzig vor. Aus dieser
Anzeige ist zu ersehen, daß der Tempelverlag seine Klassiker in einer
neuen Fraktur erscheinen läßt, die einer der bekanntesten und be-
deutendsten deutschen Buchkünstler, Professor E. R. Weiß gezeichnet
hat. Aus der Rundfrage des Verlages über die Tempelfraktur seien
einige kurze Stellen herausgehoben. Gerhart Hauptmann: »Die Fraktur
von Weiß finde ich sehr schön und einheitlich, auch durchaus leicht
lesbar, trotz einiger zu Anfang ungewohnteren Formen.«< Thomas
Mann: »Aber die Weißsche Fraktur hat mich doch wieder gelehrt,
wie viele Schönheitsmöglichkeiten in der deutschen Schrift erschlossen
liegen und daß man in ihre, von manchem befürwortete Verdrängung
durch die Antiqua nicht willigen darf.«e Viktor Ottmann: »Mir per-
sönlich gefällt die Fraktur Ihrer Klassikerausgabe sehr gut, sie liest
sich angenehm und bietet ein schönes Satzbild: ich glaube, daß vom
Gesichtspunkt der Augenhygiene aus kaum ein Einspruch dagegen
erhoben werden kann.s
Nach diesen umfassenden Erörterungen gehen wir in den engeren
uns eigentlich angehenden Kreis zurück, in die Schule, erst in die
Normalen-, dann in die Hilfsschule, und beschäftigen uns zuerst mit
der Frage: Alphabet, Schreibstundenzahl, Schriftschönheit? Lehrer
Ries gab Ende 1911 eine diesbezügliche Aufklärung in der Ver-
sammlung der Typographischen Gesellschaft von Frankfurt a. M. zur
Erhaltung der deutschen Schrift. Er hatte sich Schreibhefte aus
französischen Schulen schicken lassen und hat festgestellt, daß die
französischen Kinder durch alle Klassen 3—4 Schreibstunden wöchent-
lich haben und nicht weniger als drei verschiedene Arten von Latein-
schrift schreiben lernen: Italienne, gewöhnliche und Rundschrift.
Ebenso hat er im Schreibunterricht den Besuch eines Engländers ge-
habt, der überrascht gewesen sei, wie schön die Kinder in ihren Auf-
gabenheften trotz der geringen Zahl der Schreibstunden geschrieben
hätten, und dies auch in einem schriftlichen Bericht über seinen Be-
such veröffentlicht habe. Es ergibt sich darnach, daß sowohl die
Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 147
französischen als auch die englischen Kinder mehr Schreibstunden
haben als unsre und trotzdem nicht so gute Ergebnisse erzielten.
Kann man sich nach den bisherigen Darlegungen der Meinung
nicht verschließen, daß es doch wohl nicht tunlich sei, die Fraktur
in Druck- und Schreibschrift aus der Schule zu verbannen und damit
aus dem deutschen Leben überhaupt, daß wir wieder etwas ärmer
wären an Volksgütern auf Kosten eines zweifelhaft Besseren, so dürfte
die Forderung: die Antiqua in die Unterklassen! immerhin noch Be-
rechtigung haben, wenn die Fraktur mit methodischen Forderungen
der Neuzeit in Widerspruch stände, wenn die Fraktur, ich denke
dabei an die Offenbacher Schwabacher, für die unterrichtliche Be-
handlung Schwierigkeiten böte, die bei der Antiqua nicht erstehen
würden.
Aber man kann nicht behaupten: »Die Fraktur paßt nicht in die
Arbeitsschule. Mit der Fraktur kann man nichts anfangen. Die
Antiqua ist für die unterrichtliche Behandlung, für die Erfassung
durch die Kinder, für das Gedächtnis, für die Erlernung des
Schreibens usw. günstiger als die Fraktur.«
Beschäftigen wir uns zunächst mit der Druckschrift. Die moderne
Arbeitsschule fordert Handbetätigung, werkliches Tun. Ich habe
manches Buch über Leselehrmethoden in der Hand gehabt, manche
Ausstellung gesehen, in der dem Leseunterricht ein Platz gegeben
war; wenn aber Antiqua verwendet wurde, so erstreckten sich die
werkunterrichtlichen Maßnahmen meist auf Stäbchenlegen. Die An-
sicht, daß man nun Fraktur in solcher Weise nicht ausbeuten könne,
hat dieser Schriftart für Verwendung im Werkunterricht entschieden
geschadet. Damit ist ihr Unrecht widerfahren. Es gibt im Fraktur-
alphabet eine große Anzahl Buchstaben, die sich mit Stäbchen »ge-
brochen«, somit ganz der Schriftart entsprechend legen lassen z. B.
a, b, d, e, ei, f, g, h, i, k, l, m, n, 0, p, T, S, t, u, v, w. Das Fraktur-a
läßt sich recht gut mit vier kurzen und einem mittellangen Stäbchen
legen usw. Dazu kommt noch, daß die Neuzeit eine ganze Reihe
Arbeitstechniken in den Unterricht gebracht hat: Tonformen, Erbsen-
legen, Fadenlegen. Ausschneiden. Wo eine Tätigkeit die erwünschte
Wirkung nicht erbringt, hilft eine von den andern aus.
Ebenso ist es mit der Schreibschrif. Da wird nun vielerseits
das Bogenschreiben als ein wesentlicher Vorteil gegenüber dem Ge-
brochenschreiben gepriesen. Ich kann dieser Ansicht nicht beitreten.
Ich habe in den Elementarklassen so viele o und a gesehen in den
Heften, auf der Tafel, die nichts weniger als »rund« geschrieben
waren. Und denken wir daran, wie schwer selbst den Kindern der
10*
148 A. Abhandlungen.
Oberklassen das Lateinschreiben noch wird, wie die Lateinschrift-
zensuren nicht besser, oft aber schlechter sind als die Deutschschrift-
noten. Hält man sich dabei vor, daß doch die Kinder der Oberklassen
durch Zeichnen usw. im Formensehen und Formendarstellen besonders
geübt sind, so sollte man doch den Rückschluß, den Elementaristen
müsse Lateinschrift leichter fallen als Deutschschrift, für gewagt
halten. Eben in der Formenflüchtigkeit sehe ich einen Nachteil der
Lateinschrift für die Elementaristen.
Und welche Erfahrungen machen wir in der Hilfsschule Wir
bekommen Kinder aus der Normalenschule herüber, die neben anderen
Mängeln auch durch das Schlechtschreiben oder das Unvermögen zu
schreiben den Verdacht erwecken, hilfsschulbedürftig zu sein. Was
von diesen Kindern geschrieben ist, sieht in den gebrochenen Schrift-
zeichen i, n, m usw. leserlich aus; bei den Buchstaben, die Bogen
enthalten, beginnt das planlose Schreiben. Die Rundbuchstaben sind
zu wenig richtungsklar, richtungsfest; Hand und Geist irren ab. Weil
sich mir nun alljährlich dieselbe Tatsache bot, daß die Vorschüler
namentlich mit der Führung der Bogen nicht zurechtkamen, also auch
Buchstabenformen und Bogenteile nicht schreiben konnten, so arbeitete
ich einen Lehrgang aus, der den Zweck hat, den Kindern die ver-
schiedenen Möglichkeiten des Bogenansatzes an Senkrechte, Wage-
rechte, Schiefe faßlich zu machen (Tafel C), und diese Ansatzübungen
finden dann Verwendung für Vorübungen zum kleinen und großen
Schwabacher Schreibschriftalphabet (Tafel D). Buchstabenbenennung
gebe ich in der Vorstufe noch nicht. Jede Einzelform durchwandert
folgenden Arbeitsgang. Die vielmalige Wiederholung bei andrer Tätig-
keit hat mich manchen freudigen Erfolg sehen lassen:
a) Die Form wird in Plastilin dargestellt. Ein Faden wird ge-
rollt, dann wird die Form zu legen versucht. Diese Übung ersetzt
das Fadenlegen. Kinder, die anfänglich einen Faden nicht rollen
können, bekominen Unterstützung. Die Form wird so oft geübt, bis
sie sitzt.
b) Die Form wird in Ton dargestellt. Ein Tonfaden wird ge-
rollt. Dann wird die Form gelegt. Ungeschickte Kinder arbeiten eine
Form mit Unterstützung, eine Form aber ganz selbständig, möge diese
Form ausfallen wie sie wolle. Die ohne Unterstützung gearbeiteten
Formen werden auf weiche Tonplatten gelegt und angedrückt. Die
Platten mit den Formen werden auf der Rückseite durch Tintenstift
mit Namen versehen, vorn wird neben die Form, neben die selb-
ständige aber mißlungene das Zeichen, das sie darstellen soll, gesetzt,
neben die mit Hilfe erarbeiteten ein M H = Mit Hilfe geschrieben.
Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 149
Dann werden die Platten beiseite getan zum Trocknen. Aus diesen
Tonplatten kann man sich für Ausstellungen, besonders aber zum
Zweck des Studiums über eigene Lernwege der Hilfsschüler eine
Sammlung anlegen. Plastilin wird ja immer wieder eingedrückt. Man
sieht hierbei, daß man sich nicht nur für die eine oder andere Form-
masse entscheiden muß, daß sie uns vielmehr beide, Plastilin und
D
ENa
mm
Jose
Si
i
SE
:
bik
Ins
ie
DIENEN
we
T
a |
[eu]
]
Tafel C. Tafel D.
Ton, willkommene Arbeitsmaterialien sein können. Welche Dienste
der Ton uns für die Schreibvorübungen noch leistet, ersehen wir aus
dem nächsten Abschnitt. Nur sei einer sehr förderlichen Detailübung
aus dem Plastilinformen Erwähnung getan. Manche Kinder sind an-
fangs nicht imstande, die einfachste Form aus der Plastilinschnur zu
legen. Ihnen bilde ich die erste Form selbst und halte sie dann an,
auf diese Form gewissermaßen stockwerkartig aufzubauen. Diese Übung
findet auch immer Beifall. Nun zur weiteren Behandlung der Ton-
platten.
150 A. Abhandlungen.
c) Die Tonarbeiten sind gewöhnlich, in die Sonnen- oder Ofen-
wärme gelegt, am andern Tage ganz oder ziemlich trocken. Nun
kommt die Farbe an die Reihe. In der von mir bestimmten Be-
wegungsrichtung fahren die Kinder mit dem von Deckfarbe gefüllten
Pinsel in einem Zuge über die auf der Tonplatte liegende Tonform.
Das kann solange wiederholt werden, bis die Farbe kräftig genug auf-
getragen ist, und bis ich an der Sicherheit der Bewegungsdurchführung
merke, daß die Form in ihrer Bewegungsfolge erfaßt ist. Diese Übung
kann auch, falls die Tonformen für den Anstrich noch nicht trocken
genug sind, nach der nächsten erst vorgenommen werden.
d) Diese Übung bringt die Schriftform an der Tafel. Da ich in
meinem Unterrichtszimmer leider nicht über Wandlinoleum verfüge,
können nur zwei Kinder zur Übung an die Tafel treten. Die andern
stehen im Kreise und sehen zu. Mit Buntkreide schreibe bezw. male
ich die Form in breiten Bahnen an die Tafel. Die Kinder ziehen die
Form mit weißer Kreide nach, dabei steigere ich das Übungstempo.
Dann lasse ich die Kinder zurücktreten und die Form in der Luft
nachfahren. Endlich wird die Tafel gewendet und die Form ohne
Vorbild in die Luft und auf die Tafel geschrieben. Die Übungen
werden nach Möglichkeit abwechselnd links- und rechtshändig aus-
geführt. Ob das beidhändige Üben irgend welchen Einfluß auf die
Hirnentwicklung hat, vermag ich nicht zu entscheiden, für das Formen-
erfassen ist es aber sicherlich gut.
e) Die nächste Übung besteht darin, daß ich den Kindern die
Form auf den Tisch schreibe mit Kreide. Die Kinder legen die Form
mit bunten Halberbsen nach. Dann wird die Kreide weggelöscht und
die Anordnung der Erbsen aus dem Gedächtnis nach Maßgabe der
Form vorgenommen.
f) Mit dieser Übung wird dem Buntpapier sein Recht. Mit dem
Lochapparat zum Selbsthefter stanze ich aus gummiertem Glanzpapier
Konfetti. Auf Packpapier schreibe ich die Form mit Bleistift vor, die
Kinder überkleben in der Bewegungsrichtung die Form mit Konfetti.
Die fertigen Arbeiten sehen geschmackvoll aus. Die Übung macht
den Kindern Freude, und man hat Gelegenheit, die Kinder an be-
stimmte Farbenfolgen zu gewöhnen.
g) Nun nehmen wir Heft und Stift. Die Geschickteren finden
sich ins Liniensystem, die Mindergeschickten schreiben »ohne Linien«.
h) Für die Sammlung wird die Form endlich auf Zettel ge-
schrieben. Jedes Kind hat einen Briefumschlag. Dahinein kommen
die beschriebenen Zettel. Am Jahresende heftet sie Nachbar Buch-
Lehm: Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen Kindern. 151
binder mit der Drahtheftmaschine zu einem Block zusammen, der
Namensaufschrift, Jahreszahl und sonstige Bemerkungen erhält.
i) Eine Übung sei noch beschrieben, die zwischen f und g ein-
geschaltet werden kann und das freie Schreiben vermittelt. Die Kinder
bekommen kleine weiße Zettel, auf die ich mit Tinte die Schriftform
schreibe. Die Kinder schieben diesen Zettel unter Streifen von durch-
sichtigem Papier und ziehen die Form mit Bleistift darauf nach.
Auf diese Weise führe ich die Kinder über die schwere Stelle
des Bogenschreibens weg, möchte aber wahrhaftig nicht einer Schriftart
das Wort Reden, die noch ein weiteres Drittel Bogen mehr enthält
als die Fraktur nach Dresdner Duktus. Und die Antiqua ist bekannt-
lich reicher an Bogen als die Fraktur, eben um etwa ein Drittel. Im
kleinen Alphabet, das zuerst geübt werden soll, gestaltet sich das
Verhältnis der Bogenzahl fast wie 1:2. Ich halte Antiquaschreib-
schrift der Lernweise der Hilfsschulkinder weniger entsprechend als
die Fraktur, namentlich für den ersten Lese- bezw. Schreibunterricht.
Und noch ein kurzes Wort zum Schluß über das Verhältnis von
Antiqua- und Frakturdruckschrift zum Werk- und Hilfsschulunterricht.
Für den ersten Leseunterricht in der Hilfsschule müssen wir ein
Alphabet fordern, das leicht erfaßt und im Gedächtnis behalten wird.
Nun macht man dem Frakturalphabet die Schnörkel und Anhängsel
zum Vorwurf und rühmt die vornehme Klarheit der Antiqua. Ich
möchte diese Vornehmheit Kälte nennen. Unsre Fraktur, ich denke
immer an die Offenbacher Schwabacher, hat etwas Zutrauliches an sich,
es läßt sich leicht etwas in sie hineindichten. Die Winkel und Verstecke
raunen unsern Schwachen Merkhilfen zu. An den glatten Rundungen
der Antiqua sucht das Auge vergebens einen Anhalt, ein Merkzeichen;
das Denken rutscht am Glasberg hinunter ins Meer des Vergessens.
Auf wie manche Buchstabengeschichte müssen unsre Schwachen ver-
zichten, denn mit den geometrischen Lateinbuchstaben ist weniger
anzufangen als mit der Fraktur. Und Stäbchenlegen allein tut es
nicht, um mit der Form den Laut behaltbar zu machen. Es muß
die Buchstabengestalt in ein Milieu hineingestellt werden, das mit
seinem Auftreten mit erwacht und den Laut erstehen läßt. Eigen-
artig, dies nur nebenbei, berührt es mich auch immer, wenn ich
Antiquarundformen gebrochen gelegt sehe wie beim R = K- Da
rühmt man die Rundform und benutzt Eckenform.
Es sei dem wie ihm wolle, mich hat die Erfahrung gelehrt, daß
Fraktur (Schwabacher) für den ersten Hilfsschulleseunterricht weit ge-
eigneter ist als Antiqua. Auf ihre Vorteile für die Lautentwicklung
kann ich hier nicht näher eingehen, darüber Ausführliches ein andermal.
152 B. Mitteilungen.
Auch für unsre Hilfsschulkinder möchte ich am Schluß ein Wort
von Goethes Mutter an ihren Sohn (Brief vom 25. Dezember 1807)
geltend machen:
Darum solange es geht —
Deutsch,
Deutsch geredet, geschrieben und gedruckt.
B. Mitteilungen.
1. Über die Grundlagen des modernen Taubstummen-
unterrichtes.
Von Karl Baldrian, Direktor an der n.-ö. Landes- Taubstummenanstalt
in Wr.-Neustadt.
Die moderne Taubstummenbildung fußt ungleich mehr als jede
Bildungsbestrebung für Hörende auf dem vornehmsten Erziehungsmittel,
dem Unterrichte, und zwar auf dem ganz eigenartigen, künstlichen Laut-
sprachunterrichte der Taubstummenschule, der diese zu einer Sprachschule
im wahrsten Wortsinne macht.
Sollen die Grundlagen des modernen Taubstuinmenunterrichtes klar
gelegt werden, so müssen die Ziele der dem Zöglinge künstlich zu ver-
mittelnden Sprachbildung wie die Art der Mittel zur Erreichung dieses
Zieles und deren Anwendung besprochen werden.
Was ist nun Ziel des Lautsprachunterrichtes in der Taubstummenschule?
Kein anderes als das, den Gehör- und deshalb Sprachlosen in den
Besitz der Wortsprache in Laut- und Schriftform zu bringen.
Und zu welchem Zwecke?
Um ihm zu ermöglichen, daß er mit der hörenden, sprechenden Welt
in laut- und schriftsprachlichen Verkehr treten könne, und daß er durch
die Wortsprache gebildet werde.
Der »Taubstumme« soll sich der Wortsprache der hörenden Menschen
seiner Umgebung bedienen lernen. Das heißt, er soll selbst sprechen und
reden und das gesprochene Wort anderer auffassen und erfassen oder ver-
stehen lernen.
Hat der »Taubstumme« sich die Fähigkeit erworben, mit Hörenden
sprachlich zu verkehren, dann ist er im Besitze — wenn auch bloß im
teilweisen Besitze der Lautsprache.
Gleich hier muß gesagt werden — um keine falsche Meinung ent-
stehen zu lassen —, daß der eigentliche Taubstumme, d. i. derjenige, der
wegen vollständiger Gehörlosigkeit sprachlos geblieben ist, selbst bei guter
geistiger Veranlagung und vollständig zweckentsprechenden Unterrichts-
maßnahmen sich nicht jene Sprachbeherrschung erwerben kann, zu der
unter gleichen Umständen der Hörende gelangt oder auch der Taub-
stumme selbst gelangt sein würde, wenn er das Glück gehabt hätte,
hörend geboren worden zu sein.
1. Über die Grundlagen des modernen Taubstummenunterrichts. 153
Dies hindert aber nicht im geringsten, den hohen Wert der auf künst-
lichem Wege zu erreichenden unvollständigen Sprachbildung des »Taub-
stummen« für die Praxis des Lebens wie für seine geistige und sitt-
liche Bildung voll anzuerkennen und zu würdigen.
Was eben die Natur versagt hat, kann auch die größte Kunst nicht
voll ersetzen.
Wie soll nun der Gehörlose und deshalb Stumme in den Besitz der
Lautsprache gelangen, wenn ihm der natürliche Weg zur Erwerbung der-
selben, der durch das Ohr nämlich, verschlossen ist?
Mit anderen Worten: Wie gestaltet sich der künstliche Weg der
Spracherlernung? Die Antwort auf diese Frage bringt folgende Ausführung:
Der Taubstumme muß vor allem das Lautliche der Wortsprache auf
denı Wege des Absehens und Abfühlens nachahmen und aus den Sprech-
bewegungen des Redenden durch das Auge das entnehmen lernen, was
zu ihm gesprochen wird.
Das Lautliche der Sprache, das ist Bilden der Sprachlaute, ihrer
Verbindungen zu Silben, Wörtern und Sätzen, wie das Absehen- oder
Ablesen-Lernen der Laute, Silben, Wörter und Sätze vermittelt dem Taub-
stummen der Artikulations- oder Lautierunterricht.
Der Taubstumme ist nach beendigtem Artikulationsunterrichte nicht
mehr »stumme«; er ist durch ihn »entstummt« worden und daher dann
»taubsprechende.
Parallel mit der Entstummung schreitet das Ablesen-Lernen des Ge-
hörlosen fort, der im Absehen des gesprochenen Wortes im Verlaufe der
Übungen zu stets wachsender Fertigkeit gelangt.
Aber auch die Ablesefertigkeit hat ihre Grenzen und kann nie das
Erfassen der Rede durch das natürliche Aufnahmstor, durch das Ohr,
ganz ersetzen.
Doch muß gesagt werden, daß intelligente Taubstumme eine erstaun-
liche Virtuosität im Ablesen des Gesprochenen erlangen können.
So vermittelt also der Artikulationsunterricht das Äußere der Laut-
sprache, das für den Hörenden vornehmlich hörbar, für den Gehörlosen
aber nur sichtbar und fühlbar ist.
Damit aber der Entstummte auch das Innere der Sprache, deren Geist
und Form, erkennen, verstehen und selbst anwenden oder gebrauchen lerne,
ist es nötig, daß ein besonderer Taubstummen -Sprachunterricht, der Ele-
mentarsprachunterricht der Taubstummenschule, dies anbahne.
Dieser hat vor allem das Bedürfnis des kindlichen Geistes nach
sprachlicher Äußerung zu berücksichtigen und daher das zu seinem Gegen-
stande zu machen, was das Kind erlebt, was sich für und durch dasselbe
ereignet, was in seiner Gegenwart und Umgebung geschieht und vorgeht.
Dabei kommt es hauptsächlich darauf an, daß der Gedanke, dem das Kind
allereinfachstes Sprachgewand geben will und soll, und die sprachliche
Form im Bewußtsein des kleinen Sprach- Sprechschülers zu einem orga-
1) Damit soll keineswegs gründliches Seelenstudium als entbehrlich hingestell
werden.
154 B. Mitteilungen.
nischen Ganzen verwachse, daß beides, Denken und Sprechen, eine Ein-
heit werde: das Denken in der Sprache, das Denksprechen und Sprach-
denken.
Ob nun der Vorgang im Elementarsprachunterricht im Kopfe des
Unterrichtenden diesem oder jenem System entspricht und diesen oder
jenen Namen führt — Anschauungsunterricht, verbundener Sach- und
Sprachunterricht, Umgangssprachunterricht, freier Sprachunterricht oder
sonst einen anderen — ist ganz und gar gleichgültig. Das sprachlose
Kind lernt nicht eher und nicht leichter sprechen, ob der Lehrer sein
Vorgehen nun so oder anders auffaßt und benennt.!) Es verlangt keine
fein ausgeklügelte Systematik und Benennung des Unterrichtsverfahrens,
wohl aber in diesem unter allen Umständen eines und das ist: Eingehen
in die kindliche Anschauungs-, Denk- und Fühlart, d. i. psychologisch
durchdachtes Darbieten interesseerweckenden Stoffes in einfachster Form,
damit sich der kleine Sprach- und Sprechschüler Sprachinhalt und Sprach-
gewand durch eigene Seelenarbeit mit Lust und Freude, den einzig wahren
Triebkräften für die künstliche Sprachaneignung, erwerben könne. Die
Kunst eines wahrhaft guten Unterrichtes liegt demnach darin, die besten
Vorbedingungen für eine leichte und nachhaltig wirkende Spracherwerbung
durch den Schüler selbst schaffen zu können.
Der auf Grundlage der Anschauung aufgebaute Elementarsprachunter-
richt hat durch 3—4jährige emsige Übung und Gewöhnung im Schüler
der Taubstummenschule die Basis für jede weitere Spracherlernung und
ein, wenn auch formell und inhaltlich beschränktes, doch freiverfügbares
Verkehrsmittel für den sprachlichen Umgang mit der vollsinnigen Mensch-
heit zu schaffen.
Der Elementarsprachunterricht, der also zum lebendigen Gebrauche
der Lautsprache zu führen hat, ist seiner inneren Natur nach einerseits
Begriffs- und Denkunterricht, andererseits Sprachformenunterricht.
Die stete Rücksichtnahme auf das Äußere der Sprache, das Lautlich-
Technische, das der gehörlose Schüler wegen seines Gebrechens nicht selbst
zu kontrollieren vermag, und auf ihr Inneres, das Begrifllich-Geistige wie
Logisch-Sprachformelle, im gesamten Sprachunterrichte und Unterrichte der
Taubstummenschule überhaupt, bildet das Wesentliche und Schwierige des
modernen Taubstummenunterrichtes.
Dabei kommt vornehmlich in Betracht, daß sowohl die Denk- als
auch Ausdrucksweise des Taubstummen durch den Lautsprachunterricht
umgestaltet werden muß.
Der noch nicht in der Lautsprache und durch sie unterrichtete Taub-
stumme denkt in Erinnerungsbildern sichtbarer Wirklichkeitserscheinungen
und Vorgänge, die er durch hinweisende und nachahmende Zeichen, durch
die Gebärde »andeutend«, oft auch »plastisch« wiederzugeben, also aus-
zudrücken sucht.
Des Taubstummen Denken wie sein Ausdruck hierfür haftet ursprüng-
lich an der Wirklichkeit, ist deren Spiegelbild und entbehrt jeglicher wort-
sprachlichen Einflüsse, da die Wortsprache für ihn solange nicht bestelıt,
bis sie ihm künstlich angebildet wird.
1. Über die Grundlagen des modernen Taubstummenunterrichts. 155
Der Vollsinnige denkt in der Lautsprache und drückt sich in ihr
und durch sie aus.
Soll nun auch der Gehörlose in der Wortsprache und durch sie sich
ausdrücken lernen, so muß er dahin gebracht werden, daß er 1. sein ur-
sprüngliches Denken in Bildern der Wirklichkeitserscheinungen entweder
ganz aufgebe oder doch wenigstens dieses mit den sprachlichen Trägern
der Begriffe, den Wörtern und Sätzen, innig verbinde, und 2. daß er
statt der Wiedergabe seines Denkinhaltes durch die darstellende Hand,
die »sprechende« Miene und sein ganzes »Gebahren« das für ihn aller-
dings nicht hörbare, sondern nur durch die Sprechmuskelempfindung wahr-
nehmbare Sprechen wähle.
Daß diese kurz angedeutete Umbildung des Denk- und Ausdrucks-
vorganges im Taubstummen möglich ist, hat der moderne Taubstummen-
unterricht an Tausenden von Gehörlosen gelehrt, und er zeigt es fort und
fort an einer stetig wachsenden Zahl taubstummer Schüler und zwar
immer eindringlicher durch stets höhere und schönere Erfolge in der
Sprachausbildung »Entstummter«.
Er zeigt aber auch und wird es ewig zeigen, daß dem Denkenkönnen
des Taubstummen in der Sprache, also dem Sprachdenken, und dem
Sprechen mit Denken, d. i. Denksprechenkönnen, eine bei den Individuen
verschieden lang dauernde Periode vorangeht, in der das ursprüngliche
Denken des Taubstummen mit dem Sprachdenken und die Gebärde mit
dem Sprechen einen mehr oder minder intensiven Kampf — die Intensität
desselber hängt von mancherlei Umständen ab, als da sind: Intelligenzgrad
des Schülers, das Milieu, in dem er lebt, Konsequenz des Sprachlehrers
u. dgl. — führen.
Soll in diesem Kampfe die Lautsprache Siegerin werden, so muß so
früh wie möglich der Lautsprachunterricht beginnen, damit das Denken in
bloßen Erinnerungsbildern der Wirklichkeitserscheinungen, also ohne
Assoziation mit den sprachlichen Begriffsträgern, wie die Gebärde im
Taubstummen nicht durch allzugroße Übung zur tiefsten Gewohnheit werde
und damit sobald als tunlich Sprachdenken und Sprechen in Anwendung
und Gebrauch kommen. »Jung gewohnt, alt getan« und »früh übt sich,
wer ein Meister werden will« sind auch für die Überwindung der physio-
logisch-psychischen Schwierigkeiten bei der künstlichen Sprachaneignung
Wahrworte von tiefster Bedeutung.
In »Fleisch und Blut« wird aber Sprachdenken und Denksprechen
nur dann »übergehen«, wenn sie in allen Lebenslagen, also nicht etwa
bloß während des Unterrichtes, sondern auch und besonders im Verkehre
mit allen Menschen in der Umgebung des Sprachlehrlings zur Anwendung
kommen, anfangs sporadisch, je später aber, desto häufiger und umfangreicher.
Ist dann endlich, nach ungefähr 6—8jähriger Übungszeit dem »Taub-
stummen« die Denk- und Ausdrucksform der Vollsinnigen zur »zweiten
Nature — seine »erste« ist das Denken in Bildern und die Gebärde —
geworden, dann kann durch die Lautsprache der Sprachschüler in aus-
giebigster Weise — weniger tiefgehend kann es auch schon in früheren
Jahren geschehen — aus dem Gebiete der Sachlichkeit des Sprachstoffes
156 B. Mitteilungen.
in die unbegrenzten Regionen des rein Begrifflichen emporgehoben werden,
wobei der Intelligenzgrad des Schülers den Haltepunkt angibt. Leider muß
aus ökonomischen und sozialen Gründen — der Taubstumme, der durch
seiner Hände Fleiß seinen Unterhalt finden soll, muß frühzeitig genug zur
Erlernung eines Handwerks kommen — der Unterricht nach längstens
Sjähriger Dauer abgebrochen werden, also zu einer Zeit, da die Laut-
sprache im Geiste des Schülers erst recht lebendige Wurzeln geschlagen
hat, da sie als Erklärungsmittel für Höheres im Geistes- und Sprachleben
erst leicht und intensiv zur Anwendung kommen könnte.
Aus dem Gesagten ergibt sich, daß die moderne Taubstummenschule
im Vergleiche mit der »alten«, die ibre Schüler lehrte, sich durch Ge-
bärde (und Schrift) auszudrücken, also keine Umbildung des Denkvorganges
in solcher Tiefe, wie es durch die moderne Schule geschieht, zu erzielen
suchte, ein ungleich schwierigeres Stück Arbeit zu vollbringen hat.
Dafür kann sie aber auch nicht bloß Denken, sondern auch Fühlen,
Wollen und Handeln ihrer Schüler und Zöglinge intensivst — auf laut-
sprachlichem Wege — beeinflussen und bilden.
Um Zweifel auszuschließen sei noch beigefügt, daß die moderne
Taubstummenschule neben und mit der Pflege der Lautform der Wort-
sprache auch die Schriftform derselben — Niederschreiben von Gedanken
und Lesen in Schrift niedergelegter Gedanken — übt, aber vornehmlich
im Dienste der Erlernung der Lautform der Sprache.
Daß die Denkform in Bildern, ohne Verknüpfung des Gedachten mit
Worten, und die in der Lautsprache grundverschieden sind, ist zwar nicht
demonstrierbar — weil psychische Vorgänge überhaupt nicht darstellbar
sind —, wohl aber unschwer »auszudenken«.
Der wichtigste Anhaltspunkt für die Gedankenfolge hierbei liegt im
Vergleiche der aus der Verschiedenartigkeit der beiden Denkformen sich
ergebenden Unterschiede ihrer Ausdrucksformen: der Gebärde und des
Sprechens in Sätzen. Beide sind durch sinnlich wahrnehmbare Vorgänge
erkennbar und ohne Spekulation oder indirekte Schlußfolgerung analysierbar.
Die Resultate der Analyse sind dort: Wort- und satzformenlose Aneinander-
reihung von Gebärdenzeichen ohne bestimmte Folge, hier: Verwendung von
Wortformen (Deklination, Konjugation, Komparation, Kopula) zur Dar-
stellung der Beziehungen der Begriffe aufeinander (Urteile) und die An-
wendung von Satzformen (Gebrauch der Konjunktionen) zur Bezeichnung
der Gedankenbeziehungen (Schlüsse, Folgerungen) sowie die gesetzmäßig
bestimmte Wortfolge.
Zwei einfache Beispiele mögen durch Gegenüberstellung das Gesagte
beleuchten:
1. für Begriffsbeziehung:
Lautsprachform: »Du bist brav.« Die Begriffe »du« und »brave« er-
halten durch die Kopula den Ausdruck ihrer bestimmten Beziehung. Die
bestimmte Wortfolge »Du, bist, brav« gibt den Charakter der Aussage
wieder und unterscheidet sich von der Frage- oder Befehlsform (Bist du
brav? Sei [du] brav!)
1. Über die Grundlagen des modernen Taubstummenunterrichts. 157
Gebärde: Zeichen für »du«, d. i. Hinweis auf die angesprochene
Person und Zeichen für »brav«, d. i. Streicheln der eigenen rechten Wange
mit der eigenen Rechten. Die beiden Zeichen können auch in umgekehrter
Folge erscheinen, ohne daß der Sinn geändert würde.
Erst die fragende Miene oder der warnend erhobene Zeigefinger der
Rechten würden Frage oder Befehl ausdrücken helfen.
2. für Gedankenbeziehung:
Lautsprache: »Du darfst heute nicht spazieren gehen, weil du un-
folgsam warst.« Die Angabe der in der Gebärde verwendeten Zeichen
für diese Gedankenfolge läßt ohne weiteres erkennen, daß Wort- und Satz-
formen in der Gebärde vollständig fehlen.
Gebärde: Zeichen für »du« (wie oben) für »heute« d. i. konventionell `
geübte, wiederholte Abwärtsbewegung des Zeigefingers der Rechten, Zeichen
für »spazieren gehen«, d. i. Nachahmen des Ausschreitens der Beine mittelst
Zeige- und Mittelfinger der Rechten in der Luft, Zeichen für »nichte, d. i.
die auch von Hörenden verwendete Handbewegung der Verneinung, Zeichen
für »du« und für »unfolgsam«, d. i. Trotz anzeigende Rückbewegung des
Kopfes. Es kommt daher weder »dürfen«, noch weniger die 2. Person
dieses Verbs, auch nicht das Hilfszeitswort »sein«, also auch nicht eine
Zeit- oder Personenangabe desselben, nicht das »Binde«wort »weil« und
nicht die im Nebensatze auftretende Inversion zum Ausdrucke.
Stellt man die Verschiedenartigkeit der laut- uud gebärdensprachlichen
Ausdrucksformen einander gegenüber, so ergibt sich daraus wohl von
selbst, daß die Umbildung der Ausdrucksfähigkeit in der höchst un-
zureichenden Gebärdensprachform in die der fein systemisierten Laut-
sprachform im Taubstummen ein äußerst schwierig zu lösendes päda-
gogisches Problem bildet.
Noch schwieriger gestaltet sich die Umformung der der Ausdrucks-
form zugrunde liegenden Denkform, die erst durch konsequente Übung in
der Umbildung der Ausdrucksform zur Wahrheit wird.
Faßt man schließlich zusammen, was nötig ist, um den Taubstummen
die Wortsprache der Hörenden zu lehren, so ergibt sich, daß die Grund-
lagen hierzu sind:
1. Der Artikulations- und Ableseunterricht, mit dem der erste
Schreib- und Leseunterricht einhergeht,
2. der sogenannte Begriffsunterricht, der sich mit der Erklärung
des geistigen Inhaltes der Sprache befaßt, also nicht bloß mit der Klar-
stellung der Begriffe, sondern auch mit der Urteils- und Schlußbiklung und
3. der Sprachformenunterricht, der nicht als »Sprachlehre«,
sondern als ein lebendiger Sprachformen-Anschauungsunterricht dem Schüler
die sprachlichen Erscheinungen für den Ausdruck der Beziehungen der
Begriffe und Gedanken zueinander erklärt und sie ihn anwenden lehrt.
Nur eine völlige gegenseitige Durchdringung dieser drei gleichwichtigen
Zweige des künstlichen Lautsprachunterrichtes in der Praxis kann eine
gediegene Sprachbildung bewirken, die sicherste Gewähr und das zweck-
dienlichste Mittel zur Erreichung einer menschenwürdigen Geistes-, Herzens-,
Willens- und Charakterhebung und -veredlung des Gehörlosen.
158 B. Mitteilungen.
2. Die Rachensprache der Kehlkopflosen.
Von Lehrer Karl Nickel, Beriin.
Die rein mechanische Sprechtätigkeit vollzieht sich unter normalen
Umständen derart, daß der in der Lunge in Spannung versetzte Exspirations-
strom die Stimmbänder des Kehlkopfes in Schwingung versetzt. Die
daraus resultierende Stimme erfährt durch Gestaltsveränderung des Ansatz-
rohres ihre vokalische und zum Teil konsonantische Modifikation. Der
Exspirationsstrom entweicht bei der Vokalbildung unter vollständigem
Choanenverschluß hindernislos aus der Mundhöhle; bei den Konsonanten
dagegen muß er behufs Hervorbringung des ihnen eigenen Geräusches in
dem Mundkanal eine Enge passieren oder auf einen Verschluß stoßen.
Das exakte Zusammenwirken der einzelnen Teile des Sprechapparates läßt
dann die Darstellung der lautlichen Seite der Sprache wie aus einem Guß
erstehen. Danach müßte schon bei Ausschaltung des stimmerzeugenden
Faktors im menschlichen Sprechmechanismus die Darstellung von Lauten
und Lautkomplexen als anatomische Unmöglichkeit erscheinen.
Bei totaler Entfernung des Kehlkopfes lassen die Ärzte aus mancherlei
Gründen das obere Ende der Luftröbre in der vorderen Wand des Halses
nach außen münden. Dadurch wird jede Kommunikation zwischen Lungen-
luft und Rachenhöhle aufgehoben, so daß der aus der Lunge tretende
Exspirationsstrom nutzlos entweicht und für die Stimmbildung keine Be-
deutung mehr hat. Auch bleiben in diesem Falle die Mund- und Nasen-
höhle als natürliche Atmungswege für die Lungentätigkeit ausgeschaltet.
Somit kommen zwei für die Lautbildung notwendige Faktoren: der
Kehlkopf als stimmbildendes und die Lunge als lufterzeugendes Sprech-
werkzeug in Wegfall. Mithin bleiben für die Erlernung der Rachensprache
nur die modifizierenden Sprechwerkzeuge intakt. Ihnen fällt die Aufgabe
der Lufterzeugung, der Rachenstimmbildung und der Lautgestaltung zu.
Nach einem allgemeinen physikalischen Gesetz füllt die Luft jeden
sich ihr bietenden Raum aus. Infolgedessen sind auch Nasen- und Mund-
höhle dieser Patienten ständig mit Luft gesättigt. Die nun bei den Sprech-
bewegungen des Artikulationsmechanismus nachdringende Luft wird ver-
möge der Rachen- und Mundmuskeltätigkeit durch die Artikulationsstellen
hindurchgepreßt und in dem am oberen Ende der Speiseröhre sich all-
mählich bildenden Luftsack gesammelt. Dadurch gewinnt das zum Sprechen
notwendige Luftvolumen, das naturgemäß anfangs gering ist, an Quantität.
Dieses Luftquantum, das mit Hilfe der Schlundmuskulatur in Bewegung
gesetzt wird, ruft eine Vibration der sich beim Sprechakte nähernden
Schleimhautfalten der Rachenwände hervor und erzeugt auf diese Weise
die »Pseudostimme«. Diese wird durch zweckentsprechende Stellung des
Ansatzrohres lautlich modifiziert. Je mehr Luft geschluckt wird, um so
größer wird der Luftsack (Windkessel), um so lauter und anhaltender die
Rachenstimme. Wird z. B. von seiten des Patienten ein größeres Quantum
verschluckter Luft unwillkürlich ausgestoßen und spricht derselbe während
eines solchen Ruktus, so sind die Worte laut und deutlich zu vernehmen.
Im August 1888 erregte die spontane Sprache eines Patienten von
2. Die Rachensprache der Kehlkopflosen. 159
H. Schmidt in Stettin bei fehlender Kommunikation zwischen Lungenluft
und Rachenhöhle allgemeines Erstaunen. Nach Landoir wurde diese
Sprache Pseudostimme genannt. Was nun dieser Patient instinktiv durch
akkomodative Anpassung und Übung erreicht hatte, suchte man den er-
folgreich Operierten durch zweckentsprechende Artikulations- und Sprach-
übungen in denkbar vollkommenster Weise zu verschaffen. So mehrten
sich die Fälle, in denen die Pseudostimme sprachlich vortrefflich angewandt
wurde. Auch ich habe mehrere Patienten von Gluck-Sörensen in der Er-
lernung der Rachensprache unterrichtet und alle sind wieder in ihr Be-
rufsleben, das bei einigen Herren sogar weitgehende mündliche Verhand-
lungen bedingt, erfolgreich eingetreten.
Zur Frage der Methodik sei kurz folgendes erwähnt. Nachdem einige
Vorübungen zum Sprechen mit dem Artikulationsmechanismus angestellt
sind, schreite ich sofort zur Forcierung der Pseudostimme. Zunächst
kommen solche einsilbigen Lautverbindungen zur Übung, deren Konsonanten
im An- und Auslaut dem 1. und 3. Artikulationsgebiete angehören. Bei
den sich anschließenden zweisilbigen Lautzusammensetzungen ist der An-
fangskonsonant der 2. Silbe ein Explosivlaut des 2. Artikulationsgebietes.
Neben diesen Silbenreihen, die an Umfang zunehmen und direkt zum
Ziele steuernde Zusammensetzungen enthalten müssen, gelangen mehr-
silbige konsonantenreiche Wörter zum Sprechen, mit denen gleichzeitig
Sätze gebildet werden. Die Reihenfolge der Übung hat nach didaktischen
Grundsätzen und nicht nach von Sprachforschern aufgestellten Systemen
zu erfolgen. Die jeweilige Adaptationsfähigkeit und die Individualität des
einzelnen Patienten erfordert auch hier die größtmöglichste Berücksichti-
gung. Von Leseübungen während der Unterrichtsstunden nehme ich
möglichst Abstand; sie erschweren die Kontrolle der beim Sprechakte auf-
tretenden Fehler. Die Rachenstimme erlernt der Patient oft in ver-
blüffender Weise recht früh, während die Stärke der Stimme und die Be-
herrschung der technischen Sprechschwierigkeiten erst nach längerer Übung
eintreten. Je fleißiger und gewissenhafter aber der Geheilte übt und jede
sich ihm bietende Gelegenheit zum Sprechen ausnützt, desto früher wird ihm
die Sprache geläufig werden. Vor Übertreibungen ist natürlich zu warnen.
Um beim Sprechakte entstehende Nebengeräusche erfolgreich zu be-
kämpfen, müssen die ersten Sprechübungen mit völliger Ausschaltung der
Atembewegung der Brust gemacht werden. Dieses wird erreicht durch
Festhalten der Inspirationsstellung. Daneben muß der Regulierung der
zum Sprechen notwendigen Luft sowie der Herstellung der rechten Wechsel-
beziehung zwischen Denk- und Sprechtätigkeit die größte Sorgfalt ge-
widmet werden. So fördert man einerseits den Fluß der Sprache und
beugt andererseits der Entstehung auffallender unnatürlicher Mitbewegungen
der Mundmuskulatur vor, welche die Deutlichkeit und Natürlichkeit der
Sprache sehr beeinflussen. Die Rachensprache steht zwar an Wohlklang
unserer durch normale Sprechwerkzeuge erzeugten Sprache nach, setzt aber
immerhin den Geheilten in den Stand, seiner beruflichen Tätigkeit voll-
ständig nachgehen zu können. Selbst durch das Telephon können die sn
Sprechenden verstanden werden.
160 B. Mitteilungen.
Durch die Erlernung der Rachensprache ist jedem Beteiligten ein
Mittel in die Hand gegeben, sich seinem Lebensberuf und der mensch-
lichen Gesellschaft als tätiges Glied zu erhalten. So verlieren die Kehl-
kopfoperationen das schreckenbringende Moment, daß der Operierte dauernder
Stummheit verfällt, und dankbaren Sinnes blicken die nunmehr Geheilten
trotz der Größe des Unglücks, das sie betroffen, auf die Errungenschaft
ärztlicher Kunst.
3. Zeitgeschichtliches.
Der erste selbständige Lehrstuhl für Pädagogik in Preußen ist durch
die Ernennung von Alfred Rausch zum Dozenten für Bildungswesen und allge-
meine Didaktik an der Universität Halle geschaffen.
Eine »Wilhelm Wundt-Stiftung« in Höhe von 7000 Mark wurde Wundt
zum 80. Geburtstag überreicht. Es soll damit ein Instrumentarium für psycho-
logische Akustik und Phonetik für das Leipziger psychologische Institut beschafft
werden.
Den Wortlaut des Wundt zu seinem 80. Geburtstag vom Leipziger Lehrer-
Verein überreichten Diploms über die Ernennung zum Ehrenmitglied des Psycho-
logischen Instituts des Vereins in Leipzig nebst dem Dankschreiben Wundts ent-
hält Heft 2 (November) des 24. Jahrgangs der »Neuen Bahnen«. Die Antwort
Wundts ist besonders bedeutungsvoll, weil er darin mit klaren Worten seine
Stellung zur experimentellen pädagogischen Psychologie kennzeichnet.
Bringt materielles und soziales Aufsteigen den Familien Gefahren in rassen-
hygienischer Beziehung? So lautet das Thema einer Preisaufgabe der Berliner
Gesellschaft für Rassenhygiene. Als Preise sind 400 und 200 Mark für die
beiden besten Arbeiten ausgesetzt. Nähere Auskunft erteilt Dr. Korff-Petersen
in Charlottenburg, Marchstraße 15.
An der Hochschule für Frauen in Leipzig (Königstraße 18) lesen unter
anderm im laufenden Wintersemester 1912/1913: Privatdozent Dr. Brahn, »Ein-
führung in die experimentelle Pädagogik«e und »Kinderpsychologische Übungen«
(selbständige Beobachtungen an drei- bis sechsjährigen Kindern); Dr. Prüfer, »Die
Erziehung des Kindes in den ersten sieben Lebensjahren«, »Besprechung moderner
Erziehungsfragen«, »Friedrich Fröbels Grundzüge der Menschenerziehung von 1833«;
Oberregierungsrat Dr. Dietrich, »Grundlagen der Fürsorgeerziehung« und »Übungen
über ausgewählte Kapitel der Jugendfürsorge«; Sanitätsrat Dr. Taube, »Theoretische
und praktische Säuglingspflege und Säuglingsfürsorge«.
Ein Ausbildungskursus für Lehrer von Ausnahmekindern, ver-
anstaltet von der National Association for the study and education of exceptional
children, fand vom 8. Juli bis zum 17. August unter Leitung von Dr. päd. Maxi-
milian P. E. Großmann statt. Wie wir einem uns zugegangenen Bericht entnehmen,
sind die Kurse sehr erfolgreich verlaufen. Für das Winterbalbjahr ist ein mehr-
monatlicher Kurs geplant, für den Sommer 1913 ein weiterer.
Der Lehrerverband des dänischen Enthaltsamkeitsvereins veranstaltete einen
Kursus in Gesundheits- und Alkohollehre, zu dem das Kultusministerium
eine Beihilfe von 400 Kr. bewilligte.
Der III. Deutsche Kongreß für Krüppelfürsorge findet zu Pfingsten
1914 in Heidelberg statt. Zuschriften an die Geschäftsstelle der Deutschen Ver-
einigung für Krüppelfürsorge E. V., Berlin W. 62, Bayreutherstraße 13.
Ein internationaler Jugendfürsorgekongreß findet 1913 in Brüssel
statt. Die einzelnen Sektionen werden sich befassen mit der Zuständigkeit der
Jugendgerichte, mit der Schutzaufsicht für normale und anormale Kinder, mit der
Berufsvormundschaft für uneheliche Kinder, mit der Vereinheitlichung der Methoden
der Kindersterblichkeitsstatistik und mit der Propaganda der Kinderhygiene. Außer-
dem wird gemeinschaftlich die Schaffung eines internationalen Jugendfürsorgeamtes
besprochen.
3. Zeitgeschichtliches. 161
Die Stadtverwaltung von Köln plant für 1915 eine große Ausstellung, die
unter der Bezeichnung »Das Kind« einen systematischen Überblick über die körper-
liche und geistige Entwicklung des Kindes geben soll.
Stiftungen, Schenkungen usw.: zur Errichtung eines Erholungsheims
für lungenkranke Kinder erhielt der Kreis Neustadt (O.-Schl.) 150000 Mark.
In Fulda wurde am 19. Oktober 1912 ein Krüppelheim für die Provinz
Hessen-Nassau eingeweiht.
Eine österreichische Gesellschaft für Schulhygiene hat sich auf An-
regung und unter Vorsitz von Prof. Leo Burgerstein gebildet. Anmeldungen und
Anfragen sind zu richten an Dr. Mathilde Gstettner, Wien VII, Neubaugasse 80.
2 In Preußen können nach amtlicher Verfügung vorschriftsmäßig approbierte
Arztinnen als Schulärztinnen an Mädchenschulen zugelassen werden.
Der Reichskanzler bewilligte dem deutschen Zentralkomitee für Zahn-
pflege in den Schulen eine einmalige Beihilfe von 5000 Mark, um eine Wander-
ausstellung für Schulzahnpfiege einrichten zu können.
Ein Merkblatt für Zahnpflege der Volksschulkinder ist im Selbst-
verlag des Verfassers, Schularzt Dr. Carl Schmidt in Friedrichsfelde bei Berlin,
erschienen und zum Preise von 1,50 Mark für 50 Stück zu beziehen.
Die Notwendigkeit der Zahn- und Mundpflege in den Schulen wird
in einem Erlaß der Regierung von Mittelfranken betont. Im Unterricht sollen Ge-
sundheitsregeln über die Zahnpflege gelehrt werden.
Das Pfleg- und Jugendfürsorgeamt in Leipzig hat am 9. Oktober 1912
folgenden bemerkenswerten Erlaß bekannt gegeben: »Bei der Auswahl von Pflege-
stellen für Kinder muß von uns gefordert werden, daß Familien nicht gewählt
werden, in denen ein Familienmitglied zum Trunke neigt. Da Kindern alko-
holische Getränke nicht verabreicht werden sollen, und da insbesondere kleine
Kinder durch Alkoholgenuß schwer geschädigt werden können, ist es Pflicht aller
bei der Kinderpflege und -aufsicht beteiligten Personen, der Verabreichung von
Alkohol an Kinder entgegenzutreten.«
Der Gemeinderat von Jena hat einstimmig beschlossen, in den städtischen
Etat fortan eine bestimmte Summe einzustellen zur Aufklärung der Jugend
über die Schädlichkeit des Alkoholgenusses. Und zwar sollen aufklärende
Schriften in den oberen Klassen der Volksschulen, der Fortbildungsschulen und der
städtischen Oberrealschule zur Verteilung gebracht werden.
Ein Bewahrungsheim für Jugendliche ist in Frankfurt a.M. ein-
gerichtet. Ein Einfamilienhaus in einem Vorort gewährt zunächst 13 Knaben oder
Mädchen im Alter von 13 bis 16 Jahren Aufnahme. Die Einrichtung wurde er-
möglicht durch eine Stiftung von 10000 Mark.
Eine Kinderkolonie des sächsischen Volksheilstättenvereins für Lungen-
kranke ist am Adelsberg in Oberhermersdorf eröffnet. Sie dient zur Aufnahme
durch ihre Umgebung tuberkulös gefährdeter Kinder. Aufnahmegesuche sind an
die Amtshauptmannschaft Chemnitz zu richten.
Der Guttemplerverein für Ferienkolonien e. V. konnte im Sommer
1912 rund 150 Kinder in Koloniepflege schicken. Außer 400 korporativen Mit-
gliedern gehören dem Verein bald 1000 Einzelpersonen an. Zuschriften an die
Geschäftsstelle, Hamburg 30, Eppendorferweg 265.
Aus dem statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich, Jg. 33,
1912 (Berlin, Puttkammer & Mühlbrecht, 1012. XXXIH u. 558 S. Preis 2 Mark)
seien folgende Zahlen hervorgehoben: die Zahl der Geburten ist von 32,0 auf
1000 Einwohner im Jahre 1909 auf 30,7 im Jahre 1910 zurückgegangen, die Zahl
der Lebendgeborenen von 31,0 auf 29,8. Unehelicher Geburt waren 9,1°/, der
Kinder. Im ersten Lebensjahr starben auf 100 Lebendgeborene
1908 1909 1910
überhäupt... 2. 2.3. 1.50 3,8 17,0 16,2
eheliche Kinder. . . . . 168 16,0 15,2
uneheliche Kinder. . . . 28.5 26,8 25,7
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 11
162 B. Mitteilungen.
Von den im Jahre 1910 wegen Verbrechen und Vergehen gegen die Reichs-
gesetze Verurteilten waren 12 bis unter 18 Jahre alt 51325. Die Jugendlichen
partizipieren an den Verurteilungen wegen Brandstiftung zu 30,6°/,, Diebstahl 24°/,,
Raub und Erpressung 21°/,, Unzucht und Notzucht 17,5°/,, Hehlerei 15,7°/,, Sach-
beschädigung 14,30/,.
Aus dem jüngst erschienenen statistischen Jahrbuch für den Preußi-
schen Staat, Jg. 9, 1911 (Berlin, Verlag des Königlichen Statistischen Landesamts,
1912. XXXII und 636 Seiten. Preis geb. 1,60 Mark) verdienen folgende für uns
beachtenswerte Zahlen mitgeteilt zu werden: die Zahl der Geburten auf je
1000 Lebende hat von 32,7 im Jahre 1909 weiter auf 31,5 im Jahre 1910 abge-
nommen. Die Säuglingssterblichkeit ist von 185 auf 1000 Lebendgeborene
im Jahre 1904 auf 157 im Jahre 1910 zurückgegangen. Rechtskräftig ver-
urteilt wurden in Preußen 1909 26458 männliche und 4923 weibliche Jugendliche,
die zur Zeit der Tat im Alter von 12 bis unter 18 Jahren standen. Die absolut
häufigsten Verbrechen und Vergehen Jugendlicher waren Diebstahl, Körperverletzung,
Sachbeschädigung. Der Fürsorgeerziehung wurden überwiesen im Rechnungs-
jahr 1909 8008 Minderjährige; unehelicher Geburt waren davon 1011, schlechten
Neigungen (Landstreicherei, Betteln, Trunksucht, Unzucht, Diebstahl) ergeben 3683,
geistig beschränkt 780, schwachsinnig, idiotisch oder epileptisch 172, mit dauernden
körperlichen Gebrechen behaftet 799, gerichtlich bestraft 2317 (davon mit Gefängnis
1690). Die Gesamtkosten aller in Fürsorgeerziehung befindlichen Minderjährigen
betrugen 10102770 Mark gegen 9021932 Mark im Rechnungsjahre 1908 und gegen
6776116 Mark im Rechnungsjahre 1905.
Nach den Medizinalstatistischen Nachrichten, Jg. 4, 1912/13, Heft 2, starben
von 1000 Lebendgeborenen im ersten Lebensjahre in Preußen
1910 1911
überhaupt . . hen TORSE 187,71
in den Stadtgemeinden . RT a 10,0) 187,47
in den Landgemeinden . . 160,44 187,89
bei den Ehelichen in den Städten . . 141 174
auf dem Lande . 153 179
bei den Unehelichen in den Städten . 257 298
no y s auf dem Lande. 283 328
Über den Zugang an Jugendlichen in den 353 preußischen An-
stalten für Geisteskranke, Epileptiker, Idioten, Schwachsinnige und
Nervenkranke entnehmen wir den Medizinalstatistischen Nachrichten, Jg. 4,
1912/13, Heft 1, folgende Daten (die Angaben beziehen sich auf Krankheitsfälle):
Von je 100
ia ce Zugang Davon waren
Krankheitsform > des Zugangs waren
überhaupt unter 16 Jahren anter. 16 Jahren
mn [mm on mn m mn
m. w. m. w. m. w.
1. Einfache Seelenstörung 11397 12121 115 60 1,01 0,50
2. Paralytische Seelen-
störung. . 3 070 971 3 4 0,10 0.41
3. Imbezillıtät und Idiotie 3051 1798 1064 596 34,87 33.15
4. Epilepsie mit und ohne
Seelenstörung . . . 3318 1339 394 174 11,87 12,99
5. Hysterie . .... 697 2 043 42 35 6,03 1,71
6. Neurasthenie. . . . 2419 1278 13 7 0,54 0,55
Ta Chorea-a a. 1.00 8% 51 138 22 56 43,14 40,58
8. Tabes . . 259 83 — 2 — 2,41
9. Andere Krankheiten des
Nervensystems . . . 2001 1205 58 58 2,90 4,81
10. Andere Krankheiten . 1230 1301 41 33 3,33 2,54
Zusammen 27493 22277 1752 1025 545 450
3. Zeitgeschichtliches. 163
Über die Taubstummen und Blinden in der Bevölkerung Preußens
in den Jahren 1910 und 1905 macht Dr. Robert Behla in den Medizinalstatisti-
schen Nachrichten, Jg. 4, 1912/13, Heft 1, interessante Mitteilungen, denen folgende
für uns wichtige Zahlen entnommen seien:
1910 1905
L———— e e aa mn
überhaupt m. w. überhaupt m. w.
Gesamtzahl der Taubstummen 34804 18659 16145 33567 18096 15471
bis 5 Jahre alt . . r 920 501 419 809 452 357
über 5 bis 10 Jahre alt. . 3149 1720 1429 2735 1501 1234
„10,15 5 „o . 3595 1968 1627 3321 1799 1522
BO SOMAT TOG- -L381 2749 150 1229
Auf 10000 Einwohner kamen
Gesamtzahl der Taubstummen 8,7 9.4 7,9 9,0 9,8 82
bis 5 Jahre alt . . ` 1,8 2,0 1,7 1,7 1.9 1,5
über 5 bis 10 Jahre alt . b 6,8 7,4 6,2 6,3 6,9 5,7
SER N A x 9,1 7,6 8,4 9.0 7,7
DO et 7,8 84 GL 7,6 8,4 6,9
5,54°/, der ermittelten Taubstummen war noch mit anderen Gebrechen be-
haftet, und zwar war der größte Teil von diesen taubstumm und geisteskrank oder
geistesschwach, kleinere Prozentsätze waren taubstumm und blind oder gar taub-
stumm, blind und geisteskrank oder geistesschwach. In den 48 vorhandenen An-
stalten waren 1910 5050 Zöglinge untergebracht, von denen 3001 in den Anstalten
selbst wohnten.
1910 1905
nn mn nn a e e a, [| en (rn nn
überhaupt m. w. überhaupt m. w.
Gesamtzahl der Blinden . . 20953 10956 9997 21019 10979 10040
bis 5 Jahre alt . . Da 403 239 164 378 198 180
über 5 bis 10 Jahre alt er 637 370 267 527 303 224
10.5.3555 ar ho 878 519 359 850 489 361
a AD a aO ec 933 540 393 947 567 380
Auf 10000 Einwohner kamen
Gesamtzahl der Blinden 5,2 5,5 49 5,6 6,0 5,3
bis 5 Jahre alt . . ; 0,8 0,9 0,7 0,8 0,8 0,7
über 5 bis 10 Jahre alt . 1,4 1,6 1,2 1,2 1,4 1,0
EIER | 1 Papa E ne En 1 2,0 2,4 1,7 21 2,4 1,8
a AD OA 2,4 2,7 2.0 2,6 3,1 2,1
18,57 °/, sämtlicher Blinden waren in Anstalten untergebracht. 3,58°/, waren
noch von anderen Gebrechen heimgesucht. Sie verteilen sich auf die einzelnen
Rubriken ähnlich wie die Taubstummen.
Eine »Deutsche Bücherei« wird in Leipzig eingerichtet. Sie wird die ge-
samte deutsche Literatur sowie die in Deutschland erscheinende fremdsprachige
Literatur vom 1. Januar 1913 an sammeln und an Ort und Stelle zu unentgeltlicher
Benutzung zur Verfügung halten. Die Einrichtung, die auch für unsere Zwecke
vom größten Wert ist, ist dem Börsenverein der deutschen Buchhändler zu ver-
Tr Die sächsische Regierung sowie die Stadt Leipzig unterstützen das neue
nstitut.
Die Deutsche Dichter-Gedächtnis-Stiftung in Hamburg - Großborstel,
die unter den Organisationen zur Bekämpfung der Schundliteratur wohl
einen der ersten Plätze einnimmt, versendet soeben ihren Jahresbericht für das
Jahr 1911, der einen Überblick über die außerordentlich rege Arbeit gibt. Leider
ist die Mitgliederzahl der Stiftung nur unwesentlich gestiegen (von 9077 auf 9552),
und das trotz des sehr niedrigen Jahresbeitrags von nur mindestens 2 Mark.
Eine Übersicht über »Die Psychologie Wilhelm Wundts« von Oswald
Passkönig ist bei Siegismund & Volkening in Leipzig erschienen (Preis gebunden
3,80 Mark).
11*
164 C. Zeitschriftenschau.
Meumanns 1903 zuerst erschienene Arbeit über »Ökonomie und Technik
des Gedächtnisses (des Lernens)« ist bei Julius Klinkhardt in Leipzig nunmehr
in 3. erweiterter und verbesserter Auflage erschienen (Preis gebunden 4,80 Mark).
Der stenographische Bericht über den II. Deutschen Kongreß für
Krüppelfürsorge (München, 29. Mai 1912) ist soeben als Heft 3 des V. Bandes
der Zeitschrift für Krüppelfürsorge im Umfang von etwa 180 Seiten erschienen
und für Nichtbezieher der Zeitschrift zum Preise von 8 Mark durch den Verlag
von Leopold Voss in Leipzig zu beziehen.
Über die Verhandlungen der fünften österreichischen Konferenz
der Schwachsinnigenfürsorge liegt uns ein ausführlicher Bericht vor, der den
Titel trägt: Das schwachsinnige Kind im Lichte der neueren Forschungen, IH. Bd.
Das Buch, das 196 Seiten umfaßt und 69 Kunstdruckabbildungen enthält, ist zum
Preise von 3 K 20 h portofrei zu beziehen vom Verein »Fürsorge für Schwach-
sinnige und Epileptische«e in Wien XVIII, Anastasius Grüngasse 10.
C. Zeitschriftenschau.
I. Psychologie.
l. Ergebnisse der Beobachtungspsychologie.
Compayre, Gabriel, Seine Majestät das Kind. Zeitschrift für Jugenderziehung
und Jugenfürsorge. III, 2 (1. Oktober 1912), S. 33—39; 3 (15. Oktober), S. 68
bis 71; 4 (1. November), S. 100—103.
Wendet sich gegen manche Übertreibungen, die entstehen, wenn überall das
Kind in den Mittelpunkt gerückt wird, und gegen manche Arten, das kindliche
Seelenleben zu erforschen, ohne dabei aber die Bedeutung dieser Erforschung und
der Beschäftigung mit dem Kinde überhaupt aus dem Auge zu verlieren. »Noch
ist für Rettung und Schutz der Kinder viel, sehr viel zu tun.«
Wilker, Karl, Eine kinderpsychologische Untersuchung für die Eltern. Deutsche
ülternzeitschrift. IV, 1 (1. Oktober 1912), 8. 1—4.
Fordert die Eltern auf, mitzuwirken an einer Untersuchung über die Entwick-
iung der Anschauung von den ersten Anfängen an bis zur Grenze des Jugendalters.
Die Aufgabe wird ganz genau gekennzeichnet. Zwei Fragebogen zum Ausfüllen
sind beigefügt.
Schreuder, A. J., Über den Entwicklungsgang der kindlichen Produktivität. Eos.
3, 3 (Juli 1912), S. 161—169.
Die Produktivität tritt selten ‘vor Anfang des dritten Lebensjahres in Er-
scheinung. Man kann unterscheiden Produktion um der Beschäftigung willen, Spiel-
zeugperiode (Wesensunterschied zwischen Knaben- und Mädchennatur: das Weib
ist nicht erfinderisch), Periode der Verfertigung praktischer Gebrauchsgegenstände;
endlich tritt das ästhetische Interesse auf. Man soll die spontane kindliche Pro-
duktivität zu voller Betätigung kommen lassen unter Rücksichtnahme auf die In-
dividualität. Wünschenswert ist eine spezielle Untersuchung, besonders um die
Altersstufen für den Eintritt der verschiedenen Phasen festzustellen.
Krause, Paul, Das 5. Lebensjahr. Ein Beitrag zur vergleichend-biographischen
Kinderpsychologie. Deutsche Schulpraxis. 32, 38 (22. September 1912), S. 297
bis 301.
Mit verschiedenen Kinderzeichnungen. Keine vollständige Zusammenstellung,
sondern nur einzelne Beiträge.
C. Zeitschriftenschau. 165
Rupprecht, Karl, Zur Psychologie jugendlicher Verhafteter. Münch. Med.
Wochenschrift. 59, 41 (8. Oktober 1912), S. 2227—2229.
Einzelne Antworten auf die Fragen nach dem bisherigen Ergehen, dem Grund
der Verhaftung und der Absicht der künftigen Lebensgestaltung bei jugendlichen
Verhafteten unter 17 Jahren, denen am 2. Tage ihrer Haft ein Fragebogen zur Be-
antwortung vorgelegt wurde.
2. Ergebnisse der experimentellen und angewandten Psychologie.
Paßkönig, Oswald, Überblick über die neuere Psychologie, dargestellt an Wilhelm
Wundts »Grundzügen der physiologischen Psychologiee. Pädagogisch - psycho-
logische Studien. XIII, 7,8, S. 33—37; 10, S. 47—50; 11, S. 56—60.
Gibt einen Überblick über den Inhalt des genannten Werkes.
Schulze, R., Eine bedeutsame Kundgebung Wundts. Neue Bahnen. 24, 2 (No-
vember 1912), S. 80—82.
Enthält eine beachtenswerte Kennzeichnung von Wundts Stellung zur experimen-
tellen pädagogischen Psychologie.
Schmidt, Friedrich, Fortschritte der Psychologie und ihrer Anwendungen. Die
Deutsche Schule. XVI, 9 (September 1912), S. 563—566.
Würdigung der unter diesem Titel seit kurzem von Marbe herausgegebenen
Zeitschrift in ihrer besonderen Bedeutung für den Lehrer und Pädagogen.
Weigl, F., Untersuchungen über den Vorstellungsinhalt der in die Schule ein-
tretenden Kinder. Pharus. 1912, 8, S. 116—128.
Die Bedeutung der Untersuchung des kindlichen Vorstellungsschatzes wird
kurz dargelegt. Die bisherigen Untersuchungen werden kurz besprochen, allerdings
nur zum Teil und auch nicht immer mit genauer Quellenangabe. Es wird dann ein
Schema zur » Aufnahme des Vorstellungsinhaltes der Kinder«, das der Verfasser aus-
gearbeitet und mit bestem Erfolg für die Praxis benutzt hat, mitgeteilt; es scheint
allerdings weit über die eigentlichen Ziele hinauszugehen. Wir müssen auf das
Original verweisen. (Zur Feststellung religiöser Vorstellungen sollen »Abbildungen
von Gott, Vater« zugrunde gelegt werden. Ist das Ernst?)
Winde, Friedrich, Intelligenzprüfung durch den Klassenlehrer. Pädagogisch-
psychologische Studien. XII, 10, S. 45—47.
Der Verfasser ließ die Kinder seiner 6. Knabenklasse mit Hilfe angeschriebener
Wörter eine Erzählung selbst gestalten. Für die Beurteilung waren verschiedene
Gesichtspunkte maßgebend. Einzelne der Ergebnisse werden mitgeteilt. — Be-
merkenswert ist, daß der Verfasser zu seinen Ergebnissen kam, ohne daß eine neue
Person als Versuchsleiter zwischen ihn und seine Klasse trat.
Croner, Else, Der Gedankenkreis des vorschulpflichtigen Kindes. Zeitschrift für
Jugenderziehung und Jugendfürsorge. Ill, 4 (1. November 1912), S. 93—97.
Ganz allgemeine Betrachtungen in bezug auf den Unterricht. Betont zwar
selbst, daß es Differenzierungen geben wird und muß, verallgemeinert aber sehr.
Neue Gedanken zur Analyse des kindlichen Gedankenkreises bringt die Arbeit nicht.
Handrick, Johannes, Bericht über den V. Kongreß für experimentelle Psycho-
logie. Pädagogisch-psychologische Studien. XIII, 6, S. 25—29; 7/8. S. 37—40:
9, 8. 41—42.
Knapper, aber übersichtlicher und zuverlässiger Bericht über den Kongre!;
(16.—19. April 1912).
166 C. Zeitschriftenschau.
Schröbler, E., Bericht über den IV. internationalen Kongreß für Kunstunterricht,
Zeichnen und angewandte Kunst. Die Deutsche Schule. XVI, 9 (September 1912),
S. 556—563.
Im ersten Teil wird referiert über die psychologische Grundlegung des Zeichnens.
3. Ergebnisse der Pathopsychologie und Psychopathologie.
Stier, Ewald, Die funktionellen Differenzen der Hirnhälften und ihre Beziehungen
zur geistigen Weiterentwicklung der Menschheit. Deutsche med. Wochenschrift.
38, 44 (31. Oktober 1912), S. 2061—2063.
Aus umfangreichen Untersuchungen ergibt sich, daß für alle uns bekannten
motorischen Zentren funktionelle Unterschiede der Hirnhälften bestehen, die mit dem
funktionell überlegenen Zentrum der Handbewegungen gleichseitig gelegen sind. Der
Verfasser schlägt vor, die Hirnhälften prinzipiell als superior und inferior zu be-
zeichnen. Die Differenzierung der Hirnhälften dürfte stark sein bei den geistig vor-
geschrittensten Menschen, sie dürfte gering sein bei geistig zurückgebliebenen oder
tiefstehenden Menschen. Die Entwicklung einer Einhändigkeit tritt nicht ausnahms-
los aber doch generell bei intelligenten Kindern früher und klarer zutage. Von den
vom Verfasser untersuchten hörstummen Kindern waren 30—50°/, linkshändig.
»Der Zusammenhang scheint mir dabei der zu sein, daß die Lateralisierung der
Hirnfunktionen, die die Voraussetzung oder wenigstens günstigste Grundlage bildet
für die Entwicklung derjenigen einhirnigen Zentren, die der Sprache und den anderen
höheren geistigen Leistungen dienen, bei rechtshändig veranlagten Kindern durch
die Erziehung gesteigert, bei linkshändig veranlagten generell abgeschwächt
wird.« Für die Therapie der Hörstummheit ergibt sich: Aufgeben der unnützen
und schädlichen Umgewöhnungsversuche bei linkshändigen Kindern. Vor zu früher
ambidextrischer Ausbildung ist zu warnen. — Die Arbeit ist außerordentlich
lesenswert.
Schulze, Rudolf, Das psychogalvanische Reflexphänomen. Neue Bahnen. 24, 1
(Oktober 1912), S. 33—38.
Besprechung der hauptsächlichsten Ergebnisse von Veraguths Untersuchungen
an der Hand von 10 Abbildungen. »Es ist nicht einzusehen, warum die neue
Methode nicht auch der Psychologie noch wertvolle Dienste wird leisten können,
nachdem sie in der Pathologie zur Unterscheidung gewisser Krankheitsformen, zur
Entlarvung von Simulanten, schon praktische Erfolge zu verzeichnen hat.«
Fürstenheim, Die Seele des Krüppels. Zeitschrift für Krüppelfürsorge. V, 3
(Oktober 1912), S. 221—232.
Manche Seelenzüge finden sich bei Krüppeln besonders häufig. Unterschieden
werden organisch-seelische und seelisch-organische Seelenzüge. Anzustreben ist die
Beschaffung vergleichbarer Seelenbilder der Krüppel. Der Verfasser hat eine Eigen-
schaftstafel und eine schematische Übersicht über Krüppelseele und Krüppelleiden
zusammengestellt.
Goddard, Henry H., Eine Gruppe schwachsinniger Kinder mit besonderer Be-
rücksichtigung ihres Zahlensinnes. Eos. 8, 3 (Juli 1912), S. 197—222.
Die sieben Individuen, über die berichtet wird, besuchten eine Klasse, in der
ein Lehrer das Rechnen besonders drillte. Es sollte ermittelt werden, in welchem
Umfange sich die Kinder abstrakter Zahlen bedienten, inwieweit sie von Zahlen in
konkreten Fällen Gebrauch machten, ob zwischen den konkreten in Zahlen aus-
gedrückten Dingen Unterschiede bestanden. Es lieferte kein Kind den Beweis, daß
es sich abstrakter Zahlen bediente. Auch konkrete Zahlen wurden nur langsam
C. Zeitschriftenschau. 167
kombiniert. Jede mit Rechnen und Zahlendrill verbrachte Zeit ist verloren, ehe
nicht der Zahlensinn entwickelt ist.
Weigl, Franz, Zur Verbreitung des »farbigen Hörens«. Die Gesundheitswarte.
X, 8, S. 175—182.
Von 71 an psychologische Selbstbeobachtung gewöhnten Personen hatten
36,62 0/, die Erscheinung. Die Erscheinung ist wohl zurückzuführen auf sehr früh-
zeitig und unbewußt eingegangene Assoziationen, mithin nicht pathologisch. Die
hellen (höchsten) Vokale sind in der Hauptsache mit hellen Farben, die dunklen
(tiefen) mit dunkeln Farben zusammenfallend. Praktische Proben müßten zeigen,
»ob bei Kindern, die sehr schwer die Buchstabennamen behalten, eine Erleichterung
eintritt, wenn sie die tieferen Vokale in dunklen, die höheren in hellen Farben dar-
geboten erhalten«.
II. Anormalenpädagogik.
1l. Tatsachen.
Stelzner, Helenefriderike, Die psychiatrische Tätigkeit des. Schularztes an
höheren Schulen mit besonderer Berücksichtigung der daselbst beobachteten
Schwachsinnsformen. Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des jugend-
lichen Schwachsinns. V, 6, S. 457—493.
Etwa 130/ aller Lernanfänger an höheren Mädchenschulen haben das nötige
geistige Normalmaß noch nicht erreicht bei ihrer Einschulung oder zeigen psychische
oder nervöse Anomalien. Bei den ersten Untersuchungen sind Schulunreife und
Debilität noch nicht ohne weiteres zu trennen. — Die Verfasserin gibt aus ihrer
eigenen Tätigkeit heraus viele wertvolle Anregungen.
Mönkemöller. Bericht an das Landesdirektorium der Provinz Hannover über die
psychiatrisch-neurologische Untersuchung der schulpflichtigen Fürsorgezöglinge im
Stephansstifte (Hannover). Zeitschrift für die Erforschung und Behandiung des
jugendlichen Schwachsinns. VI, 1—3 (1912), S. 1—44.
Die Untersuchung wurde im März 1912 an 103 Zöglingen vorgenommen. Das
intellektuelle Niveau der schulpflichtigen Zöglinge ist gesunken, so daß ein Ver-
gleich mit dem schulpflichtigen Material anderer Anstalten nicht möglich ist: »der
gesamte Knabenhof steht unter dem Zeichen der Hilfsschule«e. Diesem Umstand
ist andererseits in der Arbeit eine Fülle wertvoller Bemerkungen zu der Frage Hilfs-
schulen der Fürsorgeerziehung zu verdanken. Die Untersuchungsergebnisse sind
zum Teil in 14 Tabellen übersichtlich angeordnet. Es muß zu näherer Orientierung
das Studium der Originalarbeit empfohlen werden. Unter der Rubrik erbliche Be-
lastung findet sich 54 mal Trunksucht der Eitern. Dabei kommt sie nach dem Be-
richt bei den meisten Nachforschungen noch viel zu kurz. Es ist auch zu be-
rücksichtigen, >daß der geringe, dafür aber ganz gewohnheitsmäßige
Alkoholgenuß, der nach außen hin der Mitwelt nicht als pathologisch imponiert, in
der Schädigung der Nachkommenschaft und speziell in der intellektuellen Beeinträchti-
gung, die die Kinder der Hilfsschule aufbürdet, ganz erhebliches leistet.« Als Aus-
fluß des elterlichen Alkoholismus erscheint oft die kriminelle Tätigkeit und die
Häufigkeit der Unfälle (Unfall als ursächlicher Faktor 31 mal): »Genügt doch manch-
mal das Vorhandensein von zahllosen kleinen Narben auf dem Schädel, um die
Diagnose auf den väterlichen Alkoholismus zu stellen, der sich in zahllosen sinnlosen
Mißhandlungen des Kindes Luft gemacht hatte.e In Konflikte mit dem Strafgesetz
waren bereits 74 Zöglinge geraten; 12 waren zu Gefängnis verurteilt. Nur 21 Zög:
168 C. Zeitschriftenschau.
linge konnten als normal bezeichnet werden. 6 waren debil, 57 imbezill, 7 idiotisch.
Das bei der Untersuchung benutzte Frageschema ist noch vervollständigt; es ist der
Arbeit beigegeben, deren eingehendes Studium nicht dringend genug geraten
werden kann.
Schnitzer, Hubert, Bericht an den Herrn Landeshauptmann der Provinz Pommern
über das Ergebnis der psychiatrisch-neurologischen Untersuchung und Behandlung
der Fürsorgezöglinge in den Erziehungsanstalten Züllchow, Warsow und Magdalenen-
Stift bei Stettin. Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen
Schwachsinns. V, 2, S. 97—122.
Der Bericht erstreckt sich auf die Zeit vom 1. Juni 1910 bis zum 31. März
1911. Benutzt wurde für die Untersuchung das Cramersche Frageschema, das ab-
gedruckt wird. Von 78 untersuchten Zöglingen waren 62,85°/, psychisch abnorm.
34,5°/, der Zöglinge waren durch Alkoholismus der Eltern erblich belastet. 48,72 °/,
waren bestraft; im ganzen fanden sich 84,61 °/, Kriminelle. Der große Bestand an
abnormen Zöglingen rechtfertigt eine dauernde psychiatrische Mitarbeit. Die psy-
chisch abnormen Zöglinge müssen getrennt von den normalen in einer Sonderabteilung
untergebracht werden.
Schmidt, F. A., Aus dem schulärztlichen Bericht 1912 über die Hilfsschule und die
Wilhelmsschule in Bonn. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 25, 10 (Oktober
1912), S. 777—785.
Reiches Zahlenmaterial. Von 154 Hilfsschülern zeigten wahrscheinlich erbliche
Veranlagung 37 °/,. Bei 13,1 °/% der Kinder waren Vater, beide Eltern oder Groß-
vater Trinker. Nach Bayerthals Anregung wurden Schädelmessungen gemacht, um
die Ergebnisse mit der Intelligenz zu vergleichen. Von 128 Hilfsschülern waren
36°/, zweifellos Kleinköpfe. Eine Besprechung der Wohlfahrtseinrichtungen be-
schließt die Arbeit.
Henneberg, Hermann, Bericht über die schulärztliche Tätigkeit in den Magde-
burger Hilfsschulen. Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des jugend-
lichen Schwachsinns. VI, 1—3 (1912), S. 59—81.
Das Fragebogenschema wurde in Anlehnung an das von Kielhorn und Berkhan
entworfen. 400 Fragebogen wurden ausgefüllt, in 52 Fällen wurde von den Eltern
die Beantwortung der Fragen abgelehnt. Die Hilfsschüler machen 1,3°/, der Magde-
burger Volksschüler aus. In 302 Familien schwankt die Kinderzahl zwischen 5 und
18; in 98 betrug sie weniger als 5. Die Gesamtsterblichkeit der Kinder betrug
38° ,; in den 302 Familien mit 5—18 Kindern aber 42,3°/, und in den 93 Familien
mit 10—18 Kindern sogar 50°%,. Die Hilfsschulkinder stehen etwa doppelt so oft
in der letzten wie in der ersten Hälfte der Kinderreihe. Chronischer Alkoholismus
in der Aszendenz fand sich in 11,5°/, der Fälle. Hereditäre (?) Tuberkulose fand
sich bei 23°/, der Familien. 48,6°/, der Kinder hatten ein schlechtes Gebiß mit 4
und mehr hohlen oder fehlenden Zähnen. Angeregt durch Bayerthal wurden Schädel-
messungen vorgenommen, doch läßt sich auf keinen Fall der Grad der Intelligenz
aus den verschiedensten Kopfgrößen schließen. Eventuell ist dafür die häufig
abnorme Schädelbildung der Hilfsschulkinder in Betracht zu ziehen. Einen guten
Schluß auf die intellektuelle Befähigung gestattet die Prüfung des Farbensinns.
Richtig erkannt wurden die Farben von allen Kindern; richtig benannt und das
Farbwort mit dem Farbenbegriff richtig verbunden haben 78,1 °/, der Kinder. Es
versagten 24,3 °/, der Knaben und 12,4°/, der Mädchen. 19°, der Kinder müssen
als antisozial bezeichnet werden.
C. Zeitschriftenschau. 169
Büttner, Georg, Untersuchungen bei normalen und geistig geschwächten Kindern
über Kopfumfang und Intelligenz. Zeitschrift für die Erforschung und Behand-
lung des jugendlichen Schwachsinns. V, 2, S. 165—172.
Referiertt über die bekannten Untersuchungen des Wormser Schularztes
Bayerthal.
Ikeda, R., Über die Erblichkeit des Idiotismus. Jidō Kenkyü. XVI, 2 (September
1912). Referiert aus Shinkeigaku-Zasshi, XI, 7.
Aus den verschiedenen nicht immer ganz klaren Angaben möge hervorgehoben
werden. daß bei 250/, aller Fälle die Trunksucht der Eltern eine Rolle spielt. Der
Verfasser meint, daß 40°/, der Idioten durch Aufmerksamkeit ihrer Eltern vor ihrer
Krankheit hätten bewahrt werden können.
Berkhan, Oswald, Über talentierte Schwachsinnige. Zeitschrift für die Er-
forschung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns. V, 1, S. 25—34.
Berichtet über bisher bekannt gewordene Fälle und fügt einen neuen bei
(außergewöhnliche Rechenkunst bei einem Schwachsinnigen).
v. Hovorka, Oskar, Einseitigkeiten bei Schwachsinnigen. Heilpädagogische Schul-
und Elternzeitung. III, 9 (September 1912), S. 153—161.
Sie entstehen durch Zusammenwirken von Zwangsempfindung und Zwangs-
handlung. Verschiedene Gruppen werden kurz charakterisiert.
Büttner, Georg, Über moralisch schwachsinnige Kinder. Eos. 8, 3 (Juli 1912),
S. 176—181.
Die moralisch schwachsinnigen Kinder machen der Familie und der Schule die
meisten Sorgen. Die Erscheinungen usw. werden besprochen. Ein Beispiel aus der
Praxis ist eingefügt.
Geelhaar, A., Schulschwänzen und nächtliches Herumtreiben der Schulkinder von
psychiatrischen Gesichtspunkten betrachtet. Die Hilfsschule. V, 9 (September
1912), S. 249—251.
Nach einem Vortrag von Stabsarzt Dr. Stier. — Wie dem Kinde zu helfen
ist, muß der Arzt von Fall zu Fall entscheiden. Vor allem muß auf körperliche
Kräftigung der Kinder (ausreichender Schlaf, richtige Ernährung) gesehen werden.
Müller-Schürch, E. Herm., Vom Wandertrieb. Zeitschrift für die Erforschung
und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns. V, 6, S. 494—511.
Zeigt an 5 Fällen, wie wichtig es ist, die Kinder früh genug in heilpäda-
gogische Behandlung zu bringen. In manchen Fällen ist der Wandertrieb die
Steigerung eines an sich normalen Triebes (Entdeckerlust).
Petsche, M., Leidenschaftliche Ausbrüche Abnormer. Eos. 8, 3 (Juli 1912),
S. 222—224.
Einige charakeristische Beispiele. Die Abnormen sind den Affekten weit mehr
zogänglich als die Vollsinnigen.
Hoffmann, H., Taubstumme vor Gericht. Eos. 8, 2 (April 1912), S. 81—91.
Aus den Erfahrungen des Verfassers als Dolmetscher und Sachverständiger bei
Verhandlungen mit Taubstummen vor den Gerichten der 5 Landgerichtsbezirke
Oberschlesiens. Im allgemeinen stehen die Frauen günstiger da als die Männer:
»ich führe das ..... darauf zurück, daß die taubstummen Mädchen und Frauen
fast immer im engen Kreise wirken und besonders dem Wirtshause fern bleiben.«
Aus den Ausführungen geht zur genüge hervor, daß Taubstumme von Natur nicht
mehr zù Ausschreitungen neigen als Vollsinnige.
Glüh, Über Mikrocephalie. Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des
jugendlichen Schwachsinns. VI, 1—3 (1912), S. 207—223.
170 C. Zeitschriftenschau.
Beleuchtung der Frage an der Hand der Literatur seit 1902. Beurteilung
eines Materials von 65 Fällen, darunter 40 im Alter von 3 Tagen bis zu 23 Jahren.
Die Arbeit bietet die genauen Maße ‚und vorzügliche Abbildungen der auf der
Dresdener Hygiene-Ausstellung gezeigten Schädel.
Näcke, P., Hochgradige Entartung eines Idioten. Zeitschrift für die Erforschung
und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns. V, 1, S. 35—61.
Der sehr eingehend untersuchte Fall wird ausführlich beschrieben.
Volland, Über zwei Fälle von zerebralem Angiom nebst Bemerkungen über Hirn-
angiome. Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen
Schwachsinns. VI, 1—3 (1912), S. 130—150.
Darstellung der Fälle mit 7 Textfiguren. Beim Auftreten von Herderscheinungen
im Krankheitsbilde der Epilepsie ist ein operativer Versuch unbedingt gerechtfertigt.
‚(Das Studium der Arbeit ist vielfach durch inkorrektes Deutsch sehr erschwert.)
Heller, Theodor, Über einen Fall von epileptischer Sprachstörung. Zeitschrift
für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns. V, 2,
S. 150—151.
Vom Autor veröffentlicht, weil seines Wissens ein ähnlicher Fall bisher nicht
beschrieben wurde.
Rehm, 0., Bedeutung der Syphilis- Ätiologie bei idiotischen, schwachsinnigen und
psychopathischen Kindern. Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des
jugendlichen Schwachsinns. VI, 1—-3 (1912), S. 201—206.
Untersucht wurden 51 Kinder des Kinderhauses der Heilanstalt Dösen. &9/,
derselben waren im Blut Wassermann-positiv, unter 46 idiotischen und epileptischen
6,50/ Eine luische Aszendenz war bei diesen Kranken nicht festzustellen.
Bayerthal, J., Entstehung psychopathischer Veranlagung durch den Alkohol-
mißbrauch. Die Alkoholfrage. VIII, 4, S. 352-- 355.
Aus »Erblichkeit und Erziehung in ihrer individuellen Bedeutung« (J. F. Berg-
mann, Wiesbaden) der Abschnitt über die Rauschzeugung.
Rehm, O., Ernährungsversuche mit vegetarischer Kost an geisteskranken (idiotischen)
Kindern. Beitrag zur Kenntnis der Größe und des Gewichtes geisteskranker
Kinder. Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen Schwach-
sinns. VI, 1—3 (1912), S. 45—58.
Die Versuche wurden an 33 Idioten und Epileptikern der Heilanstalt Dösen
im Alter von 5 bis zu 16 Jahren vorgenommen und 18 Monate fortgesetzt. An
Körpergröße und -gewicht stehen die idiotischen Kinder zum Teil erheblich unter
dem Normaldurchschnitt. Durch die vegetarische Ernährung wurden Größe und
Gewicht nicht wesentlich beeinflußt. Im Gegensatz zu Alt und Cramer konnte eine
günstige Beeinflussung der epileptischen Anfälle nicht festgestellt werden. Ein
Vorteil liegt in der erleichterten Durchführung der Reinlichkeit und Regelung der
Verdauung. Aus diesem Grunde läßt sich die vegetarische Ernährung idiotischer
Kinder befürworten.
2. Konsequenzen.
Crzellitzer, Die Aufgaben der Rassenhygiene. Deutsche Med. Wochenschritt.
38, 35 (29. August 1912), S. 1651—1653.
Kurzer Überblick über das für die Anormalenpädagogik außerordentlich wichtige
Gebiet.
Haskovec, Ladislaus, Die Prophylaxe des Schwachsinnes. Kos. 8, 2 (April
1912), S. 91—96.
C. Zeitschriftenschau. 171
Ein systematischer Kampf gegen die Degeneration, besonders durch Bildung
und Aufklärung weitester Volksschichten, ist zu organisieren. Eine höchste Sanitäts-
behörde müßte den Kampf gegen die Syphilis, die ganze Sexualbygiene usw. kon-
zentrieren. »Im Kampfe gegen den Alkohol muß der Staat energisch eingreifen
und keine Regierung sollte den einseitigen Vorteilen und Wünschen der zynischen
Großkapitalisten nachgeben, die ihres Gewinnstes wegen alle Moral, Aufklärung und
alle Rechte des Volkes grob verachten. Solange es bei den jetzigen Verhältnissen
bleibt, muß man jede Abstinenzaktion aufs wirksamste unterstützen.«
Keller, Christian, Eine Insel-Anstalt für antisoziale schwachsinnige Männer.
Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns.
V, 1, S. 22—24.
Auf einer dänischen Insel sollen vorläufig 40 Männer untergebracht werden.
Goddard, Herbert Henry, Das Institut für geistesschwache Kinder in Vineland,
eine Stätte wissenschaftlicher Forschung. Eos. 8, 3 (Juli 1912), S. 186—197.
Die Arbeiten dieses großartigen Instituts werden in anregender Weise be-
sprochen.
Die geistig Zurückgebliebenen und Schwachsinnigen im australischen Staate Viktoria.
Eos. 8, 3 (Juli 1912), S. 183—186. >
Der Unterricht der Schwachsinnigen wurde aufgegeben. Für jüngere Epilep-
tiker ist keine Fürsorge getroffen. Für geistig zurückgebliebene Kinder sind be-
sondere Klassen einzurichten, ebenso für »bloß stumpfsinnige« Kinder. — Aus dem
Bericht des Unterrichtsministers an das Parlament über das Jahr 1907.
Bartsch, Karl, Von den Schwachen der Klasse. Deutsche Schulpraxis. 32, 43
(27. Oktober 1912), S. 342.
Betont besonders, daß es notwendig ist, im Unterricht alle Sinne in Anspruch
zu nehmen. Dann kommen nicht nur die normalen Typen, sondern auch die
anormalen auf ihre Rechnung.
Gnerlich, Hilfsschullehrer als pädagogische Sachverständige. Die Hilfsschule. V, 9
(September 1912), S. 246—249.
»Der Klassenlehrer des angeklagten Hilfsschulkindes, der es jahrelang täglich
unter seinen Augen hatte, soll neben dem Arzt die Stelle eines Sachverständigen
einnehmen.«
Weigl, Franz. Die Stellung des Psychiaters in der heilpädagogischen Arbeit. Die
Hilfsschule. V, 9 (September 1912), S. 254—258.
Besprechung von Spechts »Zeitschrift für Pathopsychologie«.
Ziegler, Karl, Zur Frage des Anfangsunterrichtes (Vorschulunterrichtes) bei
Schwachsinnigen. Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen
Schwachsinns. V, 2, S. 152—157.
>Will man also in den Vorschulklassen einen Unterricht haben, der seinem
innersten Wesen nach nicht in mechanischer Drill-, sondern in organischer Bildungs-
arbeit besteht, so muß unbedingt an dem Grundsatze festgehalten werden, daß für
die schwächsten Kinder nur das tüchtigste Lehrpersonal gut genug ist.«e Das wird
im einzelnen dargelegt.
Lehm, Kurt, Wie ich den ersten Schreib-Lese-Unterricht in meiner Hilfsklasse
erteile. Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen Schwach-
Sinns. VI, 1—3 (1912), S. 82—108.
Den psychologisch-theoretischen Darlegungen folgen die wichtigeren methodisch-
praktischen. Es werden darin behandelt: Lautentwicklung, Lautbildung, Entwicklung
172 C. Zeitschriftenschau.
des Schreib- bezw. Druckschriftbildes, der neue Laut im Silben- bezw. Wortverband,
synthetische und analytische Übungen.
Reiher, Franz, Bemerkung zum Artikel »Der Rechenunterricht in der Unterklasse
der Hilfsschule von A. Kühn, Oranienburge. Die Hilfsschule. V, 10 (Oktober
1912), 8. 279—284.
Ist nicht einig mit der vorgeschlagenen Art der Benutzung der Finger als
natürliche Rechenmaschine. Kühn erwidert auf die Einwendungen; er betont, daß
die Methode es nicht allein macht, sondern daß es vor allem auf das Lehrgeschick
ankomme.
Widmann, Wie ich Hilfsklassenschülern eine Gegend, die nicht mehr von ihnen
durchwandert werden konnte, geistig näher zu bringen suchte. Neue Bahnen.
23, 12 (September 1912), S. 562—566.
Unterrichtliche Gestaltung des Stoffes vom Bodensee. Mit vier Abbildungen.
Lehm, Kurt, Ein Jahrgang Anschauungsunterricht in Verbindung mit Werktätig-
keit auf der Unterstufe der Hilfsschule. Zeitschrift für die Erforschung und Be-
handlung des jugendlichen Schwachsinns. V, 2, S. 129—143.
Der entwickelte Stoffplan umfaßt 7 Gruppen, die je eine Einheit bilden:
Garten, Spiel, Schulstube, Küche, Winterglück, Nahrung, Kleidung. Über den Ver-
lauf der Jahresarbeit gibt eine tabellarische Lehrplanübersicht Auskunft.
Egenberger, R., Der schriftliche Ausdruck bei Schwachsinnigen. Zeitschrift für
die Erforschung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns. VI, 1—3
(1912), S. 151—200.
Im wesentlichen Proben aus den Tagebüchern verschiedener Kinder.
Friederici, Jugendschriften für die Hilfsschule. Die Hilfsschule. V, 10 (Oktober
1912), S. 269—273.
In starker Anlehnung an Arno Fuchs wird erörtert, wie eine Jugendschrift
für Hilfsschulen beschaffen sein soll und in welcher Weise das Lesen zu hand-
haben ist. Ein kleines Verzeichnis geeigneter Jugendschriften ist beigefügt.
Wetzel, Max, Die Schwachbegabten in der Fortbildungsschule. Die Hilfsschule.
V, 9 (September 1912), S. 251—254.
Teilt einen Lehrplan für ungelernte Arbeiter aus Stettin mit. Normal- und
schwachbegabte Schüler müssen getrennt worden. Für den Unterricht kommen in
Frage Sonderklassen oder Sonderfortbildungsschulen. Vom Fachunterricht würden
Hilfsschüler sehr wenig profitieren; sie sollten daher ohne Ausnahme in besonderen
Klassen untergebracht werden.
Borchardt, Frieda, und Lenz, Erholungs- und Pflegestätten für taubstumme
Kinder. Blätter f. Taubstummenbildung. XXV, 19 (1. Okt. 1912), S. 289—294.
Das Bedürfnis für pflegebedürftige Taubstumme im preußischen Staat wird
durch die bestehenden Einrichtungen nicht gedeckt. Wünschenswert sind eigene
Erholungs- und Pflegestätten für taubstumme Kinder, die unter Leitung erfahrener
Personen stehen und nicht mehr als 20 taubstumme Kinder unter einer Aufsichts-
person vereinen. Für Preußen würden 2 Heilstätten mit je 40 Betten genügen
(Kurzeit 4 Wochen; Gesamtbeleg 320 Kinder). — Zur praktischen Lösung der Be-
dürfnis- und Organisationsfrage gibt Lenz aus seiner reichen Erfahrung in der
Kinderheilpflege einige Anregungen. Die Schriftleitung befürwortet den Aufruf sehr
in einer Schlußanmerkung.
v. Brockdorff, Cay, Zur Erläuterung der Schneiderschen Methode. Blätter für
Taubstummenbildung. XXV, 18 (15. September 1912), S. 273—276.
C. Zeitschriftenschau. 173
Will zeigen, daß sich bei Schneider dieselben Grundgedanken vorfinden wie
in den großen reformpädagogischen Bestrebungen. Es handelt sich bei Schneider
um ədie ersten Anfänge des wissenschaftlichen Konstruierens«. — Dazu noch eine
kurze Anmerkung Schneiders über seine Methode.
Odelga, P., Grundlinie einer Theorie des Lesebuchs für die Taubstummenschule.
Ebenda. XXV, 18 (15. September 1912), S. 276—282; 19 (1. Oktober), S. 294
bis 299.
Beitrag zur Klärung der sich vielfach widersprechenden Ansichten über Be-
griff und Einrichtung des Lesebuchs. Das neue Lesebuch muß insbesondere frei
sein von Sprachformenübungen.
Bade, Peter, Krüppelheilkunde und Rassenhygiene. Zeitschrift für Krüppel-
fürsorge. V, 3 (Oktober 1912), S. 205--212.
Durch eine Besprechung der wesentlichen Krüppelleiden wird der Beweis er-
bracht, daß die Krüppelfürsorge in humaner Weise durch fortschreitende Erkenntnis
rasseverbessernd wirkt, also dauernden volkswirtschaftlichen Gewinn bringt. (Mancherlei
Bedenken lassen sich nicht unterdrücken.)
Hohmann, Welche Kinder bedürfen der Aufnahme in eine Krüppelschule? Zeit-
schrift für Krüppelfürsorge. V, 3 (Oktober 1912), S. 233—236.
Idioten, Epileptiker und Kinder mit ansteckenden Krankheiten und Lastern
sollen nicht in die Krüppelheime aufgenommen werden. Die Auswahl der aufzu-
nehmenden bildungsfähigen Krüppel ist unter Zuziehung orthopädisch-fachärztlicher
Untersuchung vorzunehmen,
Heim, Was kann von Staat und Gemeinde auf dem Gebiete der Krüppelfürsorge
geschehen? Zeitschrift für Krüppelfürsorge. V, 3 (Oktober 1912), S. 178—184.
Der Staat muß an jeder Universität einen Lehrstuhl für Orthopädie errichten,
und damit verbunden große orthopädische Kliniken. Krüppelsonderschulen müssen
eingerichtet werden. In Gemeinde- und Staatsdiensten sollte eine gewisse Anzahl
der Stellen für Schreiber- und Bureauarbeiten für orthopädische Patienten reserviert
bleiben, anstatt sie gesunden Militäranwärtern zu geben. Die Anstaltsversorgung
ist möglichst auszubauen (mit Hilfe der privaten Wohltätigkeit).
Dietrich, Wie ist die Krüppelfürsorge einzurichten? Zeitschrift für Krüppelfür-
sorge. 5, 3 (Oktober 1912), S. 138—151.
Fingerzeige für die Einrichtung der Krüppelfürsorge.
Würz, Hans, Das künstlerische Moment im Unterricht und in der Ausbildung der
Krüppel. Zeitschrift für Krüppelfürsorge. V, 3 (Oktober), S. 167—174.
Die Kunst muß auch den Krüppelkindern zugänglich gemacht werden. Wie
das geschehen kann, zeigen die zum Teil zwar etwas unklaren Ausführungen.
Stein, Albert, Die Bezeichnung »Krüppel«. Zeitschrift für Krüppelfürsorge. V, 3
(Oktober 1912), S. 212—221.
Das Wort »Krüppel« schadet der Krüppelfürsorge sehr. Die volkstümliche
Bedeutung ist die alte geblieben, während in Wirklichkeit unter der Bezeichnung
etwas ganz anderes zu verstehen ist. Ein Ersatz ist aber sehr schwer zu finden:
Knochen- und Gelenkkranke, Gliederkranke; orthopädische Heil- und Erziehungs-
anstalten.
8. Erfolge.
Büttner, Georg, Vom Hilfsschulwesen. Zeitschrift für die Erforschung und Be-
handlung des jugendlichen Schwachsinns. VI, 1—3 (1912), S. 109—129.
Kurzer historischer Abriß über die bisherige Entwicklung mit mannigfachen Daten.
174 C. Zeitschriftenschau,
Boßhardt, G., Die Fürsorge für die schulentlassenen Schwachbegabten in Zürich.
Zeitschrift für Jugenderziehung und Jugendfürsorge. III, 4 (1. November 1912),
S. 97—100.
In Zürich besteht seit 1905 ein Patronat für schwachbegabte Jugendliche, das
hauptsächlich für Berufswahl, Erholung, Schutz, geistige und körperliche Fortbildung
schwachbegabter Jugendlicher sorgen will. Die Gesichtspunkte, nach denen es
arbeitet, werden dargelegt. Wünschenswert erscheint die Einrichtung einer Arbeits-
anstalt (Arbeitslehrkolonie).
Abramowski, E., Berichte über Schwachsinnigenfürsorge in England. Zeitschrift
für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns. V, 1, S. 62
bis 70; V, 2, S. 158—164.
Die Berichte werden an der Hand zuverlässigen Quellenmaterials zumeist
referierend gegeben.
Abramowski, Eleonore, Berichte über Schwachsinnigenfürsorge in Amerika und
in England. Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen
Schwachsinns. V, 6, S. 512—530.
Sehr sorgfältige Zusammenstellung an Hand der neueren Literatur.
Rosenfeld, Leonhard, Welche Kosten macht die Krüppelfürsorge? Zeitschrift
für Krüppelfürsorge. V, 3 (Oktober 1912), S. 185—194.
Viel Zahlenmaterial, das im Original nachzusehen ist. Es werden daraus
Schlüsse für die Fürsorge gezogen.
Lange, Wie weit kann heute die Zahl der Krüppel durch eine rechtzeitige Behand-
lung vermindert werden? Zeitschrift für Krüppelfürsorge. V, 3 (Oktober 1912),
S. 151 —159.
An den wichtigsten Krüppelleiden wird gezeigt, wieweit zurzeit die Zahl der
Krüppel durch Heilungen oder durch Entkrüppelungen zu vermindern ist. Wenn
alles geschieht, was möglich ist, läßt sich »die weitaus größte Hälfte der Krüppel-
kinder dauernd heilen oder dauernd entkrüppeln«.
Biesalski, Was ist durch die Bewegung der Krüppelfürsorge in den letzten
10 Jahren erreicht worden? Zeitschrift für Krüppelfürsorge. V, 3 (Oktober 1912),
S. 124—138. Tabellen-Anhang: S. 237—276.
Wir stellen aus dem reichen Zahlenmaterial folgende Daten gegenüber:
Zahl der 1902 1912
Krüppelheime"... u. 5. ur a ia 23 53
Betten. . . . a at S 1622 5239
ärztlich geleiteten ‘Anstalten Ae E 4h 29%
geprüften im Hauptamt BL Lehrkräfte (1908) 49 96
Hilfsklassen. . . er NAYOS) TE 18
Handwerkemöglichkeiten. n Ba s wa ALIIE NAD 81
versorgten Krüppel . . . . 5 s 0,8% 21,6°/,
Ulbrich, Die Berufswahl der ränpäl Zeitschrift für Krüppelfürsorge.. V, 3
(Oktober 1912), S. 159—167.
17 der 28 Krüppelheime der inneren Mission treiben hauptsächlich Ausbildung
der Krüppel zu Lebensberufen. Es gibt in den deutschen Anstalten insgesamt 778
Lehrplätze für Krüppelknaben und 413 für Krüppelmädchen; 817 von diesen werden
von der inneren Mission gestellt. Die einzelnen Berufe werden durchgegangen. Die
Ausbildung sollte auf 4 Jahre bemessen und nicht aus irgendeinem angeblichen
Mitleıd verkürzt werden.
C. Zeitschriftenschan.
175-
Erhard, Das bayrische Königshaus in seiner Fürsorge für die krüppelhaften Kinder.
Zeitschrift für Krüppelfürsorge. V, 3 (Oktober 1912), S. 199—204.
Das bayrische Königshaus hat seit 1838 viel für die Krüppelfürsorge getan,
für die gerade von Bayern aus viele Anregungen ausgegangen sind.
Stobschinski, R., Die Entwicklung der Schwerhörigenschule. Blätter für Taub-
stummenbildung. XXV, 15 (1. August 1912), S. 226—230; 16 (15. August),
S. 246—250; 17 (1. September), S. 257—261.
Die Taubstummenlehrer sollen dazu mitwirken, daß die Schwerhörigenschule
eine »Schule für Schwerhörige und Ertaubte« wird. Durch das Gesetz vom 7. August
1911 wird auch der Schwerhörigenunterricht in gewisser Weise geregelt, insbesondere
auch das Verhältnis zwischen Taubstummenanstalt und Schwerhörigenschule besser
gestaltet.
Arbeit für die Taubstummen in Kroatien. Eos. 8, 3 (Juli 1912), S. 182—183.
Aufzählung der Schriften des Direktors der Agramer Taubstummenanstalt,
Josef Medved, der sein 30jähriges Dienstjubiläum feierte und sich in der Zeit große
Verdienste um die kroatische Taubstummenbildung erworben hat.
Jacobi, Eugenie, Taubstummblindenunterricht. Eos. 8, 3 (Juli 1912), S. 169—176.
Der Unterricht wurzelt in der Nutzung des Tastsinnes.
Ein Besuch eines Vertreters der reinen Launtsprachmethode in einer nach der
Lindnerschen Schriftbildmethode unterrichteten Elementarklasse nach 10 wöchigem
Unterricht. Blätter für Taubstummenbildung. XXV, 20 (15. Oktober 1912),
8. 313—317.
Die Erfolge waren vorzüglich. Es wird für das Sprachverständnis eine Durch-
schnittssumme von 112 Wörtern, für die Produktion eine solche von 26 Wörtern
nach einem Vierteljahr angegeben.
Rötzer, Leichtes Ablesen und leichtes Sprechen. Blätter für Taubstummenbildung
XXV, 18 (15. September 1912), S. 282—284.
Empfehlung eines Apparats, durch den der Luftstrom aus Mund oder Nase
sichtbar gemacht, geprüft und beeinflußt werden kann.
Wende, G., Zum hundertjährigen Jubiläum der Königlichen Taubstummenanstalt
als Lehrerbildungsanstalt. Ebenda. XXV, 19 (1. Oktober 1912), S. 299—301;
20 (15. Oktober), S. 305—313.
Geschichtlicher Abriß. — Ausgebildet hat die Anstalt bisher 370 Lehrer.
Münter, L., Bericht über die Anstellungsverhältnisse der Hilfsschullehrer und
Hilfsschullehrerinnen Westfalens und Wünsche in bezug auf einheitliche Regelung
derselben. Die Hilfsschule. V, 9 (September 1912), S. 241— 246.
Bemerkenswert ist, daß von allen die Selbständigkeit der Hiifsschule gewünscht
wird (keine Angliederung an oder Eingliederung in die Volksschule).
Rein, Oscar, Bericht über den Allgemeinen Fürsorge-Erziehungstag zu Dresden,
Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns.
VI, 1—3 (1912), S. 241—248.
Henze, A., V. österreichische Konferenz der Schwachsinnigenfürsorge. Ebenda.
VI, 1—3 (1912). S. 249—260.
Berichte über die bei den beiden Konferenzen gehaltenen Referate.
Gürtler, Reinhold, Die XIV. Konferenz des Vereins für Erziehung, Unterricht
und Pflege Geistesschwacher vom 8.—11. September 1912 in Bielefeld und
Bethel. Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger. XXXII, 10 (Oktober
1912), S. 193—210.
Eingehender Bericht.
176 C. Zeitschriftenschau.
Kirmsse, M., Dasselbe. Die Hilfsschule. V, 10 (Oktober 1912), S. 284—291; 11
(November 1912), 3. 308—312.
Ebenso.
Kolodzinsky, J., Die IX. Hauptversammlung des Bundes Deutscher Taub-
stummenlehrer. Blätter für Taubstummenbildung, XXV, 12 (15. Juni 1912),
S. 184—186; 13/14 (1. Juli), S. 196—201; 15 (1. August), S. 231—235; 17
(1. September), S. 262—264.
Bericht über die Würzburger Verhandlungen 1912, an denen 346 Personen
teilnahmen.
Weygandt, W., Jugendkunde und Schwachsinnigenfürsorge auf der Internationalen
Hygiene-Ausstellung Dresden 1911. Zeitschrift für die Erforschung und Behand-
Jung des jugendlichen Schwachsinns. V, 2, S. 186—208.
Ausführlicher Ausstellungsbericht, an dessen Schluß betont wird, daß der oft
gehörte Schlachtruf »Hie Arzt, hie Lehrer« durch die Ausstellung eigentlich als
grundlos hingestellt ist. »Weder der Arzt noch der Lehrer darf sich eine alles um-
schließende Kompetenz anmaßen, vielmehr werden nach beiden Richtungen hin
wieder recht differente Kräfte auftreten müssen, um das große Arbeitsgebiet be-
wältigen zu können.«
Decker, K., Der Werk- und Arbeitsunterricht in der Hilfsschule auf der Aus-
stellung des Hilfsschulverbandes in Lübeck. Zeitschrift für die Erforschung und
Behandlung des jugendlichen Schwachsinns. V, 2, S. 123—128.
Ausstellungsbericht. Zum Schluß werden einige Winke für künftige Aus-
stellungen gegeben.
Martin. Die Beköstigung in der Königl. Sächs. Landes-Erziehungs-Anstalt Chemnitz-
Altendorf. Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger. XXXII, 9 (September
1912), S. 173—184; 10 (Oktober), S. 211--215; 11 (November), S. 217—231.
Küchenzettel für ein ganzes Jahr. Daß im Speisezettel einer derartigen An-
stalt das Bier noch eine Rolle spielt, sollte man eigentlich nach allen neueren
Forschungen und Feststellungen nicht mehr für möglich halten!
IV. Jugend- und Schulhygiene.
Hertel, E., Verband deutscher Lehrervereinigungen für Schulgesundheitspflege.
Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 25, 9 (September 1912), S. 623—627.
Bericht über die Pfingsttagung. Einige allgemeine Bemerkungen über den
Verband und seine Stellung zu verwandten Organisationen.
Bartsch, Hugo, Zur Frage des Schularztsystems. Zeitschrift für Schulgesundheits-
pflege. 25, 9 (September 1912), S. 649—653.
»Der Schularzt soll, einerlei ob er im Haupt- oder Nebenamt angestellt ist,
in Verbindung mit der eigentlichen ärztlichen Tätigkeit bleiben, d. h. er soll selbst
Praxis ausüben.« Die »reinen« Schulärzte (Nur-Schulärzte) sollen nur Aus-
nahmen bilden.
Gastpar, Der staatliche Schularzt in Württemberg. Zeitschrift für Schulgesundheits-
pflege. 25, 9 (September 1912), S. 653—655.
Besprechung des neuen Öberamtsarztgesetzes, durch das die Schularzttätigkeit
dem Öberamtsarzt zugewiesen ist.
Stark, Der erste Fortbildungskursus für Schulärzte in Köln. Zeitschrift für Schul-
gesundheitspflege. 25, 8 (August 1912), S. 595—597.
Kurzer Bericht über den von 20 Ärzten besuchten Kursus, (Auch von einem
gewiß eutbehrlichen »gemütlichen Bierabends ist die Rede!)
C. Zeitschriftenschau. 177
Kschischo, P., Alkohol und Volksschule. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege.
25, 10 (Oktober 1912), S. 665—682.
Merkwürdigerweise sieht der Verfasser in der Ausführung der Untersuchungen
über den Alkoholgenuß von Schulkindern von seiten der Lehrer eine Beeinträchti-
gung. Er hat selbst in Altona als Schularzt Untersuchungen über insgesamt 2580
Kinder gemacht. Die Ergebnisse lassen sich in folgenden Tabellen zusammenfassen:
I. 1568 Kinder aus 11 Volksschulen und 1 Mittelschule wurden gelegentlich der
systematischen Schuluntersuchungen über den Alkoholgenuß befragt. Es hatten
Alkohol genossen
nie gelegentlich überhaupt täglich
Kinder überhaupt . . 66,39), 4,6% 21,49, 2,8%
Knaben (994) . . . 65,0 „ 4,0 „ 19,0 „ 2.9.
Mädchen (574) . . . 67,0 „ 50:5 24,0 „ 4,0 „
Als gelegentlicher Alkoholgenuß gilt wöchentlich mindestens einmaliger
Genuß alkoholhaltiger Getränke. In der Kolumne »überhaupt« ist auch ganz
seltener gelegentlicher Alkoholgenuß mitgerechnet.
I. 1012 Kinder wurden bei der ärztlichen Beratung im Sprechzimmer befragt.
Sie entstammen vorwiegend der ärmeren Bevölkerung. Von ihnen hatten
Alkohol genossen
nie gelegentlich überhaupt täglich
Kinder überhaupt . . 66,1 °% Pr 18%, 15%
Knaben (369) . . . 62 „ 13.
Mädchen (643) . . . 68 „ LU 5
Zu bemerken ist, daß es in Altona drei Jugendlogen des Guttemplerordens gibt,
die mehrere hundert Mitglieder zählen. Um so merkwürdiger muten die Angriffe
des Verfassers auf die Abstinenten, die schon im ersten Satz seiner Arbeit beginnen
(»fanatische und unwissenschaftliche Kampfesweise«), an.
Es ist interessant, mit den oben angeführten Zahlen die Meldolas aus zehn
Hamburger Volksschulen zu vergleichen. Danach genossen von 6029 Kindern Alkohol
nie gelegentlich regelmäßig
30,6%, 61,5%, 79%,
Diese Untersuchungen sind in der Arbeit (wie leider manche anderen auch
nicht) nicht mitberücksichtigt; es hätten sich aber gerade hieraus interessante Gegen-
überstellungen anstellen lassen. — Im übrigen wird durch die angeführten Unter-
suchungen eine zuerst von Wilker 1909 gemachte Beobachtung bestätigt, daß nämlich
die Mädchen am Alkoholgenuß stärker beteiligt sind als die Knaben. Der Verfasser
erklärt das auch in gleicher Weise: »hier spukt noch immer das Gespenst der blut-
stärkenden, kräftigenden Weine in Form von Kraftwein, Blutwein, Eisenwein,
Medizinalwein usw.e Unter den regelmäßig trinkenden Kindern waren über zwei
Drittel Abkömmlinge von Gastwirten, Bierkutschern usw. Von manchen Kindern
hörte der Verfasser Schilderungen, »die eigentlich die Eltern auf die Anklagebank
führen müßten«. Alkoholfreie Jugenderziehung wird als Ideal hingestellt. Von ihrer
Notwendigkeit muß die gesamte Lehrerschaft überzeugt werden. Am besten wirkt
das Beispiel. Besonders zu wünschen wäre, daß auch die höheren Schulen den
gleichen Eifer zeigten wie die Volksschulen, »denn unstreitig bedürfen sie dieser
Arbeit mehr als die Volksschulen. — Eingeschoben ist eine zwei Seiten lange Er-
örterung über die Schädlichkeit der obergärigen Biere (Braunbier, Malzbier) mit
0,5—0,750/, Alkoholgehalt, deren Genuß der Verfasser dem zweiten Lebensjahrzehnt
»in den meisten Fällen unbedenklich zugestehen« will. In der Erörterung dieser
Frage und der Ersatzgetränke überhaupt ist der Verfasser leider nicht ganz objektiv,
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 12
178 D. Literatur.
denn sonst könnte er nicht schreiben, daß diese Getränke von den Abstinenten mit
»viel Emphase« empfohlen werden, da das durchaus im Widerspruch zu allen Tat-
sachen steht. — Das angehängte Literaturverzeichnis umfaßt 13 ziemlich willkürlich
herausgegriffene Arbeiten.
Zelle. Über den Alkoholgenuß, seine Wirkungen und seine Bekämpfung in den
Schulen nach den Ergebnissen der Untersuchungen im Kreise Lötzen. Die
Alkoholfrage. VIM, 4, S. 314—322.
Der Kreis Lötzen ist einer der »dunkelsten« Kreise Masurens mit starkem
Schnapskonsum. Es hatten getrunken
Bier von 7172 Schülern 5532 = 76°),
Grog „5487 is 2934 = 53 „ (Knaben 61°/,, Mädchen 45 °/,)
Schnaps „ 6708 5 166. =, ( „ a $ 18 „)
Über den Schnapsgenuß werden noch eingehendere Zahlen mitgeteilt. Auch
wird eine kurze Charakteristik der regelmäßigen Trinker gegeben.
Flaig, J., Alkohol und Schule. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 25, 10
(Oktober 1912), S. 682—692.
Kurzes Eingehen auf die vorhandenen Untersuchungen. Zusammenstellung der
angewandten und geplanten Vorbeugungsmaßnahmen, soweit sie die Schule betreffen.
D. Literatur.
Enzyklopädisches Handbuch der Heilpädagogik, unter Mitwirkung zahl-
reicher am Erziehungswerke interessierter Ärzte und Pädagogen herausgegeben von
Prof. Dr. med. Dannemann, Hilfsschulleiter Schober und Hilfsschullehrer
Schulze. Halle a, S., Carl Marhold. 1974 Spalten. Preis geb. 33,50 M.
Seit einem Jahre liegt das Handbuch abgeschlossen vor und hat in dieser Zeit
seine praktische Brauchbarkeit als Ratgeber und Wegweiser vielfach erwiesen. In
zahlreichen, alphabetisch geordneten Artikeln behandelt es mit genügender, oft sehr
weitgebender Ausführlichkeit alle Arten der Sinnes- und Intelligenzdefekte, ferner
die bedeutsamsten Erscheinungen der Lähmung, Verkrüppelung und Verwahrlosung,
sowohl nach medizinischer wie auch pädagogischer Hinsicht, wobei alle Formen in
ihrer individual- und sozialpädagogischen Bedeutung und Behandlung gleichmäßig
berücksichtigt werden. Eine Anzahl der besten Sachkenner hat somit durch er-
staunlichen Fleiß ein Werk zustande gebracht, durch welches eine rationelle Ab-
normenpädagogik auf wissenschaftlich gesicherter Grundlage ermöglicht werden soll.
Die eifrige Mitarbeit des unsern Lesern wohlbekannten Kirmsse hat dafür gesorgt,
daß auch die geschichtliche Seite dieses Gebietes nicht vernachlässigt worden ist,
und ebenso findet man auch die für den besondern Erziehungszweck in allen Kultur-
staaten vorhandenen Einrichtungen und Bestrebungen in diesem Handbuch eingehend
behandelt. Reichliche Literaturangaben bei den wichtigeren Artikeln geben weitere
Hinweise. Doch zeigt sich eine gewisse Einseitigkeit des Anlageplanes iu der
häufigen Einschränkung der Themen auf ihre Beziehung zum Schwachsinn, z. B.
»Alkohol. seine Beziehung zum Schwachsinn«, »Ermüdung (bei schwachsinnigen
Kindern,)« »Infektionskrankeiten (und Schwachsinn)< usw. Diese einseitige Kon-
zentration, an sich gewiß eine Stärke des Handbuches und zugleich ein Ausdruck
für die relative Vollendung der diesbezüglichen Untersuchungen, erklärt sich leicht
aus den besonderen Erfahrungen und Interessen der hervorragenden Spezialisten,
D. Literatur. 179
die an dem Werk gearbeitet haben. Aber die Schul- und Erziehungspraxis hat es
mit einer Heilpädagogik in umfassenderem Sinne zu tun; für sie kommen außer
den Defekterscheinungen vor allem die funktionellen Störungen infolge von ab-
normer Ermüdbarkeit eines ganz besonders gearteten Schülertypus in Betracht.
Daß diese Einsicht nicht ein »Steckenpferd« des Referenten, sondern sachlich wohl
begründet und für die Schule allgemein recht bedeutsam ist, das beweisen die Er-
fahrungen, die zu dem Mannheimer Schulsystem geführt haben und in seiner zehn-
jährigen Praxis an verschiedenen Orten mehr und mehr bestätigt worden sind. Die
Wissenschaft wird sich den praktischen Bedürfnissen nicht entziehen dürfen. Dem-
gemäß müßte die allgemeinere pädagogische Bedeutung der konstitutionellen Er-
krapkungen im Kindesalter (Rachitis und Blutarmut, Ziehens Lehre von den psycho-
pathischen Konstitutionen), sowie der Infektionskrankheiten grundsätzlich stärker
hervorgehoben werden; z. B. sind genauere Informationen über die psychischen
Nachwirkungen der Infektionskrankheiten und die Frage des Nachhilfeunterrichts
bei gehemmten Schülern sehr erwünscht. Auch Artikel über Ferienkolonien, Er-
holungsheime, Waldschulen, Schulsanatorien, die eine steigende Bedeutung für
Schule und Volksgesundheit erlangen, dürften nicht fehlen. Die »Zeitschrift für
Kinderforschung« hat von jeher mit guten Gründen den Standpunkt vertreten, daß
die Heilpädagogik in gleicher Weise alle Formen der Abnormität, nicht nur die
Defekterscheinungen, berücksichtigen müsse, und die Entwicklung unserer modernen
Erziehungsveranstaltungen gibt ihr recht. — Natürlich soll ein solcher Hinweis
keine Einschränkung unserer rückhaltlosen Anerkennung, vielmehr ein Zeichen der
hohen Wertschätzung für das Handbuch sein, das als unentbehrliches Nachschlage-
und Studienwerk allen Interessenten bestens empfohlen wird.
Berlin. Richard Schauer.
Kruckenberg, Elsbeth, Jugenderziehung und Volkswohlfahrt. Tübingen,
Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1910. Billige Ausgabe. Preis 2 M,
geb. 3 M.
Ein Reihe wichtiger Fragen hat die Verfasserin in den einzelnen Vorträgen
und Abhandlungen, die unter dem Titel des Buches unter ihren gemeinsamen Be-
ziehungspunkt zusammengebracht werden, mutig angepackt. Anerkennung verdient
die Art und Weise, wie sıe als Gattin und Mutter die einzelnen Probleme auffaßt,
aus dem Schatze ihrer Beobachtungen und Erfahrungen heraus beleuchtet und mit
intuitivem Blick Momente erfaßt und festhält, die das Buch lesenswert machen.
Weniger glücklich scheint mir Kruckenberg in all den Punkten zu sein, die
sich auf das eigentliche Schulleben, die Schulorganisation, Aufgaben und Gestaltung
des Unterrichtes beziehen. Sympathisch berührt gewiß auch hier die Art, wie sie
die verschiedenen Verschrobenheiten besonders Kluger kennzeichnet. Aber die Ver-
quickung der aufgeworfenen Erziehungs- und Unterrichtsfragen mit solchen politischer
Art, hat eine gewisse Einseitigkeit zur Folge. Es entstehen mitunter Schiefheiten,
die Widersprüchen zum Verwechseln ähneln. Auch dringen die Ausführungen, die
hierher gehören, nicht gern bis zum Kern der Sache selbst durch, scheinen oft
da, wo die Sache eigentlich erst richtig angeht, mit etwas allgemein gehaltenen
Wendungen darüber weggehen zu wollen. Das ist im Interesse des Guten, was
das Buch will, und des ganzen Buches selbst zu bedauern.
Die Druckfehler-Berichtigung (S. VII) ist unvollständig. Auch in einer »billigen
Ausgabe« dürfen Stil und Orthographie nicht so unterschätzt werden, wie es hier
nicht selten geschieht.
Jena. Dr. G. Weiß.
12*
180 D. Literatur.
Wentscher, E. Der Wille. Versuch einer psychologischen Analyse. Leipzig,
B. G. Teubner, 1910. Preis geh. 2,40 M, geb. 2,80 M.
Eine dreifache Aufgabe hat sich die Verfasserin gestellt: 1. Durch eine Ana-
lyse der Bewußtseinsvorgänge und durch wissenschaftliche Deutung der gegebenen
Tatbestände eine Erkenntnis des menschlichen Wallens zu gewinnen und dadurch
eine kritische Stellung zu einigen modernen Willenspsychologen zu erlangen. 2. Die
Grundlinien für die Verwertung der psychologischen Erkenntnis im Leben, vor allem
im Gebiete der Pädagogik anzudeuten. 3. Eine Harmonie anzubahnen von Theorie
und Praxis in unserer Auffassung von der Natur des menschlichen Wollens (S. VII).
Das Buch zeichnet sich aus durch eine gute Gliederung der aufgeworfenen Frage
und durch eine umsichtige methodische Behandlung der einzelnen berausgestellten
Punkte. In seiner Gesamtheit ist es wohl geeignet, dem Leser zu helfen in seinem
Streben nach einem eigenen Standpunkt in diesen wichtigen und wichtigsten Fragen.
Jena. Dr. G. Weiß.
Major, Gustav, Psychasthenie im Kindesalter. Klinik für psychische und
nervöse Krankheiten. VI. Band, 4. Heft. Halle a.S., Carl Marhold, 1911.
Es scheint für Majors Arbeitsweise geradezu typisch zu sein, daß er fremde
Quellen benutzt, ohne es der Mühe wert zu halten, anzugeben, woraus er geschöpft
hat. Wer die vorliegende Arbeit mit meiner Abhandlung: »Psychasthenische
Kinder« !) vergleicht, wird unschwer erkennen, daß Major nichts anderes getan hat,
als den Inhalt meiner Schrift in einer nicht immer glücklichen Art wiederzugeben.
Nirgends aber, auch dort, wo er nahezu wörtlich zitiert, weist Major auf die
Originalarbeit hin. Die mitgeteilten Krankengeschichten sind weit eher dem in-
fantilen Schwachsinn als der Psychasthenie zuzuzählen. Major scheint sich also
selbst nicht recht klar darüber zu sein, was unter Psychasthenie zu verstehen ist.
Wien-Grinzing. Dr. Theodor Heller.
Deutsche Anstalten für Schwachsinnige, Epileptische und psycho-
pathische Jugendliche. Redigiert von Pastor Stritter und Oberarzt Dr.
Meltzer. Halle a. S., Carl Marhold, 1912. VI u. 343 S. Mit 385 Abbildungen,
Grundrissen und Plänen. Preis in Halbleder gebunden 14 M.
Leider noch nicht alle Anstalten! Das ist das einzige, was man an diesem
Werke aussetzen könnte. Aber daß es nicht über alle Anstalten orientiert, über
die es das tun müßte, ist nicht Schuld der Herausgeber und der Redaktion,
sondern die Schuld derjenigen, die sich aus irgend welchen Gründen nicht zu
Berichten über ihre Anstalten entschließen konnten. Immerhin wurde auf der
XIV. Konferenz des Vereins für Erziehung, Unterricht und Pflege Geistesschwacher,
deren Teilnehmern (wie in unserm Konferenzbericht bereits erwähnt) das Werk ge-
widmet ist, der Wunsch geäußert, es möge bald ein zweiter Band erscheinen —
ein Wunsch, der in hoffentlich nicht allzu ferner Zeit verwirklicht wird. Denn
der Wert einer derartigen Sammeldarstellung aller in Betracht kommenden An-
stalten ist vielleicht heute noch gar nicht in vollem Umfange zu schätzen. Spätere
Zeiten werden meines Erachtens ein bedeutend höheres Werturteil über diese Publi-
kation fällen, als wir es heute tun.
1) Vortrag, gehalten auf dem 1. Kongreß für Kinderforschung, Berlin, 1907.
Beiträge zur Kinderforschung, Heft XXX. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne
(Beyer & Mann), 1907.
D. Literatur. 181
Ein Eingehen auf den Inhalt des Werkes ist kaum möglich. Man findet in
ihm vertreten ganz kleine Anstalten, die noch stolz sind auf die Wahrung des
Familiencharakters; große Anstalten, deren Einwohner nach Hunderten zählen;
private und öffentliche Anstalten; Anstalten und Institute aller möglichen Richtungen.
Zum Teil erfreuen den, der sich gern mit der Geschichte des Schwachsinnigenwesens
befaßt, historische Daten. — Wenn ich einige Anstalten herausgreife aus der großen
Zahl der vertretenen, so geschieht das weniger, weil ich damit über den Wert der
Darstellung ein Urteil habe fällen wollen. Ich erinnere an die Alsterdorfer An-
stalten, die am 19. Oktober 1913 auf ein 50jähriges Bestehen als Idiotenanstalt
zurückblicken können; an Idstein im Taunus, über das Kirmsse und Rumpel be-
sichten; an die Anstalten »Hephata« bei Treysa, von denen ein Besucher eine an-
schauliche Schilderung gibt; an die Königliche Landes-Erziehungsanstalt Chemnitz-
Altendorf; an die Königlich Sächsische Landesanstalt Großhennersdorf, über die
Oberarzt Dr. Meltzer eingehende und interessante Mitteilungen gemacht hat. Des
öfteren werden nicht nur Berichte über die Anstalten und ihre Einrichtungen ge-
geben, sondern allgemeine Probleme mitbehandelt. So äußert sich Sanitätsrat Dir.
Dr. Klinke von der Provinzial- Heil- und Pflegeanstalt Lublinitz über den Er-
nährungszustand und seine Feststellung. So gut wie nichts über seine Anstalt ver-
rät Cron, dessen Angaben zum Teil wie eine bloße Reklame anmuten, zum Teil ganz
interessante Kopien aus dem Arbeitsmaterial der Anstalt bringen. Ȇber die Er-
ziehung in der Anstalt Bethel bei; Bielefeld« schreibt Pastor Wolf eine kleine
Studie, die (ganz abgesehen von den dankenswerten historischen Daten über diese
großzügigste Anstaltsgründung) wohl zum wertvollsten mit in diesem Bande gehört.
Ein gleiches gilt von dem Aufsatz des Oberarztes Dr. Kleefisch (am Franz-Sales-
Haus in Essen -Huttrop) über »Medizin, Pädagogik, Charitas«, einem vorzüglichen
Plan zu friedlichem Nebeneinanderarbeiten aller an einer größeren charitativen
Idiotenanstalt tätigen Faktoren, dessen Studium ganz besonders empfohlen sei.
Über die Ausstattung des gesamten Werkes braucht kaum ein Wort weiter
verloren zu werden: sie ist mustergültig.
Jena. Dr. Karl Wilker.
Die Irrenpflege in Österreich in Wort und Bild. Redigiert von Dr. Hein-
rich Schlöß. Halle a. S., Carl Marhold, 1912. VI und 360 Seiten. Preis: in
Halbfranz gebunden 15 M.
Eingeleitet wird dieser Band mit einem Überblick von Joh. Hrase über die
Entwicklung der Irrenfürsorge im Königreıche Böhmen. Der Umfang der Berichte
über die einzelnen Anstalten ist ein sehr verschiedener, zum Teil leider sehr knapper.
Dafür hat aber das Werk wenigstens den Vorzug, daß es ein vollständiges Bild
der österreichischen Irrenpflege nebst mannigfachen historischen Bemerkungen zu
diesem Thema gibt. Der Herausgeber bemerkt in seinem Vorwort ganz richtig:
»Das Werk ist .... ein Denkstein, auf dem die Leistungen der einzelnen Kron-
länder Österreichs auf dem Gebiete der Irrenfürsorge zu dauerndem Gedächtnis ver-
zeichnet sind, und liefert den Beweis, daß in diesen Ländern für die Behandlung
und Pflege der Geisteskranken Großes geschaffen wurde.« Als solches hat es auch
für Nicht-Österreicher seinen bleibenden Wert. Der Bericht erstreckt sich auf ins-
gesamt 41 Anstalten. Ein Sachregister macht das Werk auch in mannigfacher Be-
ziehung zu einem brauchbaren Nachschlagebuch.
Die Ausstattung ist vornehm, das Material an Bildern und Plänen überreich.
Jena. Dr. Karl Wilker.
182 D. Literatur.
Henriette Arendt, Kinderhändler. Recherchen und Fürsorgetätigkeit vom
1. September 1911 bis 1. September 1912. Dritte Auflage. Stuttgart, Heinz
Clausnitzer. 23 Seiten. Preis 0,25 M.
Die frühere Polizeiassistentin Henriette Arendt ist unermüdlich tätig, dem
grausamen Kinderhandel entgegenzuarbeiten. Daß sie dabei immer noch nicht die
nachhaltigste Unterstützung findet, ist ein trauriges Zeichen unserer Zeit, die nichts
dawider findet, daß es Elemente in unserem Volke gibt, die kleine Menschen wie
eine x-beliebige Ware verhandeln: »Stück Kinder«. Es ist höchste Zeit, daß unsere
Behörden den Begriff »Kinderhandel« kennen lernen, daß das bedauerliche Faktum
von der Straflosigkeit des Kinderhandels überhaupt (er wird nur strafbar in Ver-
bindung mit anderen Delikten, wie Betrug, Körperverletzung usw.) möglichst bald
verschwindet.
Was in diesem kleinen Hefte mitgeteilt wird, ist wahrhaft erschreckend. Aus
Oberschlesien werden Kinder nach Rußland verschleppt, wo sie in »Krüppelfabriken«
zu Bettlern »präpariert«e werden. Daß eine derartige Gesellschaft einen approbierten
Arzt angestellt hatte, »der jedes Kind auf eine andere Weise verstümmelte,« er-
scheint kaum glaublich; und doch ist es festgestellt. — Wem einfache Zahlen noch
nicht genug beweisen, der mag in dieser Schrift die Briefe eines Straßburger Kinder-
händlers nachlesen, denen an Roheit kaum irgend etwas an die Seite gestellt werden
kann. Sie werden durch Angaben über weitere Kinderhändler ergänzt, die alle be-
weisen, daß es sich hier um ein »lohnendes Geschäft«e handelt. Besonders nach
Belgien und Frankreich hin werden deutsche Kinder im zartesten Alter verhandelt.
Daß sich der Handel sogar auch auf eheliche Kinder erstreckt, ist vielleicht eins
der erschreckendsten Momente mit, das Henriette Arendt mitteilt.
Das Heftchen verdient die weiteste Verbreitung, um zu werben für die auf-
opfernde Arbeit, mit der die Verfasserin sich der armen verlassenen Geschöpfe an-
nimmt, aus denen andernfalls nur Parasiten und Schmarotzer an unserer Volks-
gesundheit werden würden.
Jena. Dr. Karl Wilker.
Cell&rier, L., et Dugas, L, L'Année Pédagogique. Première année,
1911. Paris, Félix Alcan, 1912. VIII und 487 §. Preis 5 francs.
Durch das umfassende Literaturverzeichnis (2502 Nummern), das eine ob-
jektive Berichterstattung über die deutsche, englische und französische Literatur des
Jahres 1911 darbieten soll, gewinnt dieses Werk eine Bedeutung, die eine kurze
Anzeige an dieser Stelle rechtfertigt. Während unsere deutschen Jahresberichte
nur einen relativ kleinen Teil der Literatur berücksichtigen und berücksichtigen
können, ist hier der Versuch gemacht, möglichst viel (um nicht zu sagen: alles) in
den Bereich der Berichterstattung einzubeziehen. Es ist natürlich schwer zu sagen,
wie weit das gelungen ist. Wohl aber läßt sich sagen, daß die Berichterstattung
auch die uns besonders interessierenden Hilfswissenschaften eingehend berücksichtigt
hat. Wer Literaturstudien machen muß, wird in diesem Handweiser ein wertvolles
Hilfsmittel finden, und zwar auch für das Studium der deutschen Literatur. Die
Benutzung ist durch die übersichtliche Gruppierung, sowie durch ausführliche und
genaue Sach- und Personenregister sehr erleichtert.
Jena. Dr. Karl Wilker.
D. Literatur. 183
Eingegangene Literatur.
Paul Bader, Die Wirkung der Frage. Veröffentlichungen des Instituts für ex-
perimentelle Pädagogik und Psychologie des Leipziger Lehrervereins, Bd. II.
Herausgegeben von Max Brahn. Leipzig, Alfred Hahn, 1912. 252 S.
J. Bruns u. Helene Fimmen, Hilfsschulkunde. Ein Handbuch für Lehrer und
Behörden. Oldenburg, Schulzesche Hofbuchhandlung (A. Schwartz), 1912. Preis
geb. 5 M.
Ernst Hollweg, Beitrag zur Behandlung von Gaumenspalten. Tübingen, Franz
Pietzcker, 1912. 52 8.
Berliner Lehrgang für leichte Holzarbeiten. Eine Anleitung zur Beschäftigung von
Knaben in Schülerwerkstätten, Knabenhorten, Erziehungs-Anstalten, Familien, in
Hilfsschulen und beim Werkunterricht in Normalschulen. Zweite, verbesserte
Auflage. Leipzig, J. C. Hinrichs, 1912. 36 S. Mit 280 Abbild. auf 12 Tafeln.
8. Edward Seguin, Die Idiotie und ihre Behandlung nach physiologischer Methode.
Bearbeitet und herausgeg. von S. Krenberger. Wien, Carl Graeser & Co., 1912.
XXXIV u. 222 8.
R. G. Wehle, Die schwerhörigen schwachsinnigen Kinder der Landes-Erziehungs-
Anstalt in Chemnitz-Altendorf in ihren Sonderklassen. Mit Ausblicken auf die
uneigentlichen Taubstummen in den Taubstummenanstalten und den sonst normal-
begabten schwerhörigen Kindern in der Volksschule. Sonderabdruck aus: Zeit-
schrift für die Behandlung Schwachsinniger. Jg. XXX, Nr. 4 und 5, April und
Mai 1911. Braunschweig, Hellmuth Wollermann. 24 S. Preis 0,30 M.
Karl Foltz, Die Erziehung zur Selbständigheit. Langensalza, Hermann Beyer
& Söhne (Beyer & Mann), 1912. 20 S. Preis 0,30 M.
Adoif Sellmann, Das Seelenleben unserer Kinder im vorschulpflichtigen Alter.
Ebenda 1911. Mit 5 Tafeln. 146 8. Preis 3 M., geb. 4 M.
Wilhelm Rein, Pädagogik in systematischer Darstellung. 2. Aufl. Ebenda 1911.
Band I. Grundlegung. X und 218 S. Preis 3,40 M., geb. 4,40 M.
I. Ausführung. VII und 348 S. Preis 5,80 M., geb. 6,80 M.
III. Methodologie. VII und 361 S. Preis 6,20 M., geb. 7,20 M.
A. Lesage, Lehrbuch der Krankheiten des Säuglings übersetzt und mit An-
merkungen versehen von Rudolph Fischl. Leipzig, Georg Thieme, 1912. XX u.
696 S. Preis geh. 12 M., geb. 13 M.
Antonie Zerwer, Säuglingspflegefibel. Berlin, Julius Springer, 1912. 72 S.
Preis 0,90 M.
W. J. Ruttmann, Einführung in die Schulhygiene für Pädagogen. Bayreuth,
Grausche Buchhandlung, 1912. VII u. 264 S. Preis 2,20 (2,50) M.
H. Echternach, Handbuch des orthopädischen Schulturnens. Berlin, Weidmannsche
Buchhandlung, 1912. X u. 264 S. Preis 5 M.
Samuel Heinickes Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Georg und Paul
Schumann. Leipzig, Ernst Wiegandt, 1912. XIV u. 654 S. Preis in Halb-
pergament geb. 12,50 M.
Otto Dornblüth, Die Schlaflosigkeit und ihre Behandlung. Leipzig, Veit & Co.,
1912. 92 S. Preis 2,40 M.
Albert Gutzmann, Übungsbuch für stotternde Schüler. Neubearbeitet von Her-
mann Gutzmann und Gustav Wende. 15. Aufl. Berlin, Elwin Staude, 1911.
111 S. Preis kart. 1,20 M.
Murtfeld u. Seebaum, Lesebuch für Hilfsschulen. Erster Teil. Frankfurt,
Moritz Diesterweg, 1912. VIII u. 195 S. Preis geb. 2 M.
184 D. Literatur.
Arno Fuchs, Hilfsschulfragen. Halle a. S., Carl Marhold, 1912. 104 S.
Alfred Binet, Die neuen Gedanken über das Schulkind. Deutsch von Georg An-
schütz und W. J. Ruttmann. Leipzig, Ernst Wunderlich, 1912. XI u. 289 S.
W. Ament, Die Seele des Kindes. 3. verb. Auflage. Stuttgart, Franckh. 96 S.
Preis 1 (1,80) M.
Joseph Stimpfl, Der Wert der Kinderpsychologie für den Lehrer. 3. verbess.
Auflage, Gotha, E. F. Thienemann, 1912. 31 S. Preis 0,80 M.
Th. Ziehen, Über die allgemeinen Beziehungen zwischen Gehirn und Seelenleben.
Dritte, umgearbeitete Auflage. Leipzig, Joh. Ambr. Barth, 1912. 72 S. Preis
220 M.
W. A. Lay, Psychologie nebst Logik und Erkenntnislehre. Gotha, E. F. Thiene-
mann, 1912. VIII u. 219 S. Preis geh. 3,50 M., kart. 4 M.
Hermann Ebbinghaus, Abriß der Psychologie. IV. Auflage, durchgesehen von
Ernst Dürr. Leipzig, Veit & Co., 1912. 208 S. Preis 3 (4) M.
Hugo Münsterberg, Psychologie und Wirtschaftsleben. Ein Beitrag zur an-
gewandten Experimentalpsychologie. Leipzig, Joh. Ambr. Barth, 1912. Vl u.
192 S. Preis 2,80 (3,50) M.
Ernst Siefert, Psychiatrische Untersuchungen über Fürsorgezöglinge. Halle, Carl
Marhold, 1912. 262 S. Preis 6 M.
Johannes Bresler, Kurzgefaßtes Repetitorium der Psychiatrie. Ebenda 1912.
138 S. Preis 2,20 M.
Blätter für Zwangserziehung und Fürsorge. Bd. VIII. Wien, Carl Konegen,
1911. 1968.
Hermann, Das moralische Fühlen und Begreifen bei Imbezillen und bei krimi-
nellen Degenerierten. Halle a. S., Carl Marhold, 1912. 90 S. Preis 2,10 M.
Album neuer Meisterlieder. 62 Lieder für eine Singstimme. Herausgegeben
von E. Rabich. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1912.
168 S. Preis geb. 6 M.
Deutsche Elternzeitschrift. Herausgegeben von Fritz Küppers. 1. u. 2. Jg.
1911 und 1912. Ebenda. Preis 4 M.
August Lomberg, Präparationen zu deutschen Gedichten. Ebenda. 6 Bände.
C. Hoffmann, Handbuch für den Geschichtsunterricht in preußischen Volksschulen.
11. Aufl. Ebenda 1912. XXIV u. 500 S. Preis 6 (7,20) M.
August Lomberg, Auswahl zeuerer Gedichte. 3. Aufl. Ebenda 1911. 64 S.
Preis 0,20 M.
Emil Zeißig, Präparationen für Formenkunde (Raumlehre, Geometrie). 2. Teil.
2. verbesserte Auflage. Ebenda 1912. XI u. 112 S. Preis 2 M.
Fr. Regener, Skizzen zur Geschichte der Pädagogik. 3. Aufl. Ebenda 1912. VI
u. 304 S. Preis 4 (5) M.
Max Troll, Freie Kinderaufsätze. 5. vermehrte Auflage. Ebenda 1912. VI und
136 S. Preis 1,80 M.
Ders., Der Märchenunterricht in der Elementarklasse nach der entwickelnd-dar-
stellenden Methode. Ebenda 1911. 116 S. Preis 1,50 M.
Ders., Das erste Schuljahr. 3. Aufl. Ebenda 1911. VIII u. 239 S. Pr. 3.50 M.
Gerhard Budde, Weltanschauung und Pädagogik in Einzelbildern. Ebenda 1911.
83 S. Preis 1,80 M.
Ders., Die Wandlung des Bildungsideals in unsrer Zeit. Ebenda 1912. 159 S.
Preis 4,50 M.
Ders., Moderne Bildungsprobleme. Ebenda 1912. 184 S. Preis 5,20 M.
D. Literatur. 185
Ders., Mehr Freude an der Schule! 2. verbesserte Auflage. Ebenda 1911. V u.
84 S. Preis 1,80 M.
Ders., Der Kampf gegen die Lernschule. Ebenda 1912. 133 S. Preis 3,60 M.
Ders., Die Lösung des Gymnasialproblems. Ebenda 1912. 388. Preis 0,75 M.
Franz Schleichert, Anleitung zu botanischen Beobachtungen und pflanzen-
physiologischen Experimenten. 8. Aufl. Mit 81 Abbildungen. Ebenda 1912.
XII u. 205 S. Preis 4 (5) M.
Jenaer Seminarbuch, Aus dem Pädagog. Univ.-Seminar. Bd. XIV. Ebenda
1911. VIu. 314 S. Preis 4 M.
0. Flügel, Das Ich und die sittlichen Ideen im Leben der Völker. 5. Aufl. Ebenda
1912. VII u. 285 S. Preis 4,50 (5,50) M.
Otto Siebert, Rudolf Euckens Welt- und Lebensanschauung und die Hauptprobleme
der Gegenwart. 2. Aufl. Ebenda 1911. VI u. 132 S. Preis 2 M.
Theodor Schiebuhr, Zur Behandlung des Kirchenliedes in der Volksschule.
Ebenda 1912. 16 S. Preis 0,30 M.
C. Achinger, Haus- und Klassenlektüre. Ebenda 1912. 22 S. Preis 0,40 M.
Margarete Truan-Borsche, Die ersten Schritte zur Entwicklung der logischen
und mathematischen Begriffe. Ebenda 1912. 51 §. Preis 0,85 M.
Paul Staude, Präparationen für den Religionsunterricht. Ebenda 1912. 8. Heft.
Preis 2 M.
Richard Fritzsche, Methodisches Handbuch für den erdkundlichen Unterricht.
Ebenda 1911. Teil I. Preis 4,50 M.
E. Thrändorf, Allgemeine Methodik des Religionsunterrichts. 5. Aufl. Ebenda
1912. IV u. 122 8. Preis 1,70 M.
Hermann Haase, Zur Methodik des ersten Rechenunterrichts. 3. Aufl. Ebenda
1911. VII u. 141 S. Preis 2 M.
E. Schlegel, Präparationen für Kirchenlieder und Psalmen. Ebenda. XII u. 224 S.
Preis 3 (3,80) M.
G. Bauer, Israelitische Schriftpropheten. 4. Aufl. Ebenda 1912. 36 S. Preis 0,20 M.
Eduard Möller, Anleitung zur Anfertigung von Geschäftsaufsätzen usw. 13. Aufl.
Ebenda 1911. VI u. 153 S. Preis 1.25 M.
Hesse und Breternitz, Die kaufmännische Korrespondenz. 5. Aufl. Ebenda
1912. X u. 141 S. Preis 2 M.
H. Bohm, Leitfaden für den Zeichenunterricht. 3. vermehrte Aufl. Ebenda 1911.
63 S. und 34 Tafeln. Preis 2,60 M. j
Otto Siebert, Ein kurzer Abriß der Geschichte der Philosophie. 3. Aufl. Ebenda
1912. XVI u. 336 S. Preis 3,25 M.
Ph. Kraus, Schüler- Aufführungen, Friedrich der Einzige. Ebenda 1912. 12 S.
Preis 0,20 M.
Dichterklänge, Patriotische Dichtungen. 4. Aufl. Ebenda 1912. XII u. 2128.
Preis 1,46 M.
W. Rein, Kunst. Politik, Pädagogik. Bd. II: Politik. Ebenda 1911. IV u. 318 S.
Preis 2,40 M.
Fr. Förster, Realienbuch. 3. Aufl. Ebenda 1912. Preis geb. 2 M.
Werner Bötte, Für Kirche und Schule. Ebenda 1912. 116 S. Preis 2 M.
J. J. Rousseau, Emil. Herausgegeben von E. v. Sallwürk. 4. Aufl. 418 S.
Preis 3 (4) M.
Ludwig Friedrich Werner, Aus einer vergessenen Ecke. Bd. I. 3. Auflage.
Ebenda 1911. VII u. 208 S. Preis 2,80 M.
186 D. Literatur.
Ders., Aus einer vergessenen Ecke. Bd. U. Ebenda 1912. VIII u. 127 Seiten.
Preis 2,20 M.
Ders., Lieder aus der vergessenen Ecke. Ebenda 1910. 96 S. Preis 1,20 M.
Naturwissenschaftlich-Technische Volksbücherei. Herausgegeben von
Bastian Schmidt. Leipzig, Theodor Thomas. Preis des Heftes 0,20 M.
Otto Quast, Häckels Weltanschauung. Kritischer Bericht. Essen-Ruhr, M. Otto
Hülsmann, 1909. 97 S. Preis 1 M.
Hilfsbuch für schriftstellerische Anfänger. 2. Aufl. Berlin, Max Hirsch-
feld. 144 S. Preis 1,50 (2) M.
Peter Dörfler, Als Mutter noch lebte. Aus meiner Kindheit. Freiburg, Friedrich
Herder. 285 S. Preis 2,70 (3,50) M.
A. Passow, Ein Schriftstellerleben in der guten alten Zeit. Ein Auszug aus Jean
Pauls »Siebenkäs«. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).
1912. 127 S. 125 M.
Annuaire de l'Université de Sofia. 1909—1910. 303 S.
El Monitor de la Education Comun Buenos Aires 1911. Nr. 466—474.
Historia de la Instruccion Primaria de la Republica Argentina 1810—1910.
Buenos Aires, Jakobo Peuser, 1910. Bd. Iu. II. 615 u. 719 S.
Pädagogisches Magazin. Langensalza, H. Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1912.
Heft 9: J. Tews, Sozialdemokratische Pädagogik. 4. Aufl. 51 S. 0,65 M.
„ 21: F. Hollkamm, Erziehender Unterricht und Massenunterricht. 2. Aufl.
59 S. 0,80 M.
„ 27: Th. Kirchberg, Die Etymologie und ihre Bedeutung für Schule und
Lehrer. 2. Aufl. 32 S. 0,40 M.
„ 42: E. Gehmlich, Erziehung und Unterricht im 18. Jahrhundert nach
Salzmanns Roman Karl v. Karlsberg 42 S. 0,50 M.
» 52: 0. Schultze, Zur Behandl. deutscher Gedichte. 2. Aufl. 89S. 1,20 M.
68: Otto W. Beyer, Die erziehende Bedeutung des Schulgartens. 2. Aufl.
23 S. 0,30 M.
„ 74: Fr. Mann, Die soziale Grundlage von Pestalozzis Pädagogik. 2. Aufl.
18 S. 0,25 M.
„ 122: W. Armstroff, Schule und Haus in ihrem Verhältnis zueinander beim
Werke der Jugenderziehung. 5. Aufl. 40 S. 0,50 M.
„ 243: K. Sachse: Apperzeption und Phantasie in ihrem gegenseitigen Ver-
hältnis. 2. Aufl. 25 S. 0,30 M.
„ 250: E. Scheller: Naturgeschichtliche Lehrausflüge (Exkursionen). 2. Aufl.
76 S. 0,90 M.
„ 415: Marie Hüpeden: Der Kinderglaube. 24 S. 0,30 M.
„ 418: Schnell, Geschichte des ritter- und landschaftlichen Landschulwesens
in Mecklenburg-Schwerin 1650—1879. 231 S. 2,40 M.
„ 420: L. Mittenzwey, Lernschule oder Arbeitsschule? Eine kritische Be-
trachtung. 2. Aufl. VIII u 114 S. 1,20 M.
„ 429: R. Hentzschel, Christian Weiß und seine Pädagogik. 2798. 2,70 M.
„ 430: G. Bagier, Herbart und die Musik. 168 S. 2,20 M.
„ 431: H. Schoen, Französ. Stimmen über den Gymnasialunterr. 58 S. 0,80 M.
„ 435: A. Brinkmann, Der Schulgarten als bedeutsames Lehrmittel. 41 S.
0,50 M.
„ 436: Fr. Kohlhase, Die methodische Gestaltung des grammatischen Unter-
richts mit Rücksicht auf seine psychologischen und logischen Grund-
lagen. 768. 1 M.
D. Literatur. 187
Heft 437: M. Bartholomey, Ludolf Wienbarg, ein pädagogischer Reformer des
”
438:
439:
441:
444:
445:
446:
447:
448:
449:
451:
452:
453:
477:
478:
jungen Deutschland. 92 S. 1,30 M.
W. Schmidt, Der Begriff der Persönlichkeit bei Kant. 99 S. 1,30 M.
L. Kunze, Die pädagogischen Gedanken K. Chr. Fr. Krauses in ihrem
Zusammenhange mit seiner Philosophie dargestellt. 1598. 2 M.
Bruno Clemenz, Schule und Bazillus. 238. 0,35 M.
Paul Schneider, Rousseaus Kenntnis der Kindesnatur. Vom Stand-
punkte der experimentellen Pädagogik beurteilt. 44 S. 0,60 M.
Ziegler, Goethes Vater als Erzieher. 18 S. 0,25 M.
O. Flügel, Die Wunder Jesu Christi und die Naturgesetze. 3. Aufl.
49 S. 0,65 M.
G. Lehne, Anstaltserziehung. 17 S. 0,25 M.
Karl König, Der Jugendhort. 29 S. 0,50 M.
W. Fritzsche, Das Volksschullesebuch. 48 S. 0,60 M.
Kuhn-Kelly, Über Mißhandlung der Kinderseele. 20 S. 0,30 M.
O. Schulze, Zur Frage des Heimatlichen. (Zugleich ein Stück Päda-
gogik.) 29 S. 0,40 M.
Heinrich Wetterling, Staatliche Organisation der Jugendpflege.
2. vermehrte Auflage. 38 S. 0,50 M.
J. Tews, Jugendpflege. 2. Aufl. 188. 0,25 M.
G. Schneege, Goethes Spinozismus. 72 S. 1 M.
: A. Popowitsch, Die Ergebnisse der experimentellen Psychologie und
Pädagogik. 1568. 2 M.
: Marx Lobsien, Über den Vorstellungstypus der Schulkinder. Unter-
suchungen nach der Kraepelinschen Methode. 67 S. 0,90 M.
: H. Fränkel, Das Mannheimer Volksschulsystem. 36 S. 0,50 M.
A. Teuscher, J. H. G. Heusinger als Pädagog. 183 S. 2 M.
: G. Siske, Willens- und Charakterbildung bei Vives. 91 S. 1,20 M,
Joh. Prüfer, Vorläufer Fröbels. 36 S. 0,50 M.
: P. Oldendorff, Höhere Schule und Geisteskultur mit Beziehung auf
die Lehrerbildung. 36 S. 0,50 M.
: Max Gerlach, Wie kann man auch in der Massenerziehung die In-
dividualität des Kindes berücksichtigen? IV u. 61 S. 0,80 M.
: Gregor Schmutz, Früheste Erinnerungen. 30 S. 0,40 M.
: Ernst Petzold, Das Arbeitsprinzip im naturkundlichen Unterricht.
17 8. 0,40 M.
: A. Scheller, Die Methoden des bibl. Geschichtsuuterrichts. 288. 0,40 M.
: K. Kubbe, Charakterbildung bei Herbart und Meumann. 1098. 1,50M.
Marx Lobsien, Das 10 Minuten-Turnen. 26 S. 0,35 M.
K. Trautermann, Entstehung, Entwicklung und jetziger Stand einer
Lehrmittelsammlung. 55 S. 0,70 M.
E. v. Sallwürk, Zum Gedächtnis Jean-Jacques Rousseaus. 208. 0,30 M.
R. Arndt, Turgot als Pädagoge. 16 S. 0,25 M.
J. Tews, Familie und Familienerziehung. 60 S. 0,90 M.
E. Behrens, Die Bürgerkunde im Unterricht der höheren Mädchen-
schule. 25 S. 0,30 M.
F. Menzel, Rousseausche Ideen in E. M. Arndts Fragmenten über
Menschenbildung. 34 S. 0,40 M.
H. Löffler, Die staatsbürgerliche Erziehung. 53 S. 0,70 M.
188
D. Literatur.
Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung. Langen-
salza, H
Heft 67
ut,
Ar" 8
„ 10:
„ 102:
„ 108:
„ 104:
„ 105
ermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1912.
: Hermann, Grundlagen für das Verständnis krankhafter Seelenzustände
(psychopathischer Minderwertigkeiten) beim Kinde in 30 Vorlesungen,
2. Aufl. 5 Tafeln. 194 S. 3 M, geb. 4 M.
: Y. Motora, Ein Experiment zur Einübung von Aufmerksamkeit.
(Mit 3 Tafeln.) 16 S. 0,30 M.
Eugenie Breitbart-Schuchmann, Die Behandlung der jugend-
lichen Rechtsbrecher im russischen Straf- und Strafprozeßrecht.
118 S. 1,80 M.
: F. Warburg, Über die angeborene Wortblindheit und die Bedeutung
ihrer Kenntnis für den Unterricht. 21 S. 0,40 M.
: J. Trüper, Zeitfragen. 32 S. 0,50 M.
: Ders., Personalienbuch. 2. Aufl. XX u. 31 S. 0,80 M.
: E. Mentzel, Die Pflanzenkenntnis bei den Kindern unserer Elementar-
klasse. (Mit 4 Tafeln.) 35 S. 0,65 M.
: Fr. Rössel, Richtlinien für die Stoffauswahl im Unterrichte schwach-
sinniger Kinder. 20 S. 0,30 M.
: Karl König, Die Waldschule. VIII u. 124 S. 2,20 M.
: A. Vincenz, Zur Analyse des kindlichen Geisteslebens beim Schul-
eintritte. (Mit 14 Tafeln.) 66 S. 2,40 M.
: F. Schmidt und J. Delitsch, Das Jugendgericht in Plauen i. Vgtl.
45 8. 0,75 M.
: Ernst Ziemke, Die Beurteilung jugendlicher Schwachsinniger vor
Gericht. 20 S. 0,35 M.
: Karl Wilker, Jugenderziehung, Jugendkunde u. Universität. 62 S. 1M.
: Michael Cohn, Kinderprügel und Masochismus. 20 S. 0,30 M.
: Marx Lobsien, Über den Einfluß des Antikenotoxin auf die Haupt-
komponenten der Arbeitskurve 288. 0,45 M.
: Max Kirmsse, Weises Betrachtung über geistesschwache Kinder.
(Mit 2 Abb.) 97 S. 1,50 M.
: Richard Schauer, Beobachtungen über die typischen Einwirkungen
des Alkoholismus auf unsere Schüler. 27 S. 0,45 M.
: G. Anton, Über die Formen der krankhaften moralischen Abartung.
18 S. 0,30 M.
Ad. Ferrière, Biogenetik und Arbeitsschule. 72 S. 1,60 M.
Johannes Delitsch, Soziale Fürsorge für die aus der Hilfsschule
Entlassenen. 20 8. 0,35 M.
O. Flügel, Ziehen und die Metaphysik. 19 S. 0,35 M.
Mönkemöller, Die Psychopathologie der Pubertätszeit. 298. 0,50 M.
: F. Schmid, Ist die Entmündigung psychopathisch Minderwertiger rat-
sam, und wann soll sie eingeleitet werden? 18 S. 0,35 M.
Verantwortliche Schriftleitung für Abhandlungen und Mitteilungen: Dir. I Trüper,
k
Sophienhöhe b. Jena; für Zeitschriftenschau und Literatur: Dr. Karl Wi
er, Jena,
Weißenburgstraße 27.
Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
Verlag von Hermann BEYER & Söune (BEYER & Mann) in Langensalza.
Beiträge zur Kinderlorschung, und Heilerziehung,
Beihefte zur »Zeitschrift für Kinderforschung«.
Im Verein mit
Dr. G. Anton Dr. E. Martinak Chr. Ufer Karl Wilker
Geh. Med.-Rat u. Prof. o. ö. Prof. d. Philosophie Rektor d. Süd-Mädchen- Dr. phil
an der Univ. Halle u. Pädag. a. d. Univ. Graz Mittelschulei. Elberfeld in Jena i. Thür.
herausgegeben von
J. Trüper
Direktor der Erziehungsheimes und Jugendsanatoriums auf der Sophienhöhe bei Jena.
nE
Die Sittlichkeit des Kindes. Von Dr. A. Schinz, Privatdozent der Philosophie
an der Akademie Neufchâtel. Ubers. von Rektor Chr. Ufer. 46 S. Preis 75 Pf.
Über J. J. Rousseaus Jugend. Von Dr. med. P. J. Möbius. 33S. Preis 60 Pf.
Die Hilfsschulen Deutschlands und der deutschen Schweiz. Von A.
Wintermann, Leiter der Hilfsschule in Bremen. Preis 1 M 25 Pf.
. Die mediziniseh- pädagogische Behandlung gelähmter Kinder. Von Prof.
Dr. A. Hoffa in Würzburg. Mit 1 Tafel. 16 S. Preis 40 Pf.
Zur Frage der Erziehung unserer sittlich gefährdeten Jagend. Von J.
Trüper, Dir. des Erziehungsheims Sophienhöhe b. Jena. 40 S. Preis 50 Pf.
Über Anstaltsfürsorge für Krüppel. Von Sanitätsrat Dr. med. Herm. Kruken-
berg, Dir. d. städt. Krankenhauses zu Liegnitz. Mit 7 Textabb. 24 S. Preis 40 Pf.
Die Grundzüge der sittlichen Entwicklung und Erziehüng des Kindes.
Von Dr. H. E. Piggott. 87 8. Preis 1 M 25 Pf.
Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache von Gesetzesverletzungen
Jugendlieher. Von Dir. J. Trüper. 62 S. Preis 1 M.
. Der Konfirmandenunterricht in der Hilfsschule. Von Heinrich Kielhorn,
Leiter der Hilfsschule in Braunschweig. 40 S. Preis 50 Pf.
Über das Verhältnis des Gefühls zum Intellekt in der Kindheit des
Individuums und der Völker. Von O. Flügel. 45 S. Preis 75 Pf.
. Einige Aufgaben der Kinderforschung auf dem Gebiete der künstlerischen
Erziehung. Von Conrad Schubert, Rektor in Altenburg. 31 S. Preis 50 Pf.
. Strafrechtsreform und Jugendfürsorge. Von W. Polligkeit, jur. Dir. der
Cent. f. priv. Fürsorge in Frankfurt a/M. 25 S. Preis 50 Pf.
16 Monate Kindersprache. Von Dr. H. Tögel. 36 S. Preis 50 Pf.
Die Bedeutung der chronischen Stuhlverstopfung im Kindesalter. Von
Dr. Eugen Neter. 28 X. Preis 45 Pf.
. Zur Frage des Bettnässens. Von Dr. med. Hermann. 188. Preis 30 Pf.
Warum und wozu betreibt man Kinderstudium? Von A. J. Schreuder,
Direktor des Med.-Päd. Instituts zu Arnheim. 40 8. Preis 50 Pf.
17: Eyemalegiae Beobachtungen an zwei Knaben. Von Gottlieb Friedrich,
Gymnasial-Professor in Teschen. 79 S. Preis 1 M 25 Pf.
18. Die Abartungen des kindlichen Phantasielebens in ihrer Bedeutung für
die päd. Pathelogie. Von Dr. med. Julius Moses. 32 S. Preis 50 Pf.
19. Hygiene der Bewegung. Von Dr. H. Pudor. 44 8. Preis 75 Pf.
20. Zur Frage der Behandlung unserer jugendlichen Missetäter. Von J.
Trüper, Dir. des Erziehungsheims Sophienhöhe b. Jena. 34 S. Preis 50 Pf.
21. Die Verwahrlosung des Kindes und das geltende Recht. Von Dr.
Heinrich Reicher, Privatdozent a. d. Wiener Universität. 32 S. Preis 50 Pf.
22. Über Vorsorge und Fürsorge für die intellektuell schwache und sittlieh
gefährdete Jugend. Von Dr. M. Fiebig, Schularzt in Jena. 50 S. Preis 75 Pf.
23. Über Arbeitserziehung. Von Pastor Plass, Direktor des Erziehungsheims am
Urban, Zehlendorf. 22 S. Preis 40 Pf.
en na Mm WN
=e p |-
V. O
ed pt
Pw
pi pet
Do
Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Bever & Mann) in Langensalza.
Heft
24.
25.
26.
27.
28.
29.
30.
31.
32.
33.
34.
Das ge in seiner Bedeutung für die Entwicklung des Kindes.
Von Max lin, Rektor in Mannheim. 44 S. Preis 75 Pf.
Wesen und Aufgabe einer Schülerkunde. Von Dr. E. Martinak, Professor
der Pädagogik an der Universität Graz. 18 S. Preis 30 Pf.
Die forensische Behandlung der Jugendlichen. Von W. Kulemann, Land-
gerichtsrat in Bremen. 218. Preis 40 Pf.
Die Impressionanpilität der Kinder unter dem Einfluss des Milieus. Von
Dr. Adolf Baginsky, Professor an der Universität Berlin und Direktor des
Kaiserin Friedrich-Kinderkrankenhauses. 21 8. Preis 40 Pf.
Rachitis als eine auf Alkoholisation und Produktionserschöpfang be-
ruhende Entwicklungsanomalie der Bindesubstanzen. Von Dr. M. Fiebig,
Schularzt in Jena. 38 S. Preis 75 Pf.
Psyehasthenisehe Kinder. Von Dr. Th. Heller, Direktor der Erziehungsanstalt
für geistig abnorme Kinder Wien-Grinzing. 18 S. Preis 35 Pf.
Die Fürsorge für die schulentlassene Jugend. Von Dr. Felisch, Geh.
Admiralitätsrat. 17 S. Preis 30 Pf.
Farbenbeobachtungen bei Kindern. Von Dr. Karl L. Schaefer, Professor
an der Universität Berlin. 16 8. Preis 30 Pf.
Über die Möglichkeit der Beeinflussung abnormer Ideenassoziation dureh
Erziehung und Unterricht. Von Hugo Landmann, Oberlehrer am Trüperschen
Erziehungsheim Sophienhöhe b. Jena. 218. Preis 40 Pf.
Über hysterische Epidemien an deutschen Sehulen. Von Kurt Walther Dix,
Lehrer in Meißen. 46 S. Preis 75 Pf.
Die psychologische und BINAEREIAChE Begründung der Notwendigkeit
des praktischen Unterrichts. Von Dr. A. Pabst, Direktor des Handarbeits-
seminars in Leipzig. 20 S. Preis 40 Pf.
Die oberen Stufen des Jugendalters. Von Dr. H. Schmidkunz in Halensee
bei Berlin. 20 S. Preis 40 Pf.
. Fröbelsche Pädagogik und Kinderforschung. Von Hanna Mecke in Cassel.
18 S. Preis 35 Pf.
. Über individuelle Hemmungen der Aufmerksamkeit im Schulalter. Von
J. Delitsch, Hilfsschul-Direktor in Plauen i. V. 25 S. Preis 50 Pi.
Die Taubstumm-Blinden. Von G. Riemann, Kgl. Taubstummenlehrer zu
Berlin. Mit 2 Tafeln. 218. Preis 45 Pf.
Beitrag zur Kenntnis der Schlafverhältnisse Berliner Gemeindeschüler.
Von Dr. L. Bernhard, Schularzt in Berlin. 13 S. Preis 25 Pf.
Wohnungsnot und Kinderelend. Von A. Damaschke. 17 S. Preis 30 Pf.
. Jugendliche Verbrecher. Von Dr. G. von Rohden. 18 S. Preis 35 Pf.
. Die Bedeutung der Hilfsschulen für den Militärdienst der geistig Minder-
wertigen. Von Dr. Ewald Stier, Stabsarzt in Berlin. 26 S. Preis 50 Pf.
Der Zitterlaut R. Von O. Stern, Tbst.-L. in Stade. Mit 2 Fig. 388. Pr. 75 Pf.
. Psycehologisches zur ethischen Erziehung. Von Professor Dr. Stephan
Witasek. Mit 1 Tafel. 17 S. Preis 30 Pf.
. Zur Wertschätzung der Pädagogik in der Wissenschaft wie im Leben.
Von J. Trüper, Dir. d. Erziehungsheims Sophienhöhe b. Jena. 288. Pr. 50 Pf.
Fingertätigkeit und Fingerrechnen als Faktor der Entwicklung der Intelli-
genz und der Rechenkunst bei Schwaehbegabten. Von H. Nöll. 608. Pr. 1 M.
. Der erste Sprechunterricht (Artikulationsunterricht) bei Geistessehwachen.
Von Hauptlehrer Strakerjahn. Mit 2 Textabb. u. 1 Tafel. 25 S. Preis 60 Pf.
. Das staatliehe Kindersehutzwesen in Ungarn. Von Dr. Franx v. Torday.
Oberarzt des Budapester staatlichen Kinderasyls. 37 8. Preis 80 Pf.
. Die Prügelstrafe in der Erziehung. Von Dr. O. Kiefer. 428. Preis 75 Pf.
. Der Tie im Kindesalter und seine erziehliche Behandlung. Von Gustav
Dirks. 29 S. Preis 60 Pf.
. Zur Literatur über Jugendfürsorge und Jugendrettung. Von K. Hemprich,
27 S. Preis 50 Pf.
Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
Verlag von Hermann Bever & Sönse (Beyer & Many) in Langensalza.
Heft
52. Kind und Gesellschaft. Von Konrad Agahd in Rixdorf. 38 3. Preis 60 Pf.
53. Der Kinderglaube. Von H. Schreiber, Lehrer i. Würzburg. 70S. Preis 1M25 Pf.
54. Psyehopathisehe Mittelschüler. Von Dr. phil. Theodor Heller, Direktor der
Heilerziehungsanstalt Wien-Grinzing. 26 8. Preis 50 Pf.
55. Über den Einfluss der venerischen Krankheiten auf die Ehe sowie über
ihre Übertragung auf kleine Kinder. Von Prof. E. Welander, Stockholm.
43 S. Preis 75 Pf.
56. Die Bedeutung des Unterrichts im Formen für die Bildung der Ansehauung.
Von H. Denzer. 25 8. Preis 50 Pf.
57. Uber den Einfluss des Alkoholgenusses der Eltern und Ahnen auf die Kinder.
Von Dr. A. H. Oort, Arzt a. Sanat. Rheingeest b. Leiden, Holland. 208. Preis 40 Pf.
58. Jugendsehatz-Kommissionen als vollwertiger Ersatz für Jugendgerichts-
höfe. Von Kuhn-Kelly, Präsident u. Kinderinspektor der Gemeinnützigen Ge-
sellschaft der Stadt St. Gallen. 19 S. Preis 40 Pf.
59. Das amerikanische Jugendgericht und sein Einfluss auf unsere Jugend-
reang und Jugenderziehung. Von Dr. B. Maennel, Rektor in Halle a. S.
A Preis 50 Pf.
60. Die Entwicklung der Gemütsbewegungen im ersten Lebensjahre. Von
Martin Buchner in Passau. (Mit 4 Tafeln.) 20 8. Preis 50 Pf.
61. Frühreife Kinder. Psychologische Studie von Dr. Otto Boodstein, Stadtschulrat
in Elberfeld. 43 S. Preis 75 Pf.
62. Der Arzt in der Hilfsschule. Von Geh. Reg.- u. Med.-Rat Prof. Dr. Leu-
buscher und Hilfsschullehrer Adam. 26 S. Preis 50 Pf.
63. Die Suggestion im Leben des Kindes. Von Hans Plecher, München. 36 S.
Preis 60 Pf.
64. Das Beobachtungshaus der Erziehungsanstalten. Von J. Petersen, Direktor
des Waisenhauses in Hamburg. 19 8. Preis 40 Pf.
65. Über den gegenwärtigen Stand der Kunsterziehungsfrage in Österreich.
Von Prof. Alois Kunxfeld in Wien. (Mit 1 Doppeltafel.) 34 S. Preis 75 Pf.
66. Straffällige Schulknabea in intellektueller, moralischer und sozialer Be-
ziehung. Von C. Berkigt, Lehrer an der Kgl. Landesstrafanstalt zu Bautzen.
42 S. Preis 65 Pf.
67. Grundlagen für das Verständnis krankhafter Seelenzustände (psyeho-
pathiseher Minderwertigkeiten) beim Kinde in 30 Vorlesungen. Von Dr. med.
Hermann, Merzig a/Saar. (Mit 5 Tafeln.) 2. Aufl. 1948. Preis 3 M., geb. 4 M.
68. Lüge und Ohrfe'ge. Eine Studie auf dem Gebiete der psychologischen Kinder-
forschung u. der Heilpädagogik. Von Kuhn-Kelly, Präsident u. Kinderinspektor
der Gemeinnützigen Gesellschaft der Stadt St. Gallen. 23 S. Preis 40 Pf.
69. Die Sinneswahrnehmungen der Kinder. Von Dr. phil. Hugo Schmidt 33 S.
Preis 50 Pf.
70. Der Selbstmord im kindlichen und jugendlichen Alter. Von Dr. med.
Neter. 228. Preis 40 Pf.
71. Zur Kenntnis der Ernährungsverhältnisse Berliner Gemeindeschüler. Von
Dr. L. Bernhard, städt. Schularzt in Berlin. 28 S. Preis 45 Pf.
72. Einfluss von Gebirgswanderungen auf die körperliche Entwicklung unserer
Voiksschuljugend. Von Dr. H. Roeder-Berlin. 17 S. Preis 30 Pf.
73. Die sozialen und psychologisehen Probleme der jugendlichen Verwahr-
losung. Von Dr. Julius Moses, Arzt in Mannheim. 32 8. Preis 50 Pf.
74. Wie weit reicht das Gedächtnis Erwachsener zurück? Von Gregor
Schmutz, Landes-Taubstummenlehrer in Graz. 27 S. Preis 45 Pf.
75. Ursachen der Verwahrlosung Jugendlicher. Von J. Delitsch. 358. Pr. 60 Pf.
76. Beobachtungen über die geistige Entwicklung eines Kindes in seinem:
ersten Lebensjahre. Von Dr. T. Ischikawa, Irrenarzt in Tokio. 538. Pr. 90 Pf.
77. Ein Experiment zur Einübung von Aufmerksamkeit. Von Dr. phil. Y. Motora,
Professor an der kaiserl. Univ. zu Tokio. (Mit 3 Tafeln.) 16 S. Preis 30 Pf.
Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
Verlag von Hermanx BEYER & Sönne (Bever & Mans) in Langensalza.
Heft
78.
79.
Die Behandlung der jugendlichen Rechtsbrecher im russisehen Straf- und
Strafprozessrecht. Von Eugenie Breitbart-Schuchmann aus Odessa (Rußland).
118 S. Preis 1 M 80 Pf.
Über die angeborene Wortblindheit und die Bedeutung ihrer Kenntnis
für den Unterricht. Von Dr. med. F. Warburg, Köln. 218. Preis 40 Pf.
Zeitfragen. Von J. Trüper. 32 S. Preis 50 Pf.
. Die staatsbürgerliche Erziehung im Lehrplan der Volksschule. Von R.
Lambeck, Rektor a. D. in Remscheid-Hasten. 63 S. Preis 1 M.
4 Lehrpläne für den Unterricht in der Hilfsschule nebst methodischer An-
weisung. Von Rud. Weiß, Dir. d. Hilfssch. zu Zwickau i/S. 135 S. Pr. 2 M70 Pf.
. Verfassung und Erziehungsplan des Kindergartens. Von M. Damrow.
IV u. 72 8. Preis 1 M 60 Pf.
Personalienbuch. Von J. Trüper. 2. Aufl. XX u. 318. Preis 80 Pf.
Die Pflanzenkenntnis bei den Kindern unserer Elementarklasse. Von
E. Mentxel, Seminarlehrer in Altenburg. (Mit 4 Tafeln.) 358S. Preis 65 Pf.
Die reine Kinderleistang. Von R. Egenberger, München. (U. d. Pr.)
. Richtlinien für die Stoffauswahl im Unterriehte schwachsinniger Kinder.
Von Fr. Rössel. 20 S. Preis 30 Pf.
Erholungsheime für schulpflichtige Kinder der Grossstadt. Von Richard
Schauer. 90 S. Preis 1M 60 Pf.
. Die Waldschule. Von Karl König, Kreisschulinspektor in Mülhausen i. Els.
VII u. 124 S. Preis 2M 20 Pf.
Zur Analyse des kindlichen Geisteslebens beim Schuleintritte. Von
A. Vincenz. 66 S. (Mit 14 Tafeln.) Preis 2 M 40 Pf.
. Das Jugendgericht in Plauen i. Vgtl. Von F. Schmidt, Amtsrichter, und
J. Delitsch, Schuldirektor. 45 8. Preis 75 Pf.
Die Beurteilung jugendlicher Schwachsinniger vor Gericht. Von Prof.
Dr. Ernst Ziemke-Kiel. 20 S. Preis 35 Pf.
. Jugenderziehung, Jugendkunde und Universität. Von Dr. Karl Wilker.
62 S. Preis 1 M.
2 nen der österreichischen Schulreform. Von Dr. Ludwig Singer.
6 S. Preis 40 Pf.
. Kinderprügel und Masochismus. Von Dr. Michael Cohn, Kinderarzt in
Berlin. 20 S. Preis 30 Pf.
Über den Einfluss des Antikenotoxin auf die Hauptkomponenten der
Arbeitskarve. Von Marx Lobsien, Kiel. 28 S. Preis 45 Pf.
. Weises Betrachtung über geistesschwache Kinder. Von Max Kirmsse,
Lehrer a. d. Erzichungsanstalt Idstein i. T. Mit 2 Abb. 97 S. Preis 1 M 50 Pf.
Beobachtungen über die typischen Einwirkungen des Alkoholismus auf
unsere Schüler. Von Richard Schauer. 27 N. Preis 45 Pf.
Über die Formen der krankhaften moralischen Abartung. Von Dr. G.
Anton, Geh. Med.-Rat u. Prof. a. d. Univ. Halle 18 S. Preis 30 Pf.
. Biogenetik und Arbeitssehule. Von Prof. Dr. Ad. Ferrière. T28. Pr. 1M 60 Pf.
2. Soziale Fürsorge für die aus der Rilfsschule Entlassenen. Von Johannes
Delitsch. 20 S. Preis 35 Pf.
3. Ziehen und die Metaphysik. Von O. Flügel. 19 S. Preis 35 Pf.
. Die Psychopathologie der Pubertätszeit. Von Oberarzt Dr. Mönkemöller.
29 8. Preis 50 Pf.
. Ist die Entmündigung psychopathisch Minderwärtiger ratsam, und wann
soll sie eingeleitet werden? Von Amtsgerichtsrat Dr. F. Schmid in Jena.
18 S. Preis 35 Pf.
3> Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen und schwer-
schwachsinnigen Kindern. Von Kurt Lehm, Dresden. Mit 4 Abbildungen.
36 Seiten. Preis 70 Pf.
Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
| — — m - -H —_ a u a)
IT TS TS See Sn nn ss ss cs ss ss ss <<< ss ss <<< cc
SOLOLOLO8O3O8080803030808080808
24: < % DE DE DE DE DE DL 9% 1192 DE
JS K AS % IEAS- RR JBK K N ASTAS
nn 08080808
A. Abhandlungen.
1. Psychische Fehlleistungen.
Von
R. Egenberger, München.
(Fortsetzung.)
Versprechen.
Im folgenden führe ich bestimmte Störungen der Lautfolge an,
wie sie uns im gewöhnlichen Versprechen häufig begegnen, und die
wir insbesondere in der schriftlichen Darstellung der Kinder mitunter
als typischen Fehler antreffen.
Die Fehlleistungen, die wir als Vorausnahme und Nach-
wirkung bezeichnen, kennzeichnen sich durch eine Vertauschung,
einen Umsturz der Laute oder der Buchstaben. Es entsteht ein un-
deutsches, nicht gebräuchliches Wort, obwohl das Wort von dem
Fehlenden schon viele Male richtig gesprochen und geschrieben wurde.
Für diese Fehlleistungen wenden wir speziell das Wort Versprechen an.
In welcher Weise nun ist wohl die Lautordnung eines Wortes
gestört?
1. Es kann ein Vertauschen der Laute stattfinden, so daß der
Laut, der erst gegen das Ende des Wortes aufzutreten berechtigt ist,
schon zu Beginn des Wortes in Erscheinung tritt. Diese Art des
Vertauschens bezeichnet man als Vorausnahme (Anticipation)
(Mehringer) z. B.:
saget für sagte
begaut für gebaut
Gustva für Gustav
Kopfhinter für Hinterkopf.
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 13
194 A. Abhandlungen.
2. Das »Sich-Versprechen« erscheint als Nachwirkung (Post-
position). Hier behauptet sich ein Laut, der berufen ist, etwa einmal
aufzutreten, auch noch ein zweites Mal. Es tritt dadurch entweder
eine Erweiterung um einen oder mehrere Laute ein, oder es werden
Laute völlig verdrängt. Z. B.:
Leberknödel wird Leberknöbel gesprochen.
Kickeriki wird Kickirikri gesprochen.
Schüssel wird Schüschel gesprochen.
Seifenschüssel == Scheifenschüschel (Vorausnahme und Nachwirkung).
Laute verschiedener Wörter werden vermengt.
Wortvermengungen (optisch und akustisch ablenkende Be-
einflussung).
Die Wortvermengung (Onomatomixie) (Wundt) ist mit den soeben
genannten Fehlleistungen enge verwandt. Bei den behandelten Störungen
waren die Laute innerhalb eines Wortes umgestellt; bei den Wort-
vermengungen finden gleichfalls Umstellungen statt, aber sie erstrecken
sich auf größere Entfernungen. Es findet bei der Wortvermengung
die teilweise oder vollständige Verdrängung eines Wortes durch ein
anderes Wort statt. Es vermengen sich Wörter, zwischen denen eine
Laut- oder Begriffsverwandtschaft besteht, also auf Grund bestehender
Assoziationen.
Es findet dabei eine Analogiebildung statt. Die weniger oft
vorkommenden oder die außergewöhnlichen Formen werden
nach dem Rezepte der regelmäßig und häufig gesprochenen
Formen gebildet. Auf diese Weise erklärt sich vielleicht folgender
Fehler. Ein Mädchen sprach: das Wand, das Tisch, das Deckel; da-
zwischen auch wohl einen anderen Artikel, doch herrschte das Neutrum
vor. In der Kinderstube hängt man mit Vorliebe den Wörtern ein
lein oder erl oder le an. Statt der Bub sagt man das Buberl, aus
der Wurst wird das Würstl, und ebenso: das Mutterl, das Tischlein,
das Hüterl usw. Das Neutrum gewinnt dadurch einen Vorsprung;
denn die häufig gebrauchten Formen müssen wir uns als die geübteren
und wirksameren vorstellen.
Aus dem Satze: »Die Frau kehrt mit dem Besen« entstand durch
Versprechen: »Die Frau best.« »Best« erinnert an »kehrt«, wovon
nur die Flexionsendung t erhalten blieb, und an »Besen«, wovon die
Endung en wegblieb. Es handelt sich hier durchaus nicht um die
Neubildung eines Zeitwortes in der Weise, wie sich etwa das Sub-
stantiv Hammer und das Zeitwort hammert verhalten, sondern hier
liegt ein Sprechfehler vor, welcher sofort korrigiert worden ist. Die
Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 195
Assoziation zwischen Besen und kehren ist die Brücke, durch deren
Vorhandensein die Angleichung ermöglicht war. Gerade die Flexion
des Zeitwortes ist eine unerschöpfliche Quelle für Wortvermengungen
und Angleichungen. Insbesondere stehen die starken und schwachen
Formen der Konjugation in Konkurrenzkampf. Je mehr bestimmte
Formen geübt sind, d. h. gebraucht werden, desto größer sind die
Aussichten, daß analog diesen, die anderen Verbalformen konstruiert
werden. Es gibt Kinder, die die starken Verba wie die schwachen
behandeln und umgekehrt, z. B. »getrinkt« für getrunken, »gehte« für
ging; »der Hund wird ins Wasser hineingewerft«; »stechte in das
Herz« —= stach in das Herz; »du sterbst nicht«; »Hast du das issen?«
»freßt alle Teller leer«.
Es ist den Kindern die Aufgabe gestellt, die Objekte, welche auf
dem Tische liegen oder welche auf die Tafel gezeichnet sind, mit den
ihnen zugehörigen Namen zu benennen. Richtig gesprochen, würden
diese lauten: Maus, Mantel, Messer, Wasser, Wand, Wiese; sie werden
aber so gesprochen: Maus, Mantel, Messer, Masser, Mand, Miese. Hier
ist der Übergang von der M-Wörtergruppe zur W-Wörtergruppe ver-
paßt worden; das M wirkt nach und verdrängt zugleich das W. Eine
Reihe von solchen Proben bestätigen mir, daß immer dann, wenn es
sich um den Übergang oder den Wechsel einer psychischen
Bewegung handelt, welcher eine weittragendere, allge-
meinere Bedeutung zukommt, und nun durch einen zweiten
psychischen Akt, welcher etwa eine kleinere Modifikation
bedeutet, abgelöst werden soll, eine Hemmung oder Er-
schwerung dieser Ablösung, dieses Wechsels oder Über-
ganges sehr leicht in Erscheinung tritt. Wichtige Elemente
und Impulse verselbständigen sich dermaßen, daß sie zu Störungen
ausarten, indem sie in gleicher Richtung beharren und neue Impulse
und neue psychische Akte nicht aufkommen lassen. Das Vermögen
zu beharren charakterisiert diese Form der Nachwirkung.!) Als
weiteres Beispiel füge ich noch folgenden Vers bei: Duftend pranget
Flur und Hain. Gesprochen wurde aber: »Duftend pranget pur und
pain.e Die Nachwirkung äußert sich aber in noch ganz anderer
Weise. Sie beschränkt sich nicht bloß auf einzelne Laute, sondern
sie bezieht sich auch auf ganze Worte: ich lasse z. B. die Objekte
benennen und zeige auf das Wasser. Die Antwort »Wasser« erfolgt
korrekt. Nun zeige ich auf die Wand; die Antwort lautet: » Wassers,
1) Vorausnahme und Beharrung zeigen diese Beispiele: Gürtül (Gürtel), Gü-
müse (Gemüse) — akustisch ablenkende Beeinflussung.
13*
196 A. Abhandlungen.
ist also falsch und wird nachträglich korrigiert. Die falsche Antwort
beruht auf einer Nachwirkung (auf einem Nicht-Loskommen
vom unmittelbar Vorhergehenden); die Nachwirkung be-
zeichnet zugleich entstehende Schwierigkeiten hinsichtlich
des Untergehens und Vergessens aufgetauchter Vorstellungen.
Vermengung mit Vorausgegangenem kann aber auch auf ganz
anderen Gebieten bemerkt werden; z. B. im Gebiete der Bewegungen
und Handlungen. Um den Inhalt des Wortes »herumgehen« zu ver-
anschaulichen, mußte ein Schüler um den Tisch »herum«gehen. Eine
Schülerin sollte um die Schultafel »herum«-gehen; trotz sechsmaliger
Aufforderung ging sie auch um den Tisch, statt um die Schultafel
herum. — Ein Knabe sollte zum Lehrer der Nachbarklasse ein Zirkular
hinübertragen. Der Auftrag wurde ihm deutlich gesagt und auch die
Türe genau bezeichnet, an welcher er anzuklopfen habe. Der Auftrag
wurde nicht erfüllt; der Knabe trug das Zirkular zum Oberlehrer der
Schule, welcher sein Bureau in einem anderen Schulgebäude hat.
Dieses Verlaufen erklärt sich dadurch, daß derselbe Knabe tags zuvor
in einer ähnlichen Angelegenheit zum Oberlehrer zu gehen hatte. —
Um die Größe des Schulzimmers zu bestimmen, mußte dieses ab-
geschritten werden. Es stellte sich heraus, daß es zehn Schritte breit
ist. Bald darauf mußte bestimmt werden, wie groß die vorgezeigte
Zwetschge ist. Mehrere Kinder deuteten die Größe an, indem sie den
Abstand mittels Zeigefinger und Daumen angaben. Auf die Frage an
einen der Schüler ergab sich trotzdem als Antwort: »Die Zwetschge
ist zehn Schritte groß.«
Wie erklären sich die Fehler des Versprechens?
Für alle Fälle steht fest, daß hier eine bestimmte Regel- und
Gesetzmäßigkeit besteht. Es zeigt sich, daß eine Einwirkung auf
einzelne Laute stattfand. Es läßt sich auch nachweisen, von welcher
Stelle aus die Einwirkung jeweils erfolgte. Die Folge der Einwirkung
ist eine Veränderung des Lautes. Diese Veränderung erstreckt sich
entweder (regressiv) auf einen vorausgehenden oder (progressiv) auf
einen nachfolgenden Laut. Es müssen also zwischen den Lauten die
hier in Betracht kommen, Kontakte bestehen. Diese Kontakte sind
nur auf Grund von Assoziationen denkbar (Assoziationsstörungen). Die
Laute, die in Kontakt stehen, sind zeitlich und räumlich nahe bei-
sammen, sie können also gleichzeitig oder doch kurz nacheinander ins
Bewußtsein treten. Aber auch auf größere Entfernungen sind der-
artige Assoziationswirkungen nachzuweisen. Man muß sich dabei nur
auch gegenwärtig halten, daß es Assoziationen zwischen Vorstellungs-
elementen, nicht zwischen Vorstellungen (komplexer Natur) sind.
Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 197
Gerade die Beispiele des Versprechens liefern hiefür einen deutlichen
Beweis. Die Lautassoziation spielt eine größere Rolle, als wir meinen.
Unsere Kinder sprechen und reimen, spielen und dichten mit laut-
ähnlichen Worten. Hier kommt die Lautassoziation rein zur Geltung.
Aber auch beim Erwachsenen überwiegt dieselbe; die experimentelle
Psychologie hat das nachgewiesen und die Fehlleistungen beweisen
dasselbe. Z. B. 8.2 = 18; 7.2 = 17; 9.2 = 19.
Das Gleiche auch hier: 1.2 = 2
PAO 4
3.2 = 6
4.2 = 8
5.2 = 10
6.2 = 12
7.2 = 14
4 61). 2 = 16
Beim »Versprechen« gibt Mehringer die Erklärung, daß bezüglich
der einzelnen Laute eine Verschiedenwertigkeit anzunehmen sei. Als
höchstwertige Laute gelten ihm der Anlaut der Wurzelsilbe, der Wort-
anlaut und die betonten Vokale. Ob den einzelnen Lauten des Wortes
dieser größere oder geringere Wert zukommt, muß sich bei den ersten
Übungen im Buchstabieren deutlich zeigen. Das Wort Maus wurde
buchstabiert: M...s; das Wort Stein: ...n. An unzähligen Beispielen
zeigte sich es immer wieder, daß nicht gerade die Laute, welche für
den Privatgelehrten vollwertig sind, auch für die Verhältnisse, von
denen wir hier sprechen, diese absolute Bedeutung haben. Vom
Standpunkte der Wortbildung aus erscheint die Sache doch etwas
anders. Bei den Kindern, welche der Sprache in nur geringem Maße
mächtig sind, ist das gesprochene Wort ein zusammengehöriger, zu-
nächst nicht entwirrbarer Lautkomplex. Die einzelnen Laute des
Wortes werden manchmal erst im sechsten oder siebenten Lebensjahre
aufgefaßt und zwar oft erst in der Schule durch Wortanalyse. Gerade
die Wortanalyse bereitet aber in diesem Alter zahlreiche Schwierig-
keiten. Wenn aus dem Worte »Stein« nichts als das »n« heraus-
gehört wird, so ist für den Jungen dieses Wort eben vorerst nur ein
Lautkomplex. Das kennzeichnet eben die Entwicklungsstufe, auf der
er steht. Daß etwa der erste und letzte Laut des Wortes losgelöst
werden, erscheint mir ganz natürlich aus dem Grunde, aus dem eben
die Initial- und Finalbetonung ihre ganz besondere Bedeutung haben.
Wie so einem Lautkomplex jeder einzelne Laut abgerungen werden
1) Wirkung der Lautassoziation (Vorausnahme).
198 A. Abhandlungen.
muß, zeigt folgendes Beispiel, das vom gleichen Jungen kommt. Er
buchstabiert Michel: M.. nun spricht er wieder das Wort Michel,
nun sagt er: Mi... nun spricht er wieder das ganze Wort Michel
und buchstabiert weiter: Mich und auf dieselbe Weise dann ferner:
Miche und schließlich Michel. Das bedeutete für den Knaben also
schon einen Fortschritt, nämlich bewußtes Suchen. Von dem einen
Worte Michel bricht er Laut für Laut ab, um damit ein neues Wort
Michel aufzubauen. In einem Zuge Laut für Laut zu isolieren, vermag
er nicht, er täte es gerne, wenn er könnte. Dieses Beispiel läßt er-
kennen, daß wenn der erste Laut eines Wortes innerviert ist,
der Erregungsvorgang sich ohne weiteres dem nächstfolgen-
den usf. schon zugewandt hat. Es ist eine Bewegung nach
vorwärts, die nicht im mindesten eine Tendenz, rückwärts
zu Schauen, verrät. Im Wort ist der einzelne Laut nicht
ein Ding für sich. Das Wort ist eine simultane Vorstellung.
Der einzelne Laut tritt nicht isoliert ins Bewußtsein, sondern die
Laute eines Wortes bilden einen festgefügten Verband. Das gilt auch
insbesondere nach der physiologischen Seite hin, wir sprechen nicht
so sehr einzelne Laute, als Lautverbindungen, und wenn wir ein Wort
sprechen, dann ist das schon so vorbereitet und eingeübt, daß wir es
in einem Zuge artikulieren. Das Wichtige daran ist, daß die Laute,
ehe sie gesprochen werden, vorbereitet werden; es findet also eine
Einstellung des Apparates statt, bevor die Ausführung der Artikulation
stattfindet. Wenn wir nun schon eine Verschiedenwertigkeit der Laute
annehmen wollen, dann ist die Verschiedenwertigkeit der Laute wohl
nur einer und sicherlich nicht der wichtigste von den Gründen,
sondern rein individuelle Momente sind in weit höherem Maße die
Bedingung, daß irgend ein Laut sich einen Vorrang vor den anderen
erringt. Die Gründe für die Störung sind weit mehr im
sprechenden Subjekte gelegen.
Wir müssen von der Tatsache ausgehen, daß der Artikulation
die Wortvorstellung vorausgeht. Zwischen Wortvorstellung und Arti-
kulationsbewegung liegt die Frist, welche zur Innervation der Sprech-
bewegung nötig ist. Beim Ablauf dieser Prozesse kommt es darauf
an, daß Artikulation und Wortvorstellung in einem, sich entsprechen-
den Einklang stehen. Bei einem halbwegs geübten Sprecher erfordert
der Ablauf keinen größeren Aufwand von Aufmerksamkeit; wir müssen
aber dennoch daran festhalten, daß sich zwischen den Vor-
stellungsablauf und den Ablauf der Artikulation eine auf-
merksame, regulierende Kontrolle stellt, welche bewirkt,
daß die Artikulation auch wirklich der adäquate Ausdruck
Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 199
der Vorstellung sei. Der sinngemäße und geordnete Ablauf beruht
also auf dem Zusammenwirken mehrerer Faktoren, und da ist es
leicht möglich, daß ein Faktor aus irgend einem Grunde
außer Funktion tritt. Damit ist dann die Tatsache einer Störung
gegeben. Am häufigsten ist es der Fall, daß der Vorstellungs-
verlauf eine solche Beschleunigung erfährt, daß dadurch
ein zu großer Abstand von der Sprechbewegung entsteht,
welch letztere jainnurgeringem Maße beschleunigt werden
kann. Aus diesem Grunde muß gerade beim Kinde Versprechen und
stolperndes Sprechen eintreten; denn bei dem aufwachsenden Kinde
ist die Sprechlust sehr hochgradig, während die Sprechfähigkeit ver-
hältnismäßig gering ist. In jedem Falle legt das Sprechen dem
eiligen Gedanken den Zügel an. Noch viel mehr muß das beim
Niederschreiben eines Gedankens in Erscheinung treten; denn der
Abstand zwischen dem raschen Vorstellungsleben und dem
langweiligeren Schreiben ist noch größer.
Beweis: In der Tat kommt das »Verschreiben« viel mehr
vor als das »Versprechen«. Die Tätigkeit der Artikulationswerk-
zeuge beim Sprechen oder Lesen, die Fingertätigkeit beim Klavier-
spiel usw. sind uns nur bewußt in der Zeit, in welcher wir diese
Tätigkeiten zu erlernen versuchen; später laufen diese Prozesse ganz
automatisch ab und durch solche Mechanismen wird eben die Auf-
merksamkeit für andere Dinge frei. Es ist also der extreme Fall
möglich, daß wir eine ganze Seite Text lesen, dabei aber unsere Auf-
merksamkeit bei einer ganz anderen Sache haben, ohne dabei uns zu
verlesen. Das ist aber nur der günstigst gelegene Fall; für gewöhn-
lich versprechen oder verlesen wir uns immer, wenn der Einklang
zwischen den inneren Erregungsvorgängen und den Ausdrucks-
bewegungen nicht vorhanden is. Wenn also unsere Aufmerk-
samkeit durch plötzlich auftretende fremde Gedanken ab-
gelenkt wird, dann ist es mit der Sicherheit der eben statt-
findenden Artikulationen und sonstigen Bewegungen vorbei.
Der Fluß der älteren Vorgänge erstirbt zugunsten des neu sich Her-
vordrängenden. Ganz lehrreich ist die eigentümliche Sprache eines
Kindes, das sich in großer Verlegenheit befindet. Die Furcht, in der
Rede etwas Ungehöriges oder Verletzendes zu sagen, bedingt eine
Sprechunlust schlechthin; einige Vorstellungen müssen mit Gewalt
unterdrückt werden. Der Nebengedanke, der etwa auftaucht, darf
ebenfalls nicht geäußert werden. Durch diese Unterdrückungen und
dieses Zurückhalten erwachsen dem Willen so viele Aufgaben, daß
das Sprechen vernachlässigt werden muß.
200 A. Abhandlungen.
Hier sind also die Störungen durch lebhafte Vorstellungen und
Gefühle veranlaßt worden, und diese liegen möglicherweise ganz außer-
halb des Redezusammenhanges. Irgend ein gesprochenes
Wort reproduziert eine bestimmte Gefühlsqualität und diese
letztere ruft ein ihr entsprechendes Wort wach. So kommt
es, daß wir mitten in der Rede ein anscheinend ganz fremdes Wort
einführen. Es muß aber nicht gerade das Gefühl sein, das eine solche
eigentümliche Reproduktion veranlaßt; denn nachdem alle Reproduktion
ausschließlich auf Assoziation beruht, so kann jedes durch Asso-
ziation Verbundene plötzlich auftreten und etwas anderes
ersetzen und verdrängen. Das sehen wir jeden Tag; das Kind
sagt: meine Mutter, statt: meine Schwester; morgen für gestern; weiß
statt schwarz. Ganz gerne ersetzen wir ein Wort durch ein anderes,
das ihm beinahe identisch ist; aber auch durch eines, das gerade
das Gegenteil von dem verdrängten Worte ist. Wodurch ein »Ver-
sprechen« veranlaßt wurde, kann man erst sagen, wenn man genau
weiß, woran man sich dabei erinnert hat. Wer hierin sich übt, kann
über seine diesbezügl. Sprechfehler eine erklärende Auskunft geben.
In Fällen, für welche wir eine Begründung oft nicht finden,
kommt in Betracht, daß sich passende oder auch unpassende Worte
uns aufdrängen; der allerfernste Grad einer Verwandtschaft ruft sie
wach. Ganz unkorrekte Konstruktionen behaupten sich hier immer
wieder. Die Absicht etwas lächerlich hinzustellen, spielt hier oft eine
Rolle, denn viele Wortverstümmelungen bedeuten das Verächtlich-
machen einer Person oder Sache. Wenn ein Knabe einem anderen
seine Geringschätzung und Verachtung ausdrücken will, so drückt er
das nicht in einem sinnvollen Worte, sondern durch eine undeutliche,
sinnlose Artikulation aus, der lediglich Gefühlswerte zukommen. Es
ist eine allgemeine Erscheinung, daß wir die Namen derer, die wir
hassen, »verhunzen«. Im allgemeinen kann man sagen, daß Ver-
stümmelungen, Versprechen usw. am häufigsten dann eintreten, wenn
heftige Gemütserregungen stattfinden. Ruhe des Denkens, voll-
ständige Beherrschung des Gedankens und der Situation
sind die besten Bedingungen für einen ungestörten Rede-
fluß. Überall, wo jemand um eine Sache herum zu gehen sucht,
einen Mangel zu verbergen sucht, etwas nicht sagen will, zeigt sich
eine Veränderung der Sprache, vorausgesetzt, daß er ein ehrlicher
Mensch ist und in den Verstellungskünsten nicht bewandert ist. Es
ist aber oft die Beobachtung zu machen, daß einer das, was er verbergen
will, doch unwillkürlich an einer anderen Stelle sagt. Das Unter-
drückte wird eben gerne mit solcher Energie ausgestattet, daß es ganz
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 201
unwillkürlich irgendwo losbricht. Die Kinder verraten sich in dieser
Weise sehr oft durch ein einfaches Versprechen, indem ihnen im un-
bewachten Augenblicke das verräterische Wort entschlüpft.
Man ist geneigt, solche Fehlleistungen, weil sie ein Zeichen von
Zerstreutheit und Leichtsinn sind, als ein persönliches Verschulden
zu betrachten, wofür auch die Verantwortung getragen werden müsse.
Wenn man sich gewöhnt, die Fehlleistung aus einer bestimmten Dis-
poniertheit und Geistesanlage abzuleiten, wenn man überlegt, daß sie
doch meist gegen den eigenen Willen, also unfreiwillig er-
folgt, dann muß das zur Nachsicht stimmen. Mit Absicht Fehler
zu produzieren ist schwieriger; das Kind vermöchte es fast
nicht; eine Störung und Hemmung ruft sie aber unbewußterweise
hervor.
Allerdings ist es andrerseits möglich, die Aufmerksam-
keit nach der Richtung anzustrengen, daß Fehlleistungen
verhütet werden. Aber das setzt ein Erstarken der Aufmerksam-
keit voraus. (Forts. folgt.)
2. Die experimentelle Ermüdungsforschung.
Von
Marx Lobsien, Kiel.
(Fortsetzung.)
Zweites Kapitel.
Die Methoden der Ermüdungsmessung.
A. Die physischen Methoden.
1. Die Messung der Muskelkraft.
Der Methoden zur Messung der Muskelkraft gibt es folgende: Die
Dynamometer-, die Ergographen-, die Weichardtsche Fußhantelmethode,
Schulzes Schreibmethode und der Arbeitsschreiber.
a) Die Dynamometermethode
diente ursprünglich lediglich der Messung der Muskelkraft und ihrer
Beeinflussung durch körperliche Arbeit. Der erste, der das Dynamo-
meter anwandte, auch die geistige Arbeit zu messen, die dynamo-
metrische Leistung als Maßstab geistiger Betätigung zu verwerten,
war Loeb, der im Jahre 1886 in Pflügers Archiv für die gesamte
Physiologie eine Arbeit veröffentlichte: Muskeltätigkeit als Maß
psychischer Arbeit. Seitdem hat das Dynamometer mancherlei
Verbesserungen und vielfache Verwendung gefunden, so von Mosso
202 A. Abhandlungen.
in Turin, Schuyten in Antwerpen, jüngst von Weiler, der an dem-
selben eine durchgreifende Veränderung vornahm.
Das Dynamometer (Kraftmesser) besteht in seiner Konstruktion
nach Collin aus einer starken elliptischen Feder. Sie wird mit der
Hand zusammengedrückt. Sie steht mit einer einfachen Vorrichtung
in Verbindung, die zwei Zeiger enthält. Der eine derselben bleibt
stehen, wenn der Druck seine maximale Höhe erreicht hat. Auf einer
Skala läßt sich die geleistete Arbeit in Kilogramm ablesen. Dieser
einfache Apparat wurde hernach durch Ulmann verbessert. Er kon-
struierte ein Dynamometer, das sowohl zum Drücken wie zum Ziehen
eingerichtet war. Der Bügel, der schwer den verschiedenen Hand-
größen anzupassen war, der außerdem trotz der Umhüllung vielfach
ungewollte Druck- und Schmerzempfindungen auslöste, kam in Weg-
fall. Der Druck wurde auf eine länglich-runde Metallhülse ausgeübt
und von dieser auf ein Zeigerwerk übertragen. Bei der Zugvorrich-
tung wurde die Feder durch Handgriffe gespannt. Auch in dieser
verbesserten Gestalt war das Dynamometer für genauere Messungen,
wie ihm von verschiedenen Seiten mit Recht vorgeworfen wurde (u. a.
von Hirschlaff), nicht geeignet: Sein Hauptfehler bestehe darin, daß
es nicht einige bestimmte Muskeln allein in Anspruch nehme, sondern
dem Prüfling die Möglichkeit lasse, zu wechseln. Auch sei man nur
imstande, eine einmalige maximale Muskelleistung auf der Skala ab-
zulesen, nicht die Muskelarbeit fortlaufend zu verfolgen. (Die Dynamo-
meter lassen sich ihrer Konstruktion nach in zwei Hauptgruppen
sondern; die älteren sind elliptische, die neueren Federdynamometer,
für Zug und Druck eingerichtet) Weiler hat eine Form des Dynamo-
meters konstruiert, bei dem diese Nachteile, zumal der letztere, in Weg-
fallkommen. Er nennt seinen Apparat Arbeitsschreiber. Erschreibt
die einzelnen Muskelleistungen fortlaufend in kleinen Unterbrechungen
auf und zwar die absoluten Arbeitsgrößen in hundert Einzelleistungen.
Es möge nebenher bemerkt werden, daß Weiler in seiner Abhandlung:
Methoden über die Muskelarbeit des Menschen I. Messung
der Muskelkraft und der Muskelarbeit (Bd. V der Psycho-
logischen Arbeiten, herausgegeben von Kraepelin-München) die bei
dem Dynamometer in Frage kommenden psychophysischen und physio-
logischen Verhältnisse in ganz ausgezeichneter Weise klargelegt hat.
Das Dynamometer ist auch günstiger beurteilt worden. Vor allem hat
sich desselben bedient Prof. Schuyten, der verdienstvolle Leiter des
städtischen Laboratoriums in Antwerpen, für seine Untersuchungen
Über die Veränderlichkeit der Muskelkraft im Laufe des
Schuljahres.
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 203
b) Die Ergographenmessung.
Während das Dynamometer nur eine einmalige, höchstens eine
in gewissen Zwischenräumen erfolgende mehrmalige Messung der
Muskelkraft zuläßt, ist man mit Hilfe des Ergographen imstande, fort-
laufend zu messen. Den ersten Ergographen hat Mosso konstruiert
und in seinem berühmten Werk: La Fatice beschrieben. Der Ergo-
graph hat hernach vielfache Verbesserungen erfahren. In der Haupt-
sache hat man zwei Formen desselben zu unterscheiden: den Ge-
wichts- und den Federergographen.
Der Mossosche Ergograph gehört zur ersteren Art. Er ist folgender-
maßen konstruiert. Unterarm und Hand ruhen auf der Dorsalseite
auf einer festen Unterlage und zwar so, daß der Unterarm und der
Zeige- und Ringfinger in besonderen Lagen unbeweglich festliegen.
Der Mittelfinger ist frei. Er trägt eine Hülse, an der eine Schnur
befestigt ist, die, über eine feste Rolle laufend, an ihrem freien Ende
ein Gewicht trägt. Das Gewicht wird durch Beugen und Strecken
des Fingers gehoben und gesenkt. In dieser Gestalt nennt man die
Vorrichtung Ergometer; seiner hat man sich je und je bedient
(so Philippe). Der Versuchsleiter hat die Aufgabe, die Anzahl der
Hebungen selbst zu zählen. Würde er nun innerhalb einer be-
stimmten Sekundenanzahl die Anzahl der Hebungen festsetzen und diese
mit der Anzahl der gehobenen Kilogramme multiplizieren, dann hätte
er offenbar einen bestimmten Maßausdruck für die geleistete Muskel-
energie. Eine solche Messung ist aber sehr ungenau, denn sie muß die
Hubhöhen, die natürlich von variabler Größe sind, ungewertet lassen.
Der eine Faktor zur Bestimmung mechanischer Arbeit ist mithin
völlig unzulänglich. Mosso befestigte an der Schnur einen Hebel, der
als Schreibvorrichtung diente. Entsprechend den Beugungen und
Streckungen des Fingers bewegt sie sich hin und her und der Weg,
den sie beschreibt, entspricht genau den Hubhöhen des Gewichts.
Man hat nur nötig, die Bewegungen auszumessen, und kann dann
eine einwandfreie Multiplikation vornehmen, um die mkg zu be-
stimmen. Die Unterlage des Schreibers muß zu dem Zwecke beweg-
lich eingerichtet werden. Das läßt sich am einfachsten dadurch er-
möglichen, daß man eine sich langsam drehende Trommel (ein so-
genanntes Kymographion) an den Schreiber heranschiebt, auf der die
Bewegungen selbständig registriert werden. — Die Verbesserungen,
die man an dem Mossoschen Ergographen vorgenommen hat, beziehen
sich auf ein zweifaches, nämlich die Einlagerung des Arms und der
Finger und die Registrierung. Bei der Lagerung beabsichtigte man
204 A. Abhandlungen.
vor allen Dingen, die Muskeln, die man insonderheit für die Ergo-
graphenmessung ausersehen hatte, genügend zu isolieren, damit nicht
andre assistierend oder vikarierend einträten und so verhinderten, daß
der Muskel bis zur Erschöpfung angestrengt werde. Die Registrierung
suchte man teils genauer zu gestalten, teils war man darauf bedacht,
die Schreibvorrichtung womöglich durch Ausschaltung des Kymo-
graphions zu vereinfachen, so den Apparat zugleich billiger zu ge-
stalten. Es mögen hier zwei Ergographenformen erwähnt werden, der
Meumannsche Apparat, der für Schulmessungen bestimmt ist und der
von Dubois konstruierte. Bei beiden ist der Zählapparat einfach und
sinnreich konstruiert. Meumann verwendet an seinem Apparat ein
Bandmaß. Es ist in Zentimeter eingeteilt und läuft als Schnur ohne
Ende über zwei Rollen. An dem Schreiber ist eine scharfe Nase so
befestigt, daß sie beim Heben des Gewichts über das Maßband hin-
gleitet, im Moment des Lockerlassens aber dasselbe erfaßt und mit
zurückzieht. So kann man aus der Gesamtanzahl der geleisteten
Zentimeter und den Kilogrammen die Arbeitsleistung berechnen. —
Besonders einfach ist die Registrierung bei dem Duboisschen Ergo-
graphen. Dubois hat als Schreiber an der Schnur einen Bleistift be-
festigt, der durch einen Bleiknopf beschwert ist und bei dem Hin-
und Herbewegen der Schnur die Wege auf der Unterlage aufschreibt.
Die Striche würden nun alle übereinander gelegt werden, wenn nicht
eine einfache Vorrichtung bei dem Zurückgehen des Stiftes die
Schreibfläche immer um 1 Millimeter weiterschöbe, so daß die einzelnen
Aufzeichnungen in Millimeterabständen erscheinen. Als Schreibunter-
lage wählt man Millimeterpapier und kann auf demselben die Hub-
höhen mit großer Bequemlichkeit ablesen. Bezüglich der Armauflage
bietet der Duboissche Ergograph auch noch ein wesentlich Neues. War
man sonst sorglich darauf bedacht, einen bestimmten Muskel, oder doch
eine bestimmt begrenzte Muskelgruppe in die Arbeit einzuspannen,
ging Dubois von der durch die Erfahrung bestätigten Überzeugung
aus, daß es unmöglich sei, bei dem lebenden Individuum eine solche
strikte Isolierung vorzunehmen. So wenig es möglich ist, eine streng
lokale Ermüdung zu erzwingen, so wenig eine streng lokalisierte
Muskelbetätigung. Er ließ daher dem Arm recht große Freiheit: Die
Hand umfaßt einen Holzgriff, die Handwurzel allein wird durch ver-
schiebbare Metallbacken festgestellt.
Weiler macht gegen die Ergographenmethode den Haupteinwand,
daß es mittels derselben nicht möglich sei, den Muskel völlig zu er-
schöpfen. Dieselben Bedenken heben mit vollem Rechte Tröves,
Schulze u. a. hervor. Der Nachweis läßt sich leicht führen. Schulze
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 205
ließ eine Versuchsperson mit 4!/, kg bis zur Erschöpfung arbeiten,
d. h. bis sie nicht mehr fähig war, eine Hebung auszuführen. Dann
nahm er 3 kg fort, so daß die Belastung nur 1!/, kg betrug. Nun
war der Muskel sogleich wieder imstande, ganz beträchtliche Leistungen
auszuführen. Es wäre also falsch gewesen, anzunehnen, die musku-
läre Maximalleistung wäre mittels der Anzahl Hebungen des Gewichts
von 41/, kg festgestellt worden; der Muskel ist eben imstande, mit
einer geringeren Belastung noch viel mehr zu leisten. Zwar könnte
man ja versuchen, mittels eines kleinen Gewichts, also durch eine
größere Anzahl von Hebungen die maximale Leistungsfähigkeit fest-
zustellen — dann aber hört die Versuchsperson gar nicht mit
Heben auf; man gewinnt die sogenannte unendliche Kurve, und
es gelingt wieder nicht, die maximale Arbeitsleistung zu bestimmen.
Treves hat folgendes Verfahren eingeschlagen: Er begann mit einem
größeren Gewicht. Sobald die Hubhöhe auf der Trommel zu sinken
begann, nahm er vom Gewicht etwas ab und fuhr damit solange fort,
bis die unendliche Kurve sich einstellte. So läßt sich erst die tat-
sächliche Maximalleistung des Muskels bestimmen, nämlich durch
die Größe des Gewichts, das man in einem bestimmten Takte dauernd
zu heben vermag. Tröves fragt also, welches Gewicht man imstande
sei, dauernd zu heben, und das gilt ihm als Maß der Leistungsfähig-
keit. Schulze macht mit vollem Recht darauf aufmerksam, daß die
Trevessche Methode den tatsächlichen Verhältnissen des täglichen
Lebens durchaus entspreche. »Die Leistungsfähigkeit eines Lastträgers
messe ich nicht daran, ob er Zentnerlasten einen Schritt forttragen
kann, sondern ob er fähig ist, eine mäßige Last in gleichem Schritt
und Tritt stundenweit fortzutragen.«
Die Federergographen mögen nur im Interesse der Vollständigkeit
Erwähnung finden. Sie erfordern, wie der Name sagt, eine Feder-
spannung und beruhen ihrem Prinzip nach auf der Erfahrung, daß
mittels des Gewichtsergographen nicht die gesamte Muskelleistung
gemessen werden kann. Die Feder erfordert mit steigender Bewegung
immer größere Kraftleistung. Der Lehmannsche Federergograph be-
steht aus einer Federwage, der Henrysche aus einem mit Quecksilber
gefüllten Gummiball. Durch Fingerdruck wird das Quecksilber in
einer Röhre in die Höhe getrieben. Auf dem Quecksilber schwimmt
ein Eisenstab, an dem eine Schnur befestigt ist, die wieder mit einem
Schreiber in Verbindung steht, der seine Bewegungen auf ein Kymo-
graphion projiziert.
206 A. Abhandlungen.
c) Die Fußhantelmethode
stammt von Weichardt, sie dient ihm als Methode zur Bestimmung
der Grenze der Leistungsfähigkeit. Die Prüflinge bekommen 2 bis
5 kg schwere Hantel in die Hände; für Schüler empfiehlt Weichardt
links ein Gewicht von 2, rechts ein solches von 3 kg. Die so be-
schwerten Arme werden vorwärts gestreckt. Dann muß die Versuchs-
person nach Pendelschlägen der Uhr Vierteldrehungen bis zur seit-
wärts gestreckten Armlage nach außen machen. Mit den Arm-
bewegungen sind Beinbewegungen kombiniert, und zwar müssen im
Sekundentakt abwechselnd das rechte und das linke Knie gebeugt
werden bis zur wagerechten Haltung vorwärts. Nach etwa 20 bis
30 Sekunden tritt totale Erschöpfung ein, d. h. die Unfähigkeit, weitere
Bewegungen auszuführen. Weichardt hält seine Hantelfußmethode
für besser als die Ergographenmessung, vor allen Dingen deshalb, weil
sie sich nicht auf einzelne Muskeln beschränke, sondern mehrere in
Anspruch nehme, und weil sie von der Versuchsperson unabhängig sei,
d. h. nicht unter Suggestivwirkungen falle. Die Zahl der Bewegungen
gilt als Reagens auf Ermüdungswirkungen. Die Übungen werden vor
und nach verschiedenen Arbeiten vorgenommen und aus den Diffe-
renzen in den Leistungen gewinnt man einen Maßstab für die Ermüdung.
d) Ziffernabschreiben.
Auch das von Schulze angewandte Verfahren des fortlaufenden
Ziffernabschreibens muß hierher gerechnet werden. Durch stunden-
langes Abschreiben von Ziffern erzielte Schulze teils »normale«, teils
Über-Ermüdung. Neben dem reinen Abschreiben ging Addieren ein-
stelliger Zahlen einher, ohne Aufschreiben der Resultate.
2. Die Schwellenmethoden.
Unter den Schwellenmethoden nehmen diejenigen, welche die
»Raumschwelle der Haut« benutzen, um die Ermüdung zu kontrollieren,
weitaus den größten Platz ein. Trotzdem hat Meumann durchaus
Recht, wenn er meint, daß dem Psychologen ganz willkürlich er-
scheint, warum gerade diese Schwellenmessung bevorzugt wurde; wie
diese Schwelle wird auch jede andere durch die Ermüdung verändert
und kann auch jede andere als Maßstab Verwendung finden. Wir
könnten ebenso gut bei einem Individuum die Zeitschwelle kontrollieren,
oder etwa den Schwellenwert für schwache Gehörsreize oder schwache
Druckreize oder etwa für den Schmerz u. dergl. Es ist also will-
kürlich, daß man der Raumschwelle der Haut die spezielle Funktion
zuschreibt und annimmt, sie eigne sich besonders zur Messung der
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 207
Ermüdung. Warum trotzdem die Hautsensibilität so stark bevorzugt
wurde, erklärt sich hauptsächlich aus dem Umstande, daß sie relativ
leicht und schnell eine Messung zuläßt und infolgedessen möglich
macht, auch unter sonst schwierigen äußeren Verhältnissen größeres
Beobachtungsmaterial zu sammeln. — Wenden wir uns ihr zuerst zu!
a) Die Tasterzirkelmethode.
Der erste, der den Tasterzirkel oder das Ästhesiometer im Dienste
der Ermüdungsmessung verwendete, war Griesbach, der im Jahre 1895
seine epochemachende Schrift veröffentlichte: Beziehungen zwischen
geistiger Ermüdung und Empfindungsvermögen der Haut (im
Archiv für Hygiene). Eine Beschreibung seines Apparats findet sich
in der Deutschen medizinischen Wochenschrift vom Jahre 1897. Der
Apparat hat später von Spearman, Ebbinghaus u. a. Verbesserungen
erfahren. In seiner einfachsten Gestalt besteht er aus einem Zirkel
mit nicht zu stumpfen aber auch nicht zu scharfen Spitzen. Seine An-
wendung beruht auf folgenden bekannten Tatsachen. Wenn ich einen
leichten Reiz auf eine Hautstelle ausübe, dann habe ich nicht lediglich
eine Berührungsempfindung, sondern diese Empfindung wird zugleich
als an irgend einem räumlichen Ort der Haut befindlich empfunden,
sie wird lokalisiert. Die Lokalisation geschieht nun nicht an allen
Hautstellen mit gleicher Schärfe, sondern z. B. an den Fingerkuppen
genauer als auf der Dorsalseite der Hand, am Jochbein sorgfältiger als
an einer Hautstelle des Nackens. Die Genauigkeit der lokalen Ein-
ordnung ist auf sehr einfache Weise meßbar, nämlich dadurch, daß
ich zu gleicher Zeit oder kurz nacheinander in bestimmter Entfernung
zwei gleichartige Berührungsreize auf eine Hautgegend ausübe, wie
das mittels eines gewöhnlichen, nicht zu schweren Zirkels möglich ist,
dessen Spitzen man abgestumpft hat. Bei gewissen Zirkelabständen
ist die Versuchsperson nur imstande, die beiden Berührungsempfin-
dungen als eine aufzufassen, erst von einem bestimmten Abstand
ab empfindet sie deutlich zwei Reize. Die Abstandsbreite, bei der
eben die Zweimerklichkeit beobachtet wird, bezeichnet man als die
Raumschwelle Wie bereits erwähnt wurde, ist diese Raumschwelle
bei demselben Individuum an verschiedenen Stellen des Körpers sehr
ungleich groß. Auch zeigen verschiedene Individuen untereinander
bedeutsame Raumschwellendifferenzen. Das Entscheidende aber ist,
daß dieselbe Hautgegend bei demselben Prüflinge zu verschiedenen
Zeiten eine variable Größe hat, sie ist nicht festliegend, sondern be-
einflußbar. Eine der wesentlichsten Beeinflussungen ist jener psycho-
physische Erscheinungskomplex, den wir einheitlich als Ermüdung be-
208 A. Abhandlungen.
zeichnen. Der Einfluß der Ermüdung, so lautet die Grundvoraus-
setzung und die Grundabsicht, auf die ihre Messungen beweisend
hinauslaufen, wirkt auf die Hautsensibilität, auf die Raumschwelle deut-
lich bestimmend ein, und zwar in dem Sinne: Die Ermüdung ver-
größert den Schwellenumfang über die normale Distanz hinaus, die
Erholung nähert ihn der normalen wieder (vorausgesetzt natürlich, daß
die Raumschwelle, die zum Vergleiche dient, im Zustande voller Frische
gemessen wurde). Die Tatsache ist zweifellos durch die Griesbachsche
Methode und ihre vielen Nachprüfungen bewiesen worden. — Tat-
sache ist aber auch, daß der Beweis vielfach nicht gelungen ist, eine
Angelegenheit, die uns gleich näher beschäftigen wird. — Die Praxis
der Messung vollzieht sich folgendermaßen: Man wählt irgend eine
Hautstelle aus und verwendet dann alle Sorgfalt darauf, möglichst
genau dieselben Punkte bei allen Untersuchungen zu berühren. Natür-
lich kann man als Prüfungsfeld eine Hautgegend nach völlig freiem
Belieben auswählen. Die Praxis wird veranlassen, daß man sich ein
solches aufsucht, das leicht und bequem zugänglich ist und doch hin-
reichend genau und sicher auf die Reize reagiert. Manche Forscher,
so wahrscheinlich Blaz&k, prüften am Unterarm; Griesbach maß ver-
schiedene Hautstellen: Glabella, Nasenspitze, Unterlippenrot, Jochbein,
rechten Daumenballen, rechte Zeigefingerkuppe; von Wagner wurde
die Jochbeingegend bevorzugt. Die Messung geschieht in der Weise,
daß man, mit einer größeren Zirkelöffnung beginnend, kontinuierlich
zu immer kleineren Abständen solange fortschreitet, bis die Versuchs-
person die Empfindung der Doppelberührung eben verläßt. Dann
schlägt man den umgekehrten Weg ein, bis die beiden Berührungs-
punkte als zwei eben merklich werden, und berechnet aus beiden das
Mittel. Sehr oft wählt man das Verfahren der alternierenden Distanzen,
d. h. man wählt in bunter Folge größere und kleinere Zirkelabstände.
Das letztere Verfahren hat den Vorzug, daß es individuellen Täuschungen
entgegenzuwirken imstande ist.
Die Verbesserungen, die das einfache Ästhesiometer erfahren hat,
beziehen sich hauptsächlich auf ein zweifaches: Man suchte einerseits
die Regulierung der Spitzenabstände durch Anbringen einer Skala
möglichst exakt zu gestalten, andererseits wollte man einen möglichst
gleichmäßigen Druck beim Aufsetzen erzielen. !)
Zahlreiche Forscher haben sich des Ästhesiometers bei ihren
1) Vielfach wird das aus Aluminium gefertigte Spearmansche Ästhesiometer
empfohlen (Binet: compas glissiere; Schuyten: schuifpasser — eine glückliche Be-
zeichnung!).
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 209
Untersuchungen bedient: Vannod, Sakaki, Binet, Blazök,
Schuyten, Bonoff, Noikow, Joteyko, Bolton, Kraepelin,
Leuba, German, Widowitz u.a.
b) Druckmessung.
Von den Tastempfindungen sind die Berührungs- oder Druck-
empfindungen zu unterscheiden. Auch die Druckempfindlichkeit hat
man zur Messung der Ermüdung verwendet. Sie ist bekanntlich an
bestimmte Druckpunkte gebunden. Ihre Schwelle beträgt an den am
feinsten empfindenden Stellen der Haut 0,002 g, an den Fingerspitzen
0,005 bis 0,015 g usf. In der einfachsten Form besteht der dazu be-
nutzte Apparat aus einem Härchen, das mittels Wachs an einem
kleinen Stab befestigt ist. Bei der Ausübung eines gewissen Drucks
biegt sich das Haar und übt dann einen gleichbleibenden Druck aus,
der sich leicht dadurch messen läßt, daß man auf die eine Schale
einer genauen Wage den Druck ausübt und durch Auflegen von
kleinen Gewichten auf die andere ausgleicht. Genauere Messungen
führt man mit der Strattonschen Druckwage aus. Selbstverständlich
muß immer dieselbe Hautgegend auf ihre Druckempfindlichkeit unter-
sucht werden, wenn man ihre Schwankungen unter dem Einfluß der
Ermüdung feststellen will.
c) Algesiometer.
Auch die Schmerzempfindlichkeit dient der Messung der Ermüdung.
Die Resultate widersprechen sich zwar, denn manche Forscher, wie
Vannod und Vaschide fanden, daß die Ermüdung die Schmerz-
empfindlichkeit erhöhe, andere, daß sie dieselbe herabsetze. Man wird
also zweifelsohne neue Nachprüfungen abzuwarten haben, bevor man
ein Urteil über die Brauchbarkeit der Methode wird fällen können;
man wird vor allem Entscheidungen abzuwarten haben, ob indivi-
duelle Verschiedenheiten in diesem total entgegengesetzten Verhalten
sich ausprägen, ob etwa gewisse Ermüdungsgrade auf die Empfindlich-
keit erregend, andere aber hemmend einwirken u. a. m. Vannod, der
die Methode zuerst anwandte, bezeichnete sie als Algesiometermethode,
seinen Apparat als Algesiometer. Er ist im wesentlichen dem oben
skizzierten Freyschen Haarästhesiometer ähnlich. Die Spitze ist in
einer Hülse befestigt, an deren Seite sich eine Skala befindet, die ab-
zulesen gestattet, wieviel Druck ausgeübt worden ist. Der Druck wird
so stark ausgeübt, daß eben die Schmerzempfindung deutlich wird.
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 14
210 A. Abhandlungen.
d) Die Zeit- und Raumschätzungsmethoden
sind ebenfalls den Schwellenmethoden zuzurechnen. Das Verfahren
ist relativ einfach, Den Prüflingen wird ein bestimmter Zeitraum,
bezw. eine Raumstrecke zur Schätzung dargeboten. Ich wählte z. B.
bei der Zeitschätzungsmethode einen Zeitraum von einer Minute und
veranlaßte die Versuchspersonen, sie zu schätzen und das Ergebnis
ihrer Schätzung niederzuschreiben. Allerdings ist das Zeitschätzungs-
vermögen individuell recht breiten Schwankungen unterworfen, doch
haben spätere Untersuchungen Über Schätzung kurzer Zeit-
räume durch Schulkinder!) bezeugt, daß solches keineswegs in
dem Umfange der Fall ist, daß von einer »notorischen Unsicherheite
geredet werden müßte.
e) Hörprüfung.
Baur wandte zur Ermüdungsmessung zwei neue Methoden an,
von denen er die zweite besonders weiter ausgebaut und nachgeprüft
hat. In seiner Abhandlung über Das kranke Schulkind findet sich
die Beobachtung verzeichnet (sie ward auch sonst bestätigt), daß die Hör-
schärfe mit steigender Ermüdung abnehme. Zur Konstatierung dessen
bediente er sich seiner Taschenuhr. Er entfernte sie vom Ohre des
Prüflings so weit, daß das Ticken noch eben vernehmlich war. Bei
ermüdeten Versuchspersonen mußte die Uhr dem Öhre weiter ge-
nähert werden als das bei frischen notwendig erschien. Die Verwen-
dung der Methode stößt aber, wenn man auf eine einwandfreie Messung
rechnet, auf mancherlei Schwierigkeiten, wenigstens, wenn man sie in
der Schule zur Anwendung bringen will. Zwar dürfte nur wenig um-
ständlich sein, eine Vorrichtung zu konstruieren, die einerseits ein
konstantes Geräusch, andererseits eine genaue Regulierung der Ent-
fernung vom Ohre ermöglicht, aber schwerlich wird es gelingen, die
für derartige Versuche unbedingt notwendige totale Stille zu erreichen.
f) Akkomodation des Auges.
Anders die Methode, welche eine Prüfung der Akkomodations-
fähigkeit des Auges unter Ermüdungswirkungen vornimmt, eine äußerst
einfache, handliche und mit geringem Zeitaufwande zu verwertende
Methode. Baur hat für sie keinen einheitlichen Namen angegeben.
Offner bezeichnet sie recht umständlich als Methode der Messung der
Akkomodationsbreite des Auges, vielleicht empfiehlt sich, sie kürzer
1) Vergl. Bd. 50 der Zeitschr. f. Psychologie, S. 332 ff.
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 211
Baursche Akkomodationsmethode zu nennen. Baur ging von der
Beobachtung aus, daß die Pupillarreaktionen bei Ermüdungen zittrige
wurden, ein prompter enger Schluß der Pupille bei starken Ermüdungen
nicht mehr erzielbar und die Sehfeldeinschränkung bei Ermüdungen
eine offenkundige war. Aber die Veränderungen an der Pupille
waren kaum meßbar, oder wenn sie meßbar waren, so gaben sie an
dem Pupillometer zu geringe Ausschläge. Er fand in der Akkomo-
dationsfähigkeit des Auges einen viel sichereren Maßstab zur Prüfung
der Ermüdung. Die Messung der Akkomodationsfähigkeit geschah
mittels des sogenannten Scheinerschen Versuchs. Dieser besteht darin,
daß eine Nadelspitze, durch zwei Löcher eines Kartenblatts, die nicht
weiter als in Pupillenweite voneinander abstehen dürfen, beobachtet,
vor und hinter der Akkomodationsgrenze doppelt, im Bereiche der
Akkomodation aber einfach gesehen wird. Die Nadel wird auf einer
Schiene schlittend angebracht. An der Schiene ist eine Millimeter-
skala angebracht, die bequem eine Entfernungsmessung ermöglicht.
Die Nadelspitze wird durch ein schwaches Okular beobachtet, das vorn
an der Schiene befestigt ist. Rückt man den Schlitten mit der Nadel
an das Okular heran, dann wird man einen Punkt feststellen können,
an dem die Nadelspitze dem beobachtenden Auge eben doppelt, bei
einer minimalen Rückwärtsbewegung denjenigen, da sie wieder einfach
erscheint. Dieser Punkt heißt der Nahpunkt. Schiebt man den Schlitten
weiter zurück, dann wird die Nadel eine Weile einfach, hernach sich
wieder doppelt bemerkbar machen. Hier läßt sich der Fernpunkt
feststellen. Die Differenz zwischen dem Akkomodationsnahe- und -fern-
punkt nennt Baur die Akkomodationsbreite. Die Akkomodationsbreite
ist dem Einfluß der Ermüdung in dem Sinne unterworfen, daß sie
mit der Ermüdung zu-, mit der Erholung abnimmt. Baur be-
nutzte anstatt der Löcher farbige Glasscheibchen, rot und grün. Die
Nadelspitze erschien hinter der Akkomodationsgrenze übereinstimmend,
vor derselben in entgegengesetztem Sinne doppelfarbig, innerhalb der
Breite in der den komplementären Farben entsprechenden Weise. —
Mit der Ermüdung nimmt die Akkomodationskraft ab, mit der Erholung
aber zu. Die Zunahme der Akkomodationskraft äußert sich in der Ver-
kürzung der relativen Akkomodationsbreite, die Ermüdung in einer
Verlängerung derselben. Die Zu- bezw. Abnahme steht in gerader
und sehr feiner Proportion zu den Graden der Ermüdung. Die genaue
Messung ermöglicht also Gewinnung sehr wertvoller Ermüdungsmaße.
Baur gibt die Maße in Zentimeter an. — Später hat er seinen Apparat
in folgender Weise ergänzt: Er machte jedes untersuchte Auge durch
Anbringung eines Konvexglases hin:r dem roten und grünen Okular
14*
212 A. Abhandlungen.
des Scheinerschen Apparats künstlich kurzsichtig und zwar zunächst
den Emmetropen mit + 5 Dioptrien und den Hypermetropen mit
+ 10 Dioptrien. — Dadurch gewann er die Feststellung des realen
Fernpunktes, der bekanntlich beim Emmetropen in der Unendlichkeit,
beim Hypermetropen jenseits der Unendlichkeit zu suchen ist. Dann
sind allerdings die Schwellenwerte der Akkomodation kleinere und
genauere. Auch wird bei der künstlichen Herstellung von Myopie
durch Vorsetzen eines Konvexglases der Apparat kleiner und hand-
licher gestaltet werden können. — Bei der Verwendung der künstlich
erzeugten Myopie empfiehlt sich, entsprechend den Forderungen der
physiologischen Optik, die Angabe der Akkomodationsbreite in Dioptrien.
Die Umrechnung ist sehr einfach. Unter einer Dioptrie versteht man
die Brechung durch die Linse auf 1 m. Man dividiert die gefundene
Entfernung, die in Zentimetern abgelesen wird, in 100. Dann zieht
man die Dioptrien der benutzten Linse ab und bekommt die Dioptrie
für die jeweilige Akkomodationsanstrengung. Zieht man von der
größeren Akkomodation die kleinere ab, dann gewinnt man die wahre
Akkomodationsbreite. Folgendes Beispiel, das ich Baur entnehme,
möge der Veranschaulichung dienen. Den Fernpunkt finde man mit 12,
den Nahepunkt mit 8 cm angegeben. Beim Fernpunkt messen wir
= = 8,3 Dioptrien.
Hiervon sind aber die Dioptrien der Vorsetzlinse zu subtrahieren; es
verbleiben also 83 — 5 = 3,3 Dioptrien. Beim Nahepunkt be-
rechnet man
= = 125 — 5 = 7,5 Dioptrien.
Die Akkomodationsbreite beträgt also 7,5 — 3,3 = 4,2 Dioptrien. An-
genommen, das sei die Akkomodationsbreite im Zustande der Frische.
Würde man nun nach Ausführung einer Arbeit den Fernpunkt etwa
bei 15, den Nahepunkt bei 6 cm auf der Skala ablesen, dann würde
man berechnen
= = 6,6 — 5 = 1,6 Dioptrien
= = 165 — 5 = 11,5 Dioptrien
11,5 — 1,6 = 9,9,
Davon die obigen 4,2 subtrahiert, ergibt als Maß für die Ermüdung
5,7 Dioptrien. (Forts. folgt.)
1. Beitrag zur geistigen Entwicklung eines dreijährigen Knaben. 213
B. Mitteilungen.
1. Beitrag zur geistigen Entwicklung eines dreijährigen
Knaben.!)
Von Lina Prengel, Hermsdorf bei Berlin.
Im Dezember wird Hans weiter täglich im Wiedererkennen und
Unterscheiden von Gegenständen geübt und in der Beziehung zwischen
Wort und Gegenstand. Er benennt nicht alle Dinge, die er benennen
hört, sondern nur die, die seine Aufmerksamkeit erregen und ihm dann
besonders oft vorgesprochen werden, bis er sie durch das Gehör auf-
genommen hat und mitzusprechen versucht.
Gern wollte ich ihn Mama und Papa sagen lehren, konnte es ihm
jedoch nicht oft genug unter Hinweis auf den zu bezeichnenden Gegen-
stand vorsprechen, da seine Eltern zu wenig bei ihm waren, und er
andererseits durch ihre Gegenwart abgelenkt war. Ich sprach ihm oft
»a« vor, das belustigte ihn, er ging darauf ein, den Laut mitzusprechen,
und sagte ihn bald deutlich nach. Im Anschluß daran sprach ich ihm
»Mama« vor, er sprach »ba ba« oder »pa pa« nach. Als ihm nun
Mama sehr langsam und gedehnt, mit deutlich zusammengepreßten Lippen
vorgesprochen wurde, wurde er aufmerksam, beobachtete genau die Mund-
bewegung, steckte seinen Finger in meinen Mund, fühlte die Zunge, sah
beim Vorsprechen aufmerksam in den Mund hinein und sprach schließlich
ebenso langsam und gedehnt deutlich »Mama« mit, dabei seinen Finger
in meinen Mund haltend und hineinsehend. Diese Übung wurde täglich
wiederholt, und wenn Hans wollte, daß ich ihm Mama vorsprechen sollte,
steckte er, als Aufforderung dazu, seinen Finger in meinen Mund. Er hatte
bald Freude daran, »Mama« nachzusprechen, und sprach es sich vierzehn
Tage später oft vor dem Einschlafen vor. Das Bild eines Herrn auf
einem Buchdeckel interessiert ihn, es ist ihın »Papa« benannt worden,
kurz und scharf gesprochen, im Gegensatz zu dem gedehnten »Mama«.
Schon am zweiten Tage spricht er es mit und übt nun täglich neben
anderen Wörtern »Mama« und »Papa«. Später wurden die Bilder der
Eltern Mama und Papa genannt und dann die Beziehung der Wörter auf
die Eltern übertragen. Ende Dezember verstand er, daß mit Mama die
Mutter, mit Papa der Vater gemeint war, verwechselte später aber die
Wörter noch oft in der Aussprache und auch in ihrer Beziehung, die
immer von neuem geübt werden mußte. Auch andere Gegenstände wurden
oft verwechselt, wie Ochsen und Pferde vor dem Wagen. Die Farbe
scheint mehr Eindruck auf ihn zu machen als die Form. Als er das
Schaukelpferd seines Bruders auf einem anderen Platz findet, nennt er es
bä-Bär, wahrscheinlich, weil es braun ist, wie sein Bär. Nachdem er oft
Schwäne auf dem Wasser gesehen hat, bekommt er am 10. Dezember
einen Celluloid-Schwan; er betrachtet ihn aufmerksam von allen Seiten, am
1) Vergl. diese Zeitschrift. Jahrg. XVI, 1911, Heft 6, S. 189—192.
214 B. Mitteilungen.
nächsten Tage zeigt er den schwarz angestrichenen Flügel des Schwanes
und sagt »ua« Schuh; wahrscheinlich erinnert ihn die schwarze Farbe
an den Schuh. Einen Reiter auf einem Schimmel aus dem Soldatenspiel
seines Bruders nennt er Kuh. Die Kuh aus seinem Tierkasten ist weiß
und schwarz gefleckt. Zur richtigen Benennung der Gegenstände wird
H. stets angehalten.
Die Entwicklung des Farbensinnes wurde auf folgende Weise unter-
stützt: Als ihm auffällt, daß sein weißer Schlafrock mit einem roten ver-
tauscht wird, wird ihm »rot« dabei gesagt; er interessiert sich nun für
den Schlafrock, zeigt ihn oft und läßt sich »rot« vorsprechen. Nachdem
er genügend für Papiere interessiert worden ist, wird inm ein Bogen rotes
Papier von der farblosen Rückseite gezeigt; um ihm verständlich zu
machen, daß rot nicht den Gegenstand, sondern die Farbe bezeichnet, wird
eine Ecke des Bogens umgelegt, dazu wird ihm gesagt »rot ist das
Papiere. Später wird das rote Papier mit dem Schlafrock verglichen,
dazu gesagt: »rot ist das Papier, rot ist der Schlafrock«. Bald fällt ihm
die rote Fläche eines 5 cm hohen farbigen Würfels auf. Um seinen
Farbensinn zur Entwicklung zu bringen, bekommt er oft große Bogen
buntes Papier; er hat Freude an den Farben.
Das Erinnerungsvermögen zeigt sich bei folgender Gelegenheit: Seine
Mutter bringt ihm einen Affen, den er früher besessen und lange nicht
gesehen hat, er erkennt ihn wieder und erinnert sich daran, daß der Affe
einen Purzelbaum schlägt, er bewegt den Arm an dem der Affe aufgezogen
wird und legt ihn auf den Fußboden. Zwei Klingelzüge nebeneinander
scheinen ihn an ein Telefon zu erinnern, das er im Sommer gesehen hat.
Er hält eines Tages die eine Schnur an sein Ohr und brummt einige
Laute. Jedoch gelingt es nicht, ihn an beobachtete Vorgänge, die ihn sehr
interessiert haben, zu erinnern.
Seine Phantasie ist verhältnismäßig gut; ich schließe dies daraus,
daß er gern mehrere Gegenstände, die ihm lieb waren, zugleich in seiner
Nähe hatte. Er freute sich zu Weihnachten über seine neuen Spiel-
sachen, ohne aufgeregt zu sein, besonders über eine Puppe im Wagen;
er behandelte sie wie ein Kind, fühlte das Bett, ob es trocken sei, und ließ
andere fühlen, legte die Puppe schlafen, setzte ihr den Hut auf usw.
Hans wird auch angehalten, sein Bett trocken zu halten; er
wird, wenn er wach wird, gesetzt, später zu bestimmter Zeit aufgenommen.
Er versteht, daß das Bett trocken bleiben soll, versteht aber nicht, wie er
es anfangen soll, es trocken zu behalten, und weiß auch nicht, ob er, wenn
er gesetzt wurde, Urin gelassen hat oder nicht. Erst am 23. Dezember
ist ihm das nach vielen Bemühungen verständlich geworden. Seitdem hat
er das Bett nicht so oft genäßt.
Hans bekommt mehr Ausdauer und Freude am Ansehen der Bilder,
faßt oft meinen Zeigefinger und führt ihn zu dem Bild, das er benannt
haben möchte, wird aufmerksam, wenn ihm zum Bild erzählt wird.
Vom 15. Dezember ab zeigte er auch in Gegenwart der Eltern auf
Verlangen die ihm geläufigen Gegenstände, bis dahin tat er das nicht, da
er nicht sicher genug dazu zu sein schien.
1. Beitrag zur geistigen Entwicklung eines dreijährigen Knaben. 215
Am 19. Dezember geht die Familie auf ihr Landgut. Hans bemerkt
die andere Umgebung, es scheint ihm aufzufallen, daß die Gegenstände in
seinem Zimmer anders sind und an anderen Plätzen stehen wie zu Hause,
er zeigt mehrmals am Tage Bett, Lampe, Badewanne und benennt sie, so
gut er kann.
Seine Selbständigkeit nimmt zu, er versucht jetzt auch die Suppe
allein zu essen, der Gang ist sicherer, die Haltung grader, der Hals scheint
länger geworden zu sein. Der Kopfumfang hat nicht zugenommen, der
kahle Hinterkopf bedeckt sich mit spärlichem Haar. Auf dem Spaziergang
ist er nicht mehr so teilnahmlos wie früher, interessiert sich für alles,
worauf er aufmerksam gemacht worden ist. Das idiotische Lachen, das
er anschlug, wenn er seinen Bruder lachen hörte, hat sich beinahe ver-
loren. Am Schluß des Monats kann er mit wenig Hilfe allein essen, an
der Hand, zwar noch unsicher, die Treppe hinauf und hinunter gehen,
3/, Stunden spazieren gehen. Er versteht die Frage: »wo ist« und zeigt
die gewünschten Gegenstände mit Sicherheit, versteht die Aufforderung
»geh zur Tür«, stellt sich an die Tür und wartet, bis der Ball zu ihm
gerollt wird, rollt ihn zurück und hat große Freude daran. Seine Auf-
merksamkeit und Ausdauer sind besser geworden. Er kann jetzt auf
Verlangen ungefähr 20 Gegenstände hintereinander zeigen, bis er ermüdetı
beim Perlenreihen gelingt es ihm jedesmal, 2—5 Perlen auf den Draht zu
ziehen. Seine Sprechlust hat zugenommen. Von einigen Wörtern alımt
er nur den Tonfall nach, von anderen den ersten Laut. Er spricht mit
Verständnis alle Wörter, die er im vorigen Monat gesprochen hat, dazu:
oe Ohr
Hut
Kuh
ho hoch
Mama
Papa
gich Milch
po po Kompott
dade Schachtel
pa pä Papier
peppe Treppe
do da Soldat
aa all all, wenn er den Teller leer gegessen hat
name Schnabel
papp-papp tapp-tapp, wenn er die Treppe hinuntergeht,
ba Ball
ab.
Bei täglicher Übung der einmal gewonnenen Fähigkeiten wird jede
passende Gelegenheit zu ihrer weiteren Entwicklung benutzt, dabei wird
hauptsächlich auf
a) ein besseres Sprachverständnis,
b) die Entwicklung der Begriffe und der Phantasie und
c) die Erziehung zum Gehorsam
216 B. Mitteilungen.
hingearbeitet. Nachdem Hans im Unterscheiden und Zeigen der Gegen-
stände, im Befolgen der Frage: »wo ist«, sicher geworden ist, wird er
zum Benennen der Gegenstände, zum Verstehen der Frage: »was
ist das«, geführt.
Er steht dieser Frage zuerst ganz verständnislos gegenüber. Um das
Verständnis zu wecken, wird ihm ein Gegenstand wiederholt gezeigt und
die Frage: »was ist das?« an ihn gerichtet. Wenn ihm zum Bewußtsein
kommt, daß von ihm etwas verlangt wird, wird die Frage von mir be-
antwortet, wohl auch der Gegenstand mit seinem Finger gezeigt. Am
meisten wurde dieser Versuch mit dem Puppenhut gemacht, da er »Hut«
am leichtesten sagen konnte. Er antwortete dann auch am 2. Januar
zum erstenmal auf die Frage mit »Hut«, schien dann anzunehmen, daß
auf diese Frage die Antwort »Hut« verlangt wird, und rief in den nächsten
Tagen eifrig »Hut«e, wenn die erwähnte Frage an ihn gestellt wurde,
ohne zu beachten, nach welchem Gegenstand er gefragt wurde. Auf
ähnliche Weise hatte er auch die Worte »wo ist« zunächst mit seiner
Nase in Verbindung gebracht, da er oft von seiner Mutter gefragt worden
war: »Wo ist deine Nase?«, wobei seine Nase angefaßt wurde. Er zeigte
daher zuerst jedesmal seine Nase, wenn er gefragt wurde: »wo ist der
Ball? der Fisch usw.«.
Erst allmählich gewöhnt er sich daran aufzumerken, welcher Gegen-
stand ihm gezeigt wird, und ihn zu benennen.
So hatte ich nun ein Mittel, ihn zum beabsichtigten, bewußten
Sprechen zu veranlassen, während bis dahin seine Sprache nur halb-
bewußte Gefühlsäußerung war.
Die begriffliche Entwicklung wird durch zweckentsprechendes
Eingehen auf seine Wahrnehmungen unterstützt und gefördert.
Eines Tages war er auf die untere Stange einer Bettstelle gestiegen
und freute sich über die Erhöhung. Ich sagte »hoch ist Hans«, stellte
mich daneben und sagte: »hoch ist die Tante«. Dieses Spiel trieb er
gerne und sagte bald »hoche, wenn er oben stand. Wir wiederholten
das gleiche Verfahren auch mit der Fußbank, und er hatte bald den Be-
griff »hoch« verstanden. Als seine Mutter ihn auf den Arm nahm, sagte
er »hoche. Später wurde der Begriff weiter geleitet, die Taube fliegt
hoch und ähnlich. Mit »Lampe« hat er bis dahin nur eine große Hänge-
lampe und eine große Stehlampe bezeichnet, jetzt. benennt er mit diesem
Wort eine kleine erleuchtete Wandlampe und die nicht erleuchtete Straßen-
laterne, blickt auf dem Spaziergang in die geöffneten Fenster der Wohnungen,
um die Hängelampen darin zu sehen.
Mit dem Wort »ba« — Ball, bezeichnete er bis dahin nur den
großen bunten Ball, der für die Übungen benutzt worden war, jetzt nennt
er den Ball seines Bruders und seinen alten Ball nicht mehr kukuku-
kululu, sondern ebenfalls »ba« — Ball. Als ihn seine Kuh und deren
Halsband besonders beschäftigten, wird das Band abgenommen und »ab«
dazu gesagt. Ebenso wenn die Glocke von dem Halsband abgezogen wird.
Er versteht den Begriff schnell, spricht das Wort nach und sagt es bald,
da es ihm leicht wird, auch in Gegenwart der Eltern. Es ist einige Tage
2. Bildungsgang eines taubblinden Mädchens. 217
hindurch sein Lieblingswort, er bringt es oft an, sagt »ab«, wenn er vom
Papier ein Stückchen abreißt, wenn er den Schuh ausgezogen hat, wenn
jemand zur Tür hinausgeht, wenn das Licht ausgeblasen ist usw.
Sein Sprachverständnis und seine Phantasie reichen zuerst nicht aus,
um die Worte »schlafen will die Puppe« oder »sitzen will die Puppe«
zu verstehen. Sie wurden ihm auf folgende Weise verständlich: Ich legte
mich in das Bett, sagte zu ihm »schlafen will die Tante« und schloß die
Augen, bis das Eindruck auf ihn gemacht hatte, nahm dann die Puppe,
sagte: »schlafen will die Puppe«, legte sie in das Bett und deckte sie zu.
Als wir am nächsten Tage dieses Spiel wiederholt hatten, legte er die
Puppe schlafen, wenn sie ihm gegeben und ihm gesagt wurde: »schlafen
will die Puppe. Auf ähnliche Weise lernte er auch den sprachlichen
Ausdruck für die Tätigkeiten, die mit den verschiedenen Gebrauchsgegen-
ständen ausgeführt werden, kennen und verstehen. Er kennt auch genau
den Ort, an dem sich die Gegenstände befinden. Unter seinen Spielsachen
befand sich eine Streichholzschachtel, die er sehr gerne hatte, Er trägt
sie jetzt jedesmal, wenn er sie dort findet, auf den Leuchter, weil er dort
immer eine Streichholzschachtel liegen sieht. Im Nachttischschubfach sieht
er ein Licht, er nimmt darauf den Lichtstumpf aus dem Leuchter und
steckt das Licht hinein. (Schluß fölgt.)
2. Bildungsgang eines taubblinden Mädchens.
Von Taubstummenlehrer M. Steiner. Leipzig.
Im Herbst 1910 wurde der Taubstummenanstalt zu Leipzig ein
13 jähriges fast blindes und taubes Mädchen zugeführt. Da die Eltern
nicht zu bewegen waren, ihr Kind den bewährten Taubblindenanstalten zu
Nowawes uder Ketzschendorf anzuvertrauen, übernahm die Taubstummen-
anstalt selbst die Bildung der Taubblinden.
Elsa Straube wurde am 9. November 1896 in Schönefeld bei Leipzig
geboren. Ihr Vater ist Bahnarbeiter bei der Sächsischen Staatsbahn. E.
erfreute sich von Geburt an, wie ihre drei Geschwister, körperlicher und
geistiger Gesundheit. Unter ihren Schulkameradinnen behauptete sie einen
guten Platz. Im 8. Lebensjahre erkrankte E. an Diphtheritis, die fast
völlige Taubblindheit zur Folge hatte. Trotzdem wurde das Mädchen nach
einer mehrwöchigen Erholungspause wieder ihrer Volksschulklasse zugeteilt.
Teilnahmslos verbrachte sie ziemlich zwei Jabre in den vorderen Sitzreihen
ihrer Mitschülerinnen. Die bekümmerte Mutter bat nach dieser nutzlosen
Zeit um Entlassung ihres Kindes, Sie wurde gewährt, ohne daß den
Eltern nur die Möglichkeit eines geeigneten Bildungsweges angedeutet
wurde Die Eltern bemühten sich, dem Mädchen Heilung von ihrem
großen Leiden zu verschaffen. Bedeutende Leipziger Ohren- und Augen-
ärzte behandelten, operierten sie. Doch das Leiden blieb hartnäckig. So
fristete E. 31/, Jahr der sonst so fruchtbringenden Jugendzeit ein tier-
ähnliches Dasein. Hätte nicht ein kaum vernommener Klang von kurzen
Worten, die ihr die Mutter ins Ohr schrie, die Erinnerung an den und
218 B. Mitteilungen.
jenen sprachlichen Ausdruck und die damit bezeichnete Sache wachgehalten,
die 31/, Jahr geistiger Schwindsucht hätten ihr geistigen Tod gebracht.
In der Meinung, das Gehör habe sich gebessert, bat die Mutter wieder
um Aufnahme des Mädchens in die Volksschule Sie wurde wiederum
gestattet. Als ihr die Mutter mit Umständlichkeit erklärte, daß man sie
diesmal in die 6. Klasse (3. Schuljahr) setzen wolle, sagte sie: »Das weiß
ich nicht! Das ist schwer!« Birgt nicht dieser Schluß, den das Mädchen
nach so langem Siechtum doch noch ziehen konnte, die stärksten Vorwürfe,
daß man unterlassen, diesem Kinde geeignete Bildungsmöglichkeiten zu
verschaffen? Nun saß das 13jährige Mädchen wieder unter 7jährigen
Kindern und verträumte die kostbare Zeit.
Da spielte ein Zufall in das Geschick des Mädchens herein: Freunde
der Eltern erzählen vom Taubstummenunterricht, von der Blindenanstalt.
Die Mutter stellt ihr Kind dem Direktor der Taubstummenanstalt zu Leipzig
vor. Dieser veranlaßte die sofortige Entlassung aus der Volksschule und
Aufnahme in die Taubstummenanstalt.
Die Direktion war sich bewußt, daß E. nicht durch Ablesen zu
unterrichten war. Dazu reichte ihr geringes Augenlicht nicht aus. Hier
war eine Bildung nur nach dem Verfahren der Taubblindenbildung möglich.
Die Eltern waren aber schon trostlos darüber, daß sie ihr Kind hinfort
als taubstumm bezeichnen sollten. Sie hatten noch nie den Glauben
an eine Heilung aufgegeben. Deshalb unterließ man zunächst, auf die
einzig erfolgreichen Bildungsmöglichkeiten in Nowawes oder Ketzschendorf
hinzuweisen.
E. wurde einer Klasse taubstummer Kinder zugeteilt, um sich an
diese zu gewöhnen. Unsere Zöglinge umstanden sie anfangs staunend,
sprachen sie auch oft durch Gebärde und Lautsprache an. Da sie aber
nichts verstand und deshalb nichts antwortete, blieb sie bald unbeachtet.
Nach kurzer Zeit trat E. in meine Förderklasse ein. Ich unterrichtete
zwei später ertaubte größere Kinder, bei denen es galt, die völlig ver-
sunkene Sprache zu erwecken und zu befestigen. Da natürlich auch hier
ein gemeinsamer Unterricht mit meinen Schülern nicht möglich war, bat
ich um einige Sonderstunden, die mir gern gewährt wurden.
Ehe ich den Sonderunterricht begann, stellte Herr Direktor Schumann
den Eltern in aller Liebe vor, daß wir das Mädchen taubblind nennen
müßten. Wir erzählten von der guten Fürsorge in den Taubblinden-
heimen und suchten sie dafür zu gewinnen, das Mädchen einer solchen
Bildungsstätte anzuvertrauen. Der Direktor stellte eine gute staatliche
Beihilfe in Aussicht und versprach auch eine jährliche Unterstützung aus
Anstaltsmitteln. Doch die Eltern waren nicht zu diesem Schritt zu
bewegen.
In meinen Unterrichtsstunden behandelte ich E, als Taubblinde. In
der Literatur über Dreisinnige begegnete ich mehrfach der Ansicht, daß
man bei solchen Kindern, wenn möglich, Gehör- und Sehreste zur Mit-
teilung benutzen solle. Deshalb lehrte ich sie das Fingeralphabet Ich
hielt ihr meine Hand dicht vor die Augen, bildete die betreffende Finger-
stellung an ihrer Hand nach und schrieb den damit bezeichneten Buch-
2. Bildungsgang eines taubblinden Mädchens. 219
staben groß an die Tafel. E. suchte die großen Linien mit den Augen
ab und nannte den Buchstaben. Sie hatte fast alle Buchstaben im Ge-
dächtnis behalten. So lernte das Mädchen bald die Zeichen des Finger-
alphabets deuten. Wir übten uns fleißig in der Verbindung der Zeichen
und gewannen ein sicheres, wenn auch langsames Mitteilungsmittel. Ich
buchstabierte ihr die Namen für die Dinge ihrer Umgebung vor. E. buch-
stabierte nach, zog die Laute zum Worte zusammen und zeigte oler um-
schrieb mit ihrer einfachen Sprache die Dinge, wenn sie ihr schon bekannt
waren. Oft waren aber die Spracherinnerungen, die sich an einen ihr
bekannten Gegenstand hefteten, so fehlerhaft, daß das Mädchen mit dem
richtig vorgesprochenen Worte keinen Inhalt verband. So buchstabierte
ich ihr z. B. das Wort Halter vor. E. sagte es richtig nach, wußte aber
die Bedeutung des Wortes nicht. Da gab ich ihr einen Halter in die
Hand. Sogleich meinte sie: »Das is’ ä Haller.« Unser erster Unterricht
hatte in dieser Beziehung viel Reinigungsarbeit zu leisten.
Als Unterrichtsgegenstände wurden natürlich solche bevorzugt, die
dem Mädchen fühlbar gemacht werden konnten. Doch ließen sich auch
große, klare Bilder mit verwenden. Für oft vorkommende Wörter gab
ich ihr das Gebärdenzeichen der Taubstummen, das ich vor ihren Augen
ausführte oder an ihrem Körper fühlbar machte. Die Schriften des Taub-
stummenlehrer Riemann waren auch hierin meine Wegweiser.
Zu Ostern durfte ich auch die Fortschritte meiner taubblinden
Schülerin zeigen. Wir unterhielten uns über die Kuh. Ich stellte
einfache Fragen. Wir gewannen ungefähr folgende Sätzchen: Das ist eine
Kuh. Sie ist braun. Sie wohnt im Stalle. In dem Stalle sind viele
Kühe. Die Magd melkt die Kuh. Sie gibt uns Milch. Die Mutter kocht
die Milch. Sie läuft oft über. Ich trinke die Milch gern. Sie schmeckt
gut. Auf der Milch schwimmt die Sahne. Die Frau schöpft die Sahne
ab. Sie muß sauer werden. Dann macht die Frau Butter daraus. —
Das Mädchen zeigte große Freude, wenn ihr Wissen vermehrt wurde,
und hatte neue Wörter und Sätze in der nächsten Stunde stets gegen-
wärtig, trotzdem sich die Eltern nicht mit ihr darüber unterhalten konnten.
Das gute Gedächtnis milderte ein wenig mein großes Bedauern, daß die
Eltern das Mädchen nicht der Anstalt übergaben. Hier wären sofort
Maßnahmen getroffen worden für gute Pflege und geistige Förderung des
Mädchens.
Zu der Zeichensprache gesellte sich noch Unterricht im Lesen der
Brailleschrift. Der blinde Blindenlehrer P. Hauptvogel machte das Mädchen
und zugleich mich mit dieser Schritt bekannt. Das Fingeralphabet ward
zum Dolmetsch zwischen dem Braillezeichen und seinem Namen. Alle
Unterrichtsstoffe schrieb ich meiner Schülerin in Blindenschrift auf und
gab ihr damit Lese- und Merkstoff zugleich in die Hand.
Der Unterricht durch das Fingeralphabet war aber für das Mädchen
ein sehr langsamer Bildungsweg. Ihr Augenlicht war eben zu schwach,
um andauernd den Bewegungen der Finger folgen zu können. Ihr Geist
war wohl befähigt, schneller aufzunehmen, doch das Mitteilungsmittel,
schneller ausgeführt, wurde nicht mehr erkannt. Dazu bat mich der Arzt,
220 B. Mitteilungen.
ich möchte die schwachen Sehnerven nicht so sehr durch Fingeralphabet
und Nahgebärde anstrengen.
Da erfüllte sich im Herbst 1911 durch eine gütige Beihilfe des
Herrn Generalmajor von Hagen mein längstgehegter Wunsch: Ich besuchte
die Taubblindenheime in Nowawes und Ketzschendorf. Dort lernte ich die
Anwendung des Handalphabetes kennen. Nach kurzer Zeit beherrschte
auch mein taubblindes Mädchen das Handalphabet, und unser Unterrichts-
betrieb gewann wesentlich an Schnelligkeit. Bis Ostern 1912 bewältigten
wir viel Stoff, darunter auch eine Anzahl biblische Geschichten. Auf
Wunsch der Eltern wurde E. mit unsern Schülern der ersten Klasse
konfirmiert und entlassen mit der Versicherung, daß die Anstalt für ihre
Weiterbildung und für Erlernung verschiedener Handarbeiten sorgen werde.
Vor der Konfirmation hielt ich in Gegenwart des Anstaltsgeistlichen eine
Prüfung mit E. ab. Wir behandelten ihren Konfirmationsspruch: Rufe
mich an in der Not, —. In Frage und Antwort unterhielten wir uns
von Gottes Liebesbeweisen an ihr selbst, von Jesu hilfreichen Taten und
schlossen mit dem Vaterunser. Einige Sätzchen aus diesem Stoffgebiete
sollen den Fortschritt zeigen:
Ich war einmal schwer krank. Da hatte ich Diphtheritis. Der liebe
Gott hat mich aus der großen Not errettet. Die Mutter aus der Stadt Nain
war auch einmal in Not. Sie war schon eine Witwe. Da starb auch
noch ihr einziger Sohn. Der Sohn hatte sie ernährt. Nun wußte sie
nicht, wer ihr Nahrung geben sollte. Sie war schon zu alt zum Arbeiten.
Jesus weckte den Jüngling wieder auf. — Auf einer Landstraße traf
Jesus einen Blinden. Der rief: »Herr erbarme dich über mich!« Jesus
heilte ihn mit den Worten: »Werde sehend! Dein Glaube hat dir ge-
holfen.«
Mit Genehmigung des Kultusministeriums erhält das konfirmierte
Mädchen wöchentlich noch zwei Stunden Unterricht. Diese erstrecken
sich gegenwärtig auf Übung im Lesen der Blindenschrift, damit sich das
Mädchen zu Hause durch Lesen von Büchern in Brailleschrift weiterbilden
kann. Leider ließen sich in den wenigen Stunden nur mäßige Erfolge
erzielen, da jede Anleitung im elterlichen Hause fehlt. Unsere Pflicht
fordert aber, daß wir sie auch für den Verkehr mit ihresgleichen befähigen.
Das kann nur durch völlige Beherrschung des Handalphabets und der
Blindenschrift geschehen.
Seit den Sommerferien wird E. Str. in verschiedenen Handfertigkeiten
ausgebildet. Eine Handarbeitslehrerin für Blinde eignete sich durch öfteren
Besuch meiner Stunden die Handsprache an und unterweist sie run im
Flechten von Körbchen und Rohrstuhlsitzen und im Stricken von Müffchen.
In der letzten Ausstellung von Erzeugnissen Blinder standen auch ihre
Arbeiten zum Verkauf.
Solange sich E. Str. ihrer aufopfernden Eltern erfreut, wird sie ein
sorgloses Dasein führen können. Edle Freunde verschönen ihr oft das
Leben. Ihr kleiner Verdienst wird den Eltern stets eine wertvolle Unter-
stützung sein in ihrer Sorge für Gegenwart und Zukunft des Mädchens.
Sollte ihr das Schicksal die Emährer und Pfleger rauben, so wird das
3. Tuberkulose und Schule. 221
Taubstummen- und Taubblindenheim in Zwickau i. Sa., das bald seine
Tore öffnet, auch ihr gern ein sorgloses und zufriedenes Weiterleben er-
möglichen.
Aus der Geschichte der Taubblindenbildung sind mir zwei Knaben,
die in Sachsen Taubblindenunterricht genossen, bekannt geworden. Der
Bericht der Kgl. Blindenanstalt zu Dresden vom Jahre 1861 nennt einen
Einsinnigen, Max Alphons N, den Sohn eines Advokaten. Im Bericht
derselben Anstalt von 1864 und 65 erfährt man von einem zweiten
ertaubten und erblindeten Knaben, August Miersch. Dieser Fall der
Taubblindheit gleicht dem von mir geschilderten: Auch bei Miersch
brauchte man die Laute nicht erst durch Artikulation zu gewinnen. Es
galt sie festzuhalten und zu verbessern. Über Miersch berichtet G. Riemann
in seiner Schrift »Taubstumm und blind zugleich«, über den Einsinnigen
N, der auch Geruch und Geschmack verlor, das »Organ der Taubstummen-
und Blindenanstalten«e IX. Jahrgang in Nr.7 und 10. In den letzten
Jahren sind sächsische taubblinde Kinder durch Vermittlung des Herrn
Generalmajor von Hagen fern von der Heimat in der Anstalt Bethanien
in Ketzschendorf bei Fürstenwalde a. d. Spree untergebracht. Dort weilt
noch jetzt ein schon konfirmiertes Mädchen aus Leipzig-Connewitz und
harrt der Vollendung des Zwickauer Heimes.
3. Tuberkulose und Schule.
Die Österreichische Gesellschaft für Kinderforschung veranstaltete in
der Zeit vom 25. bis 27. Nov. 1912 unter dem Vorsitz des Universitäts-
professors Dr. Clemens Freiherrn von Pirquet in den Räumen der
k. k. Universitäts-Kinderklinik eine Enquête über Tuberkulose und Schule.
Der Volksaufklärung über die Tuberkulose diente eine Ausstellung, die,
allgemein und unentgeltlich zugänglich, das für den Laien Wissenswerte
in möglichst klarer und übersichtlicher Form zusammenstellte. Zum gleichen
Zweck wurden Lichtbildervorträge und kinematographische Vorführungen
veranstaltet, die sich regen Besuches erfreuten.
In welcher Weise die Behörden das Unternehmen unterstützten, geht
aus der Tatsache hervor, daß der Unterrichtsminister Dr. Max Ritter von
Hussarek den Ehrenvorsitz übernahm und Ausstellung und Enquête
persönlich eröffnete. In seiner Ansprache betonte er die hohe Bedeutung
der Tuberkuloseprophylaxe, die auch durch Aufklärung der breiten Schichten
der Bevölkerung erfolgen müsse, wofür die Schule sehr wesentlich in Be-
tracht kommt. Das Ministerium des Innern, dessen Sanitätsreferent
Dr. med. et jur. Dr. von Haberler der Veranstaltung jede mögliche
Unterstützung angedeihen ließ, förderte die Ausstellung durch Bewilligung
einer nicht unbeträchtlichen Subvention.
Besonders erfreulich war die Teilnahme hervorragender Fachmänner
aus dem Deutschen Reich, die von der Versammlung mit warmer Sym-
pathie begrüßt wurden. Die ungarischen Behörden waren durch den Do-
zenten Dr. von Kuthy und durch den Sektionsrat Dr. Szanto vertreten.
Der Besuch hielt sich bis zum Schluß der Enquöte auf bemerkenswerter
299 B. Mitteilungen.
Höhe. Der geräumige Hörsaal der Kinderklinik erwies sich fast als zu
klein, um das zumeist aus Ärzten und Pädagogen bestehende Publikum
zu fassen.
Es würde zuweit führen, hier auf den Inhalt der Referate des Näheren
einzugehen. Es sei daher auf die Vorträge selbst hingewiesen, die binnen
kurzem in einer ausführlichen Publikation erscheinen werden. Alle Seiten
des Problemes »Tuberkulose und Schule«e wurden in allgemein verständ-
licher Weise behandelt. An die Vorträge schlossen sich Diskussioren,
welche volle Übereinstimmung zwischen Ärzten und Pädagogen bekundeten.
An den Vorträgen beteiligten sich: Universitätsprofessor Dr. Clemens
Freiherr von Pirquet, Professor Dr. Nietner, Dr. Beschorner, Dr. Kokall,
Erbgrat F. von und zu Trauttmannsdorff, Stadtrat Dr. F. M. Haas, Primar-
arzt Dr. Bernhard Sperk (welcher in einem wissenschaftlich gediegenen
Referat auf einige bisher weniger beachtete Formen der Kindertuberkulose
aufmerksam machte), Dr. Karl Lämel, Dozent Dr. Teleky, Obersanitätsrat
Dr. Altschul, Professor Dr. Burgerstein, Direktor der Allander Lungenheil-
stätte Dozent Dr. Josef Sorgo, Dr. Josef Jungmann, Dr. Dora Teleky.
Dr. Eduard Morauf, der sich die größten Verdienste um die gesamte Ver-
anstaltung durch unermüdliche vorbereitende Tätigkeit erworben hatte, sprach
über die Pflichten der Schule hinsichtlich der Körperpflege in Zusammen-
hang mit der Tuberkulose, Dr. Ernst Loewenstein über Kindertuberkulose
und Krankenkassen, wobei er die Familienversicherung als dringend not-
wendig erachtete, Professor Magnus Werner über Jugendwandern, Dr. Ga-
briel Wolf über Zahnkaries und Tuberkulose mit besonderer Rücksicht auf
die Erfahrungen in der Wiener Schulzahnklinik. Die meisten Referate
wurden durch Lichtbilder oder kinematographische Vorführungen illustriert,
eine Maßnahme, die sehr zur Verdeutlichung des Vorgetragenen diente
und trotz der Fülle von Referaten Ermüdung oder Abspannung bei der
Hörerschaft kaum aufkommen ließ.
Im Schlußwort faßte Professor von Pirquet die wichtigsten Ergebnisse
der Enquête folgendermaßen zusammen: Die staatlichen und die städtischen
Behörden erklären es für sehr wünschenswert, daß Ärzte und Lehrer mit
den Behörden in einer ständigen Fühlung in Bezug auf die Tuberkulose-
bekämpfung verbleiben. In Österreich gibt es viel zu wenige Lungenheil-
stätten für Erwachsene; die Tuberkulösen müssen deshalb im Familien-
verbande bleiben. Durch die hustenden Tuberkulosen werden die Kinder
in hohem Grade gefährdet. Ferner ist es sehr bedauerlich, daß Österreich
keine Heilstätten für lungenkranke Kinder besitzt, daß man derartige kleine
Patienten nirgends dauernd unterbringen kann. Es fehlt demnach an Heil-
stätten für Erwachsene, welche zu Hause die Kinder infizieren, und an
Heilstätten für Kinder. Ein näheres Ziel der Enquête ist die Propagierung
der Kenntnis von der Infektiosität der Tuberkulose in den weitesten Kreisen,
die Propagierung dieser Kenntnis durch die Lehrer in der Schule und
indirekt auch bei den Angehörigen der Schulkinder.
Besondere Erwähnung verdient die Ausstellung, welche gleichfalls
in den licht- und lufterfüllten Räumen der Kinderklinik untergebracht
war. Hier fiel zunächst ein Tableau mit Abbildungen aus Leysin (Schweiz)
4. Zeitgeschichtliches.
228
auf, auf welchem Prof. Rollier nicht bloß die Art des Anstaltsbetriebes,
sondern die oft ans Wunderbare grenzenden Heilerfolge vorführte. Das
deutsche Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose in Berlin hatte
sehr instruktive Tabellen ausgestellt, in denen die segensreiche Tätigkeit
der Lungenheilstätten in Deutschland und die Abnahme der Tuberkulose-
sterblichkeit nachgewiesen erschienen. Große Aufmerksamkeit erregte
die Ausstellung der Stadt ‚Chemnitz, welche nicht bloß ihre muster-
haften Schulbauten und Heilstätten, sondern auch ein reiches Material
für Aufklärungszwecke vorführte.e Das österreichische Zentralkomitee
hatte ein Wandermuseum aufgestellt, das überallhin ohne Schwierigkeiten
versendet werden kann. Aus der großen Zahl anderer Objekte seien
hervorgehoben: Die an anatomischen Präparaten reiche Sammlung des
Universitätsinstitutes für pathologische Anatomie in Wien; die Moulagen
der Wiener Kinderklinik zur Erklärung der sogenaunten Pirquet’schen
Reaktion zur Erkennung der Frühstadien der Kindertuberkulose; die Tafeln
der Wiener Lupusheilstätte; eine sehr instruktive Abteilung über Mund-
und Zahnpflege der Wiener Schulzahnklinik; die Pläne der Bozener Franz-
Josef-Schule, eines Musterbaues mit allen hygienischen Einrichtungen;
künstlerisch bedeutende Aquarelle der Heilstätten der Gemeinde Wien;
Tafeln der Wiener Tageserholungsstätten; eine drastische und eben deshalb
sehr wirksame Bilderserie des ungarischen Hygienikers Dr. von Kuthy
zur Volksaufklärung über die Tuberkulose; der Trinkspringbrunnen des
Hygienikers Burgerstein zur Vermeidung der Trinkinfektion; eine Propa-
gandazwecken dienende Ausstellung des Vereines für Jugendwandern u. a. m.
Die gelungene Veranstaltung hat zweifellos nicht bloß viel zur Volks-
aufklärung über die Tuberkulose beigetragen, sondern die maßgebenden
Behörden überzeugt, wie notwendig die gesundheitliche Überwachung und
Belehrung der Schuljugend ist. In diesem Sinne dürfte der Wunsch aller
österreichischen Schulhygieniker nach allgemeiner Einführung von Schul-
ärzten bald seiner Verwirklichung entgegengehen.
Wien-Grinzing. Dr. Theodor Heller.
4. Zeitgeschichtliches.
In Berlin wurde am 19. Oktober 1912 eine »Vereinigung der Lehrer an
Schwerhörigenklassen« gegründet.
In Bad Salzbrunn ist eine Arbeitsgemeinschaft für Kinderforschung
ins Leben gerufen.
Im Anschluß an den 9. Verbandstag des Verbandes der Hilfsschulen findet
vom 30. März bis zum 21. April 1913 in Bonn ein Hilfsschulkursus (Ein-
führungskursus) statt. Alle Zuschriften sind zu richten an Rektor Lessenich,
Bonn, Friedrichstraße 2a.
Für die nächste Versammlung des Deutschen Vereins für Schulgesund-
heitspflege, die vom 13.—15. Mai 1913 in Breslau stattfindet, wurden als Haupt-
referate die folgenden beiden aufgestellt: Welche Anforderungen müssen vom
hygienischen Standpunkte an die Schulanfänger gestellt werden? und: Die Hygiene
der Landerziehungsbeime.
Die Jahresversammlung der Schulärzte Deutschlands behandelt auf
ihrer nächsten Sitzung am 15. Mai 1913 in Breslau das Thema: Die Aufgaben
der Schulärzte bei der hygienischen und sexuellen Belehrung in den Schulen.
224 B. Mitteilungen.
Am 24. November 1912 wurde der Grundstein zur Landeskinderheilstätte
für tuberkulöse Kinder in Oberschwenden bei Scheidegg in Bayern gelegt.
Die Mittel dafür wurden durch eine Landessammlung zum 90. Geburtstag des Prinz-
regenten aufgebracht.
Am 5. Dezember 1912 fand in Nowawes die Einweihung des neuen
Taubstummblindenheimes, das mit einem Kostenaufwand von 260000 Mark
für 60 Personen eingerichtet wurde, statt.
Im Leipziger Kinderheim Dürrenberg wurden im Jahre 1912 386 Kinder
aufgenommen. Die gesundheitlichen Erfolge sind zufriedenstellend. Um künftighin
gleichzeitig 100—120 Kinder (bisher nur 75—80) aufnehmen zu können, wurde der
Ankauf eines Nachbargrundstücks zur Errichtung eines Erweiterungsbaues beschlossen.
Stiftungen, Schenkungen usw.: der Stadt Apolda 20000 Mark für
Jugendfürsorgezwecke.
Die Württembergische Regierung hat einen Gesetzentwurf zur
Kinofrage ausgearbeitet, der u. a. ein Verbot des Kinobesuches für Kinder und
Jugendliche vorsieht.
Das sächsische Kultusministerium erläßt folgende Mitteilung an die Leitungen
der ihm unterstellten höheren Schulen, die allgemeine Beachtung verdient, weil sie
die Notwendigkeit der Jugendenthaltsamkeit anerkennt und ihre Förderung den Er-
ziehern warm ans Herz legt: »Das Ministerium des Kultus und öffentlichen Unter-
richts, das den Direktionen der höheren Schulen schon wiederholt nahegelegt hat,
die Bekämpfung des Alkoholgenusses der Jugend im Auge zu behalten, stellt den
Direktionen anheim, mit ihren Lehrerkollegien in Erwägung zu ziehen, ob nicht in
Zukunft bei Schülerwanderungen die Enthaltsamkeit der Schüler von alkoholhaltigen
Getränken zu guter Gewohnheit gemacht werden kann, nicht durch Verbote unter
Androhung von Strafen, sondern durch angemessene Belehrung, wie überhaupt die
Veranstaltung aufklärender Aussprachen über die Gefahren des Alkoholgenusses der
erzieherischen Aufgabe der Schule gute Dienste leisten wird.«
Die Zahl der in Betrieben mit mindestens zehn Arbeitern beschäftigten Jugend-
lichen (unter 16 Jahren) betrug
1910 1911
männliche Jugendliche . . . . 316115 340 316
weibliche Jugendliche . . . . 173081 178 505
zusammen 489 196 518 821
Von diesen waren Kinder unter 14 Jahren
1910 1911
und zwar Knaben. . . . . . 7014 7434
Mädchen . . . . . 5856 5 970
zusammen 12870 13 404
Die meisten Jugendlichen waren in der Textilindustrie beschäftigt und zwar im
Jahre 1911 91800 Personen, davon 56709 weibliche.
Statistische Ermittelungen über Berufswahl und Erwerbsfähigkeit der
ehemaligen Hilfsschulzöglinge der Provinz Brandenburg hat Hilfs-
schullehrer Zieting-Pankow mitgeteilt. Wir entnehmen die folgenden Daten der
»Hilfsschule«, Jg. V, 11 (November 1912), S. 316. Es wurden von 599 Knaben
551, von 528 Mädchen 469 als erwerbsfähig ertlassen. 48 Knaben und 59 Mädchen
blieben erwerbsunfähig. 147 Knaben und 33 Mädchen erlernten einen Beruf.
284 Knaben wurden ungelernte Arbeiter, 271 Mädchen ungelernte Arbeiterinnen.
(Die Angaben über die erlernten Berufe sind nicht vollständig wegen der Be-
völkerungsfluktuation in den großen Kommunen.) 338 Knaben und 253 Mädchen
blieben bei ihrem zuerst erwählten Beruf oder bei ihrer zuerst erwählten Be-
schäftigung; 43 Knaben und 10 Mädchen wechselten Beruf oder Beschäftigung bis
viermal. Der Jugendfürsorge überwiesen wurden 4 Knaben und 4 Mädchen, der
Zwangserziehung 9 Knaben und 4 Mädchen. Gerichtlich bestraft wurden 7 Knaben
und 1 Mädchen.
4. Zeitgeschichtliches. 225
Von 1743 Breslauer Volksschulkindern hatten nach Feststellung des
städtischen Schularztes Dr. Moritz Cohn 12,1°/, niemals Alkohol erhalten. Rund
10°, aller Kinder tranken regelmäßig Bier, gelegentlich 64,03°/,. Regelmäßig Wein
tranken kaum 1°/, der Kinder, gelegentlich 37,3°%/,; regelmäßig Schnaps tranken
3,1°/,, gelegentlich 30,2 °/.
Die Ecole des Sciences de l'Education (Institut J. J. Rousseau) gibt seit dem
Oktober 1912 eine neue Zeitschrift herat& unter dem Titel »L’Intermediaire des
Educateurs«. Redakteur ist M. Pierre Bovet, 5 place de la Taconnerie, Genève.
Der Bezugspreis beträgt für das Ausland 3 fr. 50.
Der dritte Schularztbericht aus Sebnitz (Sachsen) auf das Jahr 1911/1912
hringt folgende Daten:
A. Körpermaße.
he aller aller aller der der f
Körpermaße Kinder Knaben Mädchen Mitt. Einfach, Min Max.
Größe. . . 1135 112,7 1144 115,3 112,3 99.0 127,0
Gewicht . . 19,9 20.0 19,8 20,5 19,4 15,1 30,4
Brustumfang. 56,6 57,2 53,6 57,0 56,4 51,0 62,0
B. Allgemeine Körperbeschaffenheit.
R a aller aller aller der der
A eine Ka > Kinder Knaben Mädchen Mittleren Einfachen
lo lo lo lo lo
Dub et oda io Aa SAD 48 43 58 38
mangelhaft . . . . 50 48 53 42 56
schlecht . . ... 4 4 4 0 6
In der Beilage zur »Volks-Zeitung« (Pirna, Nr. 273 vom 26. November 1912)
bringt Otto Rühle folgende Zusammenstellung, die beweist, daß der Gesundheits-
bezw. Wachstumszustand der Sebnitzer Schuljugend ganz erschreckend tiefsteht,
was zu einem großen Teil nur erklärt werden kann durch den Umstand, daß Sebnitz
ein Zentrum der Heimarbeit ist:
Länge Gewicht Brustumfang
Berlin 128,8 29,8 —
(Dr. Rietz, Archiv f. Anthrop., Bd. I, 1.)
Halle 128.5 28,6 -—
(Dr. Schmid-Monnard, Korresp.-Blatt d.
dtsch. anthrop. Gesellsch. 1900,11 u. 12.)
Gohlis 126,0 28,2 —
(Prof. Hasse, Beitrag z. Statistik u. Ge-
schichte d. Volksschulw. v. Gohlis 1891.)
Dresden i 130,6 — —
(Graupner. I. Kongr. f. Schulhyg.)
Pommern 128,0 26,0 62
(Archiv f. soz. Hyg. 1912, VI, 2.)
Saalfeld 126,5 — —
(Schmidt, Archiv f. Anthrop. XXI.)
Freiberg 125,5 — —
(Geißler u. Uhlitzsch, Zeitschrift d.
kgl. sächs. Stat. Bur., XXXIV.)
Stockholm 129,5 29,4 —
(Staatliche Enquete.)
Boston 125,5 — —
(Untersuchung von Borditch.)
Sebnitz 113,5 19,9 56,6
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 15
226 C. Zeitschriftenschau.
C. Zeitschriftenschau.
Jugend- und Schulhygiene.
Phleps, Gustav, Über Schulhygiene. Schul- und Kirchenbote. 47, 21 (1. No-
vember 1912), S. 323—330.
Eine sehr übersichtliche knappe Darstellung des ganzen Problems. Nur die
wichtigsten Momente werden hervorgehoben. Zum Schluß wird ein Verzeichnis der
ansteckenden Krankheiten, die sich in den Schulen entwickeln oder verbreiten
können, geboten.
Leubuscher, Lotte, Die schulärztlichen Einrichtungen einer englischen Stadt.
Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 35, 12 (Dezember 1912), S. 857—862.
Die Verfasserin hatte Gelegenheit, die Einrichtungen in Newport (Süd-Wales)
kennen zu lernen, über die sie einen Überblick bietet. Im allgemeinen ist man in
England denselben Weg gegangen wie in Deutschland. Das englische Gesetz vermag
gegen nachlässige Eltern bei gefährlichen Krankheiten strafrechtlich vorzugehen.
Des schulärztlichen Dienstes sind nur die städtischen Volksschulen teilhaftig.
Franke, Kurt, Schulhygiene in Japan. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege.
25, 11 (Oktober 1912), S. 729—739.
Die japanische Schulhygiene gedeiht im großen und ganzen auf gesundem
Boden. Luft, Licht und Bewegung sind die wesentlichsten Heilmittel für die japa-
nische Jugend. Daten über die Entwicklung der Schulhygiene in Japan leiten die
Arbeit ein.
Oebbecke, Zur Frage der Vereinheitlichung des Schulärztlichen Dienstes in Deutsch-
land. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 25, 11 (Oktober 1912), S. 785—787.
Darstellung der Besonderheiten im Breslauer schulärztlichen Dienstschema. —
Es müßte mehr auf Übereinstimmung der Prinzipien hingearbeitet werden. Die
Frago nach der Ausführung ist erst von sekundärer Bedeutung.
Hieber, A., Gedanken und Betrachtungen eines Schularztes im Nebenamt. Zeit-
schrift für Schulgesundheitspflege. 25, 12 (Dezember 1912), S. 862—865.
Auf Grund seiner Tätigkeit kommt der Verfasser zu dem Schluß, daß der
Schularzt im Nebenamt sehr wohl imstande ist, das große Gebiet der Schulhygiene
zu übersehen und die gewünschte und geforderte Tätigkeit zu entfalten. Auch bei
bescheidenen Mitteln läßt sich Gutes leisten.
Cohn, Moritz, Der Wert des Tabellenmaterials einzelner Schularztbezirke in den
Breslauer Jahresberichten. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 25, 10 (Oktober
1912), S. 722—726.
In den Tabellen kommt die Individualität des Arztes sowie die lokalen Ver-
hältnisse klar zum Ausdruck. Ihr Wert ist also nur ein bedingter.
Alexander, Arthur, Über eine Beteiligung der Kinderärzte an der Internationalen
Ozäna-Sammelforschung. Deutsche Med. Wochenschrift. 38, 39 (26. September
1912), S. 1845—1847.
Die Sammelforschung soll in erster Linie die Ozäna (Stinknase) als Volks-
krankheit studieren, sodann die Übertragbarkeit (Vererbung oder Infektion) und vor
allem auch die Symptome des Anfangsstadiums. Namentlich beim Studium dieser
letzteren kann der Kinderarzt den Veranstaltern der Sammelforschung wesentliche
Dienste leisten. (Daß der Pädagoge in mancher Hinsicht gerade bei dieser Arbeit
den Arzt unterstützen kann, braucht kaum erwähnt zu werden.)
C. Zeitschriftenschau. 227
Cohn, Moritz, Die Kenntnis der Körperlänge, ein Maßstab für die normale Ent-
wicklung der Schulkinder. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 25, 10 (Ok-
tober 1912), S. 693—696.
Als Schwerpunkt für die Aufstellung entsprechender Tabellen ist nicht das
Alter, sondern die Körperlänge zu empfehlen. Was der Verfasser will, wird am
besten durch die seiner Arbeit beigefügte Tabellen über Messungen und Wägungen
an 90 normalen gesunden Knaben klar. Es wird angeregt, durch derartige Tabellen
den bisher noch ausstehenden einwandfreien Nachweis über die Wirkung des Schul-
besuchs auf die normale Entwicklung gesunder Kinder zu erbringen.
Homma, T., und Fujikawa, Y., Über die Körperlänge der Mädchen. Jidö Kenkyü.
XVI, 1 (August 1912).
Die jährliche Zunahme der Körperlänge ist bei den japanischen Mädchen ge-
ringer als bei den europäischen. Doch laufen beide Kurven beinahe parallel.
Fujita, T., Über die Körperuntersuchung der Kinder. Ebenda referiert aus Shögakkö,
XII, 3.
Vergleich des Körpergewichts von Elementarschulkindern in Kioto vor und
nach den Sommerferien.
Kusano, S., Über die Untersuchung der Schulkinder mittelst Pirquetscher Reaktion.
Ebenda referiert aus Okayama-Igakkai-Zasshi 264.
Die Zahl der positiven Reaktıonen nimmt mit dem Lebensalter zu.
v. Drigalski, Bekämpfung der übertragbaren Krankheiten in den Schulen. Zeit-
schrift für Schulgesundheitspflege. 25, 11 (Oktober 1912), S. 739—748.
Kurze Andeutung der Art, wie die Schule vor Infektionen zu schützen und
gleichzeitig der allgemeinen Seuchenbekämpfung dienstbar zu machen ist. Als
Grundsatz wird aufgestellt: »Niemand darf nach einer ansteckenden Krankheit oder
bei Verdacht auf Infektion die Schule wieder besuchen, bevor er das schulärztliche
Zeugnis erhalten hat, daß er nicht mehr ansteckend ist« (742). Mit 2 graphischen
Darstellungen über Diphtherie und Scharlach in Halle a. S. in den Jahren 1906—1911.
Hillenberg. Kindheitsinfektion und Schwindsuchtsproblem. Deutsche Med. Wochen-
schrift. 38, 43 (24. Oktober 1912), S. 2032—2034.
Die Lehre vom infantilen Ursprung der Krankheit der Erwachsenen stellt
»keineswegs ein fest fundiertes und gefügtes Gebäude« dar. Die Schwindsuchts-
bekämpfung hat dementsprechend zwar schon im jugendlichen Alter einzusetzen, in
der Hauptsache aber muß sie doch den tuberkulösen Erwachsenen als Hauptquelle
der Schwindsucht im Auge behalten.
v. Leube, Über die Bekämpfung der Tuberkulose im Kindesalter. Münch. Med.
Wochenschrift. 59, 31 (30. Juli 1912), S. 1697—1699; 32 (6. August), S. 1760
bis 1762.
Bespricht im allgemeinen Bedeutung und Behandlung der Tuberkulose im
Kindesalter und den notwendigen Kinderschutz. Das Kind wird erst ganz allmählich
von außen her mit Tuberkulose infiziert. Vererbung der Tuberkulose erscheint nur
in Ausnahmefällen zutreffend. Da in etwa ein Drittel der Fälle eine Infektion jen-
seits des Kindesalters angenommen werden muß, sind die prophylaktischen Maßregeln
mit demselben Eifer wie bisher fortzusetzen. Einzelne im Interesse des Kinder-
schutzes notwendige Maßregeln werden besprochen.
Franke, Kurt, Schule und Tuberkulose. Deutsche Elternzeitschrift. 3, 11 (1. August
1912), S. 180—182; 12 (September), S. 196—198.
Bringt reiches Zahlenmaterial aus der vorhandenen Literatur. Hält sich vor
allem an die Untersuchungen Herfords. Eingehend besprochen werden die Mittel,
15*
228 C. Zeitschriftenschau.
die uns zu wirksamer Bekämpfung der Tuberkulose im schulpflichtigen Alter zur
Verfügung stehen, namentlich auch die Beratung der vor der Berufswahl stehenden
jungen Leute.
Vogt, Hans, Zur Diagnose der Lungentuberkulose im Kindesalter. Münch. Med.
Wochenschrift. 59, 36 (3. September 1912), S. 1957—1958.
Kurze Besprechung der exakten Diagnose mit besonderer Berücksichtigung der
Punkte, die häufig zu Irrtümern Veranlassung geben.
Lorentz, Friedrich, Methodische Atemübungen in der Schule und ihr Wert für
die Tuberkuloseverhütung. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 25, 12 (De-
zember 1912), S. 793—801.
Um die Lungen in ihrer Funktion nicht zu schädigen, müssen vor allem die
Gelenkverbindungen des oberen Rippenringes geübt werden durch kräftige Atemtätig-
keit und freien Gebrauch der Arme. Die Übungen müssen im Freien oder in frisch
und gut durchlüfteten Räumen vorgenommen werden. Zur Ausbildung der Lehrer
müßten Kurse in Atemgymnastik eingerichtet werden. Auch für die Fortbildungs-
schulen ist Einführung der Atemübungen erforderlich.
Hach, J., Atmungsgymnastik bei turnerischen und sportlichen Übungen. Deutsche
Schulpraxis. 32, 46 (17. November 1912), S. 366—367.
Die Wichtigkeit der Atmungsübungen wird in Kürze eindringlich dargetan.
Riesenkampff, Agnes, Über die schwedische Schulgymnastik. Pädagogischer
Anzeiger für Rußland. 4, 10 (Oktober 1912), S. 625—631.
Neben allgemeinen Bemerkungen entbält der Aufsatz eine sehr gute Zusammen-
stellung der Übungen und ein Schema des Gymnastikprogramms,.
L. K., Heilung der Kinder-Rückgrat-Verkrümmung. Zeitschrift für Jugenderziehung
und Jugendfürsorge. III, 5 (15. November 1912), S. 132—135.
Es wird die von dem Londoner Orthopäden Dr. Bernhard Roth angegebene
Methode anerkennend besprochen. Die verschiedenen Übungen werden angegeben.
Peltesohn, Siegfried, Über die orthopädisch-chirurgische Behandlung der polio-
myelitischen Lähmungen im Kindesalter. Deutsche Med. Wochenschrift. 38, 43
(24. Oktober 1912), S. 2028—2029.
Überblick über den eigenen Standpunkt in der Frage der Lähmungstherapie
des Kindesalters.
Deutschländer, Carl, Die spinale Kinderlähmung. Ebenda. 38, 40 (3. Oktober
1912), S. 1883—1888.
Vorzüglicher Überblick. Die Therapie wird besonders eingehend behandelt.
Eine überstandene spinale Kinderlähmung bedingt etwa den sechsten Teil aller Ver-
krüppelungen.
Kose, Y., Über die Zahnkaries bei den Schulkindern in Japan. Jid6 Kenkyü.
XVI, 2 (September 1912).
Unter 2538452 untersuchten Schulkindern litten 48,7 °/, an Zahnkaries. Über
die Verteilung der kranken Kinder nach Alter, Wohnung usw. werden genauere
Angaben gemacht.
Alexander, Gustav, Die schulärztliche Ohrenuntersuchung an der Volksschule zu
Berndorf in Niederösterreich in den Jahren 1910, 1911 und 1912 (3., 4. und
5. Jahr). Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 25, 10 (Oktober 1912), S. 713
bis 722.
Eingehende Daten. — Bemerkenswert ist, daß im Laufe der Jahre Kinder,
Eltern und Lehrer immer mehr Vertrauen zum Schulohrenarzt gefaßt haben.
C. Zeitschriftenschau. 229
Held. Rudolf, Die Kurzsichtigkeit unter den Gewerbelehrlingen der Münchner
Fortbildungsschulen. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 25, 12 (Dezember
1912), 5. 801—807.
Im Durchschnitt wurden folgende Kurzsichtigkeitsprozente festgestellt: für
Freilichtberufe 3,65 °,,, Grobhandwerker 6,73 °/, und Feinarbeiter 9,52 °/ In Däne-
mark fand Tscherning für Bauern und Tagelöhner 2,5°/,, für Grobhandwerker 5,2%,
und für Feinarbeiter 11,6°,. Mehr Handarbeit, mehr Bewegung in den Schulen
aller Art, weniger Bücher- und Federdienst wären geeignet, die Kurzsichtigkeit in den
Grenzen zu halten, die volkswirtschaftlich und national verantwortet werden können.
Lorentz, Friedrich, Zur Frage der Schülerermüdung. Zeitschrift für Schul-
gesundheitspflege. 25, 11 (Oktober 1912), S. 749—756.
Nachweis, daß die Schlußfolgerungen aus Konrichs Vortrag »Zur Frage der
Ermüdungsmessung und der Wirksamkeit des Weichardtschen Antikenotoxins« auf
der IV. Versammlung der »Vereinigung der Schulärzte Deutschlands« »nicht ohne
weiteres als richtig anzuerkennen sind«. Lorentz zieht aus den erwähnten Unter-
suchungen die Folgerung, daß in der Tat Antikenotoxin imstande ist, Ermüdungs-
stoffe zu beeinflussen.
Franke, Kurt, Der Schlaf bei Erwachsenen und Kindern. Zeitschrift für Jugend-
erziehung und Jugendfürsorge. III, 5 (15. November 1912), S. 124—126.
Jm allgemeinen werden 2 Schlaftypen unterschieden. Beim ersten Typus
wird die größte Schlaftiefe schon in der ersten Stunde erreicht (Abendschläfer),
doch verflacht die Kurve schnell; beim zweiten Typus vertieft sich der Schlaf lang-
sam, verflacht aber auch langsam (Morgenschläfer). Ganz kurz werden die Ab-
weichungen des Kinderschlafes vom Schlafe der Erwachsenen besprochen (2 Ver-
tiefungen; längeres Schlafbedürfnis; störende Erscheinungen).
von Schenckendorff, Deutsche Jugenderziehung und Pfadfinderbewegung. Der
Arzt als Erzieher. 8, 1912, 1, S. 1—4; 2, S. 13—20.
Überblick über die Organisationen, die eine Ertüchtigung der Jugend erstreben.
Hach, J., Turnen und Spiel in ihrer Bedeutung für die Jugendpflege. Deutsche
Schulpraxis. 32, 50 (15. Dezember 1912), 3. 393—395.
Durch regelmäßige Leibesübungen wird die Gesundheit und die Körperkonsti-
tution der jungen Leute außerordentlich gehoben. So waren z. B. im Kreise Schmal-
kalden 1902 nur 38°/, aller Militärpflichtigen diensttauglich, 1909 (nach einigen
Jahren planmäßiger Leibesübungen) 75°/,. Die Leibesübungen müssen einen wirk-
lichen Wert für die Ausbildung des Körpers haben und nachhaltiges Interesse er-
wecken. Turnen und Spiel müssen sich ergänzen. Auch die Landjugend muß daran
teilhaben.
Heuer, O., Vom Schwimmunterricht in der Hilfsschule. Die Hilfsschule. V, 10
(Oktober 1912), S. 273 —278.
Teilt seine Erfahrungen aus Hamburg mit, wo bisher etwa 60 Hilfsschüler im
Schwimmen ausgebildet wurden, und zwar im allgemeinen mit gutem Erfolg.
Stock, P., Im frischen grünen Wald. Die Hilfsschule. V, 10 (Oktober 1912),
S. 278—279.
Kurzer Bericht über eine Wanderung mit Fortbildungsschülern Berlins. »Wer
sich der Aufgabe unterzieht, unsere Jünglinge in die Kunst einer genußreichen
Wanderung einzuführen, der findet in der aufrichtigen und herzlichen Dankbarkeit
der jugendlichen Seelen den Ansporn zu weiteren Unternehmungen auf diesem Gebiet.«
Rasser, E. O., Schulkinderspeisungen mit besonderer Berücksichtung des Auslandes.
Die Gesundheitswarte. X, 9, S. 199—206.
230 C. Zeitschriftenschau.
Kurzer orientierender Bericht über die Einrichtung in verschiedenen Ländern.
Die Einrichtungen in England werden etwas eingehender behandelt. Sie dürfen
in vieler Hinsicht als mustergültig gelten.
Wilker, Karl, Die Alkoholfrage in den württembergischen Lehrerseminaren. Die
Enthaltsamkeit. 14, 11 (November 1912), S. 77—78.
Der Verfasser hielt in allen württembergischen Lehrerseminaren Vorträge über
die Bedeutung der Alkoholfrage für den künftigen Lehrer, denen die Seminaristen
mit Aufmerksamkeit folgten. Die Leitsätze werden mitgeteilt.
Schmid, Hans, Über Unterricht und Bildung in einem Lungensanatorium. Zeit-
schrift für Jugenderziehung. IIl, 2 (1. Oktober 1912), S. 43 —47.
Teilt den Bericht des Hauslehrers der Bernischen Heilstätte für Tuberkulose
in Heiligenschwendi mit. Der Bericht äußert sich sehr erfreulich über die Unter-
richtsarbeit: »Noch nie habe ich so dankbare Schüler gehabt wie diese kranken
Kinder hier.«
Sörgel, Paul, Notwendigkeit einer verbesserten körperlichen Erziehung in unseren
deutschen Schulen. Die Gesundheitswarte. X, 10, S. 223—233.
Teilweise übertreibende und vor allem einseitige Darstellung! Gefordert wird
Gleichberechtigung der Körperpflege mit der geistigen Ausbildung.
Toulouse, Wie bildet man den Geist? Eos. 8, 2 (April 1912), S. 97—108.
Inhaltsangabe eines gleichbetitelten französischen Buches (1908), aus der
»Revue psychologique«, I, S. 65 ff. — »Die Gesundheit ist in vielen Beziehungen
ein Werk des Verstandes« ist das Schlußergebnis.
Hesse, Otto, Schule und sexuelle Aufklärung der Jugend. Zeitschrift für Jugend-
erziehung und Jugendfürsorge. 3, 6 (1. Dezember 1912), S. 156—160.
Die verantwortungsvolle Aufgabe muß dem Elternhaus überlassen bleiben.
»Öffentliche Vorträge über sexuelle Dinge vor einem Jugendauditorum sind grober
Unfug«. Die öffentlichen Vorträge wären zweckentsprechend zu Informationen für die
Eltern umzugestalten.
Major, Gustav, Zur Frage der sexuellen Aufklärung der Kinder. Die Gesund-
heitswarte. X, 8, S. 189—194; 9, S. 213—216.
Bietet nichts neues. Zum Teil Wiederholungen aus einer anderen Arbeit des-
selben Autors. .
Samosch, Schule und Haus. Die Notwendigkeit ihres Zusammenwirkens vom ärzt-
lichen Standpunkt aus betrachtet. Der Arzt als Erzieher. 8, 1912, 5, S. 49—53;
6, S. 61—69; 7, S. 79—84; 8, S. 90—96.
Es soll die Frage beantwortet werden, inwieweit körperliches und geistiges
Wohl der Schuljugend durch Zusammenarbeiten von Schule und Haus gefördert
werden können. Durch Herstellung der geeigneten Verbindungen könnten die Arbeits-
bedingungen der Pädagogen bedeutend besser gestaltet werden, Bei der Herstellung
dieser Verbindung wird ärztliche Mithilfe nicht zu entbehren sein.
Kemsies, F., Der Pflichtanteil des Hauses an den Hausaufgaben der Schüler.
Deutsche Elternzeitschrift. IV, 1 (1. Oktober 1912), S. 9—11; 2 (1. November),
S. 27—29.
Mannigfache bygienische Fragen, die bei der Herstellung der Hausaufgaben in
Betracht kommen, werden sachgemäß besprochen. Doch wird man kaum mit allen
Forderungen übereinstimmen.
Engelen, Über Erziehungsaufgaben und Schulfragen. Der Arzt als Erzieher.
8, 1912, 9, S. 97—102.
D. Literatur. 231
Es werden allgemeine Forderungen der Gesundheitspflege unter besonderer
Berücksichtigung des Gymnasiums und des Humanismus besprochen. Der Verfasser
hofft, daß das Zeitalter der Naturwissenschaften gründlich und schnell aufräumt mit
den im humanistischen Gymnasium ängstlich gehüteten »vermoderten Überresten
veralteter Bildungsbestrebungen«.
Frucht, Th., Was muß eine Mutter von der Pflege und Erziehung eines Säuglings
wissen. Deutsche Elternzeitschrift. IV, 1 (Oktober 1912), S. 7—9; 2 (1. November),
S. 25—27; 3 (1. Dezember), S. 45—47.
Bespricht alle in Betracht kommenden Punkte, wobei sich der Autor in erster
Linie an junge Mütter wendet.
Der sächsische Volksschulgesetzentwurf im Lichte der Schulhygiene. Zeitschrift
für Schulgesundheitspflege. 25, 11 (Oktober 1912), S. 768—770.
Die schulhygienischen Forderungen haben eine »recht stiefmütterliche Be-
handlung« erfabren, wie im einzelnen dargelegt wird.
Das Schulhaus der Zukunft. Neue Bahnen. 24, 2 (November 1912), S. 93—94.
Aus »Volksschulwartee. — Kurze Schilderung einer der Stadt Mannheim ge-
schenkten Waldschule nebst damit verbundenen anderen Einrichtungen zum Wohle
der Jugend.
D. Literatur.
Kraemer, N., Experimentelle Untersuchungen zur Erkenntnis des
Lernprozesses. Leipzig, Quelle & Meyer, 1912, 97 8. 8°,
Verfasser will den Lernprozeß bei der Einprägung sinnhaltigen Stoffes unter-
suchen und Näheres erfahren über die eigentlichen »Stützpfeiler des Lernens«. Er
nahm dazu kurze Texte philosophischen, erzählenden und beschreibenden Inhalts.
Die Versuchspersonen, anfangs 5, später nur mehr 4, welche zuvor auf ihren Vor-
stellungstypus geprüft worden waren, hatten die Texte durch wiederholte Lesung
naclı der Ganz-Lern-Methode zu lernen bis zur wörtlichen Reproduktion. Einmal,
gelegentlich zweimal wurde die Wiederholung durch eine Reproduktion als Probe
unterbrochen, um festzustellen, welche Stellen sich zuerst und leicht einprägten,
welche zuletzt und schwer. Das Lernen geschah mit 3 verschiedenen Einstellungen.
Die ersten 3 Lernstücke waren zu lernen mit der Instruktion, auf Wort und Sinn
in gleicher Weise zu achten (Wort- und Sinnmethode), die nächsten 3 mit der
Weisung, nach Möglichkeit zuerst nur auf Sinn des Ganzen zu achten, bis der Ideen-
gang vullständig erfaßt war, und erst dann die Aufmerksamkeit auf Wortlaut und
Konstruktion auszudehnen (Sinnmethode). Bei den letzten 3 Lernstücken endlich
sollte nur auf Worte geachtet werden (Wortmethode). Nach 24 Stunden wurde
das Gelernte wiederholt und wiederum die Anzahl der zum Neulernen nötigen
Wiederholungen festgestellt (Ersparniswert). Die Sinnmethode erwies sich allgemein
als die sparsamste, die Wort- und Sinnmethode stand merklich hinter ihr zurück.
Die Wortmethode endlich erwies sich, ausgenommen bei einer Versuchsperson mit
starkem verbalen Gedächtnis, als bedeutend weniger vorteilhaft; erforderte sie doch
manchmal das Doppelte, ja das Dreifache der bei der Sinn- und Wortmethode er-
forderlichen Anzahl von Wiederholungen. Das ergibt, was allerdings den Schul-
leuten nichts Neues ist, daß »die wichtigste Hilfe alles Lernens und Behaltens das
volle Verständnis des Inhalts ist, der klar sich aufbauende Gedankengang, das
232 D. Literatur.
durchsichtige Verständnis des logischen Zusammenhanges«. Die in die Wieder-
holungen eingeschobenen Prüfungen ergaben einen beachtenswerten Einblick in die
Lernarbeit. Der Verfasser unterscheidet darnach 4 Stadien: 1. Die »Adaption und
Orientierunge, durch die sich der Lernende zunächst mit dem Inhalte des Textes
bekannt macht, was natürlich je nach der inhaltlichen und formellen Schwierigkeit
des Textes ungleich lang dauert, 2. das Stadium des »passiv aufnehmenden« Lernens,
wo der vorgelegte Text eingeprägt wird unter Zuhilfenahme visueller, akustischer,
motorischer und anderer, dem Typus des Lernenden entsprechender sekundärer
Stützen, 3. das Stadium des antizipierenden Lernens, wo die Versuchsperson sich
selbst überhört, indem sie bei den festsitzenden Stellen den Blick vom Blatt ab-
wendet, endlich 4. das letzte Stadiam, wo die immer noch unsicheren Stellen
herausgegriffen und besonders befestigt werden.
Außerdem ergab diese Zwischenprobe als sekundäre Stütze des Lernens d. h.
als Moment, welches das Einprägen erleichtert und damit die Anzahl der nötigen
Wiederhoiungen herabsetzt, leichtverständliche und übersichtliche Satzkonstruktion,
während kürzere, abgerissene Sätzchen ebenso wie umständliche Satzperioden hinder-
lich sind, Rhythmus, auffallende Wörter, Alliteration, Assonanz, Lokalisation ein-
zelner Wörter und Sätze im ganzen Texte, endlich Anschaulichkeit des Lernstoffes.
In einem Anhang faßt Verfasser nochmals diese Ergebnisse zusammen und stellt
ihre Bedeutung mehr ins Licht. Mit allen diesen Beobachtungen bestätigt Kraemer,
was von der experimentellen Psychologie gelegentlich bei ihren nach anderen Zielen
gerichteten Untersuchungen gefunden worden ist und was auch den erfahrenen
Schulleuten keineswegs ganz entgangen ist. Insofern ist die Arbeit immerhin
dankenswert.
Dagegen ist es fraglich, ob sie ihr anderes Ziel, »in das Wesen der Ein-
prägunge tiefer einzudringen, erreicht hat. Verfasser nimmt keine Notiz davon,
daß zwischen Einprägen (Lernen) und Reproduzieren (Dispositionen schaffen und
Dispositionen wirksam werden lassen) scharf zu scheiden ist, daß die einen Um-
stände das Schaffen der Dispositionen begünstigen, andere hingegen die Betätigung
dieser. Er zeigt uns nur, daß Verständnis des Inhaltes, Rhythmus, Alliteration usw.
das Einprägen unterstützen, aber nicht, wie diese Unterstützung geschieht, wo-
durch diese Umstände das Einprägen oder richtiger das Reproduzieren unterstützen.
Diese Verschiedenartigkeit der Wirkungsweise der einzelnen Faktoren, worauf ich
in meinem »Gedächtnis« besonders hingewiesen habe, und das jeweilige Maß ihrer
Beiträge zum Gesamtergebnis genauer zu erforschen, darauf hat Verfasser leider
verzichtet. Er hätte es vielleicht nicht getan, wenn er von der bereits vorhandenen
Literatur nicht einen gar so maßvollen Gebrauch gemacht hätte, So ist es zu be-
dauern, daß Kraemer aus der großen Arbeit, welche in seiner Untersuchung steckt,
nicht noch mehr Gewinn gezogen hat.
München. M. Offner.
Schoeneberger, H., Psychologie und Pädagogik des Gedächtnisses.
Pädagog. Monographien herausgeg. von E. Meumann. Leipzig, Nemnich, 1912.
146 S. Preis 3,20, geb. 4,70 M.
Die Aufgabe, die sich Schoeneberger stellt, ist eine »kritische Gesamt-
darstellung der experimentellen Erforschung der Gedächtnisfunktionen und ihrer
pädagogischen Bedeutunge. Die Gedächtnisforschung begann mit Ebbinghaus. Da
aber mit der Müller-Pilzeckerschen Treffermethode ein neuer Aufschwung der ge-
samten Gedächtnisforschung eingetreten ist, so läßt Schoeneberger mit dieser eine
neue Epoche beginnen, der gegenüber die vorhergehende Epoche ihm fast nur wie
D. Literatur. 233
eine Vorstufe erscheint. Er behandelt darum die in diese erste Periode fallenden
Arbeiten von Ebbinghaus, Müller-Schumann, Bolton, Binet und Bourdon nach
Methode und Ergebnis mehr chronologisch referierend. Sehr ausführlich werden
erst die Müller-Pilzeckerschen Versuche dargestellt unter kritischen Bemerkungen
und gelegentlichem Hinweis auf übereinstimmende oder widersprechende Ergebnisse
anderer Forscher; nicht weniger eingehend werden dann, meist in chronologischer
Reihenfolge, die Untersuchungen von Jost bis Weber (1909) besprochen. Darauf
folgt ein Referat über die bisherigen Forschungen auf dem Gebiet der Gedächtnis-
oder Vorstellungstypen und wenig glückliche historisch-kritische Betrachtungen über
den Assoziationsbegriff sowie Darlegungen einiger Spezialfragen aus dem Gebiete
der Assoziationslehre. Nach diesem leider nieht sehr übersichtlichen kritischen
Referat rein theoretischer Arbeiten gibt Verfasser einen Überblick über diejenigen
experimentellen psychologischen Untersuchungen, welche für den Unterricht wichtige
Detailfragen zum Gegenstand haben, so die Entwicklung des Gedächtnisses, die
Ökonomie und Technik des Lernens, die Übungsfähigkeit des Gedächtnisses. Eine
Darlegung der sich aus dem Vorhergegangenen ergebenden allgemeinen Gesetze der
Psychologie des Gedächtnisses und des Wortverstehens und einiger psychophysio-
logischer Konsequenzen schließt die Arbeit.
Wie dieser Überblick erraten läßt, ist Schoenebergers Buch sehr reichhaltig.
Wenn es auch nicht Vollständigkeit anstrebt, so sind doch wenige wichtige experi-
mentelle Arbeiten unbeachtet geblieben und in dem (leider wenig exakt gearbeiteten)
Literaturverzeichnis übergangen. Aber wie ebenfalls die Inhaltsübersicht verraten
läßt, geht dem Buch ein leicht überschaubarer Plan ab, der es ermöglicht für jede
Frage die sie behandelnde Stelle zu finden. Wie ich mir einen derartigen Plan
denke, habe ich in meinem »Gedächtnis« gezeigt. Um so mehr ist darum ein Sach-
und Autorenregister von nöten; leider fehlt auch das. Auch daß die Hinweise auf
die Autoren selten die Seitenzahlen angeben, ein Verfahren, das auch Meumann
sehr liebt, empfindet der Leser nichts weniger als angenehm. Es macht dem, der
zur weiteren Orientierung und Nachprüfung nachschlagen möchte, die Arbeit äußerst
schwer und erhöht nicht das Vertrauen in die Genauigkeit und Verlässigkeit der
Darstellung. Dazu kommt ein gewisser Mangel an Schärfe und Klarheit im Aus-
druck. Diese Dinge sind dem arbeitsreichen Buch Schoenebergers sehr nachteilig
und werden ihm besonders in die Kreise, für die er es bestimmt zu haben scheint,
die Lehrerkreise, den Eingang sehr erschweren.
München. M. Offner.
Braunshausen, N., Die experimentelle Gedächtnisforschung. U. Teil.
Programm - Abhandlung des Großherzoglichen Gymnasiums in Luxemburg. 1912.
53 Seiten.
Der erste im Jahre 1911 erschienene Teil dıeser Arbeit, der bereits in dieser
Zeitschrift angezeigt worden ist, hat neben den Methoden der Gedächtnisforschung
mehr die objektiven Bedingungen des Gedächtnisses, besser: des Einprägens oder
der Dispositionsbildung (Intensität des Eindruckes, Qualität des Lernmaterials, Art
der Darbietung, Qualität des Lernstoffes, Dauer des Eindrucks, Einfluß der Stelle
in der Reihe, Rhythmus, Lernen im Ganzen und in Teilen, Wiederholung usw.) be-
handelt. Der in diesem Jahre erschienene II. Teil nun beschäftigt sich mit den
subjektiven Bedingungen, zunächst den Vorstellungstypen, dann den Methoden
ihrer Feststellung mit manchem beachtenswerten kritischen Wink, den Unter-
schieden des Geschlechtes und des Alters, der Stimmung, wozu Verfasser auch
die Ermüdung mit psychischen Wirkungen des Hungers und der Witterung und
234 D. Literatur.
Temperatur rechnet, bespricht dann die Wirkung des Alkohols und der Narkotika,
weiterhin die Gefühlsbetonung, das Interesse, die Aufmerksamkeit, den Willen,
die psychischen Hemmungserscheinungen, die Übung und endlich das Vergessen.
Ein Verzeichnis der benutzten Literatur schließt auch diese zweite Abhandlung.
Entsprechend dem Zweck der Arbeit sind an die theoretischen Ausführungen* jeder-
zeit die Konsequenzen für die Erziehungs- und Unterrichtspraxis geknüpft nicht
ohne eine Reihe guter Beobachtungen und beachtenswerter kritischer Bemerkungen.
Die Darstellung kommt mir in diesem 2. Teile leichter, klarer und einheitlicher
vor, wie im ersten. Immerhin sind noch manche Berichte über die Forschungen
anderer so kurz gefaßt, daß der Leser über das einzelne sich nicht klar werden
kann. (S. Sa, 17b, 21a, 43b.)
Nicht beistimmen kann ich dem Verfasser in seiner Bewertung der Lorentz-
schen Versuche mit dem Weichardtschen Antikenotoxin (Ermüdungsgegengift). Er
glaubt, daß mit diesem Medikament ein Mittel gefunden sei, die Folgen der Er-
müdung aufzuheben (S. 21). Diese Hoffnung ist aus theoretischen Erwägungen
aufzugeben. Der Ermüdungsprozeß hat 2 Seiten, eine positive, insofern die fort-
schreitende Arbeit die bekannten, eine weitere Tätigkeit immer mehr hemmenden
Ermüdungsgifte produziert, und eine negative, indem sie die vorhandenen, die
Muskeln und die Nerven konstituierenden Stoffe aufzehrt. Nur die erste Seite be-
kämpft das Weichardtsche Antikenotoxin, und das ist obendrein die weniger
schlimme. Die schlimmere Seite dagegen. verdeckt es, indem es das Ermüdungs-
gefühl, diesen heilsamen Warner und Mahner, zum Schweigen hringt. Ich habe
schon 1910 in meiner Arbeit über »Die geistige Ermüdung« und nochmals in einem
Artikel in der Zeitschrift »Die Volksschule« (J. Beltz, Langensalza) 1912 vor einer
Überschätzung des Weichardtschen Mittels gewarnt und möchte das hier wieder
tun; ich hoffe damit auch dem geistvollen Erfinder, Prof. Weichardt in Erlangen,
einen Gefallen zu tun. Der Übereifer kann selbst der besten Sache schaden. —
Im Kapitel über »Gefühlsbetonung« Seite 25 ff. fand ich zwischen Gefühlsbetonung
des einzuprägenden Inhaltes und dem von anderen Dingen abhängigen allgemeinen
Zustand der Stimmung nicht genügend geschieden. Die beiden Faktoren wirken,
wie ich in meinem »Gedächtnis« gezeigt habe, sehr ungleich und daraus erklärt
sich mancher scheinbare Widerspruch. Umgekehrt fand ich bei der Auffassung,
welche der Verfasser von dem Interesse hat (»interessant ist etwas, was imstande
ist, uns aus der normalen Gefühlslage in der einen oder andern Richtung heraus-
zubringen«) die gesonderte Behandlung derselben neben Gefühlsbetonung nicht von
nöten. Doch derlei Stoffeinteilungen sind nicht immer von rein theoretischen Ge-
sichtspunkten aus zu beurteilen. Darum wollen wir mit dem Verfasser nicht weiter
rechten, vielmehr dem Verfasser wünschen, daß es ihm gelingt, durch seine Ver-
öffentlichung, in der mehr Mühe und Arbeit steckt, als mancher ferner stehende
wohl ahnt, für Arbeitsmethode und Arbeitserfolg der modernen Psychologie Interesse
und Verständnis zu wecken.
München. M. Offner.
Nögrädy, Dr. Ladislaus, Kind und Spiel. Budapest, Verlag der Ungarischen
Gesellschaft für Kinderforschung, 1913.
Das Buch zerfällt in zwei Teile: in Psychologie und Pädagogik des Spiels.
Der Verfasser berücksichtigt durchweg den pädologischen Standpunkt gegenüber
den bisherigen Methoden, die zumeist eine philosophische Betrachtungsweise in den
Mittelpunkt gestellt haben. Diese haben ihre Konsequenzen vom Erwachsenen ab-
geleitet. Verfasser hingegen sammelte subjektive, lediglich von Kindern stammende
D. Literatur. 235
Beiträge; diese reihte er den bekannten Theorien an, um dadurch seine Behauptungen
zu erhärten. 6000 Daten erbrachte er vermittels der Ung. Gesellschaft für Kinder-
forschung, die er dann ausbeutend verwertete. Auf mehreren Tabellen veranschau-
licht er nun die gewonnenen Resultate, namentlich, welche Spiele die Kinder
zwischen 3—21 Jahren wählten; es waren 13 Spielarten; die Mehrheit entschied
sich für körperstärkende Spiele. Von größter Bedeutung war die Motivierung der
Kinder, warum sie das genannte Spiel bevorzugten. Laut dieser Daten konnte Ver-
fasser feststellen, daß nicht, wie man bislang glaubte, vorwiegend das Gefühl und
die Vorstellung als Motivationen vorherrschen, vielmehr jene Triebkräfte, welche
die physische Entfaltung fördern. Verfasser verwirft somit die ästhetische Theorie,
aber auch diejenigen, deren Grundzug darin besteht, daß das Kind nur wegen der
Erholung spielt, nicht ganz stimmt er der Einübung von Groß, auch nicht der
Meinung Langes von der bewußten Selbsttäuschung bei, da die allein das Ziel nicht
zu schaffen vermögen; gleichfalls lehnt er die von Spencer und Lazarus ab, die
einen Überfluß bezw. Mangel der Kraft annehmen. Er sucht den Zweck des Spiels
im Kinde selber, und so kommt er zum Ergebnis, daß das Spiel keine ästhetische,
sondern eine biologische Erscheinung im Leben des Kindes ist. Er beschreibt
die Spiele, entsprechend den Entwicklungsstufen und beweist, daß die Ursachen
der Spiele die Entwicklungstriebe und das Ziel der Entfaltung, also eine biologische
Tatsache, sind. Diese kommt durch die im Spiel mitwirkenden physischen, geistigen
und Gefühls-’Triebmotive zustande. Der 1. Teil schließt mit der Kritik des Spiels.
Der Verfasser beantwortet die Fragen, wie die guten Spiele, Bilderbücher und die
Jugendlektüre vom Gesichtspunkte der Kindesseele beschaffen sein müssen. Er fügt
noch etliche Bemerkungen über die Typen der spielenden Kinder an und leitet da-
von manche Eigenschaften betreffs des Charakters und der Rasse ab,
Der 2. Teil ist der Pädagogik des Spiels gewidmet. Nach einer geschichtlichen
Übersicht legt Verfasser zunächst den Wert des Spiels in der Erziehung sowie im
Unterricht klar und dar. Die Entfaltung und Zufriedenheit gebiert das Spiel; diese
beiden seien zu erlangen, damit das Kind das Wissen nicht durch körperliche Leiden
und seelische Pein sich anzueignen gezwungen sei. Verfasser will den üblichen
Turnunterricht womöglich beschränken und statt dessen muskelstärkende und ge-
sunde Spiele einführen, die gleichzeitig zur Einübung der Tätigkeitsenergie nutzbar
gemacht werden können. Zwecks Ausgestaltung der kindlichen Intelligenz sind die
Nachahmungsanlagen, die in verschiedentlichen Spielen sich äußern, anzuregen.
Im Spiel manifestiert sich die heilsame Willensenergie, mithin das Geltendmachen
der individuellen Fähigkeit, doch nicht nur in der geistigen, auch in der Gefühlswelt
spielt das Spiel eine wichtige Rolle, zumal die Betätigung damit für das Kind das
wirkliche Leben, die soziale Gesellschaft der Mitschüler, wie Freude, Leid, Ent-
täuschung usw. bedeutet. Nun bringt Verfasser das Spiel mit der Kunsterziehung
in Verbindung, man möge nämlich Kunstelemente in die Spiele mengen, richtiger
man lasse das Kind nach einer kleinen Anweisung frei hantieren, ungezwungen
arbeiten, denn nur so wird ihm die Ahnung fürs Schöne aufgehen, die Liebe für
die Kunst sich befestigen, mithin die ästhetische Erziehung einsetzen. Verfasser
zählt auch das Märchen zu den Spielen, da dessen Wirkung und Suggestion in dem
Kinde solche Gefühle auslösen wie die Spiele. Auch der »Puppe« widmet er ein
ganzes Kapitel, doch glaubt er, daß das Spielen damit bereits mannigfache seelische
Beschäftigungen, also eine gewisse Reife voraussetzt. Daß darin eine Vorbereitung
zur Mütterlichkeit ersichtlich wäre, bält er für einen Irrtum. Er wünscht, die
Schule sollte diesem Spielzeug gleichfalls mehr Aufmerksamkeit schenken, freilich
236 D. Literatur.
nicht einseitig, es nicht etwa zur Leidenschaft der Kinder machen zu wollen. Kurz
berührt Verfasser den nationalen Gesichtspunkt im Spiele, das, obgleich es das
internationalste Mittel der Kindergemeinschaft ist, dennoch einen in der Kinder-
psyche sich offenbarenden nationalen Charakter zeigt, welcher mit den nationalen
Temperamenten und Trieben entstanden ist. Im Schlußworte betont er mit Nach-
druck, daß Kind und Spiel derart miteinander verwachsen sind, daß sie weder
Schule noch Haus voneinander trennen dürfen. Eine normale Erziehung müsse
ihren Weg durch das ewige Reich der Spiele nehmen.
Budapest. K. 6. Szidon.
Sellmann, Dr. Adolf, Der Kinematograph als Volkserzieher? 470. Heft
des pädagogischen Magazins. 2. Aufl. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne
(Beyer & Mann). 64 S. Preis 80 Pf.
Der Verfasser bietet in der 2. Auflage eine wesentliche Erweiterung seines
Vortrages auf der Versammlung des Westdeutschen Sittlichkeitsvereins. In 4 Ab-
schnitten über Verbreitung und Beliebtheit des K., über Schundfilms und ihre ver-
derbliche Wirkung, über gute Films und ihre große Bedeutung und über Reform-
vorschläge behandelt er die wichtigsten Fragen seines Themas nach dem neuesten
Stand der Dinge. Ich stimme dem Verfasser in seinen Ansichten über die Gefahr
der »Kinoseuches und in seinen beachtenswerten Besserungsvorschlagen gern bei,
wenn er auch die Wichtigkeit des Kinematographen für die Schule zu überschätzen
scheint. Die Schrift sei zur Orientierung über die vorliegende Frage warm empfohlen.
Jena. O. Götze.
Siefert, Ernst, Psychiatrische Untersuchungen über Fürsorgezöglinge.
Halle a. S., Carl Marhold, 1912. 262 S. Preis 6 M.
Die Arbeit ist hervorgegangen aus Untersuchungen der männlichen und weib-
lichen, schulpflichtigen und schulentlassenen Fürsorgezöglinge der Provinz Sachsen.
Rein statistisch betrachtet haben die Untersuchungen nur einen sehr relativen Wert.
Manpigfache Lücken und Inkongruenzen lassen Schlüsse über die Gesamtheit der
Fürsorgezöglinge nicht zu, wie auf S. 4 und 223 der Arbeit auch ausdrücklich be-
tont ist. Die Art der Verarbeitung macht aber die ganze Untersuchung zu einer
äußerst wertvollen und anregenden Arbeit, auch für den, der nicht allen Folgerungen
des Autors bedingungslos zustimmen möchte. Und deshalb wäre es sehr zu
wünschen, daß ihr Leserkreis nicht nur auf die Psychiater und vielleicht noch
einige an der Fürsorgeerziehung direkt Interessierte beschränkt bliebe, zumal es
sich nicht um eine psychiatrische Arbeit im eigentlichen Sinne handelt, sondern
um »eine Zusammenfassung von aus fremdem Munde stammenden oder durch Er-
zieher und Lehrer mit erhobenen Tatsachen unter ärztlichem Gesichtswinkel und in
weitgehender Übereinstimmung mit den Anschauungen der Erzieher selbst«. Es
"mag hier gleich betont sein, daß sich die Arbeit von jeder Polemik und auch von
jeder Gehässigkeit gegen Erzieher und Fürsorger fernhält, daß sie im Gegenteil ihrer
mühevollen Arbeit volles Verständnis und gerechte Anerkennung zuteil werden läßt.
Um die Arbeit nicht mit komplizierter Fachgelehrsamkeit zu belasten, wurde
auf feinere ‘ärztliche Diagnosen verzichtet. Der Gesundheitszustand wurde in vier
Gruppen eingeteilt: gesunde, imbezille, debile und abnorme (verschiedene Zustände
oder Erscheinungen psychischer oder nervöser Krankhaftigkeit, hei denen Schwach-
sinn fehlt oder doch nicht stark ausgeprägt ist). Der Begriff der intellektuellen
Normalität ist sehr weitgefaßt,. Ganz fallen gelassen ist erfreulicherweise der Be-
griff der Minderwertigkeit, »denn er ist häßlich und irreführende,
D. Literatur. 237
Die Untersuchung erstreckt sich auf 1057 Zöglinge, von denen 12°/, schul-
pflichtige, 19°/, schulentlassene Mädchen, 49°, schulpflichtige und 20°, schul-
entlassene Knaben waren.
Von den schulpflichtigen Mädchen waren viele unehelicher Geburt. Die
Milieuverhältnisse sind abnorm schlecht bei 62—86°/,. Aber. trotzdem finden sich
Fälle, die »die reine Milieuhypothese ad absurdum führen«e. Auch der Schwachsinn
kann, wie der Verfasser nachweist, nicht als allgemeine Ursache kindilicher
Kriminalität in Betracht kommen, sondern nur als Hilfsursache oder in Einzelfällen
als unmittelbarer Erreger. Umgekehrt kann aber auch eine gute Umgebung nicht
verhindern, daß bedenkliche Erscheinungen zum Vorschein kommen. Von über
wiegender Bedeutung, wenn nicht gar allein von Bedeutung für Art und Form des
kriminellen Bildes, ist die persönliche Konstitution und ihre innersten Entwicklungs-
tendenzen.
Von ganz außerordentlichem Interesse sind die Beobachtungen, daß in den
letzten Jahren der Schulzeit ein unsozialer Anstieg zu finden ist, der ganz all-
mählich wieder abflaut und nach einer Phase relativer Ruhe im 16. Lebensjahr
wiederkehrt. Die betreffenden Aufnahme- und Unsozialitätskurven, die alle mitzu-
teilen nicht Aufgabe eines Referates sein kann, finden sich übrigens auch in der
preußischen amtlichen Statistik der Fürsorgeerziehung, sind also sicher nicht bloß
durch zufällige Konstellationen im Untersuchungsmaterial bedingt. Aus der Be-
trachtung der einzelnen Ergebnisse lassen sich hochwichtige Folgerungen für die
Praxis der Fürsorgeerziehung ableiten: es würde verkehrt sein, die Grenze
für die Aufnahme nach unten zu erweitern und dafür die Grenze
nach oben zurückzustecken; man sollte im Gegenteil bei den Schulentlassenen
das Aufnahmealter lieber noch eine Strecke nach vorwärts verlegen. Selbstredend
will der Verfasser damit nicht etwa Bestrebungen das Wort reden, die darauf
hinausgehen würden, nun eine frühzeitige Anstaltsaufnahme ganz abzulehnen. Im
Gegenteil: eine solche ist vollauf berechtigt, damit die Unsozialität möglichst im
Beginn bereits gefaßt wird. Besonders beachtenswert erscheint mir der (mir bisher
noch nicht in der Literatur begegnete) Gedanke, daß durch ein derartiges Vorgehen
sehr viel sekundär Angezüchtetes (Durchseuchung mit Syphilis!) vermieden werden
könnte.
Bei den Knaben ist die Kriminalität eine sehr weit verbreitete. Sehr auf-
fällig ist ein vom Verfasser aufgedeckter Entwicklungskontrast zwischen
beiden Geschlechtern, der für die Beurteilung dieser Entwicklung überhaupt
vielleicht von allerhöchster Bedeutung werden kann: »Bei den Mädchen bildet sich
erst in den Jahren nach der Konfirmation ein Kriminalitätszentrum, das alle
zurückliegenden Lebensalter übertrifft, bei den Knaben ist dagegen mit Schulende
die Aufrollung krimineller Geschehnisse schon im höchsten Maße eingeleitet, und
das nachträglich noch Hinzukomniende verschwindet fast unter der Masse des schon
früher Entstandenen und nur weiter sich Ausgestaltenden« (S. 141). Und: »Alle
Tatsachen laufen also in der Bestätigung des Satzes zusammen, daß die unsozialen .
Entwicklungsgänge bei Mädchen und Knaben ganz anderen zeitlichen Gesetzen
folgen: bei den Mädchen das kriminelle Hauptzentrum in den Höhejahren der
Pubertät, bei den Knaben noch innerhalb der Schulzeit und schon seinen ersten
Beginn weiter in die Kindheit zurückschiebend; bei den Mädchen der Hauptwende-
punkt ihres Daseins in den ersten Jahren des selbständigen Lebens, bei den Knaben
nur allzu oft der Würfel ihres Schicksals schon in den Jahren der frühen Jugend
oder der ersten Frühzeit der Pubertät gefallen« (S. 144). Aus dieser Geschlechts-
238 D. Literatur.
verschiebung des kriminellen Beginns in die frühere Jugendzeit der Knaben erhellt
andrerseits auch wieder die erzieherische Unüberwindlichkeit zahlreicher Kinderfälle:
es handelt sich ganz einfach um eine notwendige Folge. Die Auslegung der Zahlen
. gewinnt an Bedeutung, wenn man bedenkt, daß diese zum Teil nur ein Spiegelbild
der großen Ziffern der amtlichen Berichte und Statistiken darstellen.
Aus diesen kurzen Darlegungen geht schon zur Genüge die Bedeutung des
Werkes bervor, dessen eingehendes Studium nicht eindringlich genug empfohlen
werden kann.
Jena. Karl Wilker.
Rühle, Otto, Das proletarische Kind. Eine Monographie. München, Albert
Langen, 1912. XIV u. 262 S. Preis geh. 3 M., in Leinen geb. 4,50 M.
Es ist wahr: man hat das proletarische Kind noch nie gesondert studiert.
Nur Sombart, auf den sich Rühle wiederholt berufen kann, hat ihm einige Auf-
merksamkeit geschenkt. Deshalb darf dieser Versuch einer monographischen Ge-
samtdarstellung von Tatbeständen, Verhältnissen und Bedingungen, die sich auf die
Entwicklung des proletarischen Kindes beziehen, von vornherein bei allen sozial
interessierten Menschen auf lebhaftes Interesse rechnen. Und wenn das Buch
seinen Zweck erfüllt, nur einigermaßen erfüllt, nämlich »Kunde zu geben, Augen
zu öffnen und Gewissen zu schärfen«, Herzen zu entflammen und Hände zu Taten
bereit zu machen, dann darf man seinem Verfasser ganz besonders dankbar sein,
dann wird man auch gern manche bittere Ironie, manch scharfes Wort, ja auch
eine gewisse Erbitterung gegen die bürgerliche Gesellschaft mit in Kauf nehmen.
Möglich ist es ja ohnehin, daß ohne diesen herben Einschlag das Buch nicht soviel
oder nur halb soviel wirken würde, wie es das jetzt eigentlich tun muß. Es wendet
sich ja auch nicht so sehr an den Fachgelehrten als an denkende, an sozial emp-
findende Menschen. Der Fachgelehrte wird durch die vorzügliche Zusammenstellung
und Anordnung erfreut werden, aber er wird — schon weil ein Literaturverzeichnis
wie überhaupt genaue Literaturangaben vollständig fehlen -— kaum auf das Buch
zurückgreifen können.
Eingeleitet wird die Arbeit durch eine knappe Skizze der »proletarischen
Klasse« und der proletarischen Familie. In einzelnen Kapiteln werden dann be-
Sprochen: Abstammung, Säuglingssterblichkeit, Unehelichkeit, Erwerbstätigkeit der
Eltern und dadurch bedingte Aufsichtslosigkeit, »das körperliche und geistige Mankor,
Wohltätigkeitseinrichtungen (Kindergärten, Kiuderhorte, Schulspeisungen usw.),
Kinderarbeit, die Volksschulnot, Wege zum Laster, Fürsorgeerziehung (die Augabe
der Zahl der geistig nicht normalen Fürsorgezöglinge mit 11,9%, auf S. 206 ist be-
deutend zu tief gegriffen; die Psychiater geben diese Zahl mit etwa 70°/,, neuere
amtliche Angaben mit 25°, an), Kriminalität, Selbstmorde. Eine große Fülle von
Zahlen ist in dem Buch enthalten, Und doch wird der Kundige zugeben: es lassen
sich noch viel, viel mehr gravierende Daten beibringen. An diesem Versuch einer
Monographie des proletarischen Kindes, den wir aufs freudigste begrüßen, merkt
man erst die Notwendigkeit einer solchen Monographie, die wir Kinderforscher noch
vermissen und wohl auch noch für Jahre hinaus entbehren werden müssen.
Jena. Karl Wilker.
Verantwortliche Schriftleitung für Abhandlungen und Mitteilungen: Dir. J. Trüper,
Sophienhöhe b. Jena; für Zeitschriftenschau und Literatur: Dr. Karl Wilker, Jena,
Weißenburgstraße 27.
Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
Verlag von HERMANN Beyer & Sönxe (BEYER & Mass) in Langensalza.
Das Seelenleben unserer Kinder
im vorschulpfliehtigen Alter.
Kinderpsychologische Betrachtungen für Eltern, Lehrer
und Kinderfreunde.
Von
Prof. Dr. Adolf Sellmann.
Mit 5 Tafeln.
VI und 146 Seiten. Preis 3 M., eleg. geb. 4 M.
Grundlagen für das Verständnis
krankhafter Seelenzustände
(psychopathischer Minderwertigkeiten)
beim Kinde
in SO Vorlesungen.
Für die Zwecke der Heilpädagogik, Jugendgerichte und Fürsorgeerziehung
von
Dr. med. Hermann,
Anstaltsarzt in Merzig a. d. Saar.
Mit 5 Tafeln.
Zweite Auflage.
XII und 180 Seiten. Preis 3 M., eleg. geb. 4 M.
Alkoholismus, Schwachsinn und Ver-
erbung in ihrer Bedeutung für die Schule.
(Nach dem Manuskript eines am 4. August 1911 in der Internationalen
Hygiene- Ausstellung zu Dresden gehaltenen Lichtbilder- Vortrages.)
Von
Dr. Karl Wilker
in Jena.
Mit 3 Tabellen und 2 Figuren im Text, sowie mit 22 Tafeln.
IV und 33 Seiten. Preis 1 M. 20 Pf.
Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
Verlag von Herwans BEYER & Sönse (Bever & Mass) in Langensalza.
Joh. Friedr. Herbarts
Sämtliche Werke.
In chronologischer Reihenfolge
herausgegeben von
t Karl Kehrbach und Otto Flügel.
Vollständig in 20 Bänden.
Preis à 5 M, eleg. gebunden à 6 M 50 Pr.
Band XIV und XV herausgegeben von Otto Flügel
enthaltend reichhaltiges, bisher ungedrucktes Material über die Geschichte des
Herbartischen pädagogischen Universitätsseminars zu Königsberg, sowie
Band XVI—XIX herausgegeben von Theodor Fritzsch
enthaltend Briefe von und an J. F. Herbart,
werden vorläufig auch einzeln abgegeben.
Joh. Friedr. Herbarts
Pädagogische Schriften.
Mit Herbarts Biographie herausgegeben
von
Dr. Fr. Bartholomäi.
Neu bearbeitet und mit erläuternden Anmerkungen versehen
von
Dr. E. von Sallwürk,
Geh. Rat, a. o. Mitglied der Akademie der Wissensch. zu Heidelberg.
I. Band: XII und 456 Seiten. Preis 3 M., eleg. geb. 4 M.
II. Band: VIII und 467 Seiten. Preis 3 M., eleg. geb. 4 M.
Handbuch für Jugendpflege.
Herausgegeben von der
Deutsehen Zentrale für Jugendfürsorge.
Schriftleitung: Dr. jur. Fr. Duensing- Berlin.
‚Herausgeber und Mitarbeiter des »Handbuchs für Jugendpflege« bieten
die sichere Gewähr, daß wir es hier mit einer Erscheinung zu tun haben, die
einer besonderen Anpreisung nicht bedarf.
Das »Handbuch für Jugendpflege« ist auf 12 bis 15 Lieferungen zu g
4 Bogen, Lexikonformat, berechnet. Der Preis der Lieferung beträgt 80 Pf.
Nach Abschluß des Werkes tritt eine Erhöhung des Preises ein.
Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
18080808080808080808080: 0303080803
I ya sg] 2] g| 32] yg sgl 22] xg] IG] $
Ben nn
A. Abhandlungen.
1. Psychische Fehlleistungen.
Von
R. Egenberger, München.
(Fortsetzung.)
Agrammatismus.
Agrammatismus ist Störung der geordneten grammatisch-logischen
Form des sprachlichen Gedankenausdruckes; zwischen den einzelnen
Gliedern der Rede herrscht Zusammenhangslosigkeit; die Beziehungen
und Verhältnisse, der Fall, das Maß, der Grad, die Zeit sind durch
die Bezeichnungen der Flexion und Konjugation sprachlich nicht oder
ganz ungenügend ausgedrückt. Agrammatismus ist Anarchie des Satz-
baues; die Über- und Unterordnung, die Reihenfolge ist nicht ein-
gehalten.
Zur sprachlichen Bezeichnung für die einzelne Vorstellung be-
nötigen wir das einzelne Wort; zur sprachlichen Bezeichnung des
Gedankens ist der Satz erforderlich.
Störungen, welche das einzelne Wort betreffen, geben möglicher-
weise Kunde, daß Vorstellungen fehlen oder ungenügend deutlich sind.
Störungen, welche die Konstruktion des Satzes betreffen, sind in
vielen Fällen ein unzweifelhaftes Zeugnis dafür, daß geistig-logische
Unzulänglichkeit besteht. Nicht immer, aber sehr häufig treffen wir
Agrammatismus bei Schwachsinnigen. Natürlich, denn der Schwach-
sinn zeigt sich namentlich im Gebiete der Gedankenvorgänge.
Wenn ein Schwachbegabter Wörter, welche örtliche, zeitliche
Verhältnisse angeben oder welche Namen für spezielle Dinge sind,
sich nicht aneignet, dann ist das ein Zeichen dafür, daß der Mensch
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 16
242 A. Abhandlungen.
nicht mehr Sprache sich aneignet, als geistiges Bedürfnis und Ver-
ständnis vorhanden ist. Es gibt Schwachsinnige, die sämtliche Farben
mit Namen treffend bezeichnen können, während sie etwa die örtlichen
und zeitlichen Verhältnisse nicht bezeichnen können. Es liegt nahe,
zu Sagen, daß wir Sprache nur so weit beherrschen, als unserer
Psyche sachlich das geläufig und hinlänglich bekannt ist, wofür wir
die sprachlichen Symbole besitzen. Darum ist Schwachsinn eine
Geistesstörung, nicht etwa nur eine Sprachstörung. Man wird gut
tun, zu scheiden in Sachverständnis und Sprachverständnis. Unter
Schwachsinnigen gibt es viele, welchen die Sprache keine Schwierig-
keit verursachen würde, welche redegewandt wären, wenn nicht die
Störung der Begriffs- und Gedankenprägung, also das fehlende Sach-
verständnis eine richtige geordnete Sprache vereiteln würde Wer
die Unterschiede der Zeit geistig nicht erfaßt hat, der bringt in seiner
Sprache das Zeitwort in einer falschen Zeitform. Wer nur die all-
gemeinsten und gröbsten Beziehungen und Verhältnisse der Dinge
erfaßt, der läßt in seiner Sprache die feineren Unterscheidungen, wie
sie durch Deklination, Präpositionen, durch die vielen Formwörter zum
Ausdruck gebracht werden, weg.
Es ist also ganz selbstverständlich, daß kleinere Kinder und
Schwachsinnige stärkeren Grades, Agrammatismus zeigen. Hier ist
Agrammatismus ein Zeichen unvollständiger Gedanken-
prägung.
Es gibt aber auch andere Fälle von Agrammatismus. Es ist
schließlich nicht der Mangel an Gedankenprägung die Ursache von
Agrammatismus, sondern es bestehen Störungen im akustischen oder
sprach- und sprechmotorischen Gebiete. Bei gebrechlichem Gehör-
sinn werden Laute, Wörter, Sätze ungenügend dem Lautcharakter
nach aufgefaßt. Das sind die eigentlichen Stammler, deren Intelligenz
gar nicht allzu minderwertig zu sein braucht.
Diese Gruppe der Agrammatiker und Stammler sind durch Ein-
sprechen und Artikulation, durch Erteilung von Lese- und Schreib-
unterricht vorwärts zu bringen. Man wendet sich namentlich ans
Ohr und an die Sprechwerkzeuge.
Anders liegt die Sache bei jenen Agrammatikern, bei welchen
Ohr und Sprechapparat intakt sind, der Agrammatismus aber eine
Folge der Störung der sprachlichen Gedankenprägung ist. Von dieser
Störung sind in leichtem Maße viele Menschen betroffen, auch am
Erwachsenen beobachten wir gelegentlich, daß sie nicht fähig sind,
den Inhalt der Gedanken bis in die Einzelheiten scharf und restlos
durch treffende sprachliche Ausdrücke und grammatikalisch richtige
Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 243
Wort- und Satzformen zu übersetzen. Hier liegt das Hauptgewicht
nicht im richtigen grammatikalischen Ausdruck, sondern in der sprach-
lichen Gedankenprägung, wofür man den Namen Akataphasie setzen
kann. Das Enzyklopädische Handbuch für Heilpädagogik setzt Akat-
aphasie gleich dem Agrammatismus; in Wirklichkeit aber sollte eine
bedeutende Unterscheidung zwischen beiden vorgenommen werden.
Vielleicht wäre es gut, die Störung der sprachlichen Gedankenprägung
ganz vom Agrammatismus zu trennen; denn der eigentliche Agramma-
tismus bezieht sich auf die Form der Sprache und sprachlichen Gliede-
rung, während es sich oft um die Verschiebung zwischen dem Inhalt
und dem Worte handelt, wobei die grammatische Form ganz richtig
sein kann.
Beispiele:
Lehrer: Warum gehört der Apfel nicht dem W.?
Höp.: Weils der nimmt.
(will sagen: Dem W. gehört der Apfel nicht, aber er nimmt
ihn doch.)
Ber.: Ich darf vier essen, bis ich Hunger hab.
(will sagen: Ich darf vier Nudeln essen, so daß ich keinen
Hunger mehr hab.)
Ber.: Wenn ich droben bin, bleib ich bis lang droben.
(will sagen: Wenn ich droben bin, bleibe ich lange Zeit dort.)
Ber.: Ich habe ein Strumpfbandl; Maxl hat ein Strumpfband; Vater
hat kein Strumpfbandl; Mutter hat ein Strumpfbandl; Anni hat
ein Strumpfbandl. (Ist nicht imstande, sich knapper zu fassen.)
Blo.: W. hat den Apfel nehmen sollen (wollen).
Mein Bruder geht erst um acht Uhr an.
(will sagen: Der Unterricht meines Bruders geht jetzt um
8 Uhr an.)
Kar.: Wenn ein Christbaum da ist, ist keine Schul. (An Weihnachten ...)
Die Schere ist vom Haar runter schneiden. (Das ist eine Schere,
wie man sie zum Haarschneiden braucht.)
Gan.: Das Heft ist in der zwischen. (Das Heft ist zwischen den Büchern.)
Rich.: Der G. ist in das zwischen. (Der G. ist zwischen ...) —
Lehrer: Wo wohnst Du?
Girst: Droben.
Lehrer: In welcher Straße?
Girst: Vierter Stock.
Lehrer: Die Straße?
Girst: erste Straße.
(Das ist vollständiges Vorbeireden.)
16*
244 A. Abhandlungen.
Zeh.: Herr Lehrer, Zettel i vergessen hab.
Lehrer: Bring ihn morgen!
Zeh.: Ich hab ihn ja da. —
Zeh.: Nebel ist lauter Winter.
(Sprache und Denken sind hier nicht im Einklang.)
(Paralogie.)
Bei der Störung der sprachlichen Prägung und Formu-
lierung des Gedankens sehen wir, daß statt des eigentlichen Ge-
dankens mitunter gerade das Gegenteil ausgedrückt wird. Durch die
Unterschlagung der bejahenden oder verneinenden Ausdrücke, durch
die Wahl ähnlicher Bezeichnungen, durch Auslassungen, durch Ein-
fügung von fremden Wörtern entsteht Unsinn, Widerspruch, Zu-
sammenhangslosigkeit, Vorbeireden, Verschiebung, Entgleisung, Irrtum,
Agrammatismus, Verrückung.
een X- 30
Vorstellung, Begriff
m ——
Gedanke
Geistige Gesundheit und Tüchtigkeit haben wir, wenn der
treffendste Ausdruck für eine Vorstellung, einen Begriff und Gedanken
sofort gefunden wird, so daß der Gedanke genau bezeichnet ist. Bei
einem wenig ausgebauten und festgefügten Geiste wird der treffendste
Ausdruck deswegen seltener gefunden, weil hier nebensächlichere
Assoziationen in dem Maße wirksam werden, daß die Hauptassoziation
nicht zustande kommt, weil eine Ablenkung in das Gebiet des Ähn-
lichen und irgendwie Verwandten stattfand. Auf diese Weise kommt
es vor, daß ein Satz anders endet, als er begonnen hat; vom Hundertsten
kommt man ins Tausendste; plötzlich befindet man sich in einem
anderen Fahrwasser, auf einer anderen Bahn. Das alles hat die Be-
deutung, daß die leitende Vorstellung, der leitende Gedanke, unter
den sich das folgende ordnen und sammeln sollte, verloren ging. Der
Überblick auf größere sprachliche Darstellungen fehlt; zwischen An-
fang und Ende besteht keine einheitliche Verbindung, der Faden ist
Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 245
mitten auf dem Wege abgerissen; es fehlt die willkürliche Aufmerk-
samkeit und die logisch richtige Abwicklung. Während der geistig
kräftige Mensch seine Vorstellungen und Gedanken festhalten, wach-
rufen, beeinflussen kann und über viele Vorstellungen und Gedanken
eine Oberleitung und Direktion setzt, begnügt sich der geistig ge-
schwächte Mensch, sich von den nächst bereitliegenden, oft zufälligen,
ähnlichen und verwandten Assoziationen bewegen zu lassen. Das
ist ein größerer Grad von Abhängigkeit, ein wesentlich vereinfachter
Betrieb, der mehr unwillkürlich vor sich geht, keine höheren Ziele
verfolgt. Den Schwachsinnigen wirft jede Ähnlichkeit, jede neben-
sächliche Assoziation aus dem Satte. Daher diese Ablenkbarkeit,
dieser ewige Wechsel, das Schwanken, das Verlieren des Leitgedankens,
die Mischung und Vermengung verschiedener Vorstellungsreihen, die
Verdrängung wichtiger Bestandteile.
Daß Schwachsinn ein Defekt des Vorstellungs- und Gedanken-
lebens ist, beweist der Umstand, daß wir äußerst redselige Schwach-
sinnige haben, bei denen die Sprache sich zeitweilig ganz von der
Gedankenprägung zu entfernen scheint und sich gewissermaßen ver-
selbständigt. Die Sprachorgane sind also hier zu selbständig, aber
nicht im guten Sinne, sondern im Sinne einer Lockerung zwischen
Gedankenprägung und Sprache. Normalerweise sollen wir nur über
so viel Sprache verfügen, als wir Gedanken und Vorstellungen erarbeitet
haben und wieder verarbeiten, erneuern und neu bilden. Daß aber
jemand spricht, ohne über einen gedanklichen Hintergrund zu ver-
fügen, ist ein Defekt.
Eine Ausnahme darf man vielleicht gelten lassen und die betrifft
die sinnlosen Kinderverse. Beim Kinde bekommen in der Zeit der
Sprachaneignung die Sprechvorstellungen eine bestimmte Selbständigkeit.
Kinderreime sind oft nur reines Lautgeklingel, welch letzteres mit Ge-
dankenprägung nichts zu schaffen hat. Als Defekt läßt sich weder
dieses Lautgeklingel, noch das Schnurren und Lallen von sinnlosen
Lautverbindungen, welches kleine Kinder naturnotwendig üben, be-
zeichnen. Zum Defekte artet dieses Verhalten erst dann aus, wenn
das Kind mit zunehmenden Alter für aufgeschnappte Wörter durch
Beobachten oder Fragen sich nicht zum richtigen Sinne verhilft. Es
ist also möglich, daß das Kind sich Sprache aneignet, ohne den ent-
sprechenden Sinn zu erfassen, oder daß sich Sprachformen erhalten,
deren Sinn verloren ging. Die Erziehung hat Sorge zu tragen, daß
die Sprache im wesentlichen nichts anderes ist, als ein Symbol, eine
Übersetzung der Gedanken. Vorstellungen werden in Worte, Gedanken
in Satzgebilde übersetzt.
246 A. Abhandlungen.
Der Schwachsinnige gleicht einem Armen. Der geistige Arme
hat gewissermaßen auch nur Hose und Hemd, wenns höher geht, noch
eine Joppe dazu. Jede reichere Ausschmückung und Zierde fehlt. Es
reicht also manchmal die geistige Kraft nicht aus, einen einfachen
Satz zu bilden; d. h. er folgt nicht dem Gesetze, das in der Grammatik
niedergelegt ist, sondern er folgt dem eigenen Gesetze, und ist auch
hierin sehr wankelmütig.
So hat er seine eigene Wortfolge; die Aussageform bringt er
nach dem Objekte (I Blumen trag); das Formwort steht nicht vor dem
Begiffswort (Ich Semmel schenk dir); daran, daß auch das Objekt,
das Prädikativ, eine adverbiale Bestimmung an die Spitze eines Satzes
treten kann, weiß der Schwachbegabte nichts; die Rangordnung der
Objekte hält er nicht ein; die Zeitbestimmung setzt er hinter die Orts-
bestimmung (Ich in d’Stadt heut geh).
(tanz schlimm steht es mit der Kongruenz (in Person und Zahl)
zwischen Verbum und Subjekt.
Bald ist das Subjekt, bald das Verbum überhaupt nicht gesprochen
worden; bald sind die Flexionszeichen außer acht geblieben.
Was der Schwachsinnige an Sprache hat, ist sehr häufig nur ein
gebrochenes Deutsch, dem die feineren sprachlichen Unterscheidungen
fehlen; Worte sind lediglich aneinander gereiht, aber nicht formgerecht
verbunden und aufeinander bezogen.
Äußerste Vereinfachung des sprachlichen Ausdruckes.
Als äußerste Vereinfachung des sprachlichen Ausdruckes müssen
wir das Satzwort ansehen. Darunter versteht man ein gesprochenes
Wort, welches aber für einen Satz gelten soll. Z. B. erzählt der
Schüler Höre: »Maus. Vater Häusl gemacht. Niedergeschlag’n. Tot.«
Das soll heißen: In unserer Wohnung war eine Maus. Mein
Vater hat ein Häuslein (Mausfalle) gemacht. Die Falle ist nachts
zugefallen. Die Maus war tot.
Nicht mehr als Subjekt und Prädikat:
Fuß Schuh (= Am Fuß sind Schuhe). Vogel dablieben (Der
V. ist dageblieben). M. Fenster (M. steht am Fenster). Sens’ schleifer
(Die Männer wetzen die Sense). Gras säen (Auf der Spielwiese
säen die Männer Gras).
Die Hauptredeteile sind verknüpft:
Haube ist Boden. — Ist Schüssel ist Bank (Die Schüssel ist auf
der Bank). Die Flasche ist Glas (aus).
Irgend ein Verhältnis ist ausgedrückt:
Messer in Tasche. — Seife unter Waschtisch. — Der Holler hat
ein Wasser (Der Flieder ist im Wasser). — Ist in Luft geflogen.
Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 247
o
Mehrere Satzteile vorhanden, aber Vollständigkeit ist noch
nicht da:
Hat schwarzen gehabt (Bart). Die Mutter muß putzen, daß sehen
kann (..., daß man die Stube sehen lassen kann). Ich zuerst da
(Ich war zuerst da) Sie tun Tasche heraus (die. Damit nicht
frieren kann (er) Mei Muater Christbam kafn (tut einen). Die
Schüssel ist Bank (unter der). Frau Hausmeister, Hausherr nicht
Gaude haben (Die Frau H. und der H. erlauben nicht, daß wir
eine Gaude [Lärm] haben). Fräulein und Lehrer grüß Gott sagen
(Wir müssen zum Fräulein und Lehrer ....). Das ist die Haube
auf Kopf. verachte (verachtete), antworte (antwortete). Der Holz-
handler Holz.
Der Satz ist richtig gebaut, aber der Artikel, die Flexion
usw. sind fehlerhaft:
Rich.: Sie haben die Hände auf die Rücke. — Der Schwamm
ist in dem Boden. — Der Hut ist in dem Kopf. Der Hut ist auf
den Hand. Sie sind an einer Brücke gegangen (über eine). Die
Haube hat der Arm (== Die Haube hab ich in der Hand). In
Schüssel ist auf die Bank (Die... der). Die Seife ist auf der Tisch.
Wenn die Sonne scheint, ist die Blumen lieber. Die sind in einen
Wasser hineingefallen. Mei Muater is krank; heit is sie aufg’steht.
Die Kugel und der Ball fällt auf die Boden. Der Jäger schreite.
Einer fliegen fort. In die Flasche drin ist ein Wasser. Da ist ein
Blumer. Den ist Vater und Mutter gestorben. Ich hole der Holler
frisch Wasser. Der Mann hat es gedurst. Zwei Briefmarke kost
6 Pf. Auf den Tisch steht zwei Glas. Das sind grüne Blate
(Blätter). Die hat ein Wasser ausgeschütten.
Wortfolge: ;
Sie haben die Tasche die Hände. Man hat das Fenster da hin-
über müssen machen. — I Nudl heut krieg. Wir wissen, wie lang
ist das Zimmer. Stuhl Boden hinstellen. Ziegenbock über den Bach
wollte hinüber. Mei Muater Christbaum kaft.
Entgleisungen, Verschiebungen, Vermengungen:
Der Mann säht das Gras ab (mäht). Da waren jungen Vöglein
gehabt (drin). Der Rettich ist habe zwei’ große Rettich.
Wiederholungen:
In der Flasche drin sind die Steine drin. (Forts. folgt.)
248 A. Abhandlungen.
2. Die experimentelle Ermüdungsforschung.
Von
Marx Lobsien, Kiel.
(Fortsetzung.)
B. Die physiologischen Maßmethoden
teilten wir in zwei Gruppen ein; die zweite, die es mit der Be-
stimmung der Körpergröße als Maß für Ermüdungswirkungen zu
tun hat, möge zuerst kurz dargestellt werden.
Körpermessung.
Der Mannheimer Stadtschularzt Stephani hat sie meines Wissens
zuerst und bis heute allein angewendet. Nach ihm ist die Abnahme
der Körpergröße im Laufe des Tages um so bedeutender, je stärker die
Ermüdung der Muskulatur ist; ja in einzelnen Fällen differiert die
Körpergröße am Nachmittag gegenüber der Länge am Vormittag 5 cm,
also um ein ganzes Jahreswachstum. Um die subtileren Beziehungen
zwischen Muskelermüdung und Körpergröße aufzustellen, bedarf es
selbstverständlich sehr sorgfältiger Meßapparate; keineswegs genügen
so rohe Verfahrungsweisen, wie sie für Messungen der Körpergröße
von starken Schülermassen vielerorts Verwendung gefunden haben.
Stephani hat einen sinnreichen Meßapparat konstruiert. Der Apparat
stellt einen Stuhl dar, auf welchem die für die natürliche Sitzstellung
in Betracht kommenden Teilmaße des lebenden menschlichen Körpers
ermittelt werden sollen. Stephani erstrebte insonderheit, die Ver-
schiedenheiten der Körperhaltung und der Muskelspannung soweit
überhaupt möglich auszuschalten. Deshalb mußte die Ermittelung der
Gesamtkörperlänge zurücktreten gegenüber der Bestrebung, gute Teil-
maße zu erhalten. Offenbar ist die Teilung des Körpers in der Sitzstellung
die natürlichste und ungezwungenste. Als Grenzpunkte für die einzelnen
Teilmaße suchte Stephani feste, leicht und sicher findbare Knochen-
punkte auf, deren Abstände selbst bei Zwischenlagerung von Gelenken
in möglichst starre Verbindung gestellt werden können. (Eine bild-
liche Darstellung und genaue Beschreibung seines Meßapparats gibt
Stephani im 5. Jahrg. der Zeitschrift »Das Schulzimmer«.) —
Die physiologischen Methoden, die als engere bezeichnet werden
dürfen, sind die Messungen mittels des Sphygmometers, des
Pneumometers, des elektrischen Stroms, der Vibration und
des sogenannten Quinquaudschen Zeichens.
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 249:
a) Der Sphygmograph oder Pulsschreiber
ist ein Apparat, der zur Aufzeichnung des Pulses dient. Die Puls-
messung oder Pulsschreibung bezieht sich entweder auf den Druck-
oder den Volumpuls. Der letztere wird mittels des Plethysmographen
gemessen, der die Menge des zu- oder abströmenden Blutes nach einem
Körperteil, etwa dem Unterarm zu messen gestattet. — Der Sphygmo-
graph dient dem Messen des Pulsdrucks. Er besteht zur Hauptsache
aus zwei Mareyschen Trommeln, die durch einen Gummischlauch ver-
bunden sind. Die Trommel ist eine flache, hohle Metallkapsel, die
auf der einen Seite mit einer dünnen Gummimembran überzogen ist.
Auf der Membran ist eine sehr dünne Metallblechscheibe mit Siegel-
lack befestigt, die in der Mitte ein leichtes hölzernes Knöpfchen trägt,
die sogenannte Pelotte. Die andere Trommel trägt den Schreibapparat.
Auf der Membran ist eine leichte Metallnadel befestigt, die durch
einen weiteren Hebel, etwa einen Strohhalm, verlängert werden kann.
Man denke sich nun die Pelotte leicht auf den Puls aufgelegt, so daß
sie von seinen Schlägen bewegt wird. Mit der Pelotte gerät die
Membran in Schwingungen, diese überträgt ihre Bewegungen auf die
in den Gummischlauch eingeschlossene Luft und durch deren Ver-
mittelung auf die Membran und den Schreibhebel der zweiten Trommel.
Der Hebel schreibt seine Bewegungen auf ein Kymographion, das mit-
berußtem Papier überzogen ist. Durch den verlängerten Hebel werden
die Druckbewegungen des Pulses bis etwa auf Zentimeterhöhe ver-
größert. Mit einer Millimetertafel läßt sich eine genaue Messung vor-
nehmen.
Arbeit und Erholung wirken sehr deutlich und charakteristisch
auf die Blutbewegungen in den Arterien ein, man gewinnt durch die-
Messung genaue Angaben über den Verlauf und die Größe der Er-
müdung.
b) Pneumograph.
Die Messung des Atmens mittels des Atemschreibers. oder Pneumo-
graphen gestaltet sich wesentlich einfacher als die Anwendung der
vorhin beschriebenen Apparate. Der Atemschreiber besteht aus
einem flachen Gummiball, der in einen Schlauch ausmündet; dieser
führt zu einem Schreiber, ähnlich dem beim Sphygmographen. Der
Gummiball wird mittels eines Gurts auf dem Brustkasten oder auf
dem Leibe befestigt. Beim Einatmen drücken die betreffenden
Körperteile auf den Gummiball. Der Druck wird durch den Schlauch
auf den Schreiber fortgeleitet und auf der Kymographiontrommel auf-
gezeichnet. Für die Regulierung sorgt ein sehr wichtiges Ventil, das-
250 A. Abhandlungen.
am Gummischlauch befestigt ist und den Namen Nullventil führt.
Beim Aufsetzen des Balles wird ein starker Druck auf denselben aus-
geübt, so daß der Schreiber fortdauernd nach oben zeig. Um das
zu verhindern, muß das Nullventil während des Aufsetzens geöffnet
und hernach geschlossen werden. Auch während der Messung kann
infolge gewisser Bewegungen eine neue Regulierung mittels des Null-
ventils notwendig werden.
Die Atmung wird von der Ermüdung deutlich beeinflußt, nur
ist Vorsicht in der Deutung der Versuche geboten, weil die Atmung
zu einem gewissen Grade dem Willen und suggestiven Beeinflussungen
unterworfen ist.
Die folgenden drei Arten physiologischer Methoden (zwei sind
zumeist nur an einem Prüfling angestellt worden) müssen der Nach-
erprobung auf breiter Grundlage unterworfen werden.
c) Elektrischer Strom.
Die Benutzung des elektrischen Stroms zur Ermüdungs-
messung empfiehlt Pimmer in der Vierteljahrsschrift für körperliche
Erziehung. Er will mit Hilfe des elektrischen Stroms eine » Auslese
der Nervenschwachen, Feigen und Belasteten« erzielen. Eine zufällige
Beobachtung führte ihn auf die Methode. Bei Versuchen mit der
Influenzmaschine machte er die Wahrnehmung, daß einzelne Schüler
es ablehnten, sich in die Kette einzureihen, auf welche der Funke
des Konduktors überspringen sollte (die Spannung entsprach für den
Anfang einer Schlagweite von !/, cm), eine Scheu, die für gesunde
Naturen mit normalen Nerven eine fremde Erscheinung ist. Pimmer
notierte die Ängstlichen und fand, daß es fast ausschließlich solche
waren, denen er körperlich auch sonst nicht viel zumutete. »Ihre
äußeren Eigenschaften waren: Zarter Körper, Blässe, schlechte Zähne,
geringer Glanz der Augen, seidenweiches Haar; geistige Eigenschaften:
Großer Lerneifer, geistige Frühreife, übertriebenes Streben nach Er-
folg, zum Teil auch fahriges Wesen mit rasch wechselnden und schnell
über Bord geworfenen Grundsätzen.«e Trotzdem Pimmer auf !/, cm
Funkenlänge zurückging, waren die Schwachen zum Zugreifen nicht
zu bewegen. Bei einer Steigerung bis auf 4 cm wagten nur Schüler
mit ausgesprochen gesundem Habitus sich heran. Geistig stellte sich
diese Auslese dar als normale Arbeiter von mittlerer Begabung. —
Pimmer verglich seine Liste, die sich auf etwa 100 Einzelbeobach-
tungen erstreckte, mit den Leistungen der Schüler in den Turnstunden
und fand durchgehende Bestätigung: Die Prüflinge, die sich vor
solchen Übungen scheuten, die ein größeres Maß von Kraft und Ent-
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 251
schlossenheit forderten, waren dieselben, die vor den schwachen Funken
sich scheuten. Die Übereinstimmung scheint Pimmer physiologisch
wohl begründet: Mut ist eine direkt Resultierende der Körper-
konstitution bezw. der Blutbeschaffenheit und des Nervensystems. Der
Durchtritt der Elektrizität durch einen Körper ist von dessen Wider-
stand abhängig, der bei verschiedenen Individuen stark variiert und
verkehrt proportional zur Masse ist. »Es scheint zum mindesten durch
diese Versuche der Nachweis erbracht, daß durch den elektrischen
Strom eine Auslese aller Nervenschwachen, Feigen und Belasteten
vorgenommen werden kann.« Ob die Methode bei weiterem Ausbau
und weiterer Erprobung Verwendung finden kann, solche Ermüdungs-
ursachen nachzuweisen, oder auf sie hinzulenken, die in erster Linie
in schwacher Willensanspannungsfähigkeit wurzeln, muß vor der Hand
unerörtert bleiben.
d) Vibrationsempfindung.
Im Neurologischen Zentralblatt veröffentlicht Neutra Unter-
suchungen über Ermüdungsphänomene auf dem Gebiete der Vibrations-
empfindung. Es möge zunächst kurz das Wesen der Vibrations-
empfindung oder des Vibrationsgefühls nach Goldscheider erörtert
werden. Die Empfindung hat keinen spezifischen Charakter, ist nicht
auf bestimmte Nerven, weder auf die der Haut, noch der tieferen
Gewebe, noch der Knochen beschränkt, sondern sowohl den Druck-
nerven der Haut als auch den tieferen sensibeln Nerven eigen. Am
stärksten findet sie sich am Knochen als Folge seiner physikalischen
Beschaffenheit.
Neutra fand an den durch die Stimmgabel hervorgerufenen
Vibrationsempfindungen Ermüdungserscheinungen. Die Grundlage
seiner Beobachtungen bildete folgender Versuch. Er setzte eine
Stimmgabel, die etwa 120-—180 Schwingungen in der Sekunde machte,
auf das eine, etwa das linke Schienbein. Der Prüfling empfand ein
Vibrieren, ähnlich dem Elektrisiertwerden mit leichtem faradischem
Strom. Mit der Verkleinerung der Schwingungsamplitude ward die
Empfindung immer schwächer bis ganz präzis angegeben werden konnte,
jetzt sei sie zu Ende. Wird nun aber dieselbe Stimmgabel ohne neu
angeschlagen zu werden, schnell auf die korrespondierte Stelle des
andern Schienbeins gesetzt, dann ist die Vibrationsempfindung wieder
recht deutlich und wird 6—8 Sekunden lang wahrgenommen. Neutra
bezeichnet die Anzahl der Sekunden, durch die an dem zweiten
Bein die Vibration noch empfunden wird, als Ermüdungsziffer des
ersten Punktes. Unter normalen Verhältnissen macht es keinen Unter-
252 A. Abhandlungen.
schied, wenn man nun in umgekehrter Reihenfolge den Versuch
wiederholt. Der Versuch gelingt bei jedem Individuum mit normaler
Sensibilität.
Auch die Neutrasche Methode bedarf Nachprüfungen. Ich
möchte empfehlen, den Begriff Apperzeptionsfähigkeit, den sich Neutra
anscheinend in erster Linie auf physiologischen Vorgängen ruhend
denkt, durch Aufmerksamkeit zu ersetzen. Damit würde die Neutrasche
Methode unter die Schwellenmethoden eingeordnet werden müssen,
nicht unter die physiologischen, entsprechend der Terminologie.
e) Quinquaudsches Zeichen.
Des Quinquaudschen Zeichens möge nur kurz Erwähnung ge-
schehen. Das Quinquaudsche Phänomen trägt seinen Namen nach
dem bekannten Pariser Arzt, der aber seine Erfindung nirgends be-
schrieben, sondern das Geheimnis seiner Untersuchungsmethode, nach
Maridort, mit ins Grab genommen hat. Trotzdem veröffentlichte
Maridort die Methode Quinquauds, die er so beschreibt: Der zu
Untersuchende muß seine Finger auseinanderspreizen, sie strecken
und dann senkrecht auf die Handfläche des Untersuchenden auf-
drücken. Während der ersten zwei bis drei Sekunden nimmt dieser
nichts besonderes wahr, bald empfindet er aber kleine Stöße, als ob
die Knochen eines jeden Fingers sich rasch voneinander abstoßen und
auf die Handfläche des Untersuchenden anprallen würden. Andere
Forscher haben sich des Studiums dann angenommen, und es hat sich
gezeigt, daß das Quinquaudsche Zeichen keineswegs eindeutig zum
Nachweis des Alkoholismus hat verwendet werden können, auch
dann nicht, als Minor eine gründliche Konstruktion eines Unter-
suchungsapparats gelang, der nicht nur die taktile, sondern die Schall-
wahrnehmung der Cerapitationen erlaubte, indem die Finger auf einen
Räsometer aufgesetzt und dieser mit einem Phonendoskop in Ver-
bindung gebracht wurde. Von den sorgsamen Minorschen Unter-
suchungen interessieren uns hier nur einige Resultate, die für ihn
mehr den Charakter gelegentlicher Beobachtung haben. Er berichtet
darüber folgendermaßen: Mittels eines von More und Hoffmann
vorgeschlagenen Handgriffs kann man den Quinquaud künstlich hervor-
rufen bei Subjekten, die ihn nicht haben. Zu diesem Zweck läßt
man den zu Untersuchenden den Arm unter einem rechten Winkel
zum Körper ausstrecken und im Laufe einer Minute alle Muskeln im
Zustande der äußersten Gespanntheit halten. Nach einer Minute muß
man die Finger sofort auf die Hand des Untersuchenden stellen, wie
man es bei der Untersuchung des Quinquaud tut, und es wird sich
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 253
stets, wenn auch auf kurze Zeit, ein deutlich ausgeprägter Quinquaud
erweisen. In diesem Falle ist es klar, daß Quinquaud ohne
Zweifel ein Zeichen der Ermüdung, »nervöser Überreizung«
ist. — Wie weit das Symptom genauerer Messung und feinerer An-
passung an die Ermüdungserscheinungen fähig ist, müssen weitere
Untersuchungen aufweisen.
Nach Meinung Altschuls kann man die Methode als pathologische
bezeichnen. —
Auf Grund genauer Messung der taktilen Empfindungen haben
sich zur Hauptsache zwei Methoden entwickelt, die allerdings, sofern
man auf die psychologischen Begleiterscheinungen achtet, recht ver-
schieden sind: die eine geht auf Willensäußerungen, die andere auf
Aufmerksamkeitserscheinungen zurück.
f) Kinematometer.
Die Kinematometermethode bedient sich des von Störring kon-
struierten Kinematometers. Mittels desselben untersucht man die
Lageempfindungen, die hauptsächlich in den Gelenken ihren Sitz zu
haben scheinen. Für das Zustandekommen der Lagevorstellungen sind
die äußeren Tastempfindungen nicht wesentlich; sie können fehlen,
nnbeschadet oder doch ohne daß wesentliche Störungen sich bemerkbar
machen, nicht aber dürfen die Gelenkempfindungen ausgeschaltet sein.
Der Apparat gestattet das Einspannen eines Körperteils, etwa des
Unterarms, so, daß er nur in einem Gelenk beweglich ist. Die Größe
der Bewegung wird in Winkelgraden gemessen. Es kann entweder
die passive oder die aktive Bewegung gemessen werden. In beiden
Fällen bewegt zunächst der Experimentator das Glied um einen be-
stimmten Winkel von der Anfangslage entfernt. Bei der passiven Be-
wegungsprüfung bewegt er das Glied erneut um eine Anzahl Grade
fort und läßt nun den Prüfling angeben, ob die vorige Lage wieder
erreicht worden sei oder nicht. Bei der aktiven Prüfung wird die
Versuchsperson veranlaßt, selbsttätig die vorhin passiv ausgeführte Be-
wegung auszuführen. Meumann und Gineff ließen die Versuchs-
person mit verbundenen Augen den Unterarm einige Stunden lang
zwischen den beiden Anschlagsäulen hin- und herbewegen. Diese
Normalbewegung wurde fest eingeübt. Nun ward die eine Säule ent-
fernt und der Prüfling angewiesen, die Bewegung so weit auszuführen,
daß sie ihr der normalen gleich erscheine. Je feiner die Unterschieds-
empfindlichkeit ist, desto genauer wird der Vergleich ausfallen. Die
Genauigkeit der Empfindung ist aber in der Ermüdungswirkung variabel
und zwar in dem Sinne, daß die Vergleichsbewegung gegenüber der
254 A. Abhandlungen.
normalen im Zustande der Ermüdung größere Abweichungen, größere
Fehler aufweist. Es besteht die Tendenz, die Unterschiede größer zu
schätzen als in frischem Zustande geschieht. Das ist unschwer er-
klärlich. Im Zustande starker Anstrengung fällt schwerer, die Be-
wegungen auszuführen; sie erfordern ein höheres Maß von Willens-
anspannung. Dieses Gefühl der größeren Anstrengung täuscht uns
die gleiche Strecke als größer vor, die kleineren als von gleicher
Ausdehnung.
Die Kinematographenmethode hat Gineff nur an sich selber er-
probt und dabei die Überzeugung gewonnen, daß sie wertvollere
Dienste zu leisten imstande sei als der Ergograph. Auf die Resultate
dieser Untersuchungen werde ich später nicht weiter eingehen.
g) Taktiermethode.
Die Taktiermethode wurde von Stern in seinem Werke »Zur Psycho-
logie der individuellen Differenzen« begründet, von Lay hernach im
Dienste der Ermüdungsforschung weiter verwertet. Ich versuchte,
Unterschiede bei optimaler und maximaler Taktiergeschwindigkeit
genauer zu würdigen. — Beim Taktklopfen klopfen die Prüflinge mit
der Hand auf einer festen Unterlage einen bestimmten Takt, am emp-
fehlenswertesten ist ein daktylischer Dreitakt. (Ich habe nachgewiesen,
daß die Taktart nicht ohne Einfluß ist auf die Tempogeschwindigkeit.)
Die Prüflinge wählen sich dasjenige Tempo aus, das ihnen am be-
quemsten und angemessensten erscheint. Nach einigen Vorversuchen
kommen sie sehr bald dahin, das entsprechende Tempo zu finden.
Nach Stern-Lay ist das Taktklopfen zur Bestimmung des psychischen
Tempos und zugleich der psychischen Energie aus folgenden Gründen
besonders geeignet: Die psychische Energie äußert sich nicht bloß in
forzierten Leistungen, sondern getreuer noch im Optimum, das selbst
gewählt ist und sich instinktiv aus dem jeweiligen seelischen Kräfte-
vorrat von selbst ergibt. Dazu kann es leicht gefunden und ohne
besondere Störungen schnell und sicher angewendet werden. Die
Ergebnisse sind eindeutig und untereinander bequem zu vergleichen.
Lay führte die Untersuchung so aus: Jeder Prüfling legte seine
Taschenuhr mit Sekundenzeiger und das Notizbuch vor sich hin,
blickte auf den Sekundenzeiger und begann im Moment einer neuen
Minute den Dreitakt auf den Tisch zu klopfen. Dabei wurde der
Unterarm aufgelegt und mit dem unteren Teile der Fingerkuppen eine
Minute lang leicht gegen die Unterlage geschlagen. Nach jedem Drei-
takt wurde mit der schreibbereiten andern Hand in dem Notizbuch ein
Strich gezogen und am Schlusse der Minute zählte man die überschießen-
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 955
den ein oder zwei Schläge des voraufliegenden Taktes. Die Anzahl
der Striche mit drei multipliziert und die Anzahl Schläge des letzten
unvollendeten Taktes hinzuaddiert ergab die Anzahl der Schläge in
der Minute; .dividiert man die Gesamtanzahl der Schläge einer Minute
durch sechzig, dann hat man ein Maß für das psychische Tempo in
Sekunden. — Ich gestaltete die Methode dadürch etwas einfacher, zumal
für jüngere Versuchspersonen, daß ich mit der rechten Hand leicht
auf den Rücken der linken !/, Minute lang taktieren ließ, um so auch
etwaige störende Geräusche zu vermeiden. Die Zeitregulierung ließ
ich nicht durch die Versuchspersonen vornehmen, sondern ich selbst
bestimmte Anfang und Schluß des Versuchs durch ein elektrisches
Klingelzeichen. Lay hat in späteren Kontrollversuchen (1909) die
Taktbewegungen durch Bleistiftbewegungen der Striche zwischen den
Linien des Papierbogens ersetzt. — Der jeweilige Kräfte- oder Energie-
vorrat prägt sich in der Dauer des optimalen Tempos aus, je größer
der Vorrat, desto energischer, desto schneller das Tempo. Wird der
Kräftevorrat durch Ermüdung vermindert, wird sich ein entsprechender
Index am Optimum aufspüren lassen. Lay benutzte die Methode in
erster Linie dazu, den psychischen Energieschwankungen in kürzeren
und längeren Zeiträumen nachzugehen. Selbstverständlich kann die
Methode auch verwendet werden, um den Ermüdungswirkungen durch
die täglich geforderten Arbeitsleistungen nachzugehen. Eingehendere
Untersuchungen in dieser speziellen Ausführung liegen noch nicht
vor. Sicherlich darf man sich durch die leichte Ausführbarkeit nicht
zu einer vorschnellen Anwendung und Schlußfolgerung verleiten lassen,
insbesondere muß sorglich auf stark bestimmende Nebeneinflüsse ge-
achtet werden. (Ich erinnere an unmittelbare Nachwirkungen kurzer
und längerer Arbeit, wie z. B. die Erregung.)
h) Die Blixsche Methode
zur Untersuchung des Muskelsinnes wandte besonders Öhrvall an.
Die Versuchsperson sitzt entweder bequem in einem Stuhl oder
steht in fester Stütze für den Rücken. In Armlänge vor ihr und
in gleicher Höhe mit der Schulter wird ein Papier auf einer
vertikalen Fläche oder einem Schirm aufgespannt. Nun muß der zu
Untersuchende, ohne im übrigen sich zu bewegen, den Arm erheben
und die Spitze des Bleistifts nach einem auf dem Papier im voraus
gemachten Zeichen führen und dann den Arm wieder in die Aus-
gangsstellung zurückbringen. Er hat dann, während die Augen ge-
schlossen gehalten werden, dieselbe Bewegung zu wiederholen und zu
versuchen, denselben Punkt auf dem Papier zu treffen. Derselbe Ver-
256 A. Abhandlungen.
such wird wieder und wieder angestellt, so daß der Prüfling seine
Bewegungen das eine Mal unter der Kontrolle des Gesichtssinnes und
‚das andere Mal ohne diese Hilfe, nur auf die Leistungen des Muskel-
'sinnes angewiesen, ausführt. Bei dem letzteren Akt wird er dann
mehr oder weniger weit von dem Zielpunkt deuten. Er macht jedes-
mal ein Bleistiftzeichen auf dem Papier. Hat er das Experiment ge-
nügend oft wiederholt, dann mißt man mit einem Maßstab den Ab-
stand der verschiedenen Zeichen von dem Zielpunkt. Die Summe der
‚gemessenen Abstände wird durch die Anzahl der Versuche dividiert,
der Quotient ist der mittlere Fehler. (Blix, zit. nach Öhrvall.)
i) Biologische Methode.
Die biologische Methode führt uns auf Weichardt zurück,
den wir eben bei der Fußhantelmethode kennen gelernt haben. Man
könnte sein Verfahren auch als kombiniertes bezeichnen, weil er es
mit dem Ergographen, der Burgersteinschen Rechenmethode und den
Ästhesiometermessungen kombiniert angewendet wissen will. Die
Methode fußt auf der modernen Immunitätstheorie, nach der jedes
Antigens seinen Antikörper erzeugt, hier das Ermüdungstoxin im Blute
sein Antitoxin hervorruft, eine Wahrheit, die auf Grund vieler Ex-
perimente erwiesen ist. Mittels des Antitoxin, das Weichardt zunächst
aus dem Muskelpreßsaft erschöpfter Tiere gewann, gelang ihm, die
Ermüdungsgifte abzusättigen und Arbeitsfrische zu erzeugen. Später
‚gelang es Weichardt, das Ermüdungstoxin oder Kenotoxin durch
‚chemische Erschütterung von Eiweiß bei einer Temperatur von weniger
‚als 40°C. mit späterer Behandlung zu erzeugen, das Antitoxin aus
reinem Eiweiß bei Siedehitze. Mittels dieser Präparate war Weichardt
imstande, alle Stadien der Ermüdung von den leichtesten bis zu den
schwersten Graden hervorzurufen, ja den Ermüdungstod künstlich
herbeizuführen. Er konnte durch seine in den Magen aufgenommenen
Antitoxinpastillen erneute Frische hervorrufen und die durch Ermüdung
gebildete Menge Reintoxin durch Absättigung mit einem Testantitoxin
bestimmen. Darauf baut er seine Methode zur Bestimmung der
Grenze der Leistungsfähigkeit auf, wie der praktische Versuch von
Lorentz zeigt. Es gelang ihm, nachzuweisen, daß eine Beeinflussung
der Leistungsfähigkeit durch antikörperhaltige Präparate möglich ist.
»Ist dieser Nachweis, so schreibt er, auch nur in qualitativer Weise
versucht worden, so erscheint es doch nicht ausgeschlossen, daß auf
Grund der vorhandenen Untersuchungen sich eine biologisch- exakte
Maßmethode zur Ermittelung der Schülerermüdung herausbilden lassen
werde. Die Möglichkeit der quantitativen Bestimmung der Ermüdungs-
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 357
stoffe ist vielleicht dadurch gegeben, daß auch in dem Wasser, durch
welches Ausatemluft eines Ermüdeten längere Zeit geblasen worden
war, sich in vitro Eiweißabspaltungsantigen von Kenotoxincharakter
durch hochgradig verdünnte Antikenotoxinlösungen bestimmen läßt.«
— Die Untersuchungen von Lorentz wollen in erster Linie dartun,
daß die Weichardtschen Forschungsergebnisse als Grundlage dienen
können, um für die Praxis der Schulhygiene exaktere biologische Maß-
methoden für die Schülerermüdung herauszustellen. Weichardt hat
mit absoluter Sicherheit nachgewiesen, daß Leistungsbeeinflussungen
mittels Antikenotoxin möglich sind — Lorentz versucht die Be-
stätigung in der unterrichtlichen Praxis. Fernere Aufgabe wird es
sein, die Methode nach Seite der Exaktheit und: leichten Verwendbar-
keit auszugestalten. Ich will versuchen, die Lorentzschen Experi-
mente kurz nach Wesen und Erfolg zu kennzeichnen.
Sie gliedern sich in zwei Gruppen. Die. erste umfaßt Fußhantel-
versuche, die Lorentz an sich selber anstellte, die zweite Rechen-
prüfungen nach der Burgersteinschen Methode, die mit einer
Reihe von Schülern einer gewerblichen Fortbildungsschule angestellt
wurden, waren also eigentliche Schulversuche. — Die Fußhantel-
versuche wurden um 6, 1, 3 und 8!/, Uhr angestellt. Den Haupt-
untersuchungen ging eine Übungsperiode von vier Wochen voraus.
Die Vorstudien ergaben das sehr wichtige Nebenresultat, daß die Ver-
abreichung von Antikenotoxin der Gesundheit und dem Wohlbefinden
in keiner Weise hinderlich war, vielmehr zeigte sich nach dem Ein-
atmen eine Hebung des körperlichen Allgemeinbefindens gleich der-
jenigen nach einer längeren körperlichen Ruhepause; »gleich reiner Wald-
luft steigert es die natürliche Frische und Lebendigkeit des Körpers«,
so daß eine allgemeine Anwendung ohne Gefahr geschehen kann. Die
Hauptuntersuchungen gliederten sich in zwei Gruppen, die erste fand
ohne, die zweite mit Anwendung von Antikenotoxin statt. Als ein-
fachste Form der Darreichung wurde die Zerstäubung des Präparats
benutzt unter Anwendung folgender Technik: Zur Aufnahme der
Sprayflüssigkeit dient ein nicht zu weites zylinderförmiges Glasgefäß
mit 10 ccm Einteilung. Durch dessen festschließenden Gummipfropfen
führt ein Zerstäubungsapparat mit einem Handblasebalg aus Patent-
gummi. Das Sprayglas wird mit 10 cem physiologischer Kochsalz-
lösung (0,8: 100) angefüllt. In diese werden mittels einer Tropfpipette,
10—20 Tropfen des antikenotoxinhaltigen Präparats gegeben. Um die
versprayten, mit dem Antikörper beladenen feinen Wassertröpfchen
möglichst lange in der Luft schwebend zu erhalten, ist es notwendig,
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 17
258 A. Abhandlungen.
nach dem Zerstäuben in dem Raume während der nächsten Zeit die
Fenster und Türen geschlossen zu halten; die Zugluft würde sonst die
Tröpfchen sehr bald entführen. — Als Ergebnis konnte unzweifelhaft
festgestellt werden, daß die Wirkung der Ermüdungsstoffe verringert
wird, daß eine gesteigerte Leistungshöhe noch in den nächsten 20 bis
24 Stunden nachweislich war; kurz eine volle Bestätigung dessen,
was Weichardt bezüglich der Ermüdungstoxine festgestellt hatte.
Die Schulversuche wurden angestellt mit älteren Schülern, die
sich freiwillig zur Verfügung stellten. Zur Bestimmung der Leistungs-
fähigkeit diente die Burgersteinsche Rechenmethode, die einige
Modifikationen erhielt, besonders folgende: Alle vier Rechenspezies
wurden verlangt; die Zeit, die zur Lösung der Recheneinheiten nötig
war, wurde möglichst genau festgesetzt. Lorentz entschied sich für
diese Methode, weil sich eine homogene Verteilung der Arbeits-
forderungen leicht herstellen, weil unter Stimuluswirkung eine starke
Arbeitsanspannung sich unschwer erzielen läßt, die Ausschaltung der
Suggestion leicht gelingt infolge öfterer Wiederholung und endlich ein
wesentlicher Leistungszuwachs durch zunehmende Übung ausgeschaltet
ist, da es sich um Rechenoperationen handelt, die am häufigsten im
Unterricht vorkommen. — Die Versuche, die hier wesentlich sind,
fanden um 4 und um 8 Uhr statt. Bei den Antikenotoxinprüfungen
geschah die Zerstäubung nach der ersten Rechenprüfung unter dem
Vorgeben, die Luft sollte verbessert werden. Die Schüler wußten
über den Zweck der Versuche nichts. — Das Quantum der geforderten
Leistung war überall dasselbe, mithin fand die quantitative Wertung
der Leistung in der verflossenen Arbeitszeit ihren Ausdruck; als Maß-
stab für die Qualität der Leistung diente die Anzahl der Fehler und
Korrekturen. — Das Resultat dieser Versuche ist folgendes: Schon
äußerlich zeigte sich die Wirkung des Kenotoxins, indem die Schüler
selbst gegen das Ende des Unterrichts gegenüber der sonstigen Ab-
nahme an geistiger Spannkraft eine gesteigerte Frische und Lebhaftig-
keit zeigten; die psychomotorische Hemmung erschien aufgehoben;
die Spontaneität der Aufmerksamkeit erforderte keine erhöhte An-
spannung der Willensenergie. Die Leistungsquantität fand überall
eine Steigerung; aber auch die Qualität erfuhr eine Verbesserung,
denn die Anzahl der Fehler und Korrekturen verminderte sich;
während sie bei den Versuchen ohne Kenotoxin eine Zunahme zeigte.
Ohne Kenotoxin eine Abnahme der Fähigkeit, sich ernstlich mit dem
Gegenstand zu befassen, mit demselben anstelle der geminderten oft
eine gesteigerte Leistungsfähigkeit! — Lorentz veröffentlicht aus
einer großen Zahl von Kurvenserien nur einige. Er berechnet nicht
1. Ein Schülerbericht aus Trüpers Erziehungsheim. 259
die Durchschnitte aus allen Zahlentabellen. Leider fehlt eine Angabe
über die Übungswirkungen und ob ein Übungskursus auch diesen
Untersuchungen vorausgegangen ist — wie wohl sicher anzunehmen
ist. Die Annahme, daß die Übungssteigerung eine minimale sei, weil
es sich um oft geübte Rechenoperationen handle, wird durch andere
Untersuchungen — ich erinnere an die Kraepelinsche Addiermethode
— stark angezweifelt; sie ergeben vielmehr eine ganz erhebliche
Steigerungsmöglichkeit. Auch die Resultate Burgersteins zeigen
starke Übungswirkungen. (Forts. folgt.)
B. Mitteilungen.
1. Ein Schülerbericht aus Trüpers Erziehungsheim
auf der Sophienhöhe bei Jena.!)
Von Fr. Rössel, Hamburg.
S. P. ist einziges Kind seiner Eltern. Er ist 10 Jahre alt. Aus
der Entwicklungsgeschichte ist nach Angaben der Eltern folgendes zu
entnehmen: Die Geburt verlief normal. Das Laufen und das Sprechen
lernte er zur rechten Zeit. Doch zeigte er frühzeitig wenig Interesse für
die Umgebung. Er begann ein inneres Leben für sich zu führen und
war geistig immer vorherrschend phantasiemäßig beschäftigt. Starken Ein-
fluß hatte auf ihn recht bald die Musik. Bald spielte er alles Gehörte
auf dem Klavier nach, und er wußte schon im Alter von 31/, Jahren
ganze Akkorde richtig anzugeben. Die Musik nahm aber seinen Geist so
gefangen, daß er aus allen Gegenständen durch Klopfen Töne hervorzu-
bringen versuchte. Die körperliche Entwicklung schritt normal vorwärts.
Mit dem vierten Jahre gewöhnte er sich bei heiterer Stimmungslage eigen-
artige Bewegungen der Hände an. Zur selben Zeit machte sich auch ein
beständiges rhythmisches Hin- und Herwiegen des Oberkörpers bemerkbar.
Der Schlaf war durchschnittlich gut, nur vor freudigen Ereignissen (Reisen)
schlief er oft die ganze Nacht nicht.
In den ersten Lebensjahren war er fast immer allein. Man be-
schäftigte sich wenig mit ihm. Er wurde selten angehalten, selbst kleine
Verrichtungen zu besorgen. Deshalb ist P. in hohem Grade unpraktisch
und ungeschickt. Ordnung und Sauberkeit sind nicht sehr ausgebildet.
1) Durch das freundliche Entgegenkommen von Herrn Direktor Trüper ist es
mir ermöglicht, diese Studie über einen Knaben, der eigentlich nicht mehr in den
Rahmen seiner Anstalt hineinpaßte und darum auch wieder entlassen wurde, hier
zu veröffentlichen. Vor mehreren Jahren hatte ich ihn auf der Sophienhöhe in
meiner Klasse und Aufsichtsgruppe, in der die abnormsten und darum zum Teil
interessantesten Fälle unter den Zöglingen gesammelt waren. Da ein solcher Fall
selten zu sein scheint, ist seine Veröffentlichung wohl gerechtfertigt. Vergl. Jg. 18,
Heft 1, S. 26.
17*
260 B. Mitteilungen.
Er ist gutmütig und läßt sich auch von kleineren, ihm körperlich nicht
gewachsenen Kindern alles gefallen. P. erhielt Privatunterricht. Nur im
Sommer 1907 besuchte er die II. Klasse der Hilfsschule in Ch.
Eine genaue ärztliche Untersuchung ergab: Muskulatur und Er-
nährungszustand sind mittelmäßig. Abweichungen in der Drüsenbildung
sind nicht vorhanden. Die Haut ist elastisch, die Schleimhäute sind blaß.
Die Atmung ist in Ordnung. Der Gaumen ist steil. Die Ohrstellung ist
verschieden. Der Schädelumfang beträgt 54 cm. Der Schädel ist un-
regelmäßig geformt, er weist eine rechtsseitige Stenose des Hinterhauptes
auf. Herz und Lunge sind gesund. Die Kniephänomene sind normal, die
Pupillen sind rund, die Reaktionen zeigen keine Abweichungen.
P. war bisher immer gesund. Sein Körpergewicht betrug im Sep-
temper 1907 58 Pfund. Trotz vorzüglicher Ernährung ist das Gewicht
bis zum April 1908 nur um ein Pfund gestiegen. Die Länge betrug im
September 1907 131 cm; im Oktober 1908 wog er 641!/, Pfund, seine
Größe betrug 136 cm.
Eine Prüfung des intellektuellen Standes hatte folgendes Ergebnis.
P. ist zeitlich, örtlich und beziehungsbegrifflich orientiert. Er weiß,
welches Jahr wir haben, er kennt sein Geburtsjahr und gibt das Datum
richtig an. Die Wochentage und die Monate sind ihm geläufig, ebenso
die Einteilung der Zeit in Stunden, Minuten und Sekunden. Die Uhr
kann er nicht lesen. Ferner weiß P. in den Größenverhältnissen zahlen-
mäßig gut Bescheid. Die Bezeichnungen Schock, Mandel und Dutzend
sind ihm bekannt. Er kennt ihre Stückzahl und versteht, sie in Beziehung
zueinander zu setzen. Aufgaben wie: Ein Mandel Eier kostet 60 Pf.;
wieviel kostet ein Ei? rechnet er richtig aus. Sechsstellige Zahlen liest
er sicher, Addition und Subtraktion beherrscht er vollständig, weniger gut
Multiplikation und Division.
Er kennt den Wert der Geldstücke und vermag, Summen zu be-
stimmen. Einfache Beziehungsaufgaben rechnet er richtig aus.
In örtlicher Hinsicht ist zu sagen, daß P. in der Anstalt bald gut
orientiert war. Er besitzt Ortsgedächtnis. Er hat Erinnerungsbilder von
früheren Wohnungen, von Reiseaufenthaltsorten usw.
Orthographisch schreibt er leidlich richtig. Die Schrift ist flott und
leserlich. Das Lesen genügt.
Es ergibt sich, daß der Vorstellungsschatz an sich nicht außer-
gewöhnlich geschwächt ist. P. verfügt über gewisse Kenntnisse, die denen
manchen normalen Kindes in seinem Alter kaum nachstehen. Allerdings
bedarf es einer schwerwiegenden Einschränkung. Die Kenntnisse sind
vorzugsweise nur formaler Natur. Dazu kommt, daß sie starren Vor-
stellungsreihen eingegliedert sind, die hauptsächlich durch mechanisches
Einprägen aufgenommen wurden.
In der Tat vermag P. rein gedächtnismäßig solche Reihen aufzu-
nehmen und mit ihnen zu operieren. Auch Erlebnisse, die er oft durch-
läuft, nimmt er auf, schließt sie in seiner Erinnerung zu einer Kette zu-
sammen und vermag sie in richtiger Weise zu produzieren. So gibt er
im großen ganzen seinen Tageslauf richtig an. Er schreibt:
1. Ein Schülerbericht aus Trüpers Erziehungsheim. 261
»Morgens stehe ich um 7 Uhr auf. Da trinke ich meine Milch mit
Buttersemmel. Da gehen wir in den Turnsaal, da halten wir Andacht.
Dann gehen wir zu Fräulein X. Da lerne ich schnüren mit dem Schnür-
apparat. Wenn du falsch machst, schimpft Fräulein X. Da lerne ich
Schuhe schnüren. Wenn du falsch machst, sonst schimpft Fräulein X.
Wenn ich fertig bin, dann gehen wir zu Sophihenhöhe. Dann essen wir
Frühstück mit Brot und Milch. Dann gehen wir in den Wald und ich
spiele greifen. Dann gehen wir in die Klasse. Dann ist ne kleine Pause.
Dann gehen wir mit W. Sch. zum Veranda zum Ruhen. Dann stehen
wir auf. Dann essen wir Mittag. Dann gehen wir zum Veranda zum
Ruhen. Dann stehen wir auf. Dann trinken wir Kaffee. Dann gehen
wir in den Garten und spielen. Dann gehen wir zum Sophihenhöhe.
Und essen Abendbrot. Dann gehen wir zum Bett.«
Von einem Sonntag schreibt er:
»Gestern war Sonntag. Da sind wir zur Turnhalle gegangen. Dann
haben wir Theater gespielt. Da habe ich in der Turnhalle gezuckt. Da
hat Frl. X. bald raußgemißen und ich habe Putti gemacht und wieder in
die Turnhalle gegangen. Da hat die Musik gespielt: Da sind wir zu
Sophihenhöhe gegangen.«
Nach einem Feste schrieb er folgende Sätze:
»Gestern war Stiftungsfest. Da haben wir Kaffee getrunken. Da
sind wir zur Turnhalle gegangen. Da haben wir Andacht gehalten. Da
haben wir nicht zu Frl. X. gegangen.«
In den angeführten Darstellungen wollen wir zunächst nur auf den
Gedankenfortschritt achten. Er schreibt in völlig richtiger Weise, was er
am Tage über treiht. Charakteristisch ist an den Sätzen, daß jedes Er-
innerungsbild mit einem intensiven Bewegungsvorgang verbunden ist: Wir
gehen, wir trinken, wir essen, spielen, greifen usf. Die oft durchlaufenen
Tätigkeiten haben sich gedächtnismäßig zu einer Reihe eingeprägt. Dazu
kommt noch, daß sich alles um seine Person schließt, daß sich fast
nirgends ein Erinnerungsbild einschiebt, welches nicht Bezug hätte auf
das Ich. Dabei ist er keineswegs egoistisch. Er läßt sich alles weg-
nehmen, nur nicht den Gegenstand, mit dem er sich eben beschäftigt (s. u.).
Nach Süßigkeiten und anderen Dingen, die ausgeteilt werden, verlangt er
durchaus nicht. Es ist ihm ganz gleich, ob er etwas bekommt oder nicht.
Mit seinen Sachen kann jedes Kind spielen, denn er bekümmert sich gar
nicht um sie.
Das Gedächtnis eines normalen Kindes zeigt vor allem diesen Zug.
Mit den Erinnerungsbildern verbindet sich ein Urteil, eine Kritik des Er-
lebten. Dabei ist der Inhalt nicht nur gebunden an Vorstellungen mit
intensiven motorischen Bewegungen, sondern es werden auch diejenigen
Erinnerungsbilder zusammengeschlossen, die aus Gehörs- und Gesichts-
empfindungen entstanden sind. So wird das normale Kind nicht schreiben,
»dann gehen wir in die Klasse, dann ist ne kleine Pause,« sondern es
wird auch unbedingt angeben, was es in der Klasse, also in der Stunde,
im Unterricht gehört, gesehen und gelernt hat. Es beschränkt sich nicht
auf die einfache Wiedergabe der aneinander gereihten Bewegungsvorgänge,
262 B. Mitteilungen.
sondern der Inhalt des Erlebten ist ihm die Hauptsache. Es bildet eine
inhaltlich eng verbundene Erinnerungsreihe.
P. dagegen ist nicht imstande, eine inhaltlich verknüpfte Erinnerungs-
reihe zu bilden, weil die Vorbedingungen zu einer solchen Tätigkeit fehlen,
nämlich die Aufmerksamkeit und damit zusammenhängend eine sach-
lich ablaufende Ideenassoziation.
P. hört nicht, was in seiner Nähe gesprochen wird; oftmals reagiert
er gar nicht oder doch nur schwach, wenn sein Name gerufen wird; was
in der Schule vom Lehrer gesprochen wird, geht spurlos an ihm vorüber.
Auf Wortreize reagiert er sehr selten. Die Weckbarkeit der Auf-
merksamkeit ist ganz enorm herabgesetzt. Tritt wirklich einmal
ein Wortreiz ins Bewußtsein ein, so ist auch damit der Prozeß erledigt.
Er vermag keine ähnlichen Vorstellungen zu reproduzieren, sondern sinkt
bald unter die Bewußtseinsschwelle. Es entstehen also keine vollwertigen
Zielvorstellungen und es reihen sich keine Erinnerungsbilder an. Die
Haftbarkeit der Aufmerksamkeit ist ebenfalls erheblich ge-
stört. Beim normalen Kinde und auch bei vielen schwachsinnigen Kindern
vermögen besonders lustbetonte Vorstellungen eine Haftbarkeit der Auf-
merksamkeit herbeizuführen. Auch dies fällt bei P. zum großen Teile
aus. Er bekam eine Karte von seiner Mutter mit dem Inhalte, daß sie
ihn bald besuchen werde. Auf diese freudige Mitteilung, die er selbst
las, reagierte er mit keiner Miene. Die Aufmerksamkeit wurde durch das
bevorstehende Ereignis kaum geweckt, andere Vorstellungen, die sich im
normalen Falle sofort recht lebhaft angeschlossen hätten, wurden nicht an-
geregt, so daß von einem Haften der Vorstellungen keine Rede sein konnte.
Aus diesen großen Aufmerksamkeitsstörungen ergibt sich für die
Praxis zunächst folgendes:
1. Die Störungen in der Aufmerksamkeit machen einen Unterricht
mit anderen Kindern unmöglich, um so mehr als P. durch seinen moto-
rischen, spontan auftretenden Bewegungsdrang (s. u.) dem Unterrichte, be-
sonders aber auch der Aufmerksamkeit der Mitschüler hinderlich ist.
Einzelunterricht wäre also angezeigt.
2. Auch von dem Einzelunterrichte kann man sich vorläufig nicht
viel versprechen. Einmal sind natürlich wiederum die Aufmerksamkeits-
störungen das Haupthindernis. Andrerseits tritt bei Einzelunterricht leicht
Ermüdung ein. Unlustgefühle werden herrschend und fordern beständig
Ermahnungen heraus. Dadurch wird dann die ganze Stimmungslage nach
der negativen Seite herabgedrückt. Affekte der Unlust und Verschlechte-
rung des Gesamtzustandes sind dann zu erwarten.
3. Es ist also geboten, P. vorläufig aus dem Schulunterrichte soviel
als möglich herauszunehmen. Er wird im Kindergarten beschäftigt, wo
er mit Legetäfelchen und mit dem Baukasten allerhand Formen und
Gegenstände zusammensetzt. Diese Arbeiten verrichtet er gern und willig.
Nur darf auch hier keine Forderung an die Aufmerksamkeit, wie z. B.
beim Bauen nach Diktat, gestellt werden, sonst treten ebenfalls Affekte
der Unlust auf.
Folgende Unterhaltung ist charakteristisch für die Aufmerksamkeits-
1. Ein Schülerbericht aus Trüpers Erziehungsheim. 263
störungen. Besonders finden wir ein eigentümliches Vorbeireden
auf die Frage. Die Fragen werden ganz ohne Beziehung zu ihrem Inhalt
beantwortet, oder die Antwort knüpft nur an ein einzelnes Wort der Frage
ohne Rücksichtnahme auf ihren Sinn an. Ferner fällt ein eigentümlicher
Negativismus in den Antworten auf. Zum Verständnis der Unterhaltung
sei noch mitgeteilt, daß P. jeden Morgen Schnüren der Schuhe, Aus- und
Ankleiden lernt.
Lehrer: Wo bist du heute Morgen bewesen?
ETUE OEM
vH
wpm p p o ESEL TEL p a e a p
Gar nicht. — Zu Frl. X.
Was hast du da getan? — Keine Antwort, nochmalige Frage.
: Ich habe gar nichts gemacht.
Du mußt doch etwas getan haben!
Ich hab gar nichts gemacht.
: Hast du nichts gelernt?
: Nein, ich habe gar nichts gelernt.
Weist du wirklich nicht, was du gelernt hast?
Geschnürt.
: Was hast du also gelernt?
: Geschnürt.
Was hast du noch getan:
: Kaput gemacht.
Was denn?
: Gar nichts kaput gemacht. Ich habe nichts kaput gemacht. Ich
habe nichts gemacht.
: Da warst du also faul, wenn du gar nichts gemacht hast!
: Ja, ich war lieber faul.
: Faule Kinder bekommen aber Strafe.
: Ich muß Strafe haben, drei. — Der Tisch soll das Klavier sein.
Zwei kleine Gespräche seien noch mitgeteilt:
: Weißt du denn, wie Herr Direktor heißt?
: Herr Direktor Trüper.
: Wo warst du denn gestern Nachmittag?
: Spazieren.
: Mit wem?
: Mit Herrn Direktor spazieren. (Keine Tatsache.)
Ferner:
: Welchen Tag haben wir heute?
: Freitag, den 22. November. (Richtig geantwortet.)
: Welcher Monat kommt nach dem November?
: Der dreiundzwanzigste.
Die Frage wird einige Male wiederholt. Schließlich antwortet er
richtig: Dezember.
: Welches Fest feiern wir im Dezember? — Keine Antwort. Erneute Frage.
: Januar.
Wiederholung der Frage.
P.: Nein, lieber das Klavier kaput machen. Das Weihnachtsfest. —
264 B. Mitteilungen.
Die angeführten Beispiele zeigen schon ohne weiteres auch Störungen
in der Ideenassoziation an.
Unterrichtlich behandeln wir die Siegfriedsage.e Nun war der Kampf
mit dem Drachen besprochen worden. Vorhergegangen war eine Be-
schreibung des Drachens, die durch eine Tafelzeichnung ergänzt wurde.
Es kommt die Frage: Wie sah der Drache aus? Ein normales Kind wird
nun alle vom Aussehen des Drachens gewonnenen Vorstellungen reprodu-
zieren. P. beantwortete die Frage so: »Der Drache sieht grün aus. Er
sieht aus wie ein Luftballon.«
Bei ihm war keine Assoziation der Vorstellungen zustande gekommen.
Als er gefragt wurde, war zufällig die Vorstellung »Luftballon« in seinem
Bewußtsein wach, und er antwortet: Der Drache sieht aus wieein Luftballon.
Hätte ein normales Kind bei der Frage eine ganz konträre Vor-
stellung gehabt, so wäre trotzdem die Assoziation zwischen der Frage und
der konträren Vorstellung nicht gebildet worden, weil ihm die Erfahrung
und das Urteil eine solche Verbindung verbot.
Diese kritiklosen Verbindungen der Vorstellungen, Asso-
ziationen zwischen Erinnerungsbildern, die weder auf inhalt-
lichen Ähnlichkeiten beruhen noch durch gleichzeitiges Ein-
treten in das Bewußtsein bedingt sind, zeigen sich bei P. in
großem Umfange. Die Ideenassoziation wird beherrscht von einem regel-
losen Durcheinander. Es besteht eine Inkohärenz im Vorstellungsablauf.
(Schluß folgt.)
2. Beitrag zur geistigen Entwicklung eines dreijährigen
Knaben.
Von Lina Prengel, Hermsdorf bei Berlin.
(Schluß.)
Am schwersten war bei Hans, neben der Erziehung zur Sauberkeit
die Erziehung zum Gehorsam.
Er hatte nie getan, was von ihm verlangt wurde, schüttelte energisch
den Kopf und stampfte wohl auch dabei mit dem Fuß zum Zeichen, daß
er es nicht tun wollte; wurde die Aufforderung wiederholt, warf er
sich hin, schrie und strampelte in höchster Wut, biß seine Pflegerin
sehr empfindlich. Wenn er nicht wollte, daß zu ihm oder von ihm ge-
sprochen wurde, schnitt er dem Sprecher ein Gesicht. Es war nie ge-
lungen, ihn zu bewegen, seinen Eltern zum Gruß die Hand zu geben, bei
jeder ernstlichen Aufforderung dazu wiederholten sich seine Wutanfälle.
Als ich merkte, daß ich Einfluß auf ihn bekommen hatte, war ich haupt-
sächlich bemüht, ihn zur Nachgiebigkeit zu erziehen. Zuerst sprach ich
ihm freundlich zu, der Mutter die Hand zu geben, und zeigte ihm meine
Unzufriedenheit darüber, daß er es nicht tat, indem ich ihn mit ver-
drossenem Gesicht ansah, »pfui« zu ihm sagte und fortging, was ihm
nicht gleichgültig zu sein schien. Dann schalt ich ihn auch, weil er
meinem Zureden nicht nachgab. Als ich merkte, daß er halb willens war,
nachzugeben, sich aber doch nicht dazu entschließen konnte, legte ich im
2. Beitrag zur geistigen Entwicklung eines dreijährigen Knaben. 965
geeigneten Moment seine Hand schnell in die der Mutter, dabei »tag tag«
sagend, und nun zeigte er Freude darüber, daß es geschehen war. So ging
es auch in den nächsten Tagen, dann konnte ich ihn durch Zureden und
Nachhelfen bewegen, seine Hand selbst in die der Mutter zu legen. Später
verlangte ich energisch, daß er es tat, ohne sich lange zu weigern, ich
achtete scharf auf ihn, wenn die Mutter in das Zimmer kam und ihn be-
grüßte, er tat es auch viel später erst, nachdem er sich durch einen
Seitenblick auf mich überzeugt hatte, daß ich entschlossen war, ein-
zugreifen. Mit derselben Entschlossenheit verhinderte ich, daß er sich
auf den Fußboden warf, sobald ihm etwas nicht paßte. Durch scharfes
Anreden bei der ersten Bewegung dazu gelang es meistens, ihn davon
abzubringen, oder durch strafende Worte ihn sofort zum Aufstehen zu be-
wegen. Drollig war es anzusehen, als er einmal sich hinwerfen wollte,
weil er der im Spiel von seinem Vater an ihn gerichteten Aufforderung
nicht nachkommen mochte, und sich bezwang, als ich ihm näher kam.
Ich sah zuckende Bewegungen in seinen Gliedern und seinem Körper
nach dem Fußboden hin, und seine ganze Haltung hatte den Anschein,
als ob es ihn nach unten zöge, aber er blieb stehen und ließ sich be-
einflussen, weiter zu spielen. Wenn die Eltern ihn aufforderten, einen
Gegenstand zu zeigen, wollte er es meist nicht tun. Durch Zureden in
die Enge getrieben fand er einmal den Ausweg, mit meinem Finger das
Ohr des Vaters zu zeigen, später zeigte er oft mit der Hand der Puppe.
Wollte er in Wut in meine Hand beißen, weil ich ihn an der Hand hielt,
kehrte ich sie schnell so, daß seine Finger vor seinen Mund kamen,
dann biß er nicht zu, später biß er in seinen Ärmel. Die tadelnden
Worte und die Unzufriedenheit, die er dann an meinem Umgang mit ihm
merkte, konnte er sehr wohl von freundlichen Worten und freundlichem
Umgang unterscheiden und hatte sie nicht gerne.
Er bekam sein Essen nie, ohne vorher die Bittbewegung ausgeführt
zu haben, die mit lautem deutlichen »bitte bitte« von mir begleitet wurde.
War er in guter Stimmung, in der ich ihn stets zu erhalten suchte, machte
er die Bittbewegung, oft weigerte er sich energisch. Ich nahm dann,
auch wenn er heftig widerstrebte und schrie, ruhig seine beiden Hände,
schlug sie aneinander und sagte »bitte bitte« dab&i; erst dann durfte er
essen. Er gewöhnte sich schließlich daran, so um das Essen zu bitten,
sagte auch bald dabei »habe« — bitte und weigerte sich nur ausnahms-
weise. Weil er Freude daran hat, bekommt er zwei Äpfel mit in sein
Zimmer. Er trägt sie viel mit sich herum, benennt sie, nimmt sie mit
auf den Spaziergang und riecht nur daran, weil ihm verwehrt worden
war, davon zu essen. Am zweiten Tage scheint er nicht widerstehen zu
können, er beißt zaghaft und mit schuldbewußter Miene in einen Apfel
und sieht mich dabei an, behält ein schuldbewußtes Aussehen, als ich ihn
verwarne, und gibt die Äpfel ruhig ab. j
Musikalische Anlage konnte ich bei ihm nicht finden, suchte
ihn aber für Musik empfänglich zu machen durch das Vorsingen einfacher
Lieder, die sich möglichst an ihm verständliche Vorgänge anschlossen,
mindestens aber ihm bekannte Worte enthielten. Besonders gerne hörte er
266 B. Mitteilungen.
bald »Der Hans zieht seine Handschuh an, die Handschuh die sind
rot« usw. Ich konnte dadurch seinen Unmut beim Anziehen, das er nicht
gerne hatte, dämpfen. Eine Trommel hatte ich ihm in den ersten Tagen
schon gegeben. Als er ein Ständchen mit Aufmerksamkeit von seinem
Fenster aus angesehen und angehört hatte, bekam er eine Trompete. Sie
ängstigte ihn, er nahm sie nicht und schrie, wenn man sie ihm geben
wollte. Ich legte sie fort, damit er zur Ruhe kam. Am nächsten Tage
beschäftigte ich mich mit der Trompete, um ihn an ihrem Anblick zu ge-
wöhnen. An den folgenden Tagen tat ich das wieder, blies auch darauf.
Als er Freude daran fand, forderte ich ihn zum Blasen auf. Er bemühte
sich, es zu tun, bis es ihm gelang, und blies dann gerne, wenn er Lust
dazu hatte.
Seine Furchtsamkeit legte sich wenig. Er fürchtete sich, wenn
der Wind an den Fensterladen rüttelte. Oft drückte er sich scheu an die
Wand oder in eine Ecke und deckte die Hände über das Gesicht, weil
ihn ein Geräusch erschreckt hatte. Bei ungünstigem Wetter schlief er
schlecht ein und schrie lange, bevor er einschlief. Wenn jemand in das
Zimmer kam, war er sofort still; er schien nicht allein bleiben zu wollen.
Bei starkem Sturm aber, wenn man befürchten mußte, daß er aus Furcht
nicht schlafen würde, schlief er ruhig und fest und ganz besonders gut.
Er soll früher oft 3 Stunden hintereinander geweint haben, bis seine
Pflegerin ins Zimmer kam und zu Bett ging.
Ich suchte ihm begreiflich zu machen, daß ich das Schreien nicht
leiden wollte, und daß er im Bett liegen bleiben und sich ruhig verhalten
müßte, wenn er nicht schlafen könne. Er verstand es, besonders, da ich
darauf bedacht war, daß stets eine Unannehmlichkeit für ihn damit ver-
bunden war, wenn ich endlich doch in das Zimmer kam, weil er heftig
schrie. Wenn er still geworden war, schlief er sofort ein. Jetzt noch,
nach 3 Jahren, bleibt er nie allein im Zimmer: kommt es durch Zufall
doch vor, schreit er heftig, sowie es ihm zum Bewußtsein kommt. Er
schreit auch immer noch heftig auf, wenn er im Bett ist und der Regen
gegen die Fenster schlägt. Schilt man ihn und sagt ihm, daß die Blumen
und Bäume den Regen haben wollen, und er gleich schlafen soll, so
ist er still.
Obgleich er sich für Gummischuhe interessierte, schrie er ängstlich,
wenn ihm seine Gummischuhe angezogen werden sollten, und geriet in
höchste Erregung; hatte man sie ihm mit List unverhofft übergezogen,
ließ er sich zureden, sie an den Füßen zu behalten. Einen Esel (manchmal
auch anderes Spielzeug), den er am meisten in der Hand behielt, warf er
oft plötzlich mit einem Schrei fort und war nicht zu bewegen, ihn wieder-
zunehmen. Erst einige Stunden später oder am nächsten Tage nahm er
ihn wieder.
Als er Ende Januar geimpft wurde und danach etwas angegriffen
war, ängstigte es ihn, wenn sich jemand unter den Tisch oder unter das
Bett bückte, um den Ball aufzuheben.
Seine große Ängstlichkeit war für meine Bemühungen, ihn an regel-
wäßige Entleerung zu gewöhnen, sehr hinderlich. Wenn er irgendwie
2. Beitrag zur geistigen Entwicklung eines dreijährigen Knaben. 267
verängstigt war, am meisten durch Geräusch, das der Wind verursachte,
konnte er keinen Urin lassen. Einmal soll er während einer Tagesreise
in der Eisenbahn trotz vieler Bemühungen von früh morgens bis spät
abends, als er im Bett zur Ruhe gekommen war, keinen Urin gelassen
haben.
Sein Erinnerungsvermögen schien nur zum Wiedererkennen von
Dingen, Tätigkeiten und Worten auszureichen. Ich bemühte mich, die Er-
innerung an Erlebnisse und Beobachtungen in ihm festzuhalten. Mitte
Dezember gelang dies zum ersten Male. Er interessierte sich für ein
Auto und hatte Zuneigung zu seinen Eltern und zu seinem Bruder. Als
ich hörte, daß seine Eltern mit seinem Bruder im Auto fortfahren wollten,
bat ich sie, recht langsam nacheinander einzusteigen, damit Hans es gut
beobachten könnte. Ich stellte mich mit ihm abseits an einen ruhigen
Platz und ließ ihn das Auto beobachten. Als er bemerkte, daß die Mutter
einstieg, sagte ich: »Die Mama geht in das Auto«, als er den Vater ein-
steigen sah: »der Papa geht in das Auto«, als der Bruder einstieg: »Nicki
geht in das Auto, fort fährt das Auto« und ließ ihn ruhig stehen, so
lange er nach der Richtung sah, in der das Auto verschwunden war. In
der ersten Stunde danach erinnerte er sich an den Vorgang draußen,
wenn ich mit denselben Worten, die er beim Beobachten gehört hatte, zu
ihm davon sprach. Er bekam einen aufmerksamen Gesichtsausdruck und
schien zuzuhören, wandte sich auch nach der Stelle um, wo das Auto ge-
standen hatte. Im Zimmer gelang es gleich darauf nicht, ihn an den
Vorgang zu erinnern; ganz verständnislos saß er da, ebenso am nächsten
Tage draußen.
Auf dem Landgut der Eltern machte ich oft mit ihm Wanderungen
durch den Hof, ließ ihn die Tiere beobachten und den Hühnern Brotkrümel
streuen. Er hatte es gerne, wenn ich in den Kuhstall ging, die Kuh
streichelte, ihm Schwanz, Horn, Augen usw. zeigte und mich so mit ihm
unterhielt. Er schob mich in den Stall hinein, damit ich es tun sollte,
war aber nicht zu bewegen, mit hineinzukommen. Er ließ sich höchstens
auf die Schwelle locken, wo er in großer Angst einige Minuten stehen blieb.
Am Abend unterhielt ich mich mit ihm über den Vorgang, der am
meisten Eindruck auf ihn gemacht hatte, mit denselben Worten, die er
beim Beobachten gehört hatte; meistens wurde er aufmerksam. Anfang
Januar scheint er meine Worte zu verstehen und sich lebhaft an den
Vorgang zu erinnern. Er ist sehr aufmerksam, als ich ihm von dem
Hund erzähle, den er schon mehrmals gesehen hat; bei den Worten: »die
Tante ruft den Wau-Wau, komm komm«, klopft er mit der Hand auf sein
Bein, wie ich es beim Rufen getan hatte. Bei solcher Gelegenheit zeigte
sich später auch sein Nachahmungstrieb. Wir streuten oft Brotkrumen
für eine Taube und beobachteten, wie sie sie aufpickte; dabei hört er
jedesmal das Wort »pick«. Zu Haus nahm er dann die Taube oder Ente
aus seinem Spielzeug, hielt sie mit ihrem Schnabel an den Fußboden und
sagte: »Kick« (pick). Am 5. Januar kehrte die Familie in die Stadtwohnung
zurück. Hans erinnert sich an die alte Umgebung und weiß, an welchem
Platz sich hier die verschiedenen Gegenstände befinden, auch die, die er
268 B. Mitteilungen.
nicht sehen kann, weil sie im Schrank oder im Schubfach ihren Platz
haben. Alle Gegenstände in der Wohnung sieht er sich genauer an als
früher und zeigt große Lust, sie zu benennen. Mitte Februar kann er
sich noch am nächsten Tag an sein Erlebnis erinnern und beteiligt sich
an der Unterhaltung darüber. Als ich ihm und seiner Mutter erzählte:
»Die Tante gibt dem Vogel Brot; der Vogel kommt, holt das Brot mit
dem Schnabel«, erzählte er mit: »hoch« und zeigt nach oben; er meinte,
der Vogel fliegt hoch mit dem Brot auf den Baum.
Die gewonnene Farbenvorstellung wurde weiter entwickelt durch
Übungen im Unterscheiden und Wiedererkennen der Farben. Durch die
großen farbigen Papierbogen war er auf die Farben aufmerksam geworden
und hatte rot, zuweilen auch gelb wiedererkannt und bevorzugt; am 22. Januar
bekommt er die Pieperschen Farbentafeln. Die grüne Tafel fällt ihm auf,
weil grün unter seinen farbigen Papierbogen nicht gewesen ist. Er inter-
essiert sich einige Tage besonders dafür, zeigt die Farbe oft und läßt
sie sich benennen. Am 25. Januar wird er aufgefordert, durch Ver-
gleichen die ihm vorgezeigte Farbe wiederzufinden. Er findet schwarz
und gelb wieder, die anderen Farben nicht. Am 19. Februar sucht und
zeigt er mit Bewußtsein dieselbe Farbe. Die Übungen werden ihm schwer,
gewöhnlich kann er nur die ersten zwei bis drei Farben richtig zeigen. Er
kann aber auch, ohne zu vergleichen, wenn auch noch unsicher, die ge-
wünschte Farbe zeigen und einige Farben benennen. Auch sein Formen-
sinn entwickelt sich. Am 10. Dezember nennt er im Uhrkästchen den
runden Behälter für die Taschenuhr ki-ki-ticktack. Eine kleine runde
Blechschachtel nennt er auch tick-tack. Die kreisrunde Form war für ihn
das Merkmal für Uhr.
Er wird auf den Irrtum aufmerksam gemacht. Die Uhr, die in den
Behälter hineingehört, wird ihm gezeigt, er hört ihr Ticken. Die Blech-
schachtel wird mit der Uhr verglichen, er bemerkt, daß sie nicht tickt;
sie wird Schachtel genannt, geöffnet, und es wird ihm der Inhalt gezeigt.
Für Bauformen zeigt er bald Verständnis. Anfang Januar baute ich
ihm aus großen Bauklötzen eine Treppe und ließ die Puppe von Stufe
zu Stufe hinaufgehen, dabei »tapp-tapp« sagend, wie es auch geschieht,
wenn er selbst die Treppe hinaufgeht. Er erkennt die Treppe, findet
Freude an dem Spiel, läßt oft die Puppe oder einen kleinen Hund die
Treppe hinauf und hinunter gehen und sagt auch dabei »papp, papp«,
tapp, tapp. Auch einen Stuhl läßt er sich gern bauen, versucht auch
selbst, ihn zu bauen, er setzt seine Puppe auf den Stuhl und gibt ihr zu
trinken. Sagt man zu ihm, »wollen wir einen Stuhl bauen?« holt er die
Klötze aus dem Schubfach. s
Durch das Bauen verbessert sich seine Handgeschicklichkeit, besonders,
weil dabei bestimmte Handgriffe geübt werden, die die Hand im Gelenk
beweglicher und zum richtigen Halten des Löffels beim £ssen geschickt
machen sollten; denn Hans konnte bisher den Löffel nur halten, wenn er
ihn nach Art ganz kleiner Kinder mit der ganzen Hand umfaßte Auch
ließ ich ihn zur Erlangung größerer Handgeschicklichkeit einen kleinen
Ball, den ich zu ihm rollte, mit beiden Händen fangen. Er mußte sich
2. Beitrag zur geistigen Entwicklung eines dreijährigen Knaben. 269
dabei Mühe geben, die Handgelenke zusammen und die Finger auseinander
zu halten. Das Perlenreihen fällt ihm jetzt nicht mehr so schwer. Er
kann 6 bis 8 Perlen hintereinander aufreihen, jedoch ist er bei der Arbeit
leicht abgelenkt.
Sein Sprachverständnis nimmt zu. Er versteht und befolgt die
Aufforderung an einen bestimmten Platz zu gehen, Milch auszutrinken,
spazieren zu gehen, baden zu kommen usw., beantwortet die Fragen: Wem
gehört der Hut, wo soll der Bär hinfahren?
Er fängt auch an, sich durch die Sprache zu verständigen und einen
Gedanken in zwei Worten auszudrücken. Am 8. Februar sieht er die
Stiefel seines Vaters stehen, die ihn immer interessieren. Es ist ihm oft
gesagt worden: Für den Papa sind die Schuhe; heute sagt er »ua Papae.
Früher schon sagt er »Mamma Tisch«, als er das Bild seiner Mutter auf
dem Tisch sah, »da-ba«, als er den Ball aufhob, und »da-ba« als er das
Halsband des Bären zeigte.
Am 13. Februar kommt er auf dem Spaziergang in die Nähe der
Bahn, sagt wiederholt »ba« und zeigt den Weg zur Bahn. Er zeigt
Freude, als ich ihn frage: »Willst Du zur Bahn gehen?«, mit ihm umkehre
und in den Weg einbiege. Am 17. Februar ıuft er zur großen Freude
der Eltern »Papa«, wenn er den Vater, und »Mama«, wenn er die Mutter
sprechen hört. Am 19. Februar sagte er auf dem Spaziergang wiederholt
zu mir »ba«, als er zur Bahn gehen will. Er sieht sein neues Pferd auf
dem Schrank stehen, macht die Bittbewegung und sagt »hü«; bisher hatte
er dies nicht getan, auch wenn man sich unwissend stellte und fragte:
was möchtest Du haben? Sein Wortschatz vergrößert sich beständig, er
fängt an, auch dreisilbige Wörter zu beachten. Mitte Januar läßt er sich
gerne Opapa und Gummischuh vorsprechen, spricht bald Opapa deutlich
nach und versäumt seitdem nie, »Opapa« zu sagen, wenn er einen alten
Herrn sieht. Das Wort »Gummischuh« gelingt ihm nicht so gut, er sagt
zuerst »gu gu«, dann »>gu gu gu«. Wenn der Ball rollt, sagt er jetzt
nicht mebr »kuu«, sondern »ku ku ku« für »kululue.. Am 1. Februar
spricht Hans mit richtiger Anwendung außer den früher schon angeführten
Wörtern:
hu hu wenn der Wind heult
tu tu tut tut für blasen
Ei, undeutlich wie ä
ho Horn
ho Hose
ge Tee
ki Kind
: Opapa
gu gu gu Gummischuh
tisch oder schisch Fisch
Tisch
au aus, ausgezogen
auch aup auf
bi ba bim bam
270 B. Mitteilungen.
päbe Perle
aue Auge
tede Teller
opp hopp hopp
popp klopf
ba Band
ba Bank
ba Bart
ba Bahn (früher schon ba Ball)
Vom 1. Februar bis 20. Februar erwirbt er noch zu seinem Sprach-
schatz hinzu:
be be Besen
ta te Tante
hug Fuß
obe oben
gu oder guß Stuhl
da de Wagen
dada Anna
huhuhu Fingerhut
uppes Suppe.
Wenn er sprachlustig ist, benennt er auch noch andere Dinge mit
dem Anfangslaut und wieder andere unverständlich und fast jedesmal
anders. Er ahmt auch die Tierstimmen richtig nach, wenn man ihn fragt:
wie sagt der Hund, das Schwein usw.
Am 20. Februar 1910 verließ ich Hans, um ihn 9 Wochen später
zur weiteren Erziehung ganz in meine inzwischen gegründete Erziehungs-
anstalt in Hermsdorf i/M. aufzunehmen, wo er weiter beständig Fortschritte
macht. Jetzt, 3 Jahre später, hat Hans einen sicheren, aufrechten Gang,
der Körper hat normale schlanke Figur bekommen; die Größe des Kopfes
steht im richtigen Verhältnis zum Körper, nur die Waden sind noch sehr
dünn. Die Augenbrauen sind nicht gewachsen, der Kopf ist ganz mit
eigentümlichem krausen Haar bedeckt. Er kann im Schritt marschieren, tritt
auf Kommando an und steht auf Kommando still, marschiert auch gerne
im Takt eines Liedes, Er ist geschickt genug, sich aus- und anzuziehen
bis auf das Zuknöpfen der Kleider. Leider läßt er sich von seiner Arbeit
durch jedes Geräusch oder Bewegung eines anderen Kindes ablenken, oder
er verliert sich in sein Phantasiespiel. Er hat sehr viel Phantasie: die
Gegenstände verwandeln sich oft 3 bis 4 mal im Laufe einer !/, Stunde
zu dem was er für sein Phantasiespiel im Augenblick grade gebraucht.
Er hat Freude am Gesang, singt die Melodien seiner Lieblingslieder
richtig, und bemüht sich jetzt auch den Text richtig mitzusingen.
Die Sprache entwickelt sich schwer und langsam, Hans spricht noch
sehr undeutlich und im Telegraphenstil, gebraucht aber schon Dingwörter
in der Mehrzahl, Tätigkeitswörter in ihren Biegungen, und bemüht sich,
die persönlichen Fürwörter richtig anzuwenden. Die Wörter: Auch, gleich,
uns wurden in den letzten Wochen von ihm bevorzugt. Ruft man ihn,
3. Bemerkungen zu den Besprechungen Majorscher Schriften. 271
so antwortet er: »ja, deiche — ja gleich. Sieht er mich schreiben,
so fragt er, ob ich an die Eltern schreibe, daß sie zu uns kommen
möchten: »Mama pommen us? — ja? — Papa auch?« Er legt aus drei
bis 4 Stäbchen einfache Formen, die er auch zeichnet, wenn man ihm
durch einen Punkt die Richtung der Linie angibt, die er dann achtsam
zum Punkt führt.
Gern ahmt er das Briefschreiben an die Eltern nach, läßt sich dabei
die Hand führen und erkennt das Schriftbild seines Namens.
Das Kind, das mit 3 Jahren 8 Monaten keinen Gegenstand, nicht
einmal seine Pflegerin erkannte, nähert sich immer mehr der wenn auch
erheblich verlangsamten Entwicklungsweise des normalen Kindes, und es
ist jetzt, im Alter von 6 Jahren 8 Monaten gute Aussicht vorhanden, daß-
es auch Lesen und Schreiben lernt.
3. Bemerkungen zu den Besprechungen Majorscher
Schriften in dieser Zeitschrift, Jg. XVII, Heft 9 u. 12.
Obwohl es nicht Gepflogenheit ist, daß Autoren besprochener Bücher
sich gegen diese Besprechungen in unserer Zeitschrift zur Wehr setzen,
glauben wir doch, unseren Lesern die folgende Entgegnung des Herrn
Gustav Major nebst dem Begleitbrief nicht vorenthalten zu sollen. Wir
geben beides in wortgetreuem Abdruck wieder — abgesehen von den
zahlreichen Schreibfehlern — und bemerken unsererseits nur: es hat uns
bereits lange vor der Annahme von Rössels Besprechung eine Kritik des
Majorschen Buches »Unser Sorgenkind« vorgelegen, die von medizinischer
Seite verfaßt war und das Buch in äußerst scharfer Weise ablehnte, und zwar
in einer so scharfen Weise, daß wir diese Besprechung ablehnten. Rössels-
Besprechung ist mit einem solchen Fleiße und mit solcher Gewissenhaftig-
keit und Sachlichkeit gearbeitet, daß für uns kein Grund bestand, sie
nicht aufzunehmen, zumal wir es immer für eine unserer vornehmsten
Aufgaben gehalten haben, die Interessen der Heilpädagogik nach Kräften:
zu wahren. Diese Interessen wurden aber durch Herrn Major bedroht.
— Daß wir den Ton, den Herr Major in seiuer Antikritik anzuschlagen
beliebt, nicht billigen, versteht sich von selbst. Er mag also hierin selbst
das Urteil über sich sprechen. Im übrigen verweisen wir die Leser noch
auf Herrn Majors »Eingesandt« in der »Zeitschrift für die Behandlung
Schwachsinniger« (Jahrg. XXXIII, Heft 2, S. 383—40) und auf die treff-
liche Erwiderung, die es dort durch Dr. med. Meltzer gefunden hat.
Jena. Die Schriftleitung
der Zeitschrift für Kinderforschung.
Wir bemerken zu den Ausführungen des Herrn Gustav Major, daß
auch wir »die sonst übliche Gewohnheit« haben, Belegexemplare abzugeben,
die wir den Verlegern der besprochenen Werke zuzustellen pflegen.
Langensalza. Der Verlag
der Zeitschrift für Kinderforschung
Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).
272. B. Mitteilungen.
Berlin-Seehof, den 9. Febr. 1913.
Herrn Direktor J. Trüper
Jena.
Anruhend gestatte ich mir höflichst, Ihnen eine Entgegnung zu den
Kritiken der Herren Rössel und Wilker zum freundlichen Abdruck zu über-
senden in der Annahme, daß es nicht in Ihrer Absicht liegt, unsachliche
und unanständige Beurteilungen durch Ihre Zeitschrift zu verbreiten.
Gleichzeitig erkläre ich, daß ich auf weitere persönliche Äußerungen der
Herren nicht erwidern werde.
Hochachtend
Gustav Major.
Zu den Kritiken der Herren Rössel und Wilker in dieser Zeitschrift,
17. Jahrgang, Juni- und September-Heft.
Man wird sich wohl wundern, daß ich erst jetzt gegen diese an-
maßenden, unsachlichen, leichtfertigen (Rössel) und persönlichen und den
Anforderungen des Anstandes nicht entsprechenden (Wilker) Kritiken
Stellung nehme. Doch das hat seine Gründe. Ich lese die Zeitschrift
für Kinderforschung nicht, und der Verlag hat nicht die sonst übliche
Gewohnheit, Belegexemplare abzugeben, so daß ich von den Kritiken keine
Ahnung hatte. Am 21. Juni 1912 sandte mir ein Ausschnittbüro die
Kritik von Rössel zu mit dem Bemerken, die sei in der Zeitschrift für
Philosophie und Pädagogik erschienen. Ich schrieb sofort eine Entgegnung
für diese Zeitschrift, die selbstverständlich nicht erscheinen konnte, dieweil
die Kritik nicht in dieser Zeitschrift erschienen war. Meine Entgegnung
erhielt ich nicht zurück. Jetzt machten mich die Redakteure einer neuen
Zeitschrift auf beide Kritiken aufmerksam, weil sie glaubten, unter diesen
Umständen keine Arbeiten von mir annehmen zu können, ein Standpunkt,
den ich nicht verstehe, da doch jeder Redakteur sich sein eigen Urteil
bilde. So wurde ich gezwungen, die Herren um Überlassung dieser
Kritiken zu bitten, worauf ich nun jetzt erwidere.
Ich gebe die Entgegnung zur Kritik des Herrn Rössel wörtlich wieder,
wie ich sie gleich im Juni v. J. schrieb.
Herr Rössel hat sich in sehr eingehender Weise mit meinem Werk
beschäftigt. Daß er zu einer ablehnenden Kritik kommt, ist seine persön-
liche Angelegenheit, doch darf er nicht glauben, daß er dadurch den Wert
oder Unwert meines Buches auch nur um ein Jota verschieben wird. Es
ist wohl ein seltener, vielleicht noch nicht dagewesener Fall, daß ein
junger Mann, der sich erst einige Jahre mit der Psychopathologie be-
schäftigt, glaubt, sein Urteil sei allein richtig, und die andern Herren,
gegen 50, die alle schon mit anerkanntem Erfolg im Spezialgebiete tätig
sind, seien urteilsunfähig.
Unsachlich und bodenlos leichtfertig geht H. Rössel in seiner Be-
urteilung vor, dafür nur drei Beispiele:
1. H. Rössel führt auf Seite 439 in der Fußnote ein Urteil über
eine frühere Publikation von mir an, die das Anhängen der Sommerschen
3. Bemerkungen zu den Besprechungen Majorscher Schriften. 273
Fragebogen ohne Autornennung rügt, unterläßt aber die Erklärung von
Prof. Sommer und mir anzufügen, welche die Aufnahme der Fragebogen
als vom Redakteur Prof. Meumann vollzogen, feststellt;
2. stellt H. Rössel fest, daß die Zeichnung zu dem Kapitel Kinder-
lähmung ohne Quellenangabe von Hoffa übernommen sei. Dabei steht
unter der Zeichnung »nach Hoffa«, und weiter »die einleitenden Be-
merkungen seien von Hoffa übernommen, diese Zeitschrift 6. Jahrgange,
und ich kenne diese Publikation nicht;
3. soll ich bei dem Kapitel über psychopathische Konstitution Stroh-
mayer benutzt haben, was wohl schon deshalb unmöglich ist, weil meine
Arbeit fertig war, als Strohmayer mir zu Gesicht kam, ja vielleicht war
Strohmayer damals noch gar nicht erschienen.
In gleicher Weise könnte ich alle Einwände widerlegen, unterlasse
es aber im Interesse der Leser, die an so persönlichen Sachen nicht Ge-
fallen finden werden gleich mir, und in Ansehung der Tatsache, daß mein
Werk überall beste Aufnahme gefunden hat, was sogar H. Rössel zu-
gestehen muß. Nur von zwei Kritikern habe ich ablehnende Beurteilungen
bekommen (der eine ist H. Wilker!!!!), und mit diesen Kritikern geht
H. Rössel in seiner Kritik parallel, was die Annahme gewisser Zusammen-
arbeit aus irgend welchen, mir gleichgültigen Interessen, nahelegt!!!!!
Ich erkläre auf das Bestimmteste, daß ich bei meiner Ausarbeitung nicht
einmal Ziehen (Die Geisteskrankheiten des Kindesalters) benutzt habe,
daß ich aber lange Jahre vorher Ziehens Werk, als bestes auf dem Spezial-
gebiete, meinen Studien und meinen vielen Untersuchungen zugrunde ge-
legt habe. Die Einteilung nach Ziehen ist so gebräuchlich, daß niemand
mehr daran denkt, den Autor zu nennen.
Die Ansicht, »daß man vielfach von Plagiaten reden kann«, weise
ich ebenso höflich als bestimmt zurück, und ich würde andere Schritte
unternehmen, wenn die Kritik des H. Rössel ernst zu nehmen wäre, und
nicht überall eine grenzenlose Leichtfertigkeit und ein subjektives Urteil
einem entgegenleuchtet, was die Kritik an sich schon charakterisiert und
werte. Wie weit ich mich auf dem Grenzgebiet, soweit die Medizin in
Frage steht, als auf »ureigenstem Gebiet« bewege, entzieht sich allerdings
H. Rössels Beurteilung, doch ist es eine unqualifizierbare Anmaßung eines
jungen Mannes, meine Kenntnisse in Zweifel zu ziehen. Hier liegt der
Schwerpunkt seiner Kritik, von dieser Warte aus ist sie zu werten.
Recht hat H. Rössel in bezug auf die Fehler im Stil und Interpunktion.
Leider konnte ich die Korrektur nicht immer selbst lesen. Doch in der
nächsten Auflage sollen diese Mängel beseitigt werden, welche doch den
Wert des Werkes 'an sich nicht beeinträchtigen.
Soweit die alte Entgegnung, ich habe jetzt nur noch hinzuzufügen,
daß H. Rössels persönliche Triebfeder auch darin zum Ausdruck kommt,
daß er auf frühere Publikationen zurückgreift und überdies falsch be-
richtet. (Absichtlich?)
Die Wilkersche Kritik ist subjektiv und hat daher auch keine
Beweiskraft, sie ist dazu »unanständig«e, denn mit welchera Rechte darf
Zeitschrift für Kinderforschung, 18. Jahrgang. 18
974 B. Mitteilungen.
jemand einen andern verdächtigen? Wie kommt H. Wilker dazu, mir die
Ankündigung meiner Schrift im Diedrichschen Verlage!) unterschieben zu
wollen? Wenn der Verlag davon nichts weiß und ich auch nicht, so liegt
doch der Gedanke zwingend und greifbar nahe, daß ein Dritter im Spiele
ist, sobald es sich um meine Person handelt!!!
Keinem Menschen, außer H. Wilker, fällt es ein, zu behaupten, daß
es literarisch unanständig sei, wenn man Erkenntnisse, die Allgemeingut
geworden sind, weitergibt ohne Nennung des Autors; dazu ist meine
Arbeit ein wörtlicher Abdruck eines Öffentlichen Vortrages, der (höre
H. Wilker) sehr beifällig aufgenommen wurde und der großes Interesse
weckte.
Entschieden unerlaubt und »unanständig« ist es, die Kenntnisse eines
andern auf Grund eines Druckfehlers in Frage zu stellen. Witzchen und
Mätzchen wirken nie überzeugend und sind wissenschaftlich unzulässig.
Als Gegenstück zu den beiden Kritiken der genannten Herren sei es
mir gestattet, kurz aus einer andern Kritik eines allgemein bekannten und
wissenschaftlich geachteten Mannes ein Urteil anzuführen, das diese Kritiken
schön kennzeichnen und entkräften wird (persönliche Ruhmrederei traut
man mir wohl in dieser Sache nicht zu, wo es sich um Klärung der
Sachlage handelt. »Major ist nicht Arzt, wie man vermeinen sollte,
wenigstens kein studierter, aber wenn man diese seine Werke durchgeht,
hat man das Empfinden, als ob er den Arzt einfach übersprungen habe,
um sogleich bei der Hochschuldozentur zu landen.e — — — Auf der
einen Seite ein Flachkopf und gedankenarmer Mensch, der sich mit fremden
Federn schmückt, auf der andern Seite ein Mensch zur Hochschuldozentur
geeignet. Ich glaube, beide Teile übertreiben, die Wahrheit liegt auch
hier in der Mitte.
Gesetzt Wilker und Rössel hätten recht, so müßten alle andern
Kritiker — Pädagogen, Heilpädagogen, Mediziner, Sozialpolitiker und
Journalisten — in Deutschland, Österreich, Schweiz und Amerika, die
mein Werk anerkannten, Schwachköpfe und urteilsunfähige Männer sein
und nur die Herren Wilker und Rössel hätten die Intelligenz auf unserm
Gebiete in Pacht.
Ich bedauere im Interesse der Sache, daß genannte Herren ihre Zeit
nicht besser anwenden zum Besten der Kinder, und erkläre ausdrücklich,
daß ich hiermit meinerseits die Angelegenheit als erledigt ansehe, da ich
meine Zeit nutzbringend anwenden will, kann und muß. Objektiven
Urteilen und Entgegnungen weiß ich stets Dank, wo aber persönliche
Motive mitsprechen, habe ich keine Zeit. Ich weiß überhaupt nicht, was
mir die Ehre verschafft, daß sich die beiden genannten Herren so intensiv
mit mir beschäftigen? Wollen sie der Sache an sich dienen, so darf ich
sachliche Erörterungen erwarten und dann stehe ich wieder zur Disposition.
Gustav Major.
1) Gemeint ist Eugen Diederichs Verlag in Jena. K. W.
3. Bemerkungen zu den Besprechungen Majorscher Schriften. 275
Als ich beim Lesen des Buches »Unser Sorgenkind« mir über ver-
schiedene Punkte Klarheit verschaffen wollte, zog ich, da Major keine
Quellen angibt, die Bücher von Ziehen zum Nachschlagen heran. Da
fielen bald merkwürdige Übereinstimmungen auf, die ganz von selbst zu
weiteren Vergleichunger führten, aus denen dann schließlich mein Referat
entstehen mußte. Rein sachliche Gründe waren es also, die mich zu
dieser Arbeit führten. Die ablehnenden Kritiken von Dr. Wilker (Frank-
furter Zeitung) und Dr. Meltzer (Zeitschr. für die Behandlung Schwach-
sinniger) kamen mir erst zu Gesicht, als ich mitten in meinen Ver-
gleichungen war und sie schon nahezu abgeschlossen hatte. Die Unter-
schiebung von »persönlichen Sachen, persönlicher Triebfeder, persönlichen
Motivene muß ich aufs Bestimmteste und Schärfste zurückweisen.
Jeder Autor sollte es aber mit Freuden begrüßen, wenn sich andere mit
seinen Werken ernsthaft beschäftigen.
Nach Ausschaltung alles Persönlichen bleiben noch die drei ange-
führten Beispiele übrig.
I. Die Erklärang von Prof. Sommer und Major war mir bei der Ab-
fassung meines Referates noch nicht bekannt. Sie lautet: »In der Be-
sprechung über G. Majors Schrift ‚Die Erkennung und Behandlung des
jugendlichen Schwachsinns‘ hat E. Nathan (vergl. Bd. V, Heft 1 dieser
Zeitschrift) beanstandet, daß bei den abgedruckten Schematen der Name
des Autors (Sommer) nicht genannt ist.
Die Unterzeichneten erklären hierzu folgendes:
1. Nathans Angabe ist richtig.
2. Ein absichtliches Plagiat liegt nicht vor, sondern es handelt sich
um ein Versehen, das sich aus der Entstehung der Schrift erklärt.
Dieselbe war vorher in Meumanns Zeitschrift für experimentelle
Pädagogik abgedruckt, wo ihr die betreffenden Schemata bei-
gegeben wurden. Diese sind dann in der Broschüre ohne weiteres
mit abgedruckt worden.
3. Die Angelegenheit ist hierdurch erledigt.
Sommer. Major.
(Klinik für psychische und nervöse Krankheiten V. Bd., 3. Heft, 1910).«
Im übrigen berührt diese Angelegenheit meine Kritik nicht im Ge-
ringsten.
Soeben erhalte ich die Februarnummer der Zeitschrift für die Behand-
lung Schwachsinniger, in der H. Major auf die Rezension von Dr. Meltzer
antwortet. Da findet sich in der Majorschen Entgegnung folgender Satz
S. 39):
»Nur eine Ausstellung M.s’ (Meltzers) besteht zu Recht, die der
unterlassenen Bekanntgabe der Sommerschen Autorschaft in bezug auf
die Fragebogen. Doch trifft mich dieser sein Vorwurf nicht in seiner
ganzen Schwere, da die Fragebogen von Prof. Meumann angehängt
worden sind, als die Arbeit erschien, ich habe es dann leider übersehen,
in dem Sonderdruck die Quelle anzugeben, weil der alte Satz einfach
verwendet worden ist.«
18*
276 B. Mitteilungen.
Was also H. Major selbst als »zu Recht« bestehend zugibt, hindert
ihn nicht, daß er mich derselben Sache wegen als »unsachlich und bodenlos
leichtfertig« bezeichnet, daß er darin bei mir »eine persönliche Triebfeder«
und eine »falsche Berichterstattung (absichtlich?)« erkennt.
Hört nicht angesichts solcher Tatsachen eine ernsthafte Diskussion auf!
II. Die einleitenden Ausführungen über Kinderlähmungen sind im
Sorgenkind (S. 98—100, ohne Quellenangabe) und in der Broschüre:
Die Erkennung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns (S. 2—4)
dieselben. Ich schrieb nun: Die einleitenden Bemerkungen wurden ent-
nommen von Hoffa, diese Zeitschrift VI, S. 193.1) Dazu bemerkt jetzt
Major: »und ich kenne diese Publikation nicht«. Aber er kannte
sie. In genannter Broschüre, also bei den wörtlich übereinstimmenden
Ausführungen wie im Sorgenkind, steht S. 4: »Im Vorstehenden haben
wir uns an eine Arbeit von Prof. Hoffa angelehnt, welche in der
Zeitschrift für Kinderforschung 1901 erschienen ist und das für unsere Zwecke
Notwendige mitgeteilt.«e Aber Herr Major!
Unter der Zeichnung steht wohl »nach Hoffa«, aber nicht, daß sie
der Zeitschrift für Kinderforschung entnommen wurde.
III. Prof. Strohmayers Buch erschien früher als das Sorgenkind. In
Hinrichs Katalog ist Strohmayers Buch schon als im Jahre 1909 er-
schienen angegeben.
Ob es möglich ist, daß jemand in seinem Buche mit anderen Büchern,
die er lange Jahre vorher seinen Studien zugrunde legte, in den von mir
gegebenen Gegenüberstellungen und Angaben so übereinstimmen kann,
möge jeder Leser an der Hand meines Referates selbst entscheiden.
Nun bitte ich noch die Leser auf Grund meines Referates (Juni 1912)
und dieser Erklärungen zu prüfen, ob der junge Mann
anmaßend, unsachlich, leichtfertig, bodenlos leichtfertig war, ob er sieh
grenzenloser Leichtfertigkeit schuldig machte, wo er sich unqualifizierte
Anmaßungen erlaubte, wo persönliche Triebfedern, persönliche Motive,
falsche Berichterstattung (absichtlich?) zum Ausdruck kommen.
Diese Tonart einzuschätzen und zu entscheiden, was ernst zu nehmen
ist, mein Referat oder die Entgegnung des Herrn Major, darf ich wohl
ebenfalls dem Leser überlassen. Mit weiterem sachlichen Material zur
Beurteilung des Buches »Unser Sorgenkind« kann ich noch dienen.
Hamburg. Fr. Rössel.
Da Herr Major sich mit mir nicht in sachlicher, sondern in rein
persönlicher Weise auseinandersetzt, kann ich mir eine Entgegnung voll-
ständig ersparen. Ich betone nur noch ausdrücklich, daß es einem denken-
den Leser nicht verborgen geblieben sein kann, daß ich mit dem ersten
Satze meiner Besprechung nicht im geringsten gegen den Autor des Buches
einen Vorwurf erhoben, sondern nur eine Tatsache festgestellt und als
etwas, was nicht vorkommen darf, charakterisiert habe.
1) Auch erschienen als Heft IV der »Beiträge zur Kinderforschung und Heil-
erziehung« unter dem Titel: »Die medizinisch -pädagogische Behandlung gelähmter
Kinder« von Prof. Dr. A. Hoffa in Würzburg. Mit einer Tafel. 16 S. Preis 40 Pf.
4. Aufruf betreffend Sammlung von Fragebogen, Führungslisten usw. 277
Ich kenne Herrn Major nicht. Er geht mich nur insoweit an, als
wir auf ein und demselben Gebiete wissenschaftlich arbeiten. Daß ich
mich bemühe, auf diesem meinen wissenschaftlichen Arbeitsgebiete nach
Möglichkeit gesunde Zustände herbeizuführen oder doch herbeiführen zu
helfen, wird mir kein Mensch verbieten und verargen können.
Jena. Karl Wilker.
4. Aufruf betreffend Sammlung von Fragebogen,
Führungslisten, Individualitätsbogen u. dergl., die in
Schulen verwandt werden.
Eine eben erst wissenschaftlich begründete psychologische Methode,
die Psychographie, dürfte für den Erzieher große Bedeutung ge-
winnen. Das Interesse des Psychographen geht nicht auf das Allgemein-
Gültige, sondern auf das in seiner Eigenart immer nur einmal existierende
Individuum; es betätigt sich in einer Seelenanalyse, die alle an dem zu
untersuchenden Individuum empirisch feststellbaren psychischen Funktionen
und Eigenschaften zu bestimmen sucht — und zwar ist diese Analyse
orientiert am psychographischen Generalschema, d. h. einer »nach über-
sichtlichen Einteilungsprinzipien geordneten Liste aller derjenigen Merk-
male, die für die Erforschung von Individualitäten möglicherweise in Be-
tracht kommen können«. Die Psychographie bietet dem Lehrer ein neues
Hilfsmittel zur Lösung seiner ebenso schwierigen, wie wichtigen Aufgabe,
in der rechten Weise zu individualisieren.
Es ist nun gegenwärtig eine wissenschaftliche Untersuchung im Gange,
welche die Beziehungen zwischen der neuen psychographischen
Methode und der pädagogischen Praxis zum Gegenstande hat. Zu
diesem Zweck erscheint eine Sammlung der Fragebogen, Listen,
Schemata usw. notwendig, die bereits in Schulen — und zwar nicht
nur Schulen für Minderbefähigte oder Mindersinnige, sondern auch in
Normalschulen — ferner auch in Internaten usw. Verwendung finden oder
gefunden haben bei Abfassung von Schülercharakteristiken, Schüler-
oder Individualitätsbildern, Führungsattesten u. dergl. Es er-
geht daher an alle diejenigen, denen solche Listen zur Verfügung stehen,
die dringende Bitte, Probeformulare — wenn möglich von jeder Sorte
zwei — einzusenden mit der Angabe, wo die Listen benutzt werden
oder wurden. Die übersandten Exemplare werden nach Beendigung der
beabsichtigten Arbeit in der ständigen Ausstellung des unterzeichneten
Instituts, die der Deutschen Unterrichtsausstellung (Berlin, Friedrichstr. 126)
angegliedert ist, gesammelt und Interessenten dauernd zugänglich gemacht
werden.
Alle Sendungen bitten wir zu richten an Herrn Alfred Mann, cand.
philos, Breslau XVI, Piastenstraße 8, hpt.
Institut für angewandte Psychologie und psychologische
Sammelforschung.
(Institut der Gesellschaft für experimentelle Psychologie.)
Stern. Lipmann.
278 -B. Mitteilungen.
5. Zeitgeschichtliches.
Der I. Deutsche Kongreß für alkoholfreie Jugenderziehung findet
nunmehr bestimmt vom 26.—28. März 1913 in Berlin statt. Vorangeht am
25. März eine Einführung in den Inhalt und die allgemeine Bedeutung der Alkohol-
frage. Anmeldungen und Programmbestellungen an die Geschäftsstelle des Kon-
gresses, Berlin W. 15, Uhlandstraße 146. Der Eintritt ist frei.
Einen Kursus über die Behandlung schwachsinniger Kinder hält
Erziehungsinspektor Piper-Dalldorf vom 25. März bis zum 5. April ab. Anmel-
dungen sind bis zum 16. März an ihn zu richten.
Die Stadt Bremen will mit dem 1. April 1913 ein »Jugendamt« schaffen,
eine Zentrale, von der aus alle Zweige der öffentlichen Jugendpflege geleitet und
gefördert werden sollen.
In Essen (Ruhr) wurden zur Pflege und Beaufsichtiguug der schulpflichtigen
Kinder Schulschwestern angestellt.
Das Education Comittee of the London County Council empfiehlt
die Anstellung eines Fachpsychologen zu fachmännischer Beratung der Schul-
männer namentlich in allen Fällen, wo es sich um Einschulung schwachbefähigter
Kinder handelt.
Ein Antrag betreffend Heraufsetzung des strafmündigen Alters auf
das 14. Lebensjahr wurde von der Kommission für die Jugendgerichtshöfe im deut-
schen Reichstag angenommen.
Vor dem Münchener Jugendgericht wurden 1909 169 Jugendliche ver-
urteilt und zugleich bedingt begnadigt. Während einer anderthalbjährigen Be-
gnadigungsfrist war die Führung bei 90 = 55°/, so gut, daß der Wegfall der Strafe
erfolgen konnte. Von den Knaben konnte 1'/,°/, mehr Straferlaß zuteil werden
als von den Mädchen. Der Grund dafür dürfte zu suchen sein in dem starken
Rückfälligwerden der wegen Gewerbsunzucht bestraften Mädchen (von 15 10).
Für den Regierungsbezirk Frankfurt (Main) ist eine Polizeiverordnung er-
lassen, nach der Kinder unter sechs Jahren vollständig vom Besuch der öffentlichen
Kinovorstellungen (Lichtspieltheater) ausgeschlossen sind. Kinder und Jugend-
liche im Alter von 6—16 Jahren dürfen die besonderen Jugendvorstellungen be-
suchen, deren Spielplan von der Ortspolizeibehörde genehmigt ist; doch müssen
diese Vorstellungen bis abends 8 Uhr ihr Ende erreicht haben.
Ein Gesetz zum Schutze der Kinder und Haustiere wurde in der
Republik Panama erlassen. Nach einem Aufsatz Alfredo Hartwigs im Dezember-
heft der »Blätter für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirschaftlehre«
lautet Artikel 1 dieses Gesetzes: »Wer in unmenschlicher Weise ein Kind straft,
ihm Wasser oder Nahrungsmittel entzieht, oder von ihm eine Arbeitsleistung verlangt,
welche seine Veranlagungen übersteigt, soll mit einer Geldstrafe von 5—25 Balboas
für jede dieser Handlungen bestraft werden.« Von Bedeutung ist ferner Artikel 5:
»Jede Person, welche Zeuge einer gegen ein Kind oder gegen ein Tier begangenen
Grausamkeit ist, hat die Verpflichtung, der Behörde hiervon Anzeige zu machen,
widrigenfalls sie selbst wegen Mittäterschaft zur Bestrafung herangezogen wird und
die Hälfte der dem Haupttäter zukommenden Geldstrafe zu erlegen hat.«
Dem Deutschen Reichstag ist im Dezember 1912 eine Anfrage des Ab-
geordneten Dr. Werner (Gießen) zugegangen, ob dem Reichskanzler die traurigen
Tatsachen des Kinderhandels bekannt seien, und was dagegen getan werde
oder getan werden solle. — Die sozialdemokratische Fraktion des Deutschen
Reichstags plant einen Gesetzesantrag gegen den Kinderhandel.
Die Amtsvormundschaft der Stadt Bern wendet sich in einer öffent-
lichen Bekanntmachung gegen den Kinderhandel. Es heißt darin u. a.:
»Die vom Amtsvormund auf verschiedene Zeitungs- und Anzeigeinserate hin an-
gestellten Nachforschungen haben ergeben, daß die meisten Annoncen, die sich auf
Annahme oder Abgabe von Kindern zur Adoption beziehen, in Wirklichkeit auf
verkappten Kinderhandel hinauslaufen. Die Personen, die sich auf diesem Wege
zur Annahme eines Kindes melden, stecken regelmäßig in schwierigen finanziellen
C. Zeitschriftenschau. 279
Verhältnissen und suchen sich durch eine sogenannte Abfindungssumme wieder
aufzuhelfen. Diejenigen aber, die ihr Kind gegen eine Entschädigung anbieten,
suchen sich desselben auf möglichst *billige und bequeme Art zu entledigen.
Das Los derart verschacherter Kinder gehört zum Traurigsten, was es überhaupt
geben kann.«
Das bayerische Kultusministerium gestattete die Abgabe von */, Liter
Bier täglich an alle Kinder vom 12. Jahre an, die in den staatlichen Er-
ziehungsanstalten untergebracht sind. Vom 15. Jahre an dürfen sie '/, Liter Bier
erhalten. Auf eine Eingabe eines Vaters gegen diese Unsitte, von der sich der
einzelne Schüler trotz elterlichen Willens nicht befreien könne, entschied das
Bayerische Kultusministerium, daß zu einer anderweitigen Verfügung »gegenwärtig
für das Ministerium kein Grunde sei (Entscheid vom 6. November 1912). Damit
hat das Bayerische Kultusministerium sein bisher schon seltsames Verhalten gegen-
über der Alkoholbekämpfung noch seltsamer gemacht!
Schenkungen, Stiftungen usw.: 50C00 Mark für die Ermöglichung von
Landaufenthalt von schwächlichen oder rekonvaleszenten Kindern
Darmstadts (von Medizinalrat Merck-Darmstadt).
Die Elberfelder Waldschule wurde 1912 von 101 Knaben und 70 Mäd-
chen besucht. 24 Knaben und ebensoviele Mädchen konnten auch während der
Nacht in der Waldschule verbleiben. Die Erfolge sind als gut zu bezeichnen.
Der Fürsorgeverband Leipzig baut in Kleinmeusdorf ein Heil-
erziehungsheim für 128 Zöglinge, das folgenden Zwecken dienen soll: 1. Mög-
lichkeit der sofortigen Unterbringung jedes Minderjährigen, betreffs dessen Fürsorge-
erziehung oder vorläufige Unterbringung ($ 6 F. E.) angeordnet worden ist. 2. Ver-
teilung der Minderjährigen nach einheitlichen Grundsätzen (Überweisung zur Familien-
pflege, in das Krankenhaus, in Erziehungsanstalten und in das Heilerziehungsheim).
3. Psychiatrische Beobachtung und Untersuchung von Fürsorgezöglingen, die ihrer
psychopathischen Veranlagung wegen aus den Erziehungsanstalten zurückgegeben
werden. 4. Behandlung und Erziehung besonders schwer erziehbarer psycho-
pathischer F. Z. unter ständiger ärztlicher, psychiatrischer Mitwirkung. Die Anstalt
wird erbaut auf dem 24600 qm großen Gelände, das unmittelbar hinter der Heil-
anstalt Dösen liegt, von wo aus sie jederzeit und ausreichend ärztlich versorgt
werden kann. — Am 13. Januar 1913 fand die feierliche Grundsteinlegung statt.
— Zum Direktor wurde der pädagogische Beirat des städtischen Fürsorgeamtes zu
Dresden, Bürgerschullehrer Fritz Knauthe, berufen.
C. Zeitschriftenschau.
II. Anormalenpädagogik.
1. Tatsachen.
Büttner, Georg, Über nervöse Kinder. Heilpädagogische Schul- und Elternzeitung.
3, 6 (15. Juni 1912), S. 110—114.
Die Nervosität der Kinder verdient die größte Beachtung. Nur bei früh-
zeitigem und nachhaltigem Eingreifen kann sie erfolgreich behandelt werden. Von
verschiedenen Gesichtspunkten aus allgemein-verständlich behandelt.
Boek-Neumann, Henny, Kinderlaunen. Zeitschrift für Jugenderziehung und
Jugendfürsorge. 3, 8 (1. Januar 1913), S. 231—233.
Führt einige Beispiele aus einem Aufsatz Pauline Lombrosos in »Nuova-Anto-
logia« an, die die Schwierigkeiten launischer Kinder und ihrer Behandlung zeigen.
Witzmann, Hans, Vorliebe für glänzende Gegenstände. Heilpädagogische Schul-
und Elternzeitung. 3, 6 (15. Juni 1912), S. 114—116.
Beschreibung eines derartigen Falles beı einem Knaben.
280 C. Zeitschriftenschau.
Goddard, Henry H., Höhe und Gewicht schwachsinniger Kinder in amerikani-
schen Instituten. Eos. 8, 4 (Oktober 1912), S. 241—2650.
Die Zahl der Fälle beträgt 10844 (5923 männliche und 4921 weibliche) im
Alter von 1 Tag bis zum 60. Jahr. Sie verteilen sich auf 19 Anstalten. Die
Messungen selbst sind so genau wie möglich ausgefallen. An der Hand von 7 Dia-
grammen und 4 Tabellen werden die Ergebnisse besprochen. Bei der Geburt sind
die defektiven Kinder schwerer als normale. Dann aber bleiben sie hinter den
normalen zurück, und zwar um so mehr je größer der Defekt. Den Normalen am
nächsten stehen die »Moronen«, die zuerst ein normales Wachstum zeigen, dann
aber früher als die Normalen einen Stillstand aufzuweisen haben. Geschlechts-
unterschiede werden immer undeutlicher, je stärker die Defekte werden.
Blümcke, Krämpfe im Kindesalter, ihre Bedeutung und ihr ursächlicher Zu-
sammenhang mit dem jugendlichen Schwachsinn. Zeitschrift für die Behandlung
Schwachsinniger. 32, 12 (Dezember 1912), S. 241—256.
Man vergleiche das Referat über diesen Vortrag in dieser Zeitschrift. Jg. 18,
Heft 2, S. 75/76.
Bayerthal, Über die prophylaktischen Aufgaben des Schularztes auf dem Gebiete
der Nerven- und Geisteskrankheiten. Internationales Archiv für Schulhygiene.
1912, S. 508—510.
Diese Frage beginnt erst allmählich erörtert zu werden. Der Verfasser hofft,
in absehbarer Zeit ausführlich über dieses Problem schreiben zu können, und will
in dieser Arbeit nur auf ein kürzlich erschienenes bedeutungsvolles englisches Werk
hinweisen: Hollander, The first signs of insanity, their prevention and treatement.
Finckh, J., Die Nervenkrankheiten, ihre Ursachen und ihre Bekämpfung. Der
Arzt als Erzieher. 8 (1912), 3, S. 25—28; 4, 5. 37—40; 5, 5. 53—58; 6, S. 69
bis 71.
Besonders eingehend werden die Ursachen besprochen. Was über die Be-
handlung gesagt wird, beschränkt sich im wesentlichen auf prophylaktische Vorschläge-
Josefson, Arnold, Experimentelle Untersuchungen über die Möglichkeit einer
Übertragung der Kinderlähmung durch tote Gegenstände und durch Fiiegen.
Münch. Med. Wochenschrift 60, 2 (14. Januar 1913), S. 69—71.
Die Experimente zeigen, daß das Virus an toten Gegenständen haften und
virulent bleiben kann. An Fliegen konnte das nicht nachgewiesen werden.
Laqueur, A., Die Anwendung des Wasserheilverfahrens bei den verschiedenen
Formen von Lähmungen im Kindesalter. Zeitschrift für Krüppelfürsorge. V, 4
(Januar 1913), S. 281—288
Das Wasserheilverfahren ist ein wichtiges Unterstützungsmittel der sonst
üblichen Methoden. In gewissen Fällen kann ihm sogar entscheidende Bedeutung für
Besserung und Heilung zukommen. Die einzelnen Bäder usw. werden besprochen.
Baldrian, Karl, Taubstumme und hochgradig schwerhörige Kinder. Heilpäda-
gogische Schul- und Eliternzeitung. 3, 11 (November 1912), S. 197--202.
Taubstumme Kinder sollten um das siebente Lebensjahr Spezialanstalten an-
vertraut werden, in denen sie sprechen, schreiben und lesen lernen. Als Berufe
eignen sich für den Taubstummen solche, in denen er nicht auf sein Gehör an-
gewiesen ist, resp. auf rasch erteilte und zu erledigende mündliche Aufträge. Am
Schluß werden die Anstalten Wiens uud Niederösterreichs aufgezählt. Der ganze
Aufsatz ist besonders zur Aufklärung der Eltern bestimmt, die immer noch sehr zu
wünschen übrig läßt.
C. Zeitschriftenschau. 281
Nadoleczny, Lautbildung und Sprachstörungen mit Berücksichtigung der Stimm-
hygiene. Der Arzt als Erzieher. 8, 1912, 7, 8. 73—79; 8, S. 85—90.
Nach allgemeinen Eıörterungen über das Wesen der Sprache und über Ent-
wicklung von Sprache und Stimme werden die Sprachgebrechen und namentlich
ihre Heilung in drei Gruppen besprochen; und zwar solche, die beruhen 1. auf
Verminderung der Hörfähigkeit, 2. auf Störungen im Gehirn, 3. auf Fehlern der
Sprechwerkzeuge. Ein Literaturverzeichnis beschließt die Arbeit.
Klotz, Max, Die Behandlung der Enuresis nocturna. Deutsche med. Wochen-
schrift. 38, 49 (5. Dezember 1912), S. 2297—2300.
Die Enuresis muß ganz besonders individuell und sorgfältig behandelt werden.
Sie tritt sehr oft als Erscheinungsform einer neuro-psychopathischen Konstitution
auf. Die Behandlung ist vorwiegend suggestiv (Faradisation, subkutane Injektionen,
lokale kalte Duschen, Milieuwechsel, Hypnose). In anderen Fällen ist die recht
mühevolle mediko-pädagogische Behandlung angebracht (Wecken zu bestimmten.
Zeitpunkten), die bei konsequenter geduldiger Fortführung stets von Erfolg gekrönt
zu sein pflegt. Die Idealkost für Bettnässer ist die streng vegetarische.
Reiche, A., Einiges über Rachitis. Zeitschrift für Krüppelfürsorge. V, 4 (Januar
1913), S. 289—302.
Über die Ursache der Rachitis ist sehr viel gearbeitet. Feststeht, daß der
Kalkstoffwechsel des Organismus gestört ist. Als Ursache dieser Störung hat man
drei Theorien aufgestellt: Störung der inneren Sekretion ; infektiöse Störungen; reine
Stoffwechselerkrankungen. Befördert wird das Entstehen der englischen Krankheit
durch Mangel an frischer Luft und freier Bewegung. Dem abzuhelfen ist Aufgabe
der Therapie: Einrichtung von Heilstätten für Rachitiker, Hebung des Allgemein-
zustandes, Schaffung gesunder Wohnungen, Spielplätze usw. kommen dafür in Be-
tracht. — Unrichtig ist die Literaturangabe auf S. 296.
2. Konsequenzen.
Henze, Zur Richtigstellung und Abwehr. Die Hilfsschule. V, 11 (November
1912), S. 297 — 306.
Gegen Bornemanns Aufsatz »Gründet Hilfsschulen einklassige im »Evangeli-
schen Schulblatt«, 56, 9 (September 1912), S. 385—397. Es werden Bornemann
verschiedene Unrichtigkeiten nachgewiesen. Zum Schluß stellt der Verfasser seine
aus langjähriger Hilfsschulpraxis hervorgegangenen Forderungen den Bornemannschen
gegenüber: 1. Gründet Hilfsschulen, wo es nur irgend möglich ist; 2. wo genug
Schüler vorhanden sind, gründet mehrklassige Hilfsschulen, in denen der Lehrer
seine Klasse durchführt; 3. in einklassigen Hilfsschulen entlaste man den Lehrer
durch nur zweijährlich stattfindende Aufnahmen.
Ziegler, K.. Hilfsschule oder Idiotenanstalt? Die Hilfsschule. V, 12 (Dezember
1912), S. 332—335.
Polemik gegen Griesingers Aufsatz »Fürsorge für die Schwachbefähigten nach
dem Schulaustritte in Heft 8, aus dem man herauslesen könne: statt der Hilfs-
schulen Errichtung von Anstalten! Griesinger entgegnet darauf: er wünsche auch
für die Hilfsschulen nur ähnliche Einrichtungen wie in der Idiotenanstalt. » Wir
fordern ... Hilfsschule und Idiotenanstalt und dazwischen möglichst weitgehende
Differenzierung durch Errichtung von Tagesschulen, Kinderherbergen und Arbeits-
kolonien.«
Krenberger, S., Lehr- und Stundenplan einer Privaterziehungsanstalt für schwach-
sinnige Kinder. Eos. 8, 4 (Oktober 1912), S. 289—312.
282 C. Zeitschriftenschau.
Der Stundenplan ist für den zwar etwas kostspieligen Einzelunterricht auf-
gestellt, der danach bereits seit 20 Jahren erteilt wurde. Von der vorgesetzten Be-
hörde sind die Pläne seit 14 Jahren genehmigt. Sie sind fundiert auf die Lehren
Seguins, Bartholds, Zillers und Theodor Vogts.
Thir, Anton, Der Religionsunterricht an Hilfsschulen. Heilpädagogische Schul-
und Elternzeitung. 3, 12 (Dezember 1912), S. 215—220.
Versuch einer Stoffverteilung für eine fünfklassige Hilfsschule. Aufgabe des
Religionsunterrichts soll es sein, das schwachsinnige Kind zu einem praktischen
Christen zu machen.
Wehle, R. G., Schwerhörigen-Unterricht betr. Blätter für Taubstummenbildung.
XXV, 21 (1. November 1912), S. 327—329.
Die vielen Kinder mit leichter Gehörsherabsetzung können der Völksschule
nicht entnommen werden. Sie müssen angeleitet werden, vom Munde absehen zu
lernen. Diesen Absehunterricht könnten die,Volksschullehrer selbst erteilen, nament-
lich dann, wenn die Seminaristen künftig schon etwas auf diesen Unterricht vor-
bereitet werden.
Tilmann, O., Die chirurgische Behandlung der Epilepsie. Münch. Med. Wochen-
schrift. 59, 49 (3. Dezember 1912), S. 2683—2686.
Die chirurgische Behandlung kann nur bei Fällen in Betracht kommen, bei
denen jede erbliche oder angeborene Ursache, jede funktionelle Neurose, jede zu
Krämpfen führende Allgemeinerkrankung ausgeschlossen werden kann. Von einem
operativen Eingriffe lassen sich Erfolge erwarten.
Kokall, Heinrich, Die geistige Minderwertigkeit vom Standpunkte des Arztes,
Fortschritt oder Rückschritt? Heilpädagogische Schul- und Elternzeitung. 3, 6
(15. Juni 1912), S. 106—110.
Die Ausführungen sollen die Fürsorge für die geistig Minderwertigen nament-
lich bei den Stadtverwaltungen kräftig anregen. Sie warnen vor den Schlagwörtern
»Massen- und Rassendegeneratione.. Empfohlen werden alljährliche Erhebungen
über die Zahl der minderwertigen Kinder in den Volksschulen; Ausbau und obliga-
torische Gestaltung des schulärztlichen Dienstes in Österreich; Einrichtung von
Kinderschutzämtern; vermehrte Körperpflege; Ausbau der Kindergärten; Einrichtung
von Ferien- und Rekonvaleszentenheimen; Ausgestaltung der Hilfsschulen.
3. Erfolge.
V. österreichische Konferenz der Schwachsinnigenfürsorge. Heilpädagogische Schul-
und Elternzeitung. 3, 5 (15. Mai 1912), S. 96—104; 6 (15. Juni), S. 116—122.
Ausführliches Referat.
Kirmsse, M., Die XIV. Konferenz des Vereines für Erziehung, Unterricht jund
Pflege Geistesschwacher in Bielefeld vom 8.—11. September 1912. Heilpädago-
gische Schul- und Eiternzeitung. 3, 11 (November 1912), S. 202—208.
Eingehender Bericht.
Josaphat, Die VII. Konferenz des Verbandes der katholischen Anstalten Deutsch-
lands für Geistesschwache. Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger.
32, 11 (November 1912), S. 238—239.
Kurzer Bericht über die Tagung, die vom 19.—21. August in Dorsten (West-
falen) stattfand. Die nächstjährige Konferenz (1913) soll in der Anstalt »St. Andreas«
zu Sennheim (O.-Elsaß) stattfinden.
C. Zeitschriftenschau. 283
Dreßler, Der IV. Berliner Ausbildungskursus für Hilfsschullehrer und -lehrerinnen.
Die Hilfsschule. V, 11 (November 1912), S. 306—308.
Der Kursus, über den kurz berichtet wird, fand vom 15. August bis zum
11. September 1912 statt und war von 5 Damen und 47 Herren besucht.
Backhausen, Rückblick auf den Instruktionskursus für Fürsorgeerziehung vom
14.—19. Oktober d. J. Der Monatsbote aus dem Stephansstift. 33, 11 (November
1912), S. 189—199.
Versuch einer »Zusammenstellung des geistigen Ertrages der Verhandlungen«,
beschränkt auf grundsätzlich wichtige Dinge und Wahrnehmungen aus den Vorträgen
und Diskussionen.
Kockegey, Paul, Der II. Hilfsschulkursus in Breslau. Die Hilfsschule. V, 12
(Dezember 1912), S. 335—338.
Der Kursus reiht sich seinen Vorgängern würdig an. Er fand vom 7. bis
26. Oktober statt und war von 27 auswärtigen und 34 einheimischen Teilnehmern
besucht.
Loeper, Zur Fürsorge für unsere sprachlich belasteten Kinder. Die Hilfsschule.
V, 12 (Dezember 1912), S. 326—332.
Etwa 11/,—1'/,°/, aller Schulkinder leiden an Stottern, dessen Ursprung zu-
meist in der häuslichen Erziehung zu suchen ist, während die Schule das Übel
vollendet. Die zweckmäßigste Bekämpfung dürfte die Einrichtung sogenannter Vor-
kurse sein, wie sie in Kiel und Hannover erfolgreich eingerichtet sind. Auf Grund
seiner Beobachtungen in diesen Kursen kommt der Verfasser zu der Ansicht, daß
sie nicht nur auf die Sprachbildung, sondern auch auf die körperliche Gewandtheit
und die ganze geistige Entwicklung günstig einwirken. Eine Lektion und Mit-
teilungen aus dem Lehrplan des Vorkursus in Hannover zeigen, daß der Unterricht
auch für normalsprechende Kinder fruchtbar gemacht werden kann. Er ersetzt zum
Teil den Fröbelschen Kindergarten.
Forchhammer. G.. Schädigt mein Mund-Handsystem das Absehen? (Antwort an
Brand-Stade.) Blätter für Taubstummenbildung. 26, 1 (1. Januar 1913), S. 5—9.
Das Mund-Handsystem schadet dem Absehen nicht, es schafft ohne besondere
Übung Absehen.
Schenk, Alwin, Fürsorge für die aus der Hilfsschule entlassenen Kinder. Heil-
pädagogische Schul- und Elternzeitung. 3, 10 (Oktober 1912), S. 173—182;
11 (November), S. 193—197.
Für die nachschulpflichtige Zeit lassen sich die Hilfsschulzöglinge in drei
Gruppen ordnen: 1. solche, die in einer freien Lehre oder sonstigen Arbeitsstelle
zur Selbständigkeit geführt werden können (Fortbildungsschule für Schwachbefähigte);
2. solche, die nicht fähig genug sind, sich in einer freien Lehre oder selbständig zu
behaupten, die aber bei sachgemäßer Ausbildung noch zu freier Betätigung geführt
werden können (Arbeitslehrkolonie); 3. solche, die wegen ihrer geringen Intelligenz
den Weg durchs Leben nicht finden, aber doch noch für die Allgemeinheit nutzbar
gemacht werden können. Die einzelnen Kategorien werden eingehend besprochen.
Das neue Wehrgesetz. Heilpädagogische Schul- und Elternzeitung. 3, 12 (Dezember
1912), S. 213—215.
Am 5. Juli 1912 ist in Österreich ein neues Wehrgesetz in Kraft getreten,
Die neuen Wehrvorschriften enthalten wesentliche Bestimmungen zum Schutze
Schwachsinniger, die im Wortlaut mitgeteilt werden.
Die Einweihung des neuen Taubstummblindenheims in Nowawes. Blätter für Taub-
stummenbildung. 26, 1 (1. Januar 1913), 8. 12—14.
284 C. Zeitschriftenschau.
Das Heim wurde am 5. Dezember 1912 feierlich eingeweiht. Es ist mit einem
Kostenaufwand von 260000 Mark für 60 Personen eingerichtet. 31 Zöglinge sind
vorläufig in der Anstalt untergebracht. (Im übrigen Beschreibung der Einweihungs-
feierlichkeiten.)
Sartorius, Benvenuto. Das Erziehungsheim und Jugendsanatorium auf der
Sophienhöhe bei Jena. Deutsche Monatsschrift für Rußland. 1, 11 (14. November
1912), S. 999—1008.
Will versuchen, den Eindruck, den die Anstalt auf den Laien macht, wieder-
zugeben. Verschiedene Abbildungen illustrieren das Gesagte. (Seltsam und un-
richtig ist die Schreibweise: »Heilserziehungsheim«, die des öfteren wiederkehrt.
Professor Rein kann nie und nimmer als »Bahnbrecher auf dem Gebiete experimen-
teller Pädagogik« bezeichnet werden.)
Pabisch, Marie, Fürsorge für Schwachsinnige in England. Heilpädagogische
Schul- und Elternzeitung. III, 9 (September 1912), S. 161—164; 10 (Oktober),
S. 182—188.
Bemerkenswert ist besonders, daß ungefähr 34—44°/, der aus der Schule
entlassenen Schwachsinnigen zuerst kleine unregelmäßige Löhne verdienen, hernach
aber ganz dem Elend anheimfallen. Ein ganz besonders großer Übelstand ist es,
daß die 16jährigen Schwachsinnigen sich selbst überlassen werden. Es bestehen
150 Spezialanstalten mit 8000 schwachsinnigen Kindern, davon 89 mit 6485 in London.
Hogerheyde, J., Über den Zustand des Unterrichtes der Taubstummen in Belgien.
Eos. 8, 4 (Oktober 1912), S. 288—289.
Trotz langer Lehrjahre lernt kaum ein Zehntel der Schüler, einen ordentlichen
Brief oder eine Karte zu schreiben. Diese Mißerfolge liegen daran, daß das Lehr-
personal oft nicht einmal die Lehrbefähigung für Volksschulen hat, daß Schüler
während des ganzen Jahres und oft nur aus finanziellem Interesse aufgenommen
werden, daß den Revisoren täuschende Paradevorführungen gemacht werden. In
einzelnen Handwerken leisten die Schüler zuweilen Gutes.
Kirmsse, M., Prof. Dr. X. Linzbauer. Heilpädagogische Schul- und Elternzeitung.
3, 12 (Dezember 1912), S. 221—228.
Linzbauer wurde 1807 geboren. Sein Todesjahr ist unbekannt, Er plante ein
großes Werk über das Gesamtbild des Kretinismus und der Idiotie. Die beabsichtigte
Einteilung wird ebenso wie verschiedene andere Literatur mitgeteilt.
Schmidt, Hugo, Die Ansichten des Abbe Bonnot de Condillac über geistig ver-
nachlässigte Kinder und Erwachsene. Eos. 8, 4, S. 260—272.
Condillac (1715—1780) muß zu den Vorläufern der pädagogischen Pathologie
gerechnet werden. Er hat genau beobachtet (nicht bloß wie seine Zeitgenossen
meistens nur tbeoretisiert!) und dabei zahlreiche Kinderfehler erkannt. Ursprung
und Veranlassung der Fehler sucht er auf einen allgemeinen Ursprung zurück-
zuführen (Gegensatz von Lust und Unlust oder Wert und Unwert in der Menschen-
seele. — Die Angabe auf S. 265 über Condillacs Kenntnis des Litauer wilden
Kindes läßt sich doch wohl bezweifeln, wenn man bedenkt, daß dieses Kind bereits
21 Jahre vor Condillacs Geburt aufgefunden wurde.
Spindler, Fritz, Edouard Meystre. Ein Vorläufer Helen Kellers. Blätter für
Taubstummenbildung. 26, 1 (1. Januar 1913), S. 9—12.
Er wurde mit 18 Jahren am 10. Juni 1845 in das Asyle des aveugles zu
Lausanne aufgenommen, wo er von Hermann Hirzel aus Zürich in bedeutender
Weise gefördert wurde. Hirzel suchte aus ihm eine selbständig denkende und
handelnde Persönlichkeit zu machen.
D. Literatur. 285
Schuyten, M. C., Die pädologische Weltbewegung, chronologisch zusammengefaßt.
Eos. 8, 4 (Oktober 1912), S. 272—288.
Nach einer Übersicht über die Pädologie (Unterabteilungen: Schulhygiene,
Anthropometrie, Physiologie, Psychologie für Normale, Abnorme und Tiere, Päda-
gogik für Normale und Abnorme, Soziologie, Verschiedenes) folgt eine chronologische
Darstellung des bisher Erreichten, die allerdings mehrfache Unrichtigkeiten enthält,
die zum Teil bereits in redaktionellen Anmerkungen richtig gestellt wurden, zum
Teil sich noch finden.
D. Literatur.
Ziehen, Theodor, Prof. Dr. med. et phil., Erkenntnistheorie auf psycho-
physiologischer und physikalischer Grundlage. Jena, Verlag von
Gustav Fischer, 1913. 571 S. Preis geh. 18 M, geb. 19 M.
Mit besonderer Freude zeigen wir den zahlreichen Verehrern, die Ziehen
gerade unter den Lesern dieser Zeitschrift besitzt, das Erscheinen seiner nunmehr
vollständig ausgearbeiteten Erkenntnistheorie an. Ohne daß seine früher veröffent-
lichte Darstellung hierdurch wertlos geworden wäre, bietet diese letzte Ausführung
seiner Erkenntnistheorie bemerkenswerte Verbesserungen in der umfassenderen
Anlage, den Untersuchungen mannigfaltigerer Einzelheiten, der Vermehrung von
Hin- und Nachweisen, der verfeinerten Analyse und zum Teil neuen Ausdrucks-
weise, sowohl in der Terminologie als auch in der Gesamtdarstellung. Wir müssen
es vorerst im wesentlichen bei einer allgemeingehaltenen Empfehlung des gewaltigen
philosophischen Werkes bewenden lassen, das in seiner systematischen Geschlossen-
heit und lichtvollen Klarheit zunächst den Eindruck eines Kunstwerkes hinterläßt,
welches man bewundert und nicht mit der allzukleinlichen Alltagskritik zu begreifen
sucht. Dem Fortschritt in der Erkenntnistheorie unter Ziehens Führung nach-
folgen, wird für viele ein völliges Umlernen und Umdenken bedeuten; dazu bedarf
es aber, außer der biologischen Vorbedingung, eines langen, eindringenden Studiums.
Aber man scheue nicht die Mühe; handelt es sich doch dabei um die höchsten
Werte der menschlichen Fähigkeiten, um das Streben nach Wahrheit, d. h. nach
einem widerspruchslosen Denken! Obwohl frei von jeder Neigung zum Pragmatis-
mus, verrät Ziehens geniales Werk doch wenigstens literarisch seine Beziehung
zu jenem durchaus nicht rein theoretischen Ursprung aller Wissenschaftslehre, der
in dem Streit der griechischen Philosophen und Sophisten zu suchen ist, als es den
ernsten Denkern darauf ankam, gegenüber den subjektiven Meinungen überindivi-
duelle Erkenntnisse festzustellen, wobei man, ohne anmutige Bosheiten peinlich zu
vermeiden, die klassische philosophische Dialektik ausbildete. Überindividuelle Er-
kenntnisse sind aber nicht übermenschliche Tatsachen oder gar metapsychische
Phänomene; ihre sachgemäße Analyse, so lehrt Ziehen, führt in jedem Falle nur
auf die beiden psychologischen Elemente, nämlich die nicht näher definierbaren,
sondern als Erlebnis gegebenen Empfindungen und Vorstellungen, bezw. deren Re-
duktionen. Ein »absolutes Sein« als Gegenstück zu einem Erkanntwerden ist er-
kenntnistheoretisch unnaltbar, die Diskussion eines »Objekts« in bezug auf ein er-
kennendes »Subjekt«, etwa in Hinsicht auf die Möglichkeit oder Notwendigkeit oder
Begrenzung der Erkenntnis, von vornherein ein widerspruchsvolles Unternebmen.
Das Problem der Erkenntnistheorie ist deshalb nicht die Frage: Was ist Erkenntnis
286 D. Literatur.
(im Sinne einer metaphysischen oder extrapsychischen Gewißheitstheorie)? —
sondern die Frage: Wie kommt Erkenntnis zustande? Das positive Ergebnis dieser
erkenntnistheoretischen Untersuchungen ist die Darstellung des Entwicklungsprozesses
allgemeiner, widerspruchsloser Vorstellungen. Ziehen löst diese Aufgabe mit allen
Mitteln seiner glänzenden universellen Bildung; die gewissenhafteste Aufmerksamkeit
beherrscht eine mächtige Vorstellungsfülle, die ihm aus einer reichen Lebenserfahrung
und einer kritischen Belesenheit, die ihresgleichen sucht, zuströmt, so daß er für
alle Einwände und Bedenken seiner Gegner vortrefflich gerüstet ist. Es ist voraus-
zusehen, daß Ziehens Werk einen Ehrenplatz in der Geschichte der Philosophie
einnehmen wird, — und welche Energie fruchtbaren Nachdenkens wird es auslösen!
Eingegangene Literatur.
Detleff Neumann-Neurode, Kindersport. Körperübungen für das frühe Kindes-
alter. Dritte verbess. Auflage. Potsdam, A. Stein, 1912. 76 S. Preis brosch.
2,25 M.
Adolf Röhr, Die deutsche Sprache in der Welt. Netzschkau, Albin Stein. 318.
Preis 40 Pf.
Hermann Horrix, Die Ausbildung des Hilfsschullehrers. Ein Vorschlag zu ihrer
Förderung. Halle a. S., Carl Marhold, 1912. 56 S. Preis 1 M.
Otto Stern, Der Taubstummenlehrerberuf. Stade, Friedrich Schaumburg, 1912.
80 S. Preis 1,50 M.
Fünfter Jahresbericht der Arbeitslehr-Kolonie und Beobachtungs-Anstalt »Stein-
mühle« Obererlenbach (Kupferhammer E. V.) für das Rechnungsjahr 1911—12.
22 Seiten.
55. Jahresbericht der Blinden-Erziehungsanstalt zu Illzach-Mülhausen. Im Nameu
des Verwaltungsrats erstattet von Prof. M. Kunz. Jahrgang 1911—1912. Mül-
hausen, Buchdruckerei Veuve Bader & Cie., 1912. 43 S. mit mehreren Tafeln.
M. Kunz, Antwort auf die Nachbemerkungen von Herrn Professor Dr. Meumann
im XII. Bande der »Zeitschrift für Päd. Psychologie und experimentelle Päda-
gogik« S. 632—34 und im XIII. Bande, Heft 9, S. 486—489 zu des Verfassers
Arbeiten über das Ferngefühl Blinder, Taubblinder und Vollsinniger. Mülhausen,
Ernest Meininger, 1912. 20 S.
Bericht über die Verhandlungen des Allgemeinen Fürsorgeerziehungs-
tages vom 24.—27. Juni 1912 in Dresden nebst Vorbericht: »Das Recht des
Kindes auf Erziehung und dessen Verwirklichung.< Hannover-Kleefeld, Stephans-
stift. Preis 2,95 M (einschließlich Porto).
Jahresbericht der Zwangserziehungsanstalt Trachselwald pro 1912. Buchdruckerei
Sumiswald. 26 S. 2 Tafeln.
64. Jahresbericht der Heil- und Pflegeanstalt Stetten i. Remstal in Württemberg
für Schwachsinnige und Epileptische (Anstalt der christlichen Liebestätigkeit).
Erstattet über das Jahr 1. Sept. 1911/12 von den Anstaltsvorstehern Inspektor
Pfarrer Reischle, Oberarzt Dr. Schott, Ökonomieverwalter Bräuninger. Schorn-
dorf, C. W. Mayersche Buchdruckerei. 69 S.
Verantwortliche Schriftleitung für Abhandlungen und Mitteilungen: Dir. J. Trüper,
Sophienhöhe b. Jena; für Zeitschriftenschau und Literatur: Dr. Karl Wilker, Jena,
Weißenburgstraße 27.
Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
Verlag von Hermann Beyer & Sönwe (Beyer & Mayn) in Langensalza
Das Seelenleben unserer Kinder
im vorschulpfliehtigen Alter.
Kinderpsychologische Betrachtungen für Eltern, Lehrer
und Kinderfreunde.
Von
Prof. Dr. Adolf Sellmann.
Mit 5 Tafeln.
VI und 146 Seiten. Preis 3 M., eleg. geb. 4 M.
Grundlagen für das Verständnis
krankhafter Seelenzustände
(psychopathischer Minderwertigkeiten)
beim Kinde
in SO Vorlesungen.
Für die Zwecke der Heilpädagogik, Jugendgerichte und Fürsorgeerziehung
von
Dr. med. Hermann,
Anstaltsarzt in Merzig a. d. Saar.
Mit 5 Tafeln.
Zweite Auflage.
XII und 180 Seiten. Preis 3 M., eleg. geb. 4 M.
Alkoholismus, Schwachsinn und Ver-
erbung in ihrer Bedeutung für die Schule.
(Nach dem Manuskript eines am 4. August 1911 in der Internationalen
Hygiene- Ausstellung zu Dresden gehaltenen Lichtbilder - Vortrages.)
Von
Dr. Karl Wilker
in Jena,
Mit 3 Tabellen und 2 Figuren im Text, sowie mit 22 Tafeln.
IV und 33 Seiten. Preis 1 M. 20 Pf.
_ Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
Verlag von Herwans Beyer & Some (Beyer & Mans) in Langensalza.
Joh. Friedr. Herbarts
Sämtliche Werke.
In chronologischer Reihenfolge
herausgegeben von
t Karl Kehrbach und Otto Flügel.
Vollständig in 20 Bänden.
Preis à 5 M, eleg. gebunden à 6 M 50 Pr.
Band XIV und XV heransgegeben von Otto Flügel
enthaltend reichhaltiges, bisher ungedrucktes Material über die Geschichte des
Herbartischen pädagogischen Universitätsseminars zu Königsberg, sowie
Band XVI—XIX herausgegeben von Theodor Fritzsch
enthaltend Briefe von und an J. F. Herbart,
werden vorläufig auch einzeln abgegeben.
Joh. Friedr. Herbarts |
Pädagogische Schriften.
Mit Herbarts Biographie herausgegeben
von
Dr. Fr. Bartholomäi.
Neu bearbeitet und mit erläuternden Anmerkungen versehen
von
Dr. E. von Sallwürk,
Geh. Rat, a. o. Mitglied der Akademie der Wissensch. zu Heidelberg.
l. Band: XII und 456 Seiten. Preis 3 M., eleg. geb. 4 M.
II. Band: VIII und 467 Seiten. Preis 3 M., eleg. geb. 4 M.
Handbuch für Jugendpflege.
Herausgegeben von der
Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge.
Schriftleitung: Dr. jur. Fr. Duensing- Berlin.
Herausgeber und Mitarbeiter des »Handbuchs für Jugendpflege« bieten
die sichere Gewähr, daß wir es hier mit einer Erscheinung zu tun haben, die
einer besonderen Anpreisung nicht bedarf.
Das »Handbuch für Jugendpflege« ist auf 12 bis 15 Lieferungen zu je
4 Bogen, Lexikonformat, berechnet. Der Preis der Lieferung beträgt 80 Pf.
Nach Abschluß des Werkes tritt eine Erhöhung des Preises ein.
Zu beziehen durch jede Buchhandlung. i
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrg. Heft 7.
Otto Stiemer
im Jünglingsalter.
(Nach einem Ölbild.)
Otto Stiemer
in späteren Jahren.
(Nach einer Photographie, )
>% ©
Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
en Se
BEREITET
80808 en
A. Abhandlungen.
1. Herbarts Pflegesohn.
(Mit 3 Abbildungen.)
Von
Dr. Karl Freye-Berlin.
Am 26. Januar des Jahres 1828 starb ein Freund Herbarts in
Königsberg, der Oberlehrer am dortigen altstädtischen Gymnasium
Georg Friedrich Stiemer, Mathematiker von Profession. Er
hatte sich als bedeutender Schulmann (so nennt ihn Herbart selbst)
des Philosophen Interesse erworben, und Herbart empfiehlt ihn auch
einmal dem Herausgeber der Jenaer Allgemeinen Literatur - Zeitung
zum Rezensenten seiner Schrift »De attentionis mensura«. Ab-
gesehen von diesen wissenschaftlichen Beziehungen, hat Herbart
mit Stiemer offenbar in nahem persönlichen Verkehr gestanden, und
er hat nach dem frühen Tode des Freundes (Stiemer war nur
41 Jahre alt geworden) Anteil genommen an dem Geschick seiner
Familie. Stiemers Gattin hatte für sieben Kinder zu sorgen, und
eines dieser Kinder mußte ihr besondere Sorge machen: in Otto
Stiemer, geboren am 1. Januar 1824, glomm das Fünkchen des
Geistes nur verborgen, und es schien sogar, als ob es niemals zum
Aufflackern kommen wollte; .das Kind war idiotisch und galt wohl
zunächst für rettungslos der geistigen Ausbildung verloren. Herbart
mußte es interessieren, ob dieser Knabe nicht doch heranzubilden sei.
Noch mehr aber scheint diese Aufgabe seine Gattin gelockt zu haben,
die keine eigenen Kinder hatte und an dem offenbar gutherzigen
Jungen wohl Gefallen fand, der es wohl auch eine Freude war, einer
befreundeten Frau zu helfen. Schon in Königsberg haben Herbarts
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 19
290 A. Abhandlungen.
offenbar den Knaben in ihren Haushalt aufgenommen, vielleicht nach-
dem ihn vorher eine andere Königsberger Dame, Frau Justizrätin Hahn,
unter ihrer Obhut gehabt hatte. Als Herbart 1833 nach Göttingen
übersiedelte, tauchte die Frage auf, was nun mit dem Kinde zu machen
sei. Besonders Frau Herbart scheint das begonnene Werk nicht haben
aufgeben zu wollen, und so setzte denn Herbart selbst am 13. Sep-
tember folgendes Schriftstück auf, das von Frau Charlotte Stiemer,
geb. Wiebe, sowie von zwei angesehenen Königsbergern mitunter-
zeichnet wurde. Herbarts Worte lauten:!)
»Die Frau Oberlehrer Stiemer hat im Sinn, ihren unglücklichen
Sohn Otto Stiemer meiner Frau zum Mitnehmen nach Göttingen
anzuvertrauen.
Indem ich dies zulasse: erkläre ich ausdrücklich und auf das
Bestimmteste, hiemit auf keine Weise eine Verpflichtung der Sorge
für künftiges Fortkommen des Knaben übernehmen zu wollen.
Vielmehr hat die Frau Oberlehrer Stiemer schon jetzt Ursache
darauf zu denken, auf welche Weise sie den Knaben nach Einem
oder zwey Jahren von Göttingen wieder abholen lassen wolle; indem
der Zweck, einige Fähigkeit zum Lernen in dem Knaben zu er-
wecken, in ein paar Jahren muß erreicht seyn, falls er überhaupt
kann erreicht werden.
Überhaupt behalte ich mir vor, den Knaben lediglich nach
meinem Willen aus meiner Wohnung zu entfernen, welches auch
der Grund davon seyn möchte; jedoch versteht sich von selbst, daß
ich alsdann der Frau Oberlehrer Stiemer oder ihren Verwandten
oder Bekannten Nachricht geben und Anstalt treffen werde, damit
anderweitig für den Augenblick das Nöthige geschehe, und für das
Abhohlen des Knaben gesorgt werden könne.
Frau Oberlehrer Stiemer giebt hiezu ihre Zustimmung; sie be-
scheinigt dieselbe durch eigenhändige Unterzeichung ihres Namens.
Sie sorgt überdies dafür, daß zwey angesehene, in öffentlichen
wichtigen Ämtern stehende Herrn mit unterzeichnen und siegeln,
welche hiemit erlauben, daß ich mich in Angelegenheiten dieses
Knaben an Sie wenden, wenn dessen Abhohlung nöthig wird, mit
ihnen correspondiren, und das Erforderliche verabreden könne.«
1) Das diesem Aufsatz zugrunde liegende Material habe ich meist selbst be-
schafft. Auf einiges wies mich Herr Dr. Th. Fritzsch. Die benutzten Briefe und
Urkunden sind jetzt auch gedruckt in Th. Fritzschs vierbändigem Werk »Briefe
von und an Herbart«, Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1912.
Freye: Herbarts Pflegesohn. 291
Die Mutter des Kindes fügte außer ihrer Namensunterschrift aus
eigenem Antriebe noch hinzu:
»Indem ich dieses mit dem tiefgefühltesten Danke, welchen ich
weder schriftlich noch mündlich auszudrücken vermag, den aber
Gott, der die tiefsten Tiefen des Herzens durchschauet, kennet, unter-
zeichne: erkläre ich hiemit noch freywillig und aus eignem Antriebe,
daß ich zu dem, was Herr oder Frau Prof. Herrbarth je zum Wohl
meines unglücklichen Kindes beschließen mögen, nicht allein aus
Grund meines Herzens, auch ohne vorhergehende schriftliche Anfrage,
meine Zustimmung gebe, sondern auch alles, was sie hiezu von
meiner Seite beyzubringen bestimmen werden, auf das genaueste
befolgen will; da ich das felsenfeste Vertrauen zu dem selten edlen
Herzen meiner und meines Kindes Wohlthätern habe, daß sie nur
das wählen werden, was zu dem wahren Wohle meines geliebten
Kindes führt.«
Die obigen Worte Herbarts, die ja beinah hart klingen, sind nur
berechtigte Vorsicht. Er konnte nicht mit Sicherheit voraussehen, wie
sich der bedauernswerte Junge weiter entwickeln werde, ob nicht
etwa bösartige Züge in ihm zum Vorschein kommen würden, und so
ließ er sich jenen Ausweg offen, um seine Frau eventuell von allzu
drückender Sorge sogleich befreien zu können. Es ist jedoch alles gut
gegangen, und Otto Stiemer ist von diesem Tage an noch 43 Jahre
mit Frau Herbart zusammen geblieben!
Über seine Weiterentwicklung in den nächstfolgenden Jahren
haben wir einzelne Zeugnisse.
Am 15. Dezember 1833 läßt Herbart der Mutter Ottos mitteilen,
daß der Junge die Masern glücklich überstanden habe, und daß seine
Frau sich sehr um ihn mühe. Wichtiger aber ist, was Herbart 1835
an den gleichen Königsberger Freund schreibt:
»Umstehend finden Sie ein Attest, welches die Frau Oberlehrer
Stiemer sehr nöthig haben wird, um das Erziehungsgeld für den Otto
zu heben. Belieben Sie ihr dabey zu sagen, Sie möge es nicht
hieher senden; meine Frau verlangt es nicht für sich, aber sie hat
bestimmt, daß es in die Hände der Frau Justizräthin Hahn abgegeben
werde; welcher letztern, so wie der Frau Oberlehrer Stiemer wir
uns bestens empfehlen.
Otto nimmt zu. Er hat rothe Backen, und plaudert viel, freylich
in einer Sprache ohne Flexion, aber die Wortstäimme weiß er doch
anzubringen. Mit dem Lesen quält sich meine Frau täglich; irgend
einmal wird er soweit kommen. Seine Phantasie ist die eines fünf-
jährigen Kindes.«
19*
292 A. Abhandlungen.
Wir haben uns natürlich vorzustellen, daß Herbart seiner Gattin
stets beistand bei ihren Bemühungen um den kranken Knaben. Was
mit ihm geschehen solle, mußte ihr aufs neue schwer auf die Seele
fallen, als Herbart 1841 gestorben war. Otto war damals 17 Jahre
alt. Ein Jahr später entschloß sie sich, für ihr weiteres Leben
wieder in das altvertraute Königsberg überzusiedeln; sie war ja die
Tochter eines englischen Konsuls in Memel, war in Königsberg in
Pension gewesen und hatte dort dann die ersten 22 Jahre ihrer Ehe
verlebt. Überdies besaß sie in Königsberg noch das alte Wohnhaus.
Der Umzug von Göttingen bis Königsberg stand ihr zunächst schwer
bevor: »Den 20sten reisen wir hier ab«, schreibt sie im August 1842
an einen Freund des Hauses, »nachdem wir mindestens 70 Cntr. gepackt
und Auction gehalten haben. Mir wird manchmal bange bei der
Weite des Weges; ich muß mir dazu ein sicheres Geleit von Oben
erbitten, sonst kann ich es nicht leisten, den Otto zurück zu bringen.«
Die äußeren Lebensmöglichkeiten Otto Stiemers waren dadurch
erschwert, daß er der Sprachwerkzeuge ohne unermüdliche Anleitung
vielleicht überhaupt nie mächtig geworden wäre, und daß er am Gehen
behindert war. Ein wegen der Militärdienstpflicht 1844 für ihn nieder-
geschriebenes ärztliches Zeugnis bezeichnet ihn als untauglich, da er
an Geistesschwäche und »an lähmungsartiger Schwäche mehrer Körper-
teile« leide. Von seiner geistigen Auffassungsfähigkeit gaben Herbarts
obige Worte einen Begriff. Wie weit ihn seine Pflegemutter etwa
1838 gebracht hatte, darüber erfahren wir Genaues seltsamerweise in
M. W. Drobischs »Empirischer Psychologie« (1842). In dem Buch
dieses Herbartschülers wird ohne Nennung eines Namens auf S. 95 f.
bei Auseinandersetzungen über das Gedächtnis das folgende berichtet
(es ist verbürgt, daß es sich dabei um Herbarts Pflegesohn handelt):
»Eine weit merkwürdigere Fähigkeit ähnlicher Art aber hatte ich
selbst vor mehreren Jahren Gelegenheit, an einem vierzehnjährigen,
früher für blödsinnig gehaltenen Knaben, der nur durch die unermüd-
lichen Bemühungen einer edlen Frau, die sich seiner angenommen
hatte, zu einer gewissen, jedoch für sein Alter immer noch sehr
niedrigen geistigen Entwicklung gelangt war, zu beobachten. Dieser
junge Mensch, der seines Sprachorgans nur sehr unvollkommen mächtig
war, hatte mit Mühe lesen gelernt, so daß sein stockendes und
stotterndes Vorlesen mehr ein Buchstabieren genannt werden konnte.
Gleichwohl besaß er eine so ganz erstaunliche Fähigkeit, sich die
Folge der Buchstaben und Worte anzueignen, und sie dann, wie in
eine innere Anschauung versunken, an sich vorübergehen zu lassen,
daß, wenn man ihm zwei bis drei Minuten gönnte, um ein gedrucktes
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrg. Heft 7.
Frau Herbart im Alter.
(Nach einer Photographie.)
Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
— a
Freye: Herbarts Pflegesohn. 293
Oktavblatt zu durchlaufen, er dann fähig war, aus dem bloßen Ge-
dächtnis die einzelnen Worte ebenso herauszubuchstabieren, als ob
das Buch aufgeschlagen vor ihm läge. Selbst wenn man einige
Zeilen übersprang, und ihm die Anfangsworte der neuen Zeile vorsagte,
las er dann, sich in seinem innern Bilde bald zurechtfindend, ungestört
fort, und das alles ohne sichtbare Anstrengung unter kindischem Lachen.
Daß hier durchaus keine Täuschung stattfinden konnte, hatte ich
Gelegenheit an einer damals eben in meine Hände gekommenen neuen
lateinischen Dissertation über einen juristischen Gegenstand zu er-
proben, die er also nie gesehen haben konnte, und wo Sprache und
Gegenstand ihm gleich fremd waren. Nichtsdestoweniger las er von
der ihm zum Durchlaufen vorgelegten Seite mehrere einander nicht
unmittelbar folgende Zeilen nicht schlechter, als ob das Experiment
mit einer Kindererzählung gemacht worden wäre. Sein Gedächtnis
behielt diese Schriftbilder auch längere Zeit. Andre haben diese
merkwürdige Fähigkeit des Knaben ebenfalls geprüft und bestätigt
gefunden. Ob sie wohl noch bleiben würde, wenn es gelänge, diesen
Menschen zum selbständigen Denken heranzubilden? Mich dünkt, mit
der Herrschaft der Reflexion müßte diese Receptivität weichen.«
Die in den letzten zwei Sätzen enthaltene allgemeine Bemerkung
konnte nun freilich durch Herbarts Pflegesohn nur bis zu einem ge-
wissen Grade bewiesen werden, denn zum selbständigen Denken über
abstrakte Punkte war Otto Stiemer allerdings nicht zu erziehen. Welchen
Eindruck er später im Mannesalter erweckte, davon läßt sich wieder
ein Bild machen, denn es leben heute noch Persönlichkeiten, die ihn
in diesen Jahren genau gekannt haben, ja die ihn und Frau Herbart
in dem gastlichen Königsberger Hause viele Male zusammen gesehen
haben. Er war groß und kräftig von Gestalt; Hände und namentlich
Füße aber waren in der regelmäßigen Bewegung erheblich behindert.
Trotzdem war er ein lebensfähiger Mensch geworden, der auch seine
entfernt wohnenden Verwandten allein zu besuchen vermochte, in
einem freilich höchst schwerfälligen Gange auf einwärts gerichteten
Füßen. Sehr bedeutend waren die Nachrichten, die er in seiner
schwer verständlichen Sprache überbrachte, nicht weiter; er hielt sich
an das zunächst Liegende, erzählte, wie das Wetter sei, was der Hund
zu Hause mache (er führte den seltsamen Hundenamen »Altes Hause),
und vor allem, daß es »Tante Mamachen« gut gehe — so pflegte er
die sehr rüstige Frau Herbart auch noch in späten Jahren zu nennen.
` Bis zu seinem 53. Jahre hat Otto Stiemer unter der Obhut der alten
Hofrätin Herbart gestanden, denn diese starb erst Ende 1876 mit
85 Jahren. In den nächsten freundschaftlichen Beziehungen standen
nn
294 A. Abhandlungen.
die beiden zur Familie Stiemer, die gleichfalls noch in Königsberg
wohnte. Ottos ältester Bruder pflegte der alten Dame, die freilich nie
krank sein wollte, Hausarztbesuche zu machen. Am Sonntagmorgen,
so wird überliefert, besuchten Stiemers sehr häufig den Verwandten
und die »Tante Herbart«. Otto Stiemer war bei solchen Zusammen-
künften mit die Hauptperson, er war durchaus imstande, an der Unter-
haltung über Dinge des täglichen Lebens teilzunehmen, einfache Spiele
— wie Domino — mitzuspielen; daneben zeigte sich freilich eine
Vorliebe für kindliche Tätigkeiten — er freute sich stets sehr über
elektrisierte Holundermarkkügelchen und pflegte in großer Geschwindig-
keit mit Hilfe einer zweizinkigen Holzgabel lange Enden »Schnurs
zu verfertigen, die er besuchenden Damen als Wäscheleinen usw.
schenkte. Für blonde Damen pflegte er die weiße Schnur mit einem
blauen Band zu umwinden, für dunkle Damen aber mit einem roten
Band. Dabei war er durchaus beliebt, ja gesellschaftlich geachtet,
überhaupt immer »mit dabeice. Er hielt sich auch Zeitungen, las
Bücher und ließ sich vorlesen — seine Lektüre wird sich natürlich
an durchaus sachliche Dinge gehalten haben; immerhin schenkte man
ihm z. B. ein Buch über den Krieg 1870/71. Daß er selbst je Briefe
geschrieben habe, ist nicht überliefert. Die Kirche besuchte er zu
Zeiten, wie auch Frau Herbart das tat, die im übrigen Züge kirchlicher
Frömmigkeit niemals zur Schau trug. Manchmal soll er auch eine
ganz verständige Bemerkung über die gehörte Predigt gemacht haben,
z. B. daß der Pastor über Politik gesprochen habe, und daß sich dies
doch nicht schicke.
An Frau Herbart hing Otto Stiemer in rührender Art, ebenso
rührend war die Sorgfalt der edlen Frau für ihn. In den beiden
Hausgenossen lebte auch noch das Gedächtnis an den längst ver-
storbenen Hausherrn dauernd fort — an Herbarts Geburtstag wurde
stets sein Bild bekränzt, und überhaupt wurden die drei Familien-
geburtstage stets zu Festen in großem Kreise gemacht — genau wie
das zu Herbarts Lebzeiten geschehen war.!)
Noch über ihren Tod hinaus hat Frau Herbart für ihren Pflegesohn
gesorgt. Sie hinterließ ihm genug, daß er unter der Pflege einer
Haushälterin und des alten Dienstmädchens der Familie in Ruhe bis
an seinen Tod — 28. Januar 1893 — in Königsberg leben konnte. Ein
Kurator hatte die Aufsicht. Noch heute sorgen die Angehörigen Otto
Stiemers jährlich für das Grab der zweiten Mutter ihres Verwandten.
1) Vergl. Tautes Brief an Herbart vom 11. Dez. 1833 (Th. Fritzsch, »Briefe
von und an Herbart«, IV, 258).
Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 295
All das scheint wohl wissenswert. Einmal gibt es ein Bild von
der aufopfernden und ihres Zieles gewissen praktischen Tätigkeit des
großen Pädagogen und seiner Gattin; dann beweist es die schöne
geistige Übereinstimmung dieser beiden edlen Menschen. Denn in
Herbarts Sinn hat seine Gattin bis an ihren späten Tod gewirkt —
mochten ihr auch, nach dessen eigenen Worten, philosophica völlig
fremd sein.
2. Psychische Fehlleistungen.
Von
R. Egenberger, München.
(Hierzu 12 Tafeln.)
(Fortsetzung.)
Alexie.
Bei Lesestörungen handelt es sich um Assoziationsstörungen
zwischen den geschriebenen oder gedruckten Schriftsymbolen und
den Laut- und Wortbildern.
Die literale Alexie besteht: 1. in dem Unvermögen, den ein-
zelnen Buchstaben seinem lautlichen Inhalte nach aufzufassen. Die
Störung liegt auf akustischem Gebiete. Verwechseln von e und i; o = u;
b=d; g=ch; d.i. akustische Alexie;
2. in dem Unvermögen, den einzelnen Buchstaben seinem opti-
schen Bilde (Linien, Schleifen usw.) nach aufzufassen. a) Völlige Un-
kenntnis. b) Verwechseln nach Formähnlichkeit: s = f; e=i; o=a;
N = M; optische Alexie;
3. in dem Unvermögen, das optische Schriftbild und das Klang-
bild durch Sprechbewegungen hörbar zu machen. Hier liegt ein
sprechmotorischer Defekt vor. Die Störung des Lesens ist nicht
stets von sonstigen Sprechgebrechen begleitet.
Literale Alexie bedingt meist auch verbale Alexie; denn wer die
Buchstaben nicht auffaßt, liest wohl für gewöhnlich auch das Wort nicht.
Aber es sind schon Fälle beobachtet worden, und auch ich sah
Fälle, daß trotz literaler Alexie die Möglichkeit bestand, Wörter zu
lesen. Es handelte sich um Schwachsinnige, die ganze Wörter mit
Verständnis lasen, die Einzelbuchstaben des gelesenen Wortes jedoch
nicht in das Lautbild übersetzen konnten.
Wolf berichtet in der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie
von dem Idioten Ph. G., daß er Wörter leichter als Buchstaben las.
Während er zusammenhängenden Text fließend las, war er ungeschickt,
wenn ihm aus Buchstabentäfelchen Wörter zusammengesetzt wurden.
296 A. Abhandlungen.
Aus dem Buche las er die schwierigsten Wörter, am Setzkasten las
er selbst einfache Wörter nicht richtig. Die Zerlegung des Wortes
in Buchstaben störte ihn; selbst zusammensetzen konnte er auch nicht.
Er kannte nur den Gesamteindruck. Schreiben konnte er nicht, denn
er konnte ja den Gesamtkomplex nicht in die Einzelbuchstaben auf-
lösen. (Diktat) Einzelbuchstaben konnte er abschreiben. Seinen
Namen konnte er schreiben. Abschreiben der Kurrentschrift ging
schlecht.» Ziffern konnte er weder lesen noch schreiben. Zeichnen
konnte er nicht.
Verbale Alexie. Trotz Kenntnis der Schriftbilder kann das
Kind kein Wort lesen. Alle Buchstaben stehen in Isolation. Die
Kinder buchstabieren im Lesebuch und bringen das ganze Wort nicht
heraus. Das Kind ist unfähig, die Buchstaben zusammenzuziehen und
zusammenzuschleifen; zwischen den Lauten wird völlig abgebrochen
und frisch angesetzt, auch der Atem wird frisch eingesogen. Die
Versuche des Zusammenlesens scheitern daran, daß die Lautfolge dann
gestört wird, es treten Auslassungen, Erweiterungen, Ausgleichungen,
Perseverationen, Umstellungen auf. Und sehr zu beachten ist, daß
bei buchstabierendem Lesen das Wort als lebendiges Wort der Sprech-
sprache mit konkretem Inhalte nicht aufgefaßt werden kann. Die
Analyse ist vielleicht möglich, aber die Synthese (= Zusammen-
fügen) ist völlig unmöglich. Bei verbaler Alexie kann aus dem opti-
schen Wortbilde das akustisch - motorische Wort nicht gewonnen
werden; das optische Wortbild wird in isolierte Einzelbilder aufgelöst.
Die verbale Alexie ist sehr häufig. Bei den meisten Kindern,
die der Hilfsschule zugewiesen werden, steht im Personalbogen: Kennt
zwar alle Buchstaben, kann aber keine Wörter lesen oder liest nicht
zusammen. Solche Kinder sitzen auch sehr häufig in der Volksschule.
Entweder lesen solche Kinder gar nicht, oder sie bringen eine
Menge falsche Lesarten hervor, z. B.:
hol = wo, lol, hl, hol.
weinen = wen, weiner, wein, weine, weir, weimeir, weie, wenen.
war =— warner, waren, warmen, warme, warne, waren.
leb = lab; faul = fal; baut = bat.
Optische und akustische Alexie.
Statt wir liest der Schüler »wer«; wer ist vorher gelesen worden und
hat Ähnlichkeiten mit wir.
Statt Seife liest der Schüler »Seil«; Seil ist vorher gelesen worden
und hat Ähnlichkeiten mit Seife.
Statt weil liest der Schüler »wo«; wo ist vorher gelesen worden und
hat Ähnlichkeiten mit weil.
Egenberger: Psychische Fehlleistungen. i 297
Statt hol liest der Schüler »wo«; wo ist vorher gelesen worden und
hat Ähnlichkeiten mit hol.
Statt weit liest der Schüler »weil«; weil ist vorher gelesen worden
und hat Ähnlichkeiten mit weit.
Statt weil liest der Schüler »wein«; wein ist vorher gelesen worden
und hat Ähnlichkeiten mit weil.
Statt seit liest der Schüler »sein«; sein ist vorher gelesen worden
und hat Ähnlichkeiten mit seit.
Statt w liest der Schüler »wo«; wo ist vorher gelesen worden und
hat Ähnlichkeiten mit w.
Statt Schaufel liest der Schüler »Schaf«; Schaf ist vorher gelesen
worden und hat Ähnlichkeiten mit Schaufel.
Statt Scheit liest der Schüler »Scheitel«; Scheitel ist vorher gelesen
worden und hat Ähnlichkeiten mit Scheit.
Statt heul liest der Schüler »feul«; faul ist vorher gelesen worden
und hat Ähnlichkeiten mit heul.
Sprachmotorische Alexie.
Umstellungen (Buchstabenvertauschung) innerhalb eines Wortes:
Statt auf ist fau gelesen worden.
„ reif ,„ feier 5 A
y ei „ Ae Be Ne
kkj au kk ua „ 19
eu „ ue M n
nee 5 Te Br g
„ Gans „ Gasn »
” Geld ” legd ” ”
Perseverationen auf Grund optischer, akustischer und sprech-
motorischer Einwirkungen.
Fibeltext: meine, seine, mein, sein.
Es wurde gelesen: meine, seine, meine, seine.
Fibeltext: heilen, teilen, teuer.
Es wurde gelesen: heuter, teulen, teuer.
Fibeltext: süß, müde, lügen, zünden.
Es wurde gelesen (nachdem kurz zuvor eine ö-Wörtergruppe gelesen
wurde): söß, möde, lögen, zönden.
Es wurde gelesen: hörön (hören), mögön (mögen), lösön (lösen),
tötön (töten), löschön (löschen); nauß (naß).
Fibeltext:
1, 2, 3 noch rascher sein; | schon hasch ich dich;
sicher hole ich dich ein; | ha ha ha,
husch husch husch, | nun lache ich.
298 A. Abhandlungen.
Gelesen wurde:
1, 2, 3 noch hascher sein; (haschen steht schon auf der Seite vorher.)
sicher hole dich dich ein; (das d ist vorausgenommen.)
husch husch husch,
noch hasch ich dich; (Nachwirkung von der 1. Zeile.)
ha ha ha,
nun lache dich. (Nachwirkung.)
Fall Höp.:
In seinem Hefte steht: iiiiiii
Er liest aber: iiuiesa; das ist
also ein Fall, daß derselbe Buchstabe nicht einmal in unmittelbarer
Aufeinanderfolge erkannt wird. Nur das s erkannte er sofort und las
es stets richtig. Es dauerte 10—14 Tage, bis er das i erkannte und
las. Er sollte aus einem Übungsstück, in welchem i, a und s in
reicher Zahl vermischt standen, alle i heraussuchen. Als ich ihn aber
ein einzigesmal s sprechen ließ, konnte er die folgenden i nicht mehr
benennen. Man sieht also, daß zwischen dem Schrift- und Lautbilde
die nötige Assoziation nicht eingetreten ist, daß sie auf kurze Zeit,
nachdem sie unmittelbar in wachem Zustande erhalten wurde, vor-
handen war, daß sie sofort erlöschte, als ein anderes Laut- und Schrift-
bild dazwischen trat. Merkfähigkeit war also gar nicht vorhanden.
Für die Symbolik der Buchstaben fehlt ihm die Auffassungskraft.
Schriftbilder sind ihm also Figuren und Linien, ohne lautliche Be-
deutung.
Fehlt es beiihm nun an den optischen Eindrücken? Keineswegs.
Er sieht gut, zeichnet und modelliert besser als viele andere Kinder
seines Alters. Zudem schreibt er die Buchstaben; freilich kann er
auch seine selbstgeschriebenen Buchstaben nicht lesen. Indessen ist
auch seine Schrift nicht ganz korrekt; er schreibt die Ober- und
Unterlängen nicht stets in die richtigen Zeilen und fügt manche über-
flüssige Striche hinzu oder läßt irgend einen kleinen Teil weg; aber
die Hauptform bringt er richtig aufs Papier.
Wie steht es nun mit den akustischen Eindrücken? Hier scheint
schon ein Anhaltspunkt gegeben zu sein; der Knabe ist etwas schwer-
hörig. Er unterscheidet o und u; e und i lautlich fast gar nicht.
Seine Sprache ist nicht schlecht; aber gerade die Einzellaute faßt er
im Artikulationsunterricht nur schwer auf. Sollte nun nicht die
Schwerhörigkeit uns dartun, daß in der Hörsphäre ein Defekt vorliegt,
der die akustische Auffassung und Wiedergabe des Schriftbildes ver-
hindert? Dieser Defekt äußert sich als eine Assoziationsstörung; d. h.
popne ma
Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 299
zwischen Zeichen und Laut kommt keine Verbindung zustande. Es
besteht ein Zustand von Assoziationslosigkeit: Das ist literale
Alexie, also das Unvermögen, die lautliche Bedeutung des Buch-
stabens zu erkennen.
Soviel ich bis jetzt sehe, wird Hö. die Alexie teilweise überwinden,
und zwar kommt ihm seine Vorliebe fürs Schreiben dabei zu statten;
bei ihm ist Schreiblesen natürlich sehr am Platze. Noch mehr aber
behilft er sich mit Gebärden. Ihm ist die Gebärde das, was
vielen das Fibelbild ist. Beim m streicht er über den geschlossenen
Mund, beim o führt er den Zeigefinger in die o-Rundung, beim h
macht er eine Handbewegung nach vorne, beim g eine Handbewegung
rückwärts. Man muß nur darauf achten, daß er zu den Gebärden
auch spricht; manchmal macht er die Gebärde, ohne dabei zu artiku-
lieren. Für alle Fälle aber bewährt sich hier die Gebärde sehr, es
ist das auch begreiflich.
Fall H. Weiß:
Kennt ziemlich alle Buchstaben, ist aber oft nicht imstande, zwei
Buchstaben zusammenzuschleifen; insbesondere gelingt es ihm nicht,
bewußt die Buchstaben umzustellen. Die geistigen Kräfte sind bei
ihm durchweg geschwächt. Es besteht also nicht Unaufmerksamkeit,
sondern Schwäche der Aufmerksamkeit, nicht Unfleiß und Faul-
heit, sondern Unfähigkeit zu aufmerksamen, bewußten Tätigkeiten.
So ist bei ihm infolgedessen die Neigung zum Ausgleichen
und Umstellen besonders ausgeprägt;
z. B. Übung: se es as sa le al
er liest: se se sa sa le la.
Er sieht wohl ein, daß man Umstellen kann, er vermag auch
anzugeben, daß die Wörter und Silben mit verschiedenen Buchstaben
beginnen, aber wenn er nach solchen Erläuterungen liest, so erscheint
‚obiger Fehler trotzdem. Bewußtes Umstellen und Einstellen der Auf-
merksamkeit hierauf ist ihm nicht möglich. Er folgt dem Gesetze
der Beharrung und Gleichmachung.
Diese Beharrung ist hier ein Kleben an der ursprünglichen Dis-
position, nach welcher die erste Silbe gebaut ist. Das ist Beharren
an der ersten Silbenkonstruktion. Die Buchstaben wechseln, nicht
aber das Schema der Konstruktion, welches darin besteht: Sukzession
von Konsonant — Vokal usw.
Das Kleben an der ersten Konstruktion ist ein Aufmerksamkeits-
fehler, weniger ein Gedächtnisdefekt, obwohl das Merken (Gedächtnis)
daran beteiligt ist. Das Gedächtnis (die Merkfähigkeit für Buchstaben)
300 A. Abhandlungen.
ist bei H. W. nicht schlecht, denn er kennt fast alle Buchstaben. Das
Gedächtnis ist gut, es schwebt das akustische Klangbild vor, es wirkt
nach (Perseveration), es ist kein Sinnesdefekt da, das Auge sieht;
selbst das Urteil über Buchstabenfolge ist richtig und trotzdem ist die
ursprüngliche Konstruktion einer Silbe oder eines Wortes beim Lesen
wirksam. Ja er buchstabiert richtig a — 1, und doch liest er im
Zusammenhange la. Es fehlt also an der Koordination, die darin be-
steht, daß der Leseakt in Einklang mit dem Gesehenen und Be-
urteilten steht. Es ist eben Beharren, veranlaßt durch das akustische
Klangbild, hervorgerufen durch die Schwäche der psychischen Akte
der Aufmerksamkeit, welche nicht so stark ist, ein Erstes auszu-
schalten und ein neues Zweites einzufügen.
Die Behandlung besteht darin, einige besondere Aufmerksam-
keitsakte beim Lesen einzufügen: die Aufmerksamkeit wird aus-
schließlich auf den Anfangslaut gelenkt.
Das ist Isolierung und Betonung des Anfangsbuchstaben, also:
la el il lei ol
Fall Kow.:
a, m, i, u hat sie leicht gelernt; sobald e hinzukam, wurden i
und e verwechselt.
Lesestoff: e i a e m u e
a a i m m u
ei una na a ie
u u a u m i u
e e m e u a i e
Fünfmal wurde e herausgesucht, trotzdem erkannte sie das erste e der
letzten Zeile nicht mehr; das folgende e erkannte sie; das letzte e
dagegen nicht mehr; es sind 3 Buchstaben dazwischen. Sie kennt
das e nur, wenn es unmittelbar nacheinander kommt. Z. B.:
e e e e
e m [e]?
e a u [e]?
?[e] m u i [e]?
e m a i u [e]?
Bei Einübung neuer Buchstaben muß man also mindestens den
neuen Buchstaben stets an zweiter Stelle wiederbringen; ja es wird
gut sein, immer wieder den neuen Buchstaben zweimal unmittelbar
nacheinander zu bringen. Z. B.:
ss a SS Í SS e so SS u s usw.
Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 301
Als weitere Übung tritt der neue Buchstabe erst an 2. Stelle auf
z. B.: sauseismos
Dann bringt man ihn seltener, ja bringt Übungen ohne diesen
neuen Buchstaben, um zu sehen, ob er nach längerem Nichtmehrsehen
wieder erkannt wird.
NB.! Das Mädchen war drei Tage von der Schule weg und sie
erkannte die bis jetzt gelernten Buchstaben (5) nicht mehr. Das ist
doch geringe Merkfähigkeit für Laute usw. Das ist zugleich ein Er-
klärungsgrund für ihre Sprachstörung (Stammein).
Sie neigt dazu, äbnliche Silben und Wörter anzugleichen.
z.B: a al le il
la la le li
Es tritt nun Korrektur und Belehrung ein; jetzt liest sie ele.
Sie wird also der Forderung gerecht, unterliegt aber immer noch dem
Drange der Angleichung und Beharrung.
Es hängt das gewiß von der willkürlichen Aufmerksamkeit ab,
und zwar fehlt es an der Intensität der willkürlichen Auf-
merksamkeit.
Solche Fehler sind nur dadurch zu bekämpfen, daß das Kind von
der unwillkürlichen Aufmerksamkeit immer unabhängiger und die
willkürliche Aufmerksamkeit rege und wirksam gemacht wird. Die
beste Übung ist, daß das Kind Umstellungen selbst vornehmen muß.
Bei der idiotischen Zwer. ging die Beharrung soweit, daß, wenn
sie den Mund zu a öffnete, sie ihn für m nicht mehr zu schließen ver-
mochte, sondern zu jedem neuen Buchstaben a sagte.
Psychologie des Lesens und die Fibelfrage.
Das Schriftzeichen ist nichts anderes, als ein Lautsymbol. Laute
und Schriftzeichen dienen der Hervorbringung von Wörtern und Sätzen,
welche sinnvolle Vorstellungen und Urteile ausdrücken. Schriftzeichen
sind nichts anderes als Träger und Vermittler, Symbole der gesprochenen
Sprache. Die gesprochene Sprache wird in eine optische Sprache ver-
wandelt und diese muß wieder zu einer akustischen Sprache rück-
verwandelt werden.
Daß dieser Prozeß nicht leicht ist, ist längst bekannt, weniger
bekannt sind die Lesestörungen, welche eine Hemmung, Erschwerung
und Störung des Umwandlungsprozesses von der optischen Zeichen-
sprache zur akustisch-motorischen Lautsprache darstellen.
Beim angeborenen Schwachsinn, soferne er mit Alexie behaftet
ist, fällt es so schwer, an das optische Schriftbild eine Assoziation
zum Klangbilde zu stiften. Wochenlang sind die Versuche hierzu
302 A. Abhandlungen.
resultatlos; bei schweren Schwachsinnsfällen ist oft eine unüberwind-
bare Unfähigkeit zur Bildung von diesen Assoziationen gegeben. Bei
Übungsunfähigkeit sind die Versuche einzustellen, selbst wenn sich
nach jahrelangen Bemühungen einige Assoziationen einstellen, so ist
das nutzlos und ohne jede Bedeutung. Lesen hat nur einen Wert,
wenn aus den Schriftbildern, die tag-täglich vors Auge treten, der
Sinn auch entnommen werden kann. Lesen ist eben auch von der
übrigen Intelligenz abhängig. Es gibt Idioten, die fließend lesen;
allein unter Lesen müssen wir das sinnvolle Lesen verstehen. Zu
der Übersetzung der optischen Zeichen in Klangbildern tritt auch die
Identifizierung dieser Symbole mit Vorstellungen und Begriffen, welche
durch die Sprache festgehalten und wiedererweckt werden wollten.
Das Lesenlernen umfaßt demnach:
1. Die Herstellung von Assoziationen zwischen dem Buchstaben
und dem damit bezeichneten Laute.
2. Um Buchstaben und Laute, als isolierte Sprachteile, handelt es
sich aber nicht so sehr, als vielmehr um Herstellung von
Assoziationen zwischen den geschriebenen und gesprochenen
Wortkomplexen.
3. Die in Laut- und Wortklänge übersetzten Buchstabenkomplexe
müssen einen inhaltlich vorstellbaren, sinnvollen Inhalt im Leser
erwecken.
In bezug auf Lesenlernen betonte man stets die Notwendigkeit,
beim Nahen, Nächsten, Verwandten und Ähnlichen zunächst zu ver-
weilen. Vom Nahen zum Entfernten; vom Einfachen zum Zusammen-
gesetzten, so lauten unsere bekannten pädagogischen Grundsätze.
Die pädagogische Pathologie lehrt unzweifelhaft,
daß in der Sprache und in der Schrift das Ähnliche und
Nahverwandte ständig sich gegenseitig stört, indem
beim Verlaufe des Sprechens und Lesens und Schreibens
die Ähnlichkeit es ist, welche auf falsche Assoziations-
bahnen führt.
Daraus ist zu folgern, daß es nicht besonders klug ist, wenn die
meisten Fibeln mit i und e, mit n und m, mit s und f den Lese-
unterricht beginnen. Weil die Fibeln grundsätzlich das Ähnliche im
optischen, akustischen und sprechmotorischen Gebiete rasch nacheinander
bieten, begünstigen sie Lesestörungen, wie z. B. das ewige Verwechseln
der ähnlichen Buchstaben. Die Darbietung des n und m soll zeitlich
weit auseinander liegen, ebenso o und u, i und e.
Der Grundsatz: Vom Einfachen zum Zusammengesetzten, verleitete
die Fibelautoren dazu, zum ersten Leseunterrichte Formwörter zu be-
Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 303
nutzen. Man glaubt Wörtchen wie: nun, wo, an, um, warum, weil
usw. seien naheliegende, einfache Lesewörter. Das ist grundfalsch;
einfach sind diese Formwörter nur hinsichtlich der Buchstabenverbindung
und -anzahl; aber die inhaltliche Auffassung ist zu schwer. Der
Unterricht im Lesen bei Schwachbegabten zeigt, daß alles wenig Vor-
stellbare und insbesondere das Unverstandene schlecht gelesen wird.
Wie kann aber der begriffliche Inhalt der Wörtchen: nun, so, weil,
warum, in usw. das Kind beim Lesen unterstützen? Um sich ein »in«
anschaulich zu machen, bedarf es einer Reihe von Überlegungen, also
ist das Formwort durchaus kein so leicht verständliches Wörtchen.
Der Leseunterricht muß sich an Concreta (Substantiva, Verba,
Adjektiva usw.) halten. Das Konkrete ist nah.
Wolff teilt einen Fall mit, daß eine Patientin bestimmte Wörter
nicht lesen konnte und zwar waren das hauptsächlich die Artikel, die
Pronomina, Präpositionen und Konjunktionen; während sie Substantiva,
Adjektiva, Verba in bedeutend großer Zahl zu lesen vermochte. Hier
muß es also doch die Bedeutung des Wortes gewesen sein, welche
das Lesen des Wortes erleichterte. Die Assoziation zwischen Schrift-
form und der inhaltlichen Bedeutung übt also eine äußerst förderliche
Einwirkung aus.
Die Patientin konnte Wörter, welche beim Lesen
verändert wurden
lesen: nicht lesen: statt: wurde gelesen:
Löffel oder wider Widerhall
Bibel Katechismus Waschfrau waschen
Garten sie Feuer Feueranzünder
Auge gelang Werk Maschine
lustig zu schüchtern düster
hören auf Christus Lehre
sehen so begabt Schuljahr
Eierkuchen mein Allgemeine Zeitung Konsum
Richtig gelesen wurden also die konkreten Wörter; gar nicht
gelesen wurden die Formwörter; die letzte Gruppe der Wörter zeigt,
daß die Patientin das flüchtig gesehene Wort sofort einer Umarbeitung
und selbständigen Weiterführung unterwirft, und zwar ist das eine
inhaltliche Verarbeitung. Diese Patientin kann nur a, b, d, f, 1 und B
richtig lesen, alle übrigen Buchstaben kennt sie nicht. Abschreiben
kann sie dagegen alles; während sie Diktat- und Spontanschreiben
nicht vermag.
Ähnliches erlebt man auch bei unseren Kindern. Ich hatte einen
Knaben zu unterrichten, der einzelne Substantiva und Verba nur so
304 A. Abhandlungen.
las, daß er dazu einen Satz konstruierte, z. B. heul = Der Hund heult.
weinen = Weine nicht so lange. sch — scheuch den Vogel weg.
Ein anderer Knabe las statt mager: fett usw.
Es läßt sich ferner beobachten, daß die Kinder im Lesebuche alle
jene Lesestücke merklich schlechter lesen, welche in einer ungeläufigen,
möglichst gesuchten und verschrobenen Sprache geschrieben sind.
Es ist sicher anzunehmen, daß ein Kind besser und sicherer
lesen wird, wenn es ein Lesebuch mit konkreten, inhaltlich nahe-
liegenden Wörtern und Sätzen in die Hand bekommt.
Zur Bevorzugung der inhaltlich schwer aufzufassenden Formwörter
hat namentlich der Schreibleseunterricht geführt. Der Lehrer sollte
sich niemals einem Prinzipe ganz und gar, mit Haut und Haar ver-
schreiben. Man sollte vernünftigerweise doch bedenken, daß das Kind,
welches ein kleines h lesen kann, auch das große H ohne weiteres
liest. Ebenso kann beim kleinen o das große O, beim kleinen a das
große A, beim kleinen g das große G der Kurrentschrift geboten
werden. Was macht die Einführung einiger Großbuchstaben aus, um
den Fibeltext mannigfaltiger und konkreter zu gestalten! Wer »haben«
lesen kann, vermag auch »Hase«, »Hose«, »Hut« und »Hof« zu lesen;
wer »bin«, »beide« liest, kann auch »Besen« lesen.
Ferner halte ich es für nicht so sehr günstig, wenn man die
Kinder daran gewöhnt, ausschließlich phonetisch zu schreiben, und des-
halb nur lauttreue Wörter bietet. Das ist vielleicht einer der Gründe,
warum die Schüler in der Orthographie so sehr versagen. Es können
Wörter wie: fett, rollen, Ball usw. ohne weiteres gelesen werden. Für
die Orthographie ist die Pflege des optischen Schriftbildes nötig; um
orthographisch schreiben zu lernen, bleibt in vielen Fällen nichts
anderes übrig, als sich das Schriftbild einzuprägen. Unsere Fibel tut
aber, als ob wir nur eine phonetische Schreibweise hätten. Lesen
und Orthographie müssen bald als gesonderte Unterrichtsgebiete be-
trachtet werden; das Lesen eilt dem orthographischen Unterricht voraus.
Daß die Schreiblesemethode manchmal entbehrt werden muß, lehrt
die pädagogische Pathologie; denn es gibt genug Kinder (ich habe
zurzeit in meiner Klasse 3 solche Schüler) die an Agraphie leiden,
dagegen das Lesen für sich ganz hübsch erlernen. Und umgekehrt
habe ich zurzeit in meiner Klasse einen Schüler (Hö.), der an Alexie
leidet, aber ganz gut schreiben kann; das Geschriebene vermag er
aber nicht zu lesen.
Von einem konkreten Worte und Satze gehen vielmehr Re-
produktionstendenzen aus. In der gesprochenen Sprache gibt es fast
keine Einzellaute und isolierten Formwörter. Darum werden sinnvolle
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 305
Wörter rascher gelesen als sinnlose Silben; sinnvolle Sätze be-
anspruchen nur die Hälfte der Lesezeit von Einzelbuchstaben und
sinnlosen Silben usw.
Schließlich wird der Einzellaut und die sinnlose Silbe ganz anders
artikuliert, als das sinnvolle Wort. Einen normalen Sprechton muß
man beim Lesen erzielen. Die Fibel muß so sein, daß man lesen
kann, wie man spricht. Man vergleiche die Artikulation (man denke
an dialektische Färbungen!):
a) sinnlos: eck ug ag
b) im Worte: Eck, schlecken. trug, schlug, frug. schlag! fragte.
Außerdem soll das Kind gerade im ersten Jahr schon daran ge-
wöhnt werden, zu jedem gelesenen Worte auch den entsprechenden
Gegenstand selbst oder ein Bild von ihm anzuschauen oder seine
Vorstellung wachzurufen und irgend eine Assoziation zu reproduzieren.
Beim Lesenlernen pflegt man in gleichem Maße das Erkennen,
Benennen, Zusammenfügen und Analysieren der Buchstabenkomplexe,
wie man auch das Gesamtwortbild auf das Auge wirken lassen muß;
denn dieses gibt einen ganz charakteristischen Gesamteindruck, simul-
taner Natur, mit eigenartigen Konturen, Wölbungen, Zacken und
Giebeln. Außerdem muß dieses Schrift- und Lautbild noch einen
Vorstellungsinhalt wachrufen. Das ist Leseunterricht. Jeder Lehrer
muß imstande sein, selbst die Fibeln zu schreiben, welche für die
verschiedenen Schwachsinnsformen notwendig sind. (Schluß folgt.)
3. Die experimentelle Ermüdungsforschung.
Von
Marx Lobsien, Kiel.
(Fortsetzung.)
C. Die psychologischen Methoden.
Wir sonderten sie in zwei Gruppen, von denen die erste als psycho-
logische im engeren Sinne bezeichnet wurde. Dazu zählten wir die
Kombinations-, die Gedächtnis- und die Reaktionsmethode.
a) Kombinationsmethode.
Die Kombinations- oder Ergänzungsmethode verdanken wir Her-
mann Ebbinghaus. Auf Anregung der hygienischen Sektion der
Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur beschäftigte er sich
mit der Frage, wie man die geistige Leistungsfähigkeit, besonders von
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 20
306 A. Abhandlungen.
Schulkindern in exakter Weise prüfen könne. Bei seinen Erwägungen
legte er besonderes Gewicht auf eine Prüfung auch der freieren und
in gewissem Sinne neuschöpferischen geistigen Tätigkeit, wie sie
überall bei höheren intellektuellen Leistungen ins Spiel kommt, auf
eine Prüfung der Fähigkeit, aus verschiedenen und zunächst zusammen-
hangslosen Daten möglichst rasch ein sinnvolles Ganzes zu kombinieren.
Den Schülern wurden ihrer Fassungskraft angemessene Prosatexte
vorgelegt, die in der mannigfachsten Weise durch kleine Auslassungen
unvollständig gemacht worden waren. Bald sind einzelne Silben fort-
gelassen worden und zwar am Anfang, am Ende, wie in der Mitte
eines Wortes, bald Teile von Silben, bald auch ganze Wörter. Jede
ausgelassene Silbe und jedes ausgelassene Silbenfragment ward durch
einen Strich angedeutet und dem Schüler nun die Aufgabe gestellt,
die Lücken eines solchen Textes möglichst schnell, sinnvoll und mit
Berücksichtigung der verlangten Silbenzahl auszufüllen. Der Prüfling
hat dabei stets eine kleine Mehrheit von Dingen gleichzeitig im Auge
zu behalten: die dastehenden Buchstaben, die Anpassung an die vor-
geschriebene Silbenzahl, vor allem den Sinn seiner Ausfüllung sowohl
im engeren wie im weiteren Zusammenhange des Textes, nicht nur
mit Rücksicht auf das Vergangene, sondern bisweilen auch mit Rück-
sicht auf das folgende. Die Arbeitszeit an einer Textprobe wurde auf
genau fünf Minuten bemessen und hinterher dann jedesmal fest-
gestellt, wieviele Silben richtig ausgefüllt, wieviele etwa übersprungen
und wieviele sinnlos ausgefüllt worden waren. Als Probe der Text-
gestaltung möge folgendes Beispiel aus Nettelbecks Schilderung der
Belagerung Colbergs dienen: »Gleich des näch.. Tages stellt sich ..
neue Kommandant, Major v. Gneisenau, der Gar... als ihr jetziger
Anf.. vor und d.. feierl .. begleitete er... einer A..., die so...
rucksvoll und rü.. war, wie wenn ein g.. Vater.. sei.. lieben ...
spräche.«
b) Die Gedächtnismethode
wurde, außer von andern Forschern, auch von Ebbinghaus ange-
wendet. Sie prüft das sogenannte unmittelbare Gedächtnis und be-
steht darin, daß den Prüflingen kurze Reihen einsilbiger Zahlwörter
in verschiedenen Anordnungen und in bestimmtem Tempo zu gewissen
Zeiten vorgesagt werden. Sechsstellige Reihen dieser Art — so äußert
sich Ebbinghaus auf Grund seiner Erfahrung — bringt fast jedes
Kind über acht Jahre fehlerfrei zustande; über zehnstellige Reihen
hinaus kommen selbst Erwachsene ohne vorherige Übung nicht leicht.
Benutzt man also bei der Prüfung in den aufsteigenden Klassen sechs-
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 307
stellige, siebenstellige usw. bis zehnstellige Reihen, so hat man voraus-
sichtlich überall die Grenze der Leistungsfähigkeit eingeschlossen und
kann nun aus der Verschiebung dieser Grenze, aus der verschiedenen
Fehlerzahl zu verschiedenen Zeiten usw. seine Schlüsse ziehen. —
Die Zahlwörter werden unmittelbar nach dem Vorsprechen nieder-
geschrieben, so viel immer behalten wurden. Da man die sieben auch
zu den einsilbigen Zahlwörtern rechnen kann, so verfügt man über
dreizehn Elemente, nämlich über die Zahlwörter von Null bis Zwölf,
und kann mit diesen eine große Menge verschiedener Kombinationen
in verschiedener Länge herstellen. Die Geschwindigkeit des Vor-
sprechens normierte Ebbinghaus auf !/, Sekunde für jede Ziffer.
Vor Beginn des Unterrichts und dann am Ende jeder Lehrstunde
wurden je zehn solcher Reihen vorgesprochen und niedergeschrieben,
nämlich je zwei Reihen zu sechs, je zwei zu sieben, zu acht, zu neun
und zu zehn Ziffern. So ergab sich für jeden Versuch ein Zeit-
aufwand von vier bis fünf Minuten.
c) Die Reaktionsmethode
mißt die Ermüdung durch die Bestimmung der Dauer psychischer
Vorgänge; sie bedarf der Zeitmeßapparate. Unter dem Einflusse der
Ermüdung verlängern sich die Reaktionszeiten. Schon Keller wandte
ein rohes Verfahren zur Bestimmung der Reaktionszeit an. Er ließ
nach längerer körperlicher Anstrengung Wörter möglichst schnell lesen
und berechnete die durchschnittliche Lesezeit für Wörter und Silben
im Zustande der Erholung und der Ermüdung. Zu ihrer exakteren
Ausgestaltung bedarf die Methode der Hilfsmittel des Laboratoriums.
In dieser Gestalt haben Kraepelins Schüler Apel, Oehrn und Bett-
mann mit der Methode gearbeitet. Bettmann wandte die Wahl-
reaktion an. Bei den Reaktionen wird gefordert, daß auf einen Reiz
mit einer bestimmten Willensäußerung geantwortet wird. Der Zeit-
punkt, da der Reiz eintritt und derjenige, da der Wille reagiert, müssen
mit Hilfe eines Chronoskops genau festgestellt werden. Die zwischen
beiden verflossene, meßbare Zeit, heißt Reaktionszeit und zwar in
diesem Falle, da der Verlauf relatıv einfach ist, einfache Reaktionszeit.
Bei der Wahlreaktion liegen die Verhältnisse insofern komplizierter,
als nicht auf einen Reiz in eindeutig bestimmter Weise reagiert, son-
dern unter mehreren die Wahl bleibt, entsprechend vorheriger Ver-
einbarung. Natürlich verlängert sich infolge des komplizierteren Ver-
laufs die Reaktionszeit, und es stellen sich Fehlreaktionen ein, die
eine weitere Handhabe zur Maßbestimmung geben.
20*
308 A. Abhandlungen.
d) Auffassungsfähigkeit.
Die Methode zur Messung der Auffassungsfähigkeit besteht im
fortlaufenden Lesen von Reizwörtern, welche mit Hilfe eines Kymo-
graphions an einem engen Spalt vorübergeführt werden. Sie hat eine
Abänderung erfahren, indem an Stelle der Wörter Gruppen von senk-
rechten Strichen stehen, deren Anzahl angegeben werden müßte.
Zur Verwendung kamen Gruppen von 3, 4, 5, 6, 7 Strichen, die in
Komplexen von je fünf vereinigt waren. Die einzelnen Komplexe
waren durch die Vokale a, e, i, o, u getrennt. Die Anordnung läßt
eine sehr große Zahl von Variationen zu. — Das Beobachten geschah
immer mit demselben Auge. Die Versuchsperson nahm ihren Platz
vor dem Apparat ein, diesen fixierend. Das Kinn ruhte auf der
Kinngabel. Der Versuchsleiter bewegt die Trommel ein wenig hin
und her, bis die Versuchsperson die Orientierungsmarke, welche etwa
l cm vor der ersten Strichgruppe angebracht ist, gefunden hat. Dann
legt der Experimentator ein Tuch über den Kopf des Prüflings und
die Ränder des Diaphragmas, um das seitliche Licht abzublenden und
setzt den Apparat in Bewegung. — Als Index wurde die Menge der
richtig beurteilten Strichgruppen benutzt.
Zur Interpretation der gewonnenen Zahlenreihen konnte die Selbst-
beobachtung fast gar nicht ausgenutzt werden aus Furcht vor Suggestiv-
wirkungen.
D. Die pädagogisch-psychologischen Maßmethoden
erfordern nur wenig Zeilen zu ihrer Klarlegung. Wir haben sie in
mechanische und nichtmechanische gesondert. Zu den ersteren sind
zu rechnen: Das Zählen und Durchstreichen von Buchstaben und
das Niederschreiben von Ziffern.
1. Mechanische Maßmethoden.
a) Durchstreichen von Buchstaben.
Ritter ließ bestimmte Wörter und Buchstaben durchstreichen,
ein Verfahren, das offenbar durch leichte Anwendbarkeit ausgezeichnet
ist. So verlangte er z. B., daß durch einen senkrechten Strich ein
bestimmter Buchstabe in Groß- und Kleinschreibung kenntlich ge-
macht und zu gleicher Zeit bestimmte übereinstimmende grammatische
Formen quer durchstrichen werden sollten. Er normierte eine Zeit-
dauer von zwei Minuten für jede Probearbeit und richtete sein Be-
mühen darauf, für jede relativ gleiche Anforderungen stellende Texte
zu gewinnen — eine keineswegs leichte Aufgabe.
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 309
b) Zählen von Buchstaben.
Einfacher aber auch noch wesentlich einseitiger ist das Verfahren,
welches das Zählen von Buchstaben verlangt und das Niederschreiben
von Ziffern. Hart an der Grenze der rein mechanischen Verfahrungs-
weisen steht die Methode Schuytens, die er als Abschreibemethode
bezeichnet. Nach dieser werden mittels der Buchstaben aeiour
vn — man sieht, es sind die Zeichen ohne Ober- und Unterlängen
— eine Reihe von Kombinationen hergestellt und an die Wandtafel
geschrieben. Die Schüler werden angewiesen, sie während eines Zeit-
raumes von fünf Minuten abzuschreiben. Die geistige Leistungsfähig-
keit wird bestimmt nach dem Maße der bei dem Abschreiben auf-
gewendeten Aufmerksamkeit. Für diese hat man offenbar einen be-
quemen Maßstab an der Zahl der Fehler und Korrekturen.
2. Die nichtmechanischen Maßmethoden
pädagogischen Charakters gruppieren sich um das Lesen, das Rechnen
und Diktieren.
a) Lesen.
Die Kellerschen Leseversuche wurden soeben genannt. Auch
Schuyten wandte das Lesen an. Er ließ seine Prüflinge während
eines Zeitraumes von fünf Minuten in ihrem vlaamländischen Lese-
buch lesen. Die Versuche wurden in je zwei höheren und zwei
niederen Knaben- und Mädchenabteilungen zu vier verschiedenen
Tageszeiten angestellt. Um Störungen zu vermeiden, die etwa durch
andere Klassen veranlaßt werden konnten, wurde Sorge getragen, daß
die zu Prüfenden von den andern isoliert waren. Der Experimentator
nahm vor der Klasse einen Standpunkt ein, der ihm erlaubte, alle
Schüler mühelos im Auge zu behalten. Auf ein verabredetes Zeichen
begannen die Schüler zu lesen und der Experimentator notierte die-
jenigen, die das Lesen unterließen. Hernach wurde berechnet, wie-
viele Schüler während der Prüfungszeit gelesen hatten, ohne die Auf-
merksamkeit von den Blattseiten abzuwenden. Schuyten wandte die
Methode in erster Linie an, um den Jahresschwankungen der Auf-
merksamkeitsenergie nachzugehen; der Aufgabe, dem täglichen Er-
müdungs- und Erholungswechsel nachzugehen, dienen sie nur sekundär.
Die Lesemethode, die ich zur Messung der Ermüdung anstellte,
ging von der Überzeugung aus, daß zwei technische Voraussetzungen
unter allen Umständen zuerst erfüllt werden müssen; die eine bezieht
sich auf die Notwendigkeit einer exakten Zeitmessung, die andere auf
die Schaffung einer möglichst homogenen Arbeitsforderung für die
310 A. Abhandlungen.
einzelnen Versuchsreihen. Eine exakte Zeitmessung ist durch die
Beobachtung des Sekundenzeigers der Uhr nicht gewährleistet, dazu
bedarf es eines genaueren Zeitmeßapparates, eines Chronoskops, das
so eingerichet ist, daß an ihm Anfang und Ende der geforderten
Prüfungsarbeit mit hinlänglicher Genauigkeit registriert werden kann.
Daneben ließ ich mich bei der Konstruktion von dem Gesichtspunkt
leiten, es müsse der Apparat relativ einfach, handlich und leicht ver-
wendbar gestaltet werden. — Mein Chronoskop besteht zur Hauptsache
aus einem Uhrwerk, das durch eine starke Feder getrieben wird. Der
Hemmung und Regulierung dient eine rotierende Scheibe, die an der
Rückseite befestigt ist. Das Zifferblatt läßt 1/,ooo Sekunden ablesen.
Beim Beginn des Versuchs werden die Zeiger auf Null eingestellt.
Von besonderer Bedeutung sind zwei Hebel, die, mit einem Knopf
in Verbindung stehend, das Uhrwerk mechanisch aus- und einlösen
können (Handarretierung). Drückt man mit leichtem Schlage auf den
einen Knopf, dann setzt sich das Uhrwerk sogleich in Bewegung, ein
leichter Druck auf den andern genügt, um die Zeiger sofort zum
Stillstande zu bringen. Die inzwischen verlaufene Zeit kann auf dem
Zifferblatt bequem abgelesen werden. — Das homogene Leseobjekt
versuchte ich auf folgende Weise zu gewinnen: Die mechanische
Leseschwierigkeit der Schriftzeichen untersuchte ich mit Hilfe eines
Tachistoskops von kleineren Dimensionen als diejenigen sind, die
unter andern Cattells (Philos. Studien II u. III) Fallapparat aufweist.
Die Lesezeit der Zeichen wurde in Bruchteilen von Sekunden an-
gegeben, entsprechend dem Grundsatze: Wir sind befugt, die Länge
der Lesezeit in ein umgekehrtes Verhältnis zu setzen zur Größe der
subjektiven Anstrengung, die das Leseobjekt von dem Beobachter
fordert. Die Dauer des psychophysischen Zeitaufwandes entspricht
der Schwierigkeit der sensomotorischen Ausprägung der Leseobjekte.
Die Lesezeiten wurden nach ihrer Länge und dementsprechend die
Lesezeichen nach ihrer Schwierigkeit geordnet. Als Beispiel möge
folgende Anordnung dienen:
a ren l deutsche Schriftzeichen i Sioi 3 ;
IL ne l lateinische Druckschrift { isats 1
TE kleine } lateinische Schrift Er
m en deutsche Druckschrift [ 1087703 k
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 311
Bei der Konstruktion homogener Leseobjekte konnte ich mich
nicht zu einem so mechanischen Verfahren entschließen, wie das
Lesen aufeinananderfolgender, zusammenhangsloser Zeichen. Die
Fertigkeit im mechanischen Lesen bekannter Schriftzeichen ist so sehr
in den Sprachmechanismus durch Übung eingegangen, daß es vom
Kundigen nur sehr geringe geistige Anstrengung erfordert. Ich be-
fürchtete, daß nur gröbere, nicht aber feinere Ermüdungserscheinungen
zur Ausprägung gelangen möchten. Darum wählte ich folgenden Aus-
weg: Ich ließ eine geistige Arbeit in den mechanischen Vorgang
einfließen. Ich häufte die Schriftzeichen in bunter Folge aneinander
zu Reihen, die nach der Leseschwierigkeit abgegrenzt waren, doch
ohne Trennungszeichen und zwar wählte ich lediglich Schriftminuskeln
in Antiqua aus, weil diese Schriftart sich nach meinen Untersuchungen
von mittlerer Leseschwierigkeit erwies. Die Versuchsperson hat nun
die Aufgabe, diese sinnlose Zusammenstellung von Buchstaben mög-
lichst schnell und in der Weise zu lesen, daß je drei Buchstaben zu
einer Silbe zusammengefaßt werden. Diese Zusammenfassung geschieht
abwechselnd in drei verschiedenen Modi, um nach Möglichkeit Übungs-
wirkungen abzuschwächen. Die Fehler werden durch den Versuchs-
leiter kontrolliert. Der Versuch verläuft nun in folgender Form: Die
Lesetafel wird vor die Versuchsperson gelegt, so daß sie sie bequem
überschauen kann. Hinter der Tafel steht in leicht handgreiflicher
Nähe das Chronoskop. Der Beobachter hat die Hände so gelagert,
daß der Zeigefinger der linken Hand sich über dem Knopf des Aus-
lösehebels befindet, der der rechten über dem Hemmhebel. Der Blick
ist auf die noch durch eine verschiebbare Schiene verdeckte Anfangs-
silbe eingestellt. Die Versuchsperson zählt in bestimmtem, vorher ge-
übtem Tempo bis drei; auf zwei! wird die verdeckte Schiene durch
den Experimentator zurückgezogen. Der Prüfling spricht: drei! nicht
aus, sondern drückt anstatt dessen auf den Knopf der Arretierung
und beginnt in demselben Augenblick zu lesen. In dem Moment, da
er das erste Zeichen der letzten Silbe ausspricht, hemmt er mit dem
Zeigefinger der rechten Hand den Lauf des Uhrwerks. — Die Vor-
bereitungen haben den Zweck, einen möglichst präzisen Beginn und
Schluß der Zeitmessung zu erzielen. Selbstverständlich muß ein
Übungskursus, der übrigens keine großen Schwierigkeiten zu über-
winden hat, den Hauptversuchen vorangehen. In demselben muß
auch das ungewohnte Zusammenfassen dreier willkürlich gewählter
Zeichen zu einer Silbeneinheit Berücksichtigung finden und soweit
zu einem glatten Ablauf gebracht werden, daß die Versuchsperson
nur auf die Neuheit der Zeichen ihre Aufmerksamkeit einzuspannen
312 B. Mitteilungen.
nötig hat. Der Einfluß der Übung muß eliminiert werden, weil
andernfalls eine Pseudoermüdungskurve gewonnen werden würde, die
von Anfang an sich in absteigender Richtung bewegt.
(Forts. folgt )
B. Mitteilungen.
1. Ein Schülerbericht aus Trüpers Erziehungsheim
auf der Sophienhöhe bei Jena.
Von Fr. Rössel, Hamburg.
(Schluß.)
Ein Beispiel nach Stenogramm sei dazu noch mitgeteilt: P. spricht:
»Einmal tekel mi (war nicht deutlich zu verstehen) der Gärtner hat
weggepflanzt. Es ist in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend.
Weihnachtsbaum, ha, ha! Auf die Rabatten babe ich Putti gemacht, die
Rabatte ist ein Pappding. Wenn du Petroleumhände schmutzig, um Gottes-
willen, da kommt der Bahnmann und prügelt mich durch. Ich will nach
Hirschberg fahren. In Hirschberg machen ‚ch‘ Gott nein. Der Maikäfer
ist ein nützliches Tier, ich hol den Stock rein, der Junge ist zu albern.«
Zuweilen zeigt sich auch eine Neigung zu Reim- und Klangassoziationen.
»Da bin ich aufgewacht in meiner ganzen Pracht, da hast du einen
Schnupfen. Die Raben speisen Aas, verfaultes Fleisch. Deine Kröte,
meine Kröte, Frosch, ah, ah. Bettelmannsspeise, Apfelspeise, Schokoladen-
speise, Eierspeise, Flammeri.«
Er zählt nun ein ganzes Menü auf.
Einen außerordentlich starken Einfluß auf den Vorstellungsablauf
haben bei P. Musikinstrumente und Musik. Er besitzt ein vorzügliches
musikalisches Gehör. Jeden Ton kann P., mag er in einer beliebigen
Lage auf dem Klavier, auf der Geige, anf dem Harmonium oder durch
Gesang angegeben werden, sofort sicher angeben. Umgekehrt vermag er
auch jeden ihm genannten Ton richtig zu singen. Ein schwieriges Lied
von Brahms, welches er nur einmal gehört hatte, konnte er noch nach
vier Monaten der Melodie nach vollständig richtig singen. Alle gehörten
Melodien spielte er auf dem Klavier nach. Die Begleitung sucht er sich
selbst. Dabei geht ihm selten ein Ton fehl, obwohl er in den schwierigsten
Tonarten (gewöhnlich des-Dur) spielt.
An einem Feste hörte er eifrig der Musik zu und rührte sich nicht.
Wenn er angesprochen wurde, kniff er die Augen zusammen, wandte sich
ab, als ob ihm die Störung unangenehm wäre, und als ob er von dem
gesprochenen Worte während der Musik nichts hören wollte.
Ein anderes Mal stand er, während Bilder einer Laterna magica vor-
geführt wurden, unausgesetzt am Harmonium, drückte die Tasten nieder,
obwohl kein Ton hörbar werden konnte und summte eine Melodie. Um
die vorgeführten Lichtbilder, für Kinder etwas außerordentlich Interessantes,
1. Ein Schülerbericht aus Trüpers Erziehungsheim. 313
kümmerte er sich gar nicht. In der Zeichenstunde ist sein beständiges
Wort: »Lieber ein Harmonium zeichnen.«e Dann malt er auf sein Blatt
Klavier, Geige, Harmonium, Orchestrion, Trompete und Phonograph. An
Spielen, bei denen gesungen wird, beteiligt er sich noch am meisten. So
wünschte er sich einmal unaufgefordert das Spiel »Hans Michel«, in dem
Musikinstrumente nachgeahmt werden, deren lange Reihe er ohne zu irren
nachahmte.
Musikinstrumente werden mit allen Dingen in Verbindung gesetzt.
Im Garten sagt er: »Der Baum soll das Klavier sein, der Baum soll das
Harmonium sein. Das Harmonium schmeckt gut. Das Orchestrion schmeckt
gut. Wenn man das Harmonium aufmacht, sind Klaviertasten da. An dem
Baum will ich spielen: Stille Nacht, heilige Nacht. Ich will nur so tun.«
Diese stark betonten Vorstellungen assoziieren sich naturgemäß auch
mit den dazu gehörigen Bewegungsvorstellungen. Tische, Stühle, Bäume,
Wände, Türen, Schränke und Fenster geben ihm Anlaß, stehen zu bleiben,
um an ihnen die Fingerbewegungen des Klavierspielens nachzuahmen.
Einmal hob er einen kleinen Zweig auf, knickte ihn um und sagte: »Das
ist ein Grammophon. Jetzt hole ich eine Platte: Stille Nacht.« Er nahm
ein Blatt, steckte es auf den Zweig, drehte ihn um und summte dazu die
Melodie: Stille Nacht. Oft sucht er sich lange Papierstreifen, malt auf sie
Striche, welche die Tasten vorstellen sollen und spielt auf ihnen Klavier.
Andere Papierstücke klebt er zusammen, so daß ein Kästchen entsteht,
welches ihm Klavier oder Harmonium ersetzt. Wird er bei diesen Be-
schäftigungen unterbrochen, so treten starke Affekte auf. Im Unterricht
spielt er fast immer auf der Bank Klavier. Er übt allerhand Griffe,
schlägt mit einem Finger mehrmals auf die Bank und brummt den ge-
dachten Ton vor sich hin. Einmal stand er plötzlich auf, kniete vor dem
Kreidekasten an der Tafel nieder und setzte sein Klavierspiel an dem
Kreidekasten fort. Auf die Frage, was er mache, antwortete er: »Das
soll das Klavier sein.«
Folgender Vorgang hatte sich vollzogen: Die Erinnerungsbilder von
Tönen waren lebendig geworden, damit auch die Vorstellung des Instru-
mentes, auf dem die Töne gespielt werden. Er fängt also an, auf der
Bank zu spielen. Plötzlich sieht er den Kreidekasten an der Tafel. Da
der Kreidekasten ebenso wie die Klaviatur vorgeschoben ist, bietet ihm
der Kreidekasten mit der Tafel ein ähnlicheres Bild eines Klavieres als
die Bank. Er geht also an den Kreidekasten, kniet nieder, weil der
Kasten tief hängt, und setzt da seine Fingerübungen fort.
Andere Gedankenverbindungen, daß er in der Schule ist und da
ruhig sitzen muß, treten nicht hemmend in die Assoziationstätigkeit ein,
da die herrschenden Vorstellungen aus dem musikalischen Gebiete viel zu
lebendig sind, als daß andere wirksam auftreten könnten.
Im Vorstellungsablauf treten ferner Perseverationen und Stereotypien
auf. Angeregte Vorstellungen bleiben abnorm lange haften. Zuweilen
hält er sie tagelang fest. Stereotypien treten besonders auf, wenn er
seine Gedanken schriftlich aufzeichnet. Die ersten zwei Briefe, die er
schrieb, stimmten wörtlich überein. Sie seien hier mitgeteilt.
314 B. Mitteilungen.
»Liebe Mama kommen sie doch hier her in Jena Sophienhöbe. Papa
kommt auch in Jena. Frl. M. ist schon hier. Fräul. Sch. ist schon hier.
Fri. L. ist schon hier. Frl. M. ist schon hier, bist du auch artig gewesen
hoppst und zückst du auch nicht in Jena, sonnst bin ich sehr böse reisen
wir sofort nach B. und kommen wir nicht in Jena. Dann essen wir
Mittag. Zum Mittag gab Reißsuppe, Kartoffeln, Fleisch und Birnen-
kompott. Zum Kaffee gibts Semmel, schläfst du auch schön, gehst du
auch nicht ins Zimmer, sonst kommt Frl. M. und schimpft. Da weine ich
nicht die ganze Nacht, sonnst gehe ich fort und komme nie mer wieder,
da schlafe ich die ganze Nacht. Morgens stehe ich auf, da kann ich nicht
zu Frl. lieber hier bleiben in Jena. Da essen wir Frühstück. Dann gehe
ich auf den Hof und spiele nicht hinfallen, sonnst sind die Hände voll
Wunde und weine und rufe Mama mir sind die Hände voll Wunde. Mama
dann nimmst du Arnika und Verband rein da kühlt es innen. Da habe
ich Schule. Dann ist ne kleine Pause, da habe ich wieder Schule. Dann
ist wieder Pause. Dann essen wir Mittag, dann schlafe ich ein bischen.
Dann trinke ich meine Milch mit Mußsemmel. Dann gehen wir in den
Garten, da spiele ich mit, dan gehe ich in die Klasse, da spiele ich mit.
Dann essen wir Abenbrot. Dann gehen wir zu Bett! Einen schönen
Kuß Deiner Mama.«
Der zweite Brief glich, wie schon erwähnt wurde, wörtlich dem ersten,
Wäre bei den folgenden Briefen keine Beeinflussung hinzugetreten, so
würde P. wahrscheinlich auch heute nichts Anderes schreiben.
In allen späteren Briefen finden sich immer und immer wieder
Wiederholungen. Einmal zählte er in einer Reihe von Briefen seine Ver-
wandten, ihre Wohnorte, Straßen und Hausnummern auf. Ein anderes Mal
beständig folgendes Menü: »Zum Mittag gab Spargelsuppe, Paßtete, Forellen,
Spargel, Rinderfilet und Aprikosenkompott, Fanilleneis, Krachmandeln,
Traubenrosinen und Konfekt und Eiswaffeln, es hat sehr schön ge-
schmeckt.«
Es werden sich kaum zwei Briefe oder sonstige Schriftstücke finden,
in denen nicht Sätze oder ganze Abschnitte wörtlich wiederkehren. Wird
fremde Beeinflussung abgerechnet, so bleiben nur wenig Vorstellungen
übrig, in denen sich der Ablauf bewegt. Deshalb ist auch im Denken
kein Fortschritt bemerkbar. Nirgends ist ein produktiver Gedanke zu er-
kennen. Es fehlen die höheren psychischen Funktionen, wie Schließen
und Urteilen, da eben die gesunde Vorstellungsverbindung geschädigt ist.
Besonders starke Urteilsstörungen treten hervor. Er redet alle Er-
wachsenen mit »du« an, er unterscheidet nicht: ich, du, er, wir, ihr, sie,
sondern er gebraucht die Pronomina, wie er sie eben gehört hat. Wird
er ermahnt, nicht wieder zu zappeln, so sagt er: »Du versprichst mir,
nicht wieder zu zappeln.« Hat er keinen Bleistift, so sägt er: »Bitte,
lieber Herr R., gib mir einen Bleistift.« Wenn er von sich allein erzählt,
schreibt er stets »wir«. Obwohl er weiß, daß er in Jena ist, schreibt er
stets am Anfang der Briefe seine Heimatstadt. Seine Eltern redet er mit
»dus an, manchmal mit »sie«, zuweilen auch abweckselnd »du« und »sie«
in einem Briefe.
1. Ein Schülerbericht aus Trüpers Erziehungsheim. 315
Nachträglich sollen noch einige Beispiele zu dem regellos verknüpften
Vorstellungsablauf gebracht werden.
“FP. sagt zu einem Knaben: »F. du sollst sagen, verbrannt Jägersstuh.«
„„Frage: Was soll denn das heißen?
Antw. »Quatsch«.
Kurz danach rief er lachend aus: »Frau Rat.«
Frage — Was ist das?
Antw. — Eine noble Dame. —
Ferner:
»Wie sieht Nikolaus aus, Nikolaus ist ein Osterei.«
»Ein Glas Wein ist eine große Höhle.«
»Wie siehst willst du schreiben aus.«
»Wie siehst du Schälchen aus.«
»Otto ist ein Cakes.«
»Wenn ich Leim trinke, stirbt man.«
Auf einem Spaziergang rief er plötzlich: »Schlagsahne, Schlagsahne,
Schlagsahne.«e Dann »Angstgeklier, Angstgeklier, — — Silau, Silau.«
Wird er gefragt, was das heißen soll, antwortet er: »Quatsch«.
Wie sieht das und das aus?
K. P. (ein Schüler) ist R. R. (auch ein Schüler).
Was ist Herr Mutter. Das gibts nicht, das ist Quatsch.
Wie sieht April aus, April ist eine Stadt.
Wer geht hier da! Das ist Anna. Das ist Pfeffer.
Wie sieht Dukaten aus? Dukaten ist Klinik.
Einmal kam er lachend in die Stunde und rief: Weine man nicht
(Lachausbruch) die Röhre stinkt (erneuter Lachausbruch) Klöße, das siehste
man nicht (Lachausbruch).
Aus seinem Schreibheft wollen wir folgende Probe geben. In jeder
Ecke einer Seite steht: Mense an. Ferner schreibt er:
Pe Kopf nicht an. Mense an
Die usw Vogl Ci in zul Curtmann. Mense an
Kems Weila Vogl usw Tol ven Eula scho hülö lag hu hu ha Klabb-
rautelhorn tolpe ut ur um Po le köps Kopeltisi Curtmann Mense
an Vogl usw rübs don vol Curtmann.
Dreierlei läßt sich hier feststellen:
1. Zwei beliebige Vorstellungen treten in sinnloser Verbindung auf.
(Otto ist ein Cakes, ein Glas Wein ist eine große Höhle.)
2. Einzelne freisteigende Vorstellungen treten mit so lebhafter Betonung
ins Bewußtsein, daß er sie ausspricht. (Schlagsahne.)
3. Silben werden zu einem Wortkonglomerat zusammengesetzt. (Jägers-
stuh, Angstgeklier, Silau.)
Es wäre noch die Seite des Gemüts zu betrachten. Da tritt zunächst
hervor, daß die Gemütslage meist heiter ist. Herrscht eine lustbetonte
Vorstellung, so kehrt sie immer wieder und hält oft tagelang an (Perseve-
ration). Die heitere Stimmungslage ist so stark, daß selbst Empfindungen
mit ausgesprochenen Unlustgefühlen nicht imstande sind, eine Hemmung
herbeizuführen. Als er einmal eingeschmutzt hatte, hörte er wohl das
316 B. Mitteilungen.
Wort »Stinkewitze. Da fing er an zu lachen und fortwährend das Wort
zu wiederholen, so daß die zur Reinigung angewandte Dousche, die ge-
wöhnlich keine Lustgefühle hervorzurufen pflegt, ganz ohne Einfluß auf
die Stimmung blieb. Den ganzen Tag über kehrte das Wort in der Asso-
ziation wieder und rief beständig lustbetonte Gemütsausbrüche hervor.
Einen tieferen Einblick in das Gemütsleben gestattete die Weihnachts-
zeit. Die Weihnachtsfeier vor der Bescherung berührte sein Gemüt gar
nicht. Bei anderen schwachsinnigen Kindern ist gerade bei dieser Feier
ein tieferer Eindruck beobachtet worden, der allerdings zum größten Teile
durch äußere Umstände hervorgerufen wird. Immerhin entsteht durch den
weihnachtlich geschmückten Festsaal und durch die Andacht ein Gefühl
der Weihe, das durch die vorher gelernten Weihnachtslieder, durch Weih-
nachtsarbeiten und durch das Erscheinen des Nikolaus vorbereitet wird.
All diese Ereignisse zogen an P. fast spurlos vorüber. Auch die Be-
scherung übte keinen nennenswerten Einfluß aus. Nichts war von
glänzenden Augen, von Freude und Jubel zu bemerken. Er wurde wohl
etwas lebhafter, aber die kindliche Freude an den Geschenken fehlte ganz.
Nur eine Mundharmonika nahm ihn in Anspruch. Er blies die einzelnen
Töne und nannte ihre Namen. Ging ein Ton nicht, wurde er unwillig
und sagte: »Das fis geht nicht mehr.« Schließlich klopfte er auf die
Harmonika und brummte die betreffenden Töne vor sich hin. Bald fing
er an, mit beiden zu klopfen und zwar in so aufgeregter Weise, daß ihm
die Harmonika weggenommen werden mußte. Da warf er sich auf den
Boden, schrie, strampelte mit den Füßen und wollte nicht wieder auf-
stehen. Um seine anderen Geschenke kümmerte er sich gar nicht. Den
außerordentlich geringen Eindruck von Weihnachten illustriert am besten
der Brief nach dem Feste:
»Liebe Mama! Was haste zu Weihnachten bekommen. Eine Orgel, eine
Muntermonika, ein Kaufladen, ein Harmonika, ein Apreißkalender. Eine
Eselsfuhrwerk. Ein Möbschen. Wie wir in der Turnhalle waren. Da haben
wir gesungen. Vom Himmel hoch, da komm ich her. Da haben wir ge-
sungen O du fröhliche. Da hat der Herrektor Tr. vorgelesen, weil das
Christkind geboren ist. Da sind wir im Wohnzimmer gegangen. Dann
ist Weihnachten. Was war auf dem Tische Sachen. Was habt mit den
Kindern gespielt. Die Orgel, die Muntermonika, ein Muntermonika zum
aufmachen. Die Muntermonika hat mir gut gefallen. Gestern haben wir
Schlitten gefahren im Berg runter. Da habe ich nicht gefallen. Da habe
ich gesagt mich frieren die Hände. Da habe ich nochmal Schlitten ge-
fahren. Einen schönen Gruß von S. P.e
Es ist versucht worden, den Brief zu beeinflussen. Aber alle An-
regungen sind nicht weiter verarbeitet worden, sondern sie wurden un-
verändert niedergeschrieben, z. B. »Was hast du zu Weihnachten be-
kommen? Was weißt du noch, als wir in der Turnhalle waren? Was
haben die Kinder gespielt?« usw. Von den aufgeführten Geschenken ge-
hören ihm nur die zwei ersten. —
Starke Unlustgefühle traten beim Schlittenfahren auf. Er blieb vor
seinem Schlitten stehen, die Hände in der Manteltasche, ohne sich zu
1. Ein Schülerbericht aus Trüpers Erziehungsheiın. 317
rühren. Wurde er auf den Schlitten gesetzt, so blieb er ruhig sitzen.
Bekam der Schlitten einen Stoß, daß er sich in Bewegung setzte, fing er
an, laut zu schreien. Einmal kippte er mit dem Schlitten mitten in der
Bahn um. Er blieb ruhig neben seinem Schlitten liegen, obwohl er sah,
daß andere Kinder fahren wollten und obwohl ihm zugerufen wurde, auf-
zustehen und die Bahn frei zu machen.
Ein sicher fahrendes Mädchen wollte ihn mit auf ihren Schlitten
nehmen. P. aber schrie: »Will die E. lieber tot machen, will die E.
lieber tot schlagen.«
— Warum denn?
»Ich will sie also doch tot schlagen, lieber tot schlagen.«
— Aber du mußt ihr doch dankbar sein, wenn sie dich mitnehmen will.
— »Dann lieber das ganze Schlittenfahren kaput machen.«
Dabei fing er an, den Schlitten mit Fußtritten zu behandeln.
Meist rufen auch Erinnerungen an das Vaterhaus Unlustgefühle in
ihm wach. Einmal sollte er etwas von seiner Heimat aufschreiben. Da
schrie er laut auf: »Will lieber in Ch. (seine Vaterstadt) alles kaput
machen.«
— Warum denn?
»Weil so viel lernt, das tiefe cis. Weil ich wütend bin.«
— Weshalb bist du denn so wütend?
»Weil ich in Ch. alles kaput mache und nach St. fahre.«
Fernerhin treten bei allerhand kleinen Arbeiten, zu denen er angehalten
wird, Unlustgefühle auf. Als er einmal etwas wegräumen sollte, sprach
er: »Ich werfe mich hin und schlage den Ellbogen auf und dann ist ein
großes Loch.«
Zusammenfassend können über sein Gefühlsleben folgende Punkte
aufgestellt werden:
1. Die Gemütslage ist hauptsächlich krankhaft heiter.
2. Ethische Qualitäten, wie Dankbarkeit, Mitleid usf., die im Gemüts-
leben wurzeln, fehlen.
3. Unlustgefühle treten in der Regel dann auf, wenn er angehalten
wird, etwas zu arbeiten, wenn er also seinen Gedanken nicht mehr
nachgehen kann, sondern wenn er sie auf irgend eine Zielvorstellung
hinlenken muß.
4. Meist kommt es nicht zu Handlungen, abgesehen vom Zähneknirschen
und Händeballen. Nur wenn sein Gedankengang auf längere Zeit
gehemmt wird, löst eine gesteigerte Irradiation der Gefühlstöne
Handlungen aus. (Schlittenfahren, Wegnehmen der Harmonika.)
Unter dem Einfluß der Aufmerksamkeitsstörungen, der Denkhemmungen
und der Einförmigkeit in der Ideenassoziation stehen auch die Handlungen.
P. ist in seinem Verhalten passiv. Wo er steht, da bleibt er stehen, meist
mit den Händen in den Taschen. Er läßt sich schieben und vorwärts
ziehen. Dabei schaut er ganz ausdruckslos in die Luft und achtet nicht
auf den Weg. Anregungen haben ganz geringe Wirkungen. Zum Aus-
und Anziehen braucht er außerordentlich viel Zeit. Oft bleibt er, mit
einem Kleidungsstück in der Hand, regungslos sitzen. Wird er ermahnt,
318 B. Mitteilungen.
sich schneller auszuziehen, sagt er teilnahmslos »ja«, umfdarauf weiter in
dem apathischen Zustande zu verharren. Ohne Hilfe und Anregung würde
er einige Stunden zu seiner Toilette brauchen oder überhaupt nicht fertig
werden. Knöpfe auf- und zumachen, Schuhe anziehen und zuschnüren,
bereiten ihm große Schwierigkeiten. Es ist ihm auch ganz gleich, ob
Schuhe und Knöpfe in Ordnung sind. Dazu tritt auch oft der Negativismus.
Zu einer kleinen Handlung aufgefordert, antwortet er: »Nein, lieber das
nicht tun«, auch wenn die Aufforderung durchaus nichts Unangenehmes
enthält.
Unterbrochen wird dieser apathische Zustand häufig von stereotypen
Bewegungen. Ohne jeden Anlaß fängt er an, die Hände vor dem Gesicht
auf und ab zu bewegen. Oft springt er fortgesetzt mit beiden Beinen in
die Höhe und macht dazu eigentümliche Flugbewegungen, indem er Ober-
und Unterarm ruhig hält und die Hände ganz rasch auf- und abbewegt.
Beim Klavierspielen bewegt er beständig den Oberkörper vor- und rück-
wärts. Häufig macht er auch Manipulationen mit den Fingern, wobei
eine eigentümliche Schnippbewegung herauskommt. Zuweilen kann man
ein beständiges rüsselförmiges Vorstülpen der Lippen beobachten. Er weiß
sehr wohl, daß er nicht zappeln soll, denn er sagt selbst: »Das Hampeln
ist so schlecht, ich will nicht mehr hampeln, das Hampeln ist in der
Hölle«, aber selbstverständlich kehren diese Stereotypien immer wieder.
Eine Bewegung verdient noch besonders hervorgehoben zu werden, nämlich
die, daß er beim Gehen die Oberschenkel aneinander reibt.
Überblicken wir noch einmal das Ausgeführte, so ergibt sich folgendes
Krankheitsbild.
1. An dem Vorstellungsschatz an sich läßt sich kein erheblicher Defekt
nachweisen,
2. Der Ablauf ist gestört durch Inkohärenz in der Ideenassoziation,
durch Perseverationen und Steieotypien.
3. Sowohl die Weckbarkeit als auch die Haftbarkeit der Aufmerksamkeit
sind stark herabgesetzt.
Das Gemüt ist krankhaft heiter.
Ethische Qualitäten fehlen im großen Umfange.
Der apatlische Zustand wird häufig unterbrochen durch stereotype
Bewegungen.
Aus der Vorgeschichte geht unzweifelhaft hervor, daß wir es mit
einem Kinde zu tun haben, welches schon in frühen Jahren recht auf-
fällige Abweichungen von der Norm zeigte. Ferner lehrt der Entwicklungs-
gang, daß keine extrauterinen Ursachen vorzuliegen scheinen, die Anlaß
zu den Störungen hätten geben können. Die Stenose des Hinterhauptes
ist angeboren. Es liegt also offenbar eine angeborene Psychose vor.
Weiter zeigt der Intelligenzstatus, daß kein erheblicher Defekt besteht.
Die Störungen liegen nicht im Ausfall von Vorstellungen, sondern in der
Verknüpfung der Vorstellungen. Früher waren die Störungen nicht so
ausgeprägt wie jetzt, sonst bätte er die Kenntnisse nicht erlangt, die er
in der Tat besitzt. Es ist also ein Rückgang festzustellen. In letzter
Zeit haben die Krankheitssymptome ungefähr das Bild gezeitigt, welches
am
2. Selbstbekenntnis eines Sechzehnjährigen, 319
man bei der Dementia hebephrenica vorfindet. Die Psychopathologie lehrt,
daß Fälle von Hebephrenie, allerdings sehr selten, bis in das 7. Lebensjahr
zurückverfolgt werden konnten.!) In diesen Fällen ergaben die weiteren
Beobachtungen eine abnorm frühzeitige Pubertätsentwicklung. Bei dem
vorliegenden Falle gibt hierfür vielleicht das eigentümliche Schenkelreiben
einen Anhaltepunkt. Ob wirklich eine Dementia hebephrenica vorliegt,
wird erst der Ausgang der Psychose beweisen. Wichtiger ist die Be-
handlung des Kindes. Unter den gegebenen Umständen ist es nicht leicht,
einen wirksamen Erziehungsplan aufzustellen. Die nächste Aufgabe ist,
den Knaben in der Hauptsache heilpflegerisch zu behandeln, um sein
krankes Nervensystem zu kräftigen. Der Schulunterricht fällt ganz weg.
Dafür wird er am Morgen eine Stunde im Kindergarten mit Bauen und
Legen beschäftigt. Hieran schließen sich Übungen im Aus- und Anziehen
und im Schnüren. Nach dem Frühstück beteiligt er sich an Bewegungs-
spielen. Eine zweistündige Ruhe füllt die Zeit bis zum Mittagessen. Der
Nachmittag bringt Spaziergänge, Spiele im Freien, Turnen, zur Abwechslung
leichte Gartenarbeit. Auf die Verteilung der Ruhestunden muß besonderer
Wert gelegt werden, weil jede Übermüdung Unlustgefühle erzeugt und so
ungünstig auf das Gesamtbefinden einwirkt. Um den überwertigen Musik-
vorstellungen entgegen zu treten, wird er nach Möglichkeit von Musik
ferngehalten.
Im allgemeinen haben diese Anordnungen bis jetzt bewirkt, daß das
Gesamtverhalten des Knaben etwas geordneter und regelmäßiger geworden ist.
Über die Aussichten in der Entwicklung läßt sich naturgemäß nichts
bestimmtes sagen. Jedenfalls müssen wir von der Natur des Knaben
selbst einen Wandel erwarten, bevor andere unterrichtliche und erzieherische
Maßnahmen wirksam eingreifen können.
2. Selbstbekenntnis eines Sechzehnjährigen.
Mitgeteilt durch J. Delitsch-Plauen i. V.
Luckenwalde, 3.2. 12. (= 13.)
Mein lieber Albert!
»Verflucht, Luckenwalde bei Berlin, habe ich da recht gelesen, der Kerl
ist in Berlin?« so wirst Du wohl ausrufen bei Erhalt dieser Zeilen. Kaum
glaubhaft, aber doch furchtbare Wahrheit. Mensch höre und staune und
lerne Nachstehendes begreifen, damit Dir nichts ähnliches widerfahre.
Lieber Albert, sei einmal kein Kind und laß Dir eine inhaltsschwere Ge-
schichte erzählen.
Es war einmal ein »Stift«, der hatte mit gewissen Freunden, Leser
dieser Zeilen selbstverständlich ausgeschlossen, sehr fidel gelebt oder will
ich sagen liederlich und leichtsinnig gelebt. Da er aber zu Hause wenig
oder fast gar kein Geld bekam, gepumpt. Die Schulden wurden immer
größer. Der Teufel hatte den armen Jungen so richtig gepackt und ließ
1) Ziehen, Die Geisteskrankheiten des Kindesalters. Heft II, S. 7.
320 B. Mitteilungen.
ihn nicht eher wieder locker, als bis er so richtig ins Unglück geriet.
Er wußte nicht mehr ein noch aus. Das Leben konnte er sich nicht
nehmen, weil er noch eine arme kranke Mutter hatte, der er sehr ver-
pflichtet war. Da mußte erst seine Mutter tüchtig bezahlen, aber diese
konnte natürlich das nicht ahnen, daß sie so einen Lump ihren Sohn
nennen mußte. Er hatte aber noch mehr geborgt, da wandte er sich an
einen Bekannten, der sich bei Zahlung hoher Zinsen bequemte, ihm 30 M,
den Rest seiner Schulden, bis auf Ostern, da sollte dieser Mensch aus-
lernen, vorzustrecken. Aber unvorhergesehene Umstände auf seiten des
Gläubigers zwangen letzteren Mitte vorigen Monats das Geld nebst Zinsen
zurückzufordern. Der arme Kerl stand Höllenqualen aus. Wo sollte er
das Geld hernehmen und nicht stehlen. An seine arme Mutter konnte er
sich nicht wenden, gute finanzielle Freunde hatte er nicht, so kaın er auf
den Gedanken, das Geld aus der Portokasse zu entleihen. Da kam der
1. Februar heran, da sollte die Kasse abgeschlossen werden. Der Zu-
stand, in welchem sich der Portokassenkavalier befand, läßt sich nicht be-
schreiben. Da kam ihm der Einfall, das Geld vorläufig von seinem Ge-
halt zu decken und das Geld erst später seiner Mutter, die schon mit
Schmerzen darauf lauerte, zu geben. Aber wie es nun einmal in der
Welt ist, der Mensch denkt. aber Gott lenkt. Am 1. Vormittag forderte
der Chef seinen hoffnungsvollen Lehrling auf, den Betrag für Kohlen, die
seine Mutter vom Geschäft des Preises halber mit bezogen hatte, zu
begleichen.
Der junge Mensch kam mittag heim und erzählte seiner Mutter, daß sein
Chef das Kohlengeld verlangt hat und auf seinen Gehalt deshalb a Conto
zurückbehalten hat und daß er das übrige nachmittag mitbringen sollte.
Aber seine Mutter, die diesen Schwindel nicht glaubte, sagte ihm, daß sie
die Kohlen nachmittag selbst bezahlen wolle und gab ihm das fehlende
Geld nicht heraus. Das durfte nun unter allen Umständen nicht passieren,
denn sonst wäre der arme Teufel kompromittiert gewesen. Ich muß noch
verausschicken, daß er die Absicht hatte, die Kohlen erst nach Abschluß
der P. K. zu bezahlen und daß er das Kohlengeld der P. K. ein-
verleiben wollte, so wäre ihm vorläufig ganz gut geholfen gewesen, aber
nun kam ihm seine Mutter dazwischen. Öffenbaren konnte er sich auf
keinen Fall seiner Mutter, denn mittags über hatte dieselbe den Besuch
einer Schwester von ihr und vor dieser konnte ihr a. J. diese Sachen nicht
offenbaren. Der a. J. befand sich in einer verzweifelten Lage, was sollte
er tun? Als er am Sonnabend sich wieder !/,2 ins Geschäft begeben
wollte, kam ihm die Erkenntnis, daß das ganz unmöglich ist, denn nach-
mittag mußte alles ans Tageslicht kommen. Da begab er sich auf den
o. Bahnhof, löste von seinem Gehalt, das er seiner Mutter nicht gegeben
hatte, eine Fahrkarte nach Leipzig. 247 verließ er Plauen mit dem Aus-
ruf »Ade, du schnödes Plauen, so Gott es will, werde ich dich nie wieder
betreten oder höchstens als gemachter Mann, denn Gott verläßt keinen
Deutschen«e. So dampfte er nach Leipzig ab, von Gefühlen bewegt, die
sich nur der beschreiben kann, der ähnliches erlebt hat. Wird man dich
verfolgen? Wie wird sich meine arme Mutter nach mir sorgen? Solche
2. Selbstbekenntnis eines Sechzehnjährigen. 321
Fragen gingen ihm immer durch den Kopf. Vor Leipzig hatte er einen
Maler kennen gelernt, der mit einem Bilde auf die Berliner Ausstellung
wollte und diesem vertraute sich der arme Flüchtling an, da der Künstler,
er hat sich einen berühmten Namen gemacht, in altertümlichen Kostüm-
malereien, herzliche Sympathie für ihn zeigt. Dieser wollte ihn als Fak-
totum für sich engagieren, doch schlug derselbe das Anerbieten rundweg
ab, da er erstens aus dem Liedern und Kneipen nicht herausgekommen
wäre und zweitens wollte er sich einen Posten suchen, wo er es auch zu
etwas ordentlichem bringen kann. In Leipzig verließ der Kunstaussteller
mit dem a. J. den Zug, zeigte ihm abends die besonderen Sehenswürdig-
keiten der Stadt, dann begab er sich mit ihm in eine Künstler- Kneipe.
Maler, Schauspieler und Studenten waren da in großer Menge beisammen.
Was da alles geleckt wurde, man macht sich kein Bild! Da wurde
gespielt, Karten, Billard, Würfel und Schach. Der a. J. wurde auf
Vorstellung durch seinen Gönner liebenswürdig aufgenommen und voll-
geschwemmt voll Bier und Wein. Hier in dieser Kneipe sah er auch
Alfred Ws. wieder, der doch in Plauen als erster Liebhaber auftrat. Hier
hatte er gerade am Abend in Lottchens Geburtstag, den alten Professor,
in Plauen Wiesners Rolle, gespielt. Er scheint sich sehr zu seinem Vorteil
gebessert zu haben, denn alle Anwesenden waren seines Lobes voll, vor
allem die Studenten, die dieser Auffuhr beigewohnt hatten, na das wird
wohl auch etwas für diese liebedurstigen Menschen gewesen sein. Doch
zurück zu unserm unglücklichen Freund. Es war noch nicht 2 Uhr
nachts, war er so betrunken, daß er sich nicht mehr bewegen konnte.
Als er wieder Mensch wurde, saß er in einem Café, wohin ihn sein Be-
gleiter gebracht hatte und konnte bei einer Tasse Schlagsahne ernüchtern.
Geld hatte er bei dieser Kneiperei nicht gebraucht, mit Ausnahme weniger
Pfennige, die er verspielt hatte. Geschlafen wurde in dieser Nacht natür-
lich nicht. Morgens begaben sich die beiden auf den Bahnhof, wo Sie
nach Berlin weiterfuhren. Der Ausreißer wollte nämlich nach Lucken-
walde, wo er bei einem Freunde, der im Herbst dahin getippelt war,
bleiben und sich Arbeit suchen. Das Zugabteil war sehr leer und bald
schliefen die beiden Übernächtigen ein und wurden erst wieder in
Wittenberg durch das Getöse des Eisganges wach. Es hatten sich nämlich
während der Nacht große Eisblöcke an der hohen Eisenbahnbrücke, die
dort über die Elbe führt, angestaut und dasselbe mußte erst von der
Jüterboger Brigade gesprengt werden. Dies war ein großartiger Anblick.
Doch lange war der Anblick den Reisenden nicht vergönnt, der Zug trug
sie ihrem Ziele immer näher. Links und rechts der Eisenbahn lagen über-
schwemmte Wiesen und Felder. Das ganze Land glich einem einzigen
Moorlande. Eine trostlose Ebene in der jetzigen Jahreszeit. Dem Vogt-
länder kommt es ganz umheimlich vor, wenn er sich von seinen Bergen
trennen muß und in solche Ebenen kommt, das ist eben auch die Mark oder
wie gewöhnlich gesagt wird »Dat it te Streisenbichse« (Streusandbüchse).
Nachmittags 4 Uhr fuhr der Zug in L. ein und hier trennte sich unser
j- M. von dem Maler. Da war er also am Ziele seines schnellen Ent-
schlusses. Ohne Papiere, ohne Gewißheit über die Zukunft und mit wenig
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 21
322 B. Mitteilungen.
Geld, was soll aus mir werden, hat er sich hundertmal gefragt, doch mit
seinem Vorsatze: Du willst besser werden und nicht wieder auf Abwege
geraten, trat er zuversichtlich in die fremde Welt. Der Freund war bald
gefunden und bald war er in des j. M. Erlebnisse und Pläne eingeweiht.
Hier fand er auch Logis für vorläufig. Arbeit als Kommis wurde auch
ausgemacht. Nur braucht er noch seine Papiere, die ihm hoffentlich seine
Mutter bald zuschicken wird. Und da sitze ich nun da in meinem Logis
mit eingeschlafenen Füßen und fast steifen Händen und schreibe Dir
diese Geschichte, damit Du auch weißt, was mich zu diesem Schritt ge-
trieben hat.
Mein lieber Albert, ich bitte Dich, halte mich trotz dieser Vorkomm-
nisse in Andenken, denn sehen werde ich Dich wohl nie wieder. Nach
Plauen komme ich nicht wieder zurück, das wirst Du wohl auch einsehn
und in der Welt werden wir uns wohl nie wiedersehn. Aber das eine
kann ich Dir versichern, wäre das nicht dazwischen gekommen, wir wären
gut Freund geblieben und ich wäre noch in Plauen in Deiner Umgebung
ein ordentlicher Mensch geworden.
Lieber Albert, ich bitte Dich, vernichte diesen Brief, damit ihn nicht
Deine Eltern oder sonst jemand in die Hände bekommt und noch die herz-
liche Bitte, schweig über das Gelesene, sage keinem Freund oder Kamerad
etwas von mir oder höchstens, daß ich auswärts Stellung habe. Erfülle
mir diese Bitte, denn im Vertrauen auf unsre feste Freundschaft habe ich
diese Zeilen geschrieben.
Leb wohl und vergiß nie Deinen tiefunglücklichen Freund Karl.
Karl ist der Sohn eines Trinkers, der seine Familie vor 8 Jahren
verließ. Seine treue Mutter war eine gute Erzieherin, und der gewandte
Kaufmannslehrling half ihr willig. Er scheute sich daheim vor keiner
Arbeit, wischte sogar die Stube und badete den Pflegebruder.
Aber er wollte gern flott leben, und die arme Mutter hielt ihn kurz.
Da wußte er sein Einkommen durch Austragen von Zeitschriften zu ver-
bessern. Das Nebengeschäft brachte ihm manche Lesefreude, verführte
ihn aber auch zum Kneipenleben. Das Ende vom Lied beschrieb
er selbst.
Die Plauener Jugendfürsorge erbat die Hilfe der Berliner » Deutschen
Zentralee und des Gemeindewaisenrates zu Luckenwalde.
Es sollten nun die Ausweispapiere, welche Karl von der Mutter ver-
langt hatte, zu weiser Verwendung an die Jugendfürsorgezentrale gesandt
und Karl selbst dorthin zur Empfangnahme verwiesen werden. Allein wir
hatten unsre Rechnung ohne Karls Vormund gemacht. Der sandte die
Papiere direkt an den jungen Menschen, der nach Hinterlassung einiger
Schulden Luckenwalde verließ und in Berlin dann das Elend eines Obdach-
losen zu kosten bekam. Er schleppte sich in ein Restaurant, konnte dort
nicht übernachten, brach vor Müdigkeit und Hunger auf der Straße zu-
sammen, gelangte in ein Jugendheim. Das schrieb an die Mutter. Die
kam zu uns. Wir sandten an das Jugendheim das Reisegeld und ließen
den jungen Menschen von der Mutter am Bahnhofe erwarten. Anderen-
3. Züchtigung fremder Kinder. 323
tags saß Karl vor mir. Ich ermahnte ihn, erwirkte ihm Fortsetzung der
Lehre bei seinem Chef in einer Filiale außerhalb Plauen. Karl versprach
das Beste. Er wollte sich nun ganz seiner beruflichen Ausbildung widmen,
namentlich auch vorzeitigem Verkehr mit Mädchen aus dem Wege gehen.
Wie erstaunte ich, als mir ein bekannter Arzt, bei dem mein Mündel
Frida X Dienstmädchen gewesen, nach kurzer Zeit eine Ansichtspostkarte
mit folgendem Inhalt übermittelte:
»Die herzlichsten Grüße erlaubt sich von hier ein alter Bekannter
vom Weihnachtsabend im D. H. V. zu senden, Hoffentlich sehen
wir uns zu den Feiertagen mal wieder. Wohne jetzt E.....
postlagernd K. D. 8. Karl D.
Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, meinem frechen Jungen
einen heilsamen Schrecken einzujagen, schrieb ihm also postlagernd:
Aber Junge! Was hast du mir versprochen? Heißt das worthalten?
Delitsch.
Später erfuhr ich, daß er in der Tat gewaltig erschrocken sei und
vor meiner Allwissenheit wünschenswerten Respekt bekommen habe. Die
Undankbarkeit des jungen Menschen war aber auch arg. Die Plauener
Jugendfürsorge hatte für ihn nicht nur das Reisegeld gezahlt, sondern
ihm auch, um die Vollendung seiner Lehre als Kaufmann möglich zu
machen, auf Wunsch der Firma bei einer Lehrerswitwe in E. eine Monats-
pension von 50 M bezahlt. Trotz bester Verköstigung und einem wöchent-
lichen Taschengeld von 1 Mark machte Karl wieder kleine Schulden, um
Cigaretten und Wurst zum Brot zu kaufen. Es erfolgte eine sehr, sehr
deutliche Ermahnung vor Chef und Prokurist, die bis heute wirksam ge-
wesen ist.
3. Züchtigung fremder Kinder.
Unsere Jugend bis zum 14. Jahre ist strafunmündig. Sie mag tun,
was sie will, sie kann nicht bestraft werden, wenn man nicht die Über-
weisung in eine Fürsorge-Erziehungs-Anstalt als Strafe rechnen will. Nun
neigt die Jugend sehr zu Dummheiten, Roheiten und kleinen Flegeleien,
worunter einzelne wie auch die Gesellschaft schwer zu leiden haben. Die
Schule hat keine Verpflichtung für die öffentliche Straße. Eine Anzeige
bei den Eltern hat nicht selten den entgegengesetzten Erfolg. So ist denn
die Gesellschaft den Jugendflegeleien schutzlos preisgegeben, und wehe,
wenn einer wagte, hier selbst Justiz zu üben! Wegen eines kleines Ein-
griffes riskiert er eine gerichtliche Verfolgung, gleichviel ob mit oder ohne
Verurteilung. Und das hält eben viele Leute ab, auf der Straße diese
notwendige Kinderzucht zu üben, wobei den größten Schaden eben die
Kinder selbst erleiden. Da müssen wir es nun als ein erlösendes Wort
mit Freuden begrüßen, daß unlängst das Oberlandesgericht in Jena eine
Entscheidung getroffen hat, die verdient, in weiteren Kreisen bekannt ge-
geben zu werden. Wir lesen darüber in der Zeitschrift »Das Recht«
(Nr. 2, 1913):
21*
324 B. Mitteilungen.
»Ein Recht zur Züchtigung fremder Kinder wird von einer weit
verbreiteten Praxis bei mutmaßlichem Einverständnis des nicht anwesenden
Vaters angenommen. Wo aber dieses Einverständnis des nicht an-
wesenden Vaters fehlt und vom Täter auch nicht vermutet wird, ver-
sagt diese Konstruktion eines abgeleiteten Züchtigungsrechts, wenn man
die Züchtigung nicht als eine im Öffentlichen Interesse liegende Pflicht
des Vaters ansieht ($ 679 B.G. B.). Indes kann man von einem ab-
geleiteten Züchtigungsrecht überhaupt absehen. Unter Umständen ist
vielmehr in Ergänzung des elterlichen Züchtigungsrechts ein Recht Dritter,
fremde Kinder zu züchtigen, als Ausfluß des öffentlichen Rechts
anzuerkennen.
Das ausschließliche Recht der Eltern auf Züchtigung muß zurück-
treten gegen das Recht der Allgemeinheit auf Zucht und Ordnung, auch
ihr entgegenstehender Wille verdient da keine Beachtung. Die All-
gemeinheit bedarf dieses Rechtes zu ihrem Schutze ebenso wie zur
Pflege der allgemeinen Wohlfahrt, für die die gute Erziehung der
Jugend ein wesentliches Moment bildet. Und deshalb ist das Recht
gerade in der jetzigen Volksüberzeugung tief begründet. Gerade heute,
wo das Gemeinschaftsleben auch auf dem Gebiete der Erziehung die
engen Schranken des Hauses mehr als seither durchbricht, ist es ihr
zum Bedürfnis geworden. Es will aber nicht das Recht der Eltern be-
seitigen; das Haus bleibt vor Eingriffen geschützt. Aber wo Kinder in
der Öffentlichkeit Zuchtlosigkeiten begehen, die das sittliche Empfinden
jedes normal denkenden Menschen gröblichst verletzen und nach ihrem
Gerechtigkeitsgefühl eine alsbaldige Sühne fordern, tritt das Recht der
Allgemeinheit ein, und jeder Volksgenosse darf züchtigen. Nur darf
eine solche Züchtigung nicht das Maß überschreiten, in dem ein ver-
ständiger Vater das Züchtigungsrecht an seinen eigenen Kindern ausübt.
(Jena I. St, S. 21. 12. 12, V. 43/12.)« Trüper.
4. Die Selbstmorde Jugendlicher.
Die Medizinalstatistischen Nachrichten (Jg. 4, 1913, Heft 3, S. 432
bis 450) enthalten eine ausführliche Untersuchung über die Selbstmorde
in Preußen während des Jahres 1911. Wir teilen daraus folgende Daten
über die Selbstmorde Jugendlicher mit: im Jahre 1911 begingen
87 Jugendliche unter 15 Jahren Selbstmord gegenüber 8335 Personen
über 15 Jahren. Von ihnen waren männlich 71, weiblich 16; 2 waren
unter zehn Jahre alt. Im Alter von 15—20 Jahren standen 683
(442 m., 241 w.), im Alter von 20—25 Jahren 890 (659 m., 231 w.)
Selbstmörder. Für die 5 Jahre 1907—1911 ergibt sich folgendes Bild:
Es starben durch Selbstmord von 100000 Lebenden jeder Altersklasse
in Preußen
Aler gon 1907 ; 1908 1909 1910 1911
m w m w m w m w m. w.
über 10—15 Jahren 22 09 11 03 21 0,6 33 12 33 0,7
15—20 18,6 11,0 195 10,4 20,8 13,0 20,6 12,5 22,1 122
20—25 34,3 12,2 38,4 14,0 40,0 14,8 38,7 15,0 37,7 13,1
5. Zeitgeschichtliches. 325
Genane und verläßliche Angaben über die Beweggründe zum Selbst-
morde sind nur schwer zu sammeln. Doch hat die Untersuchung zu dem
Ergebnis geführt, daß in Preußen mehr als der vierte Teil der Selbstmorde
unzweifelhaft durch Geisteskrankheit verursacht ist. Auch von den anderen
Selbstmorden ist noch eine größere Zahl auf psychische Ursachen wie
Lebensüberdruß, Leidenschaften, Trauer und Kummer, Reue usw. zurück-
zuführen. Soweit die Beweggründe bekannt wurden, kommen in Betracht
für die jugendlichen Selbstmörder des Jahres 1911
im Alter von über
m m 1-0 20-8
Jahren Jahren Jahren
m. w m. Ww. m. wW.
Lebensüberdruß im allgemeinen 2 — 18 6 25 10
Körperliche Leiden 2 1 15 8 34 1i
Nervenkrankheit 2 — 7 2 19 4
Geisteskrankheit 7. — 73 39 87 56
Geistesschwäche — — i — 3 1
Alkoholismus — — 3 — 9 —
Leidenschaften . Ere E 3 — 33 51 77 63
Laster, Ausschweifun g liederliches
Leben . . . en re 1 16 2 8 1
Trauer und kimmer: j
, ; 23 10 49 15
Rene und Scham, dewissändbisen: . 21
lwoll
joe)
180)
w
es
111 11
Ärger und Streit . . . . ... 8 29 18 17 8
Andere Beweggründe . . 4 6 2 LI 1
Unbekannt blieben die Beweggründe bei 19 3 136 72 209 50
Als Beweggründe für den Selbstmord zweier Knaben unter zehn
Jahren werden Reue, Scham und Gewissensbisse angegeben.
Jena. Karl Wilker.
5. Zeitgeschichtliches.
Oswald Külpe in Bonn hat einen Ruf als Nachfolger Lipps’ an die Uni-
versität München angenommen. Er tritt sein neues Lehramt mit Beginn des
Wintersemesters 1913/14 an.
Fr. W. Förster hat eine Berufung des Unterrichtsministers an die philo-
sophische Fakultät der Universtät Wien angenommen. Wie verlautet, hat sich die
Fakultät selbst nicht für diese Berufung ausgesprochen.
Der Vorstand des Deutschen Fröbelverbandes bedauert in einem warm emp-
fundenen Nachruf den Tod der Leiterin des Pestalozzi - Fröbelhauses I in Berlin,
Frau Clara Richter (19. Februar).
Im Mai und Juni 1913 wird an der Landesturnanstalt in Spandau ein Kursus
zur Ausbildung im Rudern für Lehrer und Leiter von Jugendpflegeorganisationen,
die sich mit Rudersport befassen können, abgehalten.
Auf der diesjährigen Jahresversammlung des Deutschen Vereins für
Psychiatrie, die am 15. und 16. Mai stattfindet, werden u. a. Mönkemöller
(Hildesheim) und Stier (Berlin) über Psychiatrie und Fürsorgeerziehung referieren.
Anmeldungen und Anfragen an Dr. Hans Laehr, Zehlendorf-Berlin, Schweizerhof.
Der 3. Deutsche Kongreß für Jugendbildung und Jugendkunde
findet vom 4.—6. Oktober 1913 in Breslau statt.
326 B. Mitteilungen.
An der Hochschule für Frauen in Leipzig werden im Sommersemester
1913 (15. April bis 15. Juli) u. a. folgende Vorlesungen gehalten: Das normale und
das pathologische Kind (Brahn); Grundlagen der Fürsorgeerziehung, Fragen der
Durchführung der F. E. (Dietrich); Kinderpflege der modernen Großstadt, Theo-
retische und praktische Säuglingspflege (Taube); Kinderpsychologische Übungen,
Praktische Psychologie, Einführungskursus in die experimentelle Pädagogik (Brahn);
ungen zur vergleichenden Kinderforschung (Kretzschmar); Übersicht über die
Erziehungsbestrebungen der Gegenwart, Methodische Übungen zu ausgewählten
Kapiteln der Kleinkinderpädagogik (Prüfer); Geschichte der deutschen Schulgesetz-
gebung und Schulverfassung im Zusammenhang mit der geistigen Kultur (Spranger).
Auskunft durch die Kanzlei der Hochschule für Frauen, Leipzig, Königstraße 18.
Am 15. Januar 1913 wurde in Berlin ein Verein »Taubstummen-Er-
holung« (Verein zur gesundheitlichen Förderung der Taubstummen) gegründet.
Der Jahresbeitrag beträgt mindestens 3 Mark. Anfragen und Beitrittserklärungen
an Fräulein Frieda Borchardt, Berlin W., Genthinerstraße 15 und Fräulein Magda-
lena Goertz, Berlin W., Genthinerstraße 35; Geldsendungen an Direktor Hahn,
Berlin W., Ansbacherstraße 35.
In Essen soll mit Unterstützung des preußischen Kultusministeriums ein
Seminar zur Ausbildung von Lehrern für Schwachsinnige, insbesondere
für Hilfsschullehrer errichtet werden.
Die Errichtung eines psychologischen Instituts ist in Gotha geplant.
Es soll unter Aufsicht des Stadtschulinspektors Dr. Ohm stehen.
Der Königlichen Landesturnanstalt in München wird versuchsweise
ein Laboratorium zu Untersuchungen und Messungen über die Wirkung
der einzelnen Turnarten, Turnspiele und Sportarten angegliedert, in dem
sowohl der Nutzen der Leibesübungen wie auch etwa auftretende Schädigungen er-
forscht werden können.
In Reuß j. L. wurde vom Landeslehrerverein eine pädagogische Arbeits-
gemeinschaft ins Leben gerufen.
Organisation der Helferschaft an Rettungshäusern usw. regt Fr.
Bergold (Hamburg, Waisenhaus) im »Rettungshaus-Boten«, Jg. 33, Heft 5 (Februar
1913) an. Er bittet Interessenten um Zuschriften.
Durch Verfügung des preußischen Kultusministers vom 4. Januar 1913 ist die
probeweise Einführung eines einheitlichen Personalbogens für die preußi-
schen Hilfsschulen verfügt. Es wird bei dieser Gelegenheit darauf hingewiesen,
daß von den Personalbogen nur amtlich Gebrauch gemacht werden darf.
Dem Berliner Magistrat ist ein Antrag zugegangen, ein städtisches Wohl-
fabrtsamt für Kinderfürsorge zu schaffen, das als Zentralstelle für alle in
Betracht kommenden Bestrebungen dienen würde.
In Aachen wurde eine Zentralstelle für Säuglingsfürsorge begründet.
Die Wiener Kommission des Kaiser-Jubiläums-Fonds für Kinderschutz und
Jugendfürsorge hat beschlossen, eine Reichsanstalt für Mütter- und Säug-
lingsfürsorge mit einem Aufwand von einer Million Kronen zu erbauen; sie
soll für 80 Kinder Raum bieten. Mit dem Rest des Fonds in Höhe von über einer
Million Kronen soll eine Musteranstalt zur Unterbringung von Fürsorge-
Erziehungszöglingen errichtet werden.
Schenkungen, Stiftungen usw.: für ein Erholungshaus für erkrankte
Arbeiterfrauen und -kinder in Ludwigshafen 7C000 Mark; zur Errichtung
und ersten Unterhaltung einer neuen Schulzahnklinik in Berlin 15000 Mark;
zur Einrichtung eines Instituts für Jugendkunde in Hamburg 1000 Mark von
der Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens;
5000 Mark für eine Arbeitslehrkolonie für entlassene Hilfsschulkinder
im Bergischen Land; für das Krüppelheim in Würzburg 50000 Mark;
24000 Mark für den Erziehungs- und Fürsorgeverein für geistig zurück-
gebliebene Kinder in Berlin.
In Bonn ist eine Kinderlesehalle eingerichtet.
5. Zeitgeschichtliches. 327
Während des Winters sollen in Eisenach mehrere Klassenräume der Volks-
schulen für die Kinder offengehalten werden, um ihnen, soweit sie unter ungünstigen
häuslichen Verhältnissen zu leiden haben, die Möglichkeit zu ungestörter Er-
ledigung ihrer Schulaufgaben unter den nötigen hygienischen Bedingungen
zu bieten. Durch Einrichtung von Kinderbibliotheken soll gleichzeitig die Schund-
literatur wirksam bekämpft werden.
Seit dem 1. März 1913 ist in Leipzig die Säuglingsfürsorge, die bisher
dem Gesundheitsamte oblag, auf das Pfleg- und Jugendfürsorgeamt übernommen.
Es bestehen nunmehr im ganzen 6 Mütterberatungsstellen. An Stillbeiträgen, die
nicht als Armenunterstützung gelten, werden gewährt: 3 Mark in der Woche nach
der ersten Vorstellung in der Mütterberatungsstelle, 2 Mark wöchentlich für jede
folgende Woche bis zur Erfüllung der 13. Lebenswoche des gestillten Kindes, 3 Mark
monatlich für den 4., 5. und 6. Lebensmonat und 3 Mark für das dritte Lebens-
vierteljahr des gestillten Kindes (laut Bekanntmachung des Leipziger Pfleg- und
Jugendfürsorgeamtes vom 21. Februar 1913).
In den Ausgaben der Stadt Leipzig für Jugendfürsorge im Etat für 1913
sind 735660 Mark vorgesehen. Die Hauptausgaben verteilen sich in folgender
Weise: Versorgung von etwa 1850 Waisenkindern 378710 Mark, Überwachung von
etwa 11000 Ziehkindern 96450 Mark, Fürsorgeerziehung 140000 Mark, Kinder-
solbadekuren 11000 Mark, Speisung bedürftiger Schulkinder 20000 Mark. An das
Kinderkrankenhaus leistet die Armenkasse einen festen Beitrag von 60000 Mark.
Eine Untersuchung über die Psychologie des jugendlichen Geschlechts-
lebens plant Professor Dr. Joh. Dück-Innsbruck, der gern Fragebogen versendet.
Eine Umfrage über die Schundliteratur und die Schundfilms und
deren kriminelle Bedeutung erläßt Gerichtsassessor Dr. Albert Hellwig
(Berlin-Friedenau, Bismarckstraße 9), der zur Zeit als der beste Kenner dieser Materie
gelten kann. Der Wortlaut der Umfrage ist in der »Zeitschrift für Jugenderziehung
und Jugendfürsorges (Aarau, Trüb & Cie.), Jg. 3, Nr. 12 vom 1. März 1913, S. 361
u. 362, mitgeteilt.
Der »Deutsche Landesverband für Volksbildungswesen in Böhmen«
hat einen Lichtspielausschuß eingerichtet, dessen Obmann Prof. Dr. Albert Gott-
lieb ist. Dieser Ausschuß regte zunächst die Veranstaltung kinematographi-
scher Vorstellungen zu Zwecken der Volks- und Jugendbildung im
Kgl. Deutschen Landestheater in Prag an, die sich seit September 1912 unter dem
Titel: »Volkstümliche Lichtspiele« großer Beliebtheit erfreuen. In den letzten Tagen
ist es gelungen, sämtliche Kinematographenbesitzer Deutsch - Böhmens geschlossen
dazu zu bewegen, gleiche Vorführungen an einem bestimmten Tage der Woche an
Stelle des üblichen Programms treten zu lassen. Die Auswahhl der Films wird
durch den Landesverband erfolgen und das Abkommen noch im Laufe dieses Jahres
in Kraft treten.
Das erste Heft der »Edition du Musée Pedologique« (Budapest 1912)
ging uns zu. Es enthält die Beschreibung der Sammlungen des ungarischen
pädologischen Museums (Budapest, VIII. arr. 8, place Marie-Thérèse), das am
28. April 1912 eröffnet wurde. Verfaßt ist der Führer, der in ungarischer und
französischer Sprache ‘gedruckt ist, vom Sekretär des Museums, Karl Ballai.
Der VI. Jahrgang des Jahrbuchs der Fürsorge, herausgegeben im Auf-
trage des Instituts für Gemeinwohl und der Zentrale für private Fürsorge in Frank-
furt a. M. vom Archiv deutscher Berufsvormünder (Professor Dr. Klumker), ist
im Verlage von Julius Springer in Berlin erschienen. Es enthält Abhandlungen
über Kinderfürsorge in Dänemark und über die italienische Mutterschaftsversiche-
rung, reiches Material zur Entwicklung der Berufsvormundschaft und vor allem
einen Literaturbericht über Jugendfürsorge 1911, der 3322 Arbeiten bibliographisch
zuverlässig anführt. Schon um dieses Berichtes willen verdient das Jahrbuch die
Beachtung aller wissenschaftlichen Arbeiter.
Im Verlage von Deutschlands Großloge II des Internationalen Guttemplerordens
(Hamburg 30) erschien soeben die zweite Auflage der »Zehn Lehrproben zur
Alkoholfrage«, eines kleinen trefflichen Handbuches des Kieler Lehrers L. Lindrum.
328 C. Zeitschriftenschau.
Das Wichtigste aus der Alkoholfrage für die Schule ist in zehn Lehrproben (20 Unter-
richtsstunden) für die Oberstufe zusammengestellt. Im Anhang ist auch der Fort-
bildungsschule Rücksicht getragen. Der Preis des 82 Seiten umfassenden, mit Ab-
bildungen und Tabellenmaterial versehenen Bändchens stellt sich auf 1,20 Mark (ge-
bunden). Der Verlag erbietet sich zu unverbindlichen Probesendungen an Schulen
und Schulbehörden.
Über eine der größten deutschen Jugendfürsorgebestrebungen ist ein
treffliches Büchlein erschienen, das den Titel trägt: »Sonnenwende. Ein Büchlein
vom Wandervogel und seiner Arbeit. Zusammengestellt und herausgegeben von
Friedrich Wilhelm Fulda« (Leipzig, Friedrich Hofmeister, 1913. Preis 1,20 M.).
Es wird nicht nur zur Orientierung über die Wandervogelarbeit wertvolle
Dienste leisten, sondern auch durch seine künstlerische Ausstattung viel Freude
erwecken.
C. Zeitschriftenschau.
Kinderschutz und Jugendfürsorge.
1. Tatsachen.
Rössel, Fr, Kinderelend in der Großstadt. Zeitschrift für Jugenderziehung und
Jugendfürsorge. 3, 9 (15. Januar 1913), S. 263—266.
Es werden wohl Zahlen über Zahlen geboten, die für den Eingeweihten grelle
Schlaglichter auf das Kinderelend werfen, aber es fehlen für die meisten Menschen
konkrete Vorstellungsmaterialien. Erst durch Detailforschung der Umstände zum
Erlebnis Gebrachtes öffnet die Augen für das gewaltige Zahlenmaterial. Der Ver-
fasser gibt einige solcher Details aus Hamburg und deutet dann auf die Zusammen-
hänge des Kinderelends mit allen möglichen Fragen hin (Boden- und Wohnungsfrage,
Alkoholfrage, Frauenarbeit usw.).
von Hentig, Hans, Die verbrecherische Jugend nach den Kriminalstatistiken
Englands und Frankreichs. Österreichische Zeitschrift für Strafrecht. IM, 1912,
S. 388—393.
Die Zahl der jugendlichen Delinquenten betrug in England 34087 oder nicht
ganz 5°/, aller im Jahre 1910 vor Gericht stehenden Personen. Die weibliche
Jugend ist an kriminellen Handlungen auffallend wenig beteiligt. In Frankreich
wurden nur 45°/, der angezeigten Verbrechen gerichtlich weiter verfolgt. Die Zahl
der jugendlichen Angeklagten betrug 15°/, der Gesamtzahl der Angeklagten (1909).
Vergehen gegen die Sittlichkeit haben in Frankreich und England zugenommen trotz
des allgemeinen Rückgangs der Kriminalität. Die Behandlungsformen werden einzeln
besprochen und aufgeführt. Die deutschen Jugendgerichte sind nur Provisorien.
Ein großzügiges Jugendstrafrecht tut dringend not.
Rupprecht, Die Prostitution jugendlicher Mädchen in München. Münchener Med.
Wochenschrift. 60, 1 (7. Januar 1913), S. 12—15.
Minderjährige Mädchen werden nicht unter Sittenkontrolle gestellt. Unter den
2574 heimlichen Dirnen, die der Bericht der Polizeidirektion in München im Jahre
1911 dort angab, waren 32 unter 16 Jahren, 342 zwischen 16 und 18, 660 zwischen
18 und 21 Jahren. Unter den jugendlichen Prostituierten ist ein viel höherer
Prozentsatz geschlechtlich erkrankt als unter den älteren. Den weiteren Angaben
liegen die Beobachtungen und Feststellungen an 88 vom Münchener Jugendgericht
in den Jahren 1909—1911 im Strafverfahren wegen Gewerbsunzucht verurteilten
C. Zeitschriftenschau. 329
Mädchen unter 18 Jahren zugrunde. Ein auffallend großer Teil von diesen wird
von den Dienstmädchen gestellt. Andere Berufe zeigen erst gegen das 18. Jahr hin
eine größere Beteiligung. Daß namentlich viele unehelich geborene Mädchen der
Prostitution verfallen ist seit je bekannt. Ihre Opfer fordert die Prostitution haupt-
sächlich im Arbeiterstande, was zu erklären ist durch ungünstige wirtschaftliche
Verhältnisse. Das Entgelt, um das sich die Mädchen preisgeben, ist oft oder
meistens ein erschreckend niedriges: Bezahlung der Zeche, 25 Pfennig, 50 Pfennig,
in 45 Fällen um Beträge zwischen 1 und 3 Mark; 34 Mädchen verlangten höhere
Summen. Der Verfasser teilt den »strafrechtlichen Lebensgang< von 5 jugendlichen
Dirnen mit. Zur Bekämpfung ergeben sich als notwendig: Schaffung besserer
Lebensverhältnisse und gesunder Wohnungsbedingungen; frühere Heiratsmöglichkeit
für junge Männer der gebildeten Kreise; strenge Erziehung der jugendlichen Prosti-
tuierten in staatlich überwachten Anstalten.
Fujisawa, M., Über ein statistisches Studium der halberwachsenen Sträflinge.
Jidö Kenkyü. XVI, 1 (August 1912). Referiert aus Kyöiku Jiron 965.
Verschiedene statistische Zahlen über 500 halberwachsene Verbrecher.
Landsberg, J. F., »Schwierige« Zöglinge. Der Rettungshaus-Bote. 33, 3 (De-
zember 1912), S. 49—51.
Aus dem »Kreisblatt von Lennep« vom 1. August 1912. — Zwei Kategorien
von Kindern tragen selbst weniger Schuld an ihrer Überweisung in Fürsorge-
erziehung; die Hauptschuld trägt das Elternhaus. Mit der dritten werden Haus und
Schule nicht fertig, die schwierigen Zöglinge. Es ist wichtig, daß die Fürsorge be-
deutend früher eingreift. Heute wird allgemein noch eine Tat, die gerade heraus-
gekommen ist, als erster Fehltritt betrachtet und behandelt, wiewohl oft hunderte
von Taten vorangegangen sind.
Krass, Alkoholismus und Fürsorgeerziehung. Die Alkoholfrage. VIII, 4, S. 334
bis 337.
Nach Cramer (Göttingen) waren von 371 schulentlassenen Fürsorgezöglingen
20°, durch die Trunksucht des Vaters, 3°, durch die Trunksucht der Mutter erb-
lich belastet, nach Mönkemöller (Hildesheim) von 589 schnlpflichtigen 50,8°/,, nach
Rizor (Münster) von 789 schulentlassenen 33,3°/, durch die Trunksucht des Vaters,
79°/ durch die Trunksucht der Mutter, 5,8°/, durch die Trunksucht beider Eltern.
Von den 1910 in Preußen aufgenommenen 8733 Fürsorgezöglingen waren 1031
geistig nicht normal; in 22,5°/, dieser Fälle war zweifellos der elterliche Alkoholis-
mus Grund der Verwahrlosung und geistigen Minderwertigkeit. Die Vereinigungen,
die die Schuljugend im Sinne der Abstinenz beeinflussen, sind »auf dem rechten
Weges und leisten »einen wichtigen Teil sozialer Arbeit«,
Unger, C., Die Belastung eines städtischen Armenetats durch den Alkohol. Die
Alkoholfrage. IX, 1913, S. 45—49.
Die Arbeit enthält Zahlenmaterial aus Elbing; sie berücksichtigt eingehend die
Trinkerkinder: von 40 Trinkerehen blieben 3 kinderlos; die übrigen 37 Familien
zählten 264 lebendgeborene Kinder, von denen 102 starben. Die aus der Versorgung
der Trinkerkinder erwachsenden Armenlasten sind nicht gering.
Brun, Rud., Die Kinderarbeit am VII. internationalen Kongreß für Arbeiterschutz
in Zürich. Zeitschrift für Jugenderziehung. III, 2 (1. Oktober 1912), S. 39—43.
Kurze Berichterstattung über den Stand in einzelnen Staaten, die teilweise
aber nur ungenau sein konnte. Es soll versucht werden, bessere Grundlagen für
eine Zusammenstellung zu gewinnen.
330 C. Zeitschriftenschau.
Serkowski, Josef, Die gesetzliche Regelung der Jugendfürsorge unter besonderer
Berücksichtigung des Kronlandes Galizien. Zeitschrift für Kinderschutz und
Jugendfürsorge. V, 1 (Januar 1913), S. 12—16.
Ein Fürsorgeerziehungsgesetz kann nur durch die verständnisvoile Mitarbeit
aller Bevölkerungskreise fruchtbringend gestaltet werden. Öffentliche Mittel müssen
bereitgestellt, die gesetzliche Basis geschaffen werden. In Galizien ist das Elend
unter den Jugendlichen besonders groß. Die Zahl der der Fürsorge Bedürftigen
wurde 1910 vom Verfasser mit Hilfe der Behörden auf etwa 62000 berechnet
(etwa 1°/, der Gesamtbevölkerung). Die Arbeit enthält beachtenswerte Hinweise
über die Jugendfürsorge in Galizien und ihre nächsten Aufgaben nach Inkrafttreten
des diesbezüglichen Gesetzes.
2. Massnahmen.
Roese, Paul, Die Gefahren der gegenwärtigen staatlichen Jugendfürsorge. Evan-
gelisch-Sozial. 21, 10 (Oktober 1912), S. 310—314.
»Die erhoffte idealistische Bewegung in der bürgerlichen Welt beschränkt
sich auf etwas mehr Geldgeben, auf einige Kriegsspielerei.e In bezug auf die
Arbeiterjugend wirkt die augenblickliche ‚Jugendpflegepolitik nur negativ. Um
Besserung zu schaffen, wird vorgeschlagen: 1. die staatlichen Instanzen sollten ihre
Arbeit allen Jugendlichen zugute kommen lassen; 2. alle Jugendarbeit sollte an-
erkannt werden (auch die gewerkschaftliche); zugleich sollte man aber sorgen, daß
sie unpolitisch bleibe; 3. das Geldunwesen ist aufzubeben, die bürgerliche Welt muß
zu Pflichtbewußtsein gegenüber den jugendlichen Arbeitern erzogen werden; 4. in
die Ortsausschüsse sollten sozialdemokratische Vertreter hineingezogen und zu posi-
tiver Arbeit veranlaßt werden; 5. »das unheilvolle Wettrennen zwischen Kultus-
ministerium und dem Jungdeutschlandbund muß ein Ende haben. Dem Militär ge-
hört ein Helferposten, nichts mehre«.
Wilker, Karl, Auf Irrwegen. Ein Beitrag zur Jugendpflege. Evangelisch-Sozial.
22, 1 (Januar 1913), S. 14—17.
Wendet sich gegen die Auswüchse politischer Jugendpflegeaktionen, insbesondere
des Jungdeutschland-Bundes. Man kann mit Jugendpflege nicht nationalpolitisch
erziehen.
Brunzlow, Abstinente in die Jugendpflege! Die Enthaltsamkeit. 14, 12, S. 85—88.
Der Verfasser legt die Ziele des Jungdeutschlandbundes dar und fordert zu
Mitarbeit an der Jungdeutschland-Jugendpflege auf.
Theimer, Kamilla, Kinderschutz und Jugendfürsorge auf dem Lande. Zeitschrift
für Kinderschutz und Jugendfürsorge. V, 1 (Januar 1913), S. 8—12.
Auf dem Lande und im Gebirge ist bisher davon wenig zu merken. Er muß
hier auch ganz anders angefaßt und durchgeführt werden. Möglich wäre ein all-
jährlicher Instruktionskursus für Lehrerinnen, den der Bezirksarzt erteilt. Vor
allem kommt es aber darauf an, der Landbevölkerung Bildung zu vermitteln, sie
anzuleiten, ihr Einkommen zu erhöhen und ihre ganze Lebenshaltung zu verbessern.
Georgi, Elsbeth, Kurse für Kinderfürsorge in Zürich. Zeitschrift für Jugend-
erzirhung und Jugendfürsorge. IlI, 5 (15. November 1912), S. 121—124.
Die Kurse, deren Programm kurz skizziert wird, wurden 1908, 1909, 1910
und 1912 halbjähriich mit Erfolg abgehalten. Sie sind für 1913 wieder geplant.
Leitsätze für Kindergartenunterweisung an Frauenschulen. Zeitschrift für Jugend-
erziehung. 3, 10 (1. Februar 1913), S. 286—288.
D. Literatur. 331
Die Leitsätze wurden von der Kommission des Deutschen Fröbelverbandes
dem Deutschen Verein für das höhere Mädchenschulwesen unterbreitet. Sie sind
mit den Begründungen im Wortlaut abgedruckt.
Knaut, Die Persönlichkeit des Erziehers. Der Monatsbote aus dem Stephansstift.
34, 1 (Januar 1913), S. 3—8; 2 (Februar), S. 18—23. >
Zeichnet das Vorbild des Erziehers in der christlichen Liebestätigkeit.
Strei, C., Wie können wir die Rettungshausschule der diakonischen Arbeit er-
halten? Der Rettungshaus-Bote. 33, 4 (Januar 1913), S. 74—79.
Die diakonische Arbeit ist durch mancherlei Umstände gefährdet (ungenügende
Vorbildung, Abneigung der Öffentlichkeit, Mißstände). Als Mittel und Wege, den
Rettungshausschulen die diakonische Arbeit zu erhalten, werden besprochen: Aus-
wahl der besten Kräfte, sachgemäße Ausbildung (allerdings wenig durchdacht), Ge-
baltsregelung, Beharrlichkeit und Pflichteifer.
Janisch, Franz, Jugendliche reisende Musikerinnen. Deutsche Elternzeitschrift.
3, 11 (1. August 1912), S. 183—184; 12 (September), S. 201—202.
Bespricht namentlich die zum Schutz getroffenen Maßnahmen uud gibt einzelne
lehrreiche Beispiele.
D. Literatur.
Müller, G. E., Zur Analyse der Gedächtnistätigkeit und des Vor-
stellungsverlaufes. I. Teil. Zeitschrift für Psychologie. Ergänzungsband 5.
I. Teil. Leipzig, J. A. Barth, 1911. XIV u. 403 S. Preis 12 M.
Professor G. E. Müller ist schon seit geraumer Zeit der anerkannte Führer
experimenteller Gedächtnispsychologie. Die bedeutendsten Arbeiten seit Ebbing-
haus’ epochemachenden Untersuchungen stammen von ihm und seinen Schülern; es
genügen die Namen Dodge, Pilzecker, Schumann, die beiden Schwestern Steffens,
Paula Ephrussi, Jacobs, Ohm und Sybel. Durch die Untersuchung des übernormalen
Gedächtnisses des Mathematikers Rückle (1902) wurde er allmählich dazu geführt,
eine eingehende Analyse der beim Lernen und Hersagen stattfindenden psychischen
Vorgänge zu geben, und schließlich erweiterte er seine Aufgabe und zog auch noch
die Hauptpunkte einer allgemeinen Lehre von der Erinnerung und dem Vorstellungs-
ablauf überhaupt in den Bereich seiner Untersuchungen. Daß dieses grundlegende
Werk im Entstehen war, wußten die Fachleute längst und sahen mit Spannung, ja
mit Ungeduld seinem Erscheinen entgegen. Endlich, 1911, ist der erste Band er-
schienen — 9 Jahre, nachdem Müller an die Aufgabe herangetreten, als ob er
Horazens Rat »nonum prematur in annum« befolgen wollte.
Es ist ein reifes Werk geworden, bestimmt die ganze Summe der in jenen
Richtungen bisher geleisteten Arbeit in sich aufzunehmen und die Fundgrube zu
werden, aus der Psychologie und Pädagogik ihr Wissen holen können, sowohl was
die Methode als was die Ergebnisse anlangt.
Der 1. Abschnitt, der als Einleitung in das Werk betrachtet sein will, gibt
Bemerkungen über die Aufgabe des Buches, über die benützten Versuchspersonen
und reichhaltige Bemerkungen über die sensorischen Sinnestypen im allgemeinen
wie über die einzelnen Typen und ihre Mischung, über das Zusammenwirken der
verschiedenen Gedächtnisse und über einige Besonderheiten visueller Lerner und
visueller Reproduktionen.
332 D. Literatur.
Auch der 2. Abschnitt gehört eigentlich noch zur Einleitung, insoferne er noch
nicht das Gedächtnis selbst behandelt, sondern eine für die psychologische Forschungs-
methode überhaupt äußerst wichtige Vorfrage »der Selbstwahrnehmung«, natür-
lich unter besonderer Bezugnahme auf das Gedächtnis. Wenngleich die objektiven
Methoden der Beobachtung besonders der Leistungen (Lernarbeit und Lernerfolg)
der Versuchsperson besonders bei Gedächtnisversuchen den breitesten Raum ein-
nehmen, so müssen — was vielfach übersehen wird — diese objektiven Beobach-
tungen doch durch subjektive Beobachtungen ergänzt und vertieft werden, wenn die
wissenschaftliche Forschungsarbeit vollständig sein soll. Selbstwahrnehmung nennt
dies Müller (wie Brentano), nicht Selbstbeobachtung, weil Konstatierungen in bezug
auf einen psychischen Zustand, sei es durch unmittelbare Auffassung desselben oder
durch Erinnerung an denselben, auch gemacht werden ohne die Absicht der Be-
obachtung. Vergleicht man die psychischen Vorgänge bei der Beschreibung eines
äußeren Gegenstandes mit denen bei der Beschreibung eines Bewußtseinszustandes,
so ergibt sich eine überraschende Übereinstimmung. Auch die psychischen Vor-
gänge werden nicht bloß — wie meist behauptet wird — auf Grund rückschauender
Erinnerung, sei es nun indem der betreffende Zustand selbst in Erinnerung kommt
oder indem nur eine Beurteilung jenes Zustandes wieder vergegenwärtigt wird,
beschrieben, sondern auch auf Grund gegenwärtigen Gegebenseins und Apperzipiert-
werdens. Eine andere Frage ist, ob ebenso, wie die Absicht des Beobachtens eines
äußeren Gegenstandes für dessen Beschreibung günstig ist, so auch die Beobachtung
des Bewußtseinszustandes dadurch gewinnt. Die Beobachtungen ergeben, daß die
Beschreibung eines natürlichen Bewußtseinszustandes d. h. eines solchen, der von
einer Beobachtungsabsicht weder erzeugt noch beeinflußt ist, durch die Absicht der
Beobachtung bedeutenden Veränderungen unterliegen kann, daß dagegen bei ge-
zwungenen Bewußtseinszuständen, d. h. solchen, welche willkürlich erzeugt werden
zum Zwecke der Beobachtung oder wenigstens unter der Absicht solcher Beobach-
tungen auftreten, die Beobachtungsabsicht nur vorteilhaft wirkt. Aus diesem Unter-
schied der Wahrnehmungsergebnisse folgt vor allem die Regel, daß die an ge-
zwungenen Bewußtseinszuständen gefundenen Gesetzmäßigkeiten nicht so ohne weiteres
gleich genommen werden dürfen den an natürlichen Bewußtseinszuständen ge-
fundenen, eine Regel, welche besonders bei der Anwendung der im psychologischen
Experiment gewonnenen Einsichten auf die Unterrichts- und Erziehungspraxis nicht
genügend beachtet wird. Übrigens können bestimmte Beobachtungsabsichten auch
bei der Beobachtung äußerer Gegenstände nachteilig sein.
Der Grundunterschied zwischen der äußeren Wahrnehmung und
der Selbstwahrnehmung besteht darin, daß die eintretenden Bewußtseins-
inhalte jeweils eine andere Auffassung erfahren. In der äußeren Wahrnehmung
dienen die Inhalte dazu. uns einen der physischen Gesetzmäßigkeit unterworfenen
Körper mit einer bestimmten Eigenschaft, in einem bestimmten Zustaode, in einer
bestimmten Entfernung vorstellen zu lassen. Bei der Selbstwahrnehmung dagegen
interessieren uns die Bewußtseinsinhalte so, wie sie an sich sind oder insoferne sie
hinsichtlich ihres Eintrittes, Verhaltens und Wirkens der psychologischen Gesetz-
mäßigkeit unterliegen. Ähnlich begründet Wundt z. B. in seinem »Grundriß der
Psychologiee die Trennung der Naturwissenschaft und der Geisteswissenschaft aus
dem Unterschied der Gesichtspunkte bei der Auffassung der an sich einheitlichen
Erfahrung.
In eindringender kritischer Erörterung werden die Unvollkommenheiten
der Selbstwahrnehmung gegenüber den natürlichen Bewußtseinszuständen be-
D. Literatur. 333
sprochen und die daraus sich ergebenden Vorschriften für die Benützung solcher
Selbstbeobachtungen, Vorschriften, welche für den psychischen Experimentator höchst
wertvolle Winke sind, stets belegt mit Beispielen aus der reichen eigenen Erfahrung
des Verfassers wie aus der Literatur.
Eine ablehuende Kritik erfährt dabei Achs und Segals Methode der syste-
matischen Selbstbeobachtung unmittelbar nach Ablauf des durch eine be-
stimmte Anordnung herbeigeführten Erlebnisses, ferner das vielgeübte Verfahren,
selbst von Schulkindern allgemeine Mitteilungen über ihre Lernweise usw. zu ver-
langen, und die nicht minder beliebte Methode der Fragebogen, in welchen die Be-
fragten allgemeine Auskunft über ihr Verhalten in dieser oder jener Hinsicht geben
sollen. Diese völlig unzulängliche und irreführende Methode der vermeint-
lichen Reminiszenzen, wie sie Müller nennt, war die vor dem Aufkomnien der
experimentellen Psychologie allgemein übliche. Ein Fortschritt in der Gedächtnis-
psychologie konnte erst eintreten, als man diese Methode aufgab.
Von ganz besonderem Interesse sind die Ausführungen Müllers über das
sogenannte Gedanken-Experiment. E. Mach hat den Begriff eingeführt. Man
versteht seitdem darunter das Verfahren, »sich gewisse Dinge als unter bestimmten
Umständen befindlich vorzustellen und sich zu vergegenwärtigen, wie sich jene
Dinge unter diesen Umständen verhalten würden. Der Physiker macht davon
mannigfachen Gebrauch, und für den Psychologen ist es eine nicht minder wertvolle
Quelle. In analoger Weise vergegenwärtigt er sich psychische Vorgänge, die sich
bei bestimmter Versuchsanordnung in Versuchspersonen von bestimmter Beschaffen-
heit abspielen müssen. Individualisierend ist dieses psychologische Gedanken-
experiment, wenn ich mich frage, wie bestimmte Individuen, die leben oder gelebt
haben, unter bestimmten Umständen sich psychisch verhalten würden, wie ich selbst,
wie Bismarck sich in dieser oder jener — noch nicht erlebten — Situation be-
nehmen würde. Man versetzt sich innerlich in die gegebene Lage und beobachtet
die Gedanken, Affekte, Tendenzen usw., die unter diesen Umständen erweckt werden,
und nimmt dabei an, daß bei einem wirklichen Gegebensein der betreffenden Situation
entsprechende Gedanken, Affekte, Tendenzen usw. eintreten, wie sie bei mir bloß
in der Vergegenwärtigung eingetreten sind. Es ist ein Fall von Einfühlung in die
fremde Persönlichkeit und in die eigene Persönlichkeit zu einer anderen gedachten
Situation, ein instinktmäßiges psychisches Geschehen, das schon Lipps als eine
freilich der Korrektur oft bedürftige Erkenntnisquelle bezeichnet hat. Erschließt
man dagegen auf Grund gewisser Kenntnisse von allgemeinen Gesetzen und indivi-
duellen Eigentümlichkeiten das Verhalten in einer bestimmten Situation, so hat man
kein eigentliches Gedankenexperiment, sondern eben eine Schlußfolgerung. Nicht
selten gehen beide Verfahren der Ermittelung eines eventuellen Inhaltes Hand in
Hand, »Gedankenexperiment gemischter Art«. Im Leben machen wir von diesem
Gedankenexperiment in weitem Umfange Gebrauch. Wir suchen dadurch das
eventuelle Verhalten unserer Mitmenschen unter bestimmten Umständen zu erraten
und pflegen darnach unser eigenes Verhalten einzurichten. Auch der wissenschaft-
liche Psychologe wird, obwohl er sich über die Unzuverlässigkeit und andere Mängel
des Gedankenexperimentes keinen Täuschungen hingibt, es doch in Anwendung bringen,
so wenn er zwischen verschiedenen möglichen Untersuchungsmethoden und Ver-
suchsanordnungen zu wählen hat, wenn er in den Verlauf psychischer Vorgänge
unter Umständen, die er willkürlich nicht herbeiführen kann, Einblick gewinnen will.
wenn er die Sicherheit einer Versuchsperson hinsichtlich einer Aussage prüft, indem
er sie veranlaßt sich in Gedanken vor ein Gericht zu versetzen, und nun sie fragt,
ob sie auch dann noch ihre Aussage für richtig hält u. dergl.
334 D. Literatur.
Gleich in medias res führt der III. Abschnitt, der interessanteste dieses Buches,
der Abschnitt über den genialen, 1879 in Frankfurt geborenen Kopfrechner
Dr. Rückle. Es hat ja zu jeder Zeit Leute gegeben mit anormaler Fähigkeit Zahlen
sich einzuprägen und im Kopfe Rechenoperationen auszuführen. Aber Rückle ist
allen bisherigen fast in jeder Hinsicht überlegen, zum Teil weit überlegen. Diamandi,
ein berühmter Kopfrechner der jüngsten Zeit, braucht nach den umfassenden Unter-
suchungen, die Binet und Henri mit ihm angestellt haben, um 50 Ziffern sich ein-
zuprägen und aus dem Gedächtnis niederzuschreiben, 7‘ (Minuten), der Berufs-
nınemotechniker Arnould, der mit dem bekannten Hilfsmittel der Mnemotechnik:
Ersatz der Ziffern durch Buchstaben und Zusammensetzung dieser Buchstaben zu
Wörtern, arbeitet, braucht immerhin gegen 3° = 165“ (Sekunden). Rückle da-
gegen braucht zum Einprägen und Hersagen etwa 70“, wobei allerdings zu beachten
ist, daß das Hersagen rascher geht als das Niederschreiben. Für 100 Ziffern hatte
Diamandi 25‘, Arnould 15‘, Rückle durchschnittlich 6° nötig. Für 200 Ziffern end-
lich benötigte Diamandi 75‘, Arnould 45‘, Rückle dagegen durchschnittlich 22.
Rückle ist kein einseitiger Zahlenmensch. Sein Gedächtnis übersteigt auch für
andere Stoffe weit das Mittelmaß, wie er denn im Realgymnasium stets der Erste
war. Rückles sensorischer Typus ist optisch. Beim Hersagen sieht er die Ziffern-
komplexe vor seinem geistigen Auge und zwar in der Handschrift, in der sie ihm
beim Lernen vorgelegen hatten; ebenso die Konsonantenreihen, die ihm zum Lernen
aufgegeben waren. Von dem mnemotechnischen Hilfsmittel des Ersatzes der Ziffern
durch Buchstaben, das auf den Dänen Reventlow zurückgeht, macht Rückle keinen
Gebrauch. Er bedient sich ausschließlich seiner mathematischen Kenntnisse. So
überrascht es nicht, daß er in den elementaren Rechenoperationen (Addieren, Sub-
trahieren, Multiplizieren usw.) von Inaudi, einem anderen von Binet geprüften
akustisch - motorischen Kopfrechner, erreicht, ja übertoffen wurde.
Doch lernt Rückle nicht ausschließlich visuell. Denn bei schwieriger sich
einprägenden Ziffernkomplexen und Ziffernreihen benützt er auch den akustisch-
motorischen Weg, indem er sie innerlich oder leise mitspricht. Rückle lernt nicht
lediglich mechanisch d. h. Ziffer an Ziffer assoziierend, sondern neben diesen Asso-
ziationen schafft er sich neue Bänder, indem er zwischen den Zifferngruppen —
er lernt die Ziffern meist in Komplexen von 5 bis 6 — Beziehungen sucht und
diese als leichter einprägbar neben der Assoziation von Glied zu Glied und Gruppe
zu Gruppe als Hilfsmittel der Reproduktion verwendet. So merkt er sich, daß
841 = 29°, 295 = 5 >x 59, 559 = Regierungsantritt von Kyros, 624 = 25? — 1,
70128 = 701 + 28 = 729 = 9%, 451697 = 451 = 11x41 und 697 = 17 x 4l.
Für Nichtmathematiker scheinen vielleicht diese Begleitgedanken noch schwerer zu
merken als die Zahlen für sich allein, gar nicht zu reden von der Schwierigkeit
des Auffindens besonders dieser zahlentheoretischen Verhältnisse. Aber für Rückle,
dessen Blick für die Zusammengesetztheit der Zahlen durch ein von frühester Jugend
ihn beherrschendes Interesse und durch reichliche Übung geschärft ist, sind diese
Auflösungen ein Spiel. Diese Hilfsassoziationen, die übrigens im Leben alle Tage
oft genug angewendet werden, sind nicht sowohl Erleichterungen der Einprägung,
schaffen nicht stärkere Dispositionen der Assoziationen, sondern erleichtern die Re-
produktion, das In-Wirksamkeit-treten dieser Dispositionen, was ich in meiner Mono-
graphie »Das Gedächtnis« als konvergente Reproduktion (Konstellation) dargelegt
habe. Es sind also nicht, wie man oft genug zu lesen bekommt, Hilfen der Ein-
prägung oder des Lernens, sondern der Reproduktion oder des Erinnerns,
An diese genaue psychologische Darlegung des Falles Rückle knüpft nun
Müller als Endergebnis allgemeine Bemerkungen über ungewöhnliches Zahlengedächt-
D. Literatur. 335
nis und über hervorragende Spezialgedächtnisse überhaupt. Man war bisher gewohnt,
in solchen Fällen von einem besonderen Gedächtnis für Zahlen oder für Formen
oder Farben, für Wörter usw. zu reden, machte also stoffliche Gruppen. Müller
lehnt das ab. Er weist darauf hin, daß man in Konsequenz dieser Grundansicht
dann weitergehen müßte und, da die einen Kopfrechner visuell, die andern akustisch-
motorisch rechnen, für die einen ein besonderes Gedächnis für Zahlzeichen (Ziffern),
bei den andern für Zahlwörter annehmen müßte und dann wieder unterscheiden
müßte zwischen einem besonderen Gedächtnis für arabische Ziffern und einem für
römische Ziffern und wieder unterscheiden ein besonderes Gedächtnis für Buch-
staben und Wörter, für geometrische Figuren usw. Und beim auditiven Rechner
müßte man beim einen ein besonderes Gedächtnis für französische Zahlwörter, beim
andern für deutsche usw. annehmen und müßte sich dann fragen, ob ein mit
normalem Gedächtnis für italienische Zahlwörter begabter Rechner wie Inaudi, wenn
er in einer deutschen Sprachumgebung aufgewachsen wäre, nicht jene Höhe der
Leistungsfähigkeit hätte erreichen können, weil er hier die Zahlwörter in deutscher
Sprache gelernt hätte. Indem Müller diesen Weg zu Ende geht, zeigt er, daß jene
Auffassung von besonderer, angeborener Begabung für Zahlen usw. auf einen Holz-
weg führt. Und so sieht er mit überzeugenden Gründen die Ursache solcher Ein-
seitigkeit des Gedächtnisses in der Einseitigkeit des Interesses, das im Bunde
mit einer hohen Leistungsfähigkeit bestimmter Funktionen, die aber bei anderer
Interessenrichtung nach einer ganz anderen Seite hin zu Erfolg geführt hätten, diese
merkwürdigen Leistungen zeitigt.
Natürlich, wie dieses merkwürdige einseitige Interesse entsteht, ist ein Ge-
heimnis, ist das Geheimnis der Individualität. Der Hinweis auf die Vererbung
schiebt das Rätsel nur vom Schn zurück auf die Eltern, Fragt man nach der
physiologischen Unterlage dieser hohen Begabungen, dann muß man sich begnügen
mit der Annahme einer besonders günstigen Entwicklungs- und Ausbaufähigkeit
einzelner Sinnesgebiete, des optischen oder des akustisch-motorischen Bezirkes, und
darf nicht mit Gall und seinem jüngsten Vorkämpfer Möbius etwa den besonderen
Sitz für mathematische Begabung, ein »mathematisches Organ«, in der linken Stirn-
ecke oder sonstwo suchen. Sonst müßte man schließlich auch eine angeborene
Veranlagung und ein besonderes Organ annehmen für ein außerordentliches Inter-
esse ar Briefmarken oder Perserteppichen.
Müllers Ausführungen verbreiten sich nicht über so viele matbematische
Genies und Kopfrechenmeister wie Binet und Henri in ihrem berühmten Buche
»Grands calculateurs et joueurs d’öchec« und lesen sich auch nicht so fesselnd. Aber
sie dringen viel tiefer in die Psychologie des Phänomens ein und bedeuten darum
einen gewaltigen Fortschritt in dieser Frage.
Der IV. und längste Abschnitt des I. Bandes behandelt die Komplexbildung
beim Lernen. Bekanntlich besteht die Tendenz Ziffern, Konsonanten, Silben,
Wörter usw. nicht einzeln, sondern zu stark in sich assoziierten Komplexen zu-
sammengefaßt zu lernen, selbst dann, wenn ihre Anordnung oder die Form ihrer
Darbietung keine Gruppierung oder Einteilung aufweist, und um so mehr, wo dies
der Fall ist. Je nachdem die Glieder alle gleichzeitig oder in schnellem Durchlaufen
der einzelnen Glieder erfaßt und dann zu einem Ganzen zusammengefaßt werden,
unterscheidet Müller kollektive Simultan- bezw. kollektive Sukzessiv-
auffassung. Dabei erzeugt der Visuelle bei sukzessiver Wahrnehmung der dar-
gebotenen Reihenglieder innere visuelle Bilder dieser, und zwar stets in bestimmter
räumlicher Anordnung. Im weiteren Verlauf des Lernens tritt dann die Tendenz
336 D. Literatur.
auf, bei sukzessiver Darbietung nicht bloß von einem ihm dargebotenen Reihenglied
ein innerliches visuelles Bild zu erzeugen, sondern im Anschluß an dieses auch
noch andere vorhergehende oder nachfolgende Glieder nur desselben — aber nicht
eines anderen — Komplexes zu reproduzieren. Späterhin stellt sich beim Lernen
öfter ein flüchtiges Gesamtbild des Komplexes gleich nach seiner Darbietung ein,
ja schließlich schon vor der Darbietung und das Hersagen pflegt sich in der Weise
zu vollziehen, daß vor dem Hersagen des Komplexes zuerst sein Gesamtbild (Ge-
staltbild) erscheint. Die Komplexbildung wird erleichtert durch Übung und natür-
lich durch die Anordnuug der Lernobjekte. Dabei zeigt sich allerdings, da die Auf-
merksamkeit bekanntlich intermittiert, daß die kollektive Sukzessivauffassung nur
über eine sehr begrenzte Zahl von Reihengliedern sich erstreckt, über so viele eben,
als sich innerhalb der Zeit einer Aufmerksamkeitswelle erfassen lassen. Und da
gilt der Satz: Jedes Glied wird mit um so geringerer Aufmerksamkeit erfaßt, je
mehr Glieder die Gruppe umfaßt; dasselbe gilt für die kollektive Simultanauffassung
(Satz der Unschärfe der kollektiven Auffassung). Der visuelle Lerner ist
beim Einprägen einer simultan vorgeführten Reihe zuerst darauf gerichtet, die Ge-
stalt jedes zu bildenden Komplexes zu erfassen und einzuprägen. Ja manchmal
formen die Lerner die Glieder selbständig zu einer ihnen geläufigeren Form oder
Gestalt um. Diamandi übersetzte das Vorgeführte in seine Handschrift um, andere
aus der horizontalen Anordnung in eine vertikale. Beim Weitergehen zum nächsten
Komplex hat der Lerner oft eine Neigung, sich, wie um seine Sicherheit zu prüfen,
den eben aufgefaßten Komplex nochmals innerlich zu rekonstruieren, das Haupt-
mittel der Einprägung. Bei der Reproduktion tritt der Gesamtkomplex zuerst vor
das innere Auge; dann heben sich beim fortschreitenden Reproduzieren die einzelnen
Stellen deutlicher heraus. So sieht Rückle die jeweils herzusagende Ziffer deutlicher.
Bei Lernern mit mehr gemischt-visuellem Typus spielt das Komplex-bilden natürlich
nicht diese wichtige leicht bemerkbare Rolle.
Diejenigen Umstände, welche die Komplexbildung beeinflussen, nennt Müller
Determinanten des Komplexumfanges. Es sind das die räumliche Anord-
nung der Reihenglieder. ihr Abstand von einander wie vom Auge des Lernenden,
zwischen den Gliedern angebrachte Markierungen, eine Übereinstimmung mehrerer
Glieder nach Beschaffenheit oder räumlicher Gestaltung, indem durch eine den
Gliedern gemeinsame Eigenschaft diese insgesamt von ihrer Umgebung abgehoben
werden, symmetrischer Aufbau (z. B. 84548), Gesamtlänge der Reihen, insofern
kürzere Reihen lieber in kleineren, längere in größeren Komplexen gelernt werden,
Pausen und Betonung beim Vorlesen, ferner solche assoziative Momente, wie Vor-
kommen der Glieder schon in einem anderen bekannten Komplex (Jahreszahl, ge-
läufige Wortverbindung wie schwarz weiß rot, mathematische Beziehungen, wie
26169 aufgelöst in 26 = 13 x 2 und 169 — 13°), weiter die Beharrungstendenz
einer vorgeübten Lernweise an einen bestimmten Komplexumfang.
Die innere Festigkeit d. h. die Stärke der wechselseitigen Assoziationen, die
unter anderem abhängt von dem Bekanntheitsgrade der Glieder und von der Vor-
führungszeit, nennt Müller Schärfe der Komplexbildung, eine unseres Er-
achtens nicht ganz glückliche Bezeichnung, weil sich aus ihr das Wesen des Be-
zeichneten nicht erkennen läßt. Innere Festigkeit scheint mir bezeichnender.
Neben den durch einen Akt kollektiver Auffassung geschaffenen Komplexen
gibt es noch Gruppen, die größer sind, als daß ein einzelner solcher Auffassungsakt
sie hätte schaffen können, die aber durch feste Assoziation enger zusammengehalten
werden als andere. Müller nennt sie Assoziationsgruppen. Bei ihrer Bildung
D. Literatar. 337
spielt die »Zuordnung« nicht selten eine wichtige Rolle. Mit Zuordnung be-
zeichnet Müller den Umstand, »daß beim Lernen 2 nahe oder entfernt voneinander
stehende Reihenbestandteile in der Weise aufgefaßt werden, daß man sich aus-
drücklich die Beziehungen einprägt, in der die Stellen beider Reihenbestandteile zu-
einander stehen«. Was Müller hier mit Zuordnung bezeichnet, ist ein spezieller
Fall des für die Reproduktion so außerordentlich wichtigen Beziehungsbewußtseins,
dessen Mitwirkung das logische oder judiziöse Lernen, dessen Fehlen das mechanische
Lernen ausmacht. Sein Vorteil für die Reproduktion beruht darauf, daß es zwei
Reihen, eine Haupt- und eine Nebenreihe, nebeneinander bildet, von denen die eine,
die Nebenreihe, leichter sich einprägt. Von den Gliedern der leichter eingeprägten,
fest assoziierten Reihe gehen Assoziationen zu den entsprechenden Gliedern der
anderen Reihe, der Hauptreihe, welche ihrerseits unter sich assoziiert sind. Die
Disposition oder Spur eines Gliedes der Hauptreihe erfährt somit von zwei Seiten
her eine Anregung; das bedeutet eine Beschleunigung und Erleichterung der Re-
produktion. Ich bezeichne in meinem Buch diesen Vorgang als konvergente Dis-
positionsanregung.
Ganz das Gleiche liegt, rein psychologisch genommen, vor in der auch von
Müller berührten Tatsache, »daß man beim Hersagen einen zu nennenden Komplex
leichter findet, wenn man seinen Umfang bereits von vornherein sicher weiß, als
dann, wenn man zunächst auch nicht einmal betreffs des Umfanges des Komplexes
einen Anhaltspunkt hate. Müller formuliert für dieses Geschehen den Satz von
der reproduktiven Wirksamkeit der bewußten Teilinhalte (344). Dieser
besagt, »daß wir uns eines früheren Eindruckes leichter erinnern, wenn wir betrefts
seiner Intensität oder Qualität oder seiner räumlichen oder zeitlichen Beschaffenheit
irgend einen Anhaltspunkt besitzen«.. Ob man aber in diesem Fall wirklich von
»Teilinhalten« reden kann? Das Wissen z. B., daß der zu reproduzierende Komplex
10 Glieder hatte, ist doch nicht ein Teil des Komplexinhaltes, indem uns die 10
Glieder gegeben sind. Es ist vielmehr das Wissen, daß ich beim Wahrnehmen
dieser Reihe, deren Reproduzieren mir nicht sofort gelungen ist, 10 Glieder gezählt
habe, also ein Anzahlenurteil gefällt habe, und das Wissen um den Inhalt dieses
Urteiles. Dieses Urteil ist kein Bestandteil jenes Komplexes; der Komplex ist voll-
ständig, auch wenn ich ihn, ohne über die Zahl der Glieder zu urteilen, wahrnehme
oder mir erinnernd vergegenwärtige. Das Urteil tritt vielmehr hinzu und assoziiert
sich mit dem Komplex. Wenn nun die Aufforderung erfolgt, jenen Komplex zu
reproduzieren, so wirkt einerseits von dieser Aufforderung her eine Reproduktions-
tendenz auf die Dispositionen der Reihe, andererseits aber auch von jenem sofort
wieder erinnerten Anzahlenurteil. Es sind also zwei zusammenwirkende Re-
produktionstendenzen, oder es wird der Dispositionskomplex von zwei Seiten her an-
geregt, ein Geschehen, das keineswegs etwas Neues ist, also die Aufstellung eines
eigenen Satzes nicht als notwendig erscheinen läßt. Auf die gleiche Weise zu ver-
stehen ist die das Reproduzieren mehr als das Lernen unterstützende Wirkung des
Rhythmus. Er bildet ein bis zu einem gewissen Grade selbständiges, mehr oder
weniger kompliziertes Schema, dessen Glieder mit Gliedern des Textes assoziiert
sind und dadurch deren Reproduktion durch konvergente Dispositionsanregung er-
leichtern. Der Rhythmus beruht vorwiegend -— wenn auch nicht immer — auf
motorischen Vorgängen, auf Bewegungsempfindungen oder Vorstellungen und Be-
wegungsantrieben. Darum tritt er bei rein visuellen Lernern nicht auf. Wenn bei
visuellen Lernern ein Rhythmus vorhanden ist, so geschieht das dadurch, daß die
meist ganz unwillkürlichen Bewegungen, mit denen manche Versuchspersonen die
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 22
338 D. Literatur.
einzelnen Glieder erblicken, sozusagen begrüßen (Nicken, Aussprechen von Zahl-
wörtern, einfache Kehlkopfbewegungen ungefähr in der Form von »hme«), eine rhyth-
mische Gliederung erfahren können.
Welche Komplexe am zweckmäßigsten sind, hängt ab von unserer Absicht, ob
wir in kürzester Zeit einen Stoff bis zum freien Hersagen einprägen wollen oder
bei gegebener konstanter Lernzeit ein möglichst gutes Lernergebnis anstreben d. h.
möglichst viele Treffer bieten wollen (zeitökonomischer Standpunkt) oder aber, ob
wir das Lernziel mit der geringsten Anstrengung (Ermüdung) erreichen oder bei
gleicher Anstrengung möglichst große Lerneffekte erzielen wollen (kraftökonomischer
Standpunkt). Nur die Beobachtung im einzelnen kann zeigen, welche Methode je-
weils die zweckmäßigste ist. Immerhin läßt sich jetzt schon auf Grund der bis-
herigen Erfahrung manche Regel für die Wahl des Komplexumfanges angeben.
Es ist ein groß angelegtes, an einer erdrückenden Fülle von scharfen Einzel-
beobachtungen reiches Werk, in dessen I. Band diese Zeilen einen Einblick ge-
währen, und nicht minder reichhaltig versprechen die folgenden 2 Teilbände zu
werden. Aber trotz der breiten Anlage ist es Müller nicht darum zu tun, ein ge-
schlossenes System der Gedächtnispsychologie zu geben. Das zeigt schon die An-
lage, indem nach der Einleitung ein Abschnitt über die Selbstwahrnehmung folgt,
darauf die Beschreibung eines hervorragenden Gedächtnisses, endlich ein Abschnitt
über die Komplexbildung beim Lernen. Das zeigt auch die Überschrift »zur Analyse
der Gedächtnistätigkeit«, wie der Verzicht auf kritische Besprechung der verwendeten
Grundbegriffe und auf eine vollständige Bibliographie. So fällt das Werk etwas
anders aus, als man wohl vielfach erwartet hatte. Es untersucht wohl die wichtigsten
Seiten der Gedächtnistätigkeit, ist aber doch keine vollständige, in sich geschlossene
Gedächtnispsychologie. Und das ist zu bedauern. Denn keiner besaß je eine so
ausgedehnte Kenntnis der einschlägigen Literatur, keiner ist mit den Methoden und
den Ergebnissen der experimentellen Forschung so vertraut, keiner hat sowohl selbst
wie durch seine Schüler so Vieles und so Wertvolles zur Erforschung dieses Ge-
bietes beigetragen, als G. E. Müller. Aber selbstverständlich wird ihm die Wissen-
schaft auch so, wie sein Werk ist, zu größtem Danke verpflichtet sein. Indem er
darin alles vereinigt, was bis jetzt durch die experimentelle Psychologie ans Tages-
licht geschafft worden ist, und indem er jeweils mit scharfer Kritik die Mängel der
Methoden und der Ergebnisse aufdeckt, hat er eine Fundgrube geschaffen, die durch
den Reichtum wie durch die Verlässigkeit des in ihr vereinigten und kritisch ver-
arbeiteten Stoffes das Zurückgehen auf die Quellen in den meisten Fällen überflüssig
macht. Schon dadurch wird Müllers Buch zu einem Markstein in der Entwicklung
der modernen Psychologie.
München. M. Offner.
Fuchs, Arno, Hilfsschulfragen. Arbeiten aus dem III. Berliner Fortbildungs-
kursus für Hilfsschullehrer nebst Bericht. Halle a. S.. Carl Marhold, 1912.
104 S. Preis ? M.
Im Auftrage der Deputation für die Fortbildungsschulen zu Berlin hielt Arno
Fuchs in der Zeit vom 8. November 1911 bis zum 24. Januar 1912 den III. Berliner
Fortbildungskursus für Hilfsschullehrer und -lehrerinnen ab. Dieser Kursus sollte
ein Informationskursus für solche Lehrer und Lehrerinnen sein, die in den Dienst
der Fortbildung schwachbeanlagter Jünglinge und Mädchen zu treten beabsichtigen.
Es beteiligten sich jedoch in großer Zahl auch solche Lehrkräfte an ihm, die bereits
an der Fortbildungsschule für Schwachbeanlagte (ehemalige Hilfsschulkinder) tätig
waren, so daß der Kursus den Charakter eines Fortbildungskursus für Hilfsschul-
D. Literatur. 339
lehrer gewann. In dem Kursus wechselten Vorträge, Übungen und Besichtigungen
miteinander ab. Auch stellten die Kursusteilnehmer ihre Erfahrungen in den Dienst
der guten Sache und beteiligten sich durch Referate und Besprechungen. Die hier-
durch entstandenen methodischen Arbeiten hat Arno Fuchs auf Wunsch heraus-
gegeben. Die Arbeiten haben die Ausbildung der Hand (Handarbeits- und Haus-
haltungsunterricht für Mädchen, Knabenbandarbeit, Fachzeichnen), den Deutschunter-
richt (Lesebuch, Jugendschriften, methodische Behandlung eines allgemein bildenden
Erzählstoffes, Einführung in das Lesen und Betrachten einer illustrierten Zeitschrift),
den Rechenunterricht (Rechenbuch, angewandtes Rechnen) zum Gegenstand. Sie
erörtern belehrende und gesundheitlich fördernde Unternehmungen im Dienste der
Fortbildungsschule, Heim und Lehrwerkstätte für ehemalige Hilfsschüler, be-
merkenswerta Eindrücke beim Hospitieren in Fortbildungsschulen für Schwach-
beanlagte und Normale, den gegenwärtigen Stand der Schwerhörigenfürsorge. Zwei
weitere Abhandlungen beschäftigen sich mit Fragen der Erziehung psychopathischer
Kinder. Als Schlußwort gibt Fuchs einen Überblick über den gegenwärtigen
Stand der Ausbildungskurse für Hilfsschullehrer. Die »Hilfsschulfragen« sind hier-
mit bestens empfohlen, zumal sie nicht nur die Fortbildungsschule für Schwach-
beanlagte sondern auch die Hilfsschule im Auge haben.
Danzig. Franz Matschkewitz.
Horrix, Hermann, Die Ausbildung des Hilfsschullehrers. Ein Vorschlag
zu ihrer Förderung. Halle a. S., Carl Marhold, 1912. 56 S. Preis geh. 1 M.
Die Frage der Vor- und Fortbildung des Hilfsschullehrers gehört zu den
wichtigsten, die den Hilfsschullehrerstand zurzeit beschäftigen. Verschiedene Vor-
schläge sind gemacht, die die Frage fördern sollen. Horrix hat ihr die oben an-
geführte Schrift gewidmet. Verfasser ist in dieser Frage doppelt zuständig. Einmal
steht er seit ca. 25 Jahren im Dienste der Hilfsschule, zum andern ist er von der
Königl. Regierung zu Düsseldorf zur Leitung der von ihr eingerichteten Kurse be-
rufen. Horrix behandelt in seiner Schrift: I. Notwendigkeit und Wert einer be-
sonderen Ausbildung der Hilfsschullehrer. II. Ansichten über die Art der Aus-
bildung. IlI. Die Persönlichkeit des Hilfsschullehrers. IV. Die entferntere Vor-
bereitung auf den Hilfsschullehrerveruf. V. Die gegenwärtig spezielle Ausbildung
in Hilfsschullehrerkursen. VI. Die vorgeschlagene Ausbildung im Hilfsschullehrer-
seminar. VII. Erläuterungen zum Ausbildungsplan.
Verfasser bespricht die den bisher getroffenen oder gewünschten Einrichtungen
anhaftenden Vor- und Nachteile und empfiehlt die Gründung heilpädagogischer Seminare.
Für den Besuch eines solchen Seminars nimmt er einen Zeitraum von einem Jahr
an. Er legt dar, wie er sich die Ausgestaltung des Seminars denkt und bietet einen
bis ins einzelne gehenden Ausbildungsplan. In dem Abschnitt »Die Ausbildung der
Hilfsschullehrer in andern Staaten« berücksichtigt der Verfasser die Verhältnisse in
Österreich, Ungarn und Frankreich. Daraus geht hervor, daß diese Staaten uns
voraus sind.
Danzig. Franz Matschkewitz.
Seyfert, R., Die Unterrichtslektion als didaktische Kunstform. Leipzig,
Verlag Ernst Wunderlich, 1909. 267 S. Preis gebunden 3 M.
Unterricht ist geistiger Verkehr. Die Formen dieses geistigen Verkehres
sollen künstlerisches Gepräge tragen, künstlerische Formen annehmen. Das Künstle-
rische ist das Subjektive; es ist der Rahmen, in welchen sich Rede, Darstellung,
Komposition der Lektion einzufügen haben. Die didaktische Kunstform steht den
22*
340 D. Literatur.
nüchternen, schmuck- und kunstlosen Einzeltatsachen des Unterrichtes gegenüber.
Von jedem Raume, von jedem Möbel, von jeder Tanzkarte, vom Plakate, von den
Kleidern fordern wir, daß sie — abgesehen von Zweckmäßigkeit usw. — geschmack-
voll sind. Die didaktische Kunstform bezeichnet nichts anderes, als die geschmack-
volle Unterrichtsgestaltung. Jeder Dilettantismus verstößt gegen den künstlerischen
Geschmack. Die vollendete didaktische Kunstform setzt voraus, daß die gesamte Unter-
richtstechnik völlig beherrscht wird. Verstöße gegen die Kinderpsychologie, gegen die
Unterrichtssprache, gegen den Lehrstoff vereiteln das harmonische Unterrichtsbild.
Seifert hebt hervor, daß alle wissenschaftliche, politische, soziale Arbeit für uns
nur allgemeinen Wert habe, daß unsere alltägliche und nächstliegende Arbeit aber
die Unterrichtsiektion ist, und unser Denken und Wollen soll diesem künstlerischen
Werke zugewandt sein. Durch die Unterrichtskunst sollen wir uns von den anderen
Menschen ‚unterscheiden und über diesen stehen. Es ist aber eine feststehende Tat-
sache, daß in der pädagogischen Literatur und in unseren Zeitschriften die Lektion
völlig vernachlässigt wird. Es ist jedenfalls richtig, daß ein Schulmeister dem
anderen nichts vormachen kann, was von jenen gebilligt wird. Zweifel und herbe
Kritik verhindern die Veröffentlichung von Stücken aus der Alltagsarbeit. So
schädigen wir uns selbst und unsere Stellung in der Öffentlichkeit. Es gibt genug
Städte mit hundert und viel mehr Lehrern, und doch ist nie Gelegenheit, einer
öffentlichen Unterrichtslektion beizuwohnen.
Es wäre zu wünschen, daß dies anders wird. Seifert gibt wertvolle Winke;
nicht stürmend und drängend, aber modern, solid und gut sind seine Ausführungen,
An alles denkt er, selbst dem Gelegenheitsunterricht redet er nachdrücklich das Wort.
München. Egenberger.
Zerwer, Antonie, Schwester, Säuglingspflegefibel. Berlin, Julius Springer,
1912. 72 S. Preis 90 Pf.
In einem Vorwort an die Mütter betont Prof. Dr. Leo Langstein (Direktor
des Kaiserin Auguste Viktoria-Hauses) die Notwendigkeit, schon das Kind, das heran-
wachsende Mädchen in die Säuglingspflege einzuführen.
Schwester Zerwer tritt selbst mit großer Wärme und Herzlichkeit an die
Kinder heran, sucht auf anmutige Weise ihre Herzen zu gewinnen für die Hilflosig-
keit der Kleinsten, Pflichtgefühl und Arbeitsfreudigkeit in ihnen zu wecken.
Wie sie dann im ersten Teil der Fibel die Jugend unterweist, wie sie ihre
Lehre geschickt in Fragen und Antworten kleidet, nie langweilig, nie ermüdend oder
lehrhaft, aber immer mit großer Bestimmtheit und Eindringlichkeit, das ist meiner
Ansicht nach meisterhaft. Anzuerkennen ist weiter das energische Bekämpfen aller
alten Gebräuche und alles Aberglaubens, der mitunter noch in der Säuglingspflege
eine Rolle spielt. Die zahlreichen dem Buche beigegebenen Bilder sind so klar und
anschaulich, daß sie den jungen Mädchen das Lernen sehr erleichtern werden.
Der zweite Teil des Buches verdient besonderes Lob. Schwester Zerwer
bringt Beispiele aus dem Säuglingsleben, aus denen die Jugend selbst ihre Schlüsse
ziehen soll, merken soll, wie sie es nicht mit ihren Pflegebefohlenen machen
darf. Diese Art zu unterweisen wird viel überzeugender und eindringlicher wirken
als lange Reden und Auseinandersetzungen über all die Gefahren, die dem Säug-
ling drohen.
Das Buch sollte weiteste Verbreitung finden; für das, was es bietet, ist der
Preis gering.
Jena. Hanna Queck-Wilker.
D. Literatur. 341
Archiv für Pädagogik. Herausgegeben von Max Brahn und Max Döring.
Leipzig, Friedrich Brandstetter.
Teil I. Die Pädagogische Praxis. Neue Folge des »Praktischen Schulmanns«.
Jährlich 12 Hefte von je 4 Bogen Umfang. Preis halbjährlich 4 Mark
(Einzelheft 1 Mark).
Teil II. Die Pädagogische Forschung. Jährlich 4 Hefte von je 8 Bogen Umfang.
Preis jährlich 8 Mark (Einzelheft 2,50 Mark).
Diese neue Zeitschrift »will ein Archiv jener schaffenden Arbeit sein, wie sie
heute in so reichem Maße geleistet wird«. Als solches heißen wir sie herzlich
willkommen. Nicht bestimmten pädagogischen Richtungen und Anschauungen soll
und will sie dienen. Weitherzig und freigesinnt wollen die Schriftleiter wertvolle,
wissenschaftlich begründete Beiträge aus jedem pädagogischen Lager aufnehmen.
Und was sie versprochen, das haben sie, soweit es die uns zugegangenen ersten
Hefte beurteilen lassen, auch treulich gehalten. Wir können und wollen hier natür-
lich nicht auf die einzelnen Aufsätze eingehen. Wir hoffen, daß es uns möglich
sein wird, die für unseren Leserkreis wichtigen Aufsätze fortdauernd in unserer
Zeitschriftenschau berücksichtigen zu können, wie wir die bisher erschienenen be-
reits berücksichtigten. Und dieser Aufsätze sind nicht wenige. Wir können hier
nur das Eigenartige der neuen Zeitschrift hervorheben, und das ist ihre Sonderung
in einen Teil, der ganz der Praxis gewidmet ist, und in einen zweiten, der vor-
wiegend Arbeiten aus dem Gebiete der exakten oder experimentellen Pädagogik
bringt. Unter den hier erscheinenden Arbeiten werden vor allem Untersuchungen
aus dem Institut für experimentelle Pädagogik an der Universität Leipzig zu finden
sein. Auch die Grenzgebiete finden gebührende Berücksichtigung. Wir glauben,
mit diesen Angaben ungefähr das Arbeitsgebiet der neuen Zeitschrift gekennzeichnet
zu haben. Die vorliegenden Nummern geben uns das Recht, sie unseren Lesern
aufs wärmste zu empfehlen.
Jena. Karl Wilker.
Deutsche Heil- und Pflegeanstalten für Psychischkranke in Wort und
Bild. Redigiert von Dr. Johannes Bresler. II. Band. Halle a. S., Carl
Marhold, 1912. VIII und 462 Seiten. Preis: in Halbfranz gebunden 19 M.
Vor einem Jahre habe ich den ersten Band dieses Werkes hier besprochen
(Jg. XVII, 2, S. 93—94) und ihn als ein wertvolles Handbuch nicht nur für den
Psychiater, sondern auch für den Heilpädagogen und überhaupt jeden, der sich mit
der Anstaltsbehandlung Psychischkranker beschäftigt, bezeichnet. Es ist erfreulich,
daß das Werk nun noch eine Fortsetzung gefunden hat, die recht reichhaltig aus-
gefallen ist, wenn man von einzelnen Anstalten leider auch nur recht spärliche
Notizen vorfindet. Speziell für unser Gebiet ist wohl das wichtigste aus diesem
zweiten Bande der Abschnitt »Beobachtungsstation und Erziehungsanstalt für psycho-
pathische Fürsorgezöglinge«s in Webers Aufsatz über die Göttinger Heil- und Pflege-
anstalten. Besondere Beachtung verdienen auch die Aufsätze Camerers über die
Entwicklung der Irrenfürsorge im Königreich Württemberg und ein Aufsatz über
die Entwicklung des Irrenwesens in der Stadt Berlin. Der Band enthält endlich
auch ein Sachregister und ein Autorenregister zu beiden Bänden. Inwieweit diese
vollständig sind, laßt sich natürlich schwer sagen. Es fiel uns nur auf, daß man
im Sachregister z. B. das Stichwort Abstinenz (oder ein gleichbedeutendes) ganz ver-
gebens sucht, obgleich gerade in diesem Punkte manche Angaben vorliegen, wie in
dem Aufsatz Delbrücks über das St. Jürgenasyl in Ellen (Bremen).
342 D. Literatur.
Ausstattung und Bildermaterial verdienen das gleiche Lob wie die bisher er-
schienenen anderen Bände des groß angelegten Werkes über die Anstaltsfürsorge
für körperlich, geistig, sittlich und wirtschaftlich Schwache im Deutschen Reiche in
Wort und Bild, als dessen VII. Abteilung dieses zweibändige Werk erschienen ist.
Jena. Karl Wilker.
Neter, Eugen, Das einzige Kind und der Kindergarten.
Grünbaum, Rosa, Der Kindergarten, seine soziale und pädagogische
Bedeutung. Schriften aus dem Fröbelseminar Mannheim, Heft 1. München,
Ärztliche Rundschau (Otto Gmelin), 1912. 40 S. Preis 0,60 M.
Unter den Kinderärzten nimmt sicher Neter die bedeutendste Rolle ein. Seine
mannigfachen kleinen Abhandlungen und Schriften stützen sich auf eine reiche prak-
tische Erfahrung. So auch diese! Er legt in ihr klar, wie der Kindergarten eine
große erzieherische Bedeutung gewinnen kann für einzige Kinder dadurch, daß er
den notwendigen Ersatz für die Miterziehung durch die Geschwister bietet, die für
die ganze Entwicklung des Kindes unentbehrlich ist. Auch gesundheitlich bietet
der Kindergarten einen großen Vorteil, indem er das Kind schützt vor der gefähr-
lichen geistigen Überanstrengung, der es als einziges Kind nur allzu häufig aus-
gesetzt ist. Die oft gefürchtete Infektionsgefahr soll man ruhig in Kauf nehmen
gegenüber den Vorteilen, die der Besuch des Kindergartens für die gesamte Ent-
wicklung und spätere Gesundheit des einzigen Kindes bietet. — In dem zweiten
Aufsatz des Heftes versucht Rosa Grünbaum eine psychologische Würdigung der
Bestrebungen Fröbels und ihrer praktischen Bedeutung für unsere heutige Zeit-
Namentlich diese letztere ist ihr gut gelungen. Sie hält, wie schon öfter von zu-
ständigen Autoren betont und gefordert wurde, die Einrichtung von Spezialkinder-
gärten für schwachsinnige, taubstumme und blinde Kinder usw. für dringend not-
wendig (namentlich in größeren Städten), ebenso die Schulkindergärten für zurück-
gestellte Schulanfänger.
Jena. Karl Wilker.
Stritter, P., Seelsorge unter geistig Abnormen. Alsterdorfer Anstalten.
Sonderabdruck. 14 S.
Die kleine Arbeit sucht nach allen Seiten die Aufgabe des Seelsorgers der
geistig Abnormen zu kennzeichnen. Das Verständnis für krankhafte geistige Ver-
fassung ist für sie von größter Bedeutung. Dem Verfasser kommt für seine Arbeit
seine reiche Erfahrung sehr zugunsten.
Jena. Karl Wilker.
Ziehen, Th., Die Erkennung der psychopathischen Konstitutionen
(krankhaften seelischen Veranlagungen) und die öffentliche Fürsorge für psycho-
pathisch veranlagte Kinder. Berlin, S. Karger, 1912. 34 S. Preis 80 Pf.
Die kleine Schrift verlangt nachdrücklich, was auch in dieser Zeitschrift seit
je gefordert wurde: die Einrichtung von Spezialanstalten (Heilerziehungsheimen) für
psychopathische Kinder in der Art, wie die Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge
eine solche in Templin (Mark) eingerichtet hat. Die Leitung müßte eine päda-
gogische sein. Ein Psychiater sollte dem Pädagogen als Berater zur Seite stehen.
Jena. Karl Wilker.
Verantwortliche Schriftleitung für Abhandlungen und Mitteilungen: Dir. Trüper,
Sophienhöhe b. Jena; für Zeitschriftenschau und Literatur: Dr. Karl Wilker, Jena,
Weißenburgstraße 27.
Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
Verlag von HERMANN Bryer & Sönne (Beyer & Mann) in Langensalza.
Das Seelenleben unserer Kinder
im vorschulpflichtigen Alter.
Kinderpsychologische Betrachtungen für Eltern, Lehrer
und Kinderfreunde.
Von
Prof. Dr. Adolf Sellmann.
Mit 5 Tafeln.
VI und 146 Seiten. Preis 3 M., eleg. geb. 4 M.
Grundlagen für das Verständnis
krankhafter Seelenzustände
(psychopathischer Minderwertigkeiten)
beim Kinde
in 30 Vorlesungen.
Für die Zwecke der Heilpädagogik, Jugendgerichte und Fürsorgeerziehung
von
Dr. med. Hermann,
Anstaltsarzt in Merzig a. d. Saar.
Mit 5 Tafeln.
Zweite Auflage.
XII und 180 Seiten. Preis 3 M., eleg. geb. 4 M.
Alkoholismus, Schwachsinn und Ver-
erbung in ihrer Bedeutung für die Schule.
(Nach dem Manuskript eines am 4. August 1911 in der Internationalen
Hygiene- Ausstellung zu Dresden gehaltenen Lichtbilder- Vortrages.)
Von
Dr. Karl Wilker
in Jena.
Mit 3 Tabellen und 2 Figuren im Text, sowie mit 22 Tafeln.
IV und 33 Seiten. Preis 1 M. 20 Pf.
Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
Verlag von Hermann Beyer & Sonne (Beyer & Mans) in Langensalza
Encyklopädisches
Handbuch der Pädagogik.
Herausgegeben von
Lit. D. Dr. W. Rein,
ord. Professor der Pädagogik an der Universität Jena.
Zweite, erweiterte und verbesserte Auflage.
Umfaßt 10 Bände à 18 M. 50 Pf.
und ein Generalregister zum Preise von 4 M.
Einzelne Teile des ganzen Werkes können nicht abgegeben werden. Der Kauf
des ersten Bandes oder Halbbandes verpflichtet zur Abnahme der ganzen Encyklopädie.
Münchener Aligemeine Zeitung 1900, Nr. 179: ». . . Das von Prof. Rein geleitete Unter-
nehmen kommt einem wirklichen und weitverbreiteten Bedürfnis entgegen. . .. Man findet die reich-
haltigste Belehrung und zuverlässigste Orientierung. .. . Mit großem Geschick sind für die einzelnes
Artikel Persönlichkeiten gewonnen, welche gerade dafür als hervorragende Autoritäten gelten dürfen... .
So liegt in dem Encyklopädischen Handbuch ein Werk vor, worauf die deutsche Wissenschaft stolz sein
darf... e Geh. Hofrat Prof. Dr. Eucken.
Joh. Friedr. Herbarts
Pädagogische Schriften.
Mit Herbarts Biographie herausgegeben
von
Dr. Fr. Bartholomäi.
Neu bearbeitet und mit erläuternden Anmerkungen versehen
von
Dr. E. von Sallwürk,
Geh. Rat, a. o. Mitglied der Akademie der Wissensch. zu Heidelberg.
l. Band: XII und 456 Seiten. Preis 3 M., eleg. geb. 4 M.
II. Band: VIII und 467 Seiten. Preis 3 M., eleg. geb. 4 M.
Handbuch für Jugendpflege.
Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge.
Schriftleitung: Dr. jur. Fr. Duensing- Berlin.
Herausgeber und Mitarbeiter des »Handbuchs für Jugendpflege« bieten
die sichere Gewähr, daß wir es hier mit einer Erscheinung zu tun haben, die
einer besonderen Anpreisung nicht bedarf.
Das »Handbuch für Jugendpflege« ist auf 12 bis 15 Lieferungen zu
4 Bogen, Lexikonformat, berechnet. Der Preis der Lieferung beträgt 80 Pf.
Nach Abschluß des Werkes tritt eine Erhöhung des Preises ein.
Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
Tafel Il.
“Mädchen
f Kartoffel
Pflaumen = Weißkraut
"a regnen HAA
Würfel
- haben
ch ara Afaa
peri brauch m
| dort
é
d L-a getrunken
ar i
Verlag von Hormann Boyer & Söhne (Beyer & Mann) ın Langensalza.
Tafel II.
fi AM MNA g
D
AMANALAMT IV LAI
(| l
Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann: in Langensalza.
Tafel IV,
guten
~ wi habem. ~
die Mama tut Nudl essen
ich tu schauen
ich mache eine Maus
Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Boyer & Mann) in Langensalza.
Tafel V.
Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza
Tafel VI.
Kalk
Bücher
W
Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
Tafel VII.
. = heul
Geschichte
guten Morgen
[X ade Mutter
Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyor & Mann) in Langensalza.
Tafel VII.
= wer = leg = laut
Vater Erden Korb Otto
Vermengung aus
S u. R.
Vermengung aus
Radi u. Rettig
Un. Yrl£ RUY Uf YA
Verlag von Hermann Beyer & Sühne (Beyer & Mann) in Langensalza
Tafel X.
en
laus
Verlag von Hermann Beyer & Schno (Beyer & Mann) in Langensalza.
Tafel XII.
: ;
IRA
EM ripi
een
nn
A. Abhandlungen.
1. Ist für Schulneulinge im allgemeinen und für
Hilfsschüler im besonderen Fraktur oder Antiqua
zunächst geeignet?
Nach einem Vortrag, auf dem IX. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands
zu Bonn gehalten am 26. März 1913
von
Kommerzienrat Friedrich Soennecken - Bonn.
»Körper und Stimme leiht die Schrift
dem stummen Gedanken,
Durch der Jahrhunderte Strom trägt ihn
das redende Blatt.«
Mit diesen Worten weist Schiller hin auf den hohen kulturellen
Wert der Schrift, die dadurch, daß sie noch nach Jahrhunderten, ja
nach Jahrtausenden die Gedanken und Worte unverändert wiedergibt,
eine gleich hohe Bedeutung erlangt wie die Sprache.
Sprache und Schrift sind die Grundpfeiler des Geisteslebens eines
Volkes, und in diesem Sinne ist die Frage nach der Schrift eine
Kulturfrage. Ihre Lösung beschäftigt in Deutschland gegenwärtig mehr
als je nicht allein die Vertreter der Schule, sondern auch in gleichem
Grade weiteste Kreise unseres gesamten Volkes.
Die meinen heutigen Ausführungen zugrunde liegende Frage, ob
für Schulneulinge im allgemeinen und für Hilfsschüler im besonderen
Fraktur oder Antiqua zunächst geeignet sei, hat daher neben der
Schule auch für unser Land ein allgemeines Interesse.
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 23
ABCDEF
GHIJKLM
Abbildung 1.
Soennecken: Fraktur oder Antiqua? 347
Um für die sachliche Beurteilung dieser Schriftangelegenheit die
ihrer Wichtigkeit entsprechende Grundlage zu schaffen, will ich zunächst
versuchen, in großen Zügen und unter Weglassung alles Unbedeutenden
und Nebensächlichen einen kurzen Überblick darüber zu geben, wie
sich seit der Römerzeit die Schriftentwicklung bei uns vollzogen hat.
Sowohl die Antiqua wie auch die Fraktur führen ihren Ursprung
auf die alten lateinischen Großbuchstaben des Volksstammes der Latiner
zurück.
Die bekannte einfache klare Form dieser Schrift zeigt Abbildung 1.
I.
Im Laufe der Jahrhunderte erlitten diese Buchstaben mehr oder
weniger große Veränderungen, die ihre Deutlichkeit beeinträchtigten.
Die erste derartige Veränderung
bestand in der Verwendung von verkürzten, schreibgeläufigeren Formen
einzelner Großbuchstaben als Kleinbuchstaben, die aber als die erste
Entwicklungsstufe der lateinischen Schrift außerordentlich nützlich
wurde.
Die Abbildung 2 zeigt ein Beispiel dieser Schrift von einem
Dokumente aus dem 6. Jahrhundert. Man nennt diese Schrift paläo-
graphisch »Halbunziale«.
Die zweite wesentliche Abweichung
von der Urform der Schrift und die erste unbegründete Schädi-
gung ihrer Deutlichkeit bildeten die im 11. und 12. Jahrhundert
entstandenen romanischen Schriftformen (Abbildung 3).
Diese Buchstaben, fast ausschließlich als Großbuchstaben benutzt,
wurden meist nur als Initiale und zu Aufschriften auf Grabplatten,
Votivtafeln und ähnlichen Inschriften verwendet.
1.
Die dritte und für unser deutsches Schriftwesen überaus
folgenschwere Abweichung von der richtigen einfachen
Schriftform und die erste wesentliche Veränderung ihres
Gesamtbildes
erfuhr die Schrift gegen Ende des 12. und Anfang des 13. Jahr-
hunderts unter dem Einfluß des gotischen Baustils (Abbildung 4). Wie
dieser damals aufblühende, von Frankreich ausgehende gotische Bau-
stil mit seinem die Masse durchgeistigenden Prinzipe jede Kunstübung,
die Skulptur sowohl, wie die Malerei, in seine Dienste zog, so fiel
auch die Schrift in seinen Bann. — Jetzt, zum ersten Male, sollten
23*
panuulıbap-
UZANTUN-
pollinancelle-
Ziplunalıa
A00Eaf
GRIRLM
NODPDONS
GUZOVE
350 A. Abhandlungen.
die Buchstaben mehr sein als Schrift: sie sollten Ornamente sein. Es
wurde an den Buchstaben geändert, gebaut, die geraden Linien wurden
dem nach oben strebenden Baustile entsprechend schlank gestaltet
und mit zugespitzten Köpfchen und Füßchen versehen. Die Rundungen
der Kleinbuchstaben wurden ganz entfernt und die nötigen Ver-
bindungen der Buchstabenteile durch dünne, kaum sichtbare Striche
notdürftig vermittelt. Die Großbuchstaben gestalteten sich all-
mählich zu komplizierten Bildern, deren Bedeutung oft nur erraten
werden konnte. Die wichtige Unterscheidung von dem kleinen n und
u fiel fast ganz fort.
So wurde der Zweck der Schrift, die Deutlichkeit, dem orna-
mentalen Bedürfnis der Architektur geopfert.
Um wieviel diese gotischen Formen von der richtigen Schriftform
abweichen, zeigt ein Vergleich mit dem lateinischen Alphabet (Ab-
bildung 1).
II.
In den folgenden zwei Jahrhunderten blieb in Deutschland die
gotische Schrift wegen ihrer leichten Schreibbarkeit bei der Benutzung
breitspitziger Federn fast ausschließlich im Gebrauche.
Es ist erklärlich, daß die ohnehin schon zu Bildern gestalteten
Großbuchstaben infolge schnelleren Schreibens immer komplizierter
wurden und ganz willkürliche Formen annahmen, wie sie Ab-
bildung 5 zeigt.
Außer dieser Variation waren auch noch andere landesüblich und
wurden von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis heute bei uns all-
gemein für den Buchdruck verwendet. Wir kennen diese Schriften
unter dem Namen »Frakture«.
Wie willkürlich und begründet ihre Formen sind, geht daraus
hervor, daß die Buchstaben des großen. und kleinen Alphabets der
Fraktur aus nicht weniger als 66 in Form und Größe verschiedenen
Grundzügen bestehen.
Die Fraktur ist daher auch im Vergleiche mit der Antiqua wenig
deutlich.
IV.
Neben der Fraktur benutzte man anfangs vielfach eine einfachere
Schrift, die man mit dem Namen »Schwabacher Schrift«e zu be-
zeichnen pflegt. (Abbildung 6.)
Doch auch diese einfachere Schriftform, die gleich der Gotik
dem Schreibzuge entsprach, besteht aus nicht weniger verschiedenen
Grrundzügen als die Fraktur.
aktur.
ABEDEH
SGHIFZALM
NOPONS
TZUBWINZ
abcdef
qhijilm
nopgr3
Iuvwry3
352 A. Abhandlungen.
V.
Den Unterschied der Buchstaben des lateinischen Alphabets im
Vergleich mit den gotischen und Fraktur-Buchstaben veranschaulichen
die abgebildeten Schriftproben.
Als der Buchdruck aufkam, benutzte man auch in den westlichen
Nachbarländern allgemein solche Typen, die nach den geschriebenen,
die sie ursprünglich vertreten sollten, geschnitten waren.
Diese Länder erkannten aber bald die Unzweckmäßigkeit solcher
Schrifttypen, gaben sie entschlossen auf und kehrten zu den einfachen
vorgotischen Buchstaben, den lateinischen, zurück.
Nur Deutschland hielt hartnäckig daran fest. Es stand ganz
unter dem Einfluß der Nürnberger Schreibmeister Neudörffer, nach
deren Zeichnungen die Schrifttypen geschnitten wurden, mit denen
nach Campes Angaben von 1828 Leipzig z. B. 200 Jahre lang ver-
sehen wurde.
Die Leistungsfähigkeit gerade dieser Schreibmeister gegenüber
ihren ausländischen Zeitgenossen war außerordentlich gering.
Vielfach wird Albrecht Dürer als Mitschöpfer der Fraktur be-
zeichnet. Diese irrige Vorstellung möchte ich beseitigen.
»Dürer war weit entfernt von dem späteren Irrwahne, als seien
diese altmodischen gotischen Lettern deutschen Ursprungs oder deut-
schen Charakters«, wie sich Thausing ausdrückt.
Auch Roßbergs komplizierte Versuche von 1806, die Fraktur
und spitze Schreibschrift zu verbessern, waren vergebliche Be-
mühungen. Die spitze Schrift konnte in Deutschland im Verlauf von
drei Jahrhunderten nicht, oder doch nur fast unmerklich verbessert
werden. — Dagegen hat sich die lateinische Schreibschrift während
derselben Zeit zu größter Einfachheit, Deutlichkeit und Schönheit
entwickelt. '
Die große Überlegenheit der Antiqua über die Fraktur wird
übrigens auch von unseren deutschen Schreibmeistern vielfach an-
anerkannt. So sagt z. B. Fugger in Nürnberg 1553:
»Unter vilen und mancherley Schrifften finde ich keinen schönern
und Herrlichern Literas, denn dise lateinischen Buchstaben.«
Baurenfeind (1714) nennt die Antiqua »eine von den allerschönsten
herrlichsten Schriften« und fügt hinzu:
»Diese romanischen Literae übertreffen alle anderen Buchstaben
und Schrifften weit und werden vor allen anderen am meisten ge-
braucht.«
ABEDES
GÄIKEN
NOPORS
TUVWXYZ
ABCHEF
GHIGKLM
HPARE
TUSWLYZ
Abbildung 7.
354 A. Abhandlungen.
Bezeichnend ist es, daß bis heute für die Beibehaltung der Fraktur
kaum andere als sentimentale Gründe angeführt worden sind. Wer
dabei die praktischen Gesichtspunkte im Auge behielt, empfahl ihre
Verbesserung, und wer eine verbesserte Form geschaffen zu haben
glaubte, tadelte alle früheren, wie z. B. einer unserer ersten rheini-
schen Ornamentkünstler, der im vorigen Jahre über eine Art einfacher
Frakturtypen Ungers mit folgenden Worten urteilt:
»In ihrer Einzigkeit von außergewöhnlichem Reiz gibt sie doch
die eigentliche Wesenheit der Fraktur, den mächtig pulsierenden
Rhythmus sich hin und her bewegender Formkräfte auf und scheidet
damit die entwicklungsfähigen Triebe aus.«
VI.
Gleichzeitig empfahl er seine eigene Fraktur, wie sie Abbildung 7
zeigt. Man wird daran alles andere als eine Verbesserung der Fraktur
erkennen.
Ebenso verhält es sich mit den vielen anderen »neuen« Fraktur-
Typen, die nun schon seit langer Zeit das Druckgewerbe Deutschlands
bis zur Unerträglichkeit wirtschaftlich belasten.
Wie die Fraktur, so ist auch die spitze Schreibschrift weder ver-
besserungs-, noch verschönerungsfähig. Das habe ich in meiner Schrift
»Das deutsche Schriftwesen und die Notwendigkeit seiner Reform«
früher schon ausführlich nachgewiesen. Ich will hier nur kurz wieder-
holen, daß wir in Deutschland in dem Übergange zur lateinischen
Schrift ein ganzes Jahrhundert zurückgehalten worden sind durch eine
bewußte oder unbewußte
Fälschung der Schulvorschriften
durch den geschickten Kalligraphen und Kupferstecher Heinrigs in
Crefeld (1813).
Bis vor 100 Jahren wurde die spitze Schrift nach Art der Rund-
schrift mit breitspitziger Feder geschrieben.
Dadurch erhielt die spitze Schrift ein steifes Aussehen, wie die
Schriften damaliger Schreibmeister zeigen.
Dieses unschöne Aussehen der Schrift genügte den Geschmacks-
forderungen der fortgeschrittenen Kultur Deutschlands nicht mehr.
Die Schrift sollte feiner, freier sein.
Nun kannte Heinrigs von seinem Aufenthalte in London her die
herrlichen englischen Muster der lateinischen Schrift, die mit spitzer
Feder geschrieben wurden. — Ohne das zu bedenken, stellte Heinrigs
die Schreibvorlagen so her, wie man sie wohl mit spitzem Stahl in
Soennecken: Fraktur oder Antiqua? 355
die Kupferplatte für den Druck eingravieren, nicht aber mit nur
einer spitzen oder nur einer breitspitzigen Feder schreiben konnte.
Die durch Heinrigs eingeführten Trugformen ließen auch im ver-
flossenen Jahrhundert keinen nennenswerten Fortschritt zu. — Nur
auf dem Gebiete der Zierschriften war im letzten Viertel des vorigen
Jahrhunderts das Aufkommen einer leicht schreibbaren Zierschrift, der
Rundschrift, als Neubelebung des Schreibens zu verzeichnen.
In neuerer Zeit versuchte man, die vor 100 Jahren verworfene
Schreibart unter dem Namen »Renaissance« wieder aufzufrischen.
Diese für den Unterricht sowohl, wie für die Ausführung gleich
schwierige Schrift wieder einzuführen, hieße die Pferde hinter den
Wagen spannen. Eine Schrift mit gleich dicken Strichen, sowohl bei
den geraden wie gebogenen Linien, entsteht nur dann, wenn die
Schrift rückwärts liegt, wodurch sie dem schönen Aussehen widerstrebt.
Und so kommt es, daß die allgemeine Unzufriedenheit über die
Zustände in unserem deutschen Schriftwesen von Tag zu Tag größer
wird. — Vor allem erstrebt man eine Neugestaltung des Schreib-
unterrichts in Schulen.
Man ist auch wohl der Meinung, daß die Erfolge des Schreib-
unterrichts nach den bisherigen Methoden zurückgegangen seien,
während das erforderliche Vielschreiben bei der minutiösen Gestaltung
der meisten Kleinbuchstaben der spitzen Schrift die Ursache ihrer
Undeutlichkeit ist. -— Es ist nicht wahrscheinlich, daß man mit einem
Unterrichtsverfahren, das schon bei Schulneulingen nach künstlerischen
Zielen strebt, Besseres erreicht.
Bei dieser Art des Unterrichts soll der Schüler die Schrift, deren
Form der Lehrer an der Tafel vorschreibt, nicht genau nachbilden,
sondern ganz nach seiner freien individuellen Auffassung wiedergeben.
Die sich bei jedem einzelnen Schüler naturgemäß zeigende Ab-
weichung der Schrift soll dann, wie ein Wiener Kunstschriftlehrer
und seine Anhänger empfehlen, als etwas »wertvoll Individuelles«, als
»persönliche Schrift« des Schülers weitergepflegt werden.
Daß die Schrift, deren Grundformen nun einmal feststehen wie
die Zeichen der Ziffern und die Werte bei Münzen, Maßen und Ge-
wichten, eine derartige Behandlung im Schulunterricht nicht zuläßt,
liegt auf der Hand. — Die individuelle oft nur zur Undeutlichkeit
führende Verschiedenheit der Schrift stellt sich im späteren Leben
ganz von selbst ein, und dann jedenfalls noch früh genug.
356 A. Abhandlungen.
Auch Frankreich, die Niederlande und England hatten früher
eine spitze Schreibschrift, ein Beweis dafür, wie irrig es ist, die spitze
Schreibschrift für spezifisch deutsch zu halten.
Die Entwicklung der Schreibschrift hat, von Italien und Spanien
ausgehend, ihren Weg nach Frankreich, den Niederlanden und England
genommen. In England hat sie ihre höchste Ausbildung erhalten. Bei
einem Vergleich der Schrift dieser Länder mit der Schrift in Deutsch-
land wird man sich des Eindrucks nicht erwehren können, daß die
deutschen Leistungen auf diesem Gebiete gegenüber denen der anderen
Länder, namentlich Englands, weit zurückstehen und wir einer Neu-
gestaltung unseres Schriftwesens sehr bedürftig sind.
Auch aus dem Vergleiche der in Deutschland gebräuchlichen
Druckschrift, der Fraktur, mit der Antiqua-Druckschrift der anderen
Länder ergibt sich, daß die Antiqua mit ihren bestimmten, klaren
Formen einfach und deutlich ist, die Fraktur dagegen mit ihren will-
kürlichen Formen kompliziert und undeutlich.
Die Deutlichkeit oder Undeutlichkeit darf indes nicht nach dem
Urteil Erwachsener bemessen werden, die bekanntlich nicht die ein-
zelnen Buchstaben, sondern ganze Wortbilder lesen. Ihnen wird die-
jenige Schrift am deutlichsten vorkommen, die sie zu lesen gewohnt
sind. Anders ist es bei den Schulneulingen und besonders bei den
Hilfsschülern. Diese müssen selbstverständlich zunächst jeden ein-
zelnen Buchstaben von den anderen unterscheiden lernen, bevor sie
auch nur erst Silben lesen können. Wie schwer es den Kindern
wird, in der Frakturschrift die Buchstaben fehlerfrei zu unterscheiden;
weiß gewiß jeder von Ihnen aus eigener Erfahrung zu beurteilen.
Eine Prüfung der Fraktur, wie sie auf Wand-Lesetafeln und in Lese-
fibeln vorkommt, wird das bestätigen.
Weil also die Antiqua im Vergleich mit der Fraktur die ein-
fachere und deutlichere Schrift ist, muß der erste Unterricht mit der
Antiqua beginnen nach dem alten pädagogischen Grundsatze: Vom
Einfachen zum Zusammengesetzten, vom Leichteren zum Schwereren.
Daß neben diesen methodischen Gründen auch psychologische
für den ersten Unterricht in einfachster Schrift sprechen, brauche ich
wohl vor einem so ausgezeichneten Kreise maßgebender Sachver-
ständiger nicht näher auszuführen.
Nur auf die hygienische Begründung möchte ich noch kurz ein-
gehen.
Kommt für den ersten Schreib- und Leseunterricht ein Alphabet
mit seinen Nebenalphabeten in Wegfall, so wird dadurch eine Ver-
Soennecken: Fraktur oder Antiqua? 357
minderung der gesamten Naharbeit der Schulneulinge herbeigeführt
und der Überbürdung entgegengetreten.
Vor allem aber sind beim ersten Schreib- und Leseunterricht in
Fraktur die vielen kleinen und kleinsten Unterscheidungsmerkmale
der Buchstaben für den Geist der Schulneulinge sehr anstrengend bei
derZAuffassung der Form. Und je mehr Verwechslungen unter den
Frakturbuchstaben möglich sind, desto mehr geistige Arbeit ist nötig,
desto mehr werden Auge und Hirn belastet.
Nun wissen wir aber, daß bei anstrengender geistiger Arbeit
unsere A-B-C-Schützen mit dem ganzen Körper arbeiten. Die ver-
schnörkelten und vielfach zum Verwechseln ähnlichen Frakturbuch-
staben zwingen aber die Kinder zu einem genaueren Hinsehen als bei
der Antiqua, und bei diesem Fixieren nähern sie sich mit den Augen
dem Schreibhefte oder der Fibel in übertriebener Weise, so daß das
Kind eine gesundheitsschädliche Körperhaltung einnimmt, die ganz be-
sonders für die Augen von Nachteil ist.
Aus dem bisher Gesagten ergibt sich also, daß für den ersten
Unterricht im Schreiben und Lesen die Verwendung der Antiqua
pädagogisch und hygienisch das Naturgemäße ist.
Es fragt sich nun, wie der Schreib- und Leseunterricht überhaupt
am zweckmäßigsten einzurichten ist.
Praktische Vorschläge dafür habe ich in meiner erwähnten Schrift
über das deutsche Schriftwesen schon früher (1881) mit folgenden
Worten angekündigt:
»Deutschland hat es bisher nicht an der Anregung, wohl aber
an der Kraft und Ausdauer gefehlt, sich seiner verdorbenen Schrift-
zeichen zu entledigen. Zum großen Teile liegt die Ursache an dem
Mangel ausreichender praktischer Vorschläge für die Bewerkstelligung
des Übergangs. Wenn wir auch den Übergang zur lateinischen
Schrift in der festen Überzeugung anbahnen, daß wir gegen unsere
altgewohnten Schriftzeichen bessere eintauschen, dann sollten wir
den Übergang doch nicht vollziehen, indem wir einfach die schema-
tische Art und Weise nachahmen, in welcher der Unterricht im
Lesen und Schreiben der lateinischen Schrift bei uns sowohl wie
im Auslande bisher meist betrieben wurde, sondern wir sollten, da
uns noch keine Gewohnheit bindet, diese Fundamental- Unterrichts-
fächer nach logischem System selbständig einrichten, wenn wir da-
durch Besseres schneller und leichter erreichen. Der Gegenstand
ist wichtig genug, um ihm endlich eine wissenschaftliche Grundlage
358 A. Abhandlungen.
zu geben. Dies zu versuchen, ist Gegenstand einer neuen Arbeit,
die ich demnächst veröffentlichen werde.«
Dieser von mir angekündigte Versuch einer wissenschaftlichen
Gestaltung des Schreib- und Leseunterrichts ist hervorgegangen aus
der Erfahrung mit meiner Rundschrift-Methode, der bekanntlich ganz
einfache Begriffe zugrunde liegen. Ein gerader Strich und ein Halb-
kreis, beide in vier verschiedenen Größen, sind die Elemente, aus
denen die Rundschrift entsteht.
Abbildung 8.
Diese bis dahin ganz neue Art der Schriftbildung steht in krassem
Gegensatze zu der äußerlichen, systemlosen und verwirrenden Dar-
stellung der Schrift aus dem 16., 18. und dem Anfange des 19. Jahr-
hunderts.
Nach demselben Grundprinzip des Aufbaues der Buchstabenformen
aus ganz bestimmten einzelnen Teilen und nach einheitlicher be-
stimmter Regel, konstruierte ich ein neues System für die Antiqua.
Soennecken: Fraktur oder Antiqua? 359
Alle Buchstaben des großen und kleinen Alphabets, sowie die
Ziffern, werden aus nur wenigen Zeichen, einem geraden Striche
in 4 Größen und einem Halb- und Viertelkreise, gebildet und ent-
stehen mit nicht zu übertreffender Anschaulichkeit, wie Abbildung+8
zeigt.
In gleicher Weise entstehen alle andern Zeichen in gesetzmäßiger
Form.
VI.
Dem Schriftsystem habe ich ein bestimmtes Größenverhältnis der
Buchstaben zugrunde gelegt, und zwar für die Ausdehnung des
Buchstabenbildess den Raum von zwei übereinanderstehenden Qua-
draten. Die Kleinbuchstaben nehmen zwei Drittel dieses Raumes ein.
Die vorstehende Abbildung veranschaulicht diese Verhältnisse. Die hier-
nach gebildeten Buchstaben ergeben ihre »Normalform«.
Die Erfahrung beim Unterricht hat gezeigt, daß die Schüler be-
geistert davon sind, wenn sie die Buchstaben so entstehen sehen, wie
Abbildung 8 zeigt. Begierig verlangen Sie darnach, sie auf ihrer
Tafel aus den losen Einzelteilen oder in ihrem Hefte schreibend auf
gleiche Art zu bilden. Das eben ist der Zweck des Schriftsystems,
eine klare Vorstellung von der Form der Buchstaben und ihrem Auf-
bau zu ermöglichen, damit das Kind lernt, die Schrift selbstschöpferisch,
wie bei der Beschäftigung mit dem Baukasten, hervorzubringen. Da-
durch haftet die richtige Form der Buchstaben nicht nur leichter im
Gedächtnis des Kindes, sondern es wird auch die Freude am Schreiben
gesteigert.
Diese kindliche Schaffensfreude zeigt sich besonders bei der Dar-
stellung der Buchstaben mittels der losen Einzelteile.
Keine andere Schrift ist zu derartiger manueller Beschäftigung
unserer jüngsten Schüler so vorzüglich geeignet wie die Antiqua.
Ihre einfachen Formen lassen sich ohne irgendwelche Schwierigkeit
spielend nachbilden.
Viel manuelle Betätigung macht die Lese- und Schreibstunden
ganz besonders anregend und erfreuend. Die Aufmerksamkeit der
Kinder wird andauernder, und auf weniger mühevollem Wege gelangen
die Kleinen zur genauen Unterscheidung der Buchstaben.
Für den Leseunterricht kamen bisher Lesekästen diesem Bedürfnis
entgegen. Diese Kästen sind so eingerichtet, daß die einzelnen Buch-
staben ganz gegeben werden, aus denen das Kind Silben und Wörter
zusammenlegt. — Es dürfte aber pädagogisch wertvoller sein, bei Be-
360 A. Abhandlungen.
nutzung von derartigen Kästen noch mehr geistige Tätigkeit für das
Kind anzustreben. Das kann erzielt werden, wenn man nicht die
ganzen. Buchstaben, sondern nur die Grundformen der Schrift im
Schreibkasten bietet, aus denen die Kinder die einzelnen Buchstaben
erst bauen müssen.
Ein solcher Schreibkasten würde das Verständnis der Kinder für
die Buchstabenformen ganz hervorragend unterstützen und das An-
eignen der Vorstellung der Buchstaben wesentlich erleichtern.
Die Buchstaben selbst aus ihren Elementen in leicht verständ-
licher Weise einzeln aufzubauen, dazu sind die verschnörkelten und
komplizierten Formen der Fraktur nicht geeignet, wohl aber die in
ihrer Einfachheit geradezu verblüffenden Buchstaben der Antiqua.
Das Verständnis für die Buchstabenformen kann also durch den
Werkunterricht mit bestem Erfolge vorbereitet werden, wenn im
Schreib- und Leseunterricht Antiqua verwendet wird.
Welcher methodische Weg nun bei dem Erlernen der Antiqua
im ersten Schreib- und Leseunterricht einzuschlagen ist, zeigt ihr
natürlicher geschichtlicher Entwicklungsgang.
Der Unterricht soll mit den Großbuchstaben beginnen, weil sie
die einfachste Form haben und dem praktischen Bedürfnis am meisten
entsprechen.
Denn gerade die Großbuchstaben der Antiqua treten dem Kinde
im Leben auf Schritt und Tritt zuerst entgegen, sie sind auch durch-
weg so überaus einfach, daß sie an das Auffassungsvermögen der
Schüler die geringsten Anforderungen stellen. — Je einfacher aber
die Buchstaben der ersten Schrift sind, um so besser für das Kind.
Die Erfahrung lehrt, daß wir einfache, in ihrer Zusammensetzung
leicht übersehbare Formen ohne Mühe auffassen und behalten. Ein-
fachheit ist aber kein Vorzug der Fraktur. Man bedenke bloß, daß
selbst Erwachsene trotz ihrer täglichen Beschäftigung mit dem Lesen
der Fraktur nicht imstande sind, sich von der Form irgendwelcher
Frakturgroßbuchstaben eine richtige Vorstellung zu machen und sie
aus dem Gedächtnis nachzubilden. Die Großbuchstaben der Antiqua
dagegen kann schon ein Kind aus dem Gedächtnis schreiben.
Nach dem Erlernen der Großbuchstaben werden die lateinischen
Kleinbuchstaben geübt, und zwar nicht als ein neues Alphabet
aus neuen Formen, sondern nur als das, was sie wirklich sind, näm-
lich verkürzte und vereinfachte Formen der Großbuchstaben.
Soennecken: Fraktur oder Antiqua? 361
Viele Kleinbuchstaben der Antiqua haben ganz dieselbe Form
wie die Großbuchstaben. Bei der Fraktur dagegen gibt es kaum einen
Kleinbuchstaben, der mit dem betreffenden Großbuchstaben überein-
stimmt.
Es leuchtet ein, daß durch eine solche weitgehende Übereinstin-
mung zwischen Groß- und Kleinbuchstaben der Antiqua dem Kinde
das Lernen ganz außerordentlich erleichtert wird.
VII.
Als dritte Stufe der Vorübung für die Schreibschrift gilt die
Übung der schrägen Druckschrift. Denn die Schreibschrift entsteht,
wenn man die schräge Druckschrift in geläufigem Federzuge und die
Buchstaben eines Wortes zusammenhängend schreibt.
WIR LERNEN SCHREIBEN U. LESEN
Wir lernen schreiben und lesen
Wir lernen schreiben und lesen
Das Kind wird daher in der Schreibschrift die Urform der Druck-
schrift erkennen und ihr vom ersten geschriebenen Buchstaben an
nicht fremd gegenüberstehen, was dem Unterricht wesentlich nützt.
Die Durchsichtigkeit der Antiqua in bezug auf den inneren organi-
schen Zusammenhang zwischen Druck- und Schreibschrift und die
daraus mit Notwendigkeit sich ergebende stufenmäßige Behandlung
im Unterricht zeigt die vorstehende Übersicht (Abbildung 9), wie sie
meiner neuen Schreibmethode zugrunde liegt. !)
1) Siehe Soenneckens Vorübungshefte zur lateinischen Schreibschrift.
Folge A: Für Schulneulinge und Hilfsschüler. Heft 1 bis 5.
Folge B: Für das dritte oder vierte Schuljahr. Heft B 1/3. 4. 5.
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 24
362 A. Abhandlungen.
Es ist ein großer pädagogischer Vorteil, daß das Kind vom ersten
geraden Striche an, den es in der Schule macht, bis zur fertigen
Schreibschrift den engen natürlichen Zusammenhang aller Übungs-
formen in der Schrift erkennt. Es braucht den Kopf nicht anzu-
strengen für das Behalten der zahlreichen einzelnen Buchstabenbilder
wie bei der Fraktur und kann seine Gedanken anderen, nützlicheren
Dingen zuwenden.
Solch logische Schreibmethode ist mit der Fraktur nicht aufzu-
stellen, denn sie entbehrt der erkennbaren Verwandtschaft der Schreib-
schrift mit der Druckschrift.
Abgesehen von der manuellen Betätigung durch den Gebrauch
der losen Schriftelemente des Schreibkastens, wird in Volksschulen die
Schrift, die das geläufige Schreiben vorbereitet, durch das Schreib-
zeichnen ausgeführt. Zu diesen Übungen werden in den Heften am
besten Federn benutzt, die ohne Druckanwendung gleichmäßig dicke
Striche hervorbringen und keine Haarstriche schreiben.
Was nun die Vordrucke in den Heften anbetrifft, so sind sie
vom pädagogischen Standpunkte aus nicht zu entbehren, für Hilfs-
schulen aber erst recht nicht.
Dem Kinde fällt es leichter, die Schrift nachzuschreiben, wenn
es den Vordruck im Hefte in natürlicher Größe selbst vor sich sieht,
als wenn es die Wandtafel-Vorschriften in verkleinertem Maßstabe ins
Heft übertragen muß.
Ferner sind die Vordrucke in den Heften in klarster Form und
richtiger ausgeführt, als man sie groß in richtigem Ausmaß ihrer Ver-
hältnisse freihändig mit Kreide auf die Wandtafel schreiben kann.
Weiter sind die Vordrucke für kurzsichtige Kinder, deren Zahl
leider nicht gering ist, unentbehrlich. In den Vordrucken haben die
Kinder auch außerhalb der Schule eine mustergültige Schrift, die da-
durch nicht mehr ein Geheimnis der Schulstube bleibt.
Sind nun gar in den Schreibheften neben den ganzen Buch-
staben auch deren Teile, neben den großen die entsprechenden kleinen
Buchstaben vorgedruckt, so erlangen diese Vordrucke eine höhere
methodische Bedeutung dadurch, daß Anschauen, Denken und
Üben als Fundamentalsätze alles Unterrichts vereinigt sind.
Durch eine solche Bewertung der Vordrucke kann von einem
mechanischen Abschreiben durchaus nicht die Rede sein, die Arbeit
des schreibenden Schülers erhält vielmehr eine geistige Vertiefung.
Sprechen solch zwingende Gründe für die Verwendung der Antiqua
im ersten Schreibunterricht, so ist die nächste logische Folgerung
Soennecken: Fraktur oder Antiqua? 363
die Forderung von solchen Fibeln für den ersten Leseunterricht, die
mit der Antiqua beginnen.
Diese Forderung an sich ist nicht neu. Der uralte Ruf nach
Rückkehr zu der lateinischen Schrift, die andere Völker schon seit
langem vollzogen haben, bestimmte schon frühere Pädagogen, mit
den Schulanfängern von vornherein mit Antiqua zu beginnen.
Haben sich aber in früheren Jahren immer nur einzelne Ver-
treter von Antiquafibeln gefunden, so ist seit den letzten Jahren das
Verlangen nach solchen schon allgemeiner geworden infolge ein-
gehender Berücksichtigung des Werdeganges unserer Schrift, der mit
Naturnotwendigkeit darauf hinweist, in den Schulen mit Antiqua zu
beginnen, und zwar sowohl für das Schreiben wie auch für das
Lesen.
Doch nicht nur für die Volksschule im allgemeinen, sondern
auch schon für die Hilfsschulen im besonderen hat man Lateinschrift-
fibeln herausgegeben. Aber wie die Volksschule, so wartet auch die
Hilfsschule auf eine die weitesten Kreise befriedigende Lösung der
Fibelfrage.
Für den ersten Leseunterricht ist also die Benutzung von Fibeln,
die mit Antiqua beginnen, unerläßlich.
Die Einführung der Antiqua für den ersten Unterricht ist also
eine sowohl pädagogisch, wie hygienisch und kulturell durchaus be-
gründete und berechtigte Forderung.
Seit dem Jahre 1881 bereits bin ich nach eigenen Lehrversuchen
in einer Elementarschule in Remscheid im Jahre 1876 und nach um-
fassenden Studien der Schriftentwicklung in den hauptsächlichsten
Kulturländern für die Einführung der lateinischen Schrift im ersten
Unterricht eingetreten, wie es viele vor und nach mir getan haben.
Die vom Preußischen Unterrichts-Ministerium im Jahre 1876 ein-
berufene orthographische Konferenz erklärte mit 10 gegen 4 Stimmen,
»daß der Übergang von dem deutschen zu dem von den meisten
Kulturvölkern angewendeten lateinischen Alphabet sich empfehle.«
Bis heute ist dieser Beschluß noch nicht zur Ausführung ge-
kommen.
24*
332 D. Literatur.
Auch der 2. Abschnitt gehört eigentlich noch zur Einleitung, insoferne er noch
nicht das Gedächtnis selbst behandelt, sondern eine für die psychologische Forschungs-
methode überhaupt äußerst wichtige Vorfrage »der Selbstwahrnehmung«, natür-
lich unter besonderer Bezugnahme auf das Gedächtnis. Wenngleich die objektiven
Methoden der Beobachtung besonders der Leistungen (Lernarbeit und Lernerfolg)
der Versuchsperson besonders bei Gedächtnisversuchen den breitesten Raum ein-
nehmen, so müssen — was vielfach übersehen wird — diese objektiven Beobach-
tungen doch durch subjektive Beobachtungen ergänzt und vertieft werden, wenn die
wissenschaftliche Forschungsarbeit vollständig sein soll. Selbstwahrnehmung nennt
dies Müller (wie Brentano), nicht Selbstbeobachtung, weil Konstatierungen in bezug
auf einen psychischen Zustand, sei es durch unmittelbare Auffassung desselben oder
durch Erinnerung an denselben, auch gemacht werden ohne die Absicht der Be-
obachtung. Vergleicht man die psychischen Vorgänge bei der Beschreibung eines
äußeren Gegenstandes mit denen bei der Beschreibung eines Bewußtseinszustandes,
so ergibt sich eine überraschende Übereinstimmung. Auch die psychischen Vor-
gänge werden nicht bloß — wie meist behauptet wird — auf Grund rückschauender
Erinnerung, sei es nun indem der betreffende Zustand selbst in Erinnerung kommt
oder indem nur eine Beurteilung jenes Zustandes wieder vergegenwärtigt wird,
beschrieben, sondern auch auf Grund gegenwärtigen Gegebenseins und Apperzipiert-
werdens. Eine andere Frage ist, ob ebenso, wie die Absicht des Beobachtens eines
äußeren Gegenstandes für dessen Beschreibung günstig ist, so auch die Beobachtung
des Bewußtseinszustandes dadurch gewinnt. Die Beobachtungen ergeben, daß die
Beschreibung eines natürlichen Bewußtseinszustandes d. h. eines solchen, der von
einer Beobachtungsabsicht weder erzeugt noch beeinflußt ist, durch die Absicht der
Beobachtung bedeutenden Veränderungen unterliegen kann, daß dagegen bei ge-
zwungenen Bewußtseinszuständen, d. h. solchen, welche willkürlich erzeugt werden
zum Zwecke der Beobachtung oder wenigstens unter der Absicht solcher Beobach-
tungen auftreten, die Beobachtungsabsicht nur vorteilhaft wirkt. Aus diesem Unter-
schied der Wahrnehmungsergebnisse folgt vor allem die Regel, daß die an ge-
zwungenen Bewußtseinszuständen gefundenen Gesetzmäßigkeiten nicht so ohne weiteres
gleich genommen werden dürfen den an natürlichen Bewußtseinszuständen ge-
fundenen, eine Regel, welche besonders bei der Anwendung der im psychologischen
Experiment gewonnenen Einsichten auf die Unterrichts- und Erziehungspraxis nicht
genügend beachtet wird. Übrigens können bestimmte Beobachtungsabsichten auch
bei der Beobachtung äußerer Gegenstände nachteilig sein.
Der Grundunterschied zwischen der äußeren Wahrnehmung und
der Selbstwahrnehmung besteht darin, daß die eintretenden Bewußtseins-
inhalte jeweils eine andere Auffassung erfahren. In der äußeren Wahrnehmung
dienen die Inhalte dazu. uns einen der physischen Gesetzmäßigkeit unterworfenen
Körper mit einer bestimmten Eigenschaft, in einem bestimmten Zustaude, in einer
bestimmten Entfernung vorstellen zu lassen. Bei der Selbstwahrnehmung dagegen
interessieren uns die Bewußtseinsinhalte so, wie sie an sich sind oder insoferne sie
hinsichtlich ihres Eintrittes, Verhaltens und Wirkens der psychologischen Gesetz-
mäßigkeit unterliegen. Ähnlich begründet Wundt z. B. in seinem »Grundriß der
Psychologie« die Trennung der Naturwissenschaft und der Geisteswissenschaft aus
dem Unterschied der Gesichtspunkte bei der Auffassung der an sich einheitlichen
Erfahrung.
In eindringender kritischer Erörterung werden die Unvollkommenbeiten
der Selbstwahrnehmung gegenüber den natürlichen Bewußtseinszuständen be-
D. Literatur. 333
sprochen und die daraus sich ergebenden Vorschriften für die Benützung solcher
Selbstbeobachtungen, Vorschriften, welche für den psychischen Experimentator höchst
wertvolle Winke sind, stets belegt mit Beispielen aus der reichen eigenen Erfahrung
des Verfassers wie aus der Literatur.
Eine ablehnende Kritik erfährt dabei Achs und Segals Methode der syste-
matischen Selbstbeobachtung unmittelbar nach Ablauf des durch eine be-
stimmte Anordnung herbeigeführten Erlebnisses, ferner das vielgeübte Verfahren,
selbst von Schulkindern allgemeine Mitteilungen über ihre Lernweise usw. zu ver-
langen, und die nicht minder beliebte Methode der Fragebogen, in welchen die Be-
fragten allgemeine Auskunft über ihr Verhalten in dieser oder jener Hinsicht geben
sollen. Diese völlig unzulängliche und irreführende Methode der vermeint-
lichen Reminiszenzen, wie sie Müller nennt, war die vor dem Aufkomnien der
experimentellen Psychologie allgemein übliche. Ein Fortschritt in der Gedächtnis-
psychologie konnte erst eıntreten, als man diese Methode aufgab.
Von ganz besonderem Interesse sind die Ausführungen Müllers über das
sogenannte Gedanken-Experiment. E. Mach hat den Begriff eingeführt. Man
versteht seitdem darunter das Verfahren, »sich gewisse Dinge als unter bestimmten
Umständen befindlich vorzustellen und sich zu vergegenwärtigen, wie sich jene
Dinge unter diesen Umständen verhalten würden«. Der Physiker macht davon
mannigfachen Gebrauch, und für den Psychologen ist es eine nicht minder wertvolle
Quelle. In analoger Weise vergegenwärtigt er sich psychische Vorgänge, die sich
bei bestimmter Versuchsanordnung in Versuchspersonen von bestimmter Beschaffen-
heit abspielen müssen. Individualisierend ist dieses psychologische Gedanken-
experiment, wenn ich mich frage, wie bestimmte Individuen, die leben oder gelebt
haben, unter bestimmten Umständen sich psychisch verhalten würden, wie ich selbst,
wie Bismarck sich in dieser oder jener — noch nicht erlebten — Situation be-
nehmen würde. Man versetzt sich innerlich in die gegebene Lage und beobachtet
die Gedanken, Affekte, Tendenzen usw., die unter diesen Umständen erweckt werden,
und nimmt dabei an, daß bei einem wirklichen Gegebensein der betreffenden Situation
entsprechende Gedanken, Affekte, Tendenzen usw. eintreten, wie sie bei mir bloß
in der Vergegenwärtigung eingetreten sind. Es ist ein Fall von Einfühlung in die
fremde Persönlichkeit und in die eigene Persönlichkeit zu einer anderen gedachten
Situation, ein instinktmäßiges psychisches Geschehen, das schon Lipps als eine
freilich der Korrektur oft bedürftige Erkenntnisquelle bezeichnet hat. Erschließt
man dagegen auf Grund gewisser Kenntnisse von allgemeinen Gesetzen und indivi-
duellen Eigentümlichkeiten das Verhalten in einer bestimmten Situation, so hat man
kein eigentliches Gedankenexperiment, sondern eben eine Schlußfolgerung. Nicht
selten gehen beide Verfahren der Ermittelung eines eventuellen Inhaltes Hand in
Hand, »Gedankenexperiment gemischter Arte. Im Leben machen wir von diesem
Gedankenexperiment in weitem Umfange Gebrauch. Wir suchen dadurch das
eventuelle Verhalten unserer Mitmenschen unter bestimmten Umständen zu erraten
und pflegen darnach unser eigenes Verhalten einzurichten. Auch der wissenschaft-
liche Psychologe wird, obwohl er sich über die Unzuverlässigkeit und andere Mängel
des Gedankenexperimentes keinen Täuschungen hingibt, es doch in Anwendung bringen,
so wenn er zwischen verschiedenen möglichen Untersuchungsmethoden und Ver-
suchsanordnungen zu wählen hat, wenn er in den Verlauf psychischer Vorgänge
unter Umständen, die er willkürlich nicht herbeiführen kann, Einblick gewinnen will.
wenn er die Sicherheit einer Versuchsperson hinsichtlich einer Aussage prüft, indem
er sie veranlaßt sich in Gedanken vor ein Gericht zu versetzen, und nun sie fragt,
ob sie auch dann noch ihre Aussage für richtig hält u. dergl.
334 D. Literatur.
Gleich in medias res führt der III. Abschnitt, der interessanteste dieses Buches,
der Abschnitt über den genialen, 1879 in Frankfurt geborenen Kopfrechner
Dr. Rückle. Es hat ja zu jeder Zeit Leute gegeben mit anormaler Fähigkeit Zahlen
sich einzuprägen und im Kopfe Rechenoperationen auszuführen. Aber Rückle ist
allen bisherigen fast in jeder Hinsicht überlegen, zum Teil weit überlegen. Diamandi,
ein berühmter Kopfrechner der jüngsten Zeit, braucht nach den umfassenden Unter-
suchungen, die Binet und Henri mit ihm angestellt haben, um 50 Ziffern sich ein-
zuprägen und aus dem Gedächtnis niederzuschreiben, 7‘ (Minuten), der Berufs-
nınemotechniker Arnould, der mit dem bekannten Hilfsmittel der Mnemotechnik:
Ersatz der Ziffern durch Buchstaben und Zusammensetzung dieser Buchstaben zu
Wörtern, arbeitet, braucht immerhin gegen 3° = 165 (Sekunden). Rückle da-
gegen braucht zum Einprägen und Hersagen etwa 70", wobei allerdings zu beachten
ist, daß das Hersagen rascher geht als das Niederschreiben. Für 100 Ziffern hatte
Diamandi 25‘, Arnould 15‘, Rückle durchschnittlich 6‘ nötig. Für 200 Ziffern end-
lich benötigte Diamandi 75‘, Arnould 45‘, Rückle dagegen durchschnittlich 2%.
Rückle ist kein einseitiger Zahlenmensch. Sein Gedächtnis übersteigt auch für
andere Stoffe weit das Mittelmaß, wie er denn im Realgymnasium stets der Erste
war. Rückles sensorischer Typus ist optisch. Beim Hersagen sieht er die Ziffern-
komplexe vor seinem geistigen Auge und zwar in der Handschrift, in der sie ihm
beim Lernen vorgelegen hatten; ebenso die Konsonantenreihen, die ihm zum Lernen
aufgegeben waren. Von dem mnemotechnischen Hilfsmittel des Ersatzes der Ziffern
durch Buchstaben, das auf den Dänen Reventlow zurückgeht, macht Rückle keinen
Gebrauch. Er bedient sich ausschließlich seiner mathematischen Kenntnisse. So
überrascht es nicht, daß er in den elementaren Rechenoperationen (Addieren, Sub-
trahieren, Multiplizieren usw.) von Inaudi, einem anderen von Binet geprüften
akustisch -motorischen Kopfrechner, erreicht, ja übertoffen wurde.
Doch lernt Rückle nicht ausschließlich visuell. Denn bei schwieriger sich
einprägenden Ziffernkomplexen und Ziffernreihen benützt er auch den akustisch-
motorischen Weg, indem er sie innerlich oder leise mitspricht. Rückle lernt nicht
lediglich mechanisch d. h. Ziffer an Ziffer assoziierend, sondern neben diesen Asso-
ziationen schafft er sich neue Bänder, indem er zwischen den Zifferngruppen —
er lernt die Ziffern meist in Komplexen von 5 bis & — Beziehungen sucht und
diese als leichter einprägbar neben der Assoziation von Glied zu Glied und Gruppe
zu Gruppe als Hilfsmittel der Reproduktion verwendet. So merkt er sich, daß
841 = 29°, 295 = 5 x 59, 559 = Regierungsantritt von Kyros, 624 = 25°? — 1,
70128 = 701 + 28 = 729 = 9%, 451697 = 451 = 11x41 und 697 = 17 x 4l.
Für Nichtmathematiker scheinen vielleicht diese Begleitgedanken noch schwerer zu
merken als die Zahlen für sich allein, gar nicht zu reden von der Schwierigkeit
des Auffindens besonders dieser zahlentheoretischen Verhältnisse. Aber für Rückle,
dessen Blick für die Zusammengesetztheit der Zahlen durch ein von frühester Jugend
ihn beherrschendes Interesse und durch reichliche Übung geschärft ist, sind diese
Auflösungen ein Spiel. Diese Hilfsassoziationen, die übrigens im Leben alle Tage
oft genug angewendet werden, sind nicht sowohl Erleichterungen der Einprägung,
schaffen nicht stärkere Dispositionen der Assoziationen, sondern erleichtern die Re-
produktion, das In-Wirksamkeit-treten dieser Dispositionen, was ich in meiner Mono-
graphie »Das Gedächtnis« als konvergente Reproduktion (Konstellation) dargelegt
habe. Es sind also nicht, wie man oft genug zu lesen bekommt, Hilfen der Ein-
prägung oder des Lernens, sondern der Reproduktion oder des Erinnerns,
An diese genaue psychologische Darlegung des Falles Rückle knüpft nun
Müller als Endergebnis allgemeine Bemerkungen über ungewöhnliches Zahlengedächt-
D. Literatur. 335
nis und über hervorragende Spezialgedächtnisse überhaupt. Man war bisher gewohnt,
in solchen Fällen von einem besonderen Gedächtnis für Zahlen oder für Formen
oder Farben, für Wörter usw. zu reden, machte also stoffliche Gruppen. Müller
lehnt das ab. Er weist darauf hin, daß man in Konsequenz dieser Grundansicht
dann weitergehen müßte und, da die einen Kopfrechner visuell, die andern akustisch-
motorisch rechnen, für die einen ein besonderes Gedächnis für Zahlzeichen (Ziffern),
bei den andern für Zahlwörter annehmen müßte und dann wieder unterscheiden
müßte zwischen einem besonderen Gedächtnis für arabische Ziffern und einem für
römische Ziffern und wieder unterscheiden ein besonderes Gedächtnis für Buch-
staben und Wörter, für geometrische Figuren usw. Und beim auditiven Rechner
müßte man beim einen ein besonderes Gedächtnis für französische Zahlwörter, beim
andern für deutsche usw. annehmen und müßte sich dann fragen, ob ein mit
normalem Gedächtnis für italienische Zahlwörter begabter Rechner wie Inaudi, wenn
er in einer deutschen Sprachumgebung aufgewachsen wäre, nicht jene Höhe der
Leistungsfähigkeit hätte erreichen können, weil er hier die Zahlwörter in deutscher
Sprache gelernt hätte. Indem Müller diesen Weg zu Ende geht, zeigt er, daß jene
Auffassung von besonderer, angeborener Begabung für Zahlen usw. auf einen Holz-
weg führt. Und so sieht er mit überzeugenden Gründen die Ursache solcher Ein-
seitigkeit des Gedächtnisses in der Einseitigkeit des Interesses, das im Bunde
mit einer hohen Leistungsfähigkeit bestimmter Funktionen, die aber bei anderer
Interessenrichtung nach einer ganz anderen Seite hin zu Erfolg geführt hätten, diese
merkwürdigen Leistungen zeitigt.
Natürlich, wie dieses merkwürdige einseitige Interesse entsteht, ist ein Ge-
heimnis, ist das Geheimnis der Individualität. Der Hinweis auf die Vererbung
schiebt das Rätsel nur vom Sohn zurück auf die Eltern. Fragt man nach der
physiologischen Unterlage dieser hohen Begabungen, dann muß man sich begnügen
mit der Annahme einer besonders günstigen Entwicklungs- und Ausbaufähigkeit
einzelner Sinnesgebiete, des optischen oder des akustisch-motorischen Bezirkes, und
darf nicht mit Gall und seinem jüngsten Vorkämpfer Möbius etwa den besonderen
Sitz für mathematische Begabung, ein »mathematisches Organ«, in der linken Stirn-
ecke oder sonstwo suchen. Sonst müßte man schließlich auch eine angeborene
Veranlagung und ein besonderes Organ annehmen für ein außerordentliches Inter-
esse an Briefmarken oder Perserteppichen.
Müllers Ausführungen verbreiten sich nicht über so viele mathematische
Genies und Kopfrechenmeister wie Binet und Henri in ihrem berühmten Buche
»Grands calculateurs et joueurs d’echec« und lesen sich auch nicht so fesselnd. Aber
sie dringen viel tiefer in die Psychologie des Phänomens ein und bedeuten darum
einen gewaltigen Fortschritt in dieser Frage.
Der IV. und längste Abschnitt des I. Bandes behandelt die Komplexbildung
beim Lernen. Bekanntlich besteht die Tendenz Ziffern, Konsonanten, Silben,
Wörter usw. nicht einzeln, sondern zu stark in sich assoziierten Komplexen zu-
sammengefaßt zu lernen, selbst dann, wenn ihre Anordnung oder die Form ihrer
Darbietung keine Gruppierung oder Einteilung aufweist, und um so mehr, wo dies
der Fall ist. Je nachdem die Glieder alle gleichzeitig oder in schnellem Durchlaufen
der einzelnen Glieder erfaßt und dann zu einem Ganzen zusammengefaßt werden,
unterscheidet Müller kollektive Simultan- bezw. kollektive Sukzessiv-
auffassung. Dabei erzeugt der Visuelle bei sukzessiver Wahrnehmung der dar-
gebotenen Reihenglieder innere visuelle Bilder dieser, und zwar stets in bestimmter
räumlicher Anordnung. Im weiteren Verlauf des Lernens tritt dann die Tendenz
336 D. Literatur.
auf, bei sukzessiver Darbietung nicht bloß von einem ihm dargebotenen Reihenglied
ein innerliches visuelles Bild zu erzeugen, sondern im Anschluß an dieses auch
noch andere vorhergehende oder nachfolgende Glieder nur desselben — aber nicht
eines anderen — Komplexes zu reproduzieren. Späterhin stellt sich beim Lernen
öfter ein flüchtiges Gesamtbild des Komplexes gleich nach seiner Darbietung ein,
ja schließlich schon vor der Darbietung und das Hersagen pflegt sich in der Weise
zu vollziehen, daß vor dem Hersagen des Komplexes zuerst sein Gesamtbild (Ge-
staltbild) erscheint. Die Komplexbildung wird erleichtert durch Übung und natür-
lich durch die Anordnuug der Lernobjekte. Dabei zeigt sich allerdings, da die Auf-
merksamkeit bekanntlich intermittiert, daß die kollektive Sukzessivauffassung nur
über eine sehr begrenzte Zahl von Reihengliedern sich erstreckt, über so viele eben,
als sich innerhalb der Zeit einer Aufmerksamkeitswelle erfassen lassen. Und da
gilt der Satz: Jedes Glied wird mit um so geringerer Aufmerksamkeit erfaßt, je
mehr Glieder die Gruppe umfaßt; dasselbe gilt für die kollektive Simultanauffassung
(Satz der Unschärfe der kollektiven Auffassung). Der visuelle Lerner ist
beim Einprägen einer simultan vorgeführten Reihe zuerst darauf gerichtet, die Ge-
stalt jedes zu bildenden Komplexes zu erfassen und einzuprägen. Ja manchmal
formen die Lerner die Glieder selbständig zu einer ihnen geläufigeren Form oder
Gestalt um. Diamandi übersetzte das Vorgeführte in seine Handschrift um, andere
aus der horizontalen Anordnung in eine vertikale. Beim Weitergehen zum nächsten
Komplex hat der Lerner oft eine Neigung, sich, wie um seine Sicherheit zu prüfen,
den eben aufgefaßten Komplex nochmals innerlich zu rekonstruieren, das Haupt-
mittel der Einprägung. Bei der Reproduktion tritt der Gesamtkomplex zuerst vor
das innere Auge; dann heben sich beim fortschreitenden Reproduzieren die einzelnen
Stellen deutlicher heraus. So sieht Rückle die jeweils herzusagende Ziffer deutlicher.
Bei Lernern mit mehr gemischt-visuellem Typus spielt das Komplex-bilden natürlich
nicht diese wichtige leicht bemerkbare Rolle.
Diejenigen Umstände, welche die Komplexbildung beeinflussen, nennt Müller
Determinanten des Komplexumfanges. Es sind das die räumliche Anord-
nung der Reihenglieder, ihr Abstand von einander wie vom Auge des Lernenden,
zwischen den Gliedern angebrachte Markierungen, eine Übereinstimmung mehrerer
Glieder nach Beschaffenheit oder räumlicher Gestaltung, indem durch eine den
Gliedern gemeinsame Eigenschaft diese insgesamt von ihrer Umgebung abgehoben
werden, symmetrischer Aufbau (z. B. 84548), Gesamtlänge der Reihen, insofern
kürzere Reihen lieber in kleineren, längere in größeren Komplexen gelernt werden,
Pausen und Betonung beim Vorlesen, ferner solche assoziative Momente, wie Vor-
kommen der Glieder schon in einem anderen bekannten Komplex (Jahreszahl, ge-
läufige Wortverbindung wie schwarz weiß rot, mathematische Beziehungen, wie
26169 aufgelöst in 26 = 13 x 2 und 169 = 13°), weiter die Beharrungstendenz
einer vorgeübten Lernweise an einen bestimmten Komplexumfang.
Die innere Festigkeit d. h. die Stärke der wechselseitigen Assoziationen, die
unter anderem abhängt von dem Bekanntheitsgrade der Glieder und von der Vor-
führungszeit, nennt Müller Schärfe der Komplexbildung, eine unseres Er-
achtens nicht ganz glückliche Bezeichnung, weil sich aus ihr das Wesen des Be-
zeichneten nicht erkennen läßt. Innere Festigkeit scheint mir bezeichnender.
Neben den durch einen Akt kollektiver Auffassung geschaffenen Komplexen
gibt es noch Gruppen, die größer sind, als daß ein einzelner solcher Auffassungsakt
sie hätte schaffen können, die aber durch feste Assoziation enger zusammengehalten
werden als andere. Müller nennt sie Assoziationsgruppen. Bei ihrer Bildung
D. Literatar. 337
spielt die »Zuordnung« nicht selten eine wichtige Rolle. Mit Zuordnung be-
zeichnet Müller den Umstand, »daß beim Lernen 2 nahe oder entfernt voneinander
stehende Reihenbestandteile in der Weise aufgefaßt werden, daß man sich aus-
drücklich die Beziehungen einprägt, in der die Stellen beider Reihenbestandteile zu-
einander stehene.. Was Müller hier mit Zuordnung bezeichnet, ist ein spezieller
Fall des für die Reproduktion so außerordentlich wichtigen Beziehungsbewußtseins,
dessen Mitwirkung das logische oder judiziöse Lernen, dessen Fehlen das mechanische
Lernen ausmacht. Sein Vorteil für die Reproduktion beruht darauf, daß es zwei
Reihen, eine Haupt- und eine Nebenreihe, nebeneinander bildet, von denen die eine,
die Nebenreihe, leichter sich einprägt. Von den Gliedern der leichter eingeprägten,
fest assoziierten Reihe gehen Assoziationen zu den entsprechenden Gliedern der
anderen Reihe, der Hauptreihe, welche ihrerseits unter sich assoziiert sind. Die
Disposition oder Spur eines Gliedes der Hauptreihe erfährt somit von zwei Seiten
her eine Anregung; das bedeutet eine Beschleunigung und Erleichterung der Re-
produktion. Ich bezeichne in meinem Buch diesen Vorgang als konvergente Dis-
positionsanregung.
Ganz das Gleiche liegt, rein psychologisch genommen, vor in der auch von
Müller berührten Tatsache, »daß man beim Hersagen einen zu nennenden Komplex
leichter findet, wenn man seinen Umfang bereits von vornherein sicher weiß, als
dann, wenn man zunächst auch nicht einmal betreffs des Umfanges des Komplexes
einen Anhaltspunkt hat«. Müller formuliert für dieses Geschehen den Satz von
der reproduktiven Wirksamkeit der bewußten Teilinhalte (344). Dieser
besagt, »daß wir uns eines früheren Eindruckes leichter erinnern, wenn wir betrefis
seiner Intensität oder Qualität oder seiner räumlichen oder zeitlichen Beschaffenheit
irgend einen Anhaltspunkt besitzen«. Ob man aber in diesem Fall wirklich von
»Teilinhalten« reden kann? Das Wissen z. B., daß der zu reproduzierende Komplex
10 Glieder hatte, ist doch nicht ein Teil des Komplexinhaltes, indem uns die 10
Glieder gegeben sind. Es ist vielmehr das Wissen, daß ich beim Wahrnehmen
dieser Reihe, deren Reproduzieren mir nicht sofort gelungen ist, 10 Glieder gezählt
habe, also ein Anzahlenurteil gefällt habe, und das Wissen um den Inhalt dieses
Urteiles. Dieses Urteil ist kein Bestandteil jenes Komplexes; der Komplex ist voll-
ständig, auch wenn ich ihn, ohne über die Zahl der Glieder zu urteilen, wahrnehme
oder mir erinnernd vergegenwärtige. Das Urteil tritt vielmehr hinzu und assoziiert
sich mit dem Komplex. Wenn nun die Aufforderung erfolgt, jenen Komplex zu
reproduzieren, so wirkt einerseits von dieser Aufforderung her eine Reproduktions-
tendenz auf die Dispositionen der Reihe, andererseits aber auch von jenem sofort
wieder erinnerten Anzahlenurteil. Es sind also zwei zusammenwirkende Re-
produktionstendenzen, oder es wird der Dispositionskomplex von zwei Seiten her an-
geregt, ein Geschehen, das keineswegs etwas Neues ist, also die Aufstellung eines
eigenen Satzes nicht als notwendig erscheinen läßt. Auf die gleiche Weise zu ver-
stehen ist die das Reproduzieren mehr als das Lernen unterstützende Wirkung des
Rhythmus. Er bildet ein bis zu einem gewissen Grade selbständiges, mehr oder
weniger kompliziertes Schema, dessen Glieder mit Gliedern des Textes assoziiert
sind und dadurch deren Reproduktion durch konvergente Dispositionsanregung er-
leichtern. Der Rhythmus beruht vorwiegend — wenn auch nicht immer — auf
motorischen Vorgängen, auf Bewegungsempfindungen oder Vorstellungen und Be-
wegungsantrieben. Darum tritt er bei rein visuellen Lernern nicht auf. Wenn bei
visuellen Lernern ein Rhythmus vorhanden ist, so geschieht das dadurch, daß die
meist ganz unwillkürlichen Bewegungen, mit denen manche Versuchspersonen die
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 22
338 D. Literatur.
einzelnen Glieder erblicken, sozusagen begrüßen (Nicken, Aussprechen von Zahl-
wörtern, einfache Kehlkopfbewegungen ungefähr in der Form von »hme«), eine rhyth-
mische Gliederung erfahren können.
Welche Komplexe am zweckmäßigsten sind, hängt ab von unserer Absicht, ob
wir in kürzester Zeit einen Stoff bis zum freien Hersagen einprägen wollen oder
bei gegebener konstanter Lernzeit ein möglichst gutes Lernergebnis anstreben d. h.
möglichst viele Treffer bieten wollen (zeitökonomischer Standpunkt) oder aber, ob
wir das Lernziel mit der geringsten Anstrengung (Ermüdung) erreichen oder bei
gleicher Anstrengung möglichst große Lerneffekte erzielen wollen (kraftökonomischer
Standpunkt). Nur die Beobachtung im einzelnen kann zeigen, welche Methode je-
weils die zweckmäßigste ist. Immerhin läßt sich jetzt schon auf Grund der bis-
herigen Erfahrung manche Regel für die Wahl des Komplexumfanges angeben.
Es ist ein groß angelegtes, an einer erdrückenden Fülle von scharfen Einzel-
beobachtungen reiches Werk, in dessen I. Band diese Zeilen einen Einblick ge-
währen, und nicht minder reichhaltig versprechen die folgenden 2 Teilbände zu
werden. Aber trotz der breiten Anlage ist es Müller nicht darum zu tun, ein ge-
schlossenes System der Gedächtnispsychologie zu geben. Das zeigt schon die An-
lage, indem nach der Einleitung ein Abschnitt über die Selbstwahrnehmung folgt,
darauf die Beschreibung eines hervorragenden Gedächtnisses, endlich ein Abschnitt
über die Komplexbildung beim Lernen. Das zeigt auch die Überschrift »zur Analyse
der Gedächtnistätigkeit«, wie der Verzicht auf kritische Besprechung der verwendeten
Grundbegriffe und auf eine vollständige Bibliographie. So fällt das Werk etwas
anders aus, als man wohl vielfach erwartet hatte. Es untersucht wohl die wichtigsten
Seiten der Gedächtnistätigkeit, ist aber doch keine vollständige, in sich geschlossene
Gedächtnispsychologie. Und das ist zu bedauern. Denn keiner besaß je eine so
ausgedehnte Kenntnis der einschlägigen Literatur, keiner ist mit den Methoden und
den Ergebnissen der experimentellen Forschung so vertraut, keiner hat sowohl selbst
wie durch seine Schüler so Vieles und so Wertvolles zur Erforschung dieses Ge-
bietes beigetragen, als G. E. Müller. Aber selbstverständlich wird ihm die Wissen-
schaft auch so, wie sein Werk ist, zu größtem Danke verpflichtet sein. Indem er
darin alles vereinigt, was bis jetzt durch die experimentelle Psychologie ans Tages-
licht geschafft worden ist, und indem er jeweils mit scharfer Kritik die Mängel der
Methoden und der Ergebnisse aufdeckt, hat er eine Fundgrube geschaffen, die durch
den Reichtum wie durch die Verlässigkeit des in ihr vereinigten und kritisch ver-
arbeiteten Stoffes das Zurückgehen auf die Quellen in den meisten Fällen überflüssig
macht. Schon dadurch wird Müllers Buch zu einem Markstein in der Entwicklung
der modernen Psychologie.
München. M. Offner.
Fuchs, Arno, Hilfsschulfragen. Arbeiten aus dem III. Berliner Fortbildungs-
kursus für Hilfsschullehrer nebst Bericht. Halle a. S.. Carl Marhold, 1912.
104 S. Preis ? M.
Im Auftrage der Deputation für die Fortbildungsschulen zu Berlin hielt Arno
Fuchs in der Zeit vom 8. November 1911 bis zum 24. Januar 1912 den III. Berliner
Fortbildungskursus für Hilfsschullehrer und -lehrerinnen ab. Dieser Kursus sollte
ein Informationskursus für solche Lehrer und Lehrerinnen sein, die in den Dienst
der Fortbildung schwachbeanlagter Jünglinge und Mädchen zu treten beabsichtigen.
Es beteiligten sich jedoch in großer Zahl auch solche Lehrkräfte an ihm, die bereits
an der Fortbildungsschule für Schwachbeanlagte (ehemalige Hilfsschulkinder) tätig
waren, so daß der Kursus den Charakter eines Fortbildungskursus für Hilfsschul-
D. Literatur. 339
lehrer gewann. In dem Kursus wechselten Vorträge, Übungen und Besichtigungen
miteinander ab. Auch stellten die Kursusteilnehmer ihre Erfahrungen in den Dienst
der guten Sache und beteiligten sich durch Referate und Besprechungen. Die hier-
durch entstandenen methodischen Arbeiten hat Arno Fuchs auf Wunsch heraus-
gegeben. Die Arbeiten haben die Ausbildung der Hand (Handarbeits- und Haus-
haltungsunterricht für Mädchen, Knabenbandarbeit, Fachzeichnen), den Deutschunter-
richt (Lesebuch, Jugendschriften, methodische Behandlung eines allgemein bildenden
Erzählstoffes, Einführung in das Lesen und Betrachten einer illustrierten Zeitschrift),
den Rechenunterricht (Rechenbuch, angewandtes Rechnen) zum Gegenstand. Sie
erörtern belehrende und gesundheitlich fördernde Unternehmungen im Dienste der
Fortbildungsschule, Heim und Lehrwerkstätte für ehemalige Hilfsschüler, be-
merkenswerte Eindrücke beim Hospitieren in Fortbildungsschulen für Schwach-
beanlagte und Normale, den gegenwärtigen Stand der Schwerhörigenfürsorge. Zwei
weitere Abhandlungen beschäftigen sich mit Fragen der Erziehung psychopathischer
Kinder. Als Schlußwort gibt Fuchs einen Überblick über den gegenwärtigen
Stand der Ausbildungskurse für Hilfsschullehrer. Die »Hilfsschulfragen« sind hier-
mit bestens empfohlen, zumal sie nicht nur die Fortbildungsschule für Schwach-
beanlagte sondern auch die Hilfsschule im Auge haben.
Danzig. Franz Matschkewitz.
Horrix, Hermann, Die Ausbildung des Hilfsschullehrers. Ein Vorschlag
zu ihrer Förderung. Halle a. S., Carl Marhold, 1912. 56 S. Preis geh. 1 M.
Die Frage der Vor- und Fortbildung des Hilfsschullehrers gehört zu den
wichtigsten, die den Hilfsschullehrerstand zurzeit beschäftigen. Verschiedene Vor-
schläge sind gemacht, die die Frage fördern sollen. Horrix hat ihr die oben an-
geführte Schrift gewidmet. Verfasser ist in dieser Frage doppelt zuständig. Einmal
steht er seit ca. 25 Jahren im Dienste der Hilfsschule, zum andern ist er von der
Königl. Regierung zu Düsseldorf zur Leitung der von ihr eingerichteten Kurse be-
rufen. Horrix behandelt in seiner Schrift: I. Notwendigkeit und Wert einer be-
sonderen Ausbildung der Hilfsschullehrer. II. Ansichten über die Art der Aus-
bildung. III. Die Persönlichkeit des Hilfsschullehrers. IV. Die entferntere Vor-
bereitung auf den Hilfsschullehrerveruf. V. Die gegenwärtig spezielle Ausbildung
in Hilfsschullehrerkursen. VI. Die vorgeschlagene Ausbildung im Hilfsschullehrer-
seminar. VII. Erläuterungen zum Ausbildungsplan.
Verfasser bespricht die den bisher getroffenen oder gewünschten Einrichtungen
anhaftenden Vor- und Nachteile und empfiehlt die Gründung heilpädagogischer Seminare.
Für den Besuch eines solchen Seminars nimmt er einen Zeitraum von einem Jahr
an. Er legt dar, wie er sich die Ausgestaltung des Seminars denkt und bietet einen
bis ins einzelne gehenden Ausbildungsplan. In dem Abschnitt »Die Ausbildung der
Hilfsschullehrer in andern Staaten« berücksichtigt der Verfasser die Verhältnisse in
Österreich, Ungarn und Frankreich. Daraus geht hervor, daß diese Staaten uns
voraus sind.
Danzig. Franz Matschkewitz.
Seyfert, R, Die Unterrichtslektion als didaktische Kunstform. Leipzig,
Verlag Ernst Wunderlich, 1909. 267 S. Preis gebunden 3 M.
Unterricht ist geistiger Verkehr. Die Formen dieses geistigen Verkehres
sollen künstlerisches Gepräge tragen, künstlerische Formen annehmen. Das Künstle-
rische ist das Subjektive; es ist der Rahmen, in welchen sich Rede, Darstellung,
Komposition der Lektion einzufügen haben. Die didaktische Kunstform steht den
22*
340 D. Literatur.
nüchternen, schmuck- und kunstlosen Einzeltatsachen des Unterrichtes gegenüber.
Von jedem Raume, von jedem Möbel, von jeder Tanzkarte, vom Plakate, von den
Kleidern fordern wir, daß sie — abgesehen von Zweckmäßigkeit usw. — geschmack-
voll sind. Die didaktische Kunstform bezeichnet nichts anderes, als die geschmack-
volle Unterrichtsgestaltung. Jeder Dilettantismus verstößt gegen den künstlerischen
Geschmack. Die vollendete didaktische Kunstform setzt voraus, daß die gesamte Unter-
richtstechnik völlig beherrscht wird. Verstöße gegen die Kinderpsychologie, gegen die
Unterrichtssprache, gegen den Lehrstoff vereiteln das harmonische Unterrichtsbild.
Seifert hebt hervor, daß alle wissenschaftliche, politische, soziale Arbeit für uns
nur allgemeinen Wert habe, daß unsere alltägliche und nächstliegende Arbeit aber
die Unterrichtslektion ist, und unser Denken und Wollen soll diesem künstlerischen
Werke zugewandt sein. Durch die Unterrichtskunst sollen wir uns von den anderen
Menschen ‚unterscheiden und über diesen stehen. Es ist aber eine feststehende Tat-
sache, daß in der pädagogischen Literatur und in unseren Zeitschriften die Lektion
völlig vernachlässigt wird. Es ist jedenfalls richtig, daß ein Schulmeister dem
anderen nichts vormachen kann, was von jenen gebilligt wird. Zweifel und herbe
Kritik verhindern die Veröffentlichung von Stücken aus der Alltagsarbeit. So
schädigen wir uns selbst und unsere Stellung in der Öffentlichkeit. Es gibt genug
Städte mit hundert und viel mehr Lehrern, und doch ist nie Gelegenheit, einer
öffentlichen Unterrichtslektion beizuwohnen.
Es wäre zu wünschen, daß dies anders wird. Seifert gibt wertvolle Winke;
nicht stürmend und drängend, aber modern, solid und gut sind seine Ausführungen,
An alles denkt er, selbst dem Gelegenheitsunterricht redet er nachdrücklich das Wort.
München. Egenberger.
Zerwer, Antonie, Schwester, Säuglingspflegefibel. Berlin, Julius Springer,
1912. 72 S. Preis 90 Pf.
In einem Vorwort an die Mütter betont Prof. Dr. Leo Langstein (Direktor
des Kaiserin Auguste Viktoria-Hauses) die Notwendigkeit, schon das Kind, das heran-
wachsende Mädchen in die Säuglingspflege einzuführen.
Schwester Zerwer tritt selbst mit großer Wärme und Herzlichkeit an die
Kinder heran, sucht auf anmutige Weise ihre Herzen zu gewinnen für die Hilflosig-
keit der Kleinsten, Pflichtgefühl und Arbeitsfreudigkeit in ihnen zu wecken.
Wie sie dann im ersten Teil der Fibel die Jugend unterweist, wie sie ihre
Lehre geschickt in Fragen und Antworten kleidet, nie langweilig, nie ermüdend oder
lehrhaft, aber immer mit großer Bestimmtheit und Eindringlichkeit, das ist meiner
Ansicht nach meisterhaft. Anzuerkennen ist weiter das energische Bekämpfen aller
alten Gebräuche und alles Aberglaubens, der mitunter noch in der Säuglingspflege
eine Rolle spielt. Die zahlreichen dem Buche beigegebenen Bilder sind so klar und
anschaulich, daß sie den jungen Mädchen das Lernen sehr erleichtern werden.
Der zweite Teil des Buches verdient besonderes Lob. Schwester Zerwer
bringt Beispiele aus dem Säuglingsleben, aus denen die Jugend selbst ihre Schlüsse
ziehen soll, merken soll, wie sie es nicht mit ihren Pflegebefohlenen machen
darf. Diese Art zu unterweisen wird viel überzeugender und eindringlicher wirken
als lange Reden und Auseinandersetzungen über all die Gefahren, die dem Säug-
ling drohen.
Das Buch sollte weiteste Verbreitung finden; für das, was es bietet, ist der
Preis gering.
Jena. Hanna Queck-Wilker.
D. Literatur. 341
Archiv für Pädagogik. Herausgegeben von Max Brahn und Max Döring.
Leipzig, Friedrich Brandstetter.
Teil I. Die Pädagogische Praxis. Neue Folge des »Praktischen Schulmanns«.
Jährlich 12 Hefte von je 4 Bogen Umfang. Preis halbjährlich 4 Mark
(Einzelheft 1 Mark).
Teil II. Die Pädagogische Forschung. Jährlich 4 Hefte von je 8 Bogen Umfang.
Preis jährlich 8 Mark (Einzelheft 2,50 Mark).
Diese neue Zeitschrift »will ein Archiv jener schaffenden Arbeit sein, wie sie
heute in so reichem Maße geleistet wird«. Als solches heißen wir sie herzlich
willkommen. Nicht bestimmten pädagogischen Richtungen und Anschauungen soll
und will sie dienen. Weitherzig und freigesinnt wollen die Schriftleiter wertvolle,
wissenschaftlich begründete Beiträge aus jedem pädagogischen Lager aufnehmen.
Und was sie versprochen, das haben sie, soweit es die uns zugegangenen ersten
Hefte beurteilen lassen, auch treulich gehalten. Wir können und wollen hier natür-
lich nicht auf die einzelnen Aufsätze eingehen. Wir hoffen, daß es uns möglich
sein wird, die für unseren Leserkreis wichtigen Aufsätze fortdauernd in unserer
Zeitschriftenschau berücksichtigen zu können, wie wir die bisher erschienenen be-
reits berücksichtigten. Und dieser Aufsätze sind nicht wenige. Wir können hier
nur das Eigenartige der neuen Zeitschrift hervorheben, und das ist ihre Sonderung
in einen Teil, der ganz der Praxis gewidmet ist, und in einen zweiten, der vor-
wiegend Arbeiten aus dem Gebiete der exakten oder experimentellen Pädagogik
bringt. Unter den hier erscheinenden Arbeiten werden vor allem Untersuchungen
aus dem Institut für experimentelle Pädagogik an der Universität Leipzig zu finden
sein. Auch die Grenzgebiete finden gebührende Berücksichtigung. Wir glauben,
mit diesen Angaben ungefähr das Arbeitsgebiet der neuen Zeitschrift gekennzeichnet
zu haben. Die vorliegenden Nummern geben uns das Recht, sie unseren Lesern
aufs wärmste zu empfehlen.
Jena. Karl Wilker.
Deutsche Heil- und Pflegeanstalten für Psychischkranke in Wort und
Bild. Redigiert von Dr. Johannes Bresler. II. Band. Halle a. S., Carl
Marhold, 1912. VIII und 462 Seiten. Preis: in Halbfranz gebunden 19 M.
Vor einem Jahre habe ich den ersten Band dieses Werkes hier besprochen
(Jg. XVII, 2, S. 93—94) und ihn als ein wertvolles Handbuch nicht nur für den
Psychiater, sondern auch für den Heilpädagogen und überhaupt jeden, der sich mit
der Anstaltsbehandlung Psychischkranker beschäftigt, bezeichnet. Es ist erfreulich,
daß das Werk nun noch eine Fortsetzung gefunden hat, die recht reichhaltig aus-
gefallen ist, wenn man von einzelnen Anstalten leider auch nur recht spärliche
Notizen vorfindet. Speziell für unser Gebiet ist wohl das wichtigste aus diesem
zweiten Bande der Abschnitt »Beobachtungsstation und Erziehungsanstalt für psycho-
pathische Fürsorgezöglinge« in Webers Aufsatz über die Göttinger Heil- und Pflege-
anstalten. Besondere Beachtung verdienen auch die Aufsätze Camerers über die
Entwicklung der Irrenfürsorge im Königreich Württemberg und ein Aufsatz über
die Entwicklung des Irrenwesens in der Stadt Berlin. Der Band enthält endlich
auch ein Sachregister und ein Autorenregister za beiden Bänden. Inwieweit diese
vollständig sind, laßt sich natürlich schwer sagen. Es fiel uns nur auf, daß man
im Sachregister z. B. das Stichwort Abstinenz (oder ein gleichbedeutendes) ganz ver-
gebens sucht, obgleich gerade in diesem Punkte manche Angaben vorliegen, wie in
dem Aufsatz Delbrücks über das St. Jürgenasyl in Ellen (Bremen).
342 D. Literatur.
Ausstattung und Bildermaterial verdienen das gleiche Lob wie die bisher er-
schienenen anderen Bände des groß angelegten Werkes über die Anstaltsfürsorge
für körperlich, geistig, sittlich und wirtschaftlich Schwache im Deutschen Reiche in
Wort und Bild, als dessen VII. Abteilung dieses zweibändige Werk erschienen ist.
Jena. Karl Wilker.
Neter, Eugen, Das einzige Kind und der Kindergarten.
Grünbaum, Rosa, Der Kindergarten, seine soziale und pädagogische
Bedeutung. Schriften aus dem Fröbelseminar Mannheim, Heft 1. München,
Ärztliche Rundschau (Otto Gmelin), 1912. 40 S. Preis 0,60 M.
Unter den Kinderärzten nimmt sicher Neter die bedeutendste Rolle ein. Seine
mannigfachen kleinen Abhandlungen und Schriften stützen sich auf eine reiche prak-
tische Erfahrung. So auch diese! Er legt in ihr klar, wie der Kindergarten eine
große erzieherische Bedeutung gewinnen kann für einzige Kinder dadurch, daß er
den notwendigen Ersatz für die Miterziehung durch die Geschwister bietet, die für
die ganze Entwicklung des Kindes unentbehrlich ist. Auch gesundheitlich bietet
der Kindergarten einen großen Vorteil, indem er das Kind schützt vor der gefähr-
lichen geistigen Überanstrengung, der es als einziges Kind nur allzu häufig aus-
gesetzt ist. Die oft gefürchtete Infektionsgefahr soll man ruhig in Kauf nehmen
gegenüber den Vorteilen, die der Besuch des Kindergartens für die gesamte Ent-
wickluug und spätere Gesundheit des einzigen Kindes bietet. — In dem zweiten
Aufsatz des Heftes versucht Rosa Grünbaum eine psychologische Würdigung der
Bestrebungen Fröbels und ihrer praktischen Bedeutung für unsere heutige Zeit-
Namentlich diese letztere ist ihr gut gelungen. Sie hält, wie schon öfter von zu-
ständigen Autoren betont und gefordert wurde, die Einrichtung von Spezialkinder-
gärten für schwachsinnige, taubstumme und blinde Kinder usw. für dringend not-
wendig (namentlich in größeren Städten), ebenso die Schulkindergärten für zurück-
gestellte Schulanfänger.
Jena. Karl Wilker.
Stritter, P., Seelsorge unter geistig Abnormen. Alsterdorfer Anstalten.
Sonderabdruck. 14 S.
Die kleine Arbeit sucht nach allen Seiten die Aufgabe des Seelsorgers der
geistig Abnormen zu kennzeichnen. Das Verständnis für krankhafte geistige Ver-
fassung ist für sie von größter Bedeutung. Dem Verfasser kommt für seine Arbeit
seine reiche Erfahrung sehr zugunsten.
Jena. Karl Wilker.
Ziehen, Th., Die Erkennung der psychopathischen Konstitutionen
(krankhaften seelischen Veranlagungen) und die öffentliche Fürsorge für psycho-
pathisch veranlagte Kinder. Berlin, S. Karger, 1912. 34 S. Preis 80 Pf.
Die kleine Schrift verlangt nachdrücklich, was auch in dieser Zeitschrift seit
je gefordert wurde: die Einrichtung von Spezialanstalten (Heilerziehungsheimen) für
psychopathische Kinder in der Art, wie die Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge
eine solche in Templin (Mark) eingerichtet hat. Die Leitung müßte eine päda-
gogische sein. Ein Psychiater sollte dem Pädagogen als Berater zur Seite stehen.
Jena. Karl Wilker.
Verantwortliche Schriftleitung für Abhandlungen und Mitteilungen: Dir. . Trüper,
Sophienhöhe b. Jena; für Zeitschriftenschau und Literatur: Dr. Karl Wi ker, Jena,
Weißenburgstraße 27.
Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
Verlag von Hermann BEYER & Sönne (Beyer & Mann) in Langensalza.
Das Seelenleben unserer Kinder
im vorschulpflichtigen Alter.
Kinderpsychologische Betrachtungen für Eltern, Lehrer
und Kinderfreunde.
Von
Prof. Dr. Adolf Sellmann.
Mit 5 Tafeln.
VI und 146 Seiten. Preis 3 M., eleg. geb. 4 M.
Grundlagen für das Verständnis
krankhafter Seelenzustände
(psychopathischer Minderwertigkeiten)
beim Kinde
in 30 Vorlesungen.
Für die Zwecke der Heilpädagogik, Jugendgerichte und Fürsorgeerziehung
von
Dr. med. Hermann,
Anstaltsarzt in Merzig a. d. Saar.
Mit 5 Tafeln.
Zweite Auflage.
XII und 180 Seiten. Preis 3 M., eleg. geb. 4 M.
Alkoholismus, Schwachsinn und Ver-
erbung in ihrer Bedeutung für die Schule,
(Nach dem Manuskript eines am 4. August 1911 in der Internationalen
Hygiene- Ausstellung zu Dresden gehaltenen Lichtbilder - Vortrages.)
Von
Dr. Karl Wilker
in Jena.
Mit 3 Tabellen und 2 Figuren im Text, sowie mit 22 Tafeln.
IV und 33 Seiten. Preis 1 M. 20 Pf.
Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
Verlag von Herwann Beyer & Sonne (Beyer & Mans) in Langensalza
Encyklopädisches
Handbuch der Pädagogik.
Herausgegeben von
Litt. D. Dr. W. Rein,
ord. Professor der Pädagogik an der Universität Jena.
Zweite, erweiterte und verbesserte Auflage.
Umfaßt 10 Bände à 18 M. 50 Pf.
und ein Generalregister zum Preise von 4 M.
Einzelne Teile des ganzen Werkes können nicht abgegeben werden. Der Kauf
des ersten Bandes oder Halbbandes verpflichtet zur Abnahme der ganzen Encyklopädie.
Münchener Aligemeine Zeitung 1900, Nr. 179: ». . . Das von Prof. Rein geleitete Unter-
nehmen kommt einem wirklichen und weitverbreiteten Bedürfnis entzegen. .. . Man findet die reich-
haltigste Belehrung und zuverlässigste Orientierung. .. . Mit großem Geschick sind für die einzelnen
Artikel Persönlichkeiten gewonnen, weiche gerade dafür als hervorragende Autoritäten gelten dürfen... .
So liegt in dem Encyklopädischen Handbuch ein Werk vor, worauf die deutsche Wissenschaft stolz sein
darf... .e Geh. Hofrat Prof. Dr. Eucken.
Joh. Friedr. Herbarts
Pädagogische Schriften.
Mit Herbarts Biographie herausgegeben
von
Dr. Fr. Bartholomäi.
Neu bearbeitet und mit erläuternden Anmerkungen versehen
von
Dr. E. von Sallwürk,
Geh. Rat, a. o. Mitglied der Akademie der Wissensch. zu Heidelberg.
1. Band: XII und 456 Seiten. Preis 3 M., eleg. geb. 4 M.
II. Band: VIII und 467 Seiten. Preis 3 M., eleg. geb. 4 M.
Handbuch für Jugendpflege.
Herausgegeben von der
Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge.
Schriftleitung: Dr. jur. Fr. Duensing- Berlin.
Ai a und Mitarbeiter des »Handbuchs für Jugendpflege« bieten
die sichere Gewähr, daß wir es hier mit einer Erscheinung zu tun haben, die
einer besonderen Anpreisung nicht bedarf.
Das »Handbuch für Jugendpflege« ist auf 12 bis 15 Lieferungen zu E
4 Bogen, Lexikonformat, berechnet. Der Preis der Lieferung beträgt 80 Pf.
Nach Abschluß des Werkes tritt eine Erhöhung des Preises ein.
Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
Tafel 1.
Tafel II.
__Maßkrug
7 Mädchen
Pflaumen = Weißkraut
l a i regnen WJI
E Würfel
ee aim Jaser
perf- brauch s Piper
i f getrunken
2
Verlag von Hermann Boyer & Söhne (Beyer & Mann) ın Langensalza.
- Ge haben
Tafel III.
£ 4 \ [94 \ V \ U
ar MWA HM NIW
Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann: in Langensalza.
Tafel IV.
guten
‚singen
SEE RE — wir haben --
SIE MIT fang IR TIEA IT T IT
ich mach ein Haus
ich tu husten
ich mache eine Maus
Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
Tafel V.
Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
Tafel VI.
Kalk
Tiegel
= n ; Bücher
Obsternte — Krij nay
Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Boyer & Mann) in Langensalza.
Tafel VII.
H
ILUSA
guten Morgen
[Y ade Mutter
Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann» in Langensalza.
Tafel VII.
u a)
EIER Ir
ger eu = au g = sch
Bu ‚4 5 A = - -
RER? 7% Br
a = ruf = red
una d T a v 4
= laut
Vater Erden Korb Otto
Vermengung aus
S u. R.
2 202 s * Vermengung aus
= — Radi u. Rettig
K MEN 2 Uhr — 7 Uhr
Un. fobh RUY Uf YAm
Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza
Tafel X.
Nikolaus Nikolaus
Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
IEPA (AA
Ef
uov Yyy
N A
EEE a rer el
8O30308080808030308080803080808
2] sgl 2] 32] IG] 32] sgl FA] 32] 222] ye
4: K aS A ae ASI PSl K a A PSl A aA K A) A aA K ASI *: PA ®%:
8080808080808080808080808080808
A. Abhandlungen.
1. Ist für Schulneulinge im allgemeinen und für
Hilfsschüler im besonderen Fraktur oder Antiqua
zunächst geeignet?
Nach einem Vortrag, auf dem IX. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands
zu Bonn gehalten am 26. März 1913
Kommerzienrat Friedrich Soennecken - Bonn.
»Körper und Stimme leiht die Schrift
dem stummen Gedanken,
Durch der Jahrhunderte Strom trägt ihn
das redende Blatt.«
Mit diesen Worten weist Schiller hin auf den hohen kulturellen
Wert der Schrift, die dadurch, daß sie noch nach Jahrhunderten, ja
nach Jahrtausenden die Gedanken und Worte unverändert wiedergibt,
eine gleich hohe Bedeutung erlangt wie die Sprache.
Sprache und Schrift sind die Grundpfeiler des Geisteslebens eines
Volkes, und in diesem Sinne ist die Frage nach der Schrift eine
Kulturfrage. Ihre Lösung beschäftigt in Deutschland gegenwärtig mehr
als je nicht allein die Vertreter der Schule, sondern auch in gleichem
Grade weiteste Kreise unseres gesamten Volkes.
Die meinen heutigen Ausführungen zugrunde liegende Frage, ob
für Schulneulinge im allgemeinen und für Hilfsschüler im besonderen
Fraktur oder Antiqua zunächst geeignet sei, hat daher neben der
Schule auch für unser Land ein allgemeines Interesse.
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 23
ABCDEF
GHIJKLM
NOPORS
TUVWXYZ
abcdef
ghijklm
nopqrs
[UVWXYZ
Soennecken: Fraktur oder Antiqua? 347
Um für die sachliche Beurteilung dieser Schriftangelegenheit die
ihrer Wichtigkeit entsprechende Grundlage zu schaffen, will ich zunächst
versuchen, in großen Zügen und unter Weglassung alles Unbedeutenden
und Nebensächlichen einen kurzen Überblick darüber zu geben, wie
sich seit der Römerzeit die Schriftentwicklung bei uns vollzogen hat.
Sowohl die Antiqua wie auch die Fraktur führen ihren Ursprung
auf die alten lateinischen Großbuchstaben des Volksstammes der Latiner
zurück.
Die bekannte einfache klare Form dieser Schrift zeigt Abbildung 1.
I
Im Laufe der Jahrhunderte erlitten diese Buchstaben mehr oder
weniger große Veränderungen, die ihre Deutlichkeit beeinträchtigten.
Die erste derartige Veränderung
bestand in der Verwendung von verkürzten, schreibgeläufigeren Formen
einzelner Großbuchstaben als Kleinbuchstaben, die aber als die erste
Entwicklungsstufe der lateinischen Schrift außerordentlich nützlich
wurde.
Die Abbildung 2 zeigt ein Beispiel dieser Schrift von einem
Dokumente aus dem 6. Jahrhundert. Man nennt diese Schrift paläo-
graphisch »Halbunziale«.
Die zweite wesentliche Abweichung
von der Urform der Schrift und die erste unbegründete Schädi-
gung ihrer Deutlichkeit bildeten die im 11. und 12. Jahrhundert
entstandenen romanischen Schriftformen (Abbildung 3).
Diese Buchstaben, fast ausschließlich als Großbuchstaben benutzt,
wurden meist nur als Initiale und zu Aufschriften auf Grabplatten,
Votivtafeln und ähnlichen Inschriften verwendet.
n.
Die dritte und für unser deutsches Schriftwesen überaus
folgenschwere Abweichung von der richtigen einfachen
Schriftform und die erste wesentliche Veränderung ihres
Gesamtbildes
erfuhr die Schrift gegen Ende des 12. und Anfang des 13. Jahr-
hunderts unter dem Einfluß des gotischen Baustils (Abbildung 4). Wie
dieser damals aufblühende, von Frankreich ausgehende gotische Bau-
stil mit seinem die Masse durchgeistigenden Prinzipe jede Kunstübung,
die Skulptur sowohl, wie die Malerei, in seine Dienste zog, so fiel
auch die Schrift in seinen Bann. — Jetzt, zum ersten Male, sollten
23*
bildung 2.
SHRIBKLM
NODONSHS
VURYPS
350 A. Abhandlungen.
die Buchstaben mehr sein als Schrift: sie sollten Ornamente sein. Es
wurde an den Buchstaben geändert, gebaut, die geraden Linien wurden
dem nach oben strebenden Baustile entsprechend schlank gestaltet
und mit zugespitzten Köpfchen und Füßchen versehen. Die Rundungen
der Kleinbuchstaben wurden ganz entfernt und die nötigen Ver-
bindungen der Buchstabenteile durch dünne, kaum sichtbare Striche
notdürftig vermittelt. Die Großbuchstaben gestalteten sich all-
mählich zu komplizierten Bildern, deren Bedeutung oft nur erraten
werden konnte. Die wichtige Unterscheidung von dem kleinen n und
u fiel fast ganz fort.
So wurde der Zweck der Schrift, die Deutlichkeit, dem orna-
mentalen Bedürfnis der Architektur geopfert.
Um wieviel diese gotischen Formen von der richtigen Schriftform
abweichen, zeigt ein Vergleich mit dem lateinischen Alphabet (Ab-
bildung 1).
II.
In den folgenden zwei Jahrhunderten blieb in Deutschland die
gotische Schrift wegen ihrer leichten Schreibbarkeit bei der Benutzung
breitspitziger Federn fast ausschließlich im Gebrauche.
Es ist erklärlich, daß die ohnehin schon zu Bildern gestalteten
Großbuchstaben infolge schnelleren Schreibens immer komplizierter
wurden und ganz willkürliche Formen annahmen, wie sie Ab-
bildung 5 zeigt.
Außer dieser Variation waren auch noch andere landesüblich und
wurden von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis heute bei uns all-
gemein für den Buchdruck verwendet. Wir kennen diese Schriften
unter dem Namen »Fraktur«.
Wie willkürlich und begründet ihre Formen sind, geht daraus
hervor, daß die Buchstaben des großen und kleinen Alphabets der
Fraktur aus nicht weniger als 66 in Form und Größe verschiedenen
Grundzügen bestehen.
Die Fraktur ist daher auch im Vergleiche mit der Antiqua wenig
deutlich.
IV.
Neben der Fraktur benutzte man anfangs vielfach eine einfachere
Schrift, die man mit dem Namen »Schwabacher Schrift« zu be-
zeichnen pflegt. (Abbildung 6.)
Doch auch diese einfachere Schriftform, die gleich der Gotik
dem Schreibzuge entsprach, besteht aus nicht weniger verschiedenen
Grundzügen als die Fraktur.
aktur.
ABCDEF
SHTALM
Abbildung 5.
352 A. Abhandlungen.
v
Den Unterschied der Buchstaben des lateinischen Alphabets im
Vergleich mit den gotischen und Fraktur-Buchstaben veranschaulichen
die abgebildeten Schriftproben.
Als der Buchdruck aufkam, benutzte man auch in den westlichen
Nachbarländern allgemein solche Typen, die nach den geschriebenen,
die sie ursprünglich vertreten sollten, geschnitten waren.
Diese Länder erkannten aber bald die Unzweckmäßigkeit solcher
Schrifttypen, gaben sie entschlossen auf und kehrten zu den einfachen
vorgotischen Buchstaben, den lateinischen, zurück.
Nur Deutschland hielt hartnäckig daran fest. Es stand ganz
unter dem Einfluß der Nürnberger Schreibmeister Neudörffer, nach
deren Zeichnungen die Schrifttypen geschnitten wurden, mit denen
nach Campes Angaben von 1828 Leipzig z. B. 200 Jahre lang ver-
sehen wurde.
Die Leistungsfähigkeit gerade dieser Schreibmeister gegenüber
ihren ausländischen Zeitgenossen war außerordentlich gering.
Vielfach wird Albrecht Dürer als Mitschöpfer der Fraktur be-
zeichnet. Diese irrige Vorstellung möchte ich beseitigen.
»Dürer war weit entfernt von dem späteren Irrwahne, als seien
diese altmodischen gotischen Lettern deutschen Ursprungs oder deut-
schen Charakters«, wie sich Thausing ausdrückt.
Auch Roßbergs komplizierte Versuche von 1806, die Fraktur
und spitze Schreibschrift zu verbessern, waren vergebliche Be-
mühungen. Die spitze Schrift konnte in Deutschland im Verlauf von
drei Jahrhunderten nicht, oder doch nur fast unmerklich verbessert
werden. — Dagegen hat sich die lateinische Schreibschrift während
derselben Zeit zu größter Einfachheit, Deutlichkeit und Schönheit
entwickelt. `
Die große Überlegenheit der Antiqua über die Fraktur wird
übrigens auch von unseren deutschen Schreibmeistern vielfach an-
anerkannt. So sagt z. B. Fugger in Nürnberg 1553:
»Unter vilen und mancherley Schrifften finde ich keinen schönern
und Herrlichern Literas, denn dise lateinischen Buchstaben. «
Baurenfeind (1714) nennt die Antiqua »eine von den allerschönsten
herrlichsten Schriften« und fügt hinzu:
»Diese romanischen Literae übertreffen alle anderen Buchstaben
und Schrifften weit und werden vor allen anderen am meisten ge-
braucht.«
ABCDEF
GHIKEM
NOPORS
TUVWXYZ
GHIGKLM
NOPARG
TUGLTY A
354 A. Abhandlungen.
Bezeichnend ist es, daß bis heute für die Beibehaltung der Fraktur
kaum andere als sentimentale Gründe angeführt worden sind. Wer
dabei die praktischen Gesichtspunkte im Auge behielt, empfahl ihre
Verbesserung, und wer eine verbesserte Form geschaffen zu haben
glaubte, tadelte alle früheren, wie z. B. einer unserer ersten rheini-
schen Ornamentkünstler, der im vorigen Jahre über eine Art einfacher
Frakturtypen Ungers mit folgenden Worten urteilt:
»In ihrer Einzigkeit von außergewöhnlichem Reiz gibt sie doch
die eigentliche Wesenheit der Fraktur, den mächtig pulsierenden
Rhythmus sich hin und her bewegender Formkräfte auf und scheidet
damit die entwicklungsfähigen Triebe aus.«
VI.
Gleichzeitig empfahl er seine eigene Fraktur, wie sie Abbildung 7
zeigt. Man wird daran alles andere als eine Verbesserung der Fraktur
erkennen.
Ebenso verhält es sich mit den vielen anderen »neuen« Fraktur-
Typen, die nun schon seit langer Zeit das Druckgewerbe Deutschlands
bis zur Unerträglichkeit wirtschaftlich belasten.
Wie die Fraktur, so ist auch die spitze Schreibschrift weder ver-
besserungs-, noch verschönerungsfähig. Das habe ich in meiner Schrift
»Das deutsche Schriftwesen und die Notwendigkeit seiner Reform«
früher schon ausführlich nachgewiesen. Ich will hier nur kurz wieder-
holen, daß wir in Deutschland in dem Übergange zur lateinischen
Schrift ein ganzes Jahrhundert zurückgehalten worden sind durch eine
bewußte oder unbewußte
Fälschung der Schulvorschriften
durch den geschickten Kalligraphen und Kupferstecher Heinrigs in
Crefeld (1813).
Bis vor 100 Jahren wurde die spitze Schrift nach Art der Rund-
schrift mit breitspitziger Feder geschrieben.
Dadurch erhielt die spitze Schrift ein steifes Aussehen, wie die
Schriften damaliger Schreibmeister zeigen.
Dieses unschöne Aussehen der Schrift genügte den Geschmacks-
forderungen der fortgeschrittenen Kultur Deutschlands nicht mehr.
Die Schrift sollte feiner, freier sein.
Nun kannte Heinrigs von seinem Aufenthalte in London her die
herrlichen englischen Muster der lateinischen Schrift, die mit spitzer
Feder geschrieben wurden. — Ohne das zu bedenken, stellte Heinrigs
die Schreibvorlagen so her, wie man sie wohl mit spitzem Stahl in
Soennecken: Fraktur oder Antiqua? 355
die Kupferplatte für den Druck eingravieren, nicht aber mit nur
einer spitzen oder nur einer breitspitzigen Feder schreiben konnte.
Die durch Heinrigs eingeführten Trugformen ließen auch im ver-
flossenen Jahrhundert keinen nennenswerten Fortschritt zu. — Nur
auf dem Gebiete der Zierschriften war im letzten Viertel des vorigen
Jahrhunderts das Aufkommen einer leicht schreibbaren Zierschrift, der
Rundschrift, als Neubelebung des Schreibens zu verzeichnen.
In neuerer Zeit versuchte man, die vor 100 Jahren verworfene
Schreibart unter dem Namen »Renaissance« wieder aufzufrischen.
Diese für den Unterricht sowohl, wie für die Ausführung gleich
schwierige Schrift wieder einzuführen, hieße die Pferde hinter den
Wagen spannen. Eine Schrift mit gleich dicken Strichen, sowohl bei
den geraden wie gebogenen Linien, entsteht nur dann, wenn die
Schrift rückwärts liegt, wodurch sie dem schönen Aussehen widerstrebt.
Und so kommt es, daß die allgemeine Unzufriedenheit über die
Zustände in unserem deutschen Schriftwesen von Tag zu Tag größer
wird. — Vor allem erstrebt man eine Neugestaltung des Schreib-
unterrichts in Schulen.
Man ist auch wohl der Meinung, daß die Erfolge des Schreib-
unterrichts nach den bisherigen Methoden zurückgegangen seien,
während das erforderliche Vielschreiben bei der minutiösen Gestaltung
der meisten Kleinbuchstaben der spitzen Schrift die Ursache ihrer
Undeutlichkeit ist. -— Es ist nicht wahrscheinlich, daß man mit einem
Unterrichtsverfahren, das schon bei Schulneulingen nach künstlerischen
Zielen strebt, Besseres erreicht.
Bei dieser Art des Unterrichts soll der Schüler die Schrift, deren
Form der Lehrer an der Tafel vorschreibt, nicht genau nachbilden,
sondern ganz nach seiner freien individuellen Auffassung wiedergeben.
Die sich bei jedem einzelnen Schüler naturgemäß zeigende Ab-
weichung der Schrift soll dann, wie ein Wiener Kunstschriftlehrer
und seine Anhänger empfehlen, als etwas »wertvoll Individuelles«, als
»persönliche Schrift« des Schülers weitergepflegt werden.
Daß die Schrift, deren Grundformen nun einmal feststehen wie
die Zeichen der Ziffern und die Werte bei Münzen, Maßen und Ge-
wichten, eine derartige Behandlung im Schulunterricht nicht zuläßt,
liegt auf der Hand. — Die individuelle. oft nur zur Undeutlichkeit
führende Verschiedenheit der Schrift stellt sich im späteren Leben
ganz von selbst ein, und dann jedenfalls noch früh genug.
356 A. Abhandlungen.
Auch Frankreich, die Niederlande und England hatten früher
eine spitze Schreibschrift, ein Beweis dafür, wie irrig es ist, die spitze
Schreibschrift für spezifisch deutsch zu halten.
Die Entwicklung der Schreibschrift hat, von Italien und Spanien
ausgehend, ihren Weg nach Frankreich, den Niederlanden und England
genommen. In England hat sie ihre höchste Ausbildung erhalten. Bei
einem Vergleich der Schrift dieser Länder mit der Schrift in Deutsch-
land wird man sich des Eindrucks nicht erwehren können, daß die
deutschen Leistungen auf diesem Gebiete gegenüber denen der anderen
Länder, namentlich Englands, weit zurückstehen und wir einer Neu-
gestaltung unseres Schriftwesens sehr bedürftig sind.
Auch aus dem Vergleiche der in Deutschland gebräuchlichen
Druckschrift, der Fraktur, mit der Antiqua-Druckschrift der anderen
Länder ergibt sich, daß die Antiqua mit ihren bestimmten, klaren
Formen einfach und deutlich ist, die Fraktur dagegen mit ihren will-
kürlichen Formen kompliziert und undeutlich.
Die Deutlichkeit oder Undeutlichkeit darf indes nicht nach dem
Urteil Erwachsener bemessen werden, die bekanntlich nicht die ein-
zelnen Buchstaben, sondern ganze Wortbilder lesen. Ihnen wird die-
jenige Schrift am deutlichsten vorkommen, die sie zu lesen gewohnt
sind. Anders ist es bei den Schulneulingen und besonders bei den
Hilfsschülern. Diese müssen selbstverständlich zunächst jeden ein-
zelnen Buchstaben von den anderen unterscheiden lernen, bevor sie
auch nur erst Silben lesen können. Wie schwer es den Kindern
wird, in der Frakturschrift die Buchstaben fehlerfrei zu unterscheiden,
weiß gewiß jeder von Ihnen aus eigener Erfahrung zu beurteilen.
Eine Prüfung der Fraktur, wie sie auf Wand-Lesetafeln und in Lese-
fibeln vorkommt, wird das bestätigen.
Weil also die Antiqua im Vergleich mit der Fraktur die ein-
fachere und deutlichere Schrift ist, muß der erste Unterricht mit der
Antiqua beginnen nach dem alten pädagogischen Grundsatze: Vom
Einfachen zum Zusammengesetzten, vom Leichteren zum Schwereren.
Daß neben diesen methodischen Gründen auch psychologische
für den ersten Unterricht in einfachster Schrift sprechen, brauche ich
wohl vor einem so ausgezeichneten Kreise maßgebender Sachver-
ständiger nicht näher auszuführen.
Nur auf die hygienische Begründung möchte ich noch kurz ein-
gehen.
Kommt für den ersten Schreib- und Leseunterricht ein Alphabet
mit seinen Nebenalphabeten in Wegfall, so wird dadurch eine Ver-
Soennecken: Fraktur oder Antiqua? 357
minderung der gesamten Naharbeit der Schulneulinge herbeigeführt
und der Überbürdung entgegengetreten.
Vor allem aber sind beim ersten Schreib- und Leseunterricht in
Fraktur die vielen kleinen und kleinsten Unterscheidungsmerkmale
der Buchstaben für den Geist der Schulneulinge sehr anstrengend bei
derZAuffassung der Form. Und je mehr Verwechslungen unter den
Frakturbuchstaben möglich sind, desto mehr geistige Arbeit ist nötig,
desto mehr werden Auge und Hirn belastet.
Nun wissen wir aber, daß bei anstrengender geistiger Arbeit
unsere A-B-C-Schützen mit dem ganzen Körper arbeiten. Die ver-
schnörkelten und vielfach zum Verwechseln ähnlichen Frakturbuch-
staben zwingen aber die Kinder zu einem genaueren Hinsehen als bei
der Antiqua, und bei diesem Fixieren nähern sie sich mit den Augen
dem Schreibhefte oder der Fibel in übertriebener Weise, so daß das
Kind eine gesundheitsschädliche Körperhaltung einnimmt, die ganz be-
sonders für die Augen von Nachteil ist.
Aus dem bisher Gesagten ergibt sich also, daß für den ersten
Unterricht im Schreiben und Lesen die Verwendung der Antiqua
pädagogisch und hygienisch das Naturgemäße ist.
Es fragt sich nun, wie der Schreib- und Leseunterricht überhaupt
am zweckmäßigsten einzurichten ist.
Praktische Vorschläge dafür habe ich in meiner erwähnten Schrift
über das deutsche Schriftwesen schon früher (1881) mit folgenden
Worten angekündigt:
»Deutschland hat es bisher nicht an der Anregung, wohl aber
an der Kraft und Ausdauer gefehlt, sich seiner verdorbenen Schrift-
zeichen zu entledigen. Zum großen Teile liegt die Ursache an dem
Mangel ausreichender praktischer Vorschläge für die Bewerkstelligung
des Übergangs. Wenn wir auch den Übergang zur lateinischen
Schrift in der festen Überzeugung anbahnen, daß wir gegen unsere
altgewohnten Schriftzeichen bessere eintauschen, dann sollten wir
den Übergang doch nicht vollziehen, indem wir einfach die schema-
tische Art und Weise nachahmen, in welcher der Unterricht im
Lesen und Schreiben der lateinischen Schrift bei uns sowohl wie
im Auslande bisher meist betrieben wurde, sondern wir sollten, da
uns noch keine Gewohnheit bindet, diese Fundamental- Unterrichts-
fächer nach logischem System selbständig einrichten, wenn wir da-
durch Besseres schneller und leichter erreichen. Der Gegenstand
ist wichtig genug, um ihm endlich eine wissenschaftliche Grundlage
358 A. Abhandlungen.
zu geben. Dies zu versuchen, ist Gegenstand einer neuen Arbeit,
die ich demnächst veröffentlichen werde.«
Dieser von mir angekündigte Versuch einer wissenschaftlichen
Gestaltung des Schreib- und Leseunterrichts ist hervorgegangen aus
der Erfahrung mit meiner Rundschrift-Methode, der bekanntlich ganz
einfache Begriffe zugrunde liegen. Ein gerader Strich und ein Halb-
kreis, beide in vier verschiedenen Größen, sind die Elemente, aus
denen die Rundschrift entsteht.
Abbildung 8.
Diese bis dahin ganz neue Art der Schriftbildung steht in krassem
Gegensatze zu der äußerlichen, systemlosen und verwirrenden Dar-
stellung der Schrift aus dem 16., 18. und dem Anfange des 19. Jahr-
hunderts.
Nach demselben Grundprinzip des Aufbaues der Buchstabenformen
aus ganz bestimmten einzelnen Teilen und nach einheitlicher be-
stimmter Regel, konstruierte ich ein neues System für die Antiqua.
Soennecken: Fraktur oder Antiqua? 359
Alle Buchstaben des großen und kleinen Alphabets, sowie die
Ziffern, werden aus nur wenigen Zeichen, einem geraden Striche
in 4 Größen und einem Halb- und Viertelkreise, gebildet und ent-
stehen mit nicht zu übertreffender Anschaulichkeit, wie Abbildung}8
zeigt.
In gleicher Weise entstehen alle andern Zeichen in gesetzmäßiger
Form.
VI.
Dem Schriftsystem habe ich ein bestimmtes Größenverhältnis der
Buchstaben zugrunde gelegt, und zwar für die Ausdehnung des
Buchstabenbildes den Raum von zwei übereinanderstehenden Qua-
draten. Die Kleinbuchstaben nehmen zwei Drittel dieses Raumes ein.
Die vorstehende Abbildung veranschaulicht diese Verhältnisse. Die hier-
nach gebildeten Buchstaben ergeben ihre »Normalform«.
Die Erfahrung beim Unterricht hat gezeigt, daß die Schüler be-
geistert davon sind, wenn sie die Buchstaben so entstehen sehen, wie
Abbildung 8 zeigt. Begierig verlangen Sie darnach, sie auf ihrer
Tafel aus den losen Einzelteilen oder in ihrem Hefte schreibend auf
gleiche Art zu bilden. Das eben ist der Zweck des Schriftsystems,
eine klare Vorstellung von der Form der Buchstaben und ihrem Auf-
bau zu ermöglichen, damit das Kind lernt, die Schrift selbstschöpferisch,
wie bei der Beschäftigung mit dem Baukasten, hervorzubringen. Da-
durch haftet die richtige Form der Buchstaben nicht nur leichter im
Gedächtnis des Kindes, sondern es wird auch die Freude am Schreiben
gesteigert.
Diese kindliche Schaffensfreude zeigt sich besonders bei der Dar-
stellung der Buchstaben mittels der losen Einzelteile.
Keine andere Schrift ist zu derartiger manueller Beschäftigung
unserer jüngsten Schüler so vorzüglich geeignet wie die Antiqua,
Ihre einfachen Formen lassen sich ohne irgendwelche Schwierigkeit
spielend nachbilden.
Viel manuelle Betätigung macht die Lese- und Schreibstunden
ganz besonders anregend und erfreuend. Die Aufmerksamkeit der
Kinder wird andauernder, und auf weniger mühevollem Wege gelangen
die Kleinen zur genauen Unterscheidung der Buchstaben.
Für den Leseunterricht kamen bisher Lesekästen diesem Bedürfnis
entgegen. Diese Kästen sind so eingerichtet, daß die einzelnen Buch-
staben ganz gegeben werden, aus denen das Kind Silben und Wörter
zusammenlegt. — Es dürfte aber pädagogisch wertvoller sein, bei Be-
360 A. Abhandlungen.
nutzung von derartigen Kästen noch mehr geistige Tätigkeit für das
Kind anzustreben. Das kann erzielt werden, wenn man nicht die
ganzen Buchstaben, sondern nur die Grundformen der Schrift im
Schreibkasten bietet, aus denen die Kinder die einzelnen Buchstaben
erst bauen müssen.
Ein solcher Schreibkasten würde das Verständnis der Kinder für
die Buchstabenformen ganz hervorragend unterstützen und das An-
eignen der Vorstellung der Buchstaben wesentlich erleichtern.
Die Buchstaben selbst aus ihren Elementen in leicht verständ-
licher Weise einzeln aufzubauen, dazu sind die verschnörkelten und
komplizierten Formen der Fraktur nicht geeignet, wohl aber die in
ihrer Einfachheit geradezu verblüffenden Buchstaben der Antiqua.
Das Verständnis für die Buchstabenformen kann also durch den
Werkunterricht mit bestem Erfolge vorbereitet werden, wenn im
Schreib- und Leseunterricht Antiqua verwendet wird.
Welcher methodische Weg nun bei dem Erlernen der Antiqua
im ersten Schreib- und Leseunterricht einzuschlagen ist, zeigt ihr
natürlicher geschichtlicher Entwicklungsgang.
Der Unterricht soll mit den Großbuchstaben beginnen, weil sie
die einfachste Form haben und dem praktischen Bedürfnis am meisten
entsprechen.
Denn gerade die Großbuchstaben der Antiqua treten dem Kinde
im Leben auf Schritt und Tritt zuerst entgegen, sie sind auch durch-
weg so überaus einfach, daß sie an das Auffassungsvermögen der
Schüler die geringsten Anforderungen stellen. — Je einfacher aber
die Buchstaben der ersten Schrift sind, um so besser für das Kind.
Die Erfahrung lehrt, daß wir einfache, in ihrer Zusammensetzung
leicht übersehbare Formen ohne Mühe auffassen und behalten. Ein-
fachheit ist aber kein Vorzug der Fraktur. Man bedenke bloß, daß
selbst Erwachsene trotz ihrer täglichen Beschäftigung mit dem Lesen
der Fraktur nicht imstande sind, sich von der Form irgendwelcher
Frakturgroßbuchstaben eine richtige Vorstellung zu machen und sie
aus dem Gedächtnis nachzubilden. Die Großbuchstaben der Antiqua
dagegen kann schon ein Kind aus dem Gedächtnis schreiben.
Nach dem Erlernen der Großbuchstaben werden die lateinischen
Kleinbuchstaben geübt, und zwar nicht als ein neues Alphabet
aus neuen Formen, sondern nur als das, was sie wirklich sind, näm-
lich verkürzte und vereinfachte Formen der Großbuchstaben.
Soennecken: Fraktur oder Antiqua? 361
Viele Kleinbuchstaben der Antiqua haben ganz dieselbe Form
wie die Großbuchstaben. Bei der Fraktur dagegen gibt es kaum einen
Kleinbuchstaben, der mit dem betreffenden Großbuchstaben überein-
stimmt.
Es leuchtet ein, daß durch eine solche weitgehende Übereinstim-
mung zwischen Groß- und Kleinbuchstaben der Antiqua dem Kinde
das Lernen ganz außerordentlich erleichtert wird.
VII.
Als dritte Stufe der Vorübung für die Schreibschrift gilt die
Übung der schrägen Druckschrift. Denn die Schreibschrift entsteht,
wenn man die schräge Druckschrift in geläufigem Federzuge und die
Buchstaben eines Wortes zusammenhängend schreibt.
WIR LERNEN SCHREIBEN U. LESEN
Wir lernen schreiben und lesen
Wir lernen schreiben und lesen
Das Kind wird daher in der Schreibschrift die Urform der Druck-
schrift erkennen und ihr vom ersten geschriebenen Buchstaben an
nicht fremd gegenüberstehen, was dem Unterricht wesentlich nützt.
Die Durchsichtigkeit der Antiqua in bezug auf den inneren organi-
schen Zusammenhang zwischen Druck- und Schreibschrift und die
daraus mit Notwendigkeit sich ergebende stufenmäßige Behandlung
im Unterricht zeigt die vorstehende Übersicht (Abbildung 9), wie sie
meiner neuen Schreibmethode zugrunde liegt. !)
1) Siehe Soenneckens Vorübungshefte zur lateinischen Schreibschrift.
Folge A: Für Schulneulinge und Hilfsschüler. Heft 1 bis 5.
Folge B: Für das dritte oder vierte Schuljahr. Heft B 1/3. 4. 5.
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 24
362 A. Abhandlungen.
Es ist ein großer pädagogischer Vorteil, daß das Kind vom ersten
geraden Striche an, den es in der Schule macht, bis zur fertigen
Schreibschrift den engen natürlichen Zusammenhang aller Übungs-
formen in der Schrift erkennt. Es braucht den Kopf nicht anzu-
strengen für das Behalten der zahlreichen einzelnen Buchstabenbilder
wie bei der Fraktur und kann seine Gedanken anderen, nützlicheren
Dingen zuwenden.
Solch logische Schreibmethode ist mit der Fraktur nicht aufzu-
stellen, denn sie entbehrt der erkennbaren Verwandtschaft der Schreib-
schrift mit der Druckschrift.
Abgesehen von der manuellen Betätigung durch den Gebrauch
der losen Schriftelemente des Schreibkastens, wird in Volksschulen die
Schrift, die das geläufige Schreiben vorbereitet, durch das Schreib-
zeichnen ausgeführt. Zu diesen Übungen werden in den Heften am
besten Federn benutzt, die ohne Druckanwendung gleichmäßig dicke
Striche hervorbringen und keine Haarstriche schreiben.
Was nun die Vordrucke in den Heften anbetrifft, so sind sie
vom pädagogischen Standpunkte aus nicht zu entbehren, für Hilfs-
schulen aber erst recht nicht.
Dem Kinde fällt es leichter, die Schrift nachzuschreiben, wenn
es den Vordruck im Hefte in natürlicher Größe selbst vor sich sieht,
als wenn es die Wandtafel-Vorschriften in verkleinertem Maßstabe ins
Heft übertragen muß.
Ferner sind die Vordrucke in den Heften in klarster Form und
richtiger ausgeführt, als man sie groß in richtigem Ausmaß ihrer Ver-
hältnisse freihändig mit Kreide auf die Wandtafel schreiben kann.
Weiter sind die Vordrucke für kurzsichtige Kinder, deren Zahl
leider nicht gering ist, unentbehrlich. In den Vordrucken haben die
Kinder auch außerhalb der Schule eine mustergültige Schrift, die da-
durch nicht mehr ein Geheimnis der Schulstube bleibt.
Sind nun gar in den Schreibheften neben den ganzen Buch-
staben auch deren Teile, neben den großen die entsprechenden kleinen
Buchstaben vorgedruckt, so erlangen diese Vordrucke eine höhere
methodische Bedeutung dadurch, daß Anschauen, Denken und
Üben als Fundamentalsätze alles Unterrichts vereinigt sind.
Durch eine solche Bewertung der Vordrucke kann von einem
mechanischen Abschreiben durchaus nicht die Rede sein, die Arbeit
des schreibenden Schülers erhält vielmehr eine geistige Vertiefung.
Sprechen solch zwingende Gründe für die Verwendung der Antiqua
im ersten Schreibunterricht, so ist die nächste logische Folgerung
Soennecken: Fraktur oder Antiqua? 363
die Forderung von solchen Fibeln für den ersten Leseunterricht, die
mit der Antiqua beginnen.
Diese Forderung an sich ist nicht neu. Der uralte Ruf nach
Rückkehr zu der lateinischen Schrift, die andere Völker schon seit
langem vollzogen haben, bestimmte schon frühere Pädagogen, mit
den Schulanfängern von vornherein mit Antiqua zu beginnen.
Haben sich aber in früheren Jahren immer nur einzelne Ver-
treter von Antiquafibeln gefunden, so ist seit den letzten Jahren das
Verlangen nach solchen schon allgemeiner geworden infolge ein-
gehender Berücksichtigung des Werdeganges unserer Schrift, der mit
Naturnotwendigkeit darauf hinweist, in den Schulen mit Antiqua zu
beginnen, und zwar sowohl für das Schreiben wie auch für das
Lesen.
Doch nicht nur für die Volksschule im allgemeinen, sondern
auch schon für die Hilfsschulen im besonderen hat man Lateinschrift-
fibeln herausgegeben. Aber wie die Volksschule, so wartet auch die
Hilfsschule auf eine die weitesten Kreise befriedigende Lösung der
Fibelfrage.
Für den ersten Leseunterricht ist also die Benutzung von Fibeln,
die mit Antiqua beginnen, unerläßlich.
Die Einführung der Antiqua für den ersten Unterricht ist also
eine sowohl pädagogisch, wie hygienisch und kulturell durchaus be-
gründete und berechtigte Forderung.
Seit dem Jahre 1881 bereits bin ich nach eigenen Lehrversuchen
in einer Elementarschule in Remscheid im Jahre 1876 und nach um-
fassenden Studien der Schriftentwicklung in den hauptsächlichsten
Kulturländern für die Einführung der lateinischen Schrift im ersten
Unterricht eingetreten, wie es viele vor und nach mir getan haben.
Die vom Preußischen Unterrichts-Ministerium im Jahre 1876 ein-
berufene orthographische Konferenz erklärte mit 10 gegen 4 Stimmen,
»daß der Übergang von dem deutschen zu dem von den meisten
Kulturvölkern angewendeten lateinischen Alphabet sich empfehle.«
Bis heute ist dieser Beschluß noch nicht zur Ausführung ge-
kommen.
24*
364 A. Abhandlungen.
2. Pubertät und Schule.
Von
Dr. Rob. Tschudi, Basel.
Wer in einer städtischen Volksschule als Klassenlehrer dieselben
Schülerinnen durch die oberen Klassen (5.—8. Schuljahr) führt, kann
die Beobachtung machen, daß im 7. Schuljahre die Mädchen sich ver-
ändern in bezug auf Leistungen und Betragen. Beide, Leistungen
und Betragen, werden schlechter.
Diese Veränderungen haben ihre Ursache in einer Umwandlung,
die sich im Körper des Mädchens vollzieht; sie sind physiologischen
Ursprungs, begründet in der Pubertät.
Im Nachfolgenden soll gezeigt werden, wie der Eintritt der
Pubertät sich in einer Mädchenklasse einer städtischen Volksschule
äußert, und wie dadurch Lern- und Erziehungserfolg erschwert, ja sogar
verringert werden.
In erster Linie beobachtet der Lehrer, daß in diesen Zeitraum
ein stärkeres Längenwachstum fällt. Die durchschnittliche Jahres-
zunahme beträgt, wie aus folgender Zusammenstellung hervorgeht,
7 bis 8cm, im vorhergehenden Jahre 4 bis 5 cm, im darauffolgenden
sogar nur 2 bis 3 cm.
Alter Basel Zürich Berlin
11—12 = 5. Schuljahr 137,55 cm 137,1 cm 135,7 cm
12—13 = ô. a5 141,00 .„, 140,0 „ 140,8 „
13—14 =7. Br 148,26 „ 1484 „ 1481 „
14—15=8. m 150,14 , 1503 „ 150,5
Ähnlich verhält es sich mit der Gewichtszunahme. Diese er-
reicht ebenfalls im 7. Schuljahre ein Maximum mit 5 bis 7 kg. (Vergl.
Zusammenstellung 2.)!)
Alter Basel Zürich Berlin;
11—12 = 5. Schuljahr 31,97 kg 31,3 kg 30,3 kg
12—13 = ô. 5 36,18 .. 32,4 „ 34,4 „
13—14 — 17. k 41,61 „ 39,0 „ 393 „
14—15—=8. hs 44,40 „ 413 „ 431 „
Dieses Größerwerden ist begleitet von einer Umwandlung der
kindlichen Organe in die Erwachsener. Es spielt sich in diesem und
1) Über die körperliche Entwicklung des Schulkindes vergl.: Ernst Höschel,
Das Schulkind in seiner körperlichen Entwicklung Leipzig, O. Nemnich. — Rob.
Tschudi, Sozialpäd. Studie. Heft IV. Schweiz. päd. Zeitschrift, 1907.
Tschudi: Pubertät und Schule. 365
in den nächstfolgenden Jahren die Entwicklung zur Geschlechtsreife
ab; die Geschlechtsorgane erlangen ihre Funktionsfähigkeit. Sodann
macht das Gehirn eine wichtige Entwicklung durch; die feineren
Elemente desselben, namentlich die Fasern der Hinrinde, nehmen be-
deutend zu. Und endlich werden die Stoffwechselvorgänge andere.
Bei den wenigsten Mädchen vollziehen sich diese anatomischen
und physiologischen Veränderungen ohne Störungen. Beinahe alle
klagen über allgemeine Müdigkeit, Kopfweh, eigentümliches Stechen
über einem Auge, über Schwindelanfälle, Bauchschmerzen, Krämpfe
und Brechreiz und über unruhigen, traumreichen Schlaf.
Daß durch solche körperliche Schmerzgefühle die Lern-
freude und Aufnahmefähigkeit und somit auch der Lernerfolg. ver-
ringert werden, ist einleuchtend.
Noch stärker aber werden die Unterrichtserfolge beeinflußt durch
die seelischen Veränderungen, welche der Eintritt der Pubertät
hervorruft. Es stellen sich namentlich Gefühlsstörungen ein und in-
folgedessen allerlei Charakterunarten.
Die Mädchen werden unruhiger und vorlaut. Sie sind zu ein-
fältigem Lachen, zum Schwatzen und zu Neckereien aufgelegt. Sie
sind sehr empfindlich, schnell traurig und zum Weinen geneigt, gereizt,
unverträglich und händelsüchtig, schnell zornig und machen einen
Steckkopf, oder sie haben gar Wutanfälle. Sie zeigen am Unterrichte
keine Freude mehr, sie sind gleichgültig und apathisch, haben dafür
oft einen Hang zum Lügen und Verleumden, zum Schwatzen unsitt-
licher Reden, zum Gehen mit Knaben. Oder sie sind in sich gekehrt
und verschlossen, träumerisch oder schwärmerisch, schließen unter
sich innige Freundschaften, schreiben einander heiße Liebesbriefe oder
fangen an zu dichten. Wieder andere sind schüchtern und ängstlich,
so daß sie sich kaum zu antworten getrauen, ja werden, wenn sie
allein sind, von beängstigenden Zwangsvorstellungen geplagt.
Zu diesen Gefühls- und Charakterstörungen gesellen sich noch
hinzu: Gedächtnisschwäche und eine Art Assoziationsstörung. Viele
Mädchen sind, trotz angestrengtester Aufmerksamkeit, nicht mehr im-
stande etwas Vorerzähltes oder eine Rechenaufgabe zu wiederholen.
Oder wenn sie etwas auswendig gelernt haben, ist das Gelernte ihrem
Gedächtnis bald wieder entschwunden. Sie fangen auch an, eigen-
tümliche Orthographiefehler zu machen, Verstöße gegen die richtige
Lautfolge z. B. Voleg statt Vogel usw. Selbst bei Schülerinnen, die
in den mittleren Klassen der Volksschule fehlerfrei geschrieben,
schleichen sich mit eintretender Pubertät solche Schreibfehler ein. Es
sind das nicht gewöhnliche Flüchtigkeitsfehler, sondern diese Ver-
366 A. Abhandlungen.
schreibungen sind, ähnlich den auch öfters vorkommenden Ver-
sprechungen, Assoziationsstörungen.!)
Selbstverständlich treten nicht alle diese Erscheinungen beim
einzelnen Kinde auf. Aber jedes Mädchen zeigt gegenüber früher
eine andere psychische Verfassung und im Klassenverbande sind so-
zusagen alle genannten Gemüts-, Gedächtnis- und Assoziationsstörungen
und die daraus resultierenden Unarten wahrzunehmen.
So mannigfach die psychischen Erscheinungen des Pubertätsalters
aber sind, so verschiedenartig die Mädchen sich auch zeigen, so lassen
sie sich doch in wenige Gruppen ordnen. Beinahe bei jedem tritt
nämlich eine Eigenschaft stärker hervor und gibt ihm ein charakte-
ristisches, typisches Verhalten, so daß wir geradezu von Pubertäts-
typen sprechen können. Wenn wir die moralisch Defekten aus-
scheiden, so können wir folgende 4 Typen erkennen:
l. Den apathischen Typus;
2. den ängstlichen Typus;
3. den träumerischen Typus;
4. den gereizten, zornigen Typus.
Im Nachfolgenden werde ich das Charakteristische dieser Typen
angeben auf Grund meiner Beobachtungen während der Unterrichts-
zeit und auf Grund der Schilderungen, welche die Mädchen über sich
selbst in freien Aufsätzchen gegeben haben.
Die Aufsätze wurden unter meiner Aufsicht in der Schule an-
gefertigt. Damit die Schülerinnen klar wußten, um was es sich handelte,
wurde ihnen ungefähr folgendes gesagt: »Ihr habt schon manchmal
gehört, daß ich zu einem Mädchen die Bemerkung gemacht habe, du
hast dich ganz verändert, du bist nicht mehr wie früher. Gewiß ist
dies eueren Eltern und Euch selbst auch schon aufgefallen.e Die
Kinder bejahten dies und ich fuhr weiter: »Der Lehrer sollte nun
die Veränderungen einer jeden Schülerin kennen, damit er weiß, wie
er jede zu behandeln hat. Denn jedes Kind ist, wie ihr auch schon
bemerkt habt, etwas anders geartet und demnach auch anders zu be-
handeln. Ihr macht mir daher ein Aufsätzchen: ‚Wie ich mich ver-
ändert habe.‘ Ihr dürft ruhig alles schreiben, die Arbeiten bekommt
niemand anders zu sehen als ich. Sie werden nicht ins Reinheft
geschrieben. «
Den Aufsätzchen lag folgende Disposition zugrunde:
a) Veränderungen in bezug auf den Körper (Schmerzen, Schlaf,
Träume).
1) Vergl. hierüber: R. Egenberger, Psychische Fehlleistungen. Diese Zeit-
schrift. 18. Jahrg. Heft 3 ff.
Tschudi: Pubertät und Schule. 367
b) Veränderungen in bezug auf Fleiß in Schule und Haus.
c) Veränderungen in bezug auf Betragen in Schule und Haus
(Empfindlichkeit, Zorn usw.).
d) Sonstige Veränderungen, die ich an mir wahrgenommen.
Über jeden Punkt wurde ein besonderes Aufsätzchen angefertigt.
Die Arbeiten der Schülerinnen waren für mich sehr lehrreich.
Sie ließen mich einen Blick tun tief in das kindliche Seelenleben.
Sie gaben mir wertvolle Aufschlüsse über das eigentümliche Verhalten
mancher Schülerin. Sie vervollständigten mir das Bild, welches ich
mir nach meinen Beobachtungen über den psychischen Zustand eines
jeden Kindes gemacht haite, und ließen die genannten Typen besser
unterscheiden und charakterisieren.
1. Der apathische Typus.
Die Apathischen verhalten sich dem Unterrichte gegenüber teil-
nahmslos. Sie zeigen am Lernen, ja selbst am Spiel und Turnen
keine rechte Freude mehr. Tadel läßt sie kalt; es sind die verstockten
Sünder.
Die Teilnahmslosigkeit erstreckt sich entweder nur auf einige,
meistens aber auf alle Unterrichtsgegenstände. »Seit einiger Zeit ist
mir in der Schule alles gleich. Jetzt scheint es mir, ich werde wieder
ein bißchen fleißiger. Ich freue mich auf das Rechnen,« schrieb eine
Schülerin. Eine andere: »Früher lernte ich immer sehr gern. Das
ist jetzt nicht mehr der Fall. Aufsätze schreiben, das tue ich noch
gern, auch Singen.«e Und eine Dritte: »In der Schule bin ich seit
einiger Zeit weniger fleißig. Ich lerne zwar, aber ich habe am Lernen
gar keine Freude mehr.« Dafür zeigen die Kinder, welche dem Unter-
richte kein Interesse mehr entgegenbringen, um so größere Lust an
den häuslichen Arbeiten. Doch fehlt es auch nicht an solchen, welche
den Schul- und Hausarbeiten gegenüber sich teilnahmslos verhalten.
»An der Schule habe ich keine Freude mehr und auch zu Hause bin
ich sehr gleichgültig. Wenn meine Mutter mich etwas heißt, so
mache ich die Arbeit nur zur Hälfte.«
Der apathische Gefühlszustand kann durch die Witterung be-
einflußt, durch Regen- besonders aber Föhnwetter verstärkt werden.
So berichtet eine Schülerin von sich: »Vor dem neuen Schuljahre ver-
richtete ich jede Arbeit mit großer Freude. Jetzt ist es anders. So-
bald ich etwas arbeite, werde ich mürrisch. Ich brauche zur Arbeit
viel mehr Zeit als früher und mache sie ohne Lust und Freude. Auf
Fragen meiner Mutter oder anderer Leute mag ich gar keine Antwort
geben. Früher war es das Gegenteil. Auch in der Schule ver-
368 A. Abhandlungen.
minderte sich mein Fleiß. Namentlich wenn es regnerisch ist, mag
ich nicht lernen. Bei solchem Wetter wäre ich am liebsten ganz
allein.«
Der apathische Typus scheint Neigung zu haben in den moralisch
defekten überzugehen. So erfuhr ich von einigen Schülerinnen, die
ich zu den apathischen zähle, daß sie unsittliche Reden führten und
mit Knaben herumzogen. Das ist leicht erklärlich. An der Schule
haben diese Mädchen keine Freude mehr, an den häuslichen Arbeiten
auch nicht. Da stellt sich bei ihnen eine Gefühlsleere ein. Und da
sie in der Zeit des Erwachens geschlechtlicher Regungen stehen, in
der aus den Genitalorganen dem Gehirne zahlreiche neue Reize zu-
strömen, kann leicht die Gedankenwelt sich auf jene Organe kon-
zentrieren.
Das Erwachen des Geschlechtstriebes gibt sich anfänglich als ein
unbestimmtes Sehnen kund. »Früher war ich immer fröhlich, jetzt
nur selten. Ich habe Sehnsucht nach etwas und weiß nicht wonach.
schrieb eine 13 jährige Schülerin. Stärker machte sich der Geschlechts-
trieb schon geltend bei einem andern Mädchen, das von sich aussagte:
»Jetzt sehe ich die Knaben so gerne. Lacht mir einer zu, so habe
ich die größte Freude.« Dieses unterhielt auch längere Zeit ein Ver-
hältnis mit einem ältern Knaben. Täglich hatte es mit ihm geheime
Zusammenkünfte.
2. Der ängstliche Typus.
Hierzu gehören die Kinder, welche sich kaum zu antworten ge-
trauen. Wenn sie aufgerufen werden, zeigen sie einen ängstlichen
Ausdruck auf ihrem Gesichte. Sie reden mit zitternder Stimme, stoßen
gerne an und versprechen sich. Oft bringen sie lange kein Wort
heraus, obwohl sie die Antwort wissen. Es tritt eine gewisse Hemmung,
eine unrichtige Innervation, in den Sprachwerkzeugen ein, die erst
nach geraumer Zeit verschwindet. Wir sehen, wie das Kind mit dem
Ausdruck ringt, wie sich die Spannung dann plötzlich löst und die
Antwort herausgeschleudert wird. Bei dieser Art des Antwortens
gerät dann gerne der Satzbau aus den Fugen und die Satzbildung
wieder ins Stocken.
Bei andern dagegen versagt plötzlich das Gedächtnis. So er-
zählte mir eine Schülerin, daß sie vor und nach dem Religionsunter-
richte das Lied gut hersagen konnte. Wie sie aber während desselben
zum Aufsagen aufgefordert wurde, kein Wort herausbrachte Eine
andere schrieb: »Wie die Stunde zu Ende war und ich beten sollte,
wußte ich nur die paar ersten Zeilen, obwohl ich vor der Unterrichts-
Tschudi: Pubertät und Schule. 369
stunde das Gebet gut konnte. Der Herr Pfarrer sagte mir dasselbe
ein paarmal vor, aber ich brachte vor Angst kein Wort heraus.« Und
eine Dritte sagte von sich aus: »Wie mich jemand ruft oder wie
mich der Lehrer etwas frägt, steigt mir das Blut in den Kopf und
ich weiß gar nichts mehr.«
Die Ängstlichkeit steigert sich bei einzelnen in eine krankhafte
Furcht, die oft mit Zwangsvorstellungen verbunden ist. So schrieb
eine Schülerin: »Ich habe jetzt viel mehr Angst als früher. Kommt
ein Mann auf dem Trottoir, auf dem ich gehe, so laufe ich schnell
auf das andere. Ich gehe auch nie allein auf den Abort, es muß
immer jemand mit mir kommen. Auch schlafe ich nicht ohne Licht.«
Eine andere Schülerin berichtet folgendes: »In letzter Zeit, alle
Abend, wenn ich in das dunkle Schlafzimmer gehe, kommt mir eine
Hexe entgegen und will mich fassen. Ich schlage dann auf sie los
und sie geht ein Stück zurück. Sie kommt auch, wenn ich im Bette
liege und neckt mich immer. Dann gehe ich unter die Decke. Sie
ist eine kleine, dicke Gestalt, hat lange Arme und magere Hände. Sie
streckt die Arme weit aus. Jeden Abend, wenn ich in das Zimmer
trete, kommt sie vom Schranke her. Sie geht erst gegen den Morgen
wieder fort.« Eine weitere Schülerin wird beständig von einem Gespenst
verfolgt. »Wenn ich in ein dunkles Zimmer gehe oder im Bette bin,
sehe ich ein Gespenst. Es kommt von der Türe her. Es ist ein
Mann, bei welchem man nur das Gesicht und die Finger sieht. Die
Augen streckt er aus dem Kopfe wie ein Verrückter. Er zeigt die
großen Roßzähne. Die Finger spreizt er, soweit er kann, auseinander.
Er kommt ganz langsam auf mich zu. Wenn ich mich gegen die
Wand drehe, so ist er an der Wand. Beständig steht er mir vor den
Augen. Gegen den Morgen verschwindet er.«
3. Der träumerische Typus.
Die Kinder dieser Gruppe sitzen meistens still und ruhig da. Es
sind diejenigen, welche mit ihren Gedanken anderswo weilen. Wenn
ihre Aufmerksamkeit nicht auf einen Unterrichtsgegenstand konzentriert
wird, machen sie eigentümliche Gedankengänge. Sie denken in die
Zukunft und bauen Luftschlösser. Eine solche Träumerin schrieb:
»Manchmal habe ich ganz sonderliche Gedanken. Ich bilde mir ein,
ich würde einmal in ein Schloß gehen und mit einem Könige heiraten.
Ich würde aber meine Mitschülerinnen nicht vergessen, ich würde
allen etwas Gutes tun. Ich ließe ein Armenhaus bauen und alle
Armen pflegen. Zuerst aber würde ich meine Mutter, meinen Vater
und meine Geschwister in das Schloß nehmen.« Ziehen wir in Be-
370 A. Abhandlungen.
tracht, daß dieses Mädchen, obwohl schon 13 Jahre alt, noch Bett-
und Hosennässerin ist und daß es in letzter Zeit häufig auf der Straße
an den Glocken der Häuser läutet, so ist obige Träumerei mehr als
ein leeres Gedankenspiel.
Die Mädchen, die diesem Typus angehören, sind meistens zärtlich
und pflegen gerne innige Freundschaften. Eng umschlungen gehen
sie zu zweien oder dreien in den Pausen und nach der Schule.
Ihre Freundschaft kann sich in leidenschaftliche Liebe steigern.
So beobachtete ich zwei Mädchen, die sich im Schulhofe küßten und
durch Zufall erfuhr ich, daß sie einander Briefe schrieben. Ich bekam
einige zu lesen und war erstaunt ob der Leidenschaft, die darin zum
Ausdruck kam. Ich lasse hier zwei dieser Brieflein folgen. Sie kenn-
zeichnen am ;besten die ungesunde Gefühlslage dieser -13 jährigen
Mädchen.
»L. J. O, wie unendlich groß ist meine Liebe zu Dir! Wie
glücklich fühle ich mich, Dich Freundin zu nennen! Unsere Freund-
schaft soll ewiglich bestehen; wir wollen unzertrennliche Freundinnen
sein und bleiben. Uns soll der Tod nur scheiden!
»Gedenke nah, gedenke fern,
Gedenke meiner oft und gern!
Gedenke auch an meinem Grabe,
Wie sehr ich Dich geliebet habe.«
Es grüßt und küßt Dich Deine Dich heißliebende Freundin: K, L.«
Sobald J. in den Pausen einmal mit einem andern Mädchen ging
und redete, wurde K. eifersüchtig, zog sich traurig, oft weinend in
eine Ecke zurück und fühlte sich verstoßen, wie folgendes Brieflein
beweist:
»L. J. Eine andere hat nun meinen Platz eingenommen.
L. J. nenust Du das nicht verstoßen? Ich hatte Dich so lieb und
wollte Dir eine gute Freundin sein und Du hast mich lieblos ver-
stoßen. Das tat mir sehr weh, daß Du mir schriebst, ich liebe
Dich nicht mehr. L. J. O, wie glücklich hast Du mich gemacht!
Als Du mir gestern Nachmittag einen Kuß gabst, da fühlte ich,
daß Du micht liebst. Ich danke Dir dafür, daß Du mir dieses Glück
gegönnt hast. Ich will die Hoffnung nicht verlieren und wenn ich
sie mit ins Grab nehmen muß. L. J. Wenn Du mich denn heiß
liebst, warum verstoßest mich denn? Nicht wahr, Du bleibst mir
freundlich gesinnt und ich bin Dir sehr dankbar dafür. Ich grüße
Dich herzlich, besonders empfange innigsten Kuß von Deiner ver-
lassenen .. K.«
Tschudi: Pubertät und Schule. 371
Bei einer andern Schülerin zeigte sich schwärmerische Liebe zu
ihrer Sonntagsschullehrerin. Die Schwärmerei äußerte sich darin, daß
das Mädchen das Fräulein in Gedichten besang. Wenn auch diese
Gedichte viel Anlehnung an bekannte enthalten, so verraten sie doch
eine Leichtigkeit in der Beherrschung von Form und Sprache, also
eine gewisse poetische Veranlagung, die mit der Pubertät zum Aus-
druck gekommen ist. Hier eine Probe:
»Die Stunde naht, die Zeit bricht an, Doch ach, es ist mein Liebling nicht,
Geschwind nun aus dem Haus! Lebt wohl! Es ist die Schwester meiner Sonnen.
Rasch um die Eck! Hier ist das Ziel! Nur mutig vorwärts! Zage nicht!
Seh’ ich mein Alles heute wohl? Auch Frieda, Frieda wird noch kommen.
Die ersten Leute sind vorbei Und sieh’! Ich habe recht gedacht.
Wann wird sie wohl erscheinen? In weiter Ferne taucht sie auf.
Doch seh’ ich recht, sie kommt, sie kommt! Ich hab’ mich auf den Weg gemacht
Mit Freuden will ich zu ihr eilen. Und springe eilends an ihr auf.«
L. A. geb. 21. V. 1899.
Noch besser scheint das Nachstehende geraten zu sein:
»Zwei goldne Augen leuchten Und würden einst diese erlöschen,
Als Stern’ an meinem Himmel. Zerbrechen, wie Glas zerbricht,
Was sind mir Stern und Sonnen Wenn die zwei Augen glänzen,
Was der andern Sterne Gewimmel? Verlang ich den Schimmer nicht.
Und würden die ewig leuchten So glänzet denn hienieden,
In wunderschöner Pracht, Glänzt in mein Herz hinein
Wenn die zwei Augen fehlen, Dann finde ich den Frieden
Ist's um mich dunkle Nacht. Auf dieser Welt allein.«
L. A. geb. 21. V. 1899.
Bei andern träumerischen Mädchen tritt Neigung zur Melancholie
auf. »Früher war ich immer fröhlich, jetzt bin ich schier alle Tage
traurig. Ich weiß selbst nicht warum. Besonders wenn ich nachts
in das Bett gehe, überfällt mich eine große Traurigkeit; ich muß dann
immer an den Vater denken.« So schreibt ein Mädchen, das be-
ständig von dem Gedanken geplagt wird, sein Vater könnte sterben.
Eine andre Schülerin sagt von sich aus: »Vor etwa einem halben
Jahre wohnte ich einem Konzerte bei. Da sang eine Sängerin eine
Reihe von Molltönen. Seither muß ich immer, wenn ich allein bin,
diese Töne singen. Dann wird mir ganz schaurig zu Mute und ich
sehe mich auf Gräbern.«
4. Der gereizte, zornige Typus.
Die Mädchen, welche zu diesem Typus gehören, sind sehr empfind-
lich und gereizt. Gegen Mitschülerinnen sind sie oft unverträglich
und händelsüchtig. Eine harmlose Neckerei kann sie in Zorn bringen.
372 A. Abhandlungen.
Während die Ängstlichen und die Träumer auf Tadel des Lehrers in
Weinen ausbrechen, geraten diese in Wut, werden störrisch und
machen einen Steckkopf. »Ich bin gleich aufgeregt. Wenn man mich
nur ein wenig barsch anredet, so gerate ich in solchen Zorn, daß ich
manchmal ganze Nächte daran herumstudiere und nicht schlafen kann.
Solches muß mir nur in der Schule passieren. Auch zu Hause geht
es mir nicht anders. Ich suchte schon manchmal diesen Zorn zu
dämmen, aber ich kann es einfach nicht. Von dieser raschen und
starken Aufregung wußte ich früher nichts.«
Eine andere Schülerin schrieb: »Sobald der Lehrer in der Schule
mit mir schimpft, mache ich einen Kopf, obgleich ich es nachher
bereue. Wenn ich in das Reinheft schreiben muß und ich meine,
ich hätte schön geschrieben, der Lehrer mir dann aber Note drei
macht, so gerate ich in eine solche Wut, daß ich das Heft am liebsten
zerreißen möchte. Ich muß dann immer an das drei denken und
kann lange nicht mehr arbeiten.« Diese Schülerin hatte auch einmal
in der Schule einen Wutanfall. Als die Zeugnisse ausgeteilt wurden
und sie gesehen, daß sie in Ordnung und Reinlichkeit Note zwei
hatte, geriet sie in Zorn und machte einen Steckkopf. Als dann ein
Mädchen meinte, sie werde diese Note wohl verdient haben, sprang
sie, wie außer sich, auf dasselbe los und wollte es schlagen und ver-
kratzen. Nur mit Mühe konnte ich diese Schülerin beruhigen.
Wenn sich Zorn und Wut gelegt haben, folgt bei diesen Mädchen
eine Depression, die um so länger anhält, je heftiger die Erregung
war. »Ich bin nachher traurig und das geht mir den ganzen Tag
nach. Dann kann ich hinsitzen und ein ganz trauriges Gesicht
machen,« schrieb die erstere von diesen beiden Schülerinnen weiter.
Eine andere sagte: »Früher war ich nicht so empfindlich, nicht so ge-
reizt und auch nicht so schnell böse. Jetzt hat man mich bald be-
leidigt. Dann verberge ich mich irgendwo oder schließe mich gar in
ein Zimmer ein. Man kann mich dann nicht gar bald fröhlich machen.«
* *
*
Wir sehen: Die Pubertät bedingt tiefgreifende psychische Ver-
änderungen. Sie ruft namentlich Gefühls-, dann aber auch Gedächtnis-
und Intelligenzstörungen hervor. Eigenschaften, die tief im Innern
geschlummert, kommen jetzt zum Vorschein und geben dem Kinde ein
charakteristisches, typisches Verhalten. Es war uns möglich, die
Mädchen nach der am deutlichsten hervortretenden Eigenschaft in
Typen zu ordnen. In bezug auf den Stärkegrad, mit dem die charakte-
ristische Eigenschaft auftritt, läßt sich in jedem Typus eine Steigerung
wahrnehmen.
Tschudi: Pubertät und Schule. 373
Die Apathie erstreckt sich entweder nur auf die Schul- oder nur
auf die Hausarbeiten oder dann auf beide. Der Mangel an Freude
an körperlicher und geistiger Betätigung kann auch einen Ausfall an
ethischen Gefühlen hervorrufen und zu einer unsittlichen Denkrichtung
und Handlungsweise führen.
Die Ängstlichkeit kann sich so steigern, daß unrichtige Inner-
vationen der Sprachwerkzeuge, Gedächtnisstörungen oder gar krank-
hafte Furcht, begleitet mit Zwangsvorstellungen, auftreten.
Die Träumerei, die mit einem zärtlichen Wesen verbunden ist,
kann sich in heiße Liebe und Schwärmerei oder aber zur Melancholie
steigern.
Die Gereiztheit kann zu Zorn und Wut führen, die ihre Ent-
ladung in Wutanfällen findet.
Ob und wieweit die wahrgenommenen Gefühlsstörungen als krank-
haft zu bezeichnen sind, hängt von der Stärke und Dauer derselben ab.)
Meine Beobachtungen haben mich gelehrt, daß in einer städti-
_ schen Mädchen-Volksschule die Zahl derjenigen, deren Störungen eine
solche Stärke erreichen, daß sie krankhaft genannt werden müssen,
größer ist, als gemeinhin angenommen wird. Gewiß wird, wenn die
Schule nicht besser als bis anhin Rücksicht auf die Pubertät nimmt,
die Zahl der an nervösen Erkrankungen leidenden Frauen zunehmen.
Nach einer Arbeit von Dr. med. W. Maier,?) Dozent an der Universität
Zürich und Arzt an der Irrenanstalt Burghölzli-Zürich, ist ja auch
in den letzten Jahren die Zahl der Geistes- und Gemütskranken in
erheblichem Maße gestiegen. Ob die Schule an dieser Zunahme nicht
auch mit Schuld trägt?
Es gibt eben eine Reihe von Psychopathen ohne Intelligenzdefekte
oder wenigstens ohne solche, daß sie der Hilfsschule oder den Spezial-
klassen zugewiesen werden müßten, eine Menge von Kindern, die eine
solche Reizbarkeit des Nervensystems zeigen, daß sie an der Grenze
zwischen normal und anormal stehen. Solche Kinder können, wenn
ihnen die Schule (und das Elternhaus) nicht die nötige Schonung zu-
kommen läßt, leicht dauernden Schaden nehmen. Vorübergehende
Störungen können bleibende werden.
1) Ein gutes Hilfsmittel, diese richtig einschätzen zu lernen, bildet Heft 67
der Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung: Hermann, Grundlagen für
das Verständnis krankhafter Seelenzustände beim Kinde. 2. Aufl. Langensalza,
Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1911.
2 Dr. W. Maier, Die Verhütung geistiger Störungen. Schweiz. Blätter für
Schulgesundheitspflege. Jg. 11, Nr. 2 (Februar 1913), S. 23—27; Nr. 3 (März
1913), S. 39—42.
374 A. Abhandlungen.
Es ist daher ungemein wichtig, daß der Erzieher mit der Psycho-
logie und der Psychopathologie des Pubertätsalters bekannt gemacht
werde. Je besser er die psychische Verfassung eines Kindes kennt,
desto bessere Unterrichtserfolge wird er erzielen, ohne dessen Gesund-
heit zu gefährden. Je mehr sich der Lehrer in das Studium der
Seele im Pubertätsalter vertieft, um so mehr wird er einsehen, daß
wir es in diesem Lebensabschnitt mit Seelenzuständen zu tun haben,
die an das Krankhafte grenzen, wenn sie nicht schon krankhaft sind.
Der Volksschullehrer muß in gewissem Sinne Heilpädagoge sein und
werden. Er muß es in der Beurteilung des Seelenzustandes der ihm
anvertrauten Schüler zu einer gewissen Meisterschaft bringen. Er soll
erkennen, ob in einem bestimmten Falle eine kindliche, hemmungs-
fähige Ungezogenheit, oder aber eine außerhalb des Willens befind-
liche, krankhafte Äußerung vorliegt.
Nur dann kann er die erzieherischen Maßnahmen richtig treffen
und nur dann kann seine Arbeit von Erfolg begleitet sein.
3. Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der
Testmethode.
Von
Franz Weigl, München-Harlaching.
Die Untersuchung der Intelligenz von Kindern, wie sie nach
mannigfachen Methoden von der experimentellen Psychologie neuer-
dings vorgenommen wurde, ist insbesondere auch für die Hilfsschulen
und die Anstalten für geistig mangelhafte Kinder von Bedeutung.
Wir haben uns in der Münchener Arbeitsgemeinschaft für experi-
mentell-pädagogische Forschung der dortigen katholischen päda-
gogischen Vereine mehrfach mit diesen Untersuchungen befaßt, zu-
nächst bei einzelnen normalen Kindern, dann in ganzen Klassen der
Volksschule. Als Leiter der Arbeitsgemeinschaft war ich besonders
daran interessiert, den Wert dieser Aufnahmen auch bei Hilfs-
schülern zu erproben, nachdem unter den Lehrkräften der Normal-
schule die Methoden starke Anerkennung gefunden hatten.
Ich untersuchte deshalb die sämtlichen Schüler und Schülerinnen
der Hilfsschule an der Silberhornstraße in München, an der
ich wirke, auf den Grundlagen der Testserien nach der Binetschen
Methode. Der Leiter der Schule, Oberlehrer Lesch gab hierzu be-
reitwilligst in dankenswerter Weise die Genehmigung und die Kollegen
der Schule, die Herren Huber in Klasse I, Graf in Klasse III und
Pschorn in Klasse IV, unterstützten mich namentlich bei der proto-
Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. 375
kollarischen Aufnahme der Schüleraussagen in tatkräftigster Weise,
für die ich dankbar bin. Unser übereinstimmendes Urteil über den
Wert der Aufnahmen für die korrekte Beurteilung des Schülermaterials
ist nicht zuletzt der Anlaß dafür, daß im folgenden über die Unter-
suchung eingehender berichtet wird.
Um den Bericht vollständig zu machen, seien die verschiedenen
psychologischen Methoden der Intelligenzprüfung zunächst kurz ge-
schildert und mit einer kritischen Prüfung auf ihre Brauchbarkeit in
der Hilfsschule bezw. für Hilfsschüler versehen.
I. Die psychologischen Untersuchungsmethoden für Fest-
stellung der Intelligenz.
Die Formulierung der Kapitelüberschrift deutet schon an, daß
wir hier die Untersuchungen, wie sie namentlich von Bayerthal in
Worms mit Kopfmessungen unter Bezugnahme auf intellektuelle
Wertung vorgenommen wurden, außer Betracht lassen. Damit soll
kein Urteil über jene Methode ausgesprochen sein. Wir glauben nur,
daß dem Lehrer die psychologischen Untersuchungsmethoden näher
liegen, namentlich wenn sie eine spezifisch-pädagogische Orientierung
besitzen oder zulassen und sich möglichst dem gewohnten Umgang
von Lehrer und Schüler anpassen.
Solche Methoden sind in den letzten Jahren von der experimen-
tellen Psychologie dem Pädagogen mehrfach an die Hand gegeben
worden, die er mit mehr oder weniger großen Variationen schulmäßig
gebrauchen kann.
Während ursprünglich alle Untersuchungen z. B. der Reaktions-
zeit, der Sinneswahrnehmung, der Auffassungs- und Assoziationsfähig-
keit gelegentlich auch auf die Intelligenz bezogen wurden, versuchte
man bei eingehenderer Beschäftigung mit dem Intelligenzproblem ihrem
Wesen nahe zu kommen, zunächst, indem man die Kombinationsfähig-
keit ins Auge faßte.
Von diesem Standpunkt aus hat Ebbinghaus im 13. Band der
von ihm herausgegebenen »Zeitschrift für Psychologie »Über eine
neue Methode zur Prüfung geistiger Fähigkeiten und ihre Anwendung
bei Schulkindern« (S. 401 ff.) berichtet. Die Methode besteht im
wesentlichen darin, daß fehlende Silben in Texten, die den Schülern
gedruckt vorgelegt werden, zu ergänzen sind. Zwei Beispiele für
reifere und jüngere Schüler gibt Ebbinghaus S. 458 an:
376 A. Abhandlungen.
Obere Klassen.
Belagerung Colbergs 1807.
Gleich des näch - Tages stellte sich - neue Kommandant, Major von Gneisenau,
der Gar -- als ihren jetzigen Anf -- vor, und d -- Feierl -- begleitete er - einer
A ---, die so - rucksvoll und rü - war, wie wenn ein g -- Vater mit sei - lieben
-- spräche. Alles - auch da - dergestalt ersch --, daß die -- bär -- Krieger - wie
Kinder w -- und mit schluchzender -- ausr --: sie wollten mit - für K -- und
Va -- leben und - ben. Darauf machte - sie - den Grunds -- bekannt, nach --
er - befehligen --, wessen sie - von ihm zu vers - - hätten und was er von --
erw --. Usw.
Untere Klassen.
Gullivers Reisen.
Nach langer Wand -- in dem fremden Lande fühlte ich - so schwach, daß
ich -- Ohn - nahe war. Bis - Tode - mattet s - ich ins Gras nieder und - bald
ein, fester als -- mals in -- Leben. Als ich er --, war der Tag längst -- brochen;
die S -- strahlen schienen - ganz unerträglich ins - -, da ich auf - Rücken -. Ich
wollte auf --, aber sonderbarerweise konnte ich - Glied rühren; ich f -- mich wie
- lähmt. Verwundert bl - - ich um mich, da entdeckte -, daß -- Arme und B --,
ja selbst meine damals sehr l -- und dicken Haare mit Schnüren und Bind - - an
Pflöcke -- stigt waren, welche fest in der Erde --. Usw.
Die Verrechnung beschreibt er S. 423 ff. so: Bei der Kombi-
nationsmethode wurde zunächst dreierlei gezählt: erstens die Zahl der
überhaupt ausgefüllten Silben, zweitens die Zahl der dabei über-
sprungenen Silben, drittens die Zahl der sinnwidrig ausgefüllten Silben,
sowie die Verstöße gegen die vorgeschriebene Silbenzahl. Diese drei
Werte wurden dann in folgender Weise gegeneinander aufgerechnet.
Jede übersprungene Silbe wurde als halber Fehler gezählt. Denn ließe
man sie einfach unberücksichtigt (was bei der Zählung der aus-
gefüllten Silben selbstverständlich bereits geschah), so kämen diejenigen
Schüler zu gut weg, die mit der Übergehung der eigentlichen Schwierig-
keiten sich die ganz leichten Kombinationen heraussuchten und von
diesen nun natürlich eine größere Anzahl fertig stellten. Jede sinn-
widrig ausgefüllte Silbe dagegen und ebenso jeder Verstoß gegen die
vorgeschriebene Silbenzahl eines Wortes zählte als ganzer Fehler.
Dann wurde die Gesamtsumme der Fehler von der Bruttozahl der
ausgefüllten Silben in Abzug gebracht und der so erhaltene Wert als
Maß für das Quantum der richtig geleisteten Arbeit betrachte. Von
einer verschiedenen Bewertung der Sinnfehler je nach dem Grade der
Sinnwidrigkeit wurde abgesehen. Die Sache wäre zu kompliziert ge-
worden; außerdem mußte bei dem großen Schülermaterial, das Ebbing-
haus zur Verfügung stand, ein Hilfsarbeiter zur Bewältigung der
Resultate herangezogen werden, und so konnten nur Regeln aufgestellt
werden, deren Anwendung von individuellem Ermessen ganz un-
abhängig ist.
Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. 377
Zur Verwertung dieses Tests bei der Intelligenzprüfung im all-
gemeinen ist zu sagen, daß er wohl als wertvoll anzuerkennen ist. In
der Fähigkeit des Schülers die fehlende Lücke auszufüllen, kommt
sicher eine intellektuelle Leistung zum Ausdruck. Die Intelligenz
dürfte aber in dieser Kombinationsgabe nicht erschöpft sein, und so
stellt sich der Gedanke ein, dieses Prüfungsmittel wohl bei der Fest-
stellung der Intelligenz beizuziehen, aber nicht ausschließlich ent-
scheiden zu lassen.
Gegen die ausschließliche Anwendung dieses Tests bei Schwach-
sinnigen kommt aber noch ein weiterer Gesichtspunkt mit in Betracht.
Bei dieser Prüfung wird zum guten Teil die sprachliche Gewandtheit
und Ausdrucksfähigkeit des Prüflings ausschlaggebend. Bei den
Schwachsinnigen ist diese besonders gering und so würden wir an
einem Teilsymptom die ganze Anlage messen, wodurch irreführende
Schlüsse nicht zu vermeiden wären.
Ähnliches gilt von der durch Meumann für die Intelligenzprüfung
stark betonten Masselonschen Probe. Auf dem I. Deutschen Kon-
greß für Jugendbildung und Jugendkunde in Dresden!) und ausführ-
licher in der »Zeitschrift für pädagogische Psychologie und experimen-
telle Pädagogik« (1912, Nr. 3) berichtete er über seine Methode. Sie
besteht darin, daß zwei oder mehrere Wörter, aus denen der Schüler
Sätze bilden soll, so gewählt werden, daß zwar mehrere Beziehungen
zwischen ihnen hergestellt werden können, daß aber eine ganz be-
stimmte Beziehung die beste Lösung darstellt. Meumann gibt an, es
zeige sich dabei im allgemeinen, daß die intelligenteren Schüler die
determinierte Beziehung wählen, während die unintelligenten die un-
bestimmtere, weniger determinierte oder eine rein sprachliche, häufig
ganz sinnlose Verbindung der Worte wählen. Als Beispiele führt er
an: es werden die Worte gegeben: Katze — Schläge. Ein unintelli-
gentes Kind schreibt: Die Katze bekommt Schläge. Das intelligente
Kind überlegt sich, daß die Katze doch nicht immer Schläge bekommt,
sondern daß ein Grund oder ein Anlaß dazu gegeben werden muß,
es schreibt daher z. B.: Die Katze bekommt Schläge, wenn sie ge-
nascht hat. Oder es werden die Worte gegeben: Himmel — rot. Ein
unintelligentes Kind schreibe: Der Himmel ist rot. Ein intelligentes
dagegen: der Himmel ist rot des Abends und des Morgens, wenn die
Sonne tief am Himmel steht und durch den Dunst scheint. Noch
deutlicher würden die Unterschiede der Intelligenz hervortreten, wenn
man mehrere Worte nach gegebenen Gesichtspunkten zusammenstellt.
1) Vergl. den bei Teubner erschienenen Bericht. II. Teil. Leipzig 1912.
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 25
378 A. Abhandlungen.
Es wurden z. B. die Worte diktiert: Baumwolle, Wolle, Seide. Ein
unintelligentes Kind habe geschrieben: Aus Baumwolle macht man
Wolle, aus Wolle macht man Seide. Ein intelligentes Kind schreibe:
Baumwolle, Wolle und Seide sind Stoffe, aus denen man Kleider macht.
Gerade der täglich in der Schule stehende Lehrer muß diesen
Versuchen gegenüber schwere Bedenken aussprechen, wie ich sie
auch mehrfach zum Ausdruck gebracht habe.
Zum ersten prüft Meumann mit seiner Methode nicht das intelli-
gente und unintelligente Kind; jeder Praktiker hat wohl die Erfahrung
gemacht, daß auch ein intelligentes Kind sich bei Lösung der obigen
Aufgaben mit den Sätzen: »die Katze bekommt Schläge« oder »der
Himmel ist rot« zufrieden geben würde. Es spielt hier zu viel die
momentane Laune des Kindes, seine Aufmerksamkeit, sein Interesse
an der Arbeit mit herein, selbst wenn das Kind die Aufgabe erhielt,
die Sache so gut als möglich zu machen.
Zum zweiten ist zu bedenken, daß das, was Meumann hier prüft
zum großen Teil Kenntnisse sind. Es kommt dabei in Frage, ob
der Schüler zufällig schon einmal davon hörte oder nicht, ob er diese
Verbindungen durch ein reges häusliches Leben oder in vorausgehenden
Schulklassen schon einmal hörte, oder ob er sie erst neu herstellen
muß, was im einzelnen Fall nicht nachkontrolliert werden kann. Wer
die vielen Beispiele durchsieht, die Meumann in der erwähnten aus-
führlichen Darstellung gibt, wird in der Überzeugung bestärkt, daß
hier sehr viel Wissen des Kindes und weniger Intelligenz ge-
prüft wird.
Ich habe dafür auch Belege gesammelt in Aufnahmen bei 501
zehn- bis vierzehnjährigen Schülerinnen von Volksschulklassen und
höheren Mädchenschulen. Mit der größten von Meumann geforderten
Sorgfalt und nach seiner Instruktion, wie sie sich in dem oben er-
wähnten Aufsatz findet, wurden die Wortpaare bezw. -gruppen zur
Bearbeitung gegeben. Es zeigte sich, daß sowohl das Wissen tat-
sächlich von großem Einfluß war, wie auch Übereinstimmung von
Intelligenz und Leistung vielfach nicht zutraf. Es ist hier nicht der
Ort auf das ganze Material einzugehen, nur so viel sei angeführt, daß
z. B. von den 52 Schülerinnen einer Volksschulklasse, denen u. a. die
Begriffe Soldat — Vaterland zur Verbindung gegeben waren,
folgende Leistungen erzielt wurden, die wir hier mit ihrer Anlagen-
note vergleichen:
Anlagennote: I I, II ID, IV
Zahl der Schülerinnen mit richtiger Lösung 3 1 17 4 2
a 5 „ falscher a 1 — 2 2 =
Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. 379
Es haben also sehr mangelhaft veranlagte Mädchen ebenso gute
Lösungen erzielt wie intelligente und umgekehrt gut beanlagte schlechte.
Noch deutlicher tritt namentlich letzterer Gesichtspunkt bei folgenden
Beispielen der gleichen Klasse hervor:
Anlagennote: I I, HI II, IV
Begriffspaar: Tanne — Winter.
richtige Lösung . . . 21 1 15 3 1
falsche 5 maha aS — 4 3 1
Begriffspaar: Elektrische Bahn — Zeit.
richtige Lösung . . . 18 -— 10 4 1
falsche 3 E N.i 1 9 2 a
Begriffspaar: Trinken — Armut.
richtige Lösung . . . 21 1 13 4 1
falsche s no pag — 6 2 1
Für Hilfsschüler hat sich die Methode vollends als unbrauch-
bar erwiesen. Sie verstehen meist nicht, was sie mit den beiden
Worten anfangen sollen, und wagen sich gar nicht an die Satzbildung
infolge der sprachlichen Mangelhaftigkeit, wenn ihnen vielleicht auch
die Gedankenverbindung vorschwebt. In der unten näher zu be-
schreibenden Untersuchung war dieser Test, eingeordnet in eine Serie
anderer Prüfungsmittel, aufgenommen, das Resultat war außerordent-
lich überzeugend für die geringen Erfolge, die damit zu erzielen sind.
Auf der Basis dieses Versuches, der gedanklichen Inbeziehung-
Setzung mehrerer Begriffe, beruhen auch die in Frankfurt aus-
geführten Aufnahmen, über welche Georg Ries im 56. Band der
»Zeitschrift für Psychologie« von Ebbinghaus (Leipzig 1910, S. 321 ff.)
unter dem Titel »Beiträge zur Methodik der Intelligenzprüfung« be-
richtet hat. Seine Methoden »beruhen auf der größeren oder ge-
ringeren Fähigkeit verschiedener Personen, zwischen 2 gegebenen Be-
griffen eine Denkbeziehung herzustellen«e. In dem ersten Versuch
wurden folgende Wortpaare verwendet (S. 323):
Hunger — Ohnmacht, Tauwetter — Hochwasser, Unglück — Entsetzen, Licht
— Helligkeit, Bewegung — Müdigkeit, Kampf — Sieg, Glück — Freude, Reibung —
Wärme, Menschenmenge — Lärm, Stoß — Schmerz, Flucht — Rettung, Kälte — Eis,
Feind — Haß, Tod — Trauer, Faulheit — Unwissenheit, Feuer — Hitze, Güte —
Dankbarkeit, Anstrengung — Erfolg, Kraft — Anziehung, Fleiß — Lob, Schlag —
Ton, Frömmigkeit — Vertrauen, Befehl — Gehorsam, Nahrung — Gesundheit, Schön-
heit — Bewunderung, Sünde — Strafe, Beleidigung — Ärger, Fäulnis — Geruch, Er-
oberung — Beute, Stärke — Mut, Hilfe — Rettung, Betrug — Entdeckung, Ver-
letzung — Klage, Wohltat — Undank, Staat — Schutz, Verlust — Armut, Gefahr —
Untergang, Krankheit — Genesung, Arbeit — Verdienst, Leichtsinn — Not, Ge-
spräch — Zwietracht, Befehl — Widerspruch, Unfall — Verwirrung, Angebot —
25*
380 A. Abhandlungen.
Kauf, Heldentat — Ruhm, Regelmäßigkeit — Schönheit, Lüge — Scham, Friede —
Wohlstand, Almosen — Dank, Kenntnisse — Amt, Verbrechen — Unruhe, Geschäft —
Reichtum, Unruhe — Schlaflosigkeit, Beispiel — Regel, Übung — Fertigkeit, Mäßigkeit
— Gesundheit, Wohlfahrt — Üppigkeit, Habgier — Betrug, Hitze — Erkrankung,
Zufriedenheit — Verträglichkeit, Schuld — Übel, Rechnung — Schrecken, Furcht —
Geisteskrankheit, Gewinn — Genußsucht, Eile — Vergeßlichkeit, Sturm — Schiffbruch.
Vor jedem Versuch erhielten die Schüler folgende Instruktion:
»Ich werde euch jetzt eine Reihe von Wörtern vorlesen, von denen jedesmal
zwei zusammengehören. Nach jedem Wortpaare mache ich eine kleine Pause, in
welcher ihr überlegt, wie der Sinn der beiden Wörter zusammenhängt. (An 3 bis
4 Beispielen wird der Zusammenhang der Wörter mehrerer Wortpaare klar ge-
macht.) Gleichzeitig bestrebt ihr euch die betreffenden Wörter als zusammen-
gehörig zu behalten, damit ihr, wenn ich zum Schluß eines dieser Wörter nenne,
euch entsinnen könnt welches Wort dazu gehört. Dieses Wort sollt ihr dann jedes-
mal auf eurem Zettel aufschreiben, oder einen Strich machen, wenn es euch nicht
einfällt.« (S. 325.)
Den Schülern wurden an jedem Versuchstage 15—20 Wortpaare
vorgelesen. Auf Grund der Gesamtleistung wurde eine Reihenfolge
der Schüler aufgestellt und mit der von den Lehrern bestimmten
Reihenfolge verglichen.
Die Versuche ergaben bei normalen Kindern sehr günstige Resul-
tate. — Für schwachsinnige kommen sie dagegen kaum in Betracht.
Man versuche nur, die obige Instruktion in eine für Hilfsschüler
passende Form zu übertragen! (Forts. folgt.)
4. Psychische Fehlleistungen.
Von
R. Egenberger, München.
(Schluß.)
Agraphie.
Normaler Prozeß beim Schreiben.
Die Schule pflegt drei Arten des Schreibens: Spontan-, Diktat-
und Abschreiben.
Beim Abschreiben ist ein Vorbild vorhanden, es wird vom opti-
schen Bilde ausgegangen und durch Schreibbewegungen ein neues
optisches Wortbild erzeugt.
Beim Diktat wird durch akustische Reize, die von einer zweiten
Person ausgehen, im Schüler das optische Schriftbild erweckt und
durch schreibmotorische Tätigkeit ins Sichtbare übersetzt.
Beim Spontanschreiben ist der Weg weiter, der optische oder
akustische Wortreiz fehlt hier. Das Wort und dessen Schriftbild muß
selbst gefunden werden.
Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 381
Man kann schließlich dem Anfänger die Hand beim Schreiben
führen, da kommt zum akustischen und optischen Reize noch ein
schreibmotorischer hinzu.
Normal ist der Werdegang beim Erlernen der Schreibkunst, wenn
auf Grund optischer, akustischer und schreibmotorischer Reize, das Kind
nach einiger Übung befähigt ist, gesprochene Laute und Wörter, die
Namen gesehener Gegenstände, Urteile usw. in Schrift zu übersetzen.
Schreibstörungen.
Recht zahlreich sind die Fälle, daß Kinder trotz vieler Übung
und vielem Fleiße die Formen und Linien der Schrift nicht wieder-
geben können, und zwar gelingt ihnen meist das Spontanschreiben
nicht, aber auch das Abschreiben macht manchen Schwierigkeiten.
Vielen gelingt zwar das Ab- oder Spontanschreiben der Buchstaben,
aber sie vermögen die Buchstabenfolge nicht einzuhalten, andere
unterscheiden die ähnlichen Buchstabenformen nicht, ersetzen den
einzelnen Buchstaben durch einen ähnlichen (optische, akustische und
motorische Ähnlichkeit!).
Die Agraphie ist nicht eine beliebige Unsicherheit oder Ungeübt-
heit, sondern eine Störung, die nicht im äußeren Organe, sondern im
Zentralgebiet ihren Sitz hat. Agraphie ist totale oder partielle Un-
fähigkeit zu schriftlicher Darstellung. Ein Kind, das an Agraphie
leidet, wird in der Zeit, in welcher seine Altersgenossen den schrift-
lichen Ausdruck sich aneignen, das Schreiben nicht oder in ganz
wenigen und unvollkommenen Fragmenten erlernen. Ein allgemeiner
Klassenunterricht richtet bei solchen Störungen nicht viel aus.
Agraphie treffen wir bei Schwachsinnigen recht häufig; aber
nicht immer ist der geistige Tiefstand so hochgradig. Ich sah schon
Kinder, die gewandte Sprache und ganz normale Lebenserfahrungen
hatten, sogar fließend und leicht das Lesen erlerhten, aber infolge
von Agraphie nicht imstande waren, auch nur ein Wort spontan zu
schreiben, ja nicht einmal einen Buchstaben nachschreiben konnten.
Schon mehrmals sah ich Fälle, daß zwar die Buchstaben und Wörter
in Schönschrift abgeschrieben werden konnten, daß aber die ganze
Schreibkunst vollständig versagte, sobald ein Wort spontan, aus der Er-
innerung niedergeschrieben werden sollte. Solche vermögen trotz ihres
Schönschreibens nicht einmal den eigenen Namen aufs Papier zu bringen.
Agraphie kann eine selbständige Störung sein. Ich hatte einen
Schüler Ke., der an Agraphie litt, fließend und frühzeitig das Lesen
lernte, auch in schöner Schrift zwar abschreiben, aber nicht ein Wort
spontan niederschreiben konnte. Er war ein guter Zeichner und
der beste Schüler im Modellieren.
384 A. Abhandlungen.
Linen für Linien geblie für geblieben
Liember Gott für lieber Gott Kanflaen für Kaufladen
Plasche für Flasche hineingewefen für hineingeworfen
Spbil für Spiegel Blakraut für Blaukraut
heraschenkt für hergeschenkt angegom für angekommen
Gewitte für Gewitter
Zur Zeit habe ich in meiner Klasse einen Schüler Hö., der für
e ein i oder auch umgekehrt schreibt, das gleiche tut die Schülerin
Kow., während die Schülerin Berch. o und u nicht unterscheidet; die
Schülerin Sp. A. unterscheidet b und d nicht.
Lautagraphie. (S. Tafel III u. IV.)
Lautagraphie ist das Unvermögen, die Laute des Wortes in Buch-
staben umzusetzen. Meist kann hier schon das Wort nicht in seine
Einzelbestandteile aufgelöst werden. Das Wort ist solchen Kindern
lediglich ein Lautkomplex. Diktat- und Spontanschrift ist solchen
Kindern unmöglich, sie schreiben bei solchen Gelegenheiten Buch-
stabenreihen nieder, die oftmals an das betreffende Wort gar nicht
erinnern; es besteht also totale Unkenntlichkeit. Das Abschreiben ist
hier aber möglich; denn wenn auch die einzelnen Buchstaben ver-
wechselt werden, so können sie doch von Schreib- und auch Druck-
schrift abgeschrieben werden. Vergl. Fall Heimbr. (Tafel III.)
Der Fall Ke. (Tafel IV) zeigt, daß in der Spontanschrift doch ein
Teil der Buchstaben vorhanden ist. Man beobachtet hier, daß dem
Knaben der ganze Satz nichts anderes als ein Lautkomplex ist. —
Abschreiben ist ihm leidlich gelungen. Der Knabe hat nach und
nach die Lautagraphie überwunden; er lernte spontan und nach Diktat
zu schreiben. Solche Kinder lassen gerne Buchstaben aus.
Zur Lautagraphie darf man sowohl die Antizipationen als auch Post-
positionen rechnen.
Ist es zwar häufiger der Fall, daß zu wenig Buchstaben aufs
Papier gebracht werden, daß also viele Buchstaben weggelassen werden,
so treffen wir wieder geradezu typische Fälle, daß überzählige Striche
oder Buchstaben niedergeschrieben werden. Hier muß auch darauf
hingewiesen werden, daß manche Schüler bei Substantiven lange Zeit
hinter den großen Anfangsbuchstaben noch den entsprechenden Klein-
buchstaben setzen, z. B. Eesel, Eeier.
Wie wenig Schwachbegabte die Laute aus dem Worte heraus-
finden, zeigen folgende Beispiele:
Kofflen, Korff, Karoffle, Garlof, Garfol = Kartoffel.
Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 385
Zwies, Zwien, Zwiefen, Zwief — Zwiebel.
Diad, Jadt, Jadg = Jagd.
Heimbr., 13jähriges Mädchen, kam als zwölfjährige Schülerin von
auswärts in die Hilfsschule.
Sie zeigte sich unfähig, spontan etwas niederzuschreiben (vergl.
Tafel II). Auf eine optische Agraphie weisen die zahlreichen Fehler
hin, welche darin bestanden, daß sie z. B. v durch p, F durch J, R
durch K, N durch A usw. ersetzte. Auf Lautagraphie dagegen weisen
die vielen Auslassungen und Umstellungen hin z. B.: Zısm = Zahn,
gessim = gerissen, verhrt — verkehrt, Jrizi = Fritzi, schen =
schreiben, Kschriten = schreiben, ret = recht, Halduch = Haltung,
giter —= Kinder, liglaus — Nikolaus, Sascht — Schlacht; Morgen gegt
die kok Vokaeng am (M. geht. d. große Vakanz an). Burter = Bruder;
gestren — gestern, Snese — Sense, kierg — krieg.
Vermengungen in dem Sinne, daß ein ähnliches Element eines
Buchstabens als Bestandteil eines anderen Buchstabens angesehen wird,
kommen oft vor. Sowohl optische, als schreibmotorische Eindrücke,
können die Schuld an solchen Vermengungen tragen. Kommt nach
a ein r, dann kommt es oft vor, daß sie den zweiten Abstrich des a
als ersten Abstrich des r betrachtet und dieses dann vollendet. Da-
mit wird aus ar or, z. B. wor statt war, schorf statt scharf, Isor
statt Isar usw.
Der charakteristischste Fehler bei den Abschriften ist, daß das
Kind dem r am Ende einen ı-Strich anfügt, ebenso, aber nicht so
häufig dem b, B, o und a, also: r, bı, Bı, 01, an Hier handelt es
sich also um einen rein ausgeprägten Fall von hartnäckigem Bei-
behalten eines überzähligen ı-Striches. Man beachte die folgenden
Beispiele aus dem Tagebuche des Mädchens.
Überzähliger ı-Strich als charakteristischer Fehler.
11. V. 10: Gesterin (3 ><) 16. VI. 10: Drie (Drei)
15. „ Strım (Sturm) (4 x) 21. „ Urıban (3 ><) Gesterım
8, Jriizi (Fritzi) 3044 y Jwi u. Jumi
3. VI. 10: Erıde 1. VI. 10: Gesterın, habem
4. „ Gariten, unserım 6; 5 ıverkaufen
82 95 unserım, schorıf lZer ins (ins)
(scharf), Gestern 12. IX. 10: drüben
10: % Gestern, geriacht (ge- 16. „ Früh
bracht) 10. y Pferıd, gekoımmen
16. „ Gänse (Gänse) 24. „ Stammm
e ‚»:; Driischel Il a Septemmber, Gesterın
(2 x)
386
A. Abhandlungen.
.19. IX. 10: Gesterın
4. X. 10: Oktoıber, Soınntag,
Sommtag
16. XII. 10: herunter
21. „ Bıuben, Bıub
4. I. 11: Osternn, noıch; micht,
di. i Eiin (n), runter, t) vomı Maurm, gebıaut,
Lamm (Baum) Bıalcken, werıden,
ra rıunter, vomi gezoıgen, Krıäftige
8, nunt, Bıund ze: Pferid
13. „ Talkirıchen 10. „ Dächerm, gefrorenren
le y 4 x vom gefrorren
21.. ; Liiedchen 13. „ Dachrıinne
28. „ mmachen, Daichstul 17. „ täglichen, schoın
19. „ Moıntag, koımmt 18, y ınicht, bıin, Kirıche
5. XI. 10: worıden 19: +%% schon, biin, Soinntag,
Bi. i überall Heimbrıand
16, t nigkollaus (Nikolaus) 20. „ schoın
18.» 5 Schriiner (Schreiner) 27. „ Gebriurtstag
Try s = 30. „ schon
I% j bıin 1. I. 11: Febriuar
22. „ biin (trotz 2 maliger 3.6.8.11: Knochen, kriıcht, noich
Korrektur) 10. II. 11: Gestern
BA» jai bın Di: 5 Februar
e Chniistkind - 14 -y »
2. XII.10: Gesterın, worıden 15. 16. 17. 18. „ , Brıuder, eine
N 5 krıiegt 20. I. 11: „ „ noch
9.05 Briücke TS 75; „ „ Tliechen
ie Berig, Burg 22. „ A
I5 -g Trıambahn 235 4; „ , koıcht, wird
L6. 5, Bıub (trotz Korrektur) 24. 27. 28. „ , biitter
a Ky P Bıub 2. II. 11: Böıwe, Fledermaus
Am 2. März ist dieser Fehler zum letztenmal anzutreffen.
Ich
konnte in noch etwa 40 Einträge Einsicht?) nehmen und nicht einmal
kehrte dieser Fehler wieder; er war ab 2. März 1911 wie weggeblasen.
Umstellungen und Nachwirkungen. (S. Tafel V, VI, VII.)
Hier ist die Reihenfolge der Buchstaben nicht in Ordnung. Wird
ein Buchstabe, der erst später auftreten sollte, vorausgenommen, so ist
das die Vorausnahme (Antizipation); wird aber ein Buchstabe, der
1) Auch bei der Verbesserung schreibt das Mädchen die gleichen Fehler wieder.
?) Dank der Liebenswürdigkeit des Herrn Lehrers Ettmayr.
Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 387
schon aufgetreten ist, im Verlaufe der Rede an falscher Stelle noch-
mals wirksam, dann haben wir die Nachwirkung (Postposition).
Dazu kommen dann noch die Wortvermengungen, welche entstehen,
wenn ganze Teile verschiedener Wörter vermengt werden.
Bei der Antizipation und Postposition sind sämtliche Laute des
Wortes in Buchstaben umgesetzt worden, aber der Buchstabe ist nicht
an seinen richtigen Platz gesetzt worden. Die Beispiele zeigen, daß
ein Kind 4—5 mal die Darstellung eines Wortes versuchte, aber immer
wieder zu einer anderen Umstellung gelangte.
Solche Umstellungen sind für manche Kinder ein ständiger,
typischer Fehler. Ich lernte jetzt 4 Fälle kennen, in denen dieser
Fehler fast auf jeder Schreibseite vertreten war. In einer IV. Klasse
der Normalschule schrieb ein Knabe: dei (die), ienen (einen), blad
(bald), Kanbe (Knabe), Fahrzueg (Fahrzeug), Sei (Sie), Gurbe (Grube),
Afpel (Apfel), gelrent (gelernt), gestirten (gestritten), Krübis (Kürbis),
frieern (frieren), Zugvögle, wärmeer (wärmere), rabeinet (arbeiten).
Schwachbegabte Kinder schrieben: drie (drei), wri (wir), Bort
(Brot), Wrifel (Würfel), Terppe (Treppe), schraf (scharf), Satal (Salat),
slost (sollst), gostelen (gestohlen), ziew (zwei), uht (Hut), falu (faul),
Deckle — Deleck — Delcke (Deckel).
Diese Umstellungen sind zur Lautagraphie zu rechnen, und sie
treten mitunter regelmäßig bei einem Kinde auf. Ein solches Kind
kann zwar das Wort in seine Laut- und Buchstabenelemente auflösen,
aber die Buchstabenfolge kann nicht sofort bestimmt werden.
Nachwirkungen haben wir vor uns, wenn z. B. geschrieben wird:
Nachbararin (Nachbarin). Nachdem ein Wort mit »st« vorausging,
wurde geschrieben: Haustbrot (Hausbrot), Hefst (Heft), stprechen
(sprechen); nachdem geschrieben war: Mahlzeit, stolz, schrieb ein
Schüler einer Normalklasse: krummz (krumm).
Die Beispiele zeigen die Voraus- und Nachwirkungen als An-
gleichung, z. B. Tuten Tag, ade Tutter (Mutter) oder hhau (schau),
sson (schon). Solche Angleichungen sind nichts anderes als das be-
harrliche Auftreten eines Buchstabens, der mehrere andere zu ver-
drängen vermag. Hier wirken aber die optischen Bilder stark ein,
während andererseits die Auflösung des Wortes in die Laute, weniger
sicher gelingt. Man kann viele Angleichungen besser als optische
Agraphie bezeichnen.
Tafel VI enthält unten einige Beispiele, welche überzählige Buch-
staben oder Buchstabenelemente enthalten. Nach meinen Beobach-
tungen machen diesen Fehler besonders jene Kinder, welche Störungen
im Gebiete der Zahl und des Zählens aufweisen.
388 A. Abhandlungen.
Umstellungen, ein charakteristischer Fehler des Hilfsschülers Kapfen.
Das Material verdanke ich der Güte des Herrn A. Ettmayr. Man be-
achte, wie der Fehler allmählich immer seltener wird.
4. V. 1910: Tamrbauer (Trambauer)
6. V. „dei (die)
9. V. „ Tafle (Tafel)
10. V. „ nue (neu)
25. V. „ Tausgeirssen (... gerissen)
27. V. „ Firtzi (Fritzi)
28. V x dei (die)
31. V. „ Eerd (Erde)
3. VI. „ garbe (grabe)
25. VI. „ gefarhen
27. VI. „ uasegzoen (ausgezogen)
10. XI. „ tärgt (trägt)
22. XI. „ Jrae (Jare-Jahre)
9. XII. „ Birke (Brücke)
10. XI. „ mri (mir), Griffle (Griffel)
2. I. 1911: naganen (angegangen)
10. I. „ gefroern (gefroren)
18. IL.. „ ierk (krieg)
4. II. „. kohlschawrz (kohlschwarz)
30. V. „ eisnen (seinen)
Zur Lautagraphie sind auch jene typischen Fälle zu rechnen, in
denen ein Schüler zwar die Laute eines Wortes in Buchstaben über-
setzt, dabei aber keine Rücksicht auf Dehnung und Schärfung, auf
weich und hart gesprochene Laute nimmt. Auch hier fehlt es an
feiner akustischer Unterscheidung, wozu noch kommt, daß optische
Erinnerungsbilder nicht wirksam zu werden vermögen.
Beispiele: hapen (haben), dengte (denkte), Pläch (Blech), keflogen
(geflogen), Schdolz (Stolz), Puben (Buben), Gnosbe (Knospe).
Vermengungen. (S. Tafel VIII.)
Das sind wiederum ganz begreifliche Fehler. Ist das optische
Schriftbild nicht lebhaft vorstellbar, hängt Aufmerksamkeit und Auge
am Detail und ist die Fähigkeit, das Ganze zu überblicken, gering,
dann ist es leicht möglich, daß das Kind vermittels der Ähnlichkeits-
assoziation auf Irrwege gelangt. Vergl. Tafel VII. Hier ist immer
der letzte Teil eines Buchstabens als ein Teil des nachfolgenden an-
gesehen; es wird also der letzte Teil des 1 zum Bogen des a; aus
dem letzten Teil des e wird der Anfang des u, des g; bei »wer« wird
Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 389
der letzte Teil des e als vorletzter Teil des r betrachtet, also ist dann
nur noch der r-Bogen anzufügen.
Etwas ähnliches zeigen die Beispiele: Pater, Hrden usw. Der
Knabe will Vater schreiben; er macht richtig den ersten Bogen des V.
Nachdem er so weit ist, drängt sich der Abstrich des P ins Bewußt-
sein, der hier ja gut angebracht wird. Das P wird dann vollendet.
Bei Erden ist es gerade so; Vorschwung, obere Schleife und Keilstrich
sind Bestandteile des E und H; bei geringer Aufmerksamkeit ist eine
Verwechslung und Verirrung naheliegend. Viele Buchstaben enthalten
solche ähnliche Elemente und das sind kritische Stellen, die die Ver-
mengung herbeiführen.
Man beachte noch die Wörter: schrank, Uhr; hier sieht man, wie
der Schüler den gleichen Fehler beging, sich aber sofort selbst korri-
gieren konnte.
Motorische Agraphie. (S. Tafel IX.)
Fall Staud.: Der Knabe besuchte eine zweite Volksschulklasse
und hatte gute Fortschritte aufzuweisen.
Nun hatte der Knabe das Unglück, vom I. Stock seines Wohn-
hauses herab auf die Straße zu fallen. Er erlitt eine Gehirnerschütte-
rung und lag 25 Tage bewußtlos da. Er besserte sich langsam und
ging wieder zur Schule. Lesen konnte er zwar, aber er konnte die
Zeilen nicht mehr verfolgen, er las bald in der Mitte, bald oben, bald
unten. Ebenso war es bei Schreiben, die Buchstabenformen waren
mangelhaft, Wörter schrieb er nicht mehr; er war unfähig, zwischen
zwei Linien einen geraden Strich so zu schreiben, daß ihn diese
Linie oben und unten begrenzten.
Fall Ju.: Dieser Knabe war nicht ungeschickt im Zeichnen und
Modellieren, ebenso im Turnen, aber beim Eintritt in die Hilfsschule
vermochte er die Schriftformen nicht nachzubilden. Lesen lernte er
ganz normal. Nach und nach, allerdings mit 2—3jähriger Verspätung,
lernte er auch das Schreiben. Es kam aber oft vor, daß er die
Schreiblinien verließ. Siehe Tafel IX: Sense, Säbel, fest usw.
Bei motorischer Agraphie fehlt der Hand die zentrale Direktion.
In schwereren Graden wird nur gekritzelt. Bei Schwachsinnigen tritt
die motorische Agraphie oft in Verbindung mit Apraxie auf.
Agraphie und Apraxie. (S. Tafel X.)
Apraxie bei angeborenem Schwachsinn ist ein häufig vorkommendes
Gebrechen. In meiner I. Hilfsschulklasse 1911/12 befinden sich
4 Kinder, die diese Störung zeigen. Nicht als ob eine totale Un-
390 A. Abhandlungen.
fähigkeit des Handelns bestünde, bei diesen 4 Kindern betrifft die
Störung das Schreiben, das Zeichnen, das Modellieren, die weibliche
Handarbeit, die Knabenhandarbeit, die praktischen Tätigkeiten, wie
Sperren mit dem Schlüssel usw. und insbesondere das Turnen und
das Spiel.
Fall Ka.: Ein 6 Monatkind, gesunde Eltern und Geschwister. Der
Knabe ist jetzt 8 Jahre alt, ein Zwerg von 1,04 m Höhe und 15 kg
Gewicht. Er ist rachitisch ; erfolgreich wurde seine Rückgrats-
krümmung behandelt. Bis zum 6. Lebensjahre ist er meistens gelegen.
Seine Sprache zeigt Stammeln und Agrammatismus, sein geistiger
Horizont ist äußerst eng; denn er ist als Kind selten über die Tür-
schwelle gekommen, hat nie mit Kameraden im Hofe oder auf Spiel-
plätzen gespielt. Er hat auch mit Spielzeug wenig anfangen können.
Körperlich und geistig ist er noch heute ein kleines Kind. Er kann
nicht springen, er hüpft nur; seine Hände sind ganz klein und
schwächlich.
Seinen Schulranzen kann er alleine, allerdings umständlich, öffnen;
anziehen tut er sich nicht allein. Reifschlagen kann er nicht, Ball-
fangen ebensowenig, Reiffangen ist ihm unmöglich, Fangspiele sind
ihm des Laufens und des Packens wegen nicht gelegen. Werkzeuge
kann er nicht gebrauchen; er kann keinen Nagel einschlagen, nicht
bohren, nicht sägen usw. Proben aus dem Modellier- und Schreib-
unterrichte siehe Tafel X. Fig. 1 ist ein Fuß aus Ton. Anscheinend
ist dieser Fuß gut gelungen; es scheint aber nur ein Zufallsprodukt
zu sein; denn auf meine Veranlassung, nochmals einen solchen Fuß
zu modellieren, ist das nie mehr gelungen. 2 und 3 sind Fische, 4 ist
ein Mann, 5 und 6 Bäume. Man beachte die Zeichnung: Pferd. Die
Schriftprobe zeigt die gänzliche Unbeholfenheit.
Eine totale Störung zeigt sich bei ihm auch im Gebiete der Zahl
und der Töne. Lesen lernt er ganz gut; seine Fortschritte im Sprechen,
Beobachten, Urteilen sind sichtlich.
Fall Des.: Das Mädchen ist 9 Jahre alt, schwachsinnig, ohne
Zahlbegriffe, die Sprache ist ganz gut; es fehlt aber bedenklich an
Gedanken und an der Gedankenprägung. Es besteht Apraxie, welche
sich im Modellieren, Schreiben, Zeichnen, in Handarbeit und im Turnen
und Spielen zeigt. Im Fangspiel springt sie zwar, aber sie vermag
nicht im Laufe zu greifen, erwischt also niemand; den Reif bringt sie
durch Schlagen nicht in Lauf.
Die Agraphie ist mit Alexie verbunden.
Fall Einö.: Ein schwerer Stotterer, der fast kein Wort hervorzu-
bringen vermag. Einfache Befehle führt er ganz richtig aus; er ist
Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 391
nicht so unklug, als man obenhin glauben möchte. Aber er kann
nicht sprechen infolge Stotterns; dazu kommt Störung des Schreibens,
Modellierens, des Zeichnens usw. Nach und nach hat er iundn
leidlich geschrieben, sonst aber nichts!
Fall Wallr.: Geistig fast auf der Stufe eines Idioten; er hat aber
Sprache und hat schon mit 1 Jahr das Sprechen begonnen. Die In-
telligenzprüfung hat ergeben, daß er viele Namen kennt und anwenden
kann; sobald aber Vorstellungsreihen, Angabe des Zweckes, Grundes,
ja selbst die Angabe einfacher Merkmale und Kennzeichnung der
Tätigkeit verlangt wird, antwortet er nicht mehr. Spontan redet er
fast nichts, und wenn er redet, dann handelt es sich ums Essen.
Zum Unterrichte ist er nicht tauglich; es fehlt ihm ganz und gar
die Aktivität, also das willkürliche Fixieren, das willkürliche Auf-
merken, das willkürliche Handeln. Er will nicht spielen, nicht
sprechen, nicht arbeiten, nicht modellieren, er will nicht horchen, nicht
dahin schauen, wo man es von ihm wünscht, nicht singen, nicht
zeichnen, nicht schreiben, nicht lesen, nicht rechnen. Auf Aufforde-
rungen reagiert er mit Abwehrbewegungen und Schmerzrufen; er
sucht sich zu entfernen unter lauten Rufen nach seiner Mutter. Er
will aber essen, er will den Apfel des Lehrers, das Frühstück des
Mitschülers, er will frei im Schulzimmer herumlaufen, er will zu dem
Mitschüler Ka., zu dem er freundlich ist, während er mit allen übrigen
nichts zu tun haben will. Ka. ist ein schwächliches Zwerglein, von
dem er keine Beeinträchtigung zu gewärtigen hat.
Es besteht also Störung der Aufmerksamkeit und des Willens.
Vermittels der unwillkürlichen Aufmerksamkeit aber lernt er einige
Kleinigkeiten. Trotzdem er nicht singen will, kann er es doch nicht
verhindern, daß die Lieder der Mitschüler in sein Ohr dringen. Er
hat Ton- und Wortgedächtnis, lernt also wider seinen Willen Lieder.
Er zieht sich nicht aus, setzt sich mit Ranzen und Mantel in die
Bank. Er kann den Mantel nicht an den Kleiderhaken hängen, er
findet den Aufhänger nicht, d. h. er sucht ihn nicht. Er hängt seinen
Mantel schließlich so auf den Haken, daß er an irgend einem Teile
hängen bleibt. Anfänglich warf er den Mantel einfach zu Boden.
Anziehen kann er sich nicht; er setzt sich nicht die Haube auf,
sondern trägt Hut, Ranzen, Mantel in der Hand nach Hause, wobei
er das eine oder andere dann verliert; er weiß nicht, ob er sich im
Unterrichtszimmer, auf dem Spielplatz oder im Arbeitssaal ausgezogen
hat. Er holt sich seine Kleider nicht selbst, sondern gibt nur
Schmerzrufe von sich. Müdellierton will er nicht angreifen, er wehrt
sich mit Schreien und Flucht. Er kann nicht hammern, bohren, sägen,
399 A. Abhandlungen.
schneiden. Gibt man ihm eine Säge in die Hand, dann haut er da-
mit wie mit einem Beil. Beim Hammern versucht er wenigstens zu
klopfen. Im Handfertigkeitsunterricht hat er in 4 Monaten noch nicht
einen Gegenstand gefertigt; er greift gar nicht zu; er wehrt sich gegen
jede Tätigkeit und Bewegung. Verflossenen Herbst sollte er seinem
Vater, der an der Bahn einen Gemüsegarten hat, bei der Kartoffel-
ernte helfen, er war aber nicht imstande, nach dem Beispiele der Ge-
schwister, die Kartoffeln vom Boden aufzulesen und in den Korb zu
werfen.
Im Schullokal fiel ihm sein Schulranzen auf die Füße; er blieb
stehen, schaute nicht zu Boden, räumte das Hindernis nicht aus dem
Wege, sondern mit Schmerzgebärden machte er uns auf seine trost-
lose Lage aufmerksam.
Vor geschlossener Tür fing er an laut zu schreien, statt selbst
aufzuklinken. — Sein Zehnuhrbrot hat er in der Hosentasche. Er
war nicht imstande, das Brot herauszuholen; er versuchte die ersten
4—6 Wochen, dasselbe von der vorderen Hosentüre aus zu erreichen,
brachte aber nur den unzugänglichen Hosensack ans Tageslicht. In
seiner Verlegenheit kam er dann aus seinem Platz gelaufen mit lauten
Ausrufen: meine Semmel! meinen Apfel! — Neulich waren wir auf
dem Spielplatz, er konnte keinen Reif zum rollen bringen, keinen Ball,
keinen Mitschüler fangen. Im Scherze zog ich ihm seine dicke, warme
Haube herunter bis über die Augen. Die Schule war aus, auf dem
Gange begegne ich dem Wallr., der wie ein Blinder tappt; er hat
seine Haube nämlich noch nicht in die Höhe geschoben.
Charakteristisch sind seine Stimmungen. Soll er etwas tun, kommt
etwas Neuartiges, Fremdes, bei lauten Geräuschen, langer Schuldauer,
Hunger, traten ihm Schulgenossen zu nahe, sieht er beim Schulschlusse
nicht sofort seine Mutter, so gerät er in einen erregten Affektzustand,
wobei er sich unbeschreiblich gebärdet, und der lange andauern kann.
Ist kein Anlaß zu einem Affekt gegeben, so beherrscht ihn dennoch
täglich eine äußerst schmerzliche Stimmung. Die ersten Wochen
zeigte er in der Schule nur die stärkste Unlust, obwohl er jeden
Morgen nicht ungerne zur Schule ging. In der Schule sprach er kein
Wort; plötzlich fing er an die Augen zu rollen, er verdrehte den
Arm und schlug gegen seine Zähne, wobei er brummte und grollte.
Er kümmerte sich um niemand, man konnte zwecks Beobachtung
seines Gebahrens einen Lehrer der Nachbarklasse holen, er ließ sich
nicht stören. Nach einigen Monaten hat sich die Unluststimmung
sichtlich gemildert, dafür trat die lustvolle Stimmung um so stärker
hervor. Er bekommt jetzt Lachanfälle, geht aus seinem Platz, macht
Egenberger: Psychische Fehlleistungen. 393
Sprünge, hält sich am Tisch und hüpft und lacht hell auf für sich.
Auch hier läßt er sich nicht stören, gibt auf Fragen nicht gerne Ant-
wort und lacht fort. Mitunter legt er sich in wohligster Stimmung auf
den Boden oder auf 2 Sitze und lacht voller Seligkeit.
Bei Fragen wiederholt er gerne das letzte Wort. In unserer
Klasse ist ein Stotterer, diesen ahmt er nach.
Faßt man seinen Zustand zusammen: so ergibt sich:
1. Niedere geistige Funktionen werden vollzogen, höhere nicht.
(Es fehlt Urteil, Zahl, Form usw.)
Sprache ist vorhanden. Stotterer ahmt er nach.
Fehler der Aktivität (Aufmerksamkeit, Wille, Handlung).
Unfähigkeit zu manueller Tätigkeit (Spiel, Arbeit, turnen, schreiben,
zeichnen, modellieren, praktische Verrichtungen). Es besteht
Apraxie, d. i. Unfähigkeit des Handelns. Das Tasten ist aber
nicht gestört.
5. Zu der Störung der Aufmerksamkeit, des Willens, des Handelns
tritt noch eine Gemütsstörung hinzu. (Altruistische Gefühle
hat er nicht; er freut sich, wenn andere Kinder sich wehe
tun oder wenn ihnen wehe getan wird; er äußert stark und
anfallartig Lust und Verstimmung.)
In diesem Falle handelt es sich sicherlich um eine schwerere
Geistesstörung. Nach längerer Beobachtung neigen die Psychiater
dazu, diesen Fall als Dementia praecox zu bezeichnen.
P m
Schrift eines moralisch Entarteten. (S. Tafel XI u. XII.)
Sechsjähriger Knabe: Sinnesorgane sind normal; die motorischen
Funktionen sind überaus leicht erregbar; er ist in ständiger, auffälliger
Bewegung, hüpft, bewegt Arme und Kopf. Die Schreibbewegungen
sind hastig und wenig präzis, auf die Einzelheiten achtet er nicht.
Recht schlampig sind auch die Turnbewegungen. Einigen Dingen,
z. B. den Zahlen, der Druckschrift, dem Schatten, der Landkarte
wendet er die größte Aufmerksamkeit zu, während er Eltern, Schwester,
Menschen, Tiere, gesellschaftliches Verhalten usw. ganz vernachlässigt.
Im Rechnen hat er aus sich selbst es zu ziemlicher Fertigkeit ge-
bracht; ebenso im Lesen und Schreiben von Druckschrift. Freilich
ist hier infolge Mangels an geordnetem Unterricht, die systematische
Ordnung und der folgerichtige Aufbau nicht vorhanden. Der Knabe
ist Ausländer, wechselt oft seinen Aufenthaltsort, lebt mit den Eltern
in Seebädern, Kurorten usw. Gedächtnis und Phantasie sind völlig
intakt. Die Kombinationsgabe außerordentlich entwickelt. Das Vor-
stellungsleben konnte der fremden Sprache wegen nicht untersucht werden.
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 26
394 A. Abhandlungen.
Sein Verhalten gab Eltern und Erziehern zu den stärksten Klagen
Anlaß. Mit überstarkem Willen setzt er seine Absichten und Wünsche
durch. Er widersetzt sich, opponiert lächelnd, tut mit Absicht Ver-
kehrtes und grübelt nach, wie es möglich wäre, eine Sache noch ver-
kehrter zu machen. Er schüttet Wasser auf die elegantesten Möbel,
schmiert Farbe auf Teppiche, versudelt Papier, Hefte, Bücher; ein
Fläschchen Kölnisches Wasser im Werte von 15 M gießt er auf ein-
mal aus; er schreibt auf die weiße Tischdecke.
Bei meinen Unterrichtsversuchen weigerte er sich, das zu tun,
wozu er keine Lust hatte. Dem Knaben mangelt ganz und gar
die Lenksamkeit, weshalb der Knabe trotz intellektueller Begabung
nur ganz geringe Fortschritte im Unterrichte machte. Selten, daß er
sich etwas zeigen und erklären ließ. Gezeichnetes und Modelliertes
aus meiner Hand zerriß und zerschlug er, ehe es noch vollendet war;
hatte ich noch Zeit, meine Sachen in Sicherheit zu bringen, dann griff
er mich an und suchte es mir zu entreißen.
Aus ähnlichen Gründen durfte man ihn nicht mit seiner drei-
jährigen Schwester, ein liebes und gesundes Kind, allein in einem
Zimmer lassen. Seiner Erzieherin machte er das Leben tatsächlich
sauer.
Seine Schrift (S. Tafel XI u. XI): Er soll n schreiben; er
schreibt aber Doppel-n, dann dreifaches und vierfaches n.
Er soll Keilstriche schreiben; plötzlich macht er absichtlich an
Stelle einer geraden Linie einen Bogen; in der folgenden Zeile ver-
sucht er ähnliches.
Er soll f schreiben; sofort sucht er mit Absicht das f verkehrt
zu machen.
r; hier wird ihm gesagt und gezeigt, daß die Striche eng bei-
sammen sein müssen; er tut absichtlich das Gegenteil; neuerdings
korrigiert, macht er es doppelt verkehrt. Die folgende Zeile schreibt
er dann manierlicher.
h; er schreibt absichtlich zunächst etwas anderes; mein gütliches
Zureden ist ihm gleichgültig.
f; meiner Aufforderung, für den Haken genügend Platz zu lassen,
kommt er in absichtlich übertriebener Weise nach.
sch; er vergrößert absichtlich; er hat dann Vorliebe, statt dem
Unterrichte zu folgen, Reihen von möglichen und unmöglichen Buch-
staben zu schreiben.
h; macht es absichtlich verkehrt; ebenso bei Apfel; obwohl er
vorher schon ganz hübsch dieses Wort schrieb.
r; er geht auf meine Aufforderung nicht ein.
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 395
o; das erstemal leidlich; der letzte Teil des o wird nun von
Buchstabe zu Buchstabe absichtlich verhunzt.
K; er will Schnörkel anbringen, ähnlich den Initialen in Büchern usw.
t; gibt einem Buchstaben plötzlich eine falsche Lage.
fui; hier sucht er vom u-bogen zum i-Punkt eine Verbindung
herzustellen. Das hat er sehr oft getan.
Gerne schrieb er bei Buchstaben oder Übungen jeden folgenden
größer, so daß er auf eine Schreibseite einen großen Buchstaben setzte.
Nahm ich ihm dann den Bleistift, dann begehrte er gewaltig auf,
suchte den Bleistift mir zu entreißen und verweigerte jede weitere
Tätigkeit.
F und M zeigen, wie er es wieder verkehrt machen will.
Auch den Ziffern beim Rechnen suchte er absonderliche und
verkehrte Formen zu geben.
Auch den Bleistift ruinierte er, wenn es ihm gefiel.
Auf meinen Rat wurde der Knabe in eine völlig neue, geeignete
Umgebung gebracht. Trotz mancher guten Seite seiner Intelligenz,
ist doch zu befürchten, daß der moralische Schwachsinn die gesunde
Entwicklung der Intelligenz ungünstig beeinflußt.
5. Die experimentelle Ermüdungsforschung.
Von
Marx Lobsien, Kiel.
(Fortsetzung.
b) Die Rechenmethode,
die sich noch weiter dem schulgemäßen Betriebe annähert, wurde zu-
erst von Burgerstein zur Messung der Ermüdung angewendet. Er
benutzte vier Reihen einfacher Additions- und Multiplikationsaufgaben,
die schriftlich gelöst werden mußten. Die Einzelarbeit konnte in etwa
zehn Minuten geleistet werden. Zwischen jede Rechenleistung von
zehn Minuten schob Burgerstein eine Pause von fünf Minuten ein,
während derer das Einsammeln der gelösten Aufgaben erfolgte. Die
erste Additionsaufgabe wurde in der Weise gebildet, daß die Ziffern
von 0 bis 9 willkürlich in buntem Wechsel nacheinander aufge-
schrieben wurden. Daneben wurde eine ähnliche zweite Ziffernreihe
gesetzt, so daß eine zwanzigstellige Zahl entstand. Der zweite Sum-
mand kam auf ähnliche Weise zustande. Beispiel:
27583 140693501 894726
+ 69413258070 769412837
26*
396 A. Abhandlungen.
Durch Umstellung der Ziffern können dann weitere Additions-
aufgaben gebildet werden. Die Multiplikationsaufgaben wurden so
konstruiert, daß der obere Summand der voraufgegangenen Additions-
aufgabe als Multiplikand, die Zahlen von 2 bis 6 als Multiplikatoren
Verwendung fanden:
27583140693501894726
x 2
Eine Reihe Forscher hat diese Methode mit geringen Abweichungen
angewendet, wie Friedrich, Ebbinghaus u.a. Manche verlängerten
die Arbeitszeiten auf eine halbe oder volle, ja auf mehrere Stunden,
wie Schulze. Schulze benutzte lediglich einfache Addieraufgaben,
wie 5+2, 4+5 usf. Andere ließen kurze Rechenversuche erst nach
einer oder mehreren Unterrichsstunden ausführen, um an der Qualität
und Quantität der gelösten Aufgaben den Grad der Ermüdung zu er-
kennen. — Eine tiefgreifende Veränderung nahm Kemsies vor. Das
eben skizzierte Verfahren war ihm zu einseitig und mechanisch,
darum gestaltete er es so um: Die Rechenarbeiten wurden aus dem
Klassenpensum für Kopfrechnen, das eben absolviert war, gewählt,
stellten also keine starke Belastung her. Das Arbeitsstück enthielt
zwölf gemischte Exempel aus dem Zahlenkreis von 1—1000; die Ab-
wechselung war nach dem Verfahren einer Lehrstunde gedacht. Als
Beispiel diene folgendes:
417 +338 Überschreiten eines Zehnerraums
234 + 592 r „ Hunderterraums
345 + 479 A beider Räume
563 — 328
725 — 453 ù wie oben
843 — 658
74,8 Multiplikand unter 100; Multiplikat. über 5
139,5 „ zwischen 100—200; 3
247,3 f. „200—249; 2
291:7
385:8 Divid. zwischen 201—499, Divisor 6—9
476:6
Drei zusammenhängende Aufgaben lagen immer in demselben
Horizont; die Reihenfolge wurde streng innegehalten. Die Rechen-
stücke wurden mitten in die verschiedenen Lehrstunden gelegt, um
zu verhindern, daß durch Ungeduld, Unlust oder gesteigerten Arbeits-
antrieb, der sich gegen das Ende der Stunde leicht einstellt, ein
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 397
störender Faktor hineinkomme. Die einzelne Versuchsdauer betrug
zwölf Minuten. Zur Kompensation wurde an jedem Versuchstage der
Rechenunterricht um den Betrag der gesamten Versuchszeit gekürzt.
Für jede Einzelaufgabe wurde eine Minute Arbeitszeit angesetzt.
Innerhalb jeder Aufgabe folgten aufeinander: 1. Vorsprechen derselben
durch den Lehrer. 2. Zweimaliges Nachsprechen derselben durch die
Schüler im Chor (für beides waren etwa 10 Sekunden notwendig).
3. Lösung in durchschnittlich etwa 20 Sekunden. 4. Niederschrift der
Resultate. 5. Pause von 11/,—2 Minuten.
Bei allen diesen Versuchen haben wir es noch nicht mit soge-
genannten fortlaufenden Arbeitsmethoden in strengerem Sinne zu
tun. Die fortlaufende Rechenmethode hat vor allem Kraepelin
und seine Schule ausgebaut. Die Versuche werden in der Weise an-
gestellt, daß die Versuchsperson in eigens dazu gedruckten Heften
ohne Unterbrechung längere Zeit, nach Umständen mehrere Stunden
lang, die untereinander stehenden Ziffern addiert. Wenn die Summe
bis über hundert gestiegen ist, werden die Hunderter einfach fort-
gelassen, und zu dem Überschuß an Einern wird weiter hinzuaddiert.
Alle fünf Minuten ertönt ein Glockensignal. Sobald das geschieht,
macht die Versuchsperson einen Strich hinter der zuletzt addierten
Zahl. Nach Ablauf des Versuchs läßt sich dann sehr leicht feststellen,
wieviele Zahlen in je fünf Minuten von den einzelnen Personen addiert
wurden. Die Lösung der Aufgaben geschah in den ersten Unter-
suchungen der Kraepelinschen Schule lediglich im Kopfe und nicht
schriftlich; man verzichtete also auf eine genauere Kontrolle, vor
allem ließ man etwaige Fehler unberücksichtigt. Erst später fand eine
schriftliche Fixierung der Resultate statt. (In der Ambergschen Arbeit
im ersten Bande der »Psychologischen Arbeiten« wird zwar die Richtig-
keit geprüft, aber erst in der letzten Abhandlung desselben Bandes
von Rievers und Kraepelin wird ausdrücklich erwähnt, daß schrift-
liche Aufzeichnung stattgefunden habe S. 656; aber vergl. dazu
Miesemer.) Hernach fanden, entsprechend der jeweiligen Absicht des
Experimentators, methodische Veränderungen bezüglich der Zeitlage
statt. Man ließ entweder eine bestimmte Zeit — 5 Minuten — hin-
durch addieren, legte aber zwischen die beiden Arbeiten Pausen von
verschiedener Länge in der Absicht, deren Wirkung zu erkunden,
oder man richtete die Aufmerksamkeit auf die Wirkung längerer
Arbeitszeiten.
c) Die Diktiermethode
ist ihrer ganzen Eigenart nach darauf angewiesen, größere Arbeiten
als Probeleistungen für die Ermüdungsmessungen zu verwenden. Der
398 A. Abhandlungen.
erste, der diese Methode in diesem Sinne zur Anwendung brachte,
ist der russische Psychiater Sikorsky. Seine Originalarbeit ist, nach
Altschul, unbekannt, wohl überhaupt nicht veröffentlicht worden, wir
kennen sie nur nach seiner ausdrücklich als Extrait bezeichneten
Mitteilung in den Ann. d’hyg. publ. Sie hat den Anstoß zu allen
weiteren Ermüdungsmessungen gegeben. Sikorsky stellte im ganzen
24 Einzelversuche an, teils des Morgens vor Beginn, teils abends am
Schluß des Unterrichts. Er erwähnt nichts, was Höpfner ihm zum
Vorwurfe macht, über den Umfang und den Text seiner Diktate.
Wohl findet sich eine gesonderte Wertung der Fehler als Versehen
und eigentliche Fehler des Wissens und der Aufmerksamkeit. Die
Fehler des Wissens ließ er mit gutem Grunde außer Beachtung. Er
konstatierte eine Zunahme der Fehler in den nachmittäglichen Diktaten
gegenüber den am Vormittage angefertigten von 33 /,.
Höpfner ließ in einer Schulklasse von fünfzig Knaben im Alter
von etwa neun Jahren zum Zweck der Versetzung ein Prüfungsdiktat
anfertigen. Für dasselbe kamen neunzehn Sätze in Betracht, die im
Durchschnitt je dreißig Buchstaben enthielten. Jeder Satz wurde ein-
mal vorgelesen, dann einmal von einem Schüler wiederholt und schließ-
lich noch einmal von der ganzen Klasse. Darnach hatten die Kinder
den Satz aus dem Gedächtnis niederzuschreiben. Die Arbeit dauerte
etwa zwei Stunden. Als Höpfner hernach bei der Korrektur die er-
heblich größere Zahl der Fehler in der zweiten Diktatstunde gegen-
über der ersten auffiel, kam er auf den Gedanken, das »Diktat psy-
chologisch zu verwerten«e. Innerhalb der ersten Diktatstunde beob-
achtete er ein stetes Sinken der Fehlermenge von Satz zu Satz, inner-
halb der zweiten aber eine Zunahme — wenn auch in starken Schwan-
kungen — vom Doppelten auf das Siebenfache. Wertvoll ist an der
Arbeit Höpfners die scharfsichtige und außerordentlich interessante
Fehleranalyse, die deutlich die Ermüdungswirkung in dem Sinne
widerspiegelt, daß die später erlernten Wörter, grammatikalischen und
sprachlichen Bildungen, also: die jüngeren und noch nicht in dem
Umfange gefestigten Assoziationen, der Ermüdung weitaus geringeren
Widerstand entgegenzusetzen vermögen, daß ihre Reihen zuerst ge-
lichtet werden. — Friedrichs Untersuchungen mittels der Diktier-
methode unterscheiden sich formell von der Höpfnerschen. Er
stellte mehrere Diktate zusammen, von denen jedes zwölf Sätze mit
annähernd gleicher Buchstabenzahl enthielt und reklamierte für die
einzelnen Sätze und die ganzen Diktate gleiche Schwierigkeitsgrade.
Inhaltlich und formell boten die Diktate den Schülern nichts Neues;
jedes schwierige Wort war im voraufgegangenen Rechtschreibeunter-
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 399
richt schon besprochen, buchstabiert und geschrieben worden. Die
Versuche wurden angestellt: 1. vor der ersten, 2. nach der ersten
vormittäglichen Schulstunde, 3. nach der zweiten vormittäglichen Stunde;
zwischen der ersten und zweiten lag eine Pause von acht Minuten,
3.a) nach denselben Stunden aber ohne Erholungspause, 4. nach drei
vormittäglichen Schulstunden; zwischen der ersten und zweiten, zweiten
und dritten Stunde, je eine Pause von fünfzehn Minuten, 4.a) nach
drei vormittäglichen Schulstunden; eine fünfzehnminutige Pause nur
zwischen der zweiten und dritten Stunde, 4.b) nach drei vormittäglichen
Schulstunden ohne Pause, 5. vor der ersten nachmittäglichen Stunde,
6. nach derselben, 7. nach der zweiten mit einer Pause nach der
ersten von fünfzehn Minuten, 7.a) nach der zweiten nachmittäglichen
Unterrichtsstunde ohne Pause.
E. Kombinierungen.
Neben der Benutzung der Methoden für sich allein besteht noch
die Möglichkeit der Kombinierung zweier oder mehrerer. Solches
Verfahren hat den Vorzug, daß es den Prüfling von mehreren Seiten
anfaßt. Die Anwendung nur einer Methode ist und wirkt einseitig,
schon dadurch, daß dann mit der Möglichkeit gerechnet werden muß,
daß für die gesonderte Arbeit Sonderbegabungen der Prüflinge
fördernd oder — sofern sie auf anderm als dem Prüfungsgebiete
liegen — hemmend, auf jeden Fall aber für den Versuch störend
wirken. Eine Vereinigung mehrerer Methoden auf dieselbe Gruppe
von Versuchspersonen ist sehr wohl geeignet, solchen Störungen er-
folgreich entgegenzutreten.
Nicht nur in abwehrendem Sinne und im Interesse zuverlässigerer
Ergebnisse würde ein derartiges Kombinieren von besonderem Werte
sein — es würden ganz neue Einblicke zu erwarten sein in das Ver-
halten einzelner physischer und psychischer Leistungen gegenüber den
Ermüdungswirkungen untereinander. Ich denke unter andern an die
Ermüdungsverhältnisse zwischen der leiblichen und geistigen Leistungs-
fähigkeit des Individuums, an die Entscheidung der Fragen: Gehen
sie parallel oder divergieren sie, bewegen sie sich in Wellen mit
parallel oder entgegengesetzt lagernden Kulminationspunkten? usf.
Oder man überlege die geistigen Leistungen: Welche von ihnen halten
der Ermüdung am ehesten Stand, welche unterliegen ihr schneller
und dauernder? u. a. Sicherlich werden sich hier individuell ver-
schiedene Verhaltungsweisen aufzeigen und zu Typen vereinigen lassen
— Leistungstypen —, die für die praktische Pädagogik von nicht zu
unterschätzendem Werte sein möchten.
400 A. Abhandlungen.
Solche Überlegungen sind aber nur dann möglich, wenn die Be-
obachtungsbasis eine einheitliche ist, d. h. dieselben Prüflinge einer
umfänglichen experimentellen Beobachtung unterworfen werden. Eine
Zusammenordnung vun Ergebnissen, die an verschiedenen Versuchs-
personen, zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Bedingungen
gewonnen wurden, zu einem einheitlichen Ganzen ist nicht statthaft,
denn sie bietet für sichere Schlußfolgerungen keine hinreichend ge-
festigte Grundlage. Dazu kommt dann noch insbesondere, daß das
heute vorliegende Beobachtungsmaterial vielfach noch so unsicher, so
widersprechend ist, daß schon aus diesem Grunde eine gewaltsame
Vereinigung sich verbietet.
Die Kombinierung stößt aber auf mancherlei Schwierigkeiten.
Diese sind teils versuchstechnischer Art. Einerseits würden sie einen
großen Aufwand an Kraft und an Zeit beanspruchen, über die schwer-
lich zu verfügen sein wird. Möglich, daß sich eine Reihe von
Forschern bereit finden würden, sich in den Dienst der Sache zu
stellen, aber es würde schwer halten, Prüflinge in wünschenswerter
Menge zu gewinnen. Soweit es sich um Schüler handelt, würden
Laboratoriumsversuche zu leicht wegen ihrer monotonen Exaktheit,
Langeweile, Überdruß wecken, andrerseits müßten sie auf Zeiten ver-
legt werden, die für die Hauptarbeit des Schülers gewohntermaßen
nicht in Frage kommen u. a. Die Schulversuche würden aber ent-
weder einen großen kostspieligen Aufwand an Apparaten notwendig
machen oder so viel Zeit beanspruchen, daß sie im Interesse eines
geordneten Unterrichts nicht zugelassen werden könnten.
Zwar könnte man sich dadurch einen Ausweg schaffen, daß die
Anwendung verschiedener Methoden auf verschiedene korrespondierende
Tage verteilt würde. Damit würde man aber mancherlei Schwierig-
keit in Kauf nehmen müssen, es würde die Wahrung des cetera paria,
die schon bei Anwendung derselben Methode so große Mühe macht,
in noch weit höherem Maße gefährdet sein.
So erklärt sich, daß relativ wenig und wenig umfangreiche Kombi-
nierungen vorliegen. Ich mache nur auf das kombinierte Verfahren
Telgatniks aufmerksam, über das er in Burgersteins Handbuch
der Schulhygiene berichtet. Seine Prüflinge waren 25 Volksschüle-
rinnen, die vier Versuchen unterworfen wurden. 1. Die Aufmerksam-
keit wurde dadurch geprüft, daß den Mädchen die Aufgabe gestellt
wurde, in ihrem Lesebuche eine Seite aufzuschlagen und die Buch-
staben eines jeden der ersten fünf Zeilen zu zählen. Die fünf ein-
zelnen Summen notierten sie auf einer bereitgehaltenen Schreibfläche.
Dann mußten sie im Kopfe Additionen und Subtraktionen vollziehen;
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 401
die Aufgaben, mehrere Paare zweistelliger Aufgaben, waren an die
Wandtafel geschrieben. Das Resultat notierten die Prüflinge ebenfalls.
Als zweite Aufgabe stellte sich Telgatnik, die Merkfähigkeit zu
prüfen, und zwar handelte es sich dabei um das unmittelbare Behalten.
Hier war das Verfahren folgendes: Sechs ein- bis dreisilbige Wörter
und je vier ein- bis zweistellige Zahlen wurden entweder von dem
Versuchsleiter vorgesprochen und von den Schülerinnen im Chor
wiederholt — oder vorgeschrieben, gezeigt und weggelöscht. Im un-
mittelbaren Anschluß an die Darbietung mußten die Versuchspersonen,
was sie gesehen und im Gedächtnis festgehalten hatten, auf das Papier
niederschreiben. Nun wurde das Wiedererkennen, das Sicherinnern
geprüft. Zu diesem Zwecke erhielten die Kinder Blätter, die be-
schrieben waren mit 100 Wörtern und 50 Ziffern. Unter den Ziffern
und Wörtern befanden sich auch diejenigen, die bei der Prüfung der
Merkfähigkeit benutzt worden waren. Die Schülerinnen mußten die-
jenigen unterstreichen, die sie glaubten bei den voraufgegangenen
Versuchen gehört oder gesehen zu haben. — Diese vier Teilprüfungen
wurden vor und am Schluß des Unterrichts, der von 9—2 Uhr dauerte,
und außerdem noch zweimal während desselben ausgeführt. Einen
Mittelwert, den Telgatnik aus allen vier Versuchen errechnete, be-
zeichnete er als Maßstab in doppeltem Sinne: einmal als solchen der
»Arbeitsfähigkeit« überhaupt, sodann aber auch für die Wirkung der
Arbeit, des Spiels, der Pause usf.
Wir sind am Ende einer Wanderung angelangt, deren Aufgabe
war, einen Überblick zu gewinnen über die Bemühungen, einen brauch-
baren Maßstab zur Wertung der Ermüdung zu erlangen. Ich hoffe,
daß weitaus die meisten und wertvollsten Bestrebungen dabei berührt
worden sind. Die große Fülle der Methoden drängt notwendig dazu
hin, nunmehr eine Prüfung ihres Wertes zu unternehmen, ihnen
kritisch zu begegnen. Ein Überblick über die Gesamtheit der Me-
thoden bewahrt am ehesten vor einseitiger Stellungnahme.
Drittes Kapitel.
Wesen der Ermüdung.
1. Allgemeine Bemerkungen.
Man will einen Maßstab gewinnen, den Grad der Ermüdung, oder,
durch den negativen Koeffizienten charakterisiert, das Maß der ver-
minderten Leistung zu bestimmen, sofern diese Verminderung ursäch-
lich geknüpft ist an die erfahrungsgemäß gegebene psychologische
Erscheinung der Ermüdung. Vom Gegebensein dieser Erscheinung
402 A. Abhandlungen.
überzeugen teils subjektive, teils objektive Merkmale. Die subjektiven
Merkmale sind aber die primären; sie werden mit den objektiven
Kennzeichen der Leistungsherabsetzung als ursächlich verknüpft, sie
erst prägen für die Veränderung als ursächlich das entscheidende,
charakteristische Merkmal: Ermüdung. Die Ermüdung ist immer
zunächst ein subjektives Erlebnis, das zumeist mit einem objektiv
erfahr- und nachweisbaren Effekt, nämlich dem der psychophysischen
Leistungsverminderung verbunden ist.
Sowohl der subjektive Tatbestand, den man als Ermüdung be-
zeichnet, wie auch der ihm zugeordnete äußere, objektive, ist sehr
komplexer Natur, und daraus erklärt sich, daß die Zuordnung nur
sehr schwer eindeutig gelingen will. Zwar nicht, wenn man sich mit
der allgemeinen, als sicher bestätigt geltenden Erfahrung begnügt: Der
psychische Erfahrungskomplex, den wir Ermüdung zu nennen gewöhnt
sind, und eine gegen eine gewisse Norm herabgesetzte Leistung sind
zusammen gegeben. Diese Wahrheit ist so millionenfach beglaubigt,
daß man jeglicher, gar mühsamer Forschung entraten könnte — so-
fern jene ausreichte! Aber nicht nur ein theoretisches Interesse, das
eine analytisch-synthetische Bearbeitung des Ermüdungsphänomens
zum Gegenstand hat, also ein vorwiegend psychologisches und physio-
logisches Interesse, auch ein praktisches erfordert dringlich ein ge-
naueres Studium der Zuordnung der Ermüdungskomponenten zu den
objektiven Erfolgen, eine genauere Erforschung der kausalen Ver-
hältnisse einerseits in der Absicht prophylaktisch wirken zu können,
Schädlingen zu begegnen, andrerseits um ratend, helfend, in allge-
meinerem Sinne pädagogisch einzuwirken, um solche praktische Arbeits-
methoden zu empfehlen, die gesunde, optimale, d. h. mit möglichst
geringem Kraftaufwande wertvolle Leistungen dauernd zu ermöglichen.
Denn tief greift das Problem der Ermüdung in alle praktische Be-
tätigung ein. Nicht nur der Arzt, nicht nur der Pädagoge, sondern
auch der Nationalökonom ist lebhaft daran interessiert.
Diese theoretischen und praktischen Interessen aber gehen viel
weiter, als daß sie sich mit der allgemeinen Vulgärbeobachtung be-
gnügen könnten. Sie müssen messend an das Problem der Ermüdung
herantreten. Das würde offenbar dann auf nicht große Schwierig-
keiten stoßen, wenn die subjektive Ermüdung ein genau abstufbares
Maß an die Hand zu geben vermöchte, d. h. die dem ermüdeten
Subjekt bewußten Empfindungs- und Vorstellungskomplexe. Das ist
aber keineswegs der Fall; sie sind höchstens zu werten als Signale,
daß der Zustand der Ermüdung sich subjektiv bemerkbar mache,
sonst aber so vielfach determiniert, daß sie über den tatsächlichen
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 403
Stand der Leistungsfähigkeit oft nur täuschen. Die Beziehung zwischen
der Gefühlslage und den in Frage kommenden tatsächlichen psycho-
physischen Zuständen ist nicht eindeutig; der Wille vermag sogar
umdeutend einzugreifen. Das Gefühl der Müdigkeit kann sich be-
merkbar machen, während tatsächlich noch, oft gar recht bedeutende
— Leistungsfähigkeit vorhanden ist, und umgekehrt weiß man, daß es
sich nicht einstellt, trotzdem die Arbeit stundenlang fortgesetzt worden
ist. Dazu ist die jeweilige Stimmung nicht ohne Einfluß. Der Zage,
Gedrückte wird viel eher von dem Gefühlskomplexe gepackt, den wir
gewohnt sind, Unlust oder Müdigkeit zu nennen. Die Angst, die Ge-
fahr beflügelt die Kräfte und vermag Leistungen zu forzieren, die
hernach, bei ruhiger Beurteilung, Staunen und Verwunderung erregen.
Mancherlei Nahrungs- und Genußmittel vermögen das Gefühl der Er-
schlaffung zu verscheuchen oder künstlich zu erzeugen. Typische
Eigenart mancher Arbeiter ist, daß sie zu Beginn der Arbeit oft müh-
sam ein Trägheitsmoment zu überwinden haben, daß ihnen die Ein-
stellung auf die Arbeit also nur schwer gelingt, während sie hernach,
wenn sie »im Zuge sind«e, große, durch kein Ermüdungsgefühl ge-
trübte Leistungsfähigkeit an den Tag legen. Im Gegensatz dazu stürzen
andere mit einem Übermaß von Optimismus auf die geforderte Arbeit
und nach kurzer Zeit stellt sich das hemmende Gefühl der Unlust
mit steigender Wirkung ein. Das subjektive Ermüdungsgefühl ist also
ein durchaus trüglicher Maßstab und für sich allein, unkontrolliert
und unkorrigiert, völlig unbrauchbar, die Ermüdung eingehender zu
werten. Kein Wunder, daß, solange man sich auf dieses allein ver-
ließ, so widersprechende Meinungen sich hervordrängten, so wenig
Zuverlässiges über die Ermüdungswirkungen in den praktischen Er-
scheinungsformen zu finden war. Man mußte mit allen Mitteln danach
trachten, objektive, von der Persönlichkeit möglichst unabhängige,
Methoden anzuwenden. Man mußte danach trachten, unter den Er-
müdungssymptomen solche aufzufinden, die nicht einseitig unter der
Wirkung des täuschenden Ermüdungsgefühls stehen, vielmehr solch
gewisse Unabhängigkeit und Konstanz aufweisen, die eine zuverlässigere
Vergleichsmöglichkeit und Meßbarkeit gestatten. Man mußte ein be-
stimmtes Bezüglichkeitsverhältnis, eine Korrelation zwischen der
tatsächlichen Ermüdung und gewissen Symptomen von so eindeutigem
Werte suchen, daß unter allen Verhältnissen und Umständen die
Symptome unverfälscht blieben und — ihre genaue quantitative Ver-
änderlichkeit behielten. Wir werden hernach erfahren, wie man sich
diese Veränderlichkeit und die tatsächliche Ermüdung der Abnahme
der Leistungsfähigkeit als in geradem Verhältnis zueinander stehend
404 A. Abhandlungen.
von vornherein dachte; wir werden weiter sehen, daß für bestimmte
Symptomenreihen diese Annahme ein Vorurteil bedeutet, daß nicht
eine stete quantitative Abnahme für die Entstehung und das Vor-
handensein von Ermüdung charakteristisch ist; wir werden weiter
sehen, daß aber für die Wertung der angewandten Methode dieses
Vorurteil vielfach von verhängnisvoller Bedeutung gewesen ist.
Es möge zwischenhinein bemerkt werden, daß das Bestreben, den
Ermüdungsmaßstab solchen Symptomen zu entnehmen, die möglichst
weitab liegen von der Beeinflussung durch das Ermüdungsgefühl,
schwer an gewissen Gefahren vorbeifindet. Zunächst kommt man sehr
leicht dahin, solche Symptome zu wählen, die ganz an der Peripherie
der Ermüdungswirkung liegen, man wählt Zufälligkeitssymptome
in dem Sinne, als unter vielen andern eine nebensächliche Äußerungs-
weise verminderter Leistungsfähigkeit geprüft wird. Je näher das
Symptom dem Zentrum der Ermüdungswirkung liegt, desto einwand-
freier wird es von dieser — so sollte man annehmen — beeinflußt,
desto wertvoller muß es als Ermüdungsindex sein. Je weiter ab an
die Peripherie es liegt, desto vieldeutiger droht es zu werden. Aller-
dings, je zentraler die Lage des Symptoms, desto schwieriger, je weiter
peripher, desto einfacher und schneller gestaltet sich seine messende
Wertung. Diese Bequemlichkeit erkauft man aber damit, daß man
nicht genau die Ermüdung und das Symptom zuzuordnen imstande
ist. Man weiß nicht anzugeben, ob Überdruß, Langeweile, Unauf-
merksamkeit, Abgelenktheit, Stimmung u. v. a. oder die Ermüdung
allein in den quantitativen Symptomwandlungen zum Ausdruck kommt,
— genauer ausgedrückt: Weil dieses Moment der eindeutigen Zu-
ordnung eine Hauptschwierigkeit aller Ermüdungsmessungen ist, steht
man bei der Wahl peripherer Maßsymptome in besonders großem Maße
Hemmungen gegenüber — oder muß sie gänzlich unbeachtet lassen.
— Umgekehrt, je näher der Index dem Zentrum gewählt wird, desto
mehr sieht man sich darauf verwiesen, einzelne Seiten der Ermüdungs-
wirkung herauszugreifen und zu verfolgen. Damit ist andrerseits der
Vorteil verbunden, daß man eine genauere Analyse der begleitenden
psychophysischen Umstände zumeist wird vornehmen können.
Bevor man aber in Erwägungen eintreten kann über die Frage,
welchen Index man wählen wolle, muß das Wesen der Ermüdung
einer Betrachtung unterzogen werden. Die Ermüdung ist eine psycho-
physische Erscheinung, sie muß also nach beiden Seiten, der physio-
logischen wie der psychischen eine Würdigung finden. Dieser muß
die Frage vorangestellt werden, ob diese doppelte Erscheinungsweise
auf zwei oder auf eine Ursache zurückzuführen sei oder nicht. Selbst-
1. Erster Ungarischer Landeskoigreß für Kinderforschung in Budapest. 405
verständlich dürfen dabei keinerlei metaphysische Erörterungen platz-
greifen, sondern die Angelegenheit muß lediglich auf Grund der
Tatsachen entschieden werden, die die neuere Ermüdungsforschung
zutage gefördert hat. Die Frage lautet genauer formuliert so: Hat
die geistige Ermüdung ihre Ursachen in psychologischen,
die leibliche in physiologischen Vorgängen und Zuständen,
oder ist die leibliche, bezw. die geistige Zustandsänderung
das entscheidende für beide Formen der Ermüdung?
(Forts. folgt.)
B. Mitteilungen.
1. Erster Ungarischer Landeskongress für Kinder-
forschung in Budapest.
Mitgeteilt von K. G. Szidon-Budapest.
Anläßlich ihres zehnjährigen Bestehens veranstaltete die Ungarische
Gesellschaft für Kinderforschung einen Landeskongreß, der vom 17. bis
20. März in Budapest tagte. Die Einleitung dazu bildete die einen Tag
früher abgehaltene Jahresversammlung. Da wurde die Geschichte der Ge-
sellschaft vorgelegt. Wir erfuhren daraus, daß die Wirksamkeit der
Gesellschaft nunmehr die Erziehungsangelegenheiten des ganzen Landes
beeinflußt, 1300 Mitglieder zählt, im letzten Jahre 12670 Kronen ver-
wendete, ferner über drei Fachabteilungen, sieben Filialvereine, eine eigene
Monatsschrift, einen Buchverlag und zwei andere Unternehmungen verfügt,
endlich Laboratorien und ein pädologisches Museum besitzt.
In Anwesenheit des Unterrichtsministers, zweier Staatssekretäre, des
Bürgermeisters, der Vertreter verschiedener Institutionen un@unter zahl-
reicher Beteiligung des Landes (ungefähr 500 Mitglieder) eröffnete der
Präsident des Vorbereitungskomitees Ladislaus Nagy den ersten Landes-
kongreß für Kinderforschung.
I. Dozent Edmund Wessely-Budapest sprach über »Kinder-
forschung und Pädagogik«. Er betont mit Nachdruck den wissen-
schaftlichen Grundcharakter der Pädagogik, deren Bestimmung es ist,
Richtung und Gesetze der Entwicklung der Kultur zu studieren, sowie
ihre großen, wertvollen geistigen Schätze der Menschheit zugänglich zu
machen. Um diese heilbringenden Ziele zuverlässiger zu erreichen, müsse
eine kulturelle Organisation geschaffen werden, die es jedem Sterblichen
ermögliche, seine intellektuellen Ideale nach Lust und Bedarf vollauf
zu stillen.
Zwecks sicherer Verwirklichung dieser Arbeitsziele stellt er folgende
Anträge:
1. Die Gesellschaft möge behufs wissenschaftlichen Erkennens des
Kindes im Rahmen der bestehenden pädagogischen Fachsektion eine Arbeits-
406 B. Mitteilungen.
gemeinschaft gründen, in der Erfahrungsmaterial für die theoretische Päda-
gogik erbracht werden solle.
2. Der Kongreß trachte daher, daß das Unterrichtsministerium baldigst
an den Universitäten Lehrstühle für Kinderforschung und experimentelle
Pädagogik errichte.
3. Der Kongreß beschließe, daß Pädologie Gegenstand jeder Mittel-
schullehrerprüfung sei; künftige Seminarlehrer sollen sich zumindest zwei
Semester hindurch damit beschäftigen, und die Resultate der Kinder-
forschung mögen in allen Lehrerbildungsanstalten eingebürgert werden.
I. Universitätsprofessor Ludwig Lechner-Klausenburg hielt einen
Vortrag über »Kinderforschung und Medizin« und stellte nachstehende
Leitsätze auf:
1. Es sind alle diejenigen Eigenschaften von Ahnen, Eltern, des
Embryos, des Lebens vor der Geburt sowie des Kindesalters amtlich oder
vermittels der Schul- und Hausärzte zu erforschen.
2. Die körperliche und seelische Entfaltung ist durch parallele Ver-
gleichungen bis ans Ende der einander ablösenden Lebensalter zu studieren.
Daran müssen auch die Schulärzte beteiligt und physiologisch-psychologische
Laboratorien errichtet werden.
3. Es sind alle gesellschaftlichen Verhältnisse, welche die physische
und psychische Entfaltung hemmend, richtunggebend oder schädlich be-
einträchtigen, bei den zum Studium erwählten verlassenen, kranken,
sträflichen oder vor einem Beruf stehenden Kindern zu ergründen, wozu
die Patronagevereine, Jugendgerichte, persönlich mitarbeitende Kommissäre
und Ärzte mit herangezogen werden sollen. — Der Kongreß beschloß zu
beantragen, allenthalben Schulärzte anzustellen und Kinderforschung als
Kolleg der Mediziner einzuführen.
II. Über »Kinderforschung und Rechtspflege« referierte Uni-
versitätsprofessor Paul Angyal-Budapest. Drei Typen stellte er auf,
wonach das Kind mit der Justiz in Beziehung geraten kann: Im ersten
Fall bleibt des Kindes Individualität noch außer acht, da kommen nur
seine privatrechtlichen Ansprüche in Betracht. Im zweiten Verhältnisse,
wo es als Mittel der Gerichtsverwaltung, wie z. B. als Zeuge, vorkommt,
müsse bereits sein Seelenleben berücksichtigt werden. Jedoch vollends
unentbehrlich erweist sich die Kinderforschung in dem Kreise, wo das
Kind schon als Objekt der Justizpflege eine Rolle spielt, mithin die Frage
die Lösung heischt, welches Verfahren sträflichen Minderjährigen gegenüber
verwertet werde, um sie zu brauchbaren Mitgliedern der Gemeinschaft
machen zu können. Danach wurde zum Beschluß erhoben, Pädologie als
Kolleg für Rechtshörer zu erwirken.
IV. Kinderasylleiter Primarius Dr. Melchior Edelmann-Großwardein
beleuchtete das Thema »Kinderforschung und Kinderschutz«, und
unterbreitete folgende Anträge:
Da die Leiter, Ärzte, Lehrpersonen und Pfleger der Kinderschutz-
Institute nur im Besitz pädologischer Kenntnisse zielbewußt und erfolgreich
zu wirken vermögen, muß ihnen Gelegenheit geboten werden, sich in
diesem Wissenszweig auszubilden, oder, falls der Besuch eines solchen Lehr-
1. Erster Ungarischer Landeskongreß für Kinderforschung in Budapest. 407
kursus unerreichbar, ist es ihre Pflicht, sich der Disziplin schlechtweg
theoretisch durch Selbstbildung zu widmen.
Die Gesellschaft für Kinderforschung möge eine kurze und allverständlich
gehaltene »Unterweisung« herausgeben, aus der alle Angestellten der hierher
gehörigen Anstalten (Kinderasyle, Heime, Kolonien) die wichtigsten Methoden
der Kinderforschung erfahren, um sich derselben im Dienste des Kinder-
schutzes bedienen zu körnen.
V. Der Nachmittag am 17. war der Gruppe »die schaffende Arbeit
in Erziehung und Unterricht« vorbehalten. Den ersten Vortrag hielt
Bürgerschullehrerin L. Domonkos-Szegedin über »Die Psychologie
der schaffenden Arbeit«. Sie erhärtete, daß die heutige Arbeits-
methode der Ausgestaltung der Kinder kaum entspricht, hingegen die
Inanspruchnahme der Aktivität am sichersten zu geistiger Selbständigkeit
führt, mithin das rezeptivre Wesen zu einem produktiven gestaltet. Im
Unterricht kann die schaffende Arbeit als methodisches Prinzip in zwei
Formen Anwendung finden. Erstlich erleichtert sie die geistige Arbeit
der Erfassung, befriedigt der Kinder suchende und nachspürende Neigungen
und ist für den Massenunterricht von großer Bedeutung. Die zweite
Richtung bewährt sich als genetisches Hilfsmittel; dient zum Erwecken
der schöpferischen Tätigkeit und zur zuverlässigsten Entäußerung der
unbewußten Kräfte.
VI. »Didaktik der schaffenden Arbeit« behandelte Seminarlehrer
A. Urhegyi-Budapest. Er forderte:
Der Kongreß lasse überall den Arbeitsunterricht vorherrschen und
ändere das bisherige formalistische und verbalistische Lehrverfahren; dieser
Gedanke soll in den Fortbildungskursen für Lehrer in breitestem Rahmen
vorgetragen und immer durch Ausstellungen u. dergl. auf der Tagesordnung
gehalten werden.
VI. Als dritter sprach Direktor P. Guttenberg-Budapest über
»Schaffende Arbeit und Gesellschaft«. Die Jugend befaßt sich von
zarter Kindheit an gerne mit leiblichen Arbeiten. Tätigkeit ist das erste
Bedürfnis im Organismus des Kindes, anfangs ahnt es nicht die Tragweite,
doch während des Interessierens müsse es sich durch geeignete Anweisung
dessen bewußt werden, daß es die Arbeit zum Wohle seiner Neben-
menschen zu erledigen habe; dadurch steigert sich sein Vergnügen, aber
auch das soziale Gefühl wird zugleich genährt. Auf den höheren Stufen
der Volkserziehung seien jene Gesichtspunkte in der Wahl der Hand-
arbeit maßgebend, welche durch die Vorbereitung zum Berufe nahe-
gelegt werden.
VII. Karl Ballay sprach über »Die formelle Beschäftigung
des Kleinkindes«e. Nachdem er die Bedeutung, die biologische Grund-
lage und den Zweck der Beschäftigung erörtert, beantragte er: Die Aus-
bildung der Kleinkinderbewahrer basiere auf psychologisch - pädagogischer,
die Praxis aber auf pädologischer Grundlage. Deshalb müssen vorerst die
pädagogischen Lehrkräfte für Kinderbewahranstalten in den Methoden dieser
Wissenschaftszweige gründlich vorgebildet werden; die bereits wirkenden
Bewahrer aber sollen in ständigen Fortbildungskursen die nötigen Kenntnisse
408 B. Mitteilungen.
sich aneignen. Weiter möge mit Benutzung der neueren Prüfungen und
experimentellen Resultate ein Leitfaden herausgegeben werden, welcher
gemeinhin alle wichtigen Fingerzeige zu enthalten hätte.
IX. Am 18. wurden die Sitzungen fortgesetzt. Der Vormittag war
-der individuellen Erziehung gewidmet. Zuerst begann Dr. Ludwig Gockler-
Budapest mit dem Thema »Die Systeme des individuellen Unter-
richts in der Schule«. Als Hauptproblem gelte, im Rahmen des
Massenunterrichts einen angängigen individuellen Unterricht zu erreichen.
Die sich diesem Ziel entgegenstellenden Hindernisse wären derart zu über-
winden, daß die ungewöhnlich zurückbleibenden oder besonders rasch fort-
schreitenden Schüler in entsprechende Gruppen verteilt werden müßten,
diejenigen aber, die in verschiedenen Lehrgegenständen gleichmäßige Fort-
schritte machen, zusammen verbleiben können. Ferner sollten Versuche
angestellt werden, in etlichen Volks- und Mittelschulen die Zöglinge nach
dem Schlusse eines Semesters schon weiter aufsteigen zu lassen. Das
Jahressystem mitsamt dem Sitzenbleiben und Wiederholen falle gänzlich,
und an dessen Stelle trete das stufenweise Gruppensystem. Vorläufig
könnten schlechtweg gesonderte Klassen »für schwächere Schüler«, wie sie
bereits in einer hauptstädtischen Kommunal-Mädchenbürgerschule existieren,
eingerichtet: werden. Ferner sollten besondere Institute für geistig zurück-
gebliebene und krüppelhafte Kinder ins Leben gerufen werden.
X. Dozent Alexander Imre-Budapest sprach »Vom Notengeben«.
Dieses ist nur insofern von erziehlicher Wirkung, als es nicht bloß den
Fortgang im Lernen, sondern vielmehr des Schülers Individualität und
seine Lebensverhältnisse in Betracht zieht. In der Volksschule genüge es
vollends einfach zu bestimmen, daß der Zögling versetzt wird. In der
Mittelschule erscheint das Notengeben wegen des Fachsystems derzeit
unabwendbar, obwohl dessen schädlicher Einfluß auch hier aufs minimalste
zu reduzieren sei und höchstens drei Noten zulasse. Die Fleißzensur sei
unabhängig von dem allgemeinen Fortgang, die des Betragens wieder soll
nie mit einer Ziffer allein, sondern mit einer kurzen Charakteristik jedes
Schülers ausgedrückt werden. Bei jeglicher Klassifizierung müsse be-
stimmt werden, ob der Zögling seit der letzten Zensur einen Fortschritt
aufwies, und worin er sich offenbarte.
XI. Dozent Dr. Adolf Juba-Budapest behandelte »Die ärztliche
Untersuchung der Schüler«. Eine individuelle Erziehung kann nur
dort statthaben, wo ein gehörig vorgebildeter, pädagogisch geschickter
Schularzt die Gesundheit stets mit wachsender Aufmerksamkeit verfolgt.
Als Mitarbeiter in der Schulhygiene müssen die Lehrpersonen gleichfalls
eine entsprechende Schulung genossen haben. Deshalb ist es notwendig,
eine systematische ärztliche Untersuchung mit Vermerkung und Mitteilung
aller Gesundheitsdaten allerorts einzubürgern. Die Arbeit kann, wo ein
Schularzt unmöglich ist, von Gemeinde- oder Kreisärzten erledigt werden.
Sowohl die Ärzte als auch die Lehrer müssen während des Studiums in
Schulgesundheitslehre Ausbildung erhalten. Ferner müßte angebahnt werden,
die geistigen Fähigkeiten der Zöglinge einer psychologischen Prüfung unter-
ziehen zu können.
1. Erster Ungarischer Landeskongreß für Kinderforschung in Budäpest. 409
XI. Die »Schulen nervöser Kinder« beleuchtete Dr. J. O.
Vertes-Budapest. In der seit 4 Jahren bestehenden Staatsschule für
nervöse Kinder befinden sich zwei Schülerkategorien, und zwar Bürger-
schüler und Gymnasiasten vereinigt. Daß dies beiden hinderlich ist, be-
weisen die gemachten pädagogischen Erfahrungen. Auf die guten Schüler
wirkt drückend die langsame Auffassung und das linkische Verhalten der
schwächlichen, die allmählich ihr geistiges Zurückbleiben bemerken und
schließlich nur entmutigt und natürlich mit weniger Erfolg ihren Pflichten
nachzukommen vermögen. Dieser auffallende Unterschied läßt sich auch
im Wort- und Vorstellungsschatz auf Grund der schriftlichen Aufgaben
und Zeichnungen nachweisen. Vortragender wünschte deshalb die heutige
Lehr- und Erziehungsanstalt für nervöse Kinder in zwei Institute zu
teilen. Da die Schule zumeist von Gymnasiasten (33 °/,) besucht wird,
müßte in erster Reihe für diese gesorgt werden.
XII. Über »Hilfsschulen« berichtete Direktor Mathias Eltes-
Budapest. Er gab einen Überblick über die Entstehung, Verbreitung und
Organisierung der Hilfsschulen, dann über die Ausmusterung, Aufnahme,
Erziehung, Unterricht und Weiterfortbildung der Schwachbefähigten ; endlich
besprach er deren Lebensberuf, die gesellschaftlichen Pflichten, die Rolle
der Lehrer und Ärzte, sowie die üblichen Einwände und deren Kritik.
Überall. wo die Einwohnerzahl 10 000 übertrifft, sollen Aushilfsklassen, in
bevölkerten Städten aber Hilfsschulen für schwachbefähigte Schüler eröffnet
werden. Für die schwerer belasteten geistig minderwertigen Kinder mögen
auf verschiedenen Plätzen des Landes mit Landwirtschaft verbundene ge-
schlossene Beschäftigungsanstalten errichtet werden, wo die Unglücklichen
zeitlebens eine Zufluchtsstätte finden könnten.
XIV. Ein Referat »Individualitäts-Charakterblätter« er-
stattete Seminaroberlehrer Ernst Laszczik-Großwardein. Der Lehrer
vermag ohne Individualisation und ohne Umformung des Lehrplans sein
Ziel nicht zu erreichen. Es helfen ihm die Charakterblätter über viele
Schwierigkeiten hinweg, zumal diese geeignet sind, die Masse der Be-
obachtungen in Evidenz zu halten, ferner den Entwicklungsgang der
Einzelnen für die Schule, ja das Leben und vielleicht sogar die Justiz bei
wissenschaftlicher Diskretion aufzubewahren. Deshalb rät Vortragender,
der Kongreß lasse Individualitäts-Charakterblätter verfassen und überreiche
sie allen Lehr- und Erziehungsanstalten mit der Bitte, diese nach An-
weisung zu benützen.
XV. Im Anschluß daran präsentierte Bürgerschullehrer Béla Pataki-
Budapest ein »Soziales Stammblatt«, in ‚welchem 16 alle Lebens-
verhältnisse des Schülers betreffenden Fragen verzeichnet sind.
XVI. Der letzte Nachmittag war dem Thema der »sittlichen
Welt der Kinder« gewidmet. Dazu ergriffen mehrere Redner das
Wort. Zunächst Schulleiterin Ir&ne Szäsz-Budapest über »Das sitt-
liche Leben des Kindes«. Sittlichkeit heiße Uneigennützigkeit.
Grund der Sittlichkeit sei das sittliche Gefühl. Sie besprach weiter sitt-
liches Denken und sittlichen Charakter, wie auch die Frage, ob der sittliche
Unterricht berechtigt sei, und weiter den falschen Weg der sittlichen Er-
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 27
410 B. Mitteilungen.
ziehung. Die Handlungen des ganz kleinen Kindes dürfen in sittlicher
Beziehung nicht in Betracht kommen. Die erste Lüge zeugt nicht von
sittlichem Verfall, sondern ist ein Anzeichen der geistigen Entfaltung.
XVIIL Dr. Margarete Dösai-R&öv&6sz-Budapest behandelte »Die
sittlich verwahrlosten Kinder vonbiologischem und psycho-
logischem Standpunkte«. Sie umschrieb eingehend den Begriff der
Verwahrlosung, wie auch das Wesen des Übels und die Formen der Er-
scheinung. In eine Gruppe reiht sie die geistig Schwächlichen ein, bei
denen die Teilerscheinung der Gefühlsveränderung für die Minderwertigkeit
des ganzen Individuums deutlich spreche, und die ihre regelwidrigen
Handlungen gewöhnlich als Werkzeuge Erwachsener ausüben. Diese vermag
die Heilpädagogik sowohl körperlich als geistig ins richtige Geleise zurück
zu bringen. Zur zweiten Gruppe gehören die geistig Unruhigen, die inter-
essanter, wertvoller aber auch gesellschaftlich gefährlicher und schwerer
erziehbar sind. Bei diesen müsse die eigentliche individuelle Arbeit ein-
setzen, hierbei können die verschiedentlichsten exakten psychologischen
Kenntnisse nicht minder die psychoanalytischen Methoden nicht umgangen
werden. Nicht die Unterdrückung oder die gewalttätige Verhinderung der
Gefühle, vielmehr allein deren Ableitung darf das richtige Verfahren sein;
denn lediglich auf diese Weise erlangt das Kind sein Recht, Freude zu
genießen, ohne anderen schaden zu müssen. Immerhin könnten hier-
bei Beobachtungsanstalten und Fürsorgeheime von größtem Nutzen und
Heil sein.
XVII. Über »Die äußern Ursachen kindlicher Verwahrlosung«
sprach zuletzt Bezirksrichter Dr. E. Kärmän-Erzsebetfalva. Bei Kindern
müsse die Gesellschaft eine solche Ausgestaltung erhalten, daß das heran-
wachsende Individuum auch mit minderwertigem Selbstbewußtsein hinein
gelangen könne. Der Mangel einer derartigen Organisation ist die Ursache
der Verlotterung. Äußerlich wird diese also durch eine materielle oder
sittliche Verlassenheit und auch durch die Verfehlungen des Kindes ver-
ursacht. All dem vorzubeugen und die Verbesserung, das gerichtliche
Verfahren sowie das Mitwirken der Allgemeinheit sind die gewöhnlichen
kriminalätiologischen Ursachen. Die Notwendigkeit der gesellschaftlichen
Organisation die Vereinigung der gesondert wirkenden Institutionen, endlich
die Teilnahme der Gesellschaft in der Verwaltung ermöglichen, den Ursachen
der Verwahrlosung rechtzeitig vorzubeugen.
XIX. Den Abschluß der Vorträge bildete der von Dr. Lad.
Nögrädy-Budapest über »Kinderforschung und Kinderliterature.
Da die heutige Jugendlektüre fast durchweg auf geschäftlicher Basis be-
ruht, die Moral und den Geschmack des Kindes schlechthin verödet, ja
oft solche Leidenschaften gebiert, die das ganze Leben des Lesers ver-
giften, müsse Wandel geschafft werden, dessen erste Bedingung eine
unparteiische vertrauenswürdige Kritik wäre. Ein solch kritisches Forum
müsse errichtet werden. Diese Körperschaft müßte jedwede Jugendarbeit
gründlich prüfen und über ihren Wert entscheiden. Diese Urteile könnten
durch die Monatsschrift »Das Kind« aber auch sonst in die Öffentlichkeit
gelangen und somit die kindliche Seele vor Schund und Schaden schützen.
2. Bitte betreffend städtische Heilkurse für Stotterer.
411
Allen Vorträgen folgten anregende Diskussionen und Debatten, doch
kann ich des zur Verfügung stehenden Raumes halber nicht alle Anträge
in vollem Wortlaute bringen, möchte aber meinerseits schon anderen
Ländern zuliebe folgender Bemerkung nicht entraten. Der Kongreß soll
die Regierung ersuchen, eine eigene, selbständige Pädologische Fach-
sektion im Unterrichtsministerium zu errichten, die mit der Gesellschaft
für Kinderforschung engste Fühlung unterhalte und deren einzige Be-
stimmung es wäre, nicht nur den Lehrpersonen, vielmehr jedem, dem des
Kindes Wohl am Herzen liegt, wann immer mit Rat und Tat beizustehen.
Eine solche amtliche Fachabteilung wäre am geeignetesten, den grandiosen
Gedanken der Kinderforschung, von der fürwahr eine körperliche Er-
tüchtigung, ein geistiges Gedeihen und eine sittliche Gesundung künftiger
Generationen abhängt, allmählich aber zuverlässig seinem Ziele näher
zu bringen.
Vom 19.—21. veranstalteten Lechner, Ranschburg, Nagy, Szántó und
andere mehrere auf die Vorträge sich beziehende Demonstrationen.
Im Zusammenhang mit dem Kongreß fand eine Ausstellung für Kinder-
forschung statt, die vom 16. bis zum 23. März dauerte. Es waren aus-
gestellt Apparate, die bei psychologischen Experimenten und ärztlichen
Untersuchungen der Schüler Verwendung finden, ferner kinderhygienische
Sammlungen, jugendliterarische Produkte, die Schätze unseres pädagogischen
Museums, und endlich Spezialausstellungen moderner Erziehungsanstalten.
2. Bitte betreffend städtische Heilkurse für Stotterer.
Der Unterzeichnete bittet die Leser der Zeitschrift für Kinderforschung,
in deren Wohnorten städtische Heilkurse für Stotterer eingerichtet sind,
um Beantwortung folgender Fragen:
Seit wann sind die Heilkurse eingerichtet ?
Nehmen Knaben und Mädchen daran teil?
Wieviel Teilnehmer hat jeder Kurs?
Wieviel Stunden werden wöchentlich erteilt?
Wie lange dauert der Kursus?
Ist der Besuch obligatorisch oder fakultativ?
Besuchen die Kinder die Stunden regelmäßig oder unregelmäßig?
Aus welchen Schuljahren werden die Kinder dem Kursus zugewiesen ?
Wer leitet die Kurse?
Wieviel Prozent der Teilnehmer wurden geheilt?
Sind Schule und Haus über die Maßnahmen zur Heilung
des Stotterübels unterrichtet worden? Auf welche Weise?
(Vorträge, Flugblätter, Besuch der Stunden usw.).
12. Haben Sprachheilkurse für Leiter von Stottererheilkursen im Wohnort
des Lesers stattgefunden? Finden demnächst welche statt?
Für jede auch noch so kurze Antwort bin ich dankbar.
Leipzig-R., Lorckstraße 6. M. Steiner, Taubstummenlehrer.
OEIN TERN T
me
27*
412 B. Mitteilungen.
3 Lokale Hilfsverbände zur Lösung des
Schwachsinnigenproblems.
In Springfield, Mass., ist, wie wir » The Training School«, X1 (March
1913) entnehmen ein »Central Philanthropic Council Committee
for the Study of the Feeble-Minded« begründet worden. Wir teilen
die Leitsätze der neuen Organisation hier mit: Es ist ihr Zweck,
1. Fälle geistigen Defekts in der Gemeinde ausfindig zu machen und
aufzuzeichnen ;
2. Eltern und Vormünder zu veranlassen, besserungsfähige Fälle in den
öffentlichen Spezialschulen oder in privaten Schulen für atypische
Kinder oder in staatlichen Instituten für Schwachbefähigte zur Er-
ziehung unterzubringen ;
3. die Arbeitgeber zu interessieren für geistig defekte arbeitsfähige
unter Obhut stehende Personen ;
4. danach zu streben, alle nicht unter Obhut stehenden Schwachsinnigen
aus den (Gemeinden zum ständigen Schutz den staatlichen Ein-
richtungen zuzuführen ;
5. freiwillige Hilfskräfte zu gewinnen, die wenn nötig die Arbeiten der
Gesellschaft zur Durchführung bringen;
. regelmäßige monatliche Zusammenkünfte abzuhalten ;
. eine vertrauliche Karthotek mit den Protokollen über jeden Fall zu
unterhalten ;
8. solche Tatsachen zu protokollieren, die in Verbindung mit einem
geistigen Defekte auftreten und im stande sind, das gesamte Problem
zu erhellen, und in der Gemeinde Interesse zu erwecken für die
Feststellung der Ursachen und der Vorbeugungsmöglichkeiten geistiger
Defekte;
9. nach Möglichkeit die Öffentliche Meinung auf die Notwendigkeit zur
Schaffung von Erziehungsmöglichkeiten für Schwachsinnige hin-
zuweisen und auf die Gefahren, die nicht unter Obhut stehende
Schwachsinnige für das Gemeinwesen bedeuten.
Wenngleich wir in Deutschland schon ähnliche Organisationen haben,
so verdienen diese Leitsätze doch auch bei uns Beachtung und Befolgung.
Jena. Karl Wilker.
PX E-
4. Kurse in der Kinderfürsorge.
Das Archiv deutscher Berufsvormünder in Frankfurt a. M. plant in
Gemeinschaft mit dänischen und schwedischen Organisationen einen In-
formationskursus in der Kinderfürsorge, der außer in Deutschland auch
einige Tage in Dänemark und Schweden stattfinden soll. Die Teilnahme
von Ausländern an den Kursen, die bisher das Archiv deutscher Berufs-
vormünder veranstaltet hat, ebenso wie die zahlreichen und ständigen
Beziehungen des Archivs im Ausland legten es nahe, die Fragen der
internationalen Verständigung in der Kinderfürsorge näher zu
prüfen. Diese Erwägungen ergeben das Bedürfnis nach Formen der gegen-
seitigen Fühlungnahme, die über die bisherige ungenügende Einrichtung
5. Zeitgeschichtliches. 413
großer Kongresse hinausgingen und zugleich die praktische Tätigkeit einer
ständigen internationalen Auskunfts- und Vermittlungsstelle in Kinder-
fürsorge und Jugendschutz ergänzten, wie sie das Archiv seit Jahren be-
treibt. Verhandlungen des Archivs mit dem Vorsitzenden des dänischen
Oberpflegschaftsrates und weiter mit dem Verband der dänischen Er-
ziehungsvereine sowie mit dem schwedischen Armenpflegeverbande, führten
zu dem Plan eines gemeinsamen Kurses von etwa 10 Tagen, der im
Deutschen Reiche (Hamburg, Hannover, Göttingen), in Dänemark (Kopen-
hagen) und in Schweden (Malmö) stattfinden wird. In Dänemark hat
sich bereits eine vorläufige Kommission gebildet, bestehend aus den Herren
Overretsassessor Brun, Graf Ahlefeld Laurvig zu Lundgaard und Schul-
direktor Professor Bauditz. Verhandlungen dieser Herren in Norwegen
mit dem Chef für das Justiz- und Kultusdepartement und mit dem Chef
des Gefängniswesens in Christiania haben gezeigt, daß auch dort Interesse
für die Veranstaltung besteht, und daß man beabsichtigt, sich daran zu
beteiligen. Die Teilnehmerzahl soll 20 nicht übersteigen. Erwünscht ist
Beherrschung von zwei Sprachen (deutsch und dänisch oder deutsch und
schwedisch), doch kann von diesem Erfordernis abgesehen werden. Die
Teilnehmergebühr wird etwa Mk. 25.— betragen. Der Kursus soll, wenn
möglich Ende August, Anfang September ds. Js. stattfinden und wird be-
sonders die Fragen der Behandlung gefährdeter und schwer erziehbarer
Kinder und Jugendlicher erörtern. Vorträge und Besichtigungen wechseln
miteinander und werden durch persönlichen Meinungsaustausch unter den
Teilnehmern ergänzt. Teilnehmer aller Länder sind willkommen. Vor-
läufige Anmeldungen sind an das Archiv deutscher Berufsvormünder,
Frankfurt a. M., Stiftstraße 30, zu richten.
5. Zeitgeschichtliches.
In einem Aufruf an die deutschen Lehrervereine in der »Deutschen Schule«,
Jg. 17, Heft 3 (März 1913), S. 179, 180, bitten der Vorsitzende des Deutschen Lehrer-
vereins, G. Röhl, und der Vorsitzende der Pädagogischen Zentrale des Deutschen
Lehrervereins, C. L. A. Pretzel, um Mitteilungen über alle innerhalb der Lehrer-
vereine bereits bestehenden oder ins Leben tretenden pädagogischen Arbeitsstellen,
um die Pädagogische Zentrale zu einem wahren vermittelnden Organ zwischen
diesen pädagogischen Arbeitsstellen auszugestalten. Die Ergebnisse der
einzelnen Gruppenarbeiten sollen in den Jahrbüchern der Zentrale einer weiteren
Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Der Verband Deutscher Kinderhorte hat eine Auskunftsstelle für alle
Hortangelegenheiten in Charlottenburg, Goethestraße 22, eingerichtet. Sie
steht in Verbindung mit dem Charlottenburger Jugendheim.
n Ein neugegründeter »Fürsorgeverein für taubstummblinde Kinder in
Österreich« erstrebt die Errichtung einer Lehranstalt, in der die Kinder neben
dem Unterricht auch die gehörige Pflege finden.
Das preußische Abgeordnetenhaus hat in seiner Sitzung vom 13. März
1913 beschlossen, die Regierung zu ersuchen, zur Unterstützung der auf Be-
kämpfung des Kinderelends gerichteten charitativen Bestrebungen
einen bestimmten Fonds bereitzustellen, sowie den Betrag zur Förderung der
Bestrebungen für die gefährdete oder verwahrloste Jugend vom 1. April
1914 an beträchtlich zu erhöhen (der jetzt in den Etat dafür eingestellte Betrag
beläuft sich auf 30000 Mark). s
414 B. Mitteilungen.
Stiftungen, Schenkungen usw.: die städtischen Kollegien in Hannover
beschlossen die Errichtung einer Stiftung von 300000 Mark in erster Linie für
Zwecke der Jugendpflege aus Anlaß des Regierungsjubiläums des Kaisers.
Infolge des überaus starken Besuchs der Hochschule für Frauen in
Leipzig und des rastlos fortschreitenden inneren Ausbaues sind schon jetzt be-
deutende räumliche Erweiterungen notwendig. Im März wurde ein umfassender
Neubau in Angriff genommen. In dem neuen Gebäude sollen vier Hörsäle, dar-
unter einer für 400 Personen, sowie zwei wissenschaftliche Institute untergebracht
werden. Die gesamte Bausumme für den Erweiterungsbau ist von einem Gönner
der Anstalt gestiftet worden.
Ein Deutsches Land-Waisenheim wird Hermann Lietz in der Nähe
des Landerziehungsheims Ilsenburg auf dem Landgut Veckenstedt an der Ilse er-
richten. Die Arbeit soll mit der Aufnahme von je etwa 9 bis 10 Knaben und
Mädchen in zwei Familien beginnen. Aufgenommen werden sollen gesund veranlagte
und entwicklungsfähige Ganz- und Halbwaisen. Mit dem Heim soll ein Kindergarten
für Kinder des nahen Dorfes verbunden werden. Der Plan ist von Dr. Lietz näher
im 15. Jahrbuch der Deutschen Land-Erziehungsheime (Leipzig, R. Voigtländer) ent-
wickelt. Sonderdrucke des Aufsatzes (sowie nähere Auskunft) sind zu erhalten durch
Major a. D. Richard Seebohm, Jena, Kochstraße 3/I.
Das am 15. Mai 1913 eröffnete Kaiser Wilhelm-Kinderheim in Ahlbeck
soll im ganzen 150 Kinder gleichzeitig aufnehmen, die vom Berliner Verein für
Ferienkolonie aus den ärmsten Berliner Kindern ausgewählt werden.
Ferienkurse für beschäftigungs- und aufsichtslose Knaben sind
auf Anregung des Vereins für Knabenhandarbeit in Bern eingerichtet.
Der Gemeindevorstand der Stadt Eisenach hat am 12. Februar 1913 eine
städtische Poliklinik für Sprachstörungen eingerichtet, die in eine medizinisch-
pädagogische Fürsorgestelle für sprachgebrechliche, schwer erzieh-
bare und leicht abnorme Kinder ausgestaltet werden soll. Die Leitung hat
Dr. med. Höpfner, leitender Arzt an Professor Denhardts Sprachheilanstalt in
Eisenach.
In Wien wurde am 13. März 1913 eine erste staatliche Schulzahn-
klinik eröffnet.
Die Achte Tagung des Archivs Deutscher Berufsvormünder (Frank-
furt a. M., Stiftstraße 30) soll am 22. u. 23. September 1913 in Stuttgart abgehalten
werden. Zur Erörterung sind bestimmt: Die Unterstützung des Vormundes durch
Gerichte und Behörden; die Fürsorge für wandernde Jugendliche; die gegenseitige
Unterstützung der Berufsvormünder; Berufsvormundschaft in Württemberg.
Die Münchener Gesellschaft für Kinderheilkunde veranstaltet eine Sammel-
forschung über das Vorkommen der Kinderlähmung in Bayern, um
übersehen zu können, ob in Bayern ein epidemischer Ausbruch derselben zu be-
fürchten ist, da Fälle von spinaler Kinderlähmung im Jahre 1912 häufiger be-
obachtet wurden. \
In Berlin ist eine hohe Kinosteuer eingeführt worden, die bewirkte, daß
gleich bei ihrem Inkrafttreten gegen 100 kleinere Kinos ihren Betrieb einstellten.
Die anderen Kinos haben die Steuer durch Erhöhung der Eintrittspreise abzuwälzen
versucht. Dadurch ist der Besuch nach den eigenen Angaben der Kinobesitzer in
einer im April 1913 in Berlin abgehaltenen Protestversammlung um rund 60%,
zurückgegangen.
In sämtlichen thüringischen Staaten ist am 1. April 1913 ein Kinogesetz
in Kraft getreten, nach der u. a. das Programm für Jugendvorstellungen jeweils zwei
Tage vor der Aufführung an die Polizeibehörden einzureichen ist, denen das Recht
zusteht, eine nichtöffentliche Prüfung der vorzuführenden Films zu fordern. Als
Altersgrenze für Jugendliche gilt das 17. Lebensjahr.
Alle staatlichen Lehrerseminare Ungarns werden im Laufe dieses Jahres
psychologische Laboratorien erhalten. Die Fachlehrer wurden in besonderen
Kurgen experimentalpsychologisch ausgebildet. Die angehenden Lehrer sollen so für
5. Zeitgeschichtliches. 415
das Kinderstudium empfänglicher gemacht und zu berufenen Förderern der Kinder-
forschung entwickelt werden.
Das Bayerische Ministerium für Kirchen- und Schulangelegen-
heiten hat die Kreisregierungen angewiesen, für die Direktorate der höheren
Mädchenschulen Verfügungen zu erlassen, daß in der 6. Klasse der höheren
Mädchenschulen im naturkundlichen Unterricht und in der Frauenschule beim
haushaltungskundlichen Unterricht die Genußmittel und ihre Gefahren, ins-
besondere der Alkohol, eingehend behandelt werden.
Der Deutsche Bund abstinenter Frauen errichtet ein alkoholfreies Er-
frischungshaus, das »Königin-Luise-Haus«, nahe dem Leipziger Völkerschlacht-
denkmal, das vor allem der Jugend dienen soll. Es sind dafür etwa 200000 Mark
aufzubringen. Außer freiwilligen Beiträgen ist die Zeichnung von Anteilscheinen
zu 100 und zu 1000 Mark sehr erwünscht. Anfragen sind zu richten an Fräulein
Gustel von Blücher, Dresden-A. 7, Liebigstraße 12; Geldsendungen und
Zeichnungen auf Anteilscheine an Frau Doris Heidemann, Leipzig, Königstraße 14
(Postscheckkonto Leipzig 13 470).
Nach Feststellungen Thomas-Illenau waren unter 620 in Zwangserziehung
befindlichen Zöglingen Badens 322 = 51,9°/, geistig anormal. Der größte
Teil von ihnen kann zwar in den Erziehungsanstalten verbleiben. Doch ist die Mit-
wirkung psychiatrisch vorgebildeter Arzte an ihnen dringend erforderlich.
Die Ergebnisse der Schulstatistik über das Volksschulwesen im
Deutschen Reiche vom Jahre 1911 liegen nunmehr vor. Wir teilen daraus
folgende Daten mit. Es betrug die Zahl der
öffentlichen vollbeschäftigten Schulkinder auf 1 Lehr-
Volksschulen Lehrer u. Lehrerinnen überhaupt kraft
1901 59187 124.027 22513 8924 779 60,9
1906 60 584 137 213 29 384 9 737 262 58,4
1911 61557 148217 39268 10 309 949 54,9.
Die Zahl der Schulkinder, die auf eine Lehrkraft kommen, ist demnach immer noch
eine zu große. Zudem unterliegt sie in den einzelnen Städten und Landesteilen
beträchtlichen Schwankungen. betrug die Zahl der auf eine Lehrkraft
entfallenden Schulkinder 1911 z. B. in
Berlin . . 2. .2....839,7
Ostpreußen . . . . 541
Hannover . . . . . 55,0
Sachsen . . . . . 55,5
Rheinprovinz. . . . 57,6
Schlesien . . . . . 63,1
Preußen . . . . . 56,5
Bayem. . a a oi a DOT
Württemberg. . . . 57,8
Königreich Sachsen . 54,7.
Dem Bericht des Pfleg- und Jugendfürsorgeamtes der StadtLeipzig
über das Ziehkinderwesen mit gesetzlicher Vormundschaft im Jahre
1912 entnehmen wir, daß im Berichtsjahr 12757 Kinder in den Rah eu der
Ziehkinderabteilung geführt wurden. Die Sterblichkeit aller Kinder im Alter bis zu
einem Jahre betrug in Leipzig bei den
ehelichen Kindern unehelichen Kindern
1911 1912 1911 1912
22,32%), 11,54%, 31,10%, 19,63 %,,.
Als Unterhaltungskosten wurden für außerehelich geborene Kinder 463579 Mark
eingenommen. Es wird betont, daß die Bedeutung der gesetzlichen Vormundschaft
nicht erschöpft ist mit der Beitreibung dieser Unterhaltungskosten, sondern daß ein
großer Teil ihres Wertes auf dem Gebiete der persönlichen Fürsorge liegt. Be-
schlossen wurde die Fortführung der gesetzlichen Vormundschaft für uneheliche
Kinder über das 14. Lebensjahr hinaus möglichst bis zur Volljährigkeit (von
Ostern 1913 an). Der Bericht enthält außerdem den Bericht des Städtischen Kinder-
416 B. Mitteilungen,
arztes sowie den Text eines Flugblattes »Zur Verhütung des Sommerdurchfalles
der Säuglinge«.
Eine Lichtbildersammlung zur Belehrung über die Tuberkulose ist
nach dem Material des Deutschen Zentralkomitees zur Bekämpfung der Tuberkulose
von dem Berliner Lehrer Friedrich Lorentz zusammengestellt worden. Die
Sammlung enthält 25 zum Teil farbige Lichtbilder; sie kostet in verschließbarem
Kasten 48 Mark. Ein besonderer Prospekt ist auf Wunsch vom Verlag für Schul-
hygiene, P. Johannes Müller, Charlottenburg 5, Spandauerstraße 10a, zu beziehen.
Besondere Jugendschriften für Hilfsschulkinder sollen unter dem
Titel »Marholds Bücherei, Schriften zur Anregung und Förderung
unserer Jugend« im Verlag von Carl Marhold in Halle a. S. erscheinen. Der
orientierende Aufruf darüber, der in der »Hilfsschule«, Jg. 6, Heft1 vom Januar 1913,
S. 20—22, abgedruckt ist, ist unterzeichnet von Otto Kampe (Bergedorf-Hamburg,
Bismarckstr. 20) und Eduard Schulze (Halle a. S., An der Universität 2); beide
nehmen Wünsche, Anregungen usw. entgegen.
Die wichtige Monographie über »Die Epilepsie« von O. Binswanger ist
soeben in zweiter neubearbeiteter Auflage bei A. Hölder, Wien und Leipzig, er-
schienen. Der Umfang beträgt 548 Seiten, der Preis 15,40 Mark.
Als Heft 2 der Schriften des Allgemeinen Fürsorge-Erziehungs-Tages E. V.
ist der »Bericht über die Verhandlungen des Allgemeinen Fürsorge-
Erziehungs-Tages vom 24.—27. Juni 1912 zu Dresden« erschienen. Er ist
herausgegeben von Pastor Seiffert und Pastor Friedrich, erschienen im Kom-
missionsverlag von Carl Marhold-Halle a. S. und kostet bei einem Umfang von
288 Seiten 2 Mark.
Der Vorbericht und die Verhandlungen der 6. Konferenz der Zentral-
stelle für Volkswohlfahrt in Danzig am 17. und 18. Juni 1912 sind als
Heft 8 und 9 der Schriften der Zentralstelle für Volkswohlfahrt erschienen (Berlin,
Carl Heymann, 1913). Heft 8 behandelt »Familiengärten und andere Klein-
gartenbestrebungen in ihrer Bedeutung für Stadt und Land« (VIII und
364 Seiten nebst 19 Tafeln. Preis geheftet 8 Mark, gebunden 9 Mark), Heft 9 die
»Pflege der schulentlassenen weiblichen Jugend« (IV und 274 Seiten.
Preis geheftet 5 Mark, gebunden 6 Mark). Beide Bände enthalten reichliches Zahlen-
material. In Heft 9 sind die Tatsachen aus der somatischen Anthropologie, die Be-
merkungen über die gesundheitlichen Verhältnisse und die über Verwahrlosung und
Kriminalität besonders wichtig für unsere Leser. Zum Teil sind die Zahlen in
übersichtlichen Tabellen zusammengestellt und in Diagrammen verdeutlicht.
Der vor kurzem erschienene 6. Bericht über die gesamten Unterrichts-
und Erziehungsanstalten im Königreich Sachsen, auf Grund von Er-
hebungen der Königlichen Ministerien des Kultus und öffentlichen Unterrichts, des
Innern, der Finanzen ünd des Krieges vom 1. Juni 1911 im Königlich Sächsischen
Statistischen Landesamt zusammengestellt, ist durch das letztere (Dresden-N., Ritter-
straße 14) zu beziehen. Der Preis für dieses 170 Quartseiten umfassende Werk
ist auf 4,50 M (zuzüglich Porto) festgesetzt worden. Der Bericht enthält eine Zu-
sammenstellung von statistischen Angaben über die Unterrichts- und Erziehungs-
anstalten aller Art, also die höheren Lehranstalten und Volksschulen, die Anstalten,
die auf bestimmte Berufe vorbereiten, wie die Hochschulen, die Seminare, die mili-
tärischen Bildungsanstalten, die Lehranstalten für künstlerische Ausbildung und die in
Sachsen besonders zahlreichen Lehranstalten für allgemeine und besondere gewerb-
liche Fachbildung. Auch die Fürsorge für Kinder, die noch nicht schulpflichtig
sind, oder die besonderer Öffentlicher Fürsorge bedürfen, ist berücksichtigt.
Der schulärztliche Bericht der Stadt Crefeld für das Schuljahr 1911/12,
erstattet von Stadtarzt Kreisarzt Medizinalrat Dr. Berger, ging uns zu. Der Be-
richterstatter tritt dafür ein, den Schulbeginn in das 7. Lebensjahr hinauszuschieben.
Verschiedentlich traten Bedenken bezüglich der gesundheitlichen Zuträglichkeit der
Arbeiten gewerblich beschäftigter Kinder auf. Von den Ostern 1911 in die Hilfs-
schule aufgenommenen Kindern waren nur 43°/, als Säuglinge natürlich ernährt.
In den oberen Klassen der Volksschulen wie des Gymnasiums wurde auf die Schäd-
lichkeit des Alkoholgenusses hingewiesen,
C. Zeitschriftenschau. 417
Von einem erfreulichen Arbeitseifer zeugt der Vierte Rechenschafts-
Bericht über die Berlin-Brandenburgische Krüppel-Heil- und Er-
ziehungsanstalt (Berlin S. 59, Am Urban 10—11) für die Zeit vom Oktober 1910
bis zum September 1912. Der 64 Seiten umfassende Bericht ist mit zahlreichen
Abbildungen versehen, sowie mit einer farbigen Tafel, die Lage und Anordnung des
neuen Hauses im Grunewald, mit dessen Ausschachtungsarbeiten im Juli 1913 be-
gonnen wurde, veranschaulicht.
Pastor W. Ilgenstein (Charlottenburg, Goethestraße 5) hat im Selbstverlag
einen Auszug aus seinem Buche »Die Gedankenwelt der modernen Arbeiterjugend«
unter dem Titel »Aus dem Lager der sozialdemokratischen Jugend-
bewegung« erscheinen lassen. Das Heft ist zur Massenverbreitung in nationalen
und christlichen Vereinen bestimmt. Zur Orientierung über die sozialdemokratische
Jugendbewegung, natürlich vom gegnerischen Standpunkt aus, ist es geeignet. Der
Einzelpreis des Heftes im Umfang von 31 Seiten beträgt bei portofreier Zusendung
30 Pfennig.
Über die Abstinenzbewegung unter der katholischen Jugend
Deutschlands unterrichtet die »Schutzengelbundnummer« der Zeitschrift »Der
Morgen« (Leutesdorf a. Rh... Wir entnehmen daraus, daß im Schutzengelbund etwa
100000 Kinder organisiert sind.
C. Zeitschriftenschau,
Kinderschutz und Jugendfürsorge.
Massnahmen.
Rosenbaum, F., Berufskunde im letzten Schuljahr. Zeitschrift für Jugenderziehung.
3, 11 (15. Februar 1913), S. 326—328.
Dem letzten Schuljahr sollte eine systematische Berufskunde eingegliedert
werden. Vor allem muß vor der Erwählung des Berufs eines »ungelernten Arbeiters«
gewarnt werden. Der Lehrstoff ist leicht zusammenzutragen.
Preßler, Otto, Statistik und Berufsberatung. Der Säemann. 1912, 10 (Oktober),
S. 441—449.
Zahlreiches statistisches Material. — Es wäre verfehit, die allgemeine Berufs-
statistik oder die Unterrichtsstatistik in den Dienst der Berufsberatung (Jugendpflege)
zu stellen. Für die Jugendpflege müssen die Erhebungen jährlich gemacht und
möglichst bald veröffentlicht werden. Die Bedeutung der Berufsberatung als eines
wichtigen Zweiges der Jugendpflege wird auch der Staat einsehen müssen. Zweck-
dienlich wäre die Einberufung einer Konferenz zur Festsetzung der allgemeinen
Richtlinien für die statistischen Erhebungen, die für die Berufsberatung und den
allgemeinen Berufsnachweis unbedingt erforderlich sind.
Jacobi, Eugenie, Schulküchen. Deutsche Schulpraxis. 33, 3 (19. Januar 1913),
8. 23—24.
Schulküchen bestehen in Deutschland seit etwa 20 Jahren. Sie wollen die
Schülerinnen der oberen Volksschulklassen hauswirtschaftlich ausbilden (einfache
Lebensführung). Die Königsberger Schulküchen werden als Muster eingehend be-
schrieben.
Kossak, Margarete, Spielsachen. Zeitschrift für Jugenderziehung und Jugend-
fürsorge. 3, 7 (15. Dezember 1912), S. 191—196.
418 C. Zeitschriftenschau.
Man darf sich nicht nur mit dem besten Spielzeug begnügen, sondern muß
ihm überhaupt die höchste Beachtung schenken. Man muß deu Gesichtspunkt
immer beachten, daß das Spiel dazu da ist, die Eltern erkennen zu lernen, welchen
Beruf ihre Kinder ihrer Beanlagung nach zu ergreifen haben.
Nemes, Leopold, Der Kinematograph {und das Kind. A Gyermek. VI, 1912,
7—8, 8. 438—440.
»Die Kinematographen vermögen sehr tiefdringend auf die Seele der Kinder
zu wirken«e. Die Schulen sollten deshalb selbst Kinos einrichten oder doch gute
Kinovorstellungen vermitteln. Gegen verschiedene Punkte lassen sich schwere Be-
denken erheben.
Appens, W., Schundliteratur und Klassenlektüre. Deutsche Schulpraxis. 32, 43
(27. Oktober 1912), S. 341—342.
Durch Klassenlektüre läßt sich den Kindern vieles von dem, womit wir den
Schund verdrängen wollen, näher bringen, als es ihnen durch bloße Privatlektüre
kommt. An einem Beispiel wird das gezeigt. Für die Klassenlektüre ließe sich
Zeit gewinnen, wenn man die Lesebücher (heute literarische Zettelkästen) um-
arbeiten würde.
Bechtold, F., Zur Bekämpfung der Schundliteratur. Deutsche Elternzeitschrift.
4, 4 (1. Januar 1913), S. 66—68; 5 (1. Februar), S. 83—85.
Beantwortet die Frage nach dem Wesen der Schundliteratur und kennzeichnet
demgegenüber die Eigenschaften der guten Literatur. Zur Bekämpfung der Schund-
literatur sind zu fordern: gut eingerichtete Bibliotheken und Kinderlesezimmer mit
eigenen Ausleihzeiten für Kinder, Aufstellung von Bücherautomaten usw. Am
Kampfe gegen die Schundliteratur sollten sich alle Kreise beteiligen.
Bleicher, Fr., Über Jugendlektüre und Jugendschriften. Deutsche Elternzeitschrift.
IV, 2 (1. November 1912). S. 32—33; 3 (1. Dezember), S. 51—52.
Eine ganze Reihe guter Jugendschriften, durch die der Schund verdrängt
werden kann, werden namhaft gemacht.
Landsberg, J. F., Das Jugendgericht. Der Rettungshaus - Bote. 33, 4 (Januar
1913), S. 84—85.
In der Möglichkeit der Erziehungsmaßnahmen fehlt im deutschen Gesetz-
entwurf die besoldete hauptamtliche Schutzaufsicht durch staatlich angestellte Jugend-
fürsorger. »Wir müssen überhaupt eine bessere Form der Verbrechensbekämpfung
finden. Sonst ruiniert sich der Staat allmählich finanziell, und wir werden von der
Strafknechtschaft erdrückt. Besonders die Kinder müssen wir aus dem Kerker er-
lösen, in den sie — als ganz schuldlose Opfer — ein falsch konstruiertes Ge-
rechtigkeitsideal derzeit immer noch zu schleudern bereit ist. «
Göring, M. H., Welchen besonderen Schutz gewähren das Strafgesetzbuch und
der Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch den Jugendlichen? Zeitschrift
für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns. V, 2
S. 144—149.
Kurz besprochen werden Verbrechen und Vergehen gegen die Sittlichkeit,
gegen das Vermögen und gegen Leib und Leben. Es würde »gewiß nützlich sein,
wenn man das Verabreichen von alkoholischen Getränken an Minderjährige unter
14 Jahren unter Strafe stellen würde«.
Krukenberg-Conze, Elsbeth, Die Frauen und die Reform der Jugendgerichts-
barkeit. Der Vortrupp. 2, 4 (16. Februar 1913), S. 126—128.
Die Verfasserin tritt besonders dafür ein, Frauen bei der Beurteilung von
C. Zeitschriftenschau. 419
Kindern vor Gericht zuzuziehen, und erörtert die Möglichkeit der weiblichen Schöffen-
tätigkeit.
Feisenberger, Der strafrechtliche Schutz unserer Kinder. Deutsche Elternzeit-
schrift. IV, 1 (1. Oktober 1912), S. 11—13.
Die kurze Zusammenstellung zeigt, daß nach vielen Richtungen hin schon in
unserm heutigen Recht für den strafrechtlichen Schutz der Jugend gesorgt ist. Mit
Recht vermißt der Autor den Schutz der Jugend gegen die Gefahren des Alkohols,
Holitscher, Arthur, Zwei Freunde der Kinder in Denver. Zeitschrift für Jugend-
erziehung und Jugendfürsorge. 3, 7 (15. Dezember 1912), S. 184—191.
Eine anmutige Schilderung der Tätigkeit des amerikanischen Jugendrichters
Ben Lindsey in Denver und seiner Bedeutung für die Kinder aus eigener An-
schauung. (Aus des Verfassers Buch: Amerika, Heute und Morgen. Berlin,
S. Fischer.) Ferner eine kurze Beleuchtung der Kinderarbeit in Amerika, deren
Beseitigung allein von den Sozialisten gefordert wird.
Ibrahim, J., Über die Ausbildung von Säuglingskrankenpflegerinnen nach ein-
heitlichen Grundsätzen. Deutsche Med. Wochenschrift. 38, 46 (14. November
1912), S. 2176—2179.
Es wird ein Ausbildungsprogramm vorgelegt, dessen Durchführung aber nur
durch Einführung des staatlichen Diploms ermöglicht werden kann.
Bünzli, B., Mutterschafts-Versicherung. Zeitschrift für Jugenderziehung und
Jugendfürsorge. 3, 6 (1. Dezember 1912), S. 153—156.
Reichsgesetzliche Mutterschaftsversicherung bedeutet Frauen- und Kinder-
fürsorge im weitesten und besten Sinne. Die Arbeit referiert im wesentlichen über
Wilhelm Platzs Buch über die reichsgesetzliche Mutterschaftsversicherung (Tübingen,
J. C. B. Mohr).
Erfolge.
Wild, A., »Für die Jugend«. Zeitschrift für Jugenderziehung und Jugendfürsorge.
3, 7 (15. Dezember 1912), S. 181—184.
Die Stiftung dieses Namens will zum Wohle der Jugend zu bestimmten Zeiten
Wohlfahrtsmarken und -karten verkaufen. Für den ersten Verkauf heißt die
Losung: Bekämpfung der Kindertuberkulose.
Pinkus, Felix, Kinderhilfstag. Zeitschrift für Jugenderziehung. 3, 10 (1. Februar
1913), S. 281—283.
Durch den Blumentag 1911 wurden 156000 Fr. zusammengebracht. Für
1913 ist eine gleiche Veranstaltung geplant, die der Verfasser in Schutz zu nehmen
sucht gegen vielfach erhobene Vorwürfe.
Gierke, Anna v., Schulkinderpflege und Volkserziehung. Zeitschrift für Kinder-
schutz und Jugendfürsorge. 4, 11 (November 1912), S. 305—310.
Der Darstellung liegen die praktischen Erfahrungen der Verfasserin aus dem
Cbarlottenburger Jugendheim zugrunde, dessen Ziel die Durchführung einer möglichst
guten Schulkinderfürsorge in Charlottenburg ist. Wie das Jugendheim arbeitet und
organisiert ist, wird eingehend gezeigt. Damit wird auch zugleich der Nachweis
erbracht, daß die Schulkinderpflege in Beziehung zur allgemeinen Volkserziehung
treten kann.
Die Berufspflegschaft des Kinder-Rettungs-Vereines in Berlin für eheliche Kinder.
Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. 4, 12 (Dezember 1912), S. 333
bis 338.
420 C. Zeitschriftenschau.
Ein juristischer Mitarbeiter des Leiters Pastor Pfeiffer sucht ein kurzes Bild
der berufspflegschaftlichen Arbeit zu entwerfen, um zu zeigen, daß die Berufspfleg-
schaft eine ebenso segensreiche und notwendige Einrichtung ist wie die Berufs-
vormundschaft. Sie ist bisher in Literatur und Praxis aber kaum beachtet. Zur
Berufspflegschaft eignen sich die Unterhaltungspflegschaft, die Vermögenspflegschaft
und die Erziehungspflegschaft (Personenfürsorgepflegschaft).
Goldbaum, Helene, Fürsorgeeinrichtungen für vorschulpflichtige Kinder in Wien.
Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. 4, 12 (Dezember 1912), S. 342—344.
Die Verfasserin zeigt, was in Wien bereits für vorschulpflichtige Kinder getan
ist und wie und wo weitergearbeitet werden muß.
Ehrlich, Marg., Städtische Fürsorgeerziehung in Groß-London. Deutsche Schul-
praxis. 33, 5 (2. Februar 1913), S. 38—40.
Eine einheitliche Regelung der F.-E. für ganz Großbritannien erfolgte durch
die Children-Act vom 1. April 1909. Besonders hervorzuheben ist die rasche Er-
ledigung des F.-E.-Verfahreus und der Jugendgerichtsfälle. Bedauerlicherweise er-
streckt sich die F.-E. nur bis zum 16. Lebensjahre. Von den 1901—1905 ent-
lassenen Zöglingen waren 1907 90°/, befriedigend (bei den Mädchen nur 80°/,).
Von den 1904—1906 Entlassenen waren 1910 89°/, in festen Stellungen, 6°/, waren
gerichtlich bestraft, 4°/, unbekannt, 1°/, verstorben. Seit 1871 haben die englischen
Industrial Schools 34925 Zöglinge hinausgeschickt.
L., Das neue belgische Kinderschutzgesetz vom 15. Mai 1912. Zeitschrift für
Kinderschutz und Jugendfürsorge. 4, 12 (Dezember 1912), S. 338—342.
Das neue Gesetz bedeutet einen wesentlichen Fortschritt für Belgien und kann
darüber hinaus in mancher Hinsicht als Richtung gebend bezeichnet werden. Die
Arbeit erörtert die wichtigsten Bestimmungen des Gesetzes ziemlich eingehend, ins-
besondere den Abschnitt 2 des Gesetzes, der sich als ein modernes Jugendgerichts-
gesetz darstellt.
Müller-Schürch, E. Herm., Neuere Gesetze in der Schweiz in ihrer Bedeutung
für die Fürsorge. Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des jugend-
lichen Schwachsinns. V, 1, 8. 1—21.
Übersicht über in Betracht kommende Bestimmungen aus dem Zivilrecht, dem
Strafrecht, der Fabrikgesetzgebung.
Silbernagel, Alfred, Strafrecht und Jugendfürsorge. Schweizerische Blätter für
Schulgesundheitspflege. 11, 1 (Januar 1913), S. 2—6.
Das Wort Zwangserziehung ist im schweizerischen Strafgesetzbuch ersetzt
durch das Wort »Fürsorgeerziehung«, das Wort schuldig in bestimmten Fällen durch
das Wort »fehlbar«e. Der Verfasser legt dann seine Stellung dar zu verschiedenen
Artikeln: Kindestötung, Kindesaussetzung, Mißhandlung und Vernachlässigung, Über-
anstrengung von Kindern, Entführung (Kinderhandel). Wenn die Schweiz auch in
der gesetzlichen Bekämpfung des Kinderhandels den anderen Staaten vorangehen
würde, dann würde sie ein »Werk des Fortschrittes und der Menschlichkeit« be-
schließen.
Fawer, E., Das neue bernische Armen-Polizeigesetz. Zeitschrift für Jugend-
erziehung und Jugendfürsorge. 3, (1. Januar 1913), S. 227—229.
Das Gesetz, dessen wesentlichste Punkte in Kürze mitgeteilt werden, enthält
mancherlei Kinderschutz- und -fürsorgebestimmungen.
G. H.-S., Fürsorge für bedürftige Schulkinder in der Stadt Aarau im Jahre 1912.
Zeitschrift für Jugenderziehung und Jugendfürsorge. 3, 6 (1. Dezember 1912),
S. 160—163.
C. Zeitschriftenschau. 421
An der Kinderspeisung nahmen durchschnittlich täglich 146 Schulkinder teil.
Ferienversorgung genossen 62 Kinder gegen Entschädigung, 48 völlig unentgeltlich;
die Gewichtszunahme betrug im Durchschnitt 4!/, Pfund. An der Milchkur nahmen
145 Kinder während 18 Tagen teil. In Landaufenthalt wurden 6 Schüler gebracht.
Mit Schuhen wurden 16 arme Kinder bedacht.
von Egloffstein, Leo, Witzwil (Zur Gefängnisreform). Der Vortrupp. 2, 4
(16. Februar 1913), S. 115—118.
Eine kurze Beschreibung der Berner Strafanstalt, deren wesentlichstes Prinzip
Arbeitserziehung ist unter Wahrung möglichster Bewegungsfreiheit der Gefangenen.
Troll, M., Begründung und Ausgestaltung der Pflege der schulentlassenen weib-
lichen Jugend. Deutsche Blätter für erziehenden Unterricht. 40, 8 (15. No-
vember 1912), S. 73—75; 9 (22. November), 5. 83—85; 10 (29. November), S. 93
bis 95.
Für die weibliche Jugendpflege müssen besondere Einrichtungen getroffen
werden. Die Arbeit im Mädchenheim wird auf Grund der praktischen Erfahrungen
in Schmalkalden dargestellt. Die Arbeit bietet viele Anregungen und auch zum
Teil wertvolles Material. Sie erörtert alle in Betracht kommenden Fragen.
Löffler, H., Zur Mädchenfortbildungsschulfrage. Deutsche Blätter für erziehenden
Unterricht. 40, 10 (29. November 1912), S. 98—100.
Überblick über den gegenwärtigen Stand der Frage der allgemeinen Mädchen-
fortbildungsschule.
Winzer, H., 18. Thüringer Lehrerversammlung und Mädchenfortbildungsschule.
Ebenda S. 100—101.
Die von Hänssel zu der Oktoberversamminng aufgestellten, hier mitgeteilten
6 Thesen wurden von den etwa 1000 versammelten Lehrern und Lehrerinnen ein-
stimmig angenommen.
von Schenckendorff, Fortbildungsschule und Jugendpflege. Der Arzt als Er-
zieher. 8, 1912, 10, 8. 111—112.
Die Arbeit befaßt sich mit den körperlichen Übungen (Turnunterricht) in der
allgemeinen Pflichtfortbildungsschule und der Stellung des Zentralausschusses für
Volks- und Jugendspiele dazu.
Staatsbürgerliche Erziehung und Schülerabstinenzvereine. Deutsche Lebenskunst.
20, 4 (15. Februar 1913), S. 55.
Sehr zu begrüßen ist das gegenwärtige Aufblühen der Germania, Abstinenten-
bund an deutschen Schulen, der gegenwärtig 700 Schüler als Mitglieder zählt.
Dickhof£f, E., Reformideen und Reformpraxis im deutschen Volksschulwesen. Die
Deutsche Schule. XVI, 9 (September 1912), S. 544—554.
Der Verfasser stellte für seinen Vortrag auf dem Deutsch-amerikanischen
Lehrertage drei orientierende Leitfragen auf: 1. Welches sind die Ursachen der
modernen Schulreform? 2. Welche Änderungen im Schulbetriebe werden angestrebt?
3. Wie verhält sich die Schulpraxis zu diesen Forderungen? Die knappe Orientierung
berücksichtigt auch die Fragen der Kinderforschung, der Jugendfürsorge, der Schul-
gesundheitspflege usw.
v. Drigalski, Über Ergebnisse und Erfolge bei der Bekämpfung der Säuglings-
sterblichkeit im Jahre 1911. Deutsche Med. Wochenschrift. 38, 34 (22. August
1912), S. 1601—1604.
Bericht über die Tätigkeit und die Erfolge der Vereinigung zur Bekämpfung
der Säuglingssterblichkeit in Halle a. S. mit zahlreichen Zahlen und mancherlei
Vergleichsmaterial.
422 C. Zeitschriftenschau.
Lederer, Max, Der III. Deutsche Jugendgerichtstag in Frankfurt a. M. Zeitschrift
für Kinderschutz und Jugendfürsorge. 4, 11 (November 1912), S. 310—318.
Eingehender Bericht, der die Veranstaltung als durchaus gelungen lobt.
Wilker, Karl, Zur Geschichte und Entwicklung der Jugendgerichte. Deutsche
Monatsschrift für Rußland. I, 10 (14. Oktober 1912), S. 915—922. .
Die Arbeit gibt einen Überblick über die Entwicklung und den augenblick-
lichen Stand der Jugendgerichtsbewegung in den verschiedenen Kulturländern.
Jugend- und Schulhygiene.
25 Jahre im Dienste der Schulgesundheitspflege. Zeitschrift für Schulgesundheits-
pflege. 26, 1 (Januar 1913), S. 1—6.
Ein Rückblick auf die Entwicklung der Geschichte, zugleich Beitrag zur Ge-
schichte der Schulhygiene.
Schulärzte an den Mittelschulen in Bayern. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege.
26, 2 (Februar 1913), S. 156—158.
Wortlaut der Dienstanweisung.
Moldenhauer, Der staatliche, obligatorische Schularzt in Württemberg. Zeitschrift
für Schulgesundheitspflege. 26, 3 (März 1913), S. 184—188.
Hinweis auf die Bedeutung des neuen Oberamtsarztgesetzes vom pädagogischen
Standpunkte aus. Das Gesetz bedeutet einen wesentlichen Fortschritt auf dem Ge-
biete der Schulhygiene.
Gohde, G., Über schulärztiiche Tätigkeit unter Zugrundelegung der Dienstordnung
für die Schulärzte in Potsdam. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 26, 3
(März 1913), S. 209—216.
Überwacht werden nur die Volksschulen. Die Dienstanweisung wird im
einzelnen kritisch besprochen. Manches darin geforderte unterbleibt in der Praxis.
Reorganisation des schulärztlichen Dienstes in Basel. Schweizerische Blätter für
Schulgesundheitspflege. 11, 3 (März 1913), S. 42—45.
Besprechung des Gesetzes betr. Anstellung eines Schularztes vom 14. August
1912 und der dadurch dem Schularzt erwachsenden Aufgaben.
Stephani, Zwanglose Betrachtungen zu schwebenden schulärztlichen Fragen. Zeit-
schrift für Schulgesundheitspflege. 26, 3 (Februar 1913), 8. 145—156.
Bemerkungen zu Einzelfragen aus der Literatur, die mit der individuellen
Schülerhygiene zusammenhängen und für die Gestaltung der Dienstanweisungen
Bedeutung haben (Beratungssprechstunde, Verkehr mit den Eltern, nebenamtliche
oder hauptamtliche Schularzttätigkeit, Unterrichtserteilung durch den Schularzt,
soziale Fürsorgemaßnahmen).
Stephani und Wimmenauer, Schulzahnklinik oder freie Zahnarztwahl. Zeit-
schrift für Schulgesundheitspflege. 26, 4 (April 1913), S. 225—243.
Es handelt sich um Organisationsfragen: freie Zahnarztwahl nach Mannheimer
Vorbild oder Schulzahnklinik. —- Lediglich aus Zweckmäßigkeitsgründen schließt
sich die Schulzahnpflege der Schule an. Sie ist zu betrachten als eine Tätigkeit auf
dem Gebiete der sozialen Hygiene. Während die schulärztliche Tätigkeit Fürsorge
für die Gesamtheit ist, ist die schulzahnärztliche vornehmlich Einzelpflege. In An-
lehnung an die Mannheimer Verhältnisse werden die Vorzüge und Nachteile der
beiden Organisationsmöglichkeiten besprochen. »Eine im Interesse der Schule ge-
boten erscheinende Notwendigkeit der Etablierung der schulzahnärztlichen Behand-
C. Zeitschriftenschau. 423
lung in einer mit der Schule in mehr oder weniger festem Zusammenhang stehenden
Klinik besteht unseres Erachtens nicht.« Ein abschließendes Urteil darüber, welchem
der beiden Systeme der Vorzug gebühre, läßt sich heute noch nicht geben. — An-
geregt wird nebenbei eine mehr einheitliche Gestaltung der Jahresberichte der Schul-
zahnkliniken bei der Aufstellung der geleisteten Arbeiten.
Kürbs, Schulärztlicher Bericht von Eisenach. Zeitschrift für Schulgesundheits-
pflege. 26, 2 (Februar 1913), S. 158—160.
Im Sommerhalbjahr 1912 wurden 455 Kinder untersucht. Bei den Eltern
fehlt oft das rechte Verständnis für die Durchführung der empfohlenen ärztlichen
Behandlung. »Arg ist noch das Elend in den Wohnungen gewisser alter Stadtteile,
wo oft sieben Personen in zwei Stübchen zusammenstecken und kaum über zwei
ordentliche Betten verfügen.«
Moldenhauer, Die schulhygienische Abteilung in dem städtischen Museum für
Volkshygiene in Köln und die Lehrer. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege.
26, 1 (Januar 1913), S. 33—38.
Das Museum bietet in erfreulicher Weise den Lehrern Gelegenheit zur An-
eignung hygienischer Kenntnisse und zu deren Vertiefung. Seine Einrichtung wird
kurz besprochen.
Rulot, L’higiöne scolaire à l’Exposition de Dresde en 1911. Les Annales Pedo-
logiques. IV, 1 (Octobre 1912), S. 42—48.
Ein kurzer Bericht, der durch etliche Abbildungen schulärztlicher und psycho-
logischer Apparate ergänzt ist.
Walker, W., Schulhygiene in Japan. Schweizerische Blätter für Schulgesundheits-
pflege. 11, 2 (Februar 1913), S. 9—12.
Notizen aus dem 37. Jahresbericht über das Japanische Schulwesen (Schul-
jahr 1909/10). Es waren angestellt 12660 Schulärzte. 54°/, aller Elementarschulen
haben einen Arzt. Von den untersuchten Schulkindern waren der Konstitution nach
stark mittel schwach
Knaben . . . . 4,7% 47,4%, 4,9%,
Mädchen. . . . 42,7% 51,2%, 6,1%,
Gegenüber den Vorjahren war eine Besserung zu konstatieren. Es besuchten
die Schule (in °/, schulpflichtiger Kinder)
Knaben Mädchen
18734 u o T 39,9 15,1
1909/10 . . . 98,86 97,26
Müller, Reiner, Hygienisches aus Nordamerika. Münch. med. Wochenschrift.
60, 9 (4. März 1913), 5. 475—478.
Auf S. 476 befinden sich kurze Notizen über Kinder- und Schulhygiene: in
New York ist ein schwimmendes Säuglingsheim eingerichtet. — Die Schulhygiene
wird gut gepflegt. Seit 1912 werden in New York alle Schulkinder wöchentlich
vom Schularzt besichtigt. Hervorzuheben sind Einrichtungen wie Freiluftklassen,
Dachspielplätze, Schulzahnkliniken, Sonderschulen für tuberkulöse Kinder. Die ge-
werbliche Kinderarbeit wird überwacht vom National Child Labor Committee (be-
gründet 1904).
Gottschalk, R., »Americana Paedagogica«. Die Deutsche Schule. 17, 3 (März
1913), S. 138—143.
Einige Mitteilungen aus dem Bericht des Seminaroberlehrers Fr. Beck (er-
schienen bei Julius Klinkhardt in Leipzig) über das Schulwesen in den Vereinigten
424 C. Zeitschriftenschau.
Staaten, aus dem namentlich auf die Notizen über schulhygienische Maßnahmen hin-
gewiesen sei, die alles Lob verdienen.
Einige Probleme der Schulhygiene. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge.
4, 11 (November 1912), S. 318—321.
Autorreferate über die auf der XII. Versammlung des Deutschen Vereines
für Schulgesundheitspflege nicht gehaltenen Vorträge.
Kemsies, F., Hygiene und Gymnastik im Film. Zeitschrift für Schulgesundheits-
pflege. 26, 4 (April 1913), S. 243—248.
Besprechung einiger Films, die für hygienische Unterweisung von Eltern oder
Schülern zu gebrauchen sind.
Baldrian, Karl, Einiges zur Verbesserung der hygienischen Verhältnisse in
unseren Anstalten. Die Gesundheitswarte. 10, 1912, 11, S. 247—250.
Macht auf einige Punkte der Anstaltshygiene aufmerksam (Klosetteinrichtungen,
Nachtbeleuchtung, Luftreinigung). Ohne wesentliche Bedeutung.
Thiemich, Martin, Abhärtung im Kindesalter. Deutsche Elternzeitschrift. 4, 5
(1. Februar 1913), S. 78—79.
Von den Abhärtungsmaßnahmen ist am empfehlenswertesten der Aufenthalt
in freier Luft. Die Möglichkeit, »anfällige« Kinder durch systematische Abhärtungs-
kuren widerstandsfähiger zu machen, erscheint gering. Doch ist vor Verzärtelung
sehr zu warnen. Verweichlichung ist ebenso eine Übertreibung wie Abhärtung im
landläufigen Sinne.
Moll, Die körperliche Entwicklung der Schuljugend in Pommern. Zeitschrift für
Kinderschutz und Jugendfürsorge. V, 1 (Januar 1913), S. 18.
In den Kreisen mit niederem Stillwert besteht eine relativ hohe Säuglings-
sterblichkeit und eine schlechtere körperliche Entwicklung der Schulkinder als in
den Kreisen mit hohem Stillwert und niederer Säuglingssterblichkeit.
Hanauer, W., Constitution und Krankheiten im schulpflichtigen Alter. Neue
Wissenschaftliche Rundschau. 1913, 1 (5. Januar), S. 16—19.
Die Beurteilung der Konstitution der Schulkinder hat eine örtliche Bedeutung,
Die Zahl der gut entwickelten Schulkinder beträgt fast nirgends in Deutschland die
Hälfte. Die Zahlen sind von der Gründlichkeit der Untersuchung abhängig: am be-
kleideten Körper untersucht wurden in Dresden 44,27°/, der Kinder als krank be-
funden, unbekleidet 79,11°,,. Konstitution, Körpergewicht, Körpergröße sind besser
bei den Kindern sozial höher stehender Schichten. Die Zahl der gefundenen Krank-
heiten ist bei ihnen geringer. Besserung ist zu erzielen durch Belehrung, ärztliche
Behandlung, Unterbringung in Seehospizen usw. In Brünn ließ sich durch der
artige Maßnahmen in einem Jahr die Zahl der Erkrankten auf den dritten Teil
reduzieren.
Fraenkel, Dora, Über die normale Körpertemperatur der Kinder und ihr Ver-
halten bei Bewegung und Ruhe. Deutsche Med. Wochenschrift. 39, 6 (6. Februar
1913), S. 267—268.
163 beobachtete Kinder der Kinderheilstätte in Borgsdorf bei Berlin zeigten
alle nachmittags erhöhte Temperatur. Die Temperatur läßt sich durch Ruheperioden
herabsetzen auf die Norm. Die Temperatursteigerung ist durch die Körperbew egung
bedingt; sie ist in der Regel unabhängig von der Außentemperatur. Ein ver-
schiedenes Verhalten der Kinder je nach dem Ausfall der Pirquetschen Reaktion
wurde nicht beobachtet. Wohl aber zeigten neuropathische Kinder eine höhere Be-
wegungstemperatur als nicht neuropathische bei einer Außentemperatur von 16 bis
C. Zeitschriftenschau. 425
250 C. und darüber. Die Ruhetemperatur überschreitet bei den meisten Kindern
nicht 37,20 C. (im After gemessen).
Franke, Kurt, Der Schlaf bei Erwachsenen und Kindern. Heilpädagogische Schul-
und Eliternzeitung. 4, 3 (März 1913), S. 49—51.
Aus Zeitschrift für Jugenderziehung und Jugendfürsorge, III, 5 (15. November
1912), S. 124—126, und bereits referiert. — Warum soll in der pädagogischen
Fachpresse ein Modus einreißen, bereits publizierte Arbeiten als Zweitdrucke weiter
zu veröffentlichen, ohne die Quelle des Erstdrucks anzugeben? Soll das jedesmal
erst der Referent feststellen ?
Thiele, Ad., Bewegung oder Ruhe? Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 26, 3
(März 1913), S. 161—168.
Der Schularzt darf das Problem der Leibesschonung, der Körperruhe nicht
aus dem Auge lassen, denn sie gehört zur Leibesübung. Namentlich vielen Groß-
stadtkindern ist Ruhe sehr vonnöten.
Meyrich, O., Puls und Pulsbeobachtungen. Neue Bahnen. 24, 6 (März 1913),
S. 258—266.
Die Aufzeichnungen der Pulskurve mit dem Sphygmographen und der Kurve
des Blutdrucks mit dem Plethysmographen gaben neue Aufzeichnungen über Puls
und Blutdruck. 5 verschiedene Pulskurven werden in Abbildungen vorgeführt. Für
den Lehrer können Pulszählungen bei den Schülern in verschiedener Hinsicht wert-
voll sein. In drei Tabellen werden Zählungsergebnisse mitgeteilt und teilweise be-
sprochen. Die Pulsfrequenz wird namentlich durch die Turnstunde sehr beschleunigt,
dann aber auch durch Erregungszustände (die durch Pulsbeobachtung aufgedeckt
werden können). In den vorliegenden Tabellen konnte ein Unterschied nach den
Geschlechtern nicht festgestellt werden. »Das Pulszählen stand zuzeiten in medizi-
nischen Kreisen in einem recht geringen Ansehen, und wir haben ja auch gesehen,
welch schwankender, unzuverlässiger und zweifelhafter Indikator der Puls unter
Umständen sein kann. Immerhin ist doch feststehend, daß in einer ganzen Reihe
von Fällen die Pulsfrequenz einen ganz brauchbaren Maßstab zur Beurteilung der
Schüler bietet. Freilich liefert er wertvolle Ergebnisse nur dann, wenn man zu-
nächst durch einige Zählungen die für den einzelnen Schüler normale Pulszahl er-
mittelt hat.«
Cohn, Moritz, Wie stillt man zweckmäßig den Durst des Schulkindes während
der Frühstückspause? Die Pädagogische Praxis. I, 1 (Oktober 1912), S. 38—41.
Einrichtung von Trinkspringbrunnen in den Schulen ist zu empfehlen; doch
bedarf deren Benutzung steter Aufsicht und Kontrolle. Wo solche Brunnen nicht
angelegt werden können, können die Kinder eigene Gläser in der Frühstückstasche
oder in einer besonderen Tasche neben dieser mitbringen. Milchtrinken sei nur auf
ärztliche Anordnung hin gestattet, da allzuviel Milchgenuß die Kinder an der Auf-
nahme fester Nahrung hindert. Statt dessen werde der Obstgenuß gefördert, da
Obst nicht nur den Durst stillt, sondern auch die Darmtätigkeit anregt. Obst kann
heute zu allen Jahreszeiten verhältnismäßig billig besorgt werden.
Rothfeld, Welchen Einfluß haben Schulbetrieb und Schulgebäude auf die Be-
schaffenheit der Schulluft. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 26, 2 (Februar
1913), S. 82—104.
Untersuchungen aus der Chemnitzer Lessing-Mädchenschule mit etwa 1000
Schülerinnen (vorgenommen im März 1911). Es bestand die Absicht, die Zahl der
auf Gelatineplatten in bestimmter Zeit entwickelten Keime, resp. Kolonien festzu-
stellen. Ein Verweilen der Kinder auf den Korridoren kann als zweckentsprechende
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 28
426 'C. Zeitschriftenschau.
Pausenverwendung nicht betrachtet werden. Als zweckmäßig (wenigstens für größere
Schulen) erweist sich das Zimmerturnen bei geöffneten Fenstern unter Vermeidung zu
großer Kopfannäherung an den Boden und zu starker Bewegung von Beinen und Füßen.
Zu sorgen ist für ausreichende Gelegenheiten zum Reinigen der Füße, für möglichst
geräumige Zimmer (der Luftkeimgehalt nimmt zu mit der Verringerung des Luft-
raumes für jedes Kind), für Bindung des Schmutzes an den Fußboden. Als beste
und schnellste Lüftung ergibt sich die Fensterlüftung.
Hanauer, W., Luftbeschaffenheit und Ventilation in der Schule. Die pädagogische
Praxis. I, 2 (November 1912), S. 104—106.
In 1 g Schulstaub fand man durchschnittlich 1800000 Keime. Der Schul-
staub ist von den allgemeinen Reinlichkeitsverhältnissen abhängig, deren Wichtigkeit
besprochen wird. Es muß in den Schulräumen für ständige Ventilation gesorgt
werden. Der Verfasser empfiehlt, die Lüftungsanlagen durch Einbau von elektrisch
betriebenen Ventilatoren zu unterstützen.
Steinhaus, F., Beiträge zur Frage der Ventilation von Klassenräumen. Zeitschrift
für Schulgesundheitspflege. 26, 1 (Januar 1913), S. 6—33.
Die Untersuchung stützt sich auf zahlreiche Versuche. Die Frage muß lauten:
Wie verhüten wir eine Überhitzung der Klassen? Kostspielige künstliche Venti-
lationsanlagen erscheinen entbehrlich. Natürliche Ventilation durch ständig offen
gehaltene Oberlichter ist im allgemeinen als ausreichend zu bezeichnen. Zur
Heizung ist für große Schulen Zentralwarmwasserheizung zu empfehlen.
Thiemich, Martin, Über die Behandlung der Krämpfe im frühen Kindesalter.
Deutsche Med. Wochenschrift. 39, 12 (20. März 1913), S. 537—540.
Nach kurzer Besprechung der Krankheitserscheinungen folgt eine Besprechung
der im Laufe der Zeit mannigfach gewandelten therapeutischen Maßnahmen. Be-
tont wird neben der Innehaltung der ärztlich angeordneten Diät und Medikamente
vor allem Sorge für reine Luft.
Gastpar, Über Augenuntersuchungen bei Schulkindern. Münch. Med. Wochen-
schrift. 60, 12 (25. März 1913), S. 647.
Bei Augenuntersuchungen muß vor allem das Prinzip der feststehenden gleich-
bleibenden Lichtquelle berücksichtigt werden, namentlich dann, wenn die Unter-
suchungen in verschiedenen Schulen vorgenommen und verglichen werden sollen.
So ergab sich bei einer Untersuchung in Stuttgart und Vororten zunächst, daß die
Landkinder schlechtere Augen hatten als die Stadtkinder. Der Verfasser konstruierte
einen den Anforderungen entsprechenden Apparat, bei dessen Benutzung sich das
zu erwartende Resultat ergab, daß die Landkinder bessere Augen hatten als die
Stadtkinder.
Fischl, Rudolf, Die Aufgaben der Familie im Kampfe gegen die akuten Infektions-
krankheiten. Deutsche Elternzeitschrift. 4, 4 (1. Januar 1913), S. 61—63.
Die Aufgaben werden in kurzer Weise treffend geschildert. Der Arzt ist bei
der Bekämpfung sehr auf die Mithilfe des Hauses angewiesen.
Schultz, R., Diphtherie-Erkrankungen und -Sterbefälle im preußischen Staate und
im Stadtkreise Berlin während der Jahre 1902—1911. Zeitschrift für Schul-
gesundheitspflege. 26, 2 (Februar 1913), S. 104—108.
Die Betrachtung der Zahlen ergibt, daß die bisherigen Bekämpfungsmaßregeln
nicht ausreichend waren.
Gettkant, Über Klassenepidemien von Diphtherie. Deutsche Med. Wochenschrift.
39, 3 (16. Januar 1913), S. 123--124.
C. Zeitschriftenschau. 427
Erörterung einer Klassenepidemie in einer Schöneberger Gemeindeschule. Es
kommt vor allem — wie auch in diesem Fall — darauf an, möglichst schnell den
oder die Bazillenträger zu eruieren und aus der Schule zu nehmen. Die Erkrankung
konımt allerdings bei dem langwierigen Meldeapparat oft erst spät zur Kenntnis des
Schularztes. In Berlin-Schöneberg stellt die Schulschwester jeden Vormittag aus
den Meldungen der Ärzte an das Polizeipräsidium die Erkrankungen fest und meldet
sie sofort dem Schularzt, der dann gleich wenn nötig die Entnahme von Rachen-
schleim einleitet und die bakteriologische Untersuchung veranlaßt.
Harbitz, Francis, Über angeborene Tuberkulose. Münch. Med. Wochenschrift.
60, 14, (8. April 1913), S. 741 —744.
Beschreibung eines Falles angeborener tuberkulöser Infektion und Erörterung
der Frage, wie bald ein neugeborenes Kind nach der Infektion durch seine tuber-
kulöse Umgebung an Tuberkulose sterben kann. Die allermeisten Tuberkulösefälle
bei Erwachsenen und bei Kindern beruhen jedoch auf einer Infektion nach der
Geburt.
de Besche, Arent, Untersuchungen über die tuberkulöse Infektion im Kindesalter.
Deutsche Med. Wochenschrift. 39, 10 (6. März 1913), S. 452—454.
Auf Grund seiner Untersuchungen von 50 nicht ausgewählten Fällen von
Kindertuberkulose kommt der Verfasser zu dem Schluß, daß sich (in Kristiania)
etwa 6—8°/, der tuberkulösen Infektionen von Kühen, die übrigen sämtlich vom
Menschen herleiten.
Thiele, Ad., Die Bekämpfung der Tuberkulose an den Städtischen Volksschulen in
Chemnitz. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 26, 4 (April 1913), 8. 273—275.
Voraussetzung ist: Feststellung des Gesundheitszustandes aller Kinder, Über-
wachung der kranken und krankheitsverdächtigen, gesundheitliche Beratung der
Konfirmanden für die Berufswahl. Was in Chemnitz geschieht, wird in knappen
Worten mitgeteilt. 1911 waren 1,36°/, der Schulkinder tuberkuloseverdächtig oder
tuberkulös. 143 Knaben und 208 Mädchen wurden der Walderholungsstätte über-
wiesen. 830 Kinder wurden nach von Pirquet geimpft. 467 Knaben und 571
Mädchen wurden in der Auskunfts- und Fürsorgestelle beraten.
Moll, Das Ohrringstechen und seine Gefahren, insbesondere die tuberkulöse An-
steckung der Stichöffnungen. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge.
V, 1 (Januar 1913). S. 18—19.
Bericht über einen Beitrag Epsteins zu dieser Frage. Die Tuberkulose des
Ohrläppchens kann entstehen infolge Tuberkuloseinfektion beim Ohrstechen oder bei
tuberkulösen Individuen infolge Ansiedlung von Tuberkelbazillen in der Wunde aus
der Blutbahn. Diese Fälle dürften die häufigeren sein. Die Unsitte, insbesondere
die Art und Weise der Vornahme derselben bei den Kindern ist zu bekämpfen.
Maximin, Enquête sur l'usage de la touche et de l’ardoise. Les Annales Pédo-
logiques. IV, 1 (Octobre 1912), 8. 21-41.
Die Rundfrage nach dem Gebrauch von Tafel und Griffel erfolgte teils privat,
teils mit Vermittlung der Behörden. Sie erstreckt sich auf 12 verschiedene Länder.
In den meisten wird Schiefertafel und Griffel abgelehnt. Aus Sparsamkeitsgründen
wird in den Volksschulen die Abschaffung aber nicht durchgeführt.
Vulpius, Oskar, Die neue Verbandsbehandlung der Skoliose nach Abbott. Deutsche
Med. Wochenschrift. 39, 15 (10. April 1913), S. 695—699.
Die neue Methode, die eingehend dargelegt wird, erzielt oder erleichtert doch
die Umkrümmung. Die frappierenden Resultate, von denen verschiedene Abbildungen
28*
428 C. Zeitschriftenschau.
eine Vorstellung ermöglichen, festigen den Glauben, »daß die neue Methode in der
Tat neue und unerwartete Perspektiven für die Skoliosenheilung erschließt«e.
Blencke, August, Die Sonderturnkurse in den Schulen und ihre prophylaktische
Bedeutung in der Krüppelfürsorge. Zeitschrift für Krüppelfürsorge. 6, 1 (Februar
1913), S. 21—34.
Zur Kräftigung der Rumpfmuskulatur (leichte Verkrümmungen) sind Sonder-
turnkurse sehr am Platze, keineswegs aber bei schwereren Skoliosen. Die Kurse
müssen einheitlichen Charakter tragen. Die Behandlung wirklich schwerer Skoliosen
erfordert größeren Geldaufwand, ist aber eine dringende Aufgabe. — Die Sonder-
turnkurse werden noch näher beschrieben. Jeder Kurs zählt höchstens 25 Kinder.
Diese Kinder werden etwa 7 bis 8 mal im Jahr eingehend untersucht. Sehr viel
kommt auf die Turnlehrerin an. Die Erfolge sind im allgemeinen zufriedenstellend.
Hirsch, Max, I. Kongreß zur wissenschaftlichen Erforschung des Sportes und
der Leibesübungen in Oberhof i. Thür., 20.—23. September 1912. Zeitschrift für
Schulgesundheitspflege. 26, 2 (Februar 1913), S. 109—116.
Bericht über Vorträge und Aussprachen. — Es wurde die Gründung eines
Reichskomitees zur wissenschaftlichen Erforschung des Sportes und der Leibes-
übungen beschlossen. Der Verlauf des Kongresses berechtigt zu der Hoffnung, daß
dieser neue Zweig der Wissenschaft vor allem auch für die praktische Ausbildung
der heranwachsenden Jugend bedeutsame Früchte tragen dürfte.
Spühler, Rud., Die neue schweizerische Turnschule. Schweizerische Blätter für
Schulgesundheitspflege. 11, 2 (Februar 1913), S. 17—23.
Eingehende Besprechung der vorgeschriebenen Turnübungen und Vergleich
mit den früheren Turnschulen.
Basler Kinderheilstätte in Langenbruck. Schweizerische Blätter für Schulgesund-
heitspflege. 11, 1 (Januar 1913), S. 6—9.
Im Jahre 1911/12 wurden 295 Kinder behandelt. Es wurden entlassen: geheilt
5709/,, gebessert 42°/,, ungebessert 10/,.
Steinhardt, Ignaz, Ferienversicherung. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege.
26, 1 (Januar 1913), S. 65—76.
Die Ferienkolonien kommen nur wenigen Kindern zu gute. Nur 2—3°/, der
Gesamtschülerzahl findet ausgiebige Ferienerholung. Besserung ließe sich durch
eine »Ferienversicherung» schaffen, deren Plan und Kostenberechnung eingehend
aufgestellt ist. Eine derartige fakultative Versicherung wäre sehr wohl durchführbar
und auch durchaus rentabel.
Westergaard, Harald, Der Alkoholismus der Eltern und die Kinder. Inter-
nationale Monatsschrift zur Erforschung des Alkoholismus. 23, 4 (April 1913),
S. 121—136.
Kritische Besprechung der älteren Untersuchungen Elderton - Pearsons und
Laitinens. Die Untersuchungen deuten darauf hin, daß die Altersstrecke, die sich
mit Rücksicht auf Vererbung am vorteilhaftesten untersuchen läßt, das zarte Kindes-
alter ist,
Fels, R., Eine Feststellung zu der Arbeit von Dr. Kschischo. Zeitschrift für
Schulgesundheitspflege. 26. 1 (Januar 1913), S. 38—39.
Wenn K. vor der Verallgemeinerung süddeutscher Zahlen über den Alkohol-
genuß der Schulkinder warnt, so ist ebenso sehr vor der Verallgemeinerung seiner
Zahlen aus Altona zu warnen, da diese Zahlen ganz sicher im Verhältnis zu einer
etwaigen Durchschnittszahl zu klein sind, weil in Altona zahlreiche Kinder im
C. Zeitschriftenschau. 429
Guttempler-Jugendwerk organisiert sind oder doch unter dem Einfluß der dort und
im benachbarten Hamburg kräftig vertretenen Abstinenzbewegung der Guttempler
stehen.
Ehrenpfordt, A., Eine brennende pädagogische Aufgabe. Die Alkoholfrage. IX, 1,
1913, S. 10—14.
Nach einer im August 1910 im 9. Schulbezirk Berlins in 23 Gemeindeschulen
erhobenen Statistik tranken
gelegentlich täglich
m
Wein Bier Branntwein Wein Bier Branntwein
Knaben (8106) . 1395 5036 1436 53 1828 44
172%, 621% 178% 065% 2,55% 0,54%,
Mädchen (8442). 1891 5217 993 121 1873 76
224%, 618% 11,6% 14% 22% 09%
Von 1925 täglich Alkohol trinkenden Knaben standen 381 = 19,7°/, unter dem
Durchschnitt, von 2070 Mädchen 302 = 14,6°/,. »Eine anschauliche und gründliche
Belehrung sollte man in keiner Schule versäumen, damit nicht Kinder in das Leben
hinausgeschickt werden, die sich aus Unverstand und Unwissenheit an ihren besten
Gütern versündigen.«
Gohde, G., Alkoholfreie Jugenderziehung. Deutsche Lebenskunst. 20, 4 (15. Februar
1913), S. 53—54.
Es ist erstrebenswert, daß sich in den Lehrervereinen besondere Ausschüsse
oder Vereinigungen für Schulgesundheitspflege bilden, wo über alkoholfreie Jugend-
erziehung und andere Fragen im Rahmen der Schulhygiene gesprochen werden kann.
Über die Arbeıt einer solchen Vereinigung im Potsdamer Lehrerverein wird berichtet.
Koopmann, Bewahre dein Kind vor berauschenden Getränken. Deutsche Lebens-
kunst. 20, 4 (15. Februar 1913), S. 54—55.
Wenn es Plicht ist, die Kinder nach Kräften vor Krankheiten zu bewahren,
so ist es erst recht Pflicht, sie vor den Gefahren des Alkoholgenusses zu schützen.
Der beste Schutz liegt in der Enthaltsamkeit.
Henneberg, Über die Notwendigkeit eines besonderen Hygiene-Unterrichts in den
Volksschulen. Zeitsch. f. Schulgesundheitspflege. 26, 3 (März 1913), S. 168—184.
Die Magdeburger Lehrplankommission lehnte es ab, in den Volksschulen be-
sonderen Unterricht in Gesundheitspflege erteilen zu lassen, da es nicht Aufgabe
des Schularztes sein könne, Unterricht zu erteilen, und da die gelegentliche Unter-
weisung der Schüler durch die Lehrer vollauf genüge. Das gab Henneberg den
Anlaß, seine Beobachtungen aus einer Knaben-Volksschule zu veröffentlichen. Er
zeigt, wie durch zweckmäßigen Hygieneunterricht viel gebessert werden könne und
wie die Schule selbst noch viele hygienische Anforderungen erfüllen lernen muß.
Aus dem reichen Material sei nur folgendes mitgeteilt: Nur 23,6°%, der Knaben
hatten eigene Zahnbürsten (bei 700 Knaben). 78 Knaben =11°/, erhielten kein
warmes Mittagessen; 18 von ihnen bekamen überhaupt keine warme Mahlzeit, die
übrigen 60 erst abends, »Durch Befragung der Kinder stellten wir fest, daß den
Eltern in vielen Fällen jedes Verständnis für eine zweckmäßige Ernährung ihrer
Kinder abging.< 27°/, der Knaben tranken gelegentlich starke Alkoholika (Liköre.
Rum, Schnaps usw.), 6°/, regelmäßig abends ihr Bier (nur Lagerbier). 12°/, gaben
an, bisher noch keine geistigen Getränke genossen zu haben (vorwiegend Kinder des
ersten Schuljahrs). Über 75°, der Knaben hatten bereits geraucht, etwa 7%,
rauchten öfters. — Es schliefen in einem Zimmer
430 C. Zeitschriftenschau.
zu vier Personen 139 Knaben = 19,8 °/,
„ fünf a 81 + 116,
„ sechs „ 49 er S
„ sieben „, 23 = 33 „
„ acht na 4 „= 06,
„ neun ” 2 ” se: 0,3 »
402 Knaben = 57,4 °/, schliefen zu zwei und drei Personen, nur sehr wenige
allein in einem Zimmer. Die Schlafräume sind dabei oft ungenügend. Ein eigenes
Bett hatten 205 Knaben = 29,3 %/,. 471 == 67,3°/, schliefen zu zwei in einem Bett,
23 = 3,3 °/⁄, zu drei, 1 Knabe sogar zu vier. Von diesen 495 Kindern teilten ihr
Bett mit
dem Bruder 283 = 57,2),
dem Vater 85 = 17,2 „
der Schwester 72 = 14,5 „
der Mutter 52 = 10,5 .
einem weiteren Verwandten 3= 0,6 „
Resignierend heißt es in dem Bericht: »An den ungünstigen Wohnungsverhält-
nissen werden wir ja schwerlich etwas ändern können, wohl aber vermögen wir
Kinder und Eltern über die Notwendigkeit, daß das Schlafzimmer täglich gelüftet
werden muß, zu unterrichten und sie zur Sauberkeit zu erziehen.« — Die Schlaf-
dauer ist oft ganz unzureichend. — 44,5°/, der Knaben badeten während des
Winters überhaupt nicht; 81,5°/, waren Nichtschwimmer. 22°, kämmten sich
nie; manche davon hatten Läuse, auch in kurz geschorenen Haaren. Die Kleidung
ist oft unzureichend gereinigt. 25,7°/, der Knaben hatten an den Kontrolltagen
keine Taschentücher; viele besaßen keine. Schweißfüße finden sich oft. Die Kleidung
ist unzweckmäßig (Korsett bei Schulmädchen). Die Bücher werden unterm Arm
getragen (schlechte Haltung). Das Frühstück wird vielfach in Zeitungspapier mit-
gebracht. — Henneberg glaubt, daß gelegentliche Belehrungen auf die Kinder keinen
Eindruck machen. »Wir müssen daher auf unsere Forderung, daß besondere Unter-
richtsstunden für Gesundheitslehre einzuführen sind, bestehen.«
Berninger, Johannes, Über gesundheitliche Belehrungen in der Schule. Zeit-
schrift für Jugenderziehung und Jugendfürsorge. 3, 13 (15. März 1913), S. 376
bis 382.
Auf der Unterstufe sind gesundheitliche Belehrungen in der einfachsten und
leichtverständlichsten Weise vorübergehend zu bieten. Themen dafür werden an-
gegeben. Auf der Mittel- und Oberstufe sind die Fragen teils im naturkundlichen
Unterricht, teils selbständig zu besprechen. Der naturkundliche Unterricht kann im
letzten Schuljahr zugunsten der Gesundheitslehre wesentlich zurücktreten. Verfasser
fand, daß Schüler und Schülerinnen dem Unterricht in Gesundheitslehre stets leb-
haftes Interesse entgegenbrachten und nach dem Verlassen der Schule denı Lehrer
oft ihren Dank für empfangene Unterweisungen bekundeten. — Für den Unterricht
sind verschiedene brauchbare Materialien (Tafeln, Hefte usw.) angegeben.
Ein Vortrag vor Untersekundanern. Die Abstinenz. XII, 4 (1. April 1913), S. 53
bis 55.
Der Vortrag weist in treffender und packender Weise die Schüler auf die
große Bedeutung der Alkoholfrage für den einzelnen wie für die Gesamtheit hin.
Rauh, Sigismund, Die Stimmung des Sexuellen in Unterricht und Erziehung.
Der Säemann. 1913, 2 (14. Februar), S. 58—62.
Beitrag zur Frage der sexuellen Belehrung unter besonderer Berücksichtigung
C. Zeitschriftenschau. 431
der jugendlichen Psyche. »Von dem Tatsächlichen, dem Anatomischen der Sexualität
sprechen wir so wenig als möglich, eingehender höchstens unter vier Augen.«
Grimm, Ludwig. Erziehung zur Wirtschaftlichkeit, Einfachheit, Gediegenheit.
Deutsche Schulpraxis. 33, 8 (23. Februar 1913), S. 57—59; 9 (2. März), S. 68
bis 70; 10 (9. März), 8. 76—78.
Der Aufsatz bringt manche bemerkenswerte Ratschläge zur Hygiene des Leibes
wie des Geistes. Er warnt vor den vielfachen Kulturschäden in drastischer und
humorvoller Weise und zeigt den Lehrern, wie sie im Unterricht vorgehen können.
Librowitsch, Sigismund, Die Elternschule. Pädagogischer Anzeiger für Ruß-
land. 5, 1 (20. Januar 1913), S. 29—40.
Die Elternschule ist ein Kreis Petersburger Eltern und Kinderfreunde, die
lebhaftes Interesse für die Entwicklung der Kindesseele bekunden. Diese Einrich-
tung hat manches gemeinsam mit dem Deutschen Verein für Kinderforschung und
verwandten Organisationen. Sie legt besonders auch auf Jugend- und Schulhygiene
großen Wert.
Wilker, Karl, Deutsche Elternschulen. Pädagogischer Anzeiger für Rußland. 5, 3
(28. März 1913), S. 129—133.
Weist unberechtigte Ausstellungen an deutschen Leistungen, insbesondere an
den deutschen Elternabenden, in dem Aufsatz Librowitschs zurück und bringt den
Nachweis, daß manche der Einrichtungen, die L. in Petersburg zuerst entstanden
meint, bereits in Deutschland seit langer Zeit bestehen, so vor allem auf dem Ge-
biete kinderpsychologischer Forschung.
Effelberger, J.. Pflichtstundenzahl. Blätter für Taubstummenbildung. 26, 2
(15. Januar 1913), S. 17—23.
Die Zahl der Pflichtstunden an Taubstummenanstalten ist erst sehr wenig be-
hördlich geregelt. Die mitgeteilten Zahlen zeigen, wie notwendig eine derartige
Regelung aber ist.
Wehner, K., Heimatlos. Neue Bahnen. 24, 5 (Februar 1913), S. 227—230.
Viele Kinder sind tatsächlich heimatlos. Diese Heimatlosigkeit schädigt das
Kind nicht nur physisch, sondern auch moralisch und intellektuell. Die Heimat-
losigkeit stellt auch ein gut Teil der pädagogischen Arbeit in Frage.
Baur, Wegweiser für die Tätigkeit der Frauen in der Armen- und Wohlfahrts-
pflege. Die Gesundheitswarte. X, 7, S. 165—171; 8, S. 182—189; 9, 8. 206
bis 213; 10, S. 233—241; 11, S. 250—256.
Kurzer allgemeiner und ausführlicherer spezieller Wegweiser. In letzterem
werden behandelt: Pflege der gesunden Säuglinge, der kranken Säuglinge; sonstige
Wartung und Pflege des Kindes; Wohnungskontrolle, Ernährung; Verhalten bei an-
steckenden Krankheiten; Kraukenpflegemaßnahmen.
Hanssen, Die Belehrung der Bevölkerung durch Museen für Säuglingspflege.
Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. V, 1 (Januar 1913), S. 16—18.
Entwickelt den Plan eines derartigen Museums nach Anlage und Einrichtung,
Kosten und Betrieb.
Siegmund, Heinrich, Die Säuglingssterblichkeit und unsere Schulen. Schul-
und Kirchenbote. 48, 3 (1. Februar 1913), S. 34—38.
»Kein Mädchen sollte ohne Aufklärung über die beste Ernährung und Pflege
der Kinder und zwar besonders der Säuglinge die Schule verlassen.«
Moll, Zur Frage der Sommersterblichkeit. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugend-
fürsorge. 4, 12 (Dezember 1912), S. 345—347.
432 D. Literatur.
Zur Erklärung lassen sich drei Hypothesen heranziehen: die der Milchzersetzung,
die Infektionshypothese, die Theorie der Hitzestauung. Die Sommersterblichkeit
kann aber nur durch das Ineinandergreifen aller drei Umstände erklärt werden. Die
beste Prophylaxe ist eine gründliche Wohnungsreform (Möglichkeit entsprechender
Entwärmung; freistehende Häuser). Die Arbeit stützt sich referierend auf neuere
Untersuchungen Liefmanns und Lindemanns.
Moll, Die Verteilung der Sommersterblichkeit der Säuglinge in Österreich auf Stadt
und Land. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. V, 1 (Januar 1913),
S. 19—21.
Der Gesundheitszustand der Säuglinge erscheint im Wintervierteljahr auf dem
Lande im Gegensatz zur Stadt am ungünstigsten. Das hängt wohl zusammen mit
den unhygienischen ländlichen Wohnungsverhältnissen. Daraus ergibt sich die Not-
wendigkeit der Wohnungsreform als Teilgebiet des Säuglingsschutzes.
Hoffa, Th., Probleme der Säuglingsfürsorge im Deutschen Reiche. ‚Zeitschrift für
Kinderschutz und Jugendfürsorge. V, 2 (Februar 1913), S. 46—49; 3 (März),
S. 81—83.
Die heutige Säuglingssterblichkeit bedeutet nach Potthoff für Deutschland
einen Verlust von rund 100 Millionen Mark jährlich. Die Geburtenziffer ist seit
1902 in Deutschland auf dem Lande im Sinken begriffen, seit 1907 ist in Preußen
die Säuglingssterblichkeit auf dem Lande höher als in den Städten. Um die länd-
liche Armen- und Waisenpflege ist es noch recht schlecht bestellt. Hilfeleistung
für das flache Land muß durch größere Zentralen gebracht werden. Fürsorge für
das Säuglings- und Kleinkindesalter ist als Unterbau für geordnete Jugendpflege
dringend notwendig. Vor allem kommt es auf die Bekämpfung der Sommersterblich-
keit an: Gesunderhaltung der Säuglinge bis zur Hitzeperiode und Verhütung der
Hitzeschädigung selbst. Die Mütter müssen gründlich belehrt und aufgeklärt werden.
Offene und geschlossene Säuglingsfürsorge müssen gut ineinandergreifen.
Hoffa, Th., Der III. Deutsche Kongreß für Säuglingsfürsorge, Darmstadt, 20. bis
22. September 1912. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. 4, 11
(November 1912), S. 321—324; 12 (Dezember 1912), S. 348—349.
Möglichst objektiver Bericht. Eingehend und gut.
D. Literatur.
Wilker, Karl, Alkohol und Jugendpflege. Hamburg 30, Deutschlands Groß-
loge II des J. O. G. T., 1913. 31 Seiten. Preis 30 Pf.
Dem viel, aber einseitig gebrauchten Schlagwort »Jugendpflege« gibt der Ver-
fasser einen erweiterten Umfang und einen vertieften Inhalt. Er versteht darunter
mit Recht die ganze Fürsorge für die gesamte Jugend ohne Ausnahme, also für alle
noch nicht vollentwickelten Menschenkinder, und geht dabei auf die Hauptquelle
alles Jugendelends zurück, nämlich den Alkoholismus. In Vortragsform behandelt
er die vielseitigen Ausstrahlungen dieses ungeheuren Übels, unter dem gerade die
Jugend unseres Volkes leidet und verdirbt. Was helfen da alle Opfer und Mittel,
die privatim und »amtlich« für Jugendhilfe und Jugendpflege aufgebracht werden,
wenn man sich darauf beschränkt, unliebsame Symptome zu bekämpfen, ohne die
Wurzel des Elends zu treffen! Fürwahr, wir haben keinen Grund, auf unsere Kultur
D. Literatur. 433
stolz zu sein, wenn die Gesellschaft nicht fähig ist, aus einer millionenfachen Er-
fahrung die nächstliegenden Schlüsse zu ziehen, und nicht die sittliche Kraft besitzt,
nach ihrer besseren Einsicht folgerichtig zu handeln. — Die warmherzige Schrift
verdient eine Massenverbreitung.
Berlin. Richard Schauer.
Wilker, Karl, Alkoholismus, Schwachsinn und Vererbung in ihrer Be-
deutung für die Schule. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer
& Mann). Preis 1,20 M.
In der vorliegenden Schrift hat einer unserer besten Sachkenner mit bewunderns-
wertem Fleiß die Ergebnisse der neueren Forschung über Keimschädigungen und
Entwicklungshemmungen durch Alkohol gesammelt und übersichtlich zusammen-
gestellt. Die verheerenden Wirkungen des Alkoholismus von den Quellen der
Zeugung an bis zum geistigen und sittlichen Zusammenbruch des kindlichen Indi-
viduums innerhalb der sozialen Gemeinschaft werden anschaulich dargelegt, wobei
der Verfasser ailein die traurigen Tatsachen sprechen läßt. 22 zum Teil farbige
Tafeln bieten ein sehr wertvolles Anschauungsmaterial, das besonders denen will-
kommen sein wird, die Vorträge über den Alkoholismus zu halten beabsichtigen. Die
Schrift ist als zuverlässige Materialiensammlung vorzüglich zu empfehlen.
Berlin. Richard Schauer.
Hoppe, Hugo, Die Tatsachen über den Alkohol. Ein Handbuch der Wissen-
schaft vom Alkohol. 4., umgearbeitete und vermehrte Auflage. München, Ernst
Reinhardt, 1912. XVI und 746 Seiten. Mit vielen Tabellen. Preis broschiert
9 Mark, gebunden 10,50 Mark.
Kein Buch orientiert den, der wirklich ernsthaft die Alkoholfrage studieren
will, so gut wie dieses Werk Hoppes, das wohl alles zusammengetragen hat, was an
wissenschaftlichen Untersuchungen über die Alkoholfrage zusammenzutragen ist.
Das überreiche Material, eine oft wahrhaft beängstigende Fülle von Zahlen, ist in
dreizehn großen Abschnitten übersichtlich angeordnet. Hoppe hat sich bemüht,
objektiv zu sein. Dieser Objektivität muß man es zugute halten, wenn hier und da
dem einen oder anderen Benutzer des Werkes nicht kritisch genug vorgegangen zu
sein scheinen sollte. Diese Objektivität ist aber auch ein wesentlicher und lobens-
werter Zug an diesem Handbuch. Es ist ganz ausgeschlossen, im Rahmen einer Be-
sprechung ausführlich die Bedeutung des Hoppeschen Werkes zu würdigen. Es mag
hier nur ganz kurz hingewiesen werden auf die für unsere Leser wichtigsten Abschnitte
des Buches. Es sind das vor allem die drei letzten Abschnitte, obgleich man sich
nicht verhehlen darf, daß auch jeder der zehn anderen Abschnitte eine Menge wert-
vollen Materials gerade für den Pädagogen und Mediziner, für den Kinderforscher,
birgt. Das XI. Kapitel trägt die Überschrift »Alkohol und Entartung« und behandelt
den Einfluß der Trunkenheit zur Zeit der Zeugung, den Einfluß des chronischen
Alkoholismus auf die Nachkommenschaft, die Verminderung der Fruchtbarkeit in
Trinkerfamilien; es wird über die verschiedenen Tierversuche, die für das Ent-
artungsproblem von Bedeutung wurden, referiert; es wird auch der Degeneration
ganzer Völker gedacht. Das XII. Kapitel unterrichtet über die pathologischen
Wirkungen des Alköhols bei Kindern und das XIII. über die Verbreitung der Trink-
sitten und Trunksucht, namentlich auch über die Verbreitung des Alkoholgenusses
bei Kindern. Gerade auf die hier mitgeteilten Zahlen, die jeder Lehrer einmal
kennen gelernt haben sollte, kann nicht nachdrücklich genug hingewiesen werden,
434 D. Literatur.
Es wird immer mehr der Forderung nach alhoholfreier Jugenderziehung Rechnung
getragen. Das bedingt in immer weiteren Kreisen ein erhöhtes Interesse an der
Akoholfrage, ein Verlangen nach Kenntnis der Tatsachen über den Alkohol. Gerade
an den Pädagogen tritt oft die Aufforderung heran, Aufschluß über diese oder jene
Seite der Frage zu erteilen. Das Gebiet der Alkoholfrage ist bereits heute so
umfangreich, daß es der eingehendsten Beschäftigung bedarf, wenn man nur
einigermaßen über die Hauptprobleme orientiert sein und bleiben will. Um so not-
wendiger ist da der Besitz eines Buches, das alles Material enthält, das auch die
erforderlichen Literaturnachweise bringt, die ein Einzelstudium ermöglichen!
Jena. Karl Wilker.
Arendt, Henriette, Kleine weiße Sklaven. Berlin, Vita Deutsches Verlags-
haus, 1912. 206 S. Viertes Tausend. Preis 2,50 M.
Ein erschütterndes Buch! Hunderte, Tausende von Kindern werden verkauft.
Und die wenigsten Menschen wissen es. Es existiert bei uns ein regelrechter und
äußerst lukrativer Geschäftszweig: der Kinderhandel. Und Behörden und private
Rettungsvereine wissen nichts davon, wollen nichts davon wissen. Dies Buch er-
bringt mit grausamer Klarheit den Nachweis, daß im großen Umfange Kinderhandel
betrieben wird. Dokumente und Aktenstücke werden uns Seite um Seite vorgelegt.
Ein Material, wie es nur diese Frau sammeln konnte. Und dann folgt die schwere
Anklage: ich klage die Kirche an, ich klage den Staat an, ich klage die ganze
menschliche Gesellschaft an. Worte, die in ihrer einfachen Schlichtheit tief er-
greifen. — Was soll man tun gegenüber all dem Elend? Die Generalvormundschaft
einführen, Auskunftsstellen schaffen, amtliche Waisenpflegerinnen anstellen, weniger
die Bureaukratie walten lassen, staatliche Mütterheime einrichten, ledige Mütter
durch Stillprämien unterstützen, das Verschenken und Verkaufen von Kindern streng
verbieten, staatliche Kinderasyle schaffen — das sind einige der Reformvorschläge,
die die Verfasserin macht. i
Wir hoffen, in einem der nächsten Hefte einen Aufsatz von Schwester Arendt
aus ihrem Wirkungskreis veröffentlichen zu können. Diesem Buche aber wünschen
wir eine Verbreitung in vielen Tausenden von Exemplaren, damit es die Herzen
tausender von Menschen gewinne für die Bestrebungen einer Frau, die in un-
ermüdlicher Selbstaufopferung für das Wohl armer kleiner Menschenkinder arbeitet
und wirkt.
Jena. Karl Wilker.
Leonhard, Stephan, Die Prostitution, ihre hygienische, sanitäre,
sittenpolizeiliche und gesetzliche Bekämpfung. München, Ernst
Reinhardt, 1912. VIII und 307 Seiten. Preis 4 Mark, gebunden 5 Mark.
Wie wichtig die Frage für den Pädagogen uud Kinderforscher ist, mag man
aus der Wiedergabe folgender Zahlen ersehen, die Leonhard aufstellen konnte. Bei
einem Stande von 681 Prostituierten standen 1910 von den Inskribierten (vor dem
18. Jahre kann kein Mädchen inskribiert werden)
im Alter von Mädchen
18 Jahren 2 (1)
19 5 10 (7)
20 y 28 (16)
Die in Klammern beigefügte Zahl gibt die Ziffer der zum erstenmal er-
krankten an.
D. Literatur. 435
Von 481 Aufgegriffenen waren 1910
im Alter von Mädchen zum erstenmal erkrankt
15 Jahren 1 _
16 „ 8 1
TE +4: 10 2
18 , 26 8
19 „ 28 13
20 „ 44 14
Es stellten sich unter Kontrolle
im Alter von freiwillig gezwungen
18 Jahren 5 Mädchen 2 Mädchen
19 ,„ 19 3 12 33
20 y 39 m 18 s
Von 176 Prostituierten waren aus der Schule entlassen
aus Klasse Mädchen
1 131
2 32
3 9
4 2
7 1 (Analphabet).
Ein Mädchen hatte die höhere Töchterschule absolviert.
Zum ersten Male geschlechtlich betätigt hatten sich
im Alter von Mädchen
14 Jahren 2
15 3 5
16 „ 14
I. 39
18 , 44
19 , 26
20 pa 19
Ich habe diese Zahlen aus Leonhards Buch hier zusammengestellt, eben um
zu zeigen, daß wir allen Grund haben, uns um dieses Buch zu kümmern. Besonders
wichtig ist für uns der zweite Teil desselben, der der Prophylaxe gewidmet ist.
Bei der Bekämpfung der Prostitution hat die körperliche und geistige Erziehung
eine große Rolle zu spielen. Und mit Recht bemerkt Leonhard: »Damit hört auch
die Prostitutionsfrage auf, ein rein medizinisch -hygienisches Problem zu sein, sondern
wird ein eminent soziales, und beginnt schon mit der Erziehung des Kindes«
(S. 67). Neben dem Elternhaus haben sowohl Lehrer wie Schularzt die Pflicht zu
sexueller Belehrung.
Als weitere prophylaktische Maßnahmen machen sich notwendig: Besserung
der Wohnungsverhältnisse (gesetzliche Aufstellung von Mindestforderungen für die
Benutzung von Wohn- und Schlafräumen; Regelung des Zusammenschlafens ver-
schieden-geschlechtlicher und -alter Personen); eine ausgedehnte Jugendfürsorge
(Fürsorge für uneheliche Kinder, für Kinder von Prostituierten. Müßiggängern,
Trinkern, sittlich Defekten; Fürsorge für psychopathische Kinder; Fürsorge bei der
Schulentlassung, Beratung bei der Berufswahl; Haushaltungsunterricht für Mädchen;
körperliche Ertüchtigung der Fortbildungsschüler; Reformierung des Fürsorge-
436 D. Literatur.
erziehungsgesetzes) ; Besserung der sozialen Verhältnisse ; Ermöglichung früherer Ehe-
schließung; Kampf gegen den Alkoholismus (zugleich Rassenveredelung) ; Schutz der
unehelichen Mütter (430/, der Düsseldorfer Prostituierten gaben dem Verfasser an,
daß sie unehelich geboren hatten, und viele erklärten, daß sie dadurch zur
Prostitution bestimmt seien); Kampf gegen Schund- und Schmutzliteratur und -films;
Kampf gegen den Mädchenhandel. — Alle diese Maßnahmen werden eingehend und
gründlich besprochen.
Der dritte Teil des Buches wendet sich vorwiegend an den Mediziner, der
vierte an den Juristen, Leonhard betont mit Recht, daß die Erhöhung des Schutz-
alters für Mädchen von 14 auf 16 Jahre »von der wohltätigsten Einwirkung für die
Sittlichkeit der Jugend sein würde, ... angesichts der Tatsache, daß jugendliche
Personen unter 16 Jahren in steigendem Maße einen Prozentsatz der Prostituierten
bilden« (S. 281), und daß die Strafe der Zukunft, besonders wenn es sich um
Sittlichkeitsdelikte und Prostituierte handelt, die Besserungsstrafe sein soll.
Und nun die Aussichten für die Zukunft? Durch Gesetze, Bildung, Erziehung,
soziale Fortschritte können wir eine Heilung der Schäden erreichen, können wir dazu
beitragen, daß die Prostitution »mehr und mehr als krankhafte Erscheinung in der
menschlichen Gesellschaft verschwindet... Und könnte trotz alledem eine Aus-
rottung der Prostitution auch in ferner Zukunft nie erreicht, so kann doch manches
gebessert und besonders können die sittlichen und gesundheitlichen Schäden, an deren
Folgen die ganze Nation zu tragen hat, herabgemindert werden« (S. 297).
Leonhards Buch will Vorschläge bringen, die sich realisieren lassen. Das tut
es auch. Gerade darum kann nicht nachdrücklich genug darauf hingewiesen werden,
Jena. Karl Wilker.
Neumann -Neurode, Detleff, Kindersport. Körperübungen für das frühe
Kindesalter. Dritte, verbesserte Auflage. Potsdam, A. Stein, 1912. 76 Seiten.
Mit 66 Bildern. Preis 2,25 M.
Die beiden ersten Auflagen dieses nützlichen Büchleins enthielten nur Übungen,
die ohne Apparat ausgeübt wurden, die aber an manche Erwachsene zu große An-
forderungen stellten. Diese neue Auflage ist um eine Anzahl Übungen an dem vom
Verfasser konstruierten Wolmreck bereichert worden. Im Vorwort heißt es u. a.:
»Nach mehr als zweijähriger Beobachtung einer größeren Anzahl von kleinen
Turnerinnen und Turnern stehe ich auf dem Standpunkt, daß es von volksgesundheit-
licher Bedeutung wäre, wenn Wege gefunden würden, nicht nur die Kinder der gut-
situierten, sondern auch der ärmeren Bevölkerung schon im Spielalter auf die An-
strengungen der Schule, die jetzt ganz plötzlich einsetzen, durch leichte Gymnastik
vorzubereiten.«
Jena. Karl Wilker.
Verantwortliche Schriftleitung für Abhandlungen und Mitteilungen: Dir. Trüper,
Sophienhöhe b. Jena; für Zeitschriftenschau und Literatur: Dr. Karl Wilker, Jena,
Weißenburgstraße 27.
Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
Beiträge zum Kindorforschung und Höilerziehung,
Beihefte zur »Zeitschrift für Kinderforschung«.
Im Verein mit
Dr. G. Anton Dr. E. Martinak Chr. Ufer Karl Wilker
Geh. Med.-Rat u. Prof. o. ö. Prof. d. Philosophie Rektor d. Süd-Mädchen- Dr. phil
ander Univ. Halle u. Pädag. a. d. Univ. Graz Mittelschulei. Elberfeld in Jena i. Thür.
herausgegeben von
J. Trüper
Direktor der Erziehungsheimes und Jugendsanatoriums auf der Sophienhöhe bei Jena.
1. Die Sittliehkeit des Kindes. Von Dr. A. Schinz, Privatdozent der Philosophie
an der Akademie Neufchâtel. Übers. von Rektor Ohr. Ufer. 46 S. Preis 75 Pf.
Über J. J. Rousseaus Jugend. Von Dr. med. P. J. Möbius. 338. Preis 60 Pf.
Die Hilfssehulen Deutschlands und der deutschen Sehweiz. Von A.
Wintermann, Leiter der Hilfsschule in Bremen. Preis 1 M 25 Pf.
Die SER: TARESEMERD Behandlung gelähmter Kinder. Von Prof.
Dr. A. Hoffa in Würzburg. Mit 1 Tafel. 16 8. Preis 40 Pf.
Zur Frage der Erziehung unserer sittlieh gefährdeten Jagend. Von J.
Trüper, Dir. des Erziehungsheims Sophienhöhe b. Jena. 40 8. Preis 50 Pf.
Über Anstaltsfürsorge für Krüppel. Von Sanitätsrat Dr. med. Herm. Kruken-
berg, Dir. d. städt. Krankenhauses zu Liegnitz, Mit 7 Textabb. 24 S. Preis 40 Pf.
Die ee der sittlichen Entwicklung und Erziehüng des Kindes.
Von Dr. H. E. Piggott. 87 8. Preis 1 M 25 Pf.
Psyehopathische Minderwertigkeiten als Ursache von Gesetzesverletzungen
Jugendlicher. Von Dir. J. Trüper. 62 8. Preis 1 M.
Der Konfirmandenunterricht in der Hilfssehule. Von Heinrich Kielhorn,
iter der Hilfsschule in Braunschweig. 40 S. Preis 50 Pf.
ber das Verhältnis des Gefühls zum Intellekt in der Kindheit des
Individuums und der Völker. Von O. Flügel. 45 S. Preis 75 Pf.
. Einige Aufgaben der Kinderforsehung auf dem Gebiete der künstlerischen
Erziehung. Von Conrad Schubert, Rektor in Altenburg. 31 S. Preis 50 Pf.
Strafrechtsreform und SRERAIRIRUTSE: Von W. Polligkeit, jur. Dir. der
Cent. f. priv. Fürsorge in Frankfurt a/M. 25 S. Preis 50 Pf.
. 16 Monate Kindersprache. Von Dr. H. Tögel. 36 S. Preis 50 Pf.
Die Bedeutung der chronischen Stuhlverstopfung im Kindesalter. Von
Dr. Eugen Neter. 28 S. Preis 45 Pf.
. Zur Frage des Bettnässens. Von Dr. med. Hermann. 188. Preis 30 Pf.
Warum und wozu betreibt man Kinderstudium? Von A. J. Schreuder,
Direktor des Med.-Päd. Instituts zu Arnheim. 40 8. Preis 50 Pf.
17. Psyehelogische Beobachtungen an zwei Knaben. Von Gottlieb Friedrich,
Gymnasial-Professor in Teschen. 79 S. ‚Preis 1 M 25 Pf.
18. Die Abartungen des kindlichen Phantasielebens in ihrer Bedeutung für
die päd. Pathelogie. Von Dr. med. Julius Moses. 32 8. Preis 50 Pf.
19. Hygiene der Bewegung. Von Dr. H. Pudor. 44 8. Preis 75 Pf.
20. Zur Frage der Behandlung unserer jugendlichen Missetäter. Von J.
Trüper, Dir. des Erziehungsheims Sophienhöhe b. Jena. 34 8. Preis 50 Pf.
21. Die Verwahrlosung des Kindes und das geltende Reeht. Von Dr.
Heinrich Reicher, Privatdozent a. d. Wiener Universität. 32 S. Preis 50 Pf.
22. Über Vorsorge und Fürsorge für die intellektuell schwache und sittlieh
gefährdete Jugend. Von Dr. M. Fiebig, Schularzt in Jena. 50 8. Preis 75 Pf.
23. Über Arbeitserziehung. Von Pastor Plass, Direktor des Erziehungsheims am
tr „ A >. Hal = Sit = BEE Zt 7 2
a
pp
m
ew
pi pt
an
Urban, Zehlendorf. 22 8. Preis 40 Pf.
24. Ds S ue seiner Bedeutung für die Entwicklung des Kindes.
on
lin, Rektor in Mannheim. 44 8. Preis 75 Pf.
Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
Verlag von Hermann Beyer & Sönne (Beyer & Mann) in Langensalza.
Heft
25. Wesen und Aufgabe einer Schülerkunde. Von Dr. E. Martinak, Professor
der Pädagogik an der Universität Graz. 18 S. Preis 30 Pf.
26. Die forensische Behandlung der Jugendlichen. Von W. Kulemann, Land-
gerichtsrat in Bremen. 218. Preis 40 Pf.
27. Die Impressionavilität der Kinder unter dem Einfluss des Milieus. Von
Dr. Adolf Baginsky, Professor an der Universität Berlin und Direktor des
Kaiserin Friedrich-Kinderkrankenhauses. 21 8. Preis 40 Pf.
28. Rachitis als eine auf Alkoholisation und Produktionserschöpfang be-
ruhende Entwicklungsanomalie der Bindesubstanzen. Von Dr. M. Fiebig,
Schularzt in Jena. 38 S. Preis 75 Pf.
29. Psyehasthenisehe Kinder. Von Dr. Th. Heller, Direktor der Erziehungsanstalt
für geistig abnorme Kinder Wien-Grinzing. 18 S. Preis 35 Pf.
30. Die Fürsorge für die schulentlassene Jugend. Von Dr. Felisch, Geh.
Admiralitätsrat. 17 S. Preis 30 Pf.
31. Farbenbeobachtungen bei Kindern. Von Dr. Karl L. Sehaefer, Professor
an der Universität Berlin. 16 8. Preis 30 Pf.
32. Über die Möglichkeit der Beeinflussung abnormer Ideenassoziation dureh
Erziehung und Unterricht. Von Hugo Landmann, Oberlehrer am Trüperschen
Erziehungsheim Sophienhöhe b. Jena. 21 S. Preis 40 Pf.
33. Über hysterische Epidemien an deutschen Schulen. Von Kurt Walther Dia,
Lehrer in Meißen. 46 S. Preis 75 Pf.
34. Die psyehologische und rag ige Begründung der Notwendigkeit
des praktischen Unterrichts. Von Dr. A. Pabst, Direktor des Handarbeits-
seminars in Leipzig. 20 S. Preis 40 Pf.
35. Die oberen Stafen des Jugendalters. Von Dr. H. Schmidkunz in Halensee
bei Berlin. 20 8. Preis 40 Pf.
36. Fröbelsche Pädagogik und Kinderforschung. Von Hanna Mecke in Cassel.
18 8. Preis 35 Pf.
37. Über individuelle Hemmungen der Aufmerksamkeit im Schulalter. Von
J. Delitsch, Hilfsschul-Direktor in Plauen i. V. 25 8. Preis 50 Pf.
38. Die Taubstumm-Blinden. Von G. Riemann, Kgl. Taubstummenlehrer zu
Berlin. Mit 2 Tafeln. 218. Preis 45 Pf.
39. Beitrag zur Kenntnis der Schlafverhältnisse Berliner Gemeindesehüler.
Von Dr. L. Bernhard, Schularzt in Berlin. 13 8. Preis 25 Pf.
40. Wohnungsnot und Kinderelend. Von A. Damaschke. 17 S. Preis 30 Pf.
41. Jugendliche Verbrecher. Von Dr. G. von Rohden. 188. ‘Preis 35 Pf.
42. Die Bedeutung der Hilfsschulen für den Militärdienst der geistig Minder-
wertigen. Von Dr. Ewald Stier, Stabsarzt in Berlin. 26 S. Preis 50 Pf.
43. Der Zitterlaut R. Von O. Stern, Tbst.-L. in Stade. Mit 2 Fig. 388. Pr. 75 Pf.
44. Psychologisches zur ethisehen Erziehung. Von Professor Dr. han
Witasek. Mit 1 Tafel. 17 8. Preis 30 Pf.
45. Zur Wertschätzung der Pädagogik in der Wissenschaft wie im Leben.
Von J. Trüper, Dir. d. Erziehungsheims Sophienhöhe b. Jena. 28 S. Pr. 50 Pf.
46. Fingertätigkeit und Fingerreehnen als Faktor der Entwicklung der Intelli-
genz und der Rechenkunst bei Schwachbegabten. Von H. Nöll. 60S. Pr. 1 M.
47. Der erste Sprechunterricht (Artikulationsunterricht) bei Geistessechwachen.
Von Hauptlehrer Strakerjahn. Mit 2 Textabb. u. 1 Tafel. 255S. Preis 60 Pf.
48. Das staatliche Kinderschutzwesen in Ungarn. Von Dr. Franz v. Torday.
Oberarzt des Budapester staatlichen Kinderasyls. 37 S. Preis 80 Pf.
49. Die Prügelstrafe in der Erziehung. Von Dr. O. Kiefer. 428. Preis 75 Pf.
50. Der Tic im Kindesalter und seine erziehliche Behandlung. Von Gustav
Dirks. 29 S. Preis 60 Pf.
51. Zur Literatur über Jugendfürsorge und Jugendrettung. Von K. Hemprich,
27 8. Preis 50 Pf.
52. Kind und Gesellschaft. Von Konrad Agahd in Rixdorf. 388. Preis 60 Pf.
53. Der Kinderglaube. Von H. Schreiber, Lehrer i. Würzburg. 708. Preis 1 M 25 Pf.
54. Psyehopathische Mittelschüler. Von Dr. phil. Theodor Heller, Direktor der
Heilerziehungsanstalt Wien-Grinzing. 26 8. Preis 50 Pf.
Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
Verlag von Hermann Beyer & Sönne (Beyer & Mann) in Langensalza.
Heft
55. Über den Einfluss der venerischen Krankheiten auf die Ehe sowie über
ihre Übertragung auf kleine Kinder. Von Prof. Æ. Welander, Stockholm.
43 8. Preis 75 Pf.
56. Die Bedeutung des Unterrichts im Formen für die Bildung der Anschauung.
Von H. Denzer. 25 8. Preis 50 Pf.
57. Über den Einfluss des Alkoholgenusses der Eltern und Ahnen auf die Kinder.
Von Dr. A. H. Oort, Arzt a. Sanat. Rheingeest b. Leiden, Holland. 208. Preis 40 Pf.
58. Jugendsehatz-Kommissionen als vollwertiger Ersatz für Jugendgorichts-
höfe. Von Kuhn-Kelly, Präsident u. Kinderinspektor der Gemeinnützigen Ge-
sellschaft der Stadt St. Gallen. 19 S. Preis 40 Pf.
59. Das amerikanische Jugendgericht und sein Einfluss auf unsere Jugend-
rettung und Jugenderziehung. Von Dr. B. Maennel. 34 S. Preis 50 Pf.
60. Die Entwieklung der Gemütsbewegungen im ersten Lebensjahre. Von
Martin Buchner in Passau. (Mit 4 Tafeln.) 20 8. Preis 50 Pf.
61. Frühreife Kinder. Psychologische Studie von Dr. Otto Boodstein, Stadtschulrat
in Elberfeld. 43 8. Preis 75 Pf.
62. Der Arzt in der Hilfssehule. Von Geh. Reg.- u. Med.-Rat Prof. Dr. Leu-
buscher und Hilfsschullehrer Adam. 26 S. Preis 50 Pf.
63. Die Suggestion im Leben des Kindes. Von Hans Plecher, München. 36 S.
Preis 60 Pf.
64. Das Beobachtungshaus der Erziehungsanstalten. Von J. Petersen, Direktor
des Waisenhauses in Hamburg. 19 S. Preis 40 Pf.
65. Über den gegenwärtigen Stand der Kunsterziehungsfrage in Österreich.
Von Prof. Alois Kunzfeld in Wien. (Mit 1 Doppeltafel.) 34 S. Preis 75 Pf.
66. Straffällige Schulknabeu in intellektueller, moralischer und sozialer Be-
ziehung. Von C. Birkigt, Lehrer an der Kgl. Landesstrafanstalt zu Bautzen.
42 S. Preis 65 Pf.
67. Grundlagen für das Verständnis krankhafter Seelenzustände (psyeho-
pathischer Minderwertigkeiten) beim Kinde in 30 Vorlesungen. Von Dr. med.
Hermann, Merzig a/Saar. (Mit 5 Tafeln.) 2. Aufl. 194S. Preis 3 M., geb. 4 M.
68. Lüge und Ohrfeige. Eine Studie auf dem Gebiete der psychologischen Kinder-
forschung u. der Heilpädagogik. Von Kuhn-Kelly, Präsident u. Kinderinspektor
der Gemeinnützigen Gesellschaft der Stadt St. Gallen. 23 S. Preis 40 Pf.
69. Die Sinneswahrnehmungen der Kinder. Von Dr. phil. Hugo Schmidt. 33 S.
Preis 50 Pf.
70. Der Selbstmord im kindlichen und jugendlichen Alter. Von Dr. med.
Neter. 22 8. Preis 40 Pf.
71. Zur Kenntnis der Ernährungsverhältnisse Berliner Gemeindesehüler. Von
Dr. L. Bernhard, städt. Schularzt in Berlin. 28 8. Preis 45 Pf.
72. Einfluss von kar at ae dar, i auf die körperliche Entwicklung unserer
Volkssehuljugend. Von Dr. H. Roeder-Berlin. 17 8. Preis 30 Pf.
73. Die sozialen und psychologischen Probleme der jugeudlichen Verwahr-
losung. Von Dr. Julius Moses, Arzt in Mannheim. 32 8. Preis 50 Pf.
74. Wie weit reicht das Gedächtnis Erwachsener zurück? Von Gregor
Schmutz, Landes-Taubstummenlehrer in Graz. 27 S. Preis 45 Pf.
75. Ursachen der Verwahrlosung Jugendlicher. Von J. Delitsch. 358. Pr. 60 Pf.
76. Beobachtungen über die geistige Entwieklung eines Kindes in seinem
ersten Lebensjahre. Von Dr. T. Ischikawa, Irrenarzt in Tokio. 538. Pr. 90 Pf.
77. Ein Experiment zur Einübung von Aufmerksamkeit. Von Dr. phil. Y. Motora,
Professor an der kaiserl. Univ. zu Tokio. (Mit 3 Tafeln.) 16 S. Preis 30 Pf.
78. Die Behandlung der jugendlichen Rechtsbreeher im russisehen Straf- und
Strafprozessreeht. Von Eugenie Breitbart-Schuchmann aus Odessa (Rußland).
118 S Preis 1 M 80 Pf.
79. Über die angeborene Wortblindheit und die Bedeutung ihrer Kenntnis
für den Unterricht. Von Dr. med. F. Warburg, Köln. 218. Preis 40 Pf.
80. Zeitfragen. Von J. Trüper. 32 8. Preis 50 Pf.
81. Die staatsbürgerliehe Erziehung im Lehrplan der Volksschule. Von R.
Lambeck, Rektor a. D. in Remscheid-Hasten. 63 S. Preis 1 M.
Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
Verlag von Hermann BEYER & SöHne (BEYER & Mann) in Langensalza.
Heft
82.
83.
. Das Jugendge
; ee der österreichischen Sehulreform. Von Dr. Ludwig
Lehrpläne für den Unterricht in der Hilfsschule nebst methodischer An-
weisung. Von Rud. Weiß, Dir. d. Hilfssch. zu Zwickaui/S. 1358. Pr. 2 M 70 Pf.
Verfassung und Erziehungsplan des Kindergartens. Von M. Damrow.
IV u. 72 §. Preis 1 M 60 Pf.
Personalienbuch. Von J. Trüper. 2. Aufl. XX u. 31 8. Preis 80 Pf.
. Die Pflanzenkenntnis bei den Kindern unserer Elementarklasse. Von
E. Mentzel, Seminarlehrer in Altenburg. (Mit 4 Tafeln.) 358. Preis 65 Pf.
. Die reine Kinderleistung. Von R. Egenberger, München. (U. d. Pr.)
. Richtlinien für die Stoffauswahl im Unterrichte sehwachsinniger Kinder.
Von Fr. Rössel. 20 8. Preis 30 Pf.
. Erholungsheime für schulpflichtige Kinder der Grossstadt. Von Richard
Schauer. 90 S. Preis 1M 60 Pf.
Die Waldschule. Von Karl König, Kreisschulinspektor in Mülhausen i. Els.
VID u. 124 S. Preis 2 M 20 Pf.
Zur Analyse des kindlichen Geisteslebens beim Sehuleintritte. Von
A. Vincenz. 66 S. (Mit 14 Tafeln.) Preis 2 M 40 Pf.
gericht in Pinas i. Vgtl. Von F. Schmidt, Amtsrichter, und
J. Delitsch, Schuldirektor. 45 8. Preis 75 Pf.
i bie Beurteilung Jageodiiher Schwachsinniger vor Gericht. Von Prof.
Ziemke-Kiel. 20 8 Preis 35 Pf.
f iihi epen Jugendkunde und Universität. Von Dr. Karl Wilker.
62 8. Preis 1 M.
Singer.
Preis 40 Pf.
. Kinderprügel und Masochismus. Von Dr. Michael Cohn, Kinderarzt in
Berlin. 20 8. Preis 30 Pf.
Über den Einfluss des Antikenotoxin auf die Hauptkomponenten der
Arbeitskarve. Von Marx Lobsien, Kiel. 28 S. Preis 45 Pf.
. Weises Betrachtung über geistesschwache Kinder. Von Max Kirmsse,
Lehrer a. d. Erzichungsanstalt Idstein i. T. Mit 2 Abb. 97 S. Preis 1 M 50 Pf.
. Beobachtungen über die typischen Einwirkungen des Alkoholismus auf
nsere Sehüler. Von Richard Schauer. 27 S. Preis 45 Pf.
ber die Formen der krankhaften moralischen Abartung. Von Dr. G.
Anton, Geh. Med.-Rat u. Prof. a. d. Univ. Halle 18 S. Preis 30 Pf.
. Biogenetik und Arbeitssehule. Von Prof. Dr. Ad. Ferrière. 728. Pr. 1M 60Pf.
. Soziale Fürsorge für die aus der Hilfsschule Entlassenen. Von Johannes
Delitsch. 20 8. Preis 35 Pf.
. Ziehen und die Metaphysik. Von O. Flügel. 19 S. Preis 35 Pf.
S Ple Psychopathologie der Pubertätszeit. Von Oberarzt Dr. Mönkemöller.
98.
Preis 50 Pf.
. Ist die Entmündigung psyehopathisch Feuer ratsam, und wann
r. F. Schmid in Jena.
soll sie eingeleitet werden? Von Amtsgerichtsrat
18 S Preis 35 Pf.
j Über Lernweisen und Lernzeiten bei sehwachsinnigen und sehwer-
schwachsinnigen Kindern. Von Kurt Lehm, Dresden. Mit 4 Abbildungen.
36 Seiten. Preis 70 Pf.
. Stoffsammlung zum Sprechunterricht auf der Vor- bezw. Unterstufe der
Hilfsschule. Von Kurt Lehm, Dresden. (U. d. Pr.)
Die experimentelle Ermüdungsforschung. Von M. Lobsien, Kiel. (U. d. Pr.)
. Die experimentelle Gedächtnisforschung. Von Dr. N. Braunshausen,
Professor am Gymnasium in Luxemberg. (U. d. Pr.)
. Psychische Fehlleistungen. Von R. Egenberger, München. (Mit 12 Tafeln.)
50 Seiten. Preis 1 M 20 Pf.
. Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. Von Franz
Weigl, München-Harlaching. (U. d. Pr.)
. Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung bezüglich der sogenannten
113.
RAS haenen Konstitutionen. Von Prof. Dr. TA. Ziehen. (U. d. Pr.)
as Problem der Schulorganisation auf Grund der Begabung der Kinder.
Von Dr. Willy Heinecker. (U. d. Pr.)
Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
Bere
EREEREER
AE E A E E E
A. Abhandlungen.
1. Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung bezüglich
der sogenannten psychopathischen Konstitutionen.
Von
Prof. Th. Ziehen, Wiesbaden.
Die Ärzte und insbesondere die Nerven- und Irrenärzte haben
an der Fürsorgeerziehung Minderjähriger, wie sie durch das Gesetz
vom 2. Juli 1900 für Preußen neu begründet worden ist, ein hervor-
ragendes Interesse, weil nachweislich viele der Individuen, welche
unter dies Gesetz fallen, krankhaft veranlagt oder krankhaft verändert
sind und für diese Individuen die Fürsorgeerziehung geradezu auch
als therapeutische Maßregel betrachtet werden muß. Dem Arzt muß
daher auch bei der weiteren Ausgestaltung der Fürsorgeerziehung
eine gewichtige beratende Stimme zukommen. Diese gerade jetzt zu
erheben liegt aller Grund vor, da sich die Mängel, welche der Für-
sorgeerziehung in ihrer jetzigen Gestalt sowohl in der gesetzlichen
Regelung wie in der praktischen Ausführung anhaften, nachgerade so
fühlbar gemacht haben, daß eine Umgestaltung nicht länger auf-
geschoben werden kann.
Vor allem haben die Erfahrungen des letzten Jahrzehnts uns eine
Kategorie pathologischer minderjähriger Individuen genauer kennen
gelehrt, für welche sich die Fürsorgeerziehung in ihrer jetzigen Form
als besonders unzureichend erwiesen hat. Es sind das die sogenannten
psyehopathischen Konstitutionen. Im folgenden soll daher das
Wesen und die Bedeutung dieser psychopathischen Konstitutionen
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 29
443 A. Abhandlungen.
kurz erörtert!) und dann ausführlich ihre Beziehung zur Fürsorge-
erziehung im Hinblick auf eine Reform derselben besprochen werden.
1. Wesen der psychopathischen Konstitutionen.
Man versteht unter psychopathischen Konstitutionen (psycho-
pathischen Minderwertigkeiten, wie man sie früher auch oft unzweck-
mäßig genannt hat) oder »Distitutionen« krankhafte, teils angeborene,
teils erworbene Zustände auf geistigem Gebiet, welche durch folgende
Merkmale sich von den ausgesprochenen, vollentwickelten Geistes-
krankheiten (Psychosen) unterscheiden:
a) den relativ leichten Grad der dauernden Störungen,
b) den vorübergehenden Charakter der schweren Symptome,
c) das Ausbleiben eines längeren Verlustes des Krankheits-
bewußtseins.
Der relativ leichte Grad der dauernden Störungen ist als ein rein
quantitatives bezw. intensives Merkmal an sich natürlich nicht von
erheblicher Bedeutung. Es soll vor allem damit auch ausgedrückt
werden, daß die Symptome vielfach sich auf eine Tendenz zu dieser
oder jener Krankheitserscheinung, auf eine pathologische Reaktions-
weise gegenüber gewissen Einwirkungen beschränken. Es wird das
erste Merkmal also besonders wichtig durch den Gegensatz zum zweiten
Merkmal: auch schwere Symptome können bei den psychopathischen
Konstitutionen auftreten, sind aber, wenn sie auftreten, vorüber-
gehend. Hierher rechne ich namentlich Sinnestäuschungen, Wahn-
vorstellungen und Angstanfälle. Der Psychopath hat gelegentlich
die farbenprächtigsten, plastischsten Halluzinationen, aber eine solche
Halluzination tritt nur vereinzelt und nur momentan auf. Ebenso
verhält es sich mit den Wahnvorstellungen. Das psychopathische
Kind hat zuweilen ein dauerndes krankhaftes Mißtrauen, aber nur
ausnahmsweise steigert sich letzteres zu einer ausgeprägten Ver-
folgungsidee, und wenn eine solche hier und da auftritt, so ver-
schwindet sie durchweg schon nach kürzester Zeit.
Hiermit hängt auch das dritte Merkmal eng zusammen. Das
Krankheitsbewußtsein geht dem Psychopathen auch bei den eben er-
wähnten schweren Symptomen nur vorübergehend verloren. Er glaubt
1) Eine ausführliche wissenschaftliche Darstellung derselben habe ich in den
Charite-Annalen Bd. 29—36 gegeben, eine kurze populäre in der Schrift: Die Er-
kennung der psychopathischen Konstitutionen und die öffentliche Fürsorge f. psycho-
pathisch veranlagte Kinder. Berlin 1912. Vor allem verweise ich aber auf die
Darstellung in meiner Psychiatrie. 4. Aufl. Leipzig 1911, S. 687 ff. u. 572 ff.
Ziehen: Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung. 443
zwar zuweilen im Augenblick der Halluzination an ihre Realität,
aber mit ihrem Verschwinden erkennt er fast stets sofort ihre Irrealität.
Ebenso wird er vòn einer Wahnvorstellung nicht selten momentan
beherrscht, so daß er an ihrer Richtigkeit nicht zweifelt und in ihrem
Sinn handelt, aber schon nach kurzer Zeit kehrt die Einsicht und
das Krankheitsbewußtsein mehr oder weniger klar zurück.
Zu den genannten Hauptmerkmalen, die allerdings, wie sich als-
bald ergeben wird, noch einer Ergänzung bedürfen, kommen noch
einige weitere Merkmale, die zwar nicht allen psychopathischen Kon-
stitutionen zukommen und allerdings auch bei vielen vollentwickelten
Psychosen vorhanden sind, aber doch wegen ihrer außerordentlichen
Häufigkeit bei den psychopathischen Konstitutionen für die praktische
Erkennung große Bedeutung haben. Es sind dies:
d) die sehr ausgebreitete Beteiligung aller oder fast aller
psychischer Prozesse,
e) die Häufigkeit neuropathischer Begleitsymptome und
f) der überwiegend chronische Charakter der meisten psycho-
pathischen Konstitutionen.
Was die Ausbreitung der Symptome über das gesamte psychische
Leben betrifft, so ist in der Tat die psychopathische Konstitution eine
Gesamtveränderung der Persönlichkeit, der psychischen »Konstitution«:
es handelt sich, wie man oft auch sagt, um »psychopathische Persön-
lichkeiten«.. Man darf nur nicht außer acht lassen, daß manche
psychopathische Konstitutionen bestimmte seelische Gebiete ganz vor-
zugsweise befallen. Man kann z. B. in manchen Fällen mit gutem
Recht von einer »affektiven«, in anderen von einer »paranoiden«
psychopathischen Konstitution sprechen, weil in einem Falle die
Symptome vorzugsweise auf dem Gebiete der Affekte, im anderen
vorzugsweise auf dem Gebiete der Wahnbildung liegen. Immerhin
handelt es sich auch in solchen Fällen nur um ein Überwiegen,
nicht um eine ausschließliche Beschränkung auf ein psychisches
Gebiet.
Die Häufigkeit neuropathischer Begleitsymptome äußert sich darin,
daß die psychopathische Konstitution sehr oft mit neurasthenischen,
hysterischen und anderen körperlichen Symptomen verknüpft ist. Auch
die Vergesellschaftung mit dem sogenannten Tic impulsif, d. h. krampf-
haften, sehr entfernt an Veitstanz erinnernden, nicht in Anfällen auf-
tretenden Zuckungen vor allem in den Gesichtsmuskeln, bei der
hereditären psychopathischen Konstitution gehört hierher. ferner die
gelegentlichen vereinzelten epileptischen (sogenannten ek- und epi-
29*
444 A. Abhandlungen.
lamptischen) Anfälle!) bei Reflexreizen, schweren Affekten, Alkohol-
genuß usf.
Der überwiegend chronische Charakter bedarf einer be-
sonderen Erläuterung. Die meisten psychopathischen Konstitutionen
sind, wie dies bis zu einem gewissen Grade schon im Wort »Kon-
stitution«e liegt, länger dauernde Zustände. Zu einem großen Teil
sind sie sogar in der ersten Anlage des Individuums begründet und
sonach als sendogen« zu bezeichnen, womit selbstverständlich nicht
ausgeschlossen ist, daß sie, wenn auch angeboren, doch erst in der
späteren Kindheit oder auch erst in der Pubertät klar hervortreten.
Zu einem kleineren Teil sind sie »exogen« und erworben, wie z. B.
die traumatischen und, die toxischen psychopathischen Konstitutionen.
Dabei ist jedoch zu beachten, daß unverhältnismäßig oft auch die
traumatische und die alkoholistische psychopathische Konstitution sich
‚auf dem Boden einer endogenen Prädisposition entwickelt. Das Trauma
und der Alkoholismus rufen mit anderen Worten oft nur deshalb eine
psychopathische Konstitution hervor bezw. bedingen eine schwerere
psychopathische Konstitution, weil sie auf ein prädisponiertes Gehirn
einwirken. Für den Alkoholismus gestaltet sich der ätiologische
Konnex noch insofern komplizierter, als auch der Alkoholismus selbst
sehr oft durch eine endogene psychopathische Konstitution bedingt
oder wenigstens gefördert ist. Der Hereditarier unterliegt bei seiner
Impulsivität der Verführung leichter und gerät auch leichter unter
die dauernde Herrschaft eines bestimmten Genußhungers als der
Unbelastete, zumal er auch gegenüber Abstinenzsymptomen (im
weitesten Sinne) viel widerstandsloser ist.
Alle angeführten Merkmale genügen noch nicht, um begrifflich
und praktisch die psychopathischen Konstitutionen allseitig sicher ab-
zugrenzen. Sie müssen noch unterschieden werden von den leichtesten
Formen des angeborenen und auch des erworbenen Schwach-
sinns. Da für die Fürsorgeerziehungsfrage fast nur der erstere, die
sogenannte Debilität?), in Betracht kommt, soll von dem leichten er-
worbenen Schwachsinn hier ganz abgesehen werden. Diese Debilität
nun stimmt in den oben angeführten Merkmalen durchweg mit den
psychopathischen Konstitutionen überein. Sie unterscheidet sich aber
von ihnen durch den sogenannten Intelligenzdefekt, d. h. die
1) Diese vereinzelten epileptischen Anfälle bei psychopathischen Konstitutionen
dürfen natürlich nicht mit der epileptischen psychopathischen Konstitution, wie sie
sich oft auf dem Boden einer echten Epilepsie entwickelt, verwechselt werden.
?) Die schweren Formen des angeborenen Schwachsinns werden als Imbezillität
und Idiotie bezeichnet.
Ziehen: Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung. 445
Schwäche des Gedächtnisses, der Begriffsbildung und des
Urteils. Bei der psychopathischen Konstitution ist das Gedächtnis
nicht defekt. Die Erinnerungen des Psychopathen werden wohl durch
seine Phantasie umgestaltet, so daß allerhand Erinnerungstäuschungen,
Phantasielügen (Pseudologia phantastica) usf. zustande kommen, aber
als solche sind sie nicht defekt. Ein quantitatives Minus liegt nicht
vor, sondern durch ein Plus der Phantasietätigkeit kommt es zu
qualitativen Veränderungen, Ausschmückungen und Entstellungen.
Ebenso ist die Begriffsbildung und die Urteilsfähigkeit des Psycho-
pathen nicht defekt. Er gelangt wohl gelegentlich zu inhaltlich falschen
Wahn- und Zwangsvorstellungen, aber außerhalb dieser speziellen Wahn-
und Zwangsvorstellungen sind seine Begriffe und Urteile logisch in-
takt, während sie bei dem Debilen allenthalben leicht defekt sind.
Auch im Gefühlsleben läßt sich dieser Gegensatz verfolgen.
Gerade dieses ist bei dem Psychopathen oft besonders schwer gestört.
Es handelt sich aber bei ihm nicht um einen Defekt der Gefühle.
Allerdings begeht der Psychopath oft genug Strafhandlungen, welche
ethische Gefühle — Ehrgefühl, Dankbarkeit, Pflichtgefühl usf. — ver-
missen lassen. Tatsächlich fehlen diese jedoch nicht im Sinne eines
krankhaften ursprünglichen Defekts, sondern sie haben nur entweder
durch Verwahrlosung allmählich ihren Einfluß verloren, oder sie
werden durch übermächtige, abnorm starke pathologische Gefühle und
Affekte, zuweilen auch durch bestimmte Störungen des Denkens außer
Wirkung gesetzt. Anders bei dem Debilen. Die Handlungen des-
selben können, äußerlich betrachtet, denjenigen des Psychopathen
vollkommen gleichen, also z. B. ebenfalls pflichtwidrig, ehrlos, ver-
brecherisch usf. ausfallen (so z. B. bei der fälschlich als »moralisches
Irresein« bezeichneten Varietät), aber hier handelt es sich um einen
ursprünglichen krankhaften ethischen Defekt. Man kann verfolgen,
daß schon in früher Kindheit — auch unabhängig von jeder Verwahr-
losung — die ethischen Begriffe und ihre begleitenden Gefühle defekt
waren. Das Gehirn des Debilen ist nicht fähig, den Begriff der Pflicht
mit dem ihn begleitenden Gefühlston des Pflichtgefühls zu bilden,
und deshalb gelangt der Debile zu unmoralischem Handeln. Es bedarf
keiner Verwahrlosung oder Verführung, es bedarf vor allem keiner
übermächtigen pathologischen Gefühle und Affekte usf, um ihn zu
strafbaren Handlungen zu treiben. Alle diese Momente kommen nur
oft genug fördernd und begünstigend hinzu. Das Wesentliche ist
und bleibt der Defekt.
Ich will diese wichtige Differenz noch an einem Spezialfall aus-
einandersetzen. Ein 14jähriger Junge, der schwer erblich belastet ist
446 A. Abhandlungen.
und schon oft impulsive, d. h. ungenügend motivierte plötzliche Hand-
lungen begangen hat, der außerdem an dem oben erwähnten Tic
leidet, nachts im Schlaf spricht, ab und zu Jähzorns- und Angst-
anfälle hat, in der Schule ganz gut mitkommt, sieht im Ladenfenster
ein Schmuckstück liegen. Dabei steigt ihm der Gedanke plötzlich
auf: das nimmst du und gehst ins Theater. Keine Gegenvorstellung
tritt dazwischen. Er stiehlt das Schmuckstück, versilbert es, schenkt
einem armen Knaben, dem er begegnet, etwas und geht selbst
ins Theater. Am folgenden Tag hat er Reue und gesteht den Dieb-
stahl. Die Verführungen wiederholen sich. Er unterliegt ihnen öfter
und öfter. Schließlich begeht er auch wohl überlegte Diebstähle. Die
nachträgliche Reue bleibt nun aus. Den Erlös der Diebstähle verwendet
er nur zu seinem Vergnügen. In diesem Beispiel, das ich in dieser oder
jener Variante zahllose Male erlebt habe, handelt es sich sicher um
eine psychopathische Konstitution und nicht um eine Debilität. Die
unmoralischen Handlungen beruhen nicht auf einem krankhaften
ethischen Defekt, sondern auf pathologischer Affekterregbarkeit und
Impulsivität. Erst nachträglich kommt es zu einer ethischen Ver-
kümmerung, welche einen krankhaften ethischen Defekt vortäuscht.
Demgegenüber sieht der schwachsinnige Knabe einen glänzenden
Gegenstand liegen. Oft ist er über seinen Wert gar nicht einmal
orientiert. Das Gefühl des Unrechtes fehlt ihm während und nach
der Handlung. Vorhaltungen und Strafen bleiben wirkungslos, weil
er für die Strafbarkeit kein oder kein genügendes Verständnis hat.
In der Schule kommt er nicht mit. Seine weitere Laufbahn kann
mit derjenigen eines Psychopathen völlig übereinstimmen. Auch er
kann von Strafhandlung zu Strafhandlung gelangen. Und doch ist
die Entstehung und die pathologische Grundlage ganz verschieden.
Hier Debilität, dort psychopathische Konstitution.
Diese Unterscheidung ist auch durchaus nicht etwa nur von
theoretischer Bedeutung, sondern Prognose und Therapie sind, wie
sich noch ergeben wird, in beiden Fällen total verschieden.
Um diese Unterscheidung kurz zu charakterisieren, müssen wir
also zu den oben genannten Hauptmerkmalen der psychopathischen
Konstitutionen noch die Abwesenheit eines Intelligenzdefekts
als wesentlich hinzufügen.
Dabei ist allerdings die Tatsache anzuerkennen, daß zuweilen sich
die psychopathische Konstitution mit der Debilität kombiniert. Unter
201 Fällen psychopathischer Konstitution, die ich beispielsweise im
Jahre 1910 beobachtet habe, zeigten 27 diese Kombination. Die Tat-
sache des Vorkommens solcher Kombinationen ist aber doch wirklich
Ziehen: Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung. 447
kein Grund, die übrigen 174 Psychopathen mit den Debilen in eine
Gruppe zusammenzuwerfen. Dann müßten wir überhaupt auf jede
Unterscheidung und Klassifikation von Krankheitsformen verzichten.!)
Wir werden also die Existenz solcher Kombinationen anerkennen,
aber doch unsere Unterscheidung festhalten.
Ich muß an dieser Stelle darauf verzichten, die Symptome der
psychopathischen Konstitutionen, ihre Entwicklung und ihren Verlauf
ausführlich auseinanderzusetzen und ihre Einteilung zu besprechen.
Nur bezüglich ihrer Ätiologie sei im Hinblick auf die späteren
praktischen Erwägungen hervorgehoben, daß folgende Ursachen am
häufigsten sind:
a) schwere erbliche Belastung (sogenannte degenerative Be-
lastung),
b) chronische Giftwirkungen, z. B. Alkoholismus,
c) Hirnerschütterungen (sogenannte traumatische Fälle),
d) schwere akute Infektionskrankheiten (namentlich in der
Kindheit),
e) schwere Erschöpfung.
Für die Frage der Fürsorgeerziehung spielen die sub a genannten
Fälle praktisch die größte Rolle, in zweiter Linie auch die sub c
und d genannten Fälle, soweit die in Frage kommende Hirnerschütterung
bezw. Infektionskrankheit sich in jugendlichem Alter abgespielt hat.
2. Praktische Bedeutung der psychopathischen Konstitutionen.
Die praktische Bedeutung ‚der psychopathischen Konstitutionen
ergibt sich einerseits aus ihrer allgemeinen Häufigkeit sowie im
speziellen ihrer Häufigkeit unter den für die Fürsorgeerziehung in
Betracht kommenden Individuen und andrerseits aus dem Einfluß
dieser Fälle auf die sozialen Verhältnisse im weitesten Sinne.
Über die Häufigkeit der psychopathischen Konstitutionen sei hier
nur bemerkt, daß speziell von den jetzigen Fürsorgezöglingen sicher
wenigstens 60—70°/, als pathologisch zu betrachten sind. Die
Statistiken von Tippel?) Mönkemöller?) u. a. lassen darüber keinerlei
1) Der Gedanke an solche Kombinationen hat geradezu eine naive Logik - scheu
bei manchen Neurologen und Psychiatern großgezogen und vielfach zu einer mystischen
Zerfließlichkeit aller Begriffe und Einteilungen geführt.
2) Allg. Ztschr. f. Psychiatrie. 1905. Bd. 62. S. 586.
3) Sammlung Schiller-Ziehen. Bd. 6. 1903. S. 44 ff. Die Statistik des Ministeriums
des Innern, die z. B. für 1904 nur bei 9,3°/, der neu überwiesenen Fürsorge-
zöglinge pathologische Zustände (»geistig nicht gesund«) vermerkt, ist sicher ganz
unrichtig. Die Personen, denen die bez. Feststellungen anvertraut waren, hatten offen-
448 A. Abhandlungen.
Zweifel. Der Prozentsatz der Pathologischen unter denjenigen Minder-
jährigen, welche nach der Intention des Gesetzes in die Fürsorge-
erziehung kommen sollten, ist sicher noch größer, da bei den jetzigen
Bestimmungen und der jetzigen Handhabung gerade die psychopathischen
und debilen Individuen der Fürsorgeerziehung oft entzogen werden.!)
Es ist ferner mit Bestimmtheit nach den sonstigen Erfahrungen,
z. B. auch nach der Statistik meiner Poliklinik, anzunehmen, daß die
Zahl der Debilen wesentlich kleiner ist als diejenige der Psycho-
pathen. Da nun ausgeprägte Psychosen nur mit einem äußerst
kleinen Prozentsatz (3,7 %/,, Tippel) in Betracht kommen, so ergeben
sich für die psychopathischen Konstitutionen wenigstens 30—40 °/,.
Mit anderen Worten ein Drittel der Fürsorgezöglinge leidet an dieser
oder jener psychopathischen Konstitution.
Dieser Prozentsatz bekommt nun, so hoch er schon an sich ist,
außerdem noch eine über die absolute Zahl weit hinausgehende Be-
deutung dadurch, daß diese jugendlichen psychopathischen Individuen
unsere allgemeinen sozialen Verhältnisse im allerhöchsten Maße be-
einflussen. Wie ich an anderer Stelle ausführlich erörtert habe, ver-
fallen sie größtenteils späterhin infolge ungenügender Fürsorge der
Landstreicherei, dem Verbrechen, der Prostitution, der Trunksucht,
dem Armenhaus oder der Irrenanstalt, sehr oft verbinden sich auch
diese Endergebnisse oder lösen sich in mannigfachster Weise ab.
Jedenfalls ergibt sich also aus der großen Zahl der psychopathischen
Konstitutionen, ganz abgesehen von dem persönlichen Schicksal dieser
Individuen selbst, eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit,
der allgemeinen Sittlichkeit, und eine enorme Belastung der Steuer-
zahler, die für Gefängnisse, Armenhäuser, Irrenanstalten usf. in zu-
nehmender Zahl die Mittel beschaffen müssen. (Forts. folgt.)
bar weder ausreichendes Verständnis noch ausreichende Vorbildung, um die in Frage
kommenden Krankheitszustände zu erkennen. Eine Statistik unterbleibt unter solchen
Umständen besser ganz.
1) Die Angaben von Böttcher auf dem Allg. Fürsorgeerziehungstag in Dresden
im Jahre 1912, daß bei 75 °/, der Zöglinge seines Bereichs aktenkundig die Ursache
der Verwahrlosung bei den Eltern liege, ist sehr mißverständlich., Sie faßt in
unzweckmäßiger Weise diejenigen Fälle, in welchen die Eltern eine sittliche Ver-
wahrlosung durch ihre Erziehung verschulden, mit denjenigen zusammen, in welchen
durch erbliche Übertragung seitens der Eltern Debilität oder psychopathische
Konstitution bei den Nachkommen aufgetreten ist und zur Fürsorgebedürftigkeit
bezw. Verwahrlosung geführt hat.
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 449
2. Die experimentelle Ermüdungsforschung.
Von
Marx Lobsien, Kiel.
(Fortsetzung.)
2. Ermüdung und Erschöpfung.
Vorher ist in Kürze noch eine Grenzregulierung notwendig, näm-
lich diejenige zwischen Ermüdung und Erschöpfung. Unsere Aufgabe
interessiert nur die letztere. Erschöpfung ist nicht mit Überbürdung
zu verwechseln. Erschöpfung ist ein psychophysischer Tatbestand,
während »Überbürdung« auf eine praktische Schlußfolgerung deutet,
die man aus dem Vorhandensein eines gewissen Ermüdungsgrades mit
Recht oder Unrecht herleitet. Die Erschöpfung möge durch Über-
müdung genauer gekennzeichnet werden. Sie stellt sich also dar als
eine gesteigerte Ermüdung. Woran ist sie zu erkennen? Ich gebe
die Antwort nach Altschul, der folgendes ausführt: Dr. Steinhaus
hat die allmähliche Ermüdung der Großhirnrinde bei geistiger Arbeit
sehr treffend charakterisiert. Es steht fest, daß die Großhirnrinde in
ihrer funktionellen Tätigkeit allmählich und in sich steigerndem Maße
leidet, wenn besondere Anforderungen an ihre physiologische Arbeits-
fähigkeit und dazu noch während eines längeren Zeitabschnittes ge-
stellt werden. Beim Kinde, dessen Großhirnrinde noch in der Ent-
wicklung begriffen ist, das von allen Dingen immer neue Vorstellungen
in sich aufnehmen ... und festhalten soll, während seine Assoziationen
nicht vollkommen sind, wird diese Ermüdung ganz besonders zutage
treten. Sie wird sich darin zeigen, daß das Kind in seiner Aufmerk-
samkeit nachläßt ... es folgt dem Unterricht nicht mehr, ist teil-
nahmslos, entweder zerstreut oder apathisch. Die geistige Ermüdung
zeigt sich daher entweder in Zerstreutheit, die von einer großen Reiz-
barkeit begleitet ist, oder aber in starker Hemmung. Dazu gesellt
sich dann noch die physische Ermüdung, die natürlich ihrerseits die
Tätigkeit der Hirnrinde ungünstig beeinflußt. — Dr. v. Wayenburg
sagt: Die geistige Erschöpfung des Kindes macht sich geltend durch
Unlust zur Arbeit, trägen Gang, Negativismus, Weinen, Lügen, Nasen-
bluten, Ohrensausen usw. Es macht Fehler, die es früher nicht
machte, spricht wiederholt falsch, vergißt Wörter usw. — Prof. Dr.
R. v. Czerny führt aus: Aus meiner eigenen Erfahrung kenne ich
keinen einzigen Fall, in welchem sich eine Schädigung eines ge-
sunden Kindes durch Überarbeitung in der Schule sicher stellen ließe.
Alle Kinder, welche angeblich einen solchen Schaden erlitten haben,
gehören in die Gruppe der psycho- und neuropathischen Kinder, an
450 A. Abhandlungen.
denen nachgewiesen werden kann, daß schon vor dem Schulbesuche
Krankheitserscheinungen von seiten des Nervensystems bestanden
haben, und deren abnorme Veranlagung durch unzweckmäßige Er-
ziehung noch ungünstig beeinflußt worden ist. Und endlich äußert
sich Wagner: Vergleicht man mit diesen Zeichen der Neurasthenie
die Symptome der geistigen Überbürdung, so ergibt sich eine weit-
gehende Übereinstimmung. Hiernach stellt der Zustand geistiger Über-
bürdung zweifellos eine besondere (zerebrale) Form der Neurasthenie
dar. — Die genannten Autoren sind mithin übereinstimmend der
Meinung, daß Übermüdung lediglich eine abnorme Erscheinung sei,
die bei gesunden Schülern nicht vorkomme. Ihre Beobachtungen
stützen sich auf ihre Erfahrung, theoretisch wohl auch auf die lange
Zeit geltende Meinung, daß die Nerven ganz unermüdbar seien.
Die körperliche Übermüdung führt bei hinlänglicher, nicht unter-
brochener Steigerung endlich den Tod herbei. Weichardt beschreibt
die Symptome der Übermüdung folgendermaßen: Der Ermüdungstod
ähnelt einer langsam wirkenden Narkose. Zwingt man Tiere, ihre Ge-
samtmuskulatur unausgesetzt maximal zu bewegen, so tritt schon nach
relativ kurzer Zeit bei dem Tiere ein Zustand hochgradigen Sopors
ein unter anfänglich geringer Erhöhung, später aber bedeutender Er-
niedrigung der Körpertemperatur und Verlangsamung der Atmung.
Werden dann, wenn das Tier sich in diesem Sopor — gleichsam
narkotisiert — nicht mehr sträubt, noch immer Muskelzuckungen bei
ihm angeregt, was leicht mit Hilfe von Periostreizen oder mittels
schwacher faradischer Ströme gelingt, so verlangsamt sich die Atmung
allmählich bis zum vollkommenen Atemstillstand. Das Tier verendet
ohne jedwede Schmerzensäußerung, ohne Krampf, ganz ähnlich, wie
wenn es mit narkotischen Mitteln mehr und mehr schwer betäubt
worden wäre. ... Wird die Ermüdung auch nur auf kurze Zeit
unterbrochen, so erholen sich die Tiere überraschend schnell.
Gemeinsames Kennzeichen der geistigen und physischen Über-
müdung ist, auf den augenblicklichen Erfolg gesehen, die Reduzierung
der Leistungen nach Quantität und Qualität auf Null oder doch auf
ein solches Minimum, daß praktisch und tatsächlich von Leistungen
nicht wohl geredet werden kann; rücksichtlich des dauernden Erfolges
muß auf eine vorübergehende oder dauernde gesundheitliche Schädigung
des Gesamtorganismus hingewiesen werden. Allgemein wird man die ,
Erschöpfung als den Grad der Ermüdung bezeichnen können, bei dem
die eben genannten Wirkungen vorübergehend oder bleibend sich ein-
stellen. Der Unterschied zwischen beiden ist auf den Leistungs-
erfolg gesehen nur quantitativer Art, auf die psychophysischen
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 451
Wirkungen geachtet, durch stark qualitative Veränderungen gekenn-
zeichnet, die ganz allgemein als Vergiftungssymptome aufgefaßt
werden. Die Grenze zwischen der Ermüdung und der Erschöpfung
ist allerdings unmöglich, genau zu regulieren; es kommt erschwerend
hinzu, daß sie individuell durchaus verschieden gezogen werden muß,
des weiteren, daß die subjektive Gefühlslage kein unbestechlicher
Richter ist, noch weniger aber der Experimentator.
Diese Schwierigkeit läßt die verschiedene Wertung der Forscher
gegenüber der Grenzregulierung verständlich erscheinen. Manche
sind geneigt, nahezu jede Ermüdung als Erschöpfung und der Ge-
sundheit nachteilig aufzufassen, wenigstens sofern man der Schule
daran die Schuld glaubte in die Schuhe schieben zu dürfen, während
andere, das erziehliche Moment ins Auge fassend und direkt schädigende
Wirkungen natürlich abweisend, Arbeit unter tüchtiger und ener-
gischer Anspannung der Kräfte bis zur Ermüdung keineswegs für
einen Nachteil, sondern im Interesse einer Erziehung des Willens und
einer Vorbereitung auf die künftigen Anforderungen des Lebens für
durchaus heilsam halten — um so mehr als sich die etwa sich ein-
stellenden vorübergehenden kleinen Schädigungen nach Ausweis viel-
fältiger Erfahrung sehr schnell wieder ausgleichen, ja sich heilsam
für die Gesundheit erweisen können.
Nun wird man sich ja schwerlich mit einer so weitabliegenden
Grenzfestsetzung begnügen können wie zwischen Ermüdung und Er-
schöpfung, sondern man wird schon dann von einer Übermüdung
reden, wenn die Leistungsfühigkeit um ein gewisses Maß unter die
Norm heruntergeht. Man wird in der Praxis schon dann Ruhepausen
einschieben, wenn Umfang und Wert der Leistungen im ökonomischen
Arbeitsinteresse eine größere Abnahme offenbaren. Dieses Interesse
an einer ökonomischen Arbeitsgestaltung wird schon lange vor dem
Zeitpunkte eingreifen, wo etwa die Erschöpfung beginnen würde, sich
geltend zu machen. Allerdings müßte solches Interesse lebendig wirk-
sam und die Wahrheit durchgedrungen sein, daß ein Übermaß an
Forderungen unökonomisch, im Interesse wertvoller Leistungen ver-
schwenderisch ist. Diese objektive Grenzbestimmung ist auf Grund
der Erfahrung möglich, die allgemeinen Grundlinien derselben sind
nur mit Hilfe des Experiments zu gewinnen. Um meine Meinung
zu illustrieren, möchte ich auf zwei Arbeiten näher eingehen, von
denen die eine die unmittelbare, die zweite die experimentelle Er-
fahrung mehr in den Vordergrund drängt.
Prof. Netschajeff in Petersburg untersuchte die Beziehungen
zwischen den Schwankungen in der Dauer der täglichen Arbeitszeit
452 A. Abhandlungen.
(Intensität der Arbeit) und der Schlaf- und Bewegungsdauer, so-
wie das Verhältnis der Leistungen bestimmter Arbeitstage zu einer
ganzen Arbeitsperiode. — Die normale Tagesarbeit rechnete er so-
lange, bis sich seiner Selbstbeobachtung ein »Gefühl der Übersättigung«
offenbarte. Über die Tagesarbeit machte er sich täglich Notizen. Er
regulierte 100 gewöhnliche Werktage nach der Dauer der Bewegung
in frischer Luft und nach der geistigen Arbeit. Die letztere sonderte
er in schwere und leichte, und rechnete zu der schweren die wissen-
schaftliche und zu der leichten belletristische Lektüre. Die durch-
schnittliche Dauer geistiger Arbeit, die ihm die günstigste war, be-
stimmte Netschajeff auf 61/, Stunden. Innerhalb der Arbeitswoche
waren der Mittwoch und der Donnerstag die wertvollsten, der Montag
und der Freitag die am wenigsten ergiebigen Arbeitstage. Diese
Periodizität in der Wochenleistung wiederholte sich für Netjascheff
wieder innerhalb der ganzen Arbeitsperiode von 100 Tagen mit un-
mißverständlicher Deutlichkeit.
Daneben beobachtete er das Verhältnis der Arbeits-, Schlaf- und
Bewegungszeiten zueinander während vier Perioden von je 3 Wochen
Dauer. Er grenzte die Arbeitsperioden wiederum ab nach dem Ein-
tritt des vorhin charakterisierten Gefühls und konnte auf Grund seiner
Erfahrungen folgende Übersicht entwerfen, die deutlich ein bestimmtes
(hier natürlich lediglich individuelles) Verhältnis aller Komponenten
aufzeigt:
Pende gosat: ‚geisöge mian Eche Schlaf Bewegung
1. 43 Std. 25 Std. 56 Std. 14 Std.
2. 41 „ 29 5 58 „ 13: ;
3. 41 „ 26 „ 54 y 10 ,
4. 4l „ 28 „ 56 „ I: a
Allerdings sind diese Zahlen täglichen Aufzeichnungen entnommen,
die jeweils starkes Schwanken zeigten; trotzdem war Netschajeff
imstande, für seine Persönlichkeit folgende Verhältnisse als diejenigen
herauszustellen, die am meisten ökonomisch und am natürlichsten und
angemessensten waren: Die wöchentliche günstigste Arbeitszeit, die
mit schwerer und leichter geistiger Betätigung ausgefüllt ward, be-
trug 37'/, Stunde, die Schlafdauer 58 und die Dauer der freien
Bewegungen 10 Stunden.
Selbstverständlich wird man Bedenken hegen können, ob die Ab-
grenzung durch ein komplexes Gefühl, wie das der Übersättigung,
ohne Rücksichtnahme auf den objektiven Wert der Leistungen hin-
reichend einwandfrei gestaltet werden könne, zumal dort, wo die
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 453
Selbstbeobachtung nicht durch den Fachpsychologen und nicht unter
Direktion einer bestimmten wissenschaftlichen Absicht steht; man kann
in besonderem Maße Befürchtungen äußern, ob die Netschajeffsche
Methode auch auf Schüler Anwendung finden könne, zumal dann,
wenn Arbeit verschiedener Art gefordert wird, Arbeiten mit wesent-
lich verschiedenen Beliebtheits- und Schwierigkeitskoeffizienten —
(diese Erwägungen stehen hier nicht zur Erörterung, ich wollte nur
an einem Beispiel zeigen, wie man in der Lage ist, auf Grund wissen-
schaftlich geschulter Selbstbeobachtung eine Grenzlinie zu ziehen
zwischen Ermüdung und Überermüdung); — noch schärfer würde das
gelingen, wenn nicht lediglich die Selbstbeobachtung, sondern auch
der ökonomische Gesichtspunkt in einer objektiven Ausdeutung des
Arbeitsumfangs und seiner Qualität gebührend berücksichtigt worden wäre.
Als Beispiel einer Grenzregulierung auf experimenteller Grund-
lage in Absicht auf die ökonomische Seite der Arbeit möchte ich hin-
weisen auf die Arbeit Prof. Hjalmar Öhrwalls-Upsala: Über den
Einfluß der Müdigkeit auf den Übungswert der Arbeit, im Skandi-
navischen Archiv für Physiologie. Öhrwall suchte mit Hilfe der im
vorigen Kapitel gekennzeichneten Blixschen Methode die Frage ex-
perimentell zu entscheiden: Muß die Übung, wenn man das best-
mögliche Resultat zu erhalten wünscht, bis zu dem Augenblick ver-
folgt werden, da das Müdigkeitsgefühl sich einstellt, oder muß sie
weiter fortgesetzt oder vorher abgebrochen werden? Öhrwall ordnete
seine Versuchspersonen in drei Gruppen. Durch das Los ward der
einen zugewiesen, die Übungen abzubrechen, sobald das Müdigkeits-
gefühl sich bemerkbar machte; die zweite mußte die Arbeit noch ein-
mal so weit über diesen Zeitpunkt hinaus fortsetzen, trat z. B. das
Gefühl der Ermüdung nach sechzig aufeinanderfolgenden Einzel-
versuchen zuerst ein, dann mußten noch sechzig weitere von den-
selben Prüflingen dazu getan werden; eine dritte Prüflingsgruppe
setzte die Übung nur etwa bis zur Hälfte oder Zweidrittel der
Leistungen der ersten Gruppe fort, zeigte sich erfahrungsgemäß das
Eintreffen des Müdigkeitsgefühls nach sechzig Übungen, dann machte
man hernach nur dreißig oder vierzig Einzelversuche. — Das Haupt-
ergebnis, das Öhrwall seinen umfänglichen, interessanten Unter-
suchungen mit einem hohen Grade von Wahrscheinlichkeit entnimmt,
formuliert er dahin, daß Müdigkeitsarbeit hinsichtlich ihres Übungs-
wertes nicht nur minderwertig, sondern sogar schädlich sei. Wenn
man die Übung fortsetzt, nachdem die Müdigkeit sich eingestellt hat,
so setzt man sich der Gefahr aus, dadurch die Fertigkeit zu ver-
mindern, die man bereits erlangt hat. Die Müdigkeitsarbeit ist un-
454 A. Abhandlungen.
ökonomisch auch mit Rücksicht auf ihren negativen Übungswert. —
Eine andere Frage ist die, fährt Verfasser fort, ob Müdigkeitsarbeit
für die Gesundheit schädlich sei; darüber sagt natürlich seine Unter-
suchung nichts. Er gibt aber anheim, zu bedenken, daß Müdigkeit,
gleich wie Hunger, als Warnungssignal beachtet werden möchte, das
man zwar nicht zu fürchten brauche, auf das acht zu geben, man aber
klug täte. Solche Warnungssignale gehören zu den instinktiven Ge-
fühlen, vor denen man im allgemeinen mehr Respekt haben sollte als
gewöhnlich der Fall ist.
Auch Rievers bestätigte experimentell die landläufige Erfahrung,
daß Ermüdungsarbeit geringen Übungswert hat. Er fand, daß von
der für je eine halbe Stunde erwarteten Übungswirkung bis zum
nächsten Tage mehr als doppelt so viel verloren ging, wenn vier
halbe Stunden, als wenn nur eine halbe Stunde lang gearbeitet worden
war, eine Herabsetzung des Übungsgewinns durch die Ermüdung, die
nach Ansicht Kraepelins vollkommen genügen würde, um die
größere Steilheit des Abfalls zu erklären, die längere Arbeitskurven
gegen das Ende darzubieten pflegen.
Die Beispiele offenbaren deutlich Beziehungen zwischen den Ab-
grenzungen mit Hilfe des Müdigkeitsgefühls und gewissen objektiven
Wertbestimmungen. Die letzteren beziehen sich hier zwar nur auf
die Übungswirkungen, aber mit ähnlichem Erfolge kann man auch
anderweite quantitative und qualitative Maxima der Leistung zum Er-
müdungsgefühl in Beziehung setzen. Auf jeden Fall wird das Zu-
sammentreffen der subjektiven und der objektiven Grenzlinien, wo
sie respektiert werden, deutlich scheiden zwischen geistig-leiblicher
Frische und der beginnenden Ermüdung. Für die Bestimmung des
Eintretens der Übermüdung sind damit klare Hinweise insofern dar-
geboten, als man sagen kann: Die Ermüdung beginnt dort, wo das
Ermüdungsgefühl als Warnungssignal sich bemerkbar macht und die
geleistete Arbeit beginnt, unökonomisch zu werden; die Überbürdung
dort, wo das Gefühl der Ermüdung zu dem des Überdrusses sich
steigert und objektiv in stark minderwertigen oder völlig wertlosen
Leistungen zutage tritt. Da setzen auch vollgültige hygienische Be-
denken ein, während die Ermüdung noch innerhalb normaler Ver-
hältnisse, innerhalb der Gesundheitsbreite liegt.
Den hygienischen Bedenken liegt folgender Symptomkomplex zu-
grunde, den Baur beschreibt: Der Übermüdete hat Kopfweh, leidet
an Schlaflosigkeit und Schlafsucht, an Appetitlosigkeit, es zeigen sich
alle möglichen Stimmungswechsel, besonders Launenhaftigkeit, wie sie
die nervösen Personen in sehr variabler Weise an den Tag legen.
Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. 455
Man wird wohl nicht fehl gehen, wenn man die Nervosität, die heute
so sehr verbreitet ist, auf einen Mangel an Hygiene der Arbeit und
auf häufige Ermüdung ohne genügende Erholung, also auf Über-
müdung zurückführt. Wohl können die Erscheinungen der Über-
müdung durch einen festen Willen, durch Alkohol-, Tee- und Kaffee-
reize zeitweise überwunden werden. Es werden da sogenannte Reserve-
spannkräfte herangezogen; je mehr aber von diesen verbraucht wird,
desto größer werden die Schulden, die nicht heimgezahlt werden
können und über kurz oder lang den Bankerott des Körpers herbei-
führen. Die Ermüdungsgefühle und -empfindungen geben uns gleich-
sam ein Zeichen, mit der Arbeit einzuhalten, doch versagt dieses
Warnungssignal nicht selten. (Forts. folgt.)
3. Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der
Testmethode.
Von
Franz Weigl, München-Harlaching.
(Fortsetzung.)
Die zweite Methode von Ries besteht darin, »daß die Schüler auf
ein ihnen zugerufenes Wort mit einem andern reagieren sollten, dessen
Inhalt zu dem des ersteren im Verhältnis der Wirkung zur Ursache steht.
Die den Schülern zugerufenen Wörter waren die folgenden:
Irrtum, Friede, Bestechung, Erziehung, Steuern, Ordnung, Wahl, Geiz, Unter-
suchung, Bürgerkrieg, Eifer, Nachdenken, Verbannung, Feindschaft, Schlaf, Ver-
dienst, Anzeige, Gewitter, Reise, Wechsel, Zusammenstoß, Gesang, Umdrehung,
Blendung.
Hindernis, Wärme, Neid, Furcht, Windstille, Genuß, Erfahrung, Teuerung,
Geschwindigkeit, Meinung, Ernährung, Widerspruch, Vertrag, Zuneigung, Verwirrung,
Wunder, Gesetz, Armut, Wette, Feuersbrunst, Eile, Vorschlag, Trennung, Verkehr,
Streit,
Arbeit, Nässe, Erbschaft, Spott, Druck, Beschwerde, Hungersnot, Unfall, Feier,
Schiffbruch, Erklärung, Fall, Übung, Handel, Kälte, Jahreswechsel, Schluß, Sauber-
keit, Alter, Zorn, Unterredung, Regen, Vereinigung, Zweifel, Widerstand. (S. 336.)
Die Instruktion an die Schüler lautete:
»Ich nenne euch jetzt eine Anzahl Substantive, ihr sollt zu jedem derselben
ein anderes Substantiv suchen, welches die Wirkung dessen bezeichnet, was in dem
ersten Substantiv genannt ist.«
Zum besseren Verständnis der zu lösenden Aufgabe wurden einige Substantive
genannt, und von den Schülern Antworten dazu gesucht. Diese Antworten wurden
dann kurz besprochen und gezeigt, warum sie richtig oder falsch sind. (S. 337.)
Die Ergebnisse mit dieser Methode waren bei den normalen
Schülern noch günstiger als die mit der ersteren; sie können bei
456 A. Abhandlungen.
diesem Material auch zur Rangierung recht gute Dienste leisten. Für
Hilfschüler dagegen verbietet sich die Anwendung von selbst, da
immerhin eine gewisse geistige Reife Voraussetzung ist um die Auf-
gabe erfassen und erledigen zu können.
Während nun diese Methoden von der Beschäftigung mit normalen
Prüflingen kommen und weder hierfür vollauf befriedigen konnten noch
etwa gar bei Hilfsschülern hätten angewendet werden können, wurden
auch von psychiatrischer Seite mancherlei Versuche gemacht, die
das Intelligenproblem im Zusammenhang mit der geistigen Erkrankung
erforschen wollten. Abgesehen davon, daß nun auch hier der Begriff
der Intelligenz meist zu eng bezw. zu einseitig gefaßt wurde, kommen
diese Untersuchungen für uns deshalb nicht in Frage, weil sie mehr
mit dem Erwachsenen als dem Kind rechnen, das in der Hilfs-
schule für unsere Untersuchungen in Frage steht.
Als Beispiel und Beleg hierfür seien die Fragen angeführt,
die der Irrenarzt Dr. Werner H. Becker in dem Aufsatz: »Zu den
Methoden der Intelligenzprüfung« (»Klinik für psychische und nervöse
Krankheiten«e von Sommer, Bd. V, Heft 1, Halle 1910, S. 3 ff.) ge-
stellt wissen will:
»1. Was ist schwerer, ein Pfund Blei oder ein Pfund Federn?
2. Die Stubenfliege läuft an der vertikalen, spiegelglatten Fensterscheibe hinauf.
Wie kann das möglich sein?
(Hier hat der Verfasser nicht die zoologisch richtige Lösung der Frage ge-
fordert, sondern sich mit einer rein physikalischen Erklärung, die Scheibe ist nicht
absolut glatt, völlig zufrieden gegeben.)
3. In einen Schuhwarenladen tritt ein Herr, fordert ein Paar Stiefel, sucht
sich ein Paar aus, das 12,50 M kostet, und bezahlt mit einem Fünfzigmarkschein.
Nachdem der Käufer sich entfernt hat, stellt sich heraus, daß der Schein falsch
war. Wie groß ist der pekuniäre Verlust des Schuhwarenhändlers, wenn man an-
nimmt, daß er bei einem Verkaufspreis von 12,50 M einen Verdienst von 2,50 hat.
4. Eine Dame bekommt Hausbesuch. Bei Besichtigung ihrer Wohnung fällt
einem Fremden das Bildnis eines jungen Mannes auf. Auf die Frage, wer das sei
antwortet die Dame:
Die Mutter dieses jungen Mannes war die einzige Tochter meiner Mutter.
In welchem verwandtschaftlichen Verhältnis stand die Dame zu dem jungen
Manne?
5. Ein Postbote muß zu Fuß den Weg vom Dorfe A nach dem Dorfe B
machen. Aber es hat geglatteist, und es ist so glatt, daß wenn man einen Schritt
vorwärts geht, man zwei zurückgleitet. Der Bote kam aber ganz gut hin, und
zwar zu Fuße; wie machte er das?«
Der Verfasser sagt dazu: »Ich bin mir bewußt, hier eine Frage vorgelegt zu
haben, deren Lösung tatsächlichen Verhältnissen und Vorkommnissen widerspricht.
Man beachte aber den Unterschied der oben erwähnten Rätselscherzfragen mit
diesem durch logisches Nachdenken ohne Schwierigkeit auffindbaren Endresultat.«
»6. Herodot erzählt: ‚Eine Löwin kann in ihrem Leben nur ein Junges ge-
bären, weil das junge Tier in der Geburt mit seinen scharfen Krallen die Gebär-
Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. 457
mutter der Löwin zerreißt‘ Was folgt daraus, und weshalb ist der Bericht
Herodots falsch?
7. In einem Staate Amerikas ist es Sitte, die Schweine zu erschießen statt zu
schlachten. Nun war ein Farmer ein schlechter Schütze, weil er auf dem rechten
Auge blind war und mit dem linken Auge ohne Kopfneigung Korn und Ziel in
eine Linie brachte. Er legte rechts an und schoß meistens daneben. Nach welcher
Seite hin wich die Kugel wohl meistens vom Ziel ab?
8. Ein Lloyddampfer braucht von Bremerhaven nach New-York 7 Tage Fahr-
zeit. Jeden Tag fährt ein Dampfer ab Bremerhaven, ebenso jeden Tag einer ab
New-York. Wieviel Dampfern begegnet ein Dampfer, der heute aus Bremerhaven
abgeht ?«
Es bedarf keines Wortes, daß diese Fragen für jugendliche
Anormale nicht in Betracht kommen. Wir sehen uns deshalb auf
andere Wege der Forschung verwiesen. Können uns alle die bisher
angeführten Methoden nicht befriedigen, so ist zu relativ vollkommener
Ausbildung inzwischen jene Methode fortgeschritten, die jeweils
mehrere Tests zur Prüfung verwendet, mit Testserien arbeitet.
Diese Arbeit ist zurückzuführen auf die erfolgreichen Versuche des
leider zu früh verstorbenen französischen Psychologen Binet, der mit
seinem treuen Mitarbeiter Simon eine größere Anzahl von Tests zu-
sammenstellte, auf verschiedene Altersstufen aussortierte und dann
eine Staffelung aufstellte, mit der jeweils einem bestimmten Alter
entsprechende Aufgaben zugewiesen werden können. Über die Unter-
suchungen ist fortlaufend berichtet in der Zeitschrift Année psycho-
logique (Paris, Masson & Co, 1894 ff), auch sei auf das treffliche
Buch »Die neuen Gedanken über das Schulkind« verwiesen, das er-
freulicherweise in deutscher Bearbeitung von Anschütz und Ruttmann
(Leipzig, Wunderlich, 1912) erschienen ist.
Um die Übertragung der Binetschen Untersuchungen auf deutsche
Verhältnisse haben sich besonders Stern und sein Breslauer Institut
mit Bobertag und Chotzen verdient gemacht. In der »Zeitschrift
für angewandte Psychologie Bd. II, V und VI finden sich die
Arbeiten, die über die dort vorgenommenen Untersuchungen gründlich
orientieren. Eine Übersicht gibt auch Stern selbst in dem Werk:
»Die psychologischen Methoden der Intelligenzprüfung und deren An-
wendung an Schulkindern« (Leipzig, Joh. Ambrosius Barth, 1912).
Das Wesen der Binetschen Methode besteht vor allem in der
Anwendung von Testserien an Stelle von Einzeltests. Die
Aufgabe war nun, für jedes Lebensjahr der Kindheit eine Serie zu finden,
die den normalen Leistungen dieses Alters entsprach. An einer großen
Zahl von Untersuchungen wurden diese Durchschnittsleistungen ge-
funden, von Bobertag nachgeprüft und auch von unserer Münchener
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 30
458 A. Abhandlungen.
Arbeitsgemeinschaft der katholischen pädagogischen Vereine für die
hiesigen Verhältnisse überprüft. Das günstige Resultat ermunterte
zur Anwendung auf einen praktischen Fall in der Hilfsschule. Das
Ergebnis der Tests wird genau gebucht und zum Schlusse eine
Übersicht hergestellt, die positive Leistungen mit +, Versagen und
Fehlangaben mit — wertet. Aus der Zahl von + und — kann
(wie unten näher zu ersehen ist) das Intelligenzalter, sein eventuelles
Übereinstimmen mit dem Lebensalter oder ein Voraneilen und ein
Zurückbleiben berechnet werden.
An einem objektiven Maßstab haben wir dann die Intelligenz
des Prüflings gemessen und erhalten ein ohne weiteres mit anderen
Individuen vergleichbares Bild, das sogar, wie ich zeigen werde, eine
Rangierung zuläßt, die dann mit der Rangierung seitens des Lehrers
verglichen werden kann.
Die Binet-Bobertagschen Serien, die wir mit kleinen Abweichungen
anwendeten, haben folgende zu einem bestimmten Abschluß gediehene
Form:
Fünfjährige Kinder.
Nachsprechen 10silbiger Sätze (»ich gehe heute zu meiner Mutter;« >»ich
wohne in einem großen Hause«). Von diesen zwei Sätzen soll wenigstens einer
korrekt wiederholt werden.
4 Pfennige abzählen.
Definition konkreter Gegenstände durch Zweckangaben. Es sind folgende Begriffe
zu wählen: Stuhl, Gabel, Zange, Kuchen, Puppe, Haus, Pferd, Soldat, Pfennig, Rose.!)
4 Zahlen nachsprechen. Das Kind muß imstande sein, die ohne Rhythmus
vorgesprochenen Zahlen fehlerfrei wiederzugeben. Die von Bobertag vorgeschlagene
Zahlenkombination von 3—7 stelligen Zahlen ist folgende:
714 3681 51942 250841 9640518
286 2964 93718 095827 5928037
. Sechsjährige Kinder.
Asthetischer Vergleich. Drei Gesichtspaare, je ein häßliches und ein hübsches,
sind zu unterscheiden,
Drei auf einmal gegebene Aufträge sind fehlerlos auszuführen. Z. B. Nimm
den Schlüssel und lege ihn auf diesen Stuhl dort, dann mache die Türe auf, bloß
aufmachen, weiter nichts, zuletzt nimm das Kästchen von der Bank und bring es
mir her.
Nachsprechen 16silbiger Sätze: »Ich habe meinem Bruder gesagt, daß er mich
besuchen soll,« »wenn wir unsere Arbeit gemacht haben, dürfen wir spielen«.
Zusammensetzen eines Rechteckes aus zwei Dreiecken (ein Rechteck wird in
der Diagonale in zwei Dreiecke zerschnitten und diese werden dem Kinde gleich-
1) Das Abzeichnen eines Quadrates haben wir fallen lassen, weil dabei die
Schulleistung sehr mit in Betracht zu ziehen ist, In der vorliegenden Begriffsreihe
haben wir den Begriff »Droschke«, der den Kindern vielfach nicht geläufig ist durch
»Haus« ersetzt.
Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. 459
zeitig mit einem anderen gleich großen Rechteck vorgelegt. Es soll die Vorlage mit
den beiden Dreiecken zusammensetzen,
Bildbetrachtung: Beschreibung. Es werden drei Bilder aus dem Münchner
Bilderbogen »Der Pechvogel« vorgelegt. Das Kind muß imstande sein, auf die
Frage »was ist da los?« nicht nur die Personen und Dinge aufzuzählen, sondern im
Zusammenhang zu beschreiben.
Siebenjährige Kinder.
Nachsprechen von fünf Ziffern (S. o.)
Kenntnis der Münzen von 1 Pfennig bis 1 Mark. Die Münzen werden vor-
gelegt, und mit Ausnahme etwa des 25 Pfennig-Stückes muß das Kind die Münzen
bestimmen können.!)
Lücken in Zeichnungen erkennen. An Gesichtsdarstellungen, an denen die
Nase, bezw. ein Ohr, der Mund, und bei einer Frau, der die Arme fehlen, ist von
den Kindern die Lücke anzugeben.
Rechts und links unterscheiden. (Zeige das rechte Ohr, das linke Auge usw.)
Achtjährige Kinder.
Von 20—1 rückwärts zählen, ohne Fehler.
Vergleichen von zwei Gegenständen aus dem Gedächtnis, (Du kennst einen
Schmetterling, du hast auch schon eine Fliege gesehen, ist das das gleiche?
warum nicht? Ebenso Holz — Glas, Knochen — Fleisch).
Benennung der vier Hauptfarben (rot-grün-gelb-blau) auf einer Farbentafel.
Drei leichte Verstandesfragen. (Was muß man machen, wenn man den Zug
verpaßt hat? Was muß man tun, wenn man etwas kaput gemacht hat, das einem
nicht gehört? Was muß man machen, wenn man in die Schule geht, und man merkt
unterwegs, daß es schon später ist als gewöhnlich?)
Angabe von einem Hauptpunkt aus einer eben gelesenen Zeitungsnotiz (laut
lesen lassen, ohne Mitteilung, daß das Gelesene nachher wiederzugeben ist. Eine
»Zeitungsnachrichte: »Am ersten Feiertage zeigte der Arbeiter Michael Werner
seinem zweijährigen Sohne, den er auf dem Arm hielt, den Christbaum, wobei er
in der andern Hand die Petroleumlampe hielt. Als Werner um den Weihnachts-
baum herumging, stolperte er und fiel mit Kind und Petroleumlampe hin, wobei
die Lampe zerbrach. Die herbeieilenden Nachbarn löschten zwar den sofurt ent-
standenen Brand, Werner und das Kind erlitten aber solche Brandwunden, daß sie
nach Einlieferung in das Krankenhaus beide starben.«)
Neunjährige Kinder.
Definition durch Oberbegriffe. (Für die oben angegebenen Begriffe muß der
Oberbegriff angegeben werden, was eventuell provoziert werden kann, indem man
als Beispiel ein Begriffspaar nennt. Z. B. Rose und Veilchen, Pfennig und Taler,
Soldat und Jäger, Pferd und Hund, Haus und Kirche, Puppe und Ball, Kuchen und
Semmel, Zange und Hammer, Stuhl und Tisch, Gabel und Löffel.)
80 Pfennige auf 1 Mark herausgeben. Auf dem Tisch liegt bereit eine Schul-
tafel, ein 50 Pfennig-Stück, 5 10 Pfennig-Stücke und 4 5 Pfennig-Stücke. Ich
sage: »Ich kaufe dir diese Tafel ab für 20 Pfennige und bezahle sie gleich.« Ich
gebe ein Markstück her; der Schüler muß mit dem bereitliegenden Geld richtig
herausgegeben.
1) Das Abzeichnen eines Rhombus haben wir ausgeschaltet. In den Münchener
Unterklassen wird ein ziemlich intensiver Zeichenunterricht bereits betrieben, der
diesen Test durch Schulübung in seiner Objektivität beeinflussen würde.
30*
460 A. Abhandlungen.
Bildbetrachtung: Erklärung mit Hilfe unterstützender Fragen. (Jedes der oben
genannten Bilder hat eine bestimmte Pointe. Diese muß der Schüler auf; dieser
Stufe auf eine provozierte Frage hin finden. Wenn er z. B. beim ersten Bild
auch nicht von selbst gleich darauf kommt, daß der Knabe, welcher sich versteckt
hat, das Fenster eingeworfen hat, so muß er dies doch finden auf die Frage,
»welcher von den beiden Buben hat nun eigentlich das Fenster eingeworfen«.)
Angabe des Tagesdatums.
Ordnen von fünf Gewichten mit 3, 6, 9, 12, 15 Gramm in der richtigen
Reihenfolge.
Zehnjährige Kinder.
Mit drei gegebenen Worten, z. B. München — Fluß — Geld, zwei Sätze bilden.
Kenntnis aller Münzen.
Angabe von 6 Erinnerungen aus der obigen Zeitungsnotiz.
Nachsprechen 26silbiger Sätze (z. B. ich habe meinem Bruder gesagt, wenn
er heimkommt, soll er gleich wieder fortlaufen und den Arzt holen).
Nachsprechen von 6 Ziffern (S. o.).
Elfjährige Kinder.
Mit drei gegebenen Worten einen Satz bilden.
Definition abstrakter Begriffe (Neid — Mitleid — Gerechtigkeit).
Wortdurcheinander zu einem Satz ordnen. Z. B.:
ein verteidigt wir Ferien auf ich habe Lehrer
Herrn mutig Hund gereist das sind in meine verbessern gebeten
guter seinen Land den zu Arbeit meinen
Kritik absurder Sätze: Ich habe 3 Brüder, Paul, Ernst und ich. Kann man
so sagen? — Neulich fand man in einem Walde eine Leiche, die in 18 Stücke
zerteilt war; manche Leute glauben, daß ein Selbstmord vorliegt; ist das möglich ?
— Gestern verunglückte ein Radfahrer auf der Straße, so daß er sofort tot war.
Man brachte ihn in ein Krankenhaus, wo man hofft, ihn bald wieder entlassen zu
können. Ist das möglich? Warum nicht? — Vorhin las ich in einer Zeitung von
einem Eisenbahnunglück. Es war kein schweres. Es waren bloß 48 Tote. War
das recht gesagt? —
Zwölfjährige Kinder.
Bildbetrachtung: spontane Erklärung.
In einer Minute zu einem vorgesprochenen Worte drei Reime finden.
Ergänzung von Textlücken. Die folgende »Geschichte« wird den Kindern vor-
gelesen mit der Aufgabe, das jeweils fehlende Wort zu ergänzen: »Als meine Eltern
vorigen Monat verreist waren, wurde mein Bruder plötzlich sehr krank. Ich schickte
daher sofort zum — und ließ ihn sorgfältig pflegen. Nach zwei Tagen kamen die
Eltern zurück. Als sie von der Erkrankung meines Bruders hörten, waren sie
sehr —; als sie aber sahen, daß ich für seine Pflege gesorgt hatte, haben sie sich
bald wieder —, und haben mich deswegen —. Es stellte sich übrigens heraus, daß
mein Bruder kurz vorher eine größere Menge unreifes Obst gegessen hatte. Damit
hatte er sich natürlich —. Die Eltern sagten zu ihm: sei in Zukunft nicht so —.
Ich hoffe er wird den Eltern —.
Fünf schwere Verstandesfragen: Was muß man machen, wenn man von einem
Freund (Freundin) aus Versehen geschlagen worden ist? Was muß man machen,
wenn man etwas Wichtiges unternimmt? Denke dir, es fragt dich jemand um deine
Meinung über einen anderen Menschen, den du nur wenig kennst; was würdest du
dann sagen? Warum entschuldigt man eine böse Tat, die im Zorn ausgeführt wird,
Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. 461
eher, als eine böse Tat, die nicht im Zorn ausgeführt wird? Warum soll man einen
Menschen mehr nàch seinen Handlungen als nach seinen Worten beurteilen? — —
Was mir diese Testserie für Hilfsschüler sehr wertvoll erscheinen
läßt, ist unter andern auch ein Gesichtspunkt, der sich mir beim
Studium der einschlägigen Literatur aufdrängte.
Allgemein wird man wohl anerkennen, daß die besten Anweisungen
für die Intelligenzprüfung Abnormer bisher Ziehen gegeben hat.
In dem Buch: »Die Prinzipien und Methoden der Intelligenz-
prüfung« (3. Aufl. Berlin 1911) berichtet er darüber, und man sieht,
wie er ganz selbständig zu seiner auf dem Boden der Testserien-
prüfung stehenden Methode gelangte. Gleichwohl birgt sie die wich-
tigsten Tests der Binet-Bobertagschen Serie auch in sich und wird
dadurch zur Stütze für die Verwendbarkeit der letzteren. Ich will
hier, der Ziehenschen Einteilung folgend, zeigen, welche Tests Ziehen
verwendet (die beigefügten Ziffern bedeuten die Seitenzahl in Ziehens
angeführtem Buch), und mit einem Stichwort jeweils andeuten, wo
der betreffende Test in der Binetschen Reihe zu suchen ist.
Ziehen | Binet-Bobertag
A. Retention.+)
1. Retentionsfragen( Wie siehteinPfennig,
r aA ein Briefkasten ... aus?),
(8. 9).
2. Die Reihe der Wochentage, Monate, |
Jahreszeiten (S. 10).
3. Fragen über jüngste Erlebnisse: Wo | Tagesdatum.
waren Sie gestern? Welches Datum
ist heute? usw. (S. 13).
4. Disparate Aufgaben (Aufgaben aus dem
kleinen Einmaleins, nach Angabe des
Resultats müssen 2 Reihen von je 6
einstelligen Zahlen nachgesprochen
werden, dann soll er nochmal das zu-
EIER Exempel angeben),
. 15.
5. Nachzeichnen von Figuren aus dem
Gedächtnis (nach 15 Sek. Expositions-
zeit), S. 20 ff.
6. Behalten von Erzählungen (Lokal- | Erzählung, Behalten eines bezw. mehrerer
nachricht) und gleichzeitig erteilten | Punkte. Ausführung von 3 gleichzeitig
Aufträgen, (S. 24). erteilten Aufträgen.
1) Ziehen versteht darunter die abgesehen von den »Empfindungen« notwendige
Voraussetzung des Gedächtnisses, der Vorstellungsbildung, die »Bedingung der Re-
produktion«, und will sie gemessen haben am »Lebenswissen«, d. h. dem Wissen aus
der täglichen Lebenserfahrung. Wir geben hier die Seitenzahlen an, auf dem sich
im angegebenen Buch das Prüfungsmittel angegeben findet.
46
2
á
A. Abhandlungen.
Ziehen | Binet-Bobertag
B. Vorstellungsentwicklung und
7.
10.
11.
Vorstellungsdifferenzierung.
Generalisationsfragen (Was sind der |
Adler, die Ente, die Gans, der Storch,
das Huhn, alle zusammen?), S. 26,
und Spezifikationsfragen (Nennen Sie
die Möbel, die Sie kennen), 8. 27.
. Erfragen der Begriffe »Neid«, »Un-
dankbarkeit« aus einer Erzählung und
umgekehrt die Aufgabe: Nenne ein
Beispiel von Neid, S. 28.
. Unterschiedsfragen (Was ist der Unter-
schied zwischen Hand und Fuß, Ochs
und Pferd? usw.), 5. 31.
C. Reproduktion.
Reizwortmethode (Auf Zuruf soll die
Versuchsperson die erste auftauchende
Vorstellung benennen: Wald, rot,
Haus, Krankheit, Wein, Stadt, Schuld,
Vater, Neid, süß, Gift, Fisch, Hoch-
zeit, berufen, Tod), S. 40.
D. Kombination.
Rückläufige Umkehrung bekannter
Assoziationsreihen (Monate, Wochen-
tage, Namen rückwärts buchstabieren),
S. 44
A Legspielmethoden (inkl. des Legens von
Worttäfelchen zu einem Satz), S. 45 f.
. Gleichungsaufgaben.
. Ebbinghaussche Kombinationsmethode,
S. 48.
. Auffassung kleiner Erzählungen mit
Pointe, S. 52.
. Verständnis für Vergleiche (Was be-
deutet das, wenn ich sage der Mann
wechselt seine Meinung wie eine
Wetterfahne), S. 57.
. Bilderprüfung. An der Hand etwa
von Münchener Bilderbogen, S. 58.
. Kritikmethode, S. 58 f.
. Aufsatz oder Brief schreiben, S. 62.
. Masselonsche Probe (3 Worte zu
sinnvollem Satz verbinden), S. 63.
. Bourdonsche Probe (Anstreichen aller
n und e in sinnlosem und sinnvollem
Text), 8. 70.
Erklären der Begriffspaare durch Ober-
begriff.
Erklärung abstrakter Begriffe.
Unterscheiden zweier Begriffe aus dem
Gedächtnis.
Rückwärtszählen.
Lücken in Zeichnungen. Wortdurch-
einander ordnen.
Ergänzen der Lücken in der Erzählung.
Auffassung der Zeitungsnotiz.
Vorgang bezw. die Pointe eines Bildes
erfassen nach den Münch. Bilderbogen.
Kritik absurder Sätze.
Aus 3 Worten einen Satz bilden.
Die große Verwandtschaft, die zwischen beiden Untersuchungs-
methoden hinsichtlich der Aufsuchung von Einzelfähigkeiten besteht,
bestärkt in der Hochschätzung der Binetschen Methode. (Forts. folgt.)
1. Psychologische Profile nach Rossolimo. 463
B. Mitteilungen.
1. Psychologische Profile nach Rossolimo.
Von Dr. N. Braunshausen und A. Ensch (Luxemburg).
Aus den Leserkreisen der »Zeitschrift für Kinderforschung« ist uns
der Wunsch zugegangen, über die im 3/4. Heft des 18. Jhrg. dieser Zeit-
schrift veröffentlichten Untersuchungen genauere methodische Angaben mit-
zuteilen. Wir haben dort auf die ausführliche Darstellung hingewiesen,
die Rossolimo von seiner Methode in der »Klinik für psychische und
nervöse Krankheiten«e gegeben hat. Für diejenigen Leser, welche den
Bericht des russischen Verfassers selbst nicht kennen, möge hier eine
gekürzte Beschreibung des angewandten Verfahrens folgen. Wir haben
uns bei unseren Versuchen eng an die Tests und die Weisungen Rossolimos
gehalten. Nur für die Bilderserien haben wir eigenes Material verwendet,
das aber ganz im Sinne der originalen Experimente angeordnet war.
Für die Erforschung der Aufmerksamkeit hat Rossolimo ein vor-
treffliches Verfahren ersonnen. 10 Kartons mit einer steigenden Anzahl
von Durchlöcherungen, die immer kompliziertere Figuren ergeben, werden
der Versuchsperson vorgelegt mit der Aufforderung, in alle Öffnungen mit
einem spitzen Instrument hineinzustechen und keine zweimal zu treffen.
Ein unter dem Karton liegendes weißes Blatt erlaubt jedesmal die Kontrolle,
ob alle Öffnungen vorschriftsmäßig durchstochen sind.
Bei einer zweiten Serie zur Prüfung der Aufmerksamkeitskonzentration,
mit Auswahl, verwendet Rossolimo dieselben Kartons; nur sind die
Öffnungen teils mit Kreuzen, teils mit anderen Figuren bezeichnet, und
der Auftrag lautet nun, etwa die Kreuze zu durchstechen und alle anderen
Figuren zu übergehen, oder umgekehrt.
Dem Umfang der Aufmerksamkeit sind folgende 10 Experimente ge-
widmet: 1. Simultanes Nachzeichnen eines horizontalen Striches mit der
linken und eines Kreises mit der rechten Hand. Neuerdings hat Rossolimo
dies dahin abgeändert, daß die Zeichen nur abwechselnd, nicht simultan,
mit der linken und rechten Hand gemacht werden. 2. Zählen von Punkten,
die regellos auf einem Blatt zerstreut sind, während der Versuchsleiter
dreimal unter dem Tisch klopft und nachher fragt, was während des
Zählens stattgefunden habe. 3. Im Zentrum eines Blattes steht eine auf-
fällige Figur. Die Versuchsperson wird aufgefordert, diese nach er-
folgter Betrachtung zu beschreiben. Darnach wird sie nach einem kleinen
Kreis gefragt, der in einer Ecke des Blattes sichtbar war. 4. Nachzeichnen
einer Reihe von mathematischen Zeichen, indem sie gruppenweise von links
nach rechts und von rechts nach links gezeichnet werden. 5. Bäume
und Häuser liegen auf einem Blatt zerstreut, das mit einer punktierten
Linie umrandet ist. Die Versuchsperson wird gefragt, ob das Blatt sich
irgendwie von anderen Blättern unterscheide, abgesehen von den gemalten
Figuren. 6. Die Versuchsperson sagt die Wochentage in umgekehrter
Reihenfolge auf, indem sie bei Freitag und Mittwoch die Augen zu schließen
464 B. Mitteilungen.
hat. 7. Vertikale Striche wechseln mit horizontalen ab; die ersteren sind,
nach einer neueren Änderung Rossolimos, ınit rotem, die anderen mit
blauem Bleistift nachzuzeichnen. 8. Die Versuchsperson schlägt 5mal mit
der linken Hand auf den Tisch. Gleichzeitig fällt auch die rechte jedes-
mal nieder, aber diese macht jedesmal einen Schlag mehr, also zuerst
einen, dann zwei, dann drei usw. 9. Eine Reihe von kleinen Figuren ist
nachzuzeichnen, während gleichzeitig die Wochentage von der Versuchs-
person aufgezählt werden, wenn möglich in umgekehrter Reihenfolge.
10. Die Versuchsperson zählt laut von 1 bis 7 und klopft beim Nennen
von 1 siebenmal, beim Nennen von 2 sechsmal usw.
Eine andere Untersuchung beschäftigt sich mit der Ablenkung der
Aufmerksamkeit, durch Störungen von seiten des Versuchsleiters, während
die Versuchsperson die Öffnungen der Kartons durchsticht.
Die Funktion des Willens wird auf die Fähigkeit geprüft, dem
Automatismus und der Suggestion zu widerstehen.
10 Experimente gehen auf den Automatismus: 1. Die Lineale Binets
werden gezeigt, von denen 10 immer zunehmende Länge haben, während
5 andere gleich sind. Die Versuchsperson wird jedesmal gefragt, ob das
Stäbchen größer sei als das vorhergehende. Der Automatismus zeigt sich
darin, daß auch die 5 gleichen jedesmal für größer gehalten werden.
2. Die Versuchsperson soll mit dem Versuchsleiter zugleich auf den Tisch
klopfen. Fährt sie noch einige Male fort, wenn der Versuchsleiter auf-
gehört hat, so wird das als Automatismus bezeichnet. 3. Die Versuchs-
person wird aufgefordert, mit dem Versuchsleiter zu zählen und zwar auf
die gleiche Weise. Nach einigen Zahlen geht der Versuchsleiter zu leisem
Zählen über. Fährt dann die Versuchsperson mit lautem Zählen fort, so
gilt das als Automatismus. 4. Nach der gleichen Aufforderung an die
Versuchsperson fängt der Versuchsleiter wieder an zu zählen, und über-
springt eine Reihe von Zahlen. Automatismus ist vorhanden, wenn die
Versuchsperson in der angefaugenen Reihe weiterfährt. 5. Man sagt der
Versuchsperson, daß man bis zehn klopfen wolle, klopft aber öfters. Die
Versuchsperson muß mit 10 aufhören. 6. Zwei Buchstaben werden der
Versuchsperson 3mal vorgesprochen. Sie wird aufgefordert, die Buch-
staben zu wiederholen und muß mit dem Versuchsleiter nach dem dritten-
mal aufhören. 7. Auf einem Blatt werden 5 geometrische Figuren ge-
zeigt; die Versuchsperson soll sie auf einem folgenden Blatt wieder-
erkennen, wo sie mit anderen Figuren gemischt sind. Der Automatismus ver-
leitet, mehr Figuren anzugeben, als gesehen worden sind. Der Versuch läßt
sich besser dahin abändern, daß die 5 gezeigten Figuren auf dem 2. Blatt
in der gleichen Reihenfolge wiederkehren und daß eine oder mehrere ganz
ähnliche Figuren direkt darauf folgen. 8. Zählen mit dem Experimentator.
Dieser hält nach 4 auf. Dasselbe wird von der Versuchsperson erwartet.
9. Dasselbe Experiment wiederholt mit der Aufzählung der Wochentage.
Der Versuchsleiter hält nach Mittwoch inne. 10. Man nimmt die rechte
Hand der Versuchsperson und fordert sie auf, die Augen zu schließen.
Nimmt man nun darnach die andere Hand und die Versuchsperson schließt
ebenfalls die Augen, so gilt das als Zeichen von Automatismus.
1. Psychologische Profile nach Rossolimo. 465
Für die Widerstandsfähigkeit gegen Suggestion sind folgende Ver-
suche verwertet: 1. Man suggeriert eine Emotion, indem man erklärt,
man werde jetzt etwas zum Lachen zeigen, führt aber dann irgend einen
nichtssagenden Gegenstand, etwa einen Bleistift vor. Es muß aber be-
merkt werden, daß dieser Versuch nicht immer entscheidend ist, denn
das Lachen ist auch beim Auftauchen des indifferenten Gegenstandes,
wegen des Kontrastes zwischen der Erwartung und dem Eintreten der
Wirklichkeit berechtigt. 2. Eine Wärmeempfindung wird suggeriert, indem
man der Versuchsperson bei geschlossenen Augen die Hand berührt und
fragt, ob sie die Hand des Versuchsleiters als warm empfinde. Zieht man
dann die Hand zurück, indem man ankündigt, sie werde jetzt noch wärmer
werden, so läßt sich die Versuchsperson manchmal irre führen, wenn
man einfach die Hand wieder zurücklegt. 3. Die Suggestion einer Be-
rührungsempfindung geschieht durch ein Verfahren, das an die Webersche
Tastzirkelmethode erinnert. Man berührt die Hand der Versuchsperson
bald mit einem, bald mit zwei Fingern. Nachdem man sie wieder mit
einem Finger berührt und nach der Zahl der Eindrücke gefragt hat,
berührt man mit einem Finger eine Stelle neben der zuletzt getroffenen.
Suggestible Personen glauben dann, zwei Finger zu spüren. Hier ist es
jedoch notwendig zu bemerken, daß der Tasteindruck eine gewisse Zeitlang
nachklingt, und daß daher möglicherweise, wenigstens bei kurzem Zwischen-
raum, auch ohne Suggestion zwei Eindrücke empfunden werden können.
4. Für die Suggestion einer Schwereempfindung bedient man sich zweier
Holzzylinder von gleichem Gewicht, aber ungleicher äußerer Gestalt.
5. Eine Farbenempfindung wird suggeriert durch ein Bild einer Blume,
deren Blüten farbig, deren Blätter aber nicht koloriert sind. Man fragt
nach der Farbe der Blätter. 6. Für die Raumwahrnehmung bedient man
sich eines Bildes, das Vater und Sohn darstellt, letzteren aber trotz seiner
Knabenkleidung größer gezeichnet als den Vater. Man fragt, wer von
beiden der größere gewesen sei, nachdem man das Bild entfernt hat.
7. Ein Bild zeigt ein Mädchen, das Futter streut. Nachdem man das
Bild gezeigt hat, fragt man, auf welcher Seite sich die Vögel befanden.
Es waren aber keine Vögel gezeichnet. 8. Die Versuchsperson wird auf-
gefordert, die Namen zu zählen, die der Experimentator vorspricht. Er
sagt 9 Namen auf, legt aber nach und nach die 10 Finger der Hand
zurück. Es wird nach der Zahl gefragt. 9. Die Suggestion einer wider-
sinnigen Idee geschieht durch die Frage: Wann laufen die Kinder mit
dem Kopf nach oben? 10. Man erklärt der Versuchsperson, man werde
bis 10 zählen, und dann werde sie nicht mehr imstande sein, die Augen
offen zu halten.
Besonders gut gelungen ist in dem Rossolimoschen Verfahren die
Prüfung der Merkfähigkeit. Am Tachistoskop wird zuerst für die
Versuchsperson die Zeit der notwendigen Expositionsdauer festgestellt.
Dann werden 10 einzelne Figuren gezeigt, die jedesmal auf einer Tafel
unter 8 anderen Figuren wiederzuerkennen sind. Die Tafeln sind den
Sammlungen von Prof. Netschajeff und teilweise denen von Professor
Bernstein entlehnt.
466 B. Mitteilungen,
Eine zweite Art der Prüfung der Merkfähigkeit stützt sich auf Urteile.
Es werden 10 Karten gezeigt, auf denen jedesmal 2 Figuren vorkommen,
die bei weitgehender Ähnlichkeit kleine Unterschiede aufweisen. So finden
sich auf einer Karte zwei Quadrate, die gleich groß sind, aber verschiedene
Lage haben, auf einer anderen zwei Kreise, die verschieden hell schraffiert
sind usw. Die Versuchsperson wird nach den Unterschieden gefragt.
Die dritte Methode zur Prüfung der Merkfähigkeit wendet das
Nachbilden von vorgezeigten Figuren an. Und zwar, um jede technische
Fertigkeit unnötig zu machen, das Nachbilden von Punkten. In einem
Quadrat mit 9 Feldern werden einzelne Felder mit Punkten markiert; die
Versuchsperson hat in einem ihr vorgelegten ähnlichen Quadrat die im
Tachistoskop erschienenen Punkte nachzuzeichnen.
Eine vierte Methode endlich zeigt tachistoskopisch Farbenquadrate,
deren Nüancen unter 25 anderen, zum Teil schwer unterscheidbaren,
wiederzuerkennen sind.
Ein wichtiger Teil der Intelligenzprüfung bezieht sich auf das Ge-
dächtnis. Watkins will sogar die Prüfung des Gedächtnisses als den
wesentlichsten Test bei der Untersuchung der Intelligenz festhalten.
Rossolimos Methode erstreckt sich auf die verschiednen Seiten der Funktion
des Behaltens.
Das Gedächtnis für optische Wahrnehmungen wird geprüft durch
5 Serien von Tests zu je 10 Experimenten. Zuerst werden 10 lineare
Figuren sukzessiv gezeigt, und die Versuchsperson hat dieselben auf einer
Tafel, wo sie mit 15 anderen vermischt sind, wiederzuerkennen.
Auf dieselbe Weise werden 10 farbige Figuren dargeboten, sodann
10 Bilder, und ihr Behalten geprüft mit der Methode des Wiedererkennens.
Größere Schwierigkeit bietet die Prüfung des Behaltens von Bildern
mit der Reproduktionsmethode. 10 Bilder mit charakteristischem Inhalt
werden dreimal vorgezeigt und darauf die Versuchsperson aufgefordert,
aus dem Gedächtnis den Inhalt der Bilder anzugeben.
Endlich werden 10 Gegenstände, wie ein Buch, ein Bleistift, usw.
dargeboten, und die Versuchsperson gibt an, was sie davon behalten hat.
Eine zweite Reihe von Versuchen geht auf das Gedächtnis für Ele-
mente der Rede. Hier werden nach dem gebräuchlichen Verfahren Buch-
staben, Silben, Worte, Sätze sowohl optisch als akustisch vorgeführt und
ihr unmittelbares Behalten geprüft. Daneben werden zwei Serien von
nebeneinandergestellten sinnlosen Silben und Wörtern optisch und akustisch
dargeboten, um das Behalten auf assoziativrem Wege zu prüfen.
Die dritte Seite des Gedächtnisses betrifft die Zahlen. Serien von
10 Zahlen werden akustisch und optisch zum Behalten aufgegeben. Für
das Behalten konkreter Zahlen werden 10 Bilder gezeigt, die verschiedne
Gegenstände, wie Apfel, Mützen usw. in verschiedner Anzahl darstellen.
Die Versuchsperson wird nach Vorzeigung der 10 Bilder nach der Anzahl
der einzelnen Gegenstände gefragt. Auf dieselbe Art wird das Behalten
einer Anzahl von wirklichen Gegenständen und einer Anzahl verschiedener
geometrischer Zeichen geprüft.
Unter dem Namen assoziative Vorgänge untersucht Rossolimo die
1. Psychologische Profile nach Rossolimo. 467
deutende Auffassung. Eine erste Serie gibt 5 Einzelbilder, deren Inhalt
zu erraten ist, und 5 Bilderreihen, von denen jede eine Erzählung dar-
stell. Eine zweite Serie bietet Bilder widersinnigen Inhalts wie z. B.
eine brennende Kerze, die ihren eignen Schatten wirft. Die Versuchs-
person wird gefragt, ob das richtig oder falsch gezeichnet sei, und dann,
worin das Falsche oder Widersinnige bestehe. Rossolimo hat für die
beiden Serien drei verschiedne Arten von Bildern, je nachdem es sich um
Kinder, um gebildete oder um ungebildete Erwachsene handelt. Um eine
Idee von den Bildern zu geben, lassen wir diejenigen mit widersinnigem
Inhalt für Kinder folgen: 1. Drei Männer ziehen einen Wagen, worin ein
Pferd sitzt. 2. Eine Dame liest ein Buch mit verbundenen Augen, wobei
über die Binde eine Brille gesetzt ist. 3. Eine Landschaft beleuchtet von
Sonne und Mond zugleich. 4. Ein Jäger mit einer Flinte auf dem Rücken
läuft einem Hasen nach. 5. Eine Kuh schreitet über einen Bach auf
einem dünnen, runden Steg. 6. Ein Buchhalter spitzt eine Gansfeder mit
einem großen Beil. 7. Im Dorf ist alles außer den Dächern mit Schnee
bedeckt. 8. Ein Knabe sitzt auf der Lehne eines Stuhles. 9. Ein Papier-
drachen hält sich in der Luft trotz einer Krähe darauf. 10. Ein kahl-
köpfiger Mann kämmt sein nicht existierendes Haar.
Für die Prüfung der Kombinationsfähigkeit sind 3 Serien von
10 Tests vorgesehen.
Die erste bietet gewöhnliche Bilder, die in immer kompliziertere
Teile zerlegt sind und von der Versuchsperson wieder zusammengesetzt
werden müssen. Die 1. Figur ist in 2 Teile, die letzte in 9 ganz un-
regelmäßige Teile zerlegt.
Dieselbe Operation wird an 10 geometrischen Figuren, die von
steigender Schwierigkeit sind, vorgenommen.
Endlich werden aus kleinen Quadraten und Dreiecken Figuren nach-
gebildet, die der Versuchsperson vorgelegt werden.
Eine eigne Untersuchung ist dem mechanischen Sinn gewidmet.
Hier erhält man bei Versuchspersonen gewisser Kreise manchmal günstige
Resultate, während sie in den anderen Prüfungen versagen. Individuen,
die ein wenig am Rande der Gesellschaft leben, zeigen oft überraschende
Findigkeit für kleine mechanische Spielereien.
Rossolimo hat 10 solcher Tests zusammengesetzt. So sind 3 Metall-
stäbchen an einem Ring aufgehängt, und die Versuchsperson wird auf-
gefordert, die Stäbchen vertikal auf den Tisch zu stellen. Ein Schloß
mit beweglicher Scheibe ist zu öffnen. Verschiedne Arten von mannig-
faltig gebogenen Drähten enthalten Ringe, welche durch einen kleinen
Kunstgriff zu entfernen sind usw.
Die Prüfung der Einbildungskraft erfolgt mit Zeichnungen, welche
unvollendet sind und ergänzt werden müssen. Es sind: 1. Ein Tischrand
mit einem Fuß. 2. Ein Haus. 3. Ein Menschenkopf. 4. Ein Kreuz.
5. Ein Hund. 6. Ein Baum. 7. Eine Kirche. 8. Ein Knabe, der einen
Karren zieht. 9. Das Wort: Nachtigall, von dem uur 5 Buchstaben ge-
boten werden. 10. Der Satz: Wenn der Morgen — die grünen — deckt,
glänzt das Glas wie S--b-r.
468 B. Mitteilungen.
Es ist zu bemerken, daß diese Figuren teilweise eine zu schwere
Aufgabe bieten, da die gezeigten Striche nicht eindeutig genug sind. Aber
die Idee der Tests ist eine vorzügliche.
Eine letzte Prüfung bezieht sich auf die Beobachtungsfähigkeit.
Es werden 10 Tafeln mit Zeichnungen dargeboten. Beispielsweise ist
auf einer derselben ein Dampfer im Meere sichtbar, das Wasser schäumt
vor und hinter dem Dampfer. Die Versuchsperson wird gefragt, ob er
in Bewegung sei. Oder es werden zwei Tische gezeigt, die vollkommen
gleich sind, von denen aber der eine zwei, der andere nur eine Schieb-
lade besitzt. Man fragt die Versuchsperson, wodurch sich die beiden
Tische unterscheiden. Die anderen Tafeln enthalten ähnliche Zeichnungen.
Das ist das Material, dessen sich die Rossolimosche Methode bedient.
Die Verwertung desselben für die Berechnung des Profils zeigt ge-
wisse Eigentümlichkeiten.
Jeder Serie von 10 Experimenten entspricht ein Feld von 10 kleinen
Quadraten, in welche jedesmal durch ein + oder — Zeichen vermerkt
wird, ob das Experiment gelang. Rechnet man nachher die Summe der
richtigen Antworten für jedes Bild zusammen, und verbindet die End-
punkte der so entstandenen ÖOrdinaten, so erhält man eine Kurve, die
einen wirklichen Durchschnitt durch die untersuchten geistigen Fähigkeiten
darstellt.
Um einen rechnerischen Ausdruck dieses Profils zu gewinnen, bedient
sich Rossolimo einer Formel, welche durch Zusammenfassung verschiedner
Einzelfähigkeiten entsteht. So wird die Durchschnittszahl der gelungenen
Experimente für Aufmerksamkeit und Willen berechnet. Eine zweite
Durchschnittszahl umfaßt alle Gruppen der Merkfähigkeit und des Ge-
dächtnisses. Eine dritte endlich gibt die Durchschnittshöhe der 5 Asso-
ziationsprozesse, die als Auffassung, Kombinationsfähigkeit, Findigkeit, Ein-
bildungskraft und Beobachtungsfähigkeit einzeln untersucht worden sind.
Dazu fügt Rossolimo noch den Prozentsatz der Vergeßlichkeit und be-
rechnet dann das Gesamtprofil d. h. die Durchschnittshöhe aller auf-
gezeichneten ÖOrdinaten, so daß beispielsweise der zahlenmäßige Ausdruck
des Profils von einem Falle progressiver Paralyse, den Rossolimo unter-
sucht hat, sich folgendermaßen darstellt:
P 4,1 = (14 +47 + 4,7) + 61,1%.
Fügt man noch hinzu, daß nach den Berechnungen Rossolimos die
Profile 1 bis 4 von Stumpfsinn und Imbezillität verschiednen Grades
zeugen, während die Profile von 4 bis 6 hauptsächlich der Debilität ent-
sprechen und diejenigen über 6 dem normalen Typus angehören, untersucht
man dann weiter das Verhältnis der einzelnen Gruppen von Fähigkeiten
zueinander, so erkennt man, welche Bequemlichkeit der Beurteilung die
geschilderte Methode bieten kann. Natürlich muß man sich hüten, ihr
unbedingten Wert zuzuschreiben, aber im Verein mit anderen Faktoren
der Beurteilung darf sie als sehr zuverlässig bezeichnet werden.
Deshalb ist es wünschenswert, daß sie weiter bekannt werde —
welchem Zweck die vorliegende Darstellung derselben dienen soll — und
daß andere Forscher sie erproben, bezw. auf etwaige Mängel aufmerksam
2. Drei Originalbriefe eines ehemaligen jugendlichen Gefangenen. 469
machen. Rossolimo hat schon selbst durch Kürzung der Experimente
einem berechtigten Einwand zu begegnen gesucht. Wir werden demnächst
von Untersuchungen mit einem noch weiter vereinfachten Verfahren be-
richten, das aber alle wesentlichen Punkte der Rossolimoschen Methode
beibehält. Vielleicht ergibt sich aus dem Vergleich mit weiteren Prüfungen
der Methode, die etwa noch von anderen Forschern angestellt werden,
eine definitive Serie von Tests, die eine entschiedene Bereicherung der
Methodik der Intelligenzprüfungen bilden würden.
2. Drei Originalbriefe eines ehemaligen jugendlichen
Gefangenen.
Ein Beitrag zu dem Kapitel »Neurasthenische Depressionszustände«.
Von K. Kruppa, Lehrer an der Königl. Landesstrafanstaft Bautzen.
Um ein möglichst vollständiges Bild des jungen Mannes zu geben,
dessen Person im Mittelpunkte folgender Skizze stehen wird, schicke ich
einige Bemerkungen voraus.
Im Alter von 16 Jahren wurde Fritz B. in die Landesstrafanstalt zur
Verbüßung einer Strafe von 6 Monaten und 2 Wochen wegen Unter-
schlagung, Diebstahls und Betrugs von Leipzig aus eingeliefert. Er war
Kaufmannslehrling und hatte mehrere Bezirksschulen und die Fortbildungs-
schule besucht. Vom Gericht wurde er als »sehr leichtfertig, zu Ver-
gehen wider fremdes Eigentum geneigt« bezeichnet. Der Vater war ver-
schollen, die Mutter verstorben. Eine jüngere und eine ältere Schwester
standen ihm vollkommen fremd gegenüber, da die Geschwister getrennt
erzogen worden waren. In seinem eigenhändigen Lebenslaufe berichtet er:
»Ich, Hermann Fritz B., bin geboren am .... zu Berlin. Mein Vater
heißt Max B. und war von Beruf Schlosser. Meine Mutter heißt Emilie B.
geborene P. Ich habe noch 2 Schwestern.
Ich kam Ostern 18.. in die... Bezirksschule zu Leipzig. Als ich
11 Jahre alt war, starb meine Mntter. Mein Vater gab uns 3 Geschwister
in Pflege. Kurz darauf verschwand er plötzlich, ließ uns im Stich und
ist seitdem verschollen. Von da ab sorgte das Armenamt für uns. Ich
kam nun zu Herrn Schneidermeister ... in... Diese guten Leute er-
setzten mir die Eltern in vollstem Maße. Hier blieb ich, bis ich Ostern 19..
meine achtjährige Schulzeit beendet hatte und entlassen wurde Nach
meiner Konfirmation kam ich in die Lehre zu dem Kaufmann Herrm ...
Hier genoß ich unter Anleitung meines Lehrchefs eine vollseitige und
gründliche Ausbildung. Ich war sowohl im Kontor als auch im Lager
tätig. Mein Chef sagte mir auch, daß ich später bei ihm bleiben und einst
Prokurist der Firma werden könne. Aber mein unverzeihlicher, großer
Leichtsinn machte mir einen Strich durch meine Karriere. Dies trug sich
folgendermaßen zu:
Schon während meiner Schulzeit, als ich noch bei meinen Pflege-
eltern in B. war, verliebte ich mich in ein Mädchen namens Helene ...
Solange ich noch in B. war, konnte ich sie jeden Tag sehen. Als ich
470 B. Mitteilungen.
aber nach Leipzig kam und sie daher nur sehr wenig sehen konnte, wurde
ich manchmal arbeitsunlustig, mißmutig und melancholisch. Je älter ich
aber wurde, um so größer wurde meine Liebe. In letzter Zeit konnte ich
aber diesen Zustand nicht mehr länger ertragen, entweder mußte ich sie
mehr sehen, das ging nicht, oder ich mußte versuchen, sie zu vergessen.
Letzteres tat ich. Am 20. Juli faßte ich den unheilvollen Entschluß,
Herrn ... (seinem Prinzipal) 600 M zu entwenden, nach Amerika zu
fliehen, mich dort in die Arbeit zu stürzen und versuchen, sie zu ver-
gessen. Dies führte ich auch aus. Ich entwendete Herrn ... 600 M
und fuhr nach Hamburg. Hier scheiterte mein Plan. Ich bekam keine
Fahrkarte, weil ich keinerlei Legitimationen hatte. Ich war vollständig
geknickt. Ich wollte nun solange umherirren, bis das Geld alle war und
mich dann erschießen. Letzteres tat ich aber nicht; einesteils wollte ich
gern noch leben, andernteils wollte ich wieder gut machen, was ich ge-
sündigt hatte. — Ich stellte mich der Behörde. —
Jetzt habe ich Zeit genug gehabt, über meine Tat nachzudenken. Ich
bereue sie von ganzem Herzen und gelobe Gott, ein besserer Mensch zu
werden.
Hermann Fritz B.«
Als ich beim ersten Zellenbesuche auf seinen Lebenslauf zu sprechen
kam, äußerte er unter anderm: »Zum Erschießen fehlte mir die Courage.«
Er hatte in Magdeburg bereits einen Revolver gekauft, fuhr dann planlos
umher, schlief in Hotels, aß in Automaten und besuchte die Theater.
Nachdem er noch 8 Tage in der Sächsischen Schweiz verbracht hatte,
stellte er sich in Dresden der Behörde. Nach dem Grunde seiner Hand-
lungen befragt, erwähnt er u. a. außer der »unglücklichen Liebe«: »Es ist
eben viel überreizte Phantasie dabei.«
Mein erstes Urteil über ihn lautete damals: Leidliche Kenntnisse —
scheint Reue zu empfinden — gebe die Hoffnung noch nicht ganz auf,
wenn seine Straftat auch recht raffiniert ausgeführt wurde. Sein Verhalten
nach der Tat zeigt ihn als einen recht unreifen, fast kindischen Menschen.
Als er die Strafanstalt verließ, lautete mein Urteil über ihn:
B. ist gut begabt, aber auffallend faselig. Er ist äußerst schwer zu
behandeln und leicht zu verletzen; leicht verzagt, vielleicht auch etwaigen
Versuchungen gegenüber noch willensschwach, aber sonst recht dankbar,
sobald er die erziehende Liebe in seiner Behandlung fühlt; mehr mit
väterlich ernsten Worten zu erziehen, als durch barsches und schroffes
Wesen. Man ist geneigt, sein ganzes Vorgehen und besonders die Gründe
hierzu (»unglückliche Liebe«) wie auch die Absicht, sich das Leben nehmen
zu wollen, als eine krankhafte Störung anzusehen, die, in der Pubertät be-
gründet, als »Jugendirreseine zu bezeichnen wäre. Damit ist der Hoffnung
Raum gegeben, daß B. nach glücklicher Überwindung jenes Alters ein ganz
brauchbarer Mensch werden wird. 1)
1) Vergl. hierzu K. Kruppa, »Flegeljahre und Pubertätszeit als Ursachen der
Kriminalität Jugendlicher.« Diese Zeitschrift Jg. XIV, 8.
2. Drei Originalbriefe eines ehemaligen jugendlichen Gefangenen. 471
Bei seiner Entlassung im März 1908 gab das zuständige Armenamt
den B. nicht in eine Erziehungsanstalt, sondern er wurde in Rücksicht
auf seine Eigenart durch freundliche Vermittelung des Fürsorgevereins
für Strafentlassene und im Einverständnisse mit dem Armenamte erneut
zu einem Kaufmann in die Lehre gegeben, der sich des jungen Burschen
ganz besonders anzunehmen versprach. Leider mißglückte der Versuch,
B. auf diese Weise wieder in geordnete Verhältnisse zu bringen durch
dessen eigne Schuld. Im August gelangte eine Mitteilung hierher, daß B.
ohne Grund Ende Juli seine Stellung verlassen habe. B. hatte 18 M zur
Post befördern sollen, war aber nicht in seine Lehrstelle zurückgekehrt.
Von diesem Zeitpunkte ab fehlte jede Nachricht über B. Plötzlich
erhielt ich, fast 4 Jahre später, folgenden Brief:
Leipzig, den 9. Mai 1912.
Hochverehrter Herr Kruppa!
Als ich Ihnen kurz vor meiner Entlassung aus der dortigen Straf-
anstalt (März 1908) in die Hand versprach, Sie über meine jeweiligen
Fortschritte draußen im Leben auf dem Laufenden zu erhalten, meinte ich
es wirklich Ernst damit. Als ich jedoch in Leipzig nach monatelangem
Streben nichts weiter als eine armselige Adressenschreiber-Stellung er-
reicht hatte, schämte ich mich, Ihnen (das heißt meiner Ansicht nach)
nichts Erfreuliches mitteilen zu können. Deshalb verschob ich die Er-
füllung meines Versprechens von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, bis
die Angelegenheit schließlich — Gott seis geklagt! — ganz in den
Hintergrund trat. i
Wenn ich jetzt nach langen Jahren meinem Versprechen nachzukommen
versuche, geschieht es, weil während dieser ganzen Zeit, in Perioden voller
Entbehrungen, in Augenblicken, wo ich Grund hatte, an einem jemaligen
Entrinnen aus solch unwürdigen, degradierenden Verhältnissen, zu zweifeln,
mir mehr als einmal Ihre Ermahnungen in den Sinn kamen und schließ-
lich den Wunsch rege werden ließen, Ihnen, sei es auf die Gefahr hin,
von Ihnen verachtet zu werden (obwohl ich im innersten Herzen hoffe, Sie
werden es nicht tun), in Gestalt eines ausführlichen Briefes einmal einen
vollen Einblick in mein Leben, von dem Zeitpunkt an, der mich nach
meinem ersten Fehltritt wieder der Außenwelt zurückgab, zu gewähren,
und es Ihnen dann anheimzustellen, sich für mein weiteres Geschick zu
interessieren, in welchem Falle ich Ihnen anvertrauen müßte, daß Sie einen
großen Einfluß auf dasselbe besitzen würden, oder aber mich als ein Ihrer
Beachtung nicht mehr würdiges Subjekt aus Ihrem Gesichts- und Ge-
dankenkreis zu verbannen.
Lassen Sie mich denn beginnen: Am 8. März 1908 in Bautzen ent-
lassen, fuhr ich, meiner Instruktion gemäß, nach Leipzig, wurde dort von
der »Innern Mission« aufgenommen und der Schreibstube zuerteilt. Nach
und nach bekam ich durch deren Verwendung kurze Aushilfsstellen bei
kaufmännischen Firmen, u. a. auch bei .... Dort unterschlug ich im Juli
desselben Jahres ca. 50 M, fuhr, durch einen jungen heruntergekommenen
Kaufmann überredet — und hauptsächlich von ihm zu der Geschichte
472 B. Mitteilungen.
verleitet — mit ihm nach Berlin. Das Geld war bald aufgezehrt. Da er
jedoch in Berlin Verwandte besaß, gelang es ihm, von Ihnen 25 M zu er-
halten, mit deren Hilfe wir nach Hamburg fuhren. Als dort das letzte
Geldstück ausgegeben war, verkaufte ich meine Uhr. Zwei Tage darauf
wieder ohne Geld dastehend, machte er mir den Vorschlag, den Lebens-
unterhalt durch Betteln zu erwerben. — Noch jetzt verfluche ich diesen
Augenblick, da ich seit dieser Zeit immer mit halbem Fuße auf der Land-
straße stand; wollte Gott, ich hätte niemals dieses Vagabundenleben kennen
gelernt, vielleicht stände ich jetzt besser da! —
Da mir nichts weiter übrig blieb, mußte ich mich dazu bequemen.
Er instruierte mich nun dahin: Ich müßte mich an alle kaufmännischen
Geschäfte wenden, dort als stellenloser Kaufmann vorstellig werden und
eine kleine Barunterstützung zu erhalten suchen. — Und so lernte ich
das Betteln! Am 1. Tage brachte ich 35 Pf. zusammen, am 2. zirka 1M
und so ging es weiter. — Eines Tages blieb mein Reisegefährte aus und
seit dieser Zeit war er verschollen. Wie ich später erfuhr, hatte er sich
einer Zechprellerei schuldig gemacht und mußte deshalb eine mehrwöchent-
liche Gefängnisstrafe verbüßen.
Von Hamburg wandte ich mich wieder nach Berlin, erhielt schließlich
Beschäftigung und verbesserte mich nach und nach, bis ich eine Stellung
mit 90 M monatlich erhielt. Das war im Januar 1909. Nach kurzer
Zeit bemächtigte sich jedoch meiner eine immer mehr anwachsende Un-
ruhe und Mutlosigkeit, die ihreu Grund darin fand, daß ich zu bemerken
glaubte, man fände meine Arbeit zu leichtfertig und ungenügend ausgeführt.
Dies führte schließlich so weit, daß ich mich hinreißen ließ, Anfang März
die Stelle Knall und Fall aufzugeben und gleichzeitig die Portokasse,
welche ca. 200 M enthielt, mitzunehmen.
Mein nächstes Ziel war London. Acht Tage später war ich dort,
wirtschaftete mit dem Gelde etwa 6 Wochen, suchte dann Beschäftigung,
fand keine und sank schließlich so weit, daß ich die Gäste des boarding-
house, in welchem ich logierte, in ihren Zimmern bestahl und die Sachen
auf dem Leihhause versetzte. Dies führte in wenigen Tagen zu meiner
Verhaftung. Vom dortigen Gerichtshof zu 1 Jahr Gefängnis verurteilt,
verbüßte ich diese Strafe zu Brixton b. London, wurde dann nach Berlin
ausgeliefert und dort wegen meiner da begangenen Unredlichkeiten mit
9 Monaten Gefängnis bestraft. Am .... 1911 aus der Anstalt Tegel
b. Berlin entlassen, fuhr ich wieder nach Leipzig, nahm, da ich keine feste
Stellung finden konnte, Beschäftigung bei einem Adressenverlag an und
blieb dort 8 Wochen. Später wandte ich mich zunächst nach Hamburg,
mich dort 4 Wochen aufhaltend und auch da Adressen schreibend, dann
nach Hannover, Braunschweig, Magdeburg, Brandenburg, Berlin. — —
Im Juli (nachdem ich bis dahin nochmals vergebliche Anstrengungen ge-
macht, wieder in geordnete Verhältnisse zu gelangen) fuhr ich zurück
nach Leipzig, schrieb wieder 2 Monate lang Adressen bei einem jeweiligen
Verdienste von 8—12 M in der Woche, bis ich schließlich, dieses Lebens
herzlich müde, beschloß, im Ausland mein Heil zu versuchen. Größtenteils
zu Fuß reisend, gelangte ich nach Aachen. Dort glückte es mir, eine
2. Drei Originalbriefe eines ehemaligen jugendlichen Gefangenen. 473
Hausdienerstelle mit 30 M monatlich neben freier Station zu erhalten.
Einen Monat hielt ich es aus, dann, erneut von der Reiselust gepackt,
machte ich Schluß und fuhr nach Antwerpen. Das war im Anfang des
Oktober 1911.
Ich hatte die Absicht, von Antwerpen aus Gelegenheit zur kosten-
losen Überfahrt nach London zu suchen. Da ich jedoch am Ende des
Monats immer noch kein befriedigendes Resultat zeitigen konnte, beschloß
ich, in Gesellschaft eines verlodderten ungarischen Journalisten zu Fuß
nach Calais zu wandern und dort auf irgend eine Weise die Überfahrt
nach London via Dover zu ermöglichen zu suchen. Wir passierten Gent,
Brügge, Ostende, Dünkirchen und langten 8 Tage später in Calais an.
Dort erwiesen sich jedoch alle aufgestellten Bemühungen als erfolglos, und
mein Gefährte, entmutigt, schrieb nach Hause um Geld, um wieder nach
seiner Heimat zu können. Ich trennte mich dann von ihm und schlug
allein die Richtung nach Paris ein. 8 Tage später, 300 km hinter mir,
langte ich dort an. — Während der 3 Wochen nun, die ich in Paris ver-
blieb, habe ich die härtesten Zeiten in meinem bisherigen Leben auskosten
müssen. Tagsüber von Weißbrot, daß ich in den Bäckereien erbettelte,
existierend, war ich froh, während der Nacht in einer Kaschemme für
4 sous auf Bänken übernachten zu können. Schließlich, durch Entbehrungen
jeder Art von der Bewunderung für dieses moderne Babylon geheilt,
wandte ich Paris den Rücken und kehrte nach der deutschen Grenze
zurück, welche ich ohne ernstliche Hindernisse (einmal wurde ich allerdings
in Sedan wegen Mittellosigkeit aufgegriffen und mit 6 Tagen Haft bedacht)
Ende November erreichte.
8 Tage später war ich wieder in Leipzig, suchte und erhielt Be-
schäftigung als Adressenschreiber und vegetierte in dieser Weise in den
Tag hinein. Heute bin ich noch keinen Schritt vorwärts gekommen. Wie
lange ich verdammt sein soll, unter diesen Verhältnissen mein Leben zu
fristen, weiß ich nicht. —
Die Ursache aber all dieses Übels, der Umstand, der es vermochte,
meine Willenskraft und Beständigkeit bis zu diesem Minimalpunkte zu redu-
zieren, ist — — —- (kein Mensch hat es bisher erfahren, aber Sie, der Sie
die Tragweite dieses Lasters zu beurteilen verstehen, sollen es wissen) die
niedrige Leidenschaft unreiner Phantasie, die Onanie! — Sie hat mir zu-
erst die Achtung vor mir selbst benommen, den Ehrgeiz, das Vorwärts-
streben in mir erstickt und mich schließlich des teuersten Gutes, das der
Mensch besitzt, der Gesundheit, bereits teilweise beraubt!
Das Übrige kann man sich leicht denken: Willen- und haltlos, wie
ich war, vermochte ich es nicht, mir durch Ausdauer und Beharrlichkeit
eine geordnete geachtete Existenz zu erringen, die Lust und Liebe zum
Heimstudium, das mir vordem solche Befriedigung gab, schwand; anstatt
vorwärts zu kommen, sank ich statt dessen tiefer und tiefer. — —
Wenn es nun ein Mensch vermag, mir aus diesem Elend zu helfen,
sind es sicher nur Sie, Herr K.! Dadurch, daß Sie während der Zeit, die
ich in Bautzen verweilen mußte, solch warmes Interesse an den Tag legten
und nicht zugeben wollten, daß die Verderbtheit bei mir bereits alle guten
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 31
474 B. Mitteilungen.
Keime erstickt habe, machten Sie mich zu Ihrem ergebenen Sklaven! Ihr
Wort soll mir jetzt Befehl sein! Darum, wenn Ihr Mitgefühl für meine
Lage stärker ist als die Verachtung, die Sie gerechterweise angesichts der
hier angeführten Tatsachen für mich empfinden müßten, raten Sie mir,
helfen Sie mir! Zeigen Sie mir den Weg, der mich langsam aber sicher
diesem moralischen und sittlichen Schlamme enthebt und mir meine Selbst-
achtung wiedergibt! Dadurch würden Sie mich zu Ihrem ewigen Schuldner
machen, mir aber auch gleichzeitig die Möglichkeit geben, die Hoffnungen,
die einst von verschiedenen Seiten auf mich gesetzt wurden, wenigstens
noch zum Teil zu verwirklichen!
Fritz B.
Leipzig, .... straße 1277.
Ich muß bekennen, daß mich noch niemals ein Brief eines früheren
Gefangenen so erschüttert hat wie der vorstehende. Darum versuchte
ich auch mit aller mir zu Gebote stehenden Überredungskunst, B. dahin
zn bringen, zuerst wieder einmal an sich selbst glauben zu lernen, und
riet ihm, vor allem den Müßiggang, die Landstreicherei zu lassen und
ernstlich zu arbeiten, ganz gleich, was es für Arbeit sei. Er solle ver-
suchen, wenigstens einmal 1 Woche lang sich zu beherrschen und die
Onanie zu lassen. Ich vermied es ängstlich, etwa die Meinung in ihm
aufkommen zu lassen, daß ich ihn wegen seiner Vergangenheit verachte,
riet ihm kalte Waschungen und fleißiges Turnen, bezw. Freiübungen und
forderte ihn auf, mir nach 1 Woche mitzuteilen, ob es ihm gelungen sei,
sich aufzuraffen; er solle aber auch dann schreiben, wenn dies nicht hätte
gelingen wollen. Ganz besonders ging mein Schreiben darauf aus, den
Willen zu stärken und ihm eine gewisse Beruhigung über seinen Zustand
zu suggerieren; denn daß ich es hier mit einer psychischen Erkrankung
zu tun hatte, war mir sofort klar. (Schluß folgt.)
3. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers
»Grundzüge der erzieherischen Behandlung sittlich
gefährdeter und entgleister Mädchen in Anstalten
und Familien«.!)
Von Fr. Bergold, Hamburg (Waisenhaus).
Einleitung.
In seinem Hefte: »Grundzüge der erzieherischen Behandlung usw.«
versucht Dr. Hammer, bestehende Mängel und Fehler der Fürsorge-
erziehungs- und Anstaltspraxis klarzulegen und Vorschläge zur Abstellung
derselben zu erbringen.
1) Sonderabdruck aus Dr. Ziegelroths »Archiv für physikalisch -diätetische
Therapie«. Nur zu wissenschaftlichen und Berufszwecken zu beziehen ausschließ-
lich durch den Verfasser, Rixdorf-Berlin, Weserstraße 9 pt., Kommissionsverlag
Max Richter, Frankfurt (Oder), Buschmühlenweg 98. IV und 127 Seiten.
3. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammer. 475
Solches Unternehmen wäre anzuerkennen, wenn ihm für seinen
kritischen und wissenschaftlichen Teil Wahrheit und Wirklichkeit zugrunde
lägen, und wenn esin bezug auf die gemachten Vorschläge beachtenswerte
Neuerungsgedanken schaffte. Dieses kann meines Erachtens jedoch von
der Hammerschen Arbeit nicht gesagt werden.
L Hammer ergeht sich für die Kritik an den bestehenden Fürsorge-
erziehungseinrichtungen in schweren und schwersten Anschuldigungen und
Verdächtigungen sowohl gegen die Fürsorgeerziehungs-, als auch gegen
die Anstaltspraxis. Er macht sich ein weit verbreitetes Vorurteil gegen
die Anstalten zunutze und erhebt auf Grund eines unbewiesenen Materials
seine Anklagen, wodurch er das Ansehen und die Interessen einer staat-
lichen Einrichtung und deren Institute schwer schädigt.
I. Hammers Ausführungen über das Sexualleben des Menschen, wie
dasselbe sich in seinen Äußerungen und in seinen Beziehungen zur Außen-
welt zeigt, widersprechen in wesentlichen Punkten sowohl der allgemeinen
Erfahrung als auch den Darbietungen anerkannter Fachleute. Sie können
insoweit auf keinen Fall für die praktische Erziehung Geltung haben.
“ IN. Hammers Vorschläge zur Vervollständigung der Fürsorgeerziehungs-
und Anstaltspraxis stehen in keinem solchen Verhältnis zur Größe des
Fürsorgeerziehungswerkes, daß sie auf besondere Beachtung, geschweige
denn auf den Titel »Grundzüge«, Anspruch erheben könnten.
Hammers erzieherischen Hinweise sind zum größten Teil allbekannt
und in der Praxis längst verwirklicht, während andererseits die Zweck-
mäßigkeit und die Möglichkeit der Durchführung einiger anderer Vor-
schläge bezweifelt werden muß. Seine Prügelmethode spricht dem Stande
der heutigen Erziehungspraxis einfach Hohn. Sie ist auf das entschiedenste
zu verurteilen.
Es lohnte sich nicht, auf die Details der Hammerschen Ausführungen
einzugehen, wenn nicht ein eminenter Schade von den Anstalten abzu-
wehren und nachzuweisen wäre, daß die Hammersche Arbeit die an-
gegebenen Mängel wirklich hat.
I. Fürsorge- und Anstaltserziehung.
Wie bereits erwähnt, ergeht Hammer sich in schweren und schwersten
Anschuldigungen sowohl gegen die Fürsorgeerziehungs- als auch gegen
die Anstaltspraxis. Unter der Überschrift: »Bedenken gegen die Aus-
dehnung der staatlich überwachten Erziehung über das 14. Lebensjahr
hinaus« zählt Hammer verschiedene Punkte auf, mit welchen er die Frage
beantworten will, ob »überhaupt die Fürsorgeerziehung an sich in der zurzeit
beliebten Ausdehnung überwiegend nützlich oder überwiegend schädlich ist«.
Punkt 1.
»Daß für Eltern, denen das Erziehungsrecht aberkannt wurde, ein
Vormund einzutreten hat bis zum Alter der Mündigkeit, dürfte un-
bestritten sein.
Neu an den Fürsorgeerziehungseinrichtungen ist hingegen das Ein-
setzen der staatlich überwachten Erziehung selbst dort, wo den Eltern
31*
476 B. Mitteilungen.
nicht nachgewiesen wird, daß sie ihren Pflichten in geringerem Grade
nachkommen als Durchschnittseltern. Die Erziehungshaft wird selbst gegen
den Willen pflichttreuer Eltern z. B. über Mädchen verhängt, die als ge-
fährdet gelten, wenn die Behörde die Überzeugung gewann, daß die völlige
sittliche Verwahrlosung droht.«
Hierzu ist zu bemerken, daß das Recht und die Pflicht der Ent-
scheidung über Unterbringung eines Minderjährigen in Fürsorgeerziehungs-
»haft« (!) den Behörden von Gesetzes wegen zusteht. Wenn auch niemand
die Behörden in ihren Entscheidungen für unfehlbar halten wird (die erste
Ursache zu einem eventuellen Fehlurteil dürfte jedoch fast immer anderswo
liegen), so kann man doch überzeugt sein, daß dieselben ihr Urteil nach
bestem Wissen fällen, eventuell steht den Angehörigen der Zöglinge das
Beschwerderecht zu. Welches Interesse sollte auch eine Behörde daran
haben, genügend versorgte Kinder in staatliche Erziehung zu nehmen?
So dürfte das Recht sowohl der Eltern, als auch der Kinder gegen das
Fürsorgeerziehungsgesetz in jeder Weise ausreichend gesichert sein, auch
der Eltern, denen »nicht nachgewiesen wird, daß sie ihren Pflichten in
geringerem Grade nachkommen als Durchschnittseltern«. Im übrigen
jedoch hat die Behörde unbekümmert um den Wert oder Unwert der
Eltern über deren Kind die Fürsorgeerziehung auszusprechen, wenn der
Tatbestand der drohenden oder vollendeten Verwahrlosung des Kindes vor-
liegt und die Eltern nicht imstande sind, die Voraussetzungen für die
Fürsorgeerziehung zu verhindern. Ich erinnere nur an die sogenannten
»aus der Art geschlagenen« Kinder. Und ferner, wer sollte bestimmen,
welche Eltern für rechtschaffen anzusehen sind und welche nicht? Die
Eltern selbst und vorzüglich die verkommensten dürften sich meistens für
»rechtschaffen« ausgeben und gegen die Fürsorgeerziehung ihres »guten
Kindes« protestieren.
Noch eine andere Erwägung spricht gegen die Ansicht Hammers den
Zeitpunkt der Verhängung der Fürsorgeerziehung betreffend. Letztere soll
in Fällen drohender Verwahrlosung vorbeugend wirken, d. h. die völlige
Verwahrlosung des Jugendlichen verhüten. . Sie hat also einzutreten, ehe
der Jugendliche z. B. sich schwererer Vergehen schuldig machte. Dieses
Moment ist jedoch für Hammer anscheinend bedeutungslos, denn er sieht
in der Aufnahme in Fürsorgeerziehung nur die zwangsweise zum Zwecke
der Bestrafung erfolgte Inhaftierung eines Jugendlichen, die gerechterweise
nur nach vollbrachten Gesetzeswidrigkeiten eintreten könne (daher auch
seine Verteidigung der der Prostitution zuneigenden und in Fürsorge-
erziehung genommenen Minderjährigen, die sich keines Vergehens schuldig
machten (?), sondern nur Handlungen begingen, »die bei älteren Mädchen
nicht nur geduldet, sondern sogar polizeilich als Teil eines anerkannten
Gewerbes beaufsichtigt werden«). Mit solcher Ansicht versetzt Hammer
der praktischen Erfahrung, die den Brunnen zugedeckt wissen will, ehe
das Kind hineinfällt, einen harten Schlag ins Gesicht. Sollte Hammer
wirklich noch nichts von den so häufigen Klagen gehört haben, daß die
Fürsorgeerziehung leider oft zu spät kommt?
Aber die besprochene Maßregel der Behörde ist es eigentlich auch
3. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammer. 477
nicht, gegen welche Hammer sich wendet, sein Pfeil gilt vielmehr den
ausführenden Organen der Fürsorgeerziehung, den Anstalten.
Punkt 2.
»An sich wäre gegen eine solche Maßregel (die eben besprochene)
nichts einzuwenden (nämlich eben erst hat’s Hammer getan!), wenn es
feststünde, daß die Erziehungshaftanstalten und die mit der Nacherziehung
betrauten Familien nicht selbst oft statt eine bessernde, eine ver-
schlechternde Umgebung darstellten.
Das steht meines Erachtens aber nicht fest.«
Trotz der diplomatischen Redewendung: »es steht nicht fest, daß«
geht unverkennbar aus dem Gesagten scharf und spitz hervor, daß Hammer
in den Erziehungs»haft«anstalten eine verschlechternde Umgebung für die
Fürsorgezöglinge erblickt. Er hält offenbar die Gefahr für so groß, daß
er nicht einmal der Möglichkeit gedenkt, daß die Anstalten in einigen
Fällen (eine andere Statistik redet von 50—80°/,) vielleicht doch eine
»bessernde Umgebung« für gefährdete und entgleiste Jugendliche bilden
könnten. Doch dieser Gedanke kann Hammer schon nicht kommen, denn
Punkt 3.
»Wenn eine einzige Berliner Anstalt in einem Jahre 3 (!) von
50 Pflegevätern wegen Unzucht mit der Pflegetochter — dem in
Familienpflege gegebenen Fürsorgemädchen — zur Anzeige bringen mußte,
so könnte man einwenden, es habe vorläufig an guten Herrschaften ge-
fehlt, und 3 Pflegeväter, die sich am eigenen Pflegekinde vergriffen, seien
gegenüber den 47 anderen nicht allzusehr in den Vordergrund zu stellen.«
Bis Hammer das gerichtliche Urteil über die zur Anzeige gebrachten
Familienväter zur Kenntnis bringt, erübrigt sich eine Betrachtung dieser
3 Fälle. Nur sei mir gestattet, ein Gegenstück (von mehreren) dazu
vorzubringen. :
Der Zahnarzt einer großen staatlichen Anstalt wurde zur Anzeige ge-
bracht und in gerichtliche Untersuchungshaft genommen, weil er sich an
einem ihm zur Behandlung übergebenen Fürsorgemädchen (17 Tahre alt)
in sexueller Beziehung schwer vergangen haben sollte. Das Gericht aber
stellte fest, daß, wie das Mädchen später selbst zugab, die ganze An-
schuldigung frei erfunden war. Ist Hammer über die Regungen und
Äußerungen des menschlichen Sexualtriebes so wenig orientiert, daß ihm
die häufig zu beobachtende Sucht heranreifender und besonders krankhaft
gestörter Menschen (hysterischer), andere an ihnen begangener sexueller
Attentate zu beschuldigen, etwas ganz Unbekanntes ist? Besonders wir
Anstaltsmenschen stehen fast beständig in der Gefahr, ein Opfer böser
Verleumdung zu werden.
Doch Hammer erblickt die ganze Schuld an solchen Vorkommnissen
in dem Aufenthalte der Kinder in den Anstalten. Die bezüglichen Er-
fahrungen im alltäglichen Leben nicht beachtend, sagt Hammer:
Punkt 4.
»Weiterhin wird die Frage nicht zu umgehen sein, welche Kräfte
den Entartungen des Liebestriebes entgegengestellt werden sollen, wenn
die Elternliebe nur aus der Ferne einwirken kann, und ob eine durch
478 B. Mitteilungen.
und durch gleichgeschlechtlich entartete Umgebung nicht noch viel
schlimmer wirkt, als selbst der Unzuchtbetrieb gewerbsmäßiger Freuden-
mädchen.«
Die Antwort auf die hier zuerst aufgeworfene Frage nach den
Kräften, die in der Anstaltserziehung wirksam sein sollen, lautet: Andere
und vollkommenere Kräfte, als Hammer sie später in Vorschlag bringt!
Die zweite Frage kommt einer schmählichen Verleumdung gleich. Rechnet
denn Hammer unsere Anstaltserzieher für nichts, daß er von einer »durch
und durch gleichgeschlechtlich entarteten Umgebung« spricht? Die Unter-
ordnung der Erziehungsanstalten unter den »Unzuchtsbestrieb gewerbs-
mäßiger Freudenmädchen« aber ist zu beleidigend und nackt, als daß man
daran noch rühren sollte.
Und doch soll allen und allem Gerechtigkeit widerfahren. Gelingt
es Hammer, den Wahrheitsbeweis für seine Behauptungen zu erbringen,
dann ist es an der Zeit, »die Brutstätten der gleichgeschlechtlichen Ent-
artung«e für immer zu schließen. Im anderen Falle jedoch könnte es
nicht scharf genug verurteilt werden, daß Hammer die mannigfach treu
und erfolgreich geleistete Anstaltsarbeit in den Schmutz zieht und eine
große Wohlfahrtseinrichtung zum Gespött macht. (Forts. folgt.)
4. Zeitgeschichtliches.
Karl Andreae, Privatdozent für Pädagogik an der Universität München
und Dozent für Theorie und Geschichte der Pädagogik an der Technischen Hoch-
schule, ist im Alter von 72 Jahren gestorben (Mai 1913).
Eine Panama-Pacific International Exposition soll 1915 in San Francisco
stattfinden. Für die Veranstaltung von Kongressen usw. ist ein besonderes Komitee
unter Leitung von James A. Barr, Secretary California Teachers’ Association, ge-
bildet. Geplant ist von diesem auch ein Internationaler Kongreß für Er-
ziehung, zu dem bereits vorbereitende Schritte unternommen wurden.
Die Deutsche Landeskommission für Kinderschutz und Jugend-
fürsorge in Mähren hat ein eigenes Sekretariat unter Leitung von Fräulein
Margarethe Roller in Brünn eingerichtet.
Eine Erste Österreichische Schul- und Reform-Kinogesellschaft
wurde in Wien gegründet. Sie hat bereits ein Kinematographentheater in Wien
eröffnet, um so dem Kinoschund wirksam entgegenzutreten.
An den Ausbildungskursen für Jugendpfleger nahmen im Jahre 1912
22139 Personen teil, darunter 11755 Lehrer und 2804 Lehrerinnen, sowie 227 Schul-
aufsichtsbeamte und 686 Geistliche.
Stiftungen, Schenkungen usw.: Für die Barmer Kinderhorte
7000 Mark; für ein Kinderheim in Jebenhausen (Württemberg) 45000 Mark;
für ein Erholungsheim für unbemittelte Kinder in Crimmitschau
25000 Mark; für Ferienkolonien in Pforzheim 10000 Mark; für ein Jugend-
heim in Zeitz 150000 Mark; für die Kinderheilanstalt Hannover 5000 Mark,
für die Kinderheilanstalt zu Salzdetfurth 5000 Mark, für die Erziehungs-
anstalt zu Godesheim 5000 M, für das Krüppelheim zu Bischofswerder
5000 Mark, alle von demselben Stifter; für ein Kinderheim in Düsseldorf
180000 Mark; zur Pflege hilfsbedürftiger Kinder und Augenkranker in
München 100000 Mark. Die Stadtverordneten von Gelsenkirchen beschlossen
zum Regierungsjubiläum des Kaisers zum Bau von drei Turnhallen an Volks-
schulen und zum Ausbau bestehender und zu errichtender Spielplätze 230000 M.
zu stiften. Der Provinzialausschuß der Provinz Schleswig-Holstein stiftete
4. Zeitgeschichtliches. 479
aus gleichem Anlaß 100000 Mark zur Errichtung einer Heilanstalt für tuber-
kulös erkrankte Kinder auf der Insel Föhr.
Eine landwirtschaftliche Ausbildungsanstalt für Fürsorgezöglinge
(etwa 200) soll auf dem städtischen Gute Struveshof bei Großbeeren bei Berlin
errichtet werden.
In Gembloux (Belgien) wurde eine landwirtschaftliche Schule für
mißhandelte Kinder (Ferme école Jules le Leune) eingerichtet, die neben
körperlicher Ertüchtigung auch die Festigung ans Land (Vorbeugung der Landflucht)
im Auge hat.
Schulärztliche Beaufsichtigung für alle höheren Schulen ist in
Sachsen-Weimar-Eisenach eingeführt.
Ausdehnung der schulärztlichen Untersuchungen auf die Fort-
bildungsschüler ist in Meiningen beschlossen.
Die städtische Schulzahnklinik in Leipzig ist erweitert worden, so daß
nunmehr auch die dem Pfleg- und Jugendfürsorgeamt unterstellten Kinder, ins-
besondere Zieh- und Waisenkinder, die noch nicht schulpflichtig sind, unent-
geltlich behandelt werden können (Bekanntmachung des Pfleg- und Jugendfürsorge-
amts vom 28. März 1913).
Dem schulärztlichen Bericht der Stadt Berlin für das Schuljahr 1911/12
ist zu entnehmen, daß von den Schulanfängern 9,720/ wegen einstweiliger Schul-
untauglichkeit zurückgestellt wurden. 21,220), der Gemeindeschulkinder standen
unter schulärztlicher Überwachung, darunter der größte Teil wegen ungenügenden
Körperzustandes.
Wir entnehmen dem Jahresbericht des Reform-Realgymnasiums zu
Kiel über das Schuljahr 1912, erstattet vom Direktor Dr. Harnisch, folgende An-
gaben: »Nach den Grundsätzen, die für die häusliche Erziehung maßgebend sind,
genossen:
Alkohol Koffein
(Bier, Wein u. dergl.) | (Bohnenkaffee, Tee)
gewohn-| ge-
heits- |legent- gar
lich | ®®
Altersstufe
Vorklassen 0
Unterklassen 0
Mittelklassen 0 69
Oberklassen 0
Die alkoholfrei erzogenen Schüler erhielten zu Ostern 1911 um 5 Prozent günstigere -
Versetzungsergebnisse.«
Über die Durchführung der Fürsorgeerziehung in der Stadt Leipzig
im Jahre 1912 liegt uns ein sechs Seiten umfassender auszugsweiser Bericht des
Pfleg- und Jugendfürsorgeamtes vor. Danach ist der Bestand an Fürsorgezöglingen
von 723 zu Ende 1911 auf 900 zu Ende 1912 gestiegen oder von 12,05 auf 14,73
berechnet auf je 10000 Einwohner.
Im Verlag von Gustav Fischer-Jena wird zu Anfang 1914 ein von dem
Hamburger Schularzt Dr. Moritz Fürst herausgegebenes »Jahrbuch der Schul-
gesundheitspflege« erscheinen.
Wir entnehmen dem »Jahresbericht der Deutschen Dichter-Gedächt-
nis-Stiftung für das Jahr 1912« (Hamburg-Großborstel, 1913. 28 Seiten)
folgende Angaben: Die Gesamtzahl der Mitglieder hat sich auf 9259 vermehrt. In
den Jahren 1903 bis 1912 wurden 374 verschiedene Bücher in 534020 Exemplaren
und im Gesamtladenpreis von 608 837,83 Mark an Volksbibliotheken verteilt. Heraus-
480 C. Zeitschriftenschau.
gegeben wurden von der Stiftung bis Ende 1912 insgesamt 1725000 Bände. Die
Ausstellung gegen die Schundliteratur wurde bisher in 61 Städten gezeigt.
Wörtlich heißt es: »Leider deuten viele Anzeichen darauf hin, daß die Schund-
literatur allen Gegenmaßregeln zum Trotz noch keineswegs weit genug zurückgedrängt
worden ist. Ihr Gewand ist häufig ein anderes, gewissermaßen verschämteres ge-
worden, ihr Leserkreis hat sich aber nicht genügend verringert. Die Stiftung hat
die Absicht, dieser neuen Entwickelung der Schundliteratur wahrscheinlich schon
im nächsten Jahre ihr Augenmerk zuzuwenden« (S. 16). Schon um dieser Be-
strebungen willen sei die Mitgliedschaft allen Lesern empfohlen (Jahresbeitrag 2 Mark).
C. Zeitschriftenschau.
Anormalenpädagogik.
Tatsachen.
Kluge, Schwachsinn (Idiotie, Imbezillität). Zeitschrift für Krüppelfürsorge. 6, 1
(Februar 1913), S. 35—49.
Referat über den gegenwärtigen Stand an der Hand von 52 Publikationen nach
übersichtlicher Anordnung.
Kellner, Die mongoloide Idiotie. Münch. Med. Wochenschrift. 60, 14 (8. April
1913), S. 746—748.
In den Alsterdorfer Anstalten finden sich zurzeit 10 Mongoloiden, von denen
einige Fälle beschrieben werden. Sämtliche 10 Fälle sind Mikro-Brachycephalen
sie sind in der Körpergröße zurückgeblieben (Mindermaß im Mittel 10,8°/,). Die
Behandlung ist aussichtslos. An dem Mangel, die Aufmerksamkeit zu konzentrieren,
scheitern auch die Bemühungen, die an sich schon geringen Geisteskräfte weiter
auszubilden. Eigen ist dem Mongoloiden ein großes Nachahmungsvermögen auf-
fallender und komischer Gebärden. Nach Ansicht des Verfassers ist der Mongolis-
mus in der städtischen wie in der ländlichen Bevölkerung im Zunehmen begriffen.
Bartsch, Karl, Woran erkennt man den Schwachsinn im Kindesalter? Päda-
gogisch-psychologische Studien. 14, 3/4, 1913, 8. 12—13.
Der Verfasser zählt alle möglichen Erkennungszeichen auf, die zum Teil kaum
oder doch sehr wenig zuverlässig sind. Derartig kurze Arbeiten über so wichtige
Fragen haben notgedrungen immer viel Mangelhaftes an sich.
Peters, Amos W., Feeble mindedness as a constitutional anomaly. The Training
School. X, 1 (March 1913), S. 1—5.
Die Arbeit soll darlegen, daß es notwendig ist, dem Begriff konstitutionelle
Anomalie einen konkreten Inhalt zu geben und die Tatsachen, welche die Anormalität
bedingen, genau zu umgrenzen. Peters schließt sich in seinen Überlegungen wesent-
lich an deutsche Autoren (Krehl, Mathes, Reichardt) an. Die konstitutionelle
Anomalie ist erworben oder in den meisten Fällen ererbt, Die Untersuchungen
darüber sind noch im Gange.
Wilker, Karl, Über Alkoholismus, Schwachsinn, Vererbung. Eos. 9, 1 (Januar
1913), S. 1—9.
Das Interesse des Pädagogen an den Problemen der Vererbung ist ein sehr
großes. — Für die Schädigung der Nachkommenschaft durch elterlichen Alkoholismus
ergeben sich nach Schweighofer drei ganz bestimmte Grundtypen, die an der Hand
von Diagrammen erläutert werden (zunehmende Verschlechterung, Erholung, Misch-
C. Zeitschriftenschau. 481
form). Um der drohenden Degenerätion entgegenzuwirken, ist vor allem Erziehung
der heranwachsenden Generation zu völlig enthaltsamer Lebensweise notwendig.
Flaig, Alkohol und Epilepsie. Die Alkoholfrage. IX, 1, 1913, S. 58—59.
Referat über eine Arbeit E. Hermann Müllers (1910), der ein Epileptiker-
material von 847 Fällen zugrunde lag. Die Resultate werden in der von Müller ge-
gebenen Zusammenfassung mitgeteilt. Bemerkt sei, daß die Zeugungskurve der
Epileptiker einen ähnlichen Verlauf aufweist wie die Schwachsinnigenzeugungskurve
Bezzolas. Alkoholische Heredität wurde viermal häufiger angegeben als die durch
Epilepsie.
Kutschera, Adolf, Gegen die Wasserätiologie des Kropfes und des Kretinismus.
Münch. Med. Wochenschrift. 60, 8 (25. Februar 1913), S. 393—398.
Als kretinische Degeneration faßt der Autor alles, »was im Endemiegebiete an
körperlicher und geistiger Entwicklungshemmung durch die kretinogene Schädlichkeit
verursacht wird«. Bei den Müttern kretinischer Kinder findet man fast immer den
Kropf (fehlt er bei der Mutter, so findet er sich sicher beim Vater oder andern
Hausgenossen). Der Kretinismus stellt sich als eine ausgesprochene Familienkrank-
heit dar. Unter 1466 kretinischen Kindern Steiermarks fand K. 611 = 41,7°/, Ge-
schwister, die auf 232 Familien verteilt waren; in Tirol und Vorarlberg fanden sich
unter 426 Kretinen 232 — über 50°/, Geschwister. Um die Kinder vor dem
Kretinismus zu bewahren, genügt eine Versetzung in ein kropf- und kretinenfreies
Nachbarhaus. Durch einzelne Fälle wird das Vorkommen von Kropf und Kretinismus
in bestimmten Wohnungsgemeinschaften deutlich beleuchtet. Auch Kropfepidemien
beruhen nie auf Wassergemeinschaft, sondern auf Wohnungsgemeinschaft (sie treten
z. B. in den höheren Schulklassen verbreiteter auf als in den unteren, bei Mädchen
stärker als bei Knaben, was die Lehrer durch den innigeren Zusammenhang,
häufiges Küssen usw. erklärten). Möglich ist auch Übertragung durch einen
Zwischenwirt.
Biesalski, K., Die spastische Lähmung im Kindesalter und ihre Behandlung.
Deutsche Med. Wochenschrift. 39, 15 (10. April 1913), S. 699—702.
Besprechung der Hemiplegien und Diplegien und ihrer Behandlung.
Schoug, Carl, Die Länge der Inkubationszeit bei der akuten Kinderlähmung (Heine-
Medinschen Krankheit). Deutsche Med. Wochenschrift. 39%, 11 (13. März
1913), S. 493—494.
Für einige beobachtete Fälle kann die Inkubationszeit zu etwa 4 Tagen an-
gesetzt werden. Der Ansteckungsstoff dürfte wahrscheinlich direkt (z. B. durch
Mund- oder Nasensekret) übertragen worden sein. (Es käme sonst noch Übertragung
durch blutsaugende Tiere in Betracht.)
Lewy, J., Angeborene Skoliosen. Deutsche Med. Wochenschrift. 39. 12 (20. März
1913), S. 558—559.
Angeborene Skoliosen sind durchaus nicht so selten, wie noch bis vor kurzem
angenommen wurde. L. erörtert die ätiologischen Momente und bespricht an der
Hand von Abbildungen 2 Fälle näher, in denen durch Röntgenaufnahme ein Keil-
wirbel festgestellt wurde. Anzuwenden sind die bei Skoliosen üblichen therapeuti-
schen Maßnahmen. Die Aussicht auf Erfolg ist gering. Operative Eingriffe sind
nicht angebracht.
Kanngießer, Friedrich, Hat die Blutsverwandtschaft der Eheleute einen schäd-
lichen Einfluß auf die Gesundheit der Nachkommen? Münch. Med. Wochenschrift.
60, 14 (8. April 1913), S. 762—763.
482 C. Zeitechriftenschau.
Es fanden sich unter den Nachkommen
sehr schlecht Sehende Taubstumnmó
Geistesschwache oder Blinde
nicht blutsverwandter Ehen . 4°, 05% 19/0
blutsverwandter Ehen . . . 94% 3,19%, 1,9%,
Die Aussichten, geistesschwache, blinde und taubstumme Kinder zu bekommen,
sind in blutsverwandten Ehen entschieden größer als in nicht blutsverwandten. Das
Eingehen blutsverwandter Ehen hält der Verfasser für ein gefährliches Beginnen,
nicht für rasseveredelnd, wie das andere Autoren getan haben.
Strohmayer, Wilhelm, Zur Inzuchtfrage. Deutsche Med. Wochenschrift. 39, 19
(8. Mai 1913), S. 900—902.
Als praktische Konsequenz ergibt sich aus den kritischen Erörterungen Stroh-
mayers: »Will man also sichergehen, so heiratet man, wenn man ein geisteskrankes
Elter oder Geschwister hat, nicht einen Partner, der in denselben Schuhen steckt.
Daß Paarungen innerhalb der Blutsverwandtschaft, wo diese Klippen alle viel ge-
fährlicher sind, besser zu meiden sind, versteht sich von selbst.«
Hegar, August, Beitrag zur Frage der Sterilisierung aus rassehygienischen Gründen.
Münch. Med. Wochenschrift. 60, 5 (4. Februar 1913), S. 243—247.
Auf Grund des von ihm untersuchten und durchgesehenen Materials kommt
Hegar zu der Ansicht, daß eine wesentliche Reinigung des Volkes und Verringerung
der Zahl der Gefängnis- und Irrenanstaltsinsassen durch Sterilisation geisteskranker
Rechtsbrecher nicht zu erwarten ist. Die beste Gelegenheit zu wirklich wirksamer
Sterilisation böte sich bei den Zwangszöglingen. Die Arbeit enthält verschiedene
Krankengeschichten zu dem Vorgebrachten.
Geelhaar, A., Fürsorge für Taubstummblinde Die Hilfsschule. 6, 1 (Januar
1913), S. 23—24.
Es gibt in Preußen etwa 223, in Deutschland etwa 500 Taubstummblinde. Die
erste Anstalt für sie wurde vor 20 Jahren begründet (Oberlinhaus in Nowawes bei
Potsdam; zurzeit 30 Zöglinge beiderlei Geschlechts). Die Taubstummblinden ver-
tragen keine großen Anstrengungen. Der Unterricht in einem Fach währt daheı
jeweils höchstens 25 Minuten.
Steiner, M., Bildungsgang eines taubblinden Mädchens. Blätter für Taubstummen-
bildung. 26, 6 (15. März 1913), S. 88—91.
Abdruck des Aufsatzes aus der »Zeitschrift für Kinderforschung«, Jg. 18, 5,
S. 217—221. Ohne Quellenangabe.
Radomski, Statistik von 1910. Blätter für Taubstummenbildung. 26, 5 (1. März
1913), S. 75—77.
Am 1. Dezember 1910 wurden in Preußen 34804 Taubstumme gezählt. Die
relativen Zahlen der Taubstummen aus verschiedenen Ländern werden verglichen,
Die meisten Taubstummen finden sich in Gegenden, wo angeborener Blödsinn und
Kretinismus heimisch sind und wo epidemische Gehirn- und Kinderkrankheiten zu
herrschen pflegen.
Effelberger, J., Zahl der Klassen und Schülerzahl der einzelnen Klassen. Blätter
für Taubstummenbildung. 26, 6 (15. März 1913), S. 82—88.
Umfangreiche Statistik. Die Durchschnittsschülerzahl der Taubstummenklassen
beträgt in Deutschland (1912) 10. Dazu eine Berichtigung in Nr. 8 vom 15. April 1913.
Clerckx, Enquöte sur l’ötat d’arriöration des élèves dans les écoles primaires du
canton de Molenbeek-Saint-Jean. Les Annales Pödologiques. IV, 2 (Janvier 1913),
S. 34—47.
D. Literatur. 483
Man hat die Zahl der zurückgebliebenen Kinder für Belgien auf 10—15/, be-
ziffert. Diese Untersuchung, die 13212 Stadtschüler und 6575 Landschüler in Be-
tracht zieht, reduziert diese Angabe auf etwa 3°/,. Als Gründe für das Zurück-
bleiben werden aufgeführt: unregelmäßiger Schulbesuch, geistige Schwäche, körper-
liche Schwäche, sensorischer Defekt.
Thomson, Emil, Aufmerksamkeit. Pädagogischer Anzeiger für Rußland. 5, 1
(20. Januar 1913), S. 1—6.
Der Verfasser wendet sich an Hand bekannter Veröffentlichungen gegen die
Anmaßung, ein Urteil über die Aufmerksamkeit zu fällen, wo Hilfe nötig ist. Er
bedauert lebhaft, daß der Schularzt nicht schon längst Glied der Lehrerkonferenz
ist und fast noch nirgends sein Amt als Hauptamt verwaltet.
Büttner, Georg, Fingerzeige für so manches eigenartige Verhalten, für so
manches plötzliche Verändertsein von Kindern. Evangelisches Schulblatt. 57, 2
(Februar 1913), S. 73—77.
Der Verfasser will durch kurze allgemein - verständlich gehaltene Hinweise
zeigen, wie wichtig es ist, bei plötzlich einsetzender Wesensveränderung von Kindern
das Augenmerk auf die Kinder selbst, auf ihre körperliche Disposition und Ver-
fassung zu richten. Besonders betont wird der Einfluß krankhafter Erscheinungen
auf die Psyche.
Kirmsse, M., Talentierte Schwachsinnige mit besonderer Berücksichtigung des
Berners Gottfried Mind (Katzenraffael. Heilpädagogische Schul- und Eltern-
zeitung. 4, 1 (Januar 1913), S. 9—17.
Aus dem Bericht über die VIII. schweizerische Konferenz für Erziehung und
Pflege Geistesschwacher in Bern. — Neben den Aufzeichnungen über Mind (mit
2 Bildern) finden sich Notizen über die schwachsinnigen Talente im allgemeinen.
The story of Elise. The Training School. X, 1 (March 1913), S. 5—9.
Kirk, Eva L., The story of Duncan. The Training School. X, 1 (March 1913),
Ss. 12—13.
Beides Krankheitsgeschichten von in Vineland eingelieferten Kindern.
D. Literatur.
Lay, W. A. Psychologie nebst Logik und Erkenntnistheorie. Gotha,
E. F. Thienemann, 1912. VIII und 219 Seiten. Preis geh. 3,50 M., geb. 4M.
Das vorliegende Buch ist bestimmt, als Leitfaden für den Unterricht an Lehrer-
seminarien zu dienen. Es hat dem Verfasser Gelegenheit gegeben, eine Reihe von
Mängeln zu beseitigen, die diesem Unterricht bisher anhafteten, und seine eigenen
psychologischen und pädagogischen Grundsätze zur Anwendung zu bringen.
Der Hauptteil des Buches ist mit Recht der Psychologie gewidmet. Lay
geht von der Grundvoraussetzung aus, die er auch schon in seinen früheren Werken
vertreten hat, daß der psychische Grundprozeß die bewußte Reaktion ist, d. h. die
Trieb- und Willenshandlung, so wie der fundamentalste biologische Vorgang die
Reaktion in der Form des Reflexes ist. Alle sogenannten psychischen Elemente
sind nur Teilvorgänge der bewußten Reaktion. Diese »biologische« Auffassung der
Seelenvorgäuge ist charakteristisch für alle folgenden Einzelbetrachtungen.
484 D. Literatur.
Als Glieder des psychischen Grundprozesses werden angeführt: Die Wahr-
nehmung, die geistige Verarbeitung, die Darstellung.
Unter dem ersten dieser Begriffe werden die Daten der Sinnesphysiologie und
-psychologie behandelt. Die geistige Verarbeitung umfaßt die Phänomene der Vor-
stellung, der Apperzeption, der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses, der Phantasie
und des Verstandes. Der etwas ungewöhnliche Ausdruck der Darstellung bezeichnet
das dritte Glied des psychischen Grundprozesses insofern es der Ausdruck, die Dar-
stellung der vorausgehenden geistigen Verarbeitung ist. Da dieser Ausdruck be-
sonders leicht und stark durch Gefühlselemente hervorgerufen wird, werden die Ge-
fühls- und die verwandten Willensphänomene unter dem genannten Begriff zu-
sammengefaßt.
In der Behandlung der einzelnen Fragen zeigt sich die spezielle pädagogische
Methode, welche Lay im Unterricht zur Anwendung gebracht wissen will. Er geht
immer von der direkten Beobachtung eines seelischen Vorganges aus, nicht mehr
von Beispielen, die der Literatur entlehnt sind, wie eine große Anzahl von Lehr-
büchern der Psychologie es zur Veranschaulichung der Begriffe zu tun pflegte,
sondern, nach der Art Meßmers in seinem bekannten Lehrbuch, ruft auch Lay bei
seinen Schülern den psychischen Vorgang hervor, den er behandeln will, und läßt
dann durch selbsttätige Beobachtung die Beschreibung desselben machen. Daneben
zieht er die Resultate der experimentellen Forschung zur Erweiterung der Auffassung
herbei und stellt in eignen Kapiteln die Forschungen der Kinderpsychologie und Psycho-
pathologie sowie die Nutzanwendungen für die pädagogische Psychologie zusammen.
Wenn auch nicht jeder einzelne Punkt in diesen für den Lernbedarf zu-
geschnittenen Zusammenstellungen einwandfrei ist, und wenn dabei die Gefahr nicht
ganz vermieden ist, den Lernenden eine Art kompendienartiges Wissen zu über-
mitteln, so ist doch die Methode in ihren wesentlichen Zügen sehr empfehlenswert
und zeugt von großem pädagogischen Geschick, so daß bei Richtigstellung gewisser
Ungenauigkeiten das Buch dem Ziele wohl entsprechen wird, das es sich gestellt hat.
Weniger befriedigen die umrißartigen Bemerkungen, die unter der Rubrik:
Logik und Erkenntnislehre geboten werden. Bei der Behandlung des Urteils, des
Begriffes und des Schlusses zeigt der Verfasser allerdings eine gut durchdachte und
geschlossene Auffassung. Aber einzelne Kapitel, wie z. B. dasjenige von den Trug-
schlüssen, wünschte man doch weiter ausgedehnt zu sehen. Die historischen Be-
merkungen über das Grundproblem der Erkenntnistheorie sind sodann kaum geeignet,
dem Schüler ein Bild von der Bedeutung und der Entwicklung des Problems zu
geben. Auch hier ;wäre eine Erweiterung der Darstellung am Platze, die zudem
gewisse, durch die allzuknappe Fassung hervorgerufene Ungenauigkeiten heben würde.
Aber das sind Einzelheiten, die bei einer Neuauflage Berücksichtigung finden
können; die Anlage des ganzen Buches und die angewandte Methode scheinen uns
eine brauchbare Grundlage für den philosophischen Unterricht an Lehrerseminarien
zu bilden.
Luxemburg. N. Braunshausen.
Abb, Edmund, Pädagogische Psychologie. München, Heinrich Hugendubel,
1913. 215 Seiten. Preis ? M.
Ein neues Lehrbuch für den Unterricht in der Psychologie, insofern diese als
Grundlage der Pädagogik dient. Der Verfasser will, auf den Resultaten der modernen
Forschung aufbauend, »ein festgefügtes psychologisches und pädagogisches Wissen
geben«. Er behandelt die psychischen Elemente, die zusammengesetzten psychischen
Gebilde, das sekundäre Bewußtseinsleben, das Willensleben, das Gefühlsleben, das
D. Literatur. 485
psychische Erleben als solches, das Denken, und bespricht dann etwas eingehender
die pädagogischen Begriffe des Interesses, der Übung und der individualen Typen.
Die Erkenntnisphänomene überhaupt werden dabei etwas schematisch abge-
fertigt. Der Leser erhält kaum eine Ahnung von dem reichen Material, das die
psychologische Forschung auf diesem Gebiet angehäuft hat.
Aber die Gefühls- und Willenselemente, die einen relativ größeren Raum ein-
nehmen, als bei dem Gesamtumfang zu erwarten gewesen wäre, haben eine ein-
dringliche und sehr anerkennenswerte Darstellung gefunden. Hier begnügt sich der
Verfasser nicht mit kurzen, zusammenfassenden Sätzen, sondern er trägt liebevoll
viele interessante Beobachtungen herbei, die er anschaulich vorführt und als Grund-
lage für sehr vernünftige pädagogische Schlußfolgerungen verwertet. Die Arbeiten
von Meumann sind hier vielfach auf sehr geschickte Weise herangezogen.
Mit Recht wendet sich unseres Erachtens der Verfasser gegen die Annahme
sogenannter psychischer Spuren zur Erklärung der Reproduktion. Von einer psychi-
schen Spur kann nur in bildlichem Sinne gesprochen werden. Allerdings nennt
man diese Spur gewöhnlich Disposition, aber der Begriff ist doch nach Analogie mit
der physiologischen Spur gebildet, und darum trifft auch hier die Kritik teilweise zu.
Weniger können wir es billigen, wenn sich Abb für die Ablehnung der Theorie
des Unbewußten entscheidet. Seine Kritik ist eine rein terminolugische und es ge-
nügt, den gebräuchlicheren Namen »Unterbewußtsein« anzuwenden, um die schein-
bare Schwierigkeit zu heben. Andererseits liegen so viele klinische und experimen-
telle Beobachtungen für die Tatsächlichkeit des Unterbewußtseins vor, daß es kaum
angeht, dasselbe einfachhin abzulehnen.
In einem zweiten Teil läßt Abb einige Proben aus Werken von hervorragenden
Psychologen der Gegenwart folgen. Von Ebbinghaus-Dürr: Lernen im Ganzen
und Lernen in Teilen; von Lange: Über Apperzeption; von James-Dürr: Ge-
wohnheit; von Jodl: Persongefühle; von Meumann: Die geistige Ermüdung; von
Wundt: Theorie der Hypnose und der Suggestion.
Mit der Einschränkung, daß die Erkenntnisphänomene etwas zu kurz ge-
kommen sind, bietet das Buch von Abb viel des Interessanten und Lehrreichen und
kann als wertvolle Ergänzung neben ähnlichen Handbüchern benutzt werden.
Luxemburg. N. Braunshausen.
König, Karl, Der Alkohol in der Schule. Beiträge zur Persönlichkeitsbildung
für Schule und Haus. Straßburg, Friedrich Bull, 1912. IV und 345 Seiten.
Preis broschiert 6 M.
»Die Kampfesfreudigen zu stärken, die Lauen und die teilnahmlos zur Seite
Stehenden zu erwärmen, allen gangbare Wege zu weisen für die Bekämpfung des
Alkoholismus in der Schule, das ist die Aufgabe dieser Schrift.« So heißt es im
Vorwort. Ob der »Schrifte, die zu einem umfangreichen und reichlich teuren
Buche geworden ist, das gelingen wird, ist eine andere Frage. Leichter wäre es
ihr vielleicht schon gelungen, wenn sie weniger breit angelegt und ausgeführt wäre,
so daß man nicht so oft in Versuchung gerät, Seiten zu überschlagen. Und noch
leichter wäre es ihr wohl gelungen, wenn sie mehr Tatsachenmaterial gebracht
hätte, das dem Verfasser als Kreisschulinspektor doch aus seinen eigenen Erfahrungen
auch reichlich zur Verfügung steht. Das bedeutet aber keineswegs, daß ich meine:
Das Buch hätte noch mehr Zahlenmaterial beibringen müssen. Zahlen bringt es
mancherlei. Manchmal sind allerdings schon veraltete Statistiken mit herangezogen.
An anderen Stellen fehlen unerklärlicherweise die Prozentberechnungen (absolute
Zahlen sind oft wertlos und die Berechnung der relativen Zahlen konnte der Ver-
fasser seinen Lesern wohl abnehmen).
486 D. Literatur.
Auch sonst. läßt das Buch nicht zu rechter Freude kommen, wenigstens den
nicht, der schon etwas zu Hause ist im Gebiete der Alkoholfrage: die Quellen sind
bisweilen ungenau angegeben, bisweilen sind sie überhaupt nicht angegeben, bis-
weilen ist nicht auf sie zurückgegangen und dadurch Falsches untergelaufen (S. 39,
40, 56, 62, 63, 67, 68, 73, 75, 115, 253, 259, 284). Über das Liebigzitat auf S. 205 ist
bereits so viel geschrieben, daß es auch König nicht hätte verborgen bleiben dürfen,
daß sich dieses Zitat nicht benutzen, vielleicht überhaupt nicht halten läßt. U.a. m.
Eins ist dem Buche nachzurühmen: Der dritte Teil (»Zur Methodik des Alkohol-
unterrichts«) wird manchem Lehrer gute Dienste leisten.
Jena. Karl Wilker.
Jugendpflege im Guttemplerorden 1913. Hamburg, Deutschlands Großloge II
des I. O. G. T., 1913. 64 Seiten. Preis 50 Pf.
Heute ist Jugendpflege modern geworden, und Organisationen über Organi-
sationen werden geschaffen, sie zu betreiben. Der Guttemplerorden bat sich wenig
um Modernität gekümmert. Er hat seit Jahren treue, stille Jugendarbeit geleistet,
in die dieses Büchlein dem Außenstehenden einen Einblick gewähren soll. Von
4 Kinderlogen mit 163 Mitgliedern im Jahre 1899 ist das Jugendwerk auf 550 Jugend-
verbände mit über 22000 jugendlichen Angehörigen gewachsen. Sicher eine er-
freuliche Tatsache. Wie die Guttempler sich selbst Arbeitskräfte für ihre Jugend-
arbeit heranbilden; wie die Wehrlogen, die für die 14- bis 21 jährigen seit 1908 ge-
schaffen wurden, arbeiten; wie es in einer Jugendloge (für schulpflichtige Kinder
vom 10. Jahre an) zugeht; was das Jugendwerk für eine einzige Stadt leisten kann
(Reutlingen); was eine einzelne Persönlichkeit für Erfolge erzielen kann bei be-
sonders ungünstigen Bedingungen (die abstinente Schule >Jugend« des Lehrers
A. Hunold in Berge-Borbeck); wie sich die Ferienfürsorge für die Großstadtkinder
entwickelte; wie die Leibesübungen in den Dienst der alkoholfreien Jugenderziehung
gestellt wurden — das alles zeigen kurze Schilderungen mitten aus lebensfrischer
Tätigkeit heraus. Daß verschiedene davon von Lehrern und Lehrerinnen stammen,
berechtigt zu frohen Hoffnungen auf deren Mitarbeit an einer planmäßigen alkohol-
freien Jugenderziehung.
Dem kleinen Hefte wünsche ich einen recht großen Leserkreis, dem es
Achtung abzwingen möge für eine Arbeit, die heute noch immer von vielen als
Sonderlingstätigkeit gewürdigt und dementsprechend gering geschätzt wird.
Jena. Karl Wilker.
Hastreiter, J, Was jeder junge Mann zur rechten Zeit erfahren sollte,
München, Ernst Reinhardt, 1912. Vierte Auflage. XIII und 150 Seiten. Preis
1,80 Mark.
Es gibt zwei Möglichkeiten für die Beurteilung dieses Buches: entweder lehnt
man jede Belehrung junger Leute über Geschlechtskrankheiten, deren Prophylaxe
und Behandlung ab, oder man erkennt eine solche Belehrung als notwendig an. Für
diesen zweiten Fall ist das vorliegende Buch zu empfehlen, weil es sachlich gehalten
ist, weil es wissenschaftlich ist, weil es gegen alle Kurpfuscherei, die sich vielleicht
nirgend so breit macht wie auf dem Gebiete des Geschlechtslebens und seiner
Krankheiten, scharf Front macht.
Jena. Karl Wilker.
Verantwortliche Schriftleitung für Abhandlungen und Mitteilungen: Dir. J Trüper,
Sophienhöhe b. Jena; für Zeitschriftenschau und Literatur: Dr. Karl Wilker, Jena,
Weißenburgstraße 27.
Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
Verlag von Herrmann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
Das Seelenleben unserer Kinder
im vorschulpflichtigen Alter.
Kinderpsychologische Betrachtungen für Eltern, Lehrer
und Kinderfreunde.
Von
Prof. Dr. Adolf Sellmann.
f Mit 5 Tafeln.
VI und 146 Seiten. Preis 3 M., eleg. geb. 4 M.
Grundlagen für das Verständnis
krankhafter Seelenzustände
(psychopathischer Minderwertigkeiten)
beim Kinde
in 30 Vorlesungen.
Für die Zwecke der Heilpädagogik, Jugendgerichte und Fürsorgeerziehung
von
Dr. med. Hermann,
Anstaltsarzt in Merzig a. d. Saar.
Mit 5 Tafeln.
Zweite Auflage.
XII und 180 Seiten. Preis 3 M., eleg. geb. 4 M.
Alkoholismus, Schwachsinn und Ver-
erbung in ihrer Bedeutung für die Schule.
(Nach dem Manuskript eines am 4. August 1911 in der Internationalen
Hygiene- Ausstellung zu Dresden gehaltenen Lichtbilder- Vortrages.)
Von
Dr. Karl Wilker
in Jena.
Mit 3 Tabellen und 2 Figuren im Text, sowie mit 22 Tafeln.
IV und 33 Seiten. Preis 1 M. 20 Pf.
Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
Verlag von Herwann Beyer & Sönse (Beyer & Mans) in Langensalza.
Encyklopädisches
Handbuch der Pädagogik.
Herausgegeben von
Litt. D. Dr. W. Rein,
ord. Professor der Pädagogik an der Universität Jena.
Zweite, erweiterte und verbesserte Auflage.
Umfaßt 10 Bände à 18 M. 50 Pf.
und ein Generalregister xum Preise von 4 M.
Einzelne Teile des ganzen Werkes können nicht abgegeben werden. Der Kauf
des ersten Bandes oder Halbbandes verpflichtet zur Abnahme der ganzen Encyklopädie.
Münchener Aligemeine Zeitung 1900, Nr. 179: ». . . Das von Prof. Rein geleitete Unter-
nehmen kommt einem wirklichen und weitverbreiteten Bedürfnis entgegen. ... Man findet die reich-
haltigste Belehrung und zuverlässigste Orientiei . 0... Mit großem Geschick sind für die einzelnen
Artikel Persönlichkeiten gewonnen, welche gerade dafür als hervorragende Autoritäten gelten dürfen... .
So liegt in dem Encyklopädischen Handbuch ein Werk vor, worauf die deutsche Wissenschaft stolz sein
darf... .« Geh. Hofrat Prof. Dr. Eucken.
Joh. Friedr. Herbarts
Pädagogische Schriften.
Mit Herbarts Biographie herausgegeben
von
Dr. Fr. Bartholomäi.
Neu bearbeitet und mit erläuternden Anmerkungen versehen
von
Dr. E. von Sallwürk,
Geh. Rat, a. o. Mitglied der Akademie der Wissensch. zu Heidelberg.
1. Band: XII und 456 Seiten. Preis 3 M., eleg. geb. 4 M.
U. Band: VIII und 467 Seiten. Preis 3 M., eleg. geb. 4 M.
Handbuch für Jugendpflege.
Herausgegeben von der
Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge.
Schriftleitung: Dr. jur. Fr. Duensing-Berlin.
Herausgeber und Mitarbeiter des »Handbuchs für Jugendpflege« bieten
die sichere Gewähr, daß wir es hier mit einer Erscheinung zu tun haben, die
einer besonderen Anpreisung nicht bedarf.
Das »Handbuch für Jugendpflege« ist auf 12 bis 15 Lieferungen zu je
4 Bogen, Lexikonformat, berechnet. Der Preis der Lieferung beträgt 80 Pf.
Nach Abschluß des Werkes tritt eine Erhöhung des Preises ein.
Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
Am 1. Oktober 1913 beginnt die
Zeitschrift für Kinderforschung
mit besonderer Berücksichtigung
der pädagogischen Pathologie
Im Verein mit
Dr. G. Anton Dr. E. Martinak Chr. Ufer Karl Wilker
Geh. Med.-Rat u. Prof. o. ö. Prof. d. Philosophie Rektor d. Süd-Mädchen- Dr. phil.
an der Univ. Halle u. Pädag. a. d. Univ. Graz Mittelschulei. Elberfeld in Jena i. Thür.
herausgegeben von
J. Trüper
Direktor des Erziehungsheims und Jugendsanatoriums auf der Sophienhöhe bei Jena
ihren neunzehnten Jahrgang.
Fortan wird monatlich ein Heft im Umfange von 4 Bogen (64 Seiten)
erscheinen. Der Preis des Jahrgangs wird 6 Mark betragen.
Langensalza. Hermann Beyer & Söhne
(Beyer & Mann).
Wenn die Redaktion und der Verlag der Zeitschrift für Kinder-
forschung sich entschlossen haben, den Umfang eines jeden Heftes um
einen vollen Druckbogen zu vermehren, so hat das verschiedene Gründe.
Die jetzige Zeitschrift für Kinderforschung wurde im Jahre 1896
gegründet, also in einer Zeit, in der das Studium der Eigenarten des
Kindes in Deutschland wie in allen anderen Ländern noch etwas neues
war. Diese Eigenarten näher kennen zu lehren und denen, die sich
von Berufswegen mit ihnen zu befassen hatten, Pädagogen, Ärzten,
Juristen, Theologen, einen Meinungsaustausch zu ermöglichen, war ihre
wesentliche Aufgabe. Ihr Titel
Die Kinderfehler
kennzeichnet wohl am besten ihr damaliges Programm.
Bald aber wurde der Wunsch laut, dieses Programm durch Ein-
beziehen des normalen Seelenlebens in das Arbeitsgebiet der Zeitschrift
zu erweitern. Sie wurde also eine
Zeitschrift für Kinderforschung
mit besonderer Berücksichtigung der pädagogischen Pathologie.
Als die erste und einzige Zeitschrift dieser Art hat sie eine weite
Verbreitung gefunden. Mannigfache Zuschriften an die Redaktion wie
an den Verlag beweisen, daß sie bei ihren Lesern in hohem Ansehn steht.
Wenn sie dieses Ansehn wahren will, so liegt darin zugleich die
Verpflichtung für die Redaktion wie für den Verlag, unermüdlich am
weiteren Ausbau der Zeitschrift zu arbeiten.
Zu den Abhandlungen, den Mitteilungen und den Literatur-Be-
sprechungen wurde eine Zeitschriftenschau gefügt, die sich nicht damit
begnügte, die für die Leser wichtigen Aufsätze aus verwandten Zeit-
schriften dem Titel nach anzuführen, sondern die den Lesern mit wenigen
Worten jeweils den Inhalt und die wesentlichsten Ergebnisse dieser
Aufsätze bekannt gab, ihnen also einen Überblick über ihr gesamtes
Arbeitsgebiet bot, wie das in dem Umfange keine andere Zeitschrift bietet.
Um über aktuelle Tagesfragen, über Kongresse, über wichtige lite-
rarische Neuerscheinungen möglichst sofort berichten zu können, wurden
den Mitteilungen zeitgeschichtliche Notizen angefügt, die im neuen
Jahrgang fortgesetzt und noch weiter ausgebaut werden sollen.
Zur Erweiterung des Umfanges der Zeitschrift für Kinderforschung
drängte aber ganz besonders der Umstand, daß bisher viele wertvolle
umfangreiche Arbeiten eben ihres Umfanges wegen nicht aufgenommen
werden konnten. Die Zeitschrift für Kinderforschung kann und will
aber keine Zeitschrift sein, die nur Näschereien, nur »Häppchenkost«
bietet, wenn das Verlangen danach in unsrer hastenden Zeit auch sehr
groß sein mag; sie verlangt Leser, die nicht nur lesen, sondern vor
allem auch arbeiten wollen, und sie betrachtet es als ein gutes Recht
ihrer Mitarbeiter, daß sie so schreiben dürfen, daß sie, was sie sagen
wollen, klar und deutlich ausdrücken und sagen können, daß sie in
die Tiefe gehen können, ohne darum etwa schwer verständlich werden
zu müssen.
So wird denn auch die Zeitschrift für Kinderforschung fortan nach
bestem Vermögen daran mitarbeiten,
das Seelenleben der Jugend, der normalen wie der anormalen, zu
erforschen,
die Ursachen körperlicher wie seelischer Degeneration aufzudecken,
an der Verbesserung des gesamten Unterrichts- und Erziehungswesens
durch Anwendung und Verwertung der Ergebnisse wissenschaft-
licher Forschung mitzuwirken.
Zur Lösung dieser Aufgaben die besten Kräfte zu gewinnen, wird
auch fortan das Bemühen der Redaktion sein.
Wir hoffen, daß unsere Leser die neue Erweiterung unserer Zei-
schrift mit Freuden begrüßen. Mögen sie zu ihrem Teile dazu beitragen,
die von uns gemeinschaftlich verfochtenen Ideen zum besten unserer
Jugend in immer weiteren Kreisen zu Anerkennung zu bringen.
Jena und Langensalza
im August 1913. Redaktion und Verlag
der Zeitschrift für Kinderforschung.
Aus der Zahl unserer bisherigen Mitarbeiter nennen wir unter andern:
Konrad Agahd in Rixdorf.
Dr. Wühelm Ament in Würzburg.
Luigi Anfosso, Advokat in Fossano (ltalien).
Lucien Arréat in Paris.
Dr. Gustav Aschaffenburg, Prof. in Köln.
Backhausen, Pastor am Stephansstift in
Hannover.
Dr. Adolf Baginsky, Direktor des Kaiserin
Friedrich-Kinderkrankenhauses und Prof.
an der Universität in Berlin.
Karl Baldrian, Direktor der Landes-Taub-
stummenanstalt in Wien.
Karl Barbier, Taubstummenlehrer
Frankenthal
Dr. Bayerthal, Nervenarzt in Worms.
in
Fr. Bergold, Lehrer am Waisenhaus
Hamburg.
Dr. Oswald Berkhan, Sanitätsrat in Braun-
schweig
Dr. L. Bernhard, städtischer Schularzt in
Berlin.
Dr. Otto Boodstein, Stadtschulrat in Elber-
feld.
Dr. N. Braunshausen, Prof. in Luxemburg.
W. Carrie, Lehrer in Hamburg.
Dr. Michael Cohn, Kınderarzt in Berlin.
A. Damaschke in Berlin.
Marie Damrow, Leiterin der Schul-Kinder-
gärten in Charlottenburg.
O. Danger, Vorsteher der Taubstummen-
anstalt in Emden.
Dr. Dannemaun, Privatdozent in Gießen.
J. Delitsch, Direktor in Plauen.
Dr. J. Demoor, Brüssel.
Edwin G. Dexter, Professor an der Uni-
versität Champaigne (U.S. A.).
Kurt Walther Dix, Lehrer in Meißen.
Sigmund Dörr, Lehrer in, Budapest.
Dr. med. A. Dupont in Ermelo (Holland).
R. Eyenberger in München.
Math. Eltes, Direktor in Budapest.
Max Enderlin, Rektor in Mannheim.
Dr. Engelhorn, Medizinalrat in Göppingen.
A. Ensch in Luxemburg.
Dr. med. Alb. Feuchtwanger in Frankfurt.
Dr. med. M Fiebig, Schularzt in Jena.
@. Fischer, Direktor der Blindenanstalt
in Braunschweig.
N. Fornelli, Professor der Pädagogik an
der Universität in Neapel.
Fr. Frenzel, Leiter der städtischen Hilfs-
schule in Stolp.
Dr. Karl Freye in Berlin.
Gottlieb Friedrich, Gymnasıalprofessor in
Teschen.
A. Fuchs, Rektor in Berlin.
Dr. med. M. Fuhrmann in Hiddesen.
Dr. med. Y. Fujikawa in Tokio (Japan).
Dr. P. von Gixyeki, Stadtschulinspektor
in Berlin.
Helene Goldbaum in Wien.
Dr. Manheimer Gommes in Paris.
Dr. Karl Groos, Universitätsprofessor in
Gießen.
|
|
|
|
|
|
H. Grosser, Rektor in Breslau.
Dr. päd. Maximilan P. E. Grossmann
in Plainfield (U. S. A.).
Arno Grundig. Lehrer an der Hilfsscbule
in Halle.
Hermann Grünewald, Seminarlehrer in
Dillenburg.
Dr. Hermann Gutzmann,
professor in Berlin.
J. Chr. Hagen, Direktor in Falstad bei
Drontheim.
Dr. phil. Theodor Heller, Direktor der
Erziehungsanstalt für geistig abnorme
Kinder in Wien-Grinzing.
K. Hemprich, Rektor in Freyburg.
A. Henze, Rektor in Hannover.
Universitäts-
| Dr. med. Hermann in Merzig.
Dr. med. Magnus Hirschfeld, Arzt in
Charlottenburg.
Dr. A. Hoffa, Professor in Würzburg.
Hermann Horrix, Hauptlehrer der Hilfs-
schule in Düsseldorf.
Dr. T. Ishikawa, Irrenarzt in Tokio (Japan).
Dr. phil. Johannes Jaeger, Strafanstalts-
pfarrer in Amberg.
Tobie Jonckheere in Brüssel.
J. Kalpers, Referendar in Lennep.
Fr. Kemény, Direktor in Budapest.
Heinrich Kielhorn. Leiter der Hilfsschule
in Braunschweig.
Max Kirmsse, Lehrer an der Erziehungs-
anstalt in Idstein im Taunus.
Dr. J. L. A. Koch, Direktor der königl.
Staatsirrenanstalt in Zwiefalten.
Dr. Ph. Koch in Brüssel.
Dr. Kohler, Obermedizinalrat in Mügeln.
Dr. Köhne, Amtsgerichtsrat in Berlin.
| Friedrieh Kölle, Direktor der schweizeri-
schen Anstalt für Epileptische in Zürich.
K. Kölle, Direktor der Anstalt Regensberg-
Zürich.
A. König, Seminarlehrer in Altdorf.
Dr. med. Hermann Krukenberg, Direktor
des stadt. Krankenhauses in Liegnitz.
K. Kruppa, Lehrer an der kgl. Landes-
strafanstalt in Bautzen.
Carlo von Kügelgen in St. Petersburg.
Kuhn- Kelly, Präsident und Kinderinspektor
der gemeinnützigen Gesellschaft in
St. Gallen.
Dr. med. A. Kühner in Frankfurt.
Kulemann, Landgerichtsrat in Bremen.
Dr. Alois Kunzfeld, Professor in Wien.
Dr. Adalbert Kupferschmid, dirigierender
Arzt in Mährisch-Schönberg.
|! Dr. med. S. Landmann in Fürth.
R. Lambeck, Rektor a D. in Remscheid-
Hasten.
Dr. Leo Langer, Professor in Villach
(Kärnten)
Bror Larson, Pastor in Katrineholm
(Schweden).
Kurt Lehm in Dresden.
Fritz Lehmensick, J,ehrer in Jena.
Dr. Leubuscher, Professor, Geh. Reg.- und |
Med.-Rat in Meiningen.
Dr. Ley in Antwerpen.
Marx Lobsien in Kiel.
Fritz Loeper, Hauptlehrer an der städti-
schen Hilfsschule in Barmen.
Paola Lombroso in Turin.
Dr. phil. Hermann T. Imkens in Wor-
cester (U. S. A.).
Dr. med. Paul Maas in Aachen.
P. Mac Millan, Direktor des Departement
of Child Study and Pedagogic Investi-
gation in Chicago (U. S. A.).
Dr. bruno Maennel, Rektor in Halle.
Dr. med. Meltzer, Oberarzt in Waldheim.
Dr. Bruno Meyer, Professor an der Uni-
versität in Berlin.
Dr. Mönkemöller, Oberarzt in Hildesheim.
William S. Monroe, Professor der Psy-
chologie und Pädagogik in Westfield
(U. S. A.).
Dr. Jules Morel, Chefarzt des Hospice-
Guislain in Gent,
W. D. Morrison, Gefängnisprediger in
London.
Dr. med. Julius Moses in Mannheim.
Müller, Regierungsrat in Chemnitz-Alten-
dorf.
Dr. Hugo Münsterberg,
Cambridge (U. S. A.).
Alexander von Näray-Szabö, Ministerial-
rat in Budapest.
Dr. med. Eugen Neter, Kinderarzt in
Mannheim.
Dr. Alexander Netschajeff, Professor in
St. Petersburg.
Dr. phil. Franz Nietzold, Direktor in
Dresden.
Dr. M. Offner, Professor in München.
Dr. med. A. H. Oort in Rheingeest (Holland).
Dr. Oppenheim, Professor in Berlin.
Rosa Oppenheim, Lehrerin in Breslau.
E. Oppermann, Schulinspektor in Braun-
schweig.
Dr. A. Pabst, Direktor des Handarbeits-
seminars in Leipzig.
Dr. Peter Petersen in Hamburg.
J. Pethes, Professor in Czurgo (Ungarn).
Dr. med. O. Preiss in Elgersburg.
Plass, Pastor. Direktor des Erziehungs-
heims am Urban in Zehlendorf.
Dr. Paul Ranschburg, Direktor des psy-
cholog. Laboratoriums der kgl. ungari-
schen heilpäd. Institute in Budapest.
Dr. Heinrich Reicher, Privatdozent an
der Universität in Wien.
Emil Reuschert, Kgl. Taubstummenlehrer
in Berlin.
W. Reuschert, Oberlehrer in Straßburg.
Paul Riemann, Taubstummenlehrer in
Weißentels.
Dr. G. von Rohden, Konsistorialrat in
Spören. Kr. Bitterfeld.
Dr. med. Römer, Sanitätsrat ın Stuttgart.
Fr. Rüssel, Lehrer in Hamburg.
M. Roth, Pastor in Groß-Rosen.
Professor in
An Bien
W. J. Ruttmann in Marktsteft.
Dr. Karl L. Schaefer, Professor an der
Universität in Berlin.
Richard Schauer, Lehrer in Berlin.
Alwin Schenk, Rektor in Breslau.
Dr A. Schinz, Privatdozent an der Aka-
demie in Neufchätel.
Dr. phil. Hans Schrnidkunz in Berlin-
Halensee.
Dr. med. Schmid-Monnard in Halle.
Dr. pbil, Hugo Schmidt, Direktor
Hainichen i. S.
Dr. L. Scholz, dirigierender Arzt der
Irrenanstalt in Waldbröl.
H. Schreiber, Lehrer in Würzburg.
A. J. Schreuder, Direktor des Med.-Päu.
Instituts in Arnheim (Holland).
Conrad Schubert, Rektor in Altenburg.
Eduard Schulze, Lehrer an der Hilfs-
schule in Halle.
Rudolf Schulze, Lehrer in Leipzig.
Schwenk, Direktor der Erzıehungsanstalt
in Idstein im Taunus.
R. Seyfert, Schuldirektor in Oelsnitz.
Martha Silber in Soden-Salmünster.
Dr. Alfred Sübernagel, Zivilgerichtspräsi-
dent in Basel,
en Soennecken, Kommerzienrat in
nn.
Dr. Sommer, Prof. a. d. Univ. in Gießen.
Dr. med. Spanier in Hannover.
Dr. J. Ssikorsky. Professor in Kiew.
Dr. Ewald Stier, Stabsarzt in Berlin.
Strakerjahn, Hauptlehrer in Lübeck.
Dr. Strohmayer, Privatdozent in Jena.
Stukenberg, Kreisschulinspektor i. Heppens.
K. G. Szidon in Budapest.
P. Thieme, Lehrer in Altenburg
Dr. Franz von Torday, Oberarzt am
staatlichen Kinderasyl in Budapest.
Frederie Tracy, Prof. in Toronto (Canada).
Dr. Robert Tschudi in Basel.
Chr. Ufer, Rektor der südstädt. Mittel-
schule für Mädchen in Elberfeld.
De Vries in Enschede (Holland).
Dr. med. F. Warburg in Köln.
Franz Weigl. Lehrer in München.
Anton Weiss, Bezirksschulinspektor in
Braunau.
Rud. Weiss, Direktor der Hilfsschule in
Zwickau.
Eduard Welander, Prof. in Stockholm.
Dr. F. M. Wendt, Schulrat und Professor
in Troppau.
Dr. X. Wetterwald in Basel.
2 phil. et med. W. Weygandt in Heidel-
perg.
N. Widmann., Rektor in Mannheim.
Dr. med. Wiedeburg in Elgersburg.
Dr. Stephan Waitasek, Professor in Wien.
Dr. med. Witry, Nervenarzt in Trier.
Dr. Wolfert, Geh. Sanitätsrat in Berlin.
Dr. Julius Zappert, Privatdozent für
Kinderheilkunde in Wien.
K. Ziegler in Köln.
in
| Dr. Th. Ziehen, Professor in Wiesbaden.
ZOMME WETER & WANN) LANGENSALZA.
een
SEREREKERREI
|
A. Abhandlungen.
1. Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung bezüglich
der sogenannten psychopathischen Konstitutionen.
Von
Prof. Th. Ziehen, Wiesbaden.
(Schluß.)
3. Beziehungen zur Fürsorgeerziehung.
Was kann nun gegenüber diesen großen Gefahren geschehen ?
Allenthalben hat man ganz richtig erkannt, daß im jugendlichen Alter
eingegriffen werden muß, und daß in den großen ärmeren Volkskreisen
die Eltern meistens nicht in ausreichendem Maß eingreifen können
oder auch nicht eingreifen wollen. Daraus ergab sich mit Notwendig-
keit eine Einmischung des Staats in die Erziehung dieser Individuen.
Da nun, äußerlich betrachtet, auch lediglich moralisch verwahrloste,
also völlig normale Kinder und ebenso leicht schwachsinnige, sogenannte
debile Kinder dieselben Verhältnisse darboten, so wurden diese 3 Kate-
gorien bei der Einmischung des Staats in die Erziehung zusammengefaßt,
und so entstand die moderne Fürsorgeerziehung.
In Preußen hat, nachdem ältere gesetzliche Bestimmungen (vom
13. III. 1878 und 23. VI. 1884) sich garnicht bewährt hatten, weil
sie Individuen über 12 Jahre überhaupt nicht und solche unter
12 Jahren nur im Fall eines Verstoßes gegen die Strafgesetze berück-
sichtigten, das Gesetz vom 2. Juli 1900 versucht, die Fürsorgeerziehung
im modernen Sinne einzuführen. Es ist unzweifelhaft, daß das Gesetz
schon in seiner jetzigen Gestalt manches Gute gewirkt hat, ebenso
unzweifelhaft aber und auch allgemein anerkannt, daß es viele Er-
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 32
490 A. Abhandlungen.
wartungen nicht erfüllt hat und in vielen Punkten verbesserungs-
bedürftig und verbesserungsfähig ist. Im folgenden sollen speziell
diejenigen Mißstände dargelegt werden, welche sich bei der An-
wendung des Gesetzes auf psychopathische jugendliche Individuen er-
geben haben, und Vorschläge zur Abstellung dieser Mißstände durch
Abänderung der gesetzlichen Bestimmungen gemacht werden.
Aus praktischen Gründen empfiehlt es sich, zwei große Kategorien
von Fällen zu unterscheiden, nämlich erstens solche Fälle psycho-
pathischer Konstitution, in denen eine Strafhandlung vorliegt, die zur
Kenntnis des Gerichts oder der Polizei gelangt ist, und zweitens
solche Fälle psychopathischer Konstitution, in denen eine Strafhandlung
nicht vorliegt oder wenigstens nicht zur Kenntnis des Gerichts oder
der Polizei gelangt ist.
Ich beginne mit der ersten Kategorie, die ich im Interesse
der Abkürzung unter dem nicht ganz korrekten Ausdruck der »Straf-
fälligen« (straffälliger jugendlicher Psychopathen) zusammenfassen will.
Für diese erste Kategorie ist der Weg zunächst durch die Be-
stimmungen der §§ 55 und 56 des Reichsstrafgesetzbuchs gewiesen.!)
$ 55 schließt bekanntlich eine strafrechtliche Verfolgung aus, wenn
bei Begehung der Handlung das zwölfte Lebensjahr nicht vollendet
war; er erklärt ferner die zur Besserung und Beaufsichtigung ge-
eigneten Maßregeln nach Maßgabe der landesgesetzlichen Vorschriften
für zulässig (»können« getroffen werden). $ 56 bestimmt die Frei-
sprechung für Individuen zwischen dem zwölften und achtzehnten
Lebensjahr, wenn die zur Erkenntnis der Strafbarkeit der Handlung
erforderliche Einsicht bei Begehung der strafbaren Handlung gefehlt
hat. Außerdem besagt der $ 56, daß in dem Urteil zu bestimmen
ist, ob der Angeschuldigte seiner Familie überwiesen oder in eine
Erziehungs- oder Besserungsanstalt gebracht werden soll. Auf die
Verbesserungsbedürftigkeit aller dieser Bestimmungen, soweit sie die
Altersgrenze und das Kriterium der Einsichtsfähigkeit in die Straf-
barkeit betreffen, soll hier nicht eingegangen werden, zumal der Vor-
entwurf des neuen Strafgesetzbuchs bereits die dringendsten Ver-
1) 88 361 und 362 St. G. B. haben nur untergeordnete Bedeutung für die hier
zu behandelnden Fragen. Es sei jedoch ausdrücklich bemerkt, daß $ 361 höchstens
bei als Landstreicher umherziehenden (Z. 3), bettelnden (Z. 4) oder gewerbsmäßiger
Unzucht verfallenen (Z. 6) Individuen in Betracht kommen könnte, und daß $ 362
— ganz abgesehen von der zu kurzen Bemessung der maximalen Aufenthaltsdauer
(2 Jahre) — nur einen Aufenthalt im Arbeitshaus und bei gewerbsmäßiger Unzucht
verfallenen Individuen nur den Aufenthalt in einer Besserungs- und Erziehungs-
anstalt oder einem Asyl zuläßt, also Heilanstalten überhaupt nicht erwähnt.
Ziehen: Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung. 491
besserungen vorgesehen hat ($ 68 und 69). Nur, soweit die Bedürfnisse
der Fürsorgeerziehung in Betracht kommen, muß einiges hervorgehoben
werden. Der wesentliche Mißstand bei der jetzigen Bestimmung ist
der, daß bei Kindern unter 12 Jahren, die auf Grund des $ 55
freigesprochen worden sind, nicht wie bei 12—18 jährigen Individuen
die Frage einer besonderen Erziehung, z. B. also der Fürsorgeerziehung
ex officio aufgeworfen werden muß, sondern nur aufgeworfen werden
kann. Damit wird in vielen Fällen die günstigste Zeit für den Ein-
tritt einer zweckmäßigen Erziehung verpaßt. Nicht jeder Richter
bezw. jede Polizeibehörde hat das nötige Verständnis, um in allen
Fällen, in denen es erforderlich ist, die Frage der Erforderlichkeit
einer besonderen Erziehung aufzuwerfen und sachgemäß zu prüfen.
Gerade weil das Gesetz das Aufwerfen dieser Frage für fakultativ
erklärt, wird die Frage sehr oft garnicht aufgeworfen oder nur ober-
flächlich geprüft. Vom ärztlichen Standpunkt ist dringend zu ver-
langen, daß durch Gesetz oder Verfügung (bei Polizeibehörden) diese
Prüfung obligatorisch gemacht wird wie für die 12—18jährigen In-
dividuen. Auch der Vorentwurf des neuen Strafgesetzbuchs hilft
diesem Mangel leider nicht ab. Bei dem etwaigen Inkrafttreten des-
selben wird er sich sogar noch viel fühlbarer machen, da die Grenze-
der absoluten Strafunmündigkeit von dem 12. auf das 14. Lebens-
jahr hinaufgerückt werden soll; es müssen sich also die Fälle, in
denen die günstigste Gelegenheit zum Eingreifen verpaßt wird, noch
erheblich vermehren. Der Prozentsatz der heilbaren Fälle unter
den psychopatbischen Konstitutionen ist jenseits des 14. Lebensjahres:
bereits sehr stark gesunken.
Der jetzige Zustand ist nach meinen Erfahrungen leider derart,
daß von seiten der Polizei und des Gerichts bei Strafhandlungen
strafunmündiger Individuen unter 12 Jahren vielfach garnicht oder
zu spät eingeschritten wird, obwohl ein Einschreiten dringend ge-
boten wäre. :
Wird die Frage überhaupt aufgeworfen und in sachgemäßer
Weise entschieden, so bietet, wenn ein Eingriff in die Erziehung für
notwendig erachtet wird, das Fürsorgeerziehungsgesetz im $ 1, Ziffer 2
eine geeignete Handhabe, um in vielen Fällen des $55 und auch des
§ 56 der Weiterentwicklung der psychopathischen Konstitution vor-
zubeugen oder auch ihre Besserung bezw. Heilung in die Wege zu
leiten. Es heißt hier nämlich, daß die Überweisung an die Fürsorge-
erziehung erfolgen kann,!) wenn der Minderjährige eine strafbare
1) Auch dieses »kann« könnte vielleicht durch ein »muß« ersetzt werden.
32*
493 A. Abhandlungen.
Handlung begangen hat, wegen der er in Anbetracht seines jugend-
lichen Alters strafrechtlich nicht verfolgt werden kann, und die Für-
sorgeerziehung mit Rücksicht auf die Beschaffenheit der Handlung,
die Persönlichkeit der Eltern oder sonstigen Erzieher und die übrigen
Lebensverhältnisse zur Verhütung weiterer sittlicher Verwahrlosung
‚des Minderjährigen erforderlich ist.
Dagegen erweist sich das Fürsorgeerziehungsgesetz in seiner
jetzigen Form als insuffizient, sobald es sich nun darum handelt, die
auf Grund des $ 2 verhängte Fürsorgeerziehung praktisch durch-
zuführen. Leider kennt nämlich der $ 2 des Fürsorgeerziehungs-
gesetzes die Fürsorge nur in Form einer Erziehung in einer ge-
eigneten Familie oder in einer Erziehungs- oder Besserungsanstalt.
Ärztlich ist zu fordern, daß erstens auch die Belassung in der eigenen
Familie unter Aufsicht amtlicher Ärzte und vom Vormundschafts-
gericht zugelassener Vereine und daß zweitens auch ausdrücklich die
Unterbringung in einer Heilanstalt (z. B. einem Heilerziehungsheim
für psychopathische Kinder) genannt wird. Beide Forderungen sollen
getrennt im folgenden begründet werden.
Die erste Forderung involviert eine Erweiterung des Begriffes
der Fürsorgeerziehung, indem sie als eine Form der letzteren auch
die öffentliche Aufsicht in der eigenen Familie zuläßt.!) Man
wende gegen diese Erweiterung nicht etwa ein, sie werde dadurch
überflüssig, daß $ 1666 des B.G.B., dessen Hauptteil ich in der An-
merkung wegen seiner Wichtigkeit im Wortlaut anführe,2) auch
andere Maßregeln zuläßt, und daß die Ausführungsbestimmungen?)
zum Fürsorgeerziehungsgesetz auf solche anderweitigen Maßregeln
ausdrücklich hinweisen; denn dieser Hinweis versagt in vielen Fällen:
während das Fürsorgeerziehungsgesetz den Kreis der zu-
lässigen Maßregeln zu eng zieht, zieht $ 1666 den Kreis der
zu erfüllenden Bedingungen zu eng. Es gibt zahlreiche Fälle,
!) Dem Wortsinn nach könnte man übrigens auch die Fassung des $ 2 dahin
interpretieren, daß die »geeignete« Familie gelegentlich die eigene des Minder-
jährigen sein könnte, indes wird diese Interpretation kaum jemals durchgeführt, auch
widerspricht sie wohl dem Sinn des ganzen Gesetzes, wie es jetzt vorliegt.
?) Dieser lautet: »Wird das geistige oder leibliche Wohl des Kindes dadurch
gefährdet, daß der Vater das Recht der Sorge für die Person des Kindes mißbraucht,
das Kind vernachlässigt oder sich eines ehrlosen oder unsittlichen Verhaltens schuldig
macht, so hat das Vormundschaftsgericht die zur Abwendung der Gefahr erforder-
lichen Maßregeln zu treffen. Das Vormundschaftsgericht kann insbesondere an-
ordnen, daß das Kind zum Zwecke der Erziehung in einer geeigneten Familie oder
in einer Erziehungsanstalt oder einer Besserungsanstalt untergebracht wird.«
®) Ministerialblatt der inneren Verwaltung 1901. S. 27.
Ziehen: Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung. 493
wo ein Mißbrauch, eine Vernachlässigung oder überhaupt irgend-
welches schuldhafte Verhalten des Vaters nicht vorliegt, also die Be-
dingungen des $ 1666 nicht erfüllt sind, und doch ein staatliches-
Eingreifen in die Erziehung unbedingt erforderlich ist. Gerade außer-
ordentlich viele Fälle jugendlicher psychopathischer Konstitutionen
gehören hierher, in denen die Schwierigkeiten und Fehlschläge der
Erziebung garnicht dem Elternhaus, sondern nur der psychopathischen
Konstitution zuzuschreiben sind. Dann bleibt nur das Fürsorge-
erziehungsgesetz. Dies sieht auch solche Fälle vor, wie unten noch
zu erörtern sein wird, zieht also den Kreis der zu erfüllenden Be-
dingungen in dieser Beziehung richtig, versagt nun aber leider oft in
dem Punkte der zu ergreifenden Maßregeln, indem es nur die rigorosesten
Maßregeln kennt,!) die in vielen Fällen ausreichenden leichteren Ein-
griffe aber ignoriert. In dieser Beziehung bedeutet die Formulierung des
Fürsorgeerziehungsgesetzes einen Rückschritt gegenüber dem $ 1666.
Ich kenne beispielsweise zahlreiche psychopathische Kinder im
Alter von 8—14 Jahren, die irgend ein Delikt begangen haben und
dringend in Gefahr stehen, geistig und sittlich zu verwahrlosen, deren
psychopathische Konstitution erheblich genug ist, um die ausschließ-
lichen ununterstützten Erziehungsversuche der Eltern — oft recht-
schaffener, wohlmeinender Leute — zu vereiteln, aber doch nicht so
schwer ist, daß die Versetzung in eine andere Familie oder in eine
Anstalt notwendig oder auch nur zweckmäßig wäre. Es würde viel-
mehr eine zwangsweise öffentliche Aufsicht über die Er-
ziehung in der eigenen Familie auf öffentliche Kosten aus-
reichen, also eine billigere, schonendere, oft ebenso ausreichende,
mitunter sogar zweckmäßigere Maßregel. Ich denke mir diese Maß-
regel so, daß das Vormundschaftsgericht einen beamteten sach-
verständigen?) Arzt und in vielen Fällen zugleich einen privaten
Verein (Zentrale f. Jug.-Fürsorge, Kinderhort) mit der Aufsicht und
der Beihilfe bei der Erziehung betraut und die Eltern, falls sie einen
solchen Eingriff ablehnen, zur Duldung desselben zwingt, eventuell
unter Androhung der Unterbringung des Kindes in einer anderen
Familie oder einer Anstalt. Die Eltern werden übrigens nach meinen
Erfahrungen, während sie der Entfernung aus der Familie sehr oft
1) Zum Teil übereinstimmende Erwägungen hat, wie ich erst pach dem Halten
dieses Vortrages bemerkt habe, kurz vorher auch Petersen auf dem letzten
Fürsorge-Erziehungstag (Dresden 1912) angestellt. (Verhandl.-Bericht S. 201 ff.)
?) Beide Attribute müssen vorhanden sein; es gibt leider noch beamtete Ärzte,
deren Sachverständnis bezüglich psychopathischer Konstitutionen, Debilität usw. un-
zureichend ist.
494 A. Abhandlungen.
widerstreben, weil sie von ihnen leider in der Regel als eine sitten-
polizeiliche Maßregel aufgefaßt wird, meistens einer solchen ärztlichen
Aufsicht und ärztlich motivierten Erziehungsbeihilfe durch einen Verein
nicht ernstlich widerstreben. Es kommt nur darauf an, daß vom
Gericht die erste Anregung ausgeht, nötigenfalls auch ein Zwang aus-
geübt werden kann, daß durch gerichtliche Verfügung die Regel-
mäßigkeit der Durchführung gesichert und alle Kosten den Eltern ab-
genommen werden. Bei dem jetzigen Zustand hängt es oft von dem
Zufall ab, ob überhaupt eine solche Aufsicht angeregt wird, von dem
guten Willen und dem Verständnis der Eltern, ob sie eingeleitet und
regelmäßig durchgeführt wird.
Auf Grund vieler Unterhaltungen mit Eltern psychopathischer
Kinder bin ich überzeugt, daß das allgemeine Odium, welches sich
jetzt im Volk an die Fürsorgeerziehung knüpft (»er soll lieber klauen
als in die Fürsorge«), wesentlich auch eben dadurch bedingt wird,
daß das Fürsorgeerziehungsgesetz nur die rigorosesten Maßregeln kennt,
die leichteren aber ignoriert. Selbstverständlich gibt es zahlreiche
Fälle, in denen nur die rigorosen Maßregeln Besserung erzielen und
Gefahren abwenden können, aber warum deshalb die leichteren Maß-
regeln für die ebenfalls sehr zahlreichen leichteren Fälle streichen?
Vielfach ist es auch zweckmäßig, es wenigstens erst mit den leichteren
Maßregeln zu versuchen und damit auch Zeit für eine sachverständige
Beobachtung zu gewinnen und eventuell die Eltern von der Not-
wendigkeit rigoroser Maßregeln (Entfernung aus der Familie) im Guten
zu überzeugen.
Schwierigkeiten könnten nur da entstehen, wo sachverständige
Ärzte und entsprechende Vereine fehlen. Indes ist ein solches Fehlen
in Städten — und in diesen sind jugendliche psychopathische Kon-
stitutionen besonders häufig und besonders schwer gefährdet — doch
sehr selten. Außerdem steht nichts im Wege, daß gelegentlich an Stelle
eines beamteten Arztes ein privater, aber vom Gericht!) offiziell Fall
für Fall bestellter sachverständiger (!)?) Nervenarzt oder Anstaltsarzt
1) Bezw. von der Verwaltungsbehörde, der die Landesgesetze etwa gemäß
Art. 135 des Einführungsgesetzes zum B.G.B. die Entscheidung über die Unter-
bringung der bez. Minderjährigen übertragen hätten und der dann auch die geforderte
Regelung der Aufsicht in der eigenen Familie zufallen würde. Auch an anderen
Stellen dieser Abhandlung ist diese Eventualität, auch wenn sie nicht ausdrücklich
hervorgehoben ist, immer mit ins Auge zu fassen.
?) Ganz vereinzelt findet man übrigens auch Nervenärzte und selbst Irren-
ärzte, die infolge der Einseitigkeit ihrer Erfahrungen kein ausreichendes Verständnis
für solche Fälle, z. B. gerade psychopathische Konstitutionen und ihre Besonder-
heiten, haben.
Ziehen: Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung. 495
mit der Aufsicht betraut wird. Endlich steht nichts im Wege, für
weitere sachverständige Ausbildung beamteter Ärzte, weitere Gründung
von Vereinen Schritte zu tun. Auch die Beaufsichtigung durch so-
genannte probation officers (»Bewährungsbeamte«, Rosenfeld), wie sie
das englische Kindergesetz vom Jahre 1908 (Children Act 1908,
8 Edw 7. Ch. 67) vorsieht, käme gelegentlich in Betracht.!) Über-
haupt dürfte diese Aufsicht nicht zu schematisch-gleichmäßig durch-
geführt werden.
Die Erfolge sind — davon habe ich mich schon jetzt in den
Fällen überzeugt, in denen günstige Umstände auch bei der heutigen
Lage der Gesetzgebung die Durchführung solcher Maßregeln er-
laubten — durchaus befriedigend.
Die oben (S. 492) an zweiter Stelle genannte Forderung geht dahin,
daß in dem $ 2 des Fürsorgeerziehungsgesetzes ausdrücklich auch
Heilanstalten genannt werden. Da die pathologischen Fälle unter
den Fürsorgeerziehungsbedürftigen 60—70°/, ausmachen, so ist es
nur billig, daß auch die für diese in Betracht kommenden Anstalten
neben den Erziehungs- und Besserungsanstalten ausdrücklich genannt
werden. In der Praxis mag von verständigen Gerichten trotz der
jetzigen Fassung schon hier und da auch die Unterbringung in eine
Heilanstait empfohlen oder angeordnet worden sein, das Fehlen einer
ausdrücklichen Anführung wird damit nicht gut gemacht. Ich bin
nach meinen Erfahrungen auch überzeugt, daß diese Unterlassung
gleichfalls etwas zu dem Odium der Fürsorgeerziehung beiträgt. Der
Wortlaut und der ganze Tenor des Gesetzes nimmt der Fürsorgeerziehung
ganz den ärztlichen Charakter, den sie doch in zwei Drittel aller Fälle
haben sollte. Es ist garnicht abzusehen, weshalb man durch den
Wortlaut des Gesetzes seine Durchführung gegenüber den Angehörigen
in diesen pathologischen zwei Dritteln in dieser Weise erschweren
bezw. auf die Erleichterung durch ärztliche Motivierung verzichten
soll. Es ist mir nicht selten gelungen, durch Überredung den Wider-
stand der Eltern psychopathischer Kinder gegen die Unterbringung
in einer Anstalt zu überwinden, dann aber immer nur durch die
ärztliche Motivierung.
Der $ 10 des Gesetzes, in dem die Unterbringung in Krauken-
und Idiotenanstalten (unter anderen) erwähnt wird, macht die Sache
1) Für die in fremder Familie untergebrachten Fürsorgezöglinge sieht bekannt-
lich der $ 11 des jetzigen Fürsorgegesetzes bereits einen »Fürsorger« (eventuell auch
eine Fürsorgerin) vor.
496 A. Abhandlungen.
nicht besser, da er eine solche Unterbringung augenscheinlich als
Ausnahme behandelt.!)
Man begegnet übrigens auch in der Tat noch gelegentlich der
Auffassung, als könnten psychopathische und debile Fürsorgezöglinge
sehr gut in gewöhnlichen Erziehungs- oder Besserungsanstalten unter-
gebracht werden. Demgegenüber lehrt schon die oberflächlichste ärzt-
liche Erfahrung, daß debile und erst recht psychopathische Kinder in
gewöhnlichen Erziehungs- oder Besserungsanstalten durch den Verkehr
mit normalen, einfach moralisch verkommenen Individuen meistens
geradezu moralisch infiziert werden.?) Auf diese Anstaltsfrage komme
ich unten noch zurück (S. 502 ff.).
Ich wende mich nunmehr zu der zweiten der S.490 unterschiedenen
Kategorien d. h. denjenigen psychopathischen Kindern, bei denen
eine Strafhandlung (im forensischen Sinne) nicht vorgekommen oder
wenigstens nicht zur Kenntnis des Gerichts oder der Polizeibehörde
gelangt ist. Die praktische Bedeutung dieser zweiten Kategorie, die
bei den einschlägigen Erörterungen in der Regel nicht genügend be-
achtet wird, ist deshalb so sehr groß, weil es sich meistens um
jüngere Individuen handelt, bei welchen die Fürsorgeerziehung un-
endlich viel mehr Aussicht hat.
Indem das Fürsorgeerziehungsgesetz im $ 1, Z.1 und 3 auch für
solche nicht-straffälligen Individuen eine Fürsorgeerziehung zuläßt,
bedeutet es in der Tat gegenüber der älteren Gesetzgebung einen
enormen Fortschritt. Die bezüglichen Bestimmungen lauten: »Ein
Minderjähriger, welcher das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat,
kann der Fürsorgeerziehung überwiesen werden:
1. wenn die Voraussetzungen des $ 1666 oder des $ 1838 des
B. G. B. vorliegen und die Fürsorgeerziehung erforderlich ist, um die
Verwahrlosung des Minderjährigen zu verhüten;
3. wenn die Fürsorgeerziehung außer diesen Fällen wegen Un-
zulänglichkeit der erziehlichen Einwirkung der Eltern oder sonstigen
Erzieher oder der Schule zur Verhütung des völligen sittlichen Ver-
derbens des Minderjährigen notwendig ist.«
Es könnte in der Tat scheinen, daß damit für die psychopathischen
Konstitutionen (und mutatis mutandis die Debilen) ausreichend gesorgt
1) Auch der Kommissionsbericht des Abgeordnetenhauses (S. 502) erwähnt nur
nebenher unheilbare und heilbare geisteskranke und idiotische Fürsorgezöglinge,
schweigt sich aber über debile und psychopathische ganz aus.
?) Eine Ausnahme machen nur die relativ spärlichen Anstalten, in denen der
Anstaltsleiter eine einigermaßen ausreichende Trennung der normalen und der patho-
logischen Elemente durchzuführen vermag.
Ziehen: Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung. 497
sei. In der Praxis erweisen sich diese Bestimmungen jedoch trotz
ihres richtigen Kerns doch noch als unzulänglich. Zunächst ist
Ziffer 1 mit dem Verweis auf $ 1666 nur für Fälle eines irgendwie
schuldhaften Verhaltens des Vaters anwendbar, und ein solches liegt,
wie oben bereits erörtert, sehr oft nicht vor, und ist überdies, wenn
es vorliegt, oft sehr schwer nachweisbar. Der Verweis auf $ 18381)
kommt nur für die relativ seltenen Fälle in Betracht, in denen es
sich um ein Mündel handelt, für dessen Person dem Vater oder der
Mutter die Sorge nicht zusteht. Es bleibt also für sehr viele Fälle
nur Ziffer 3. Hier wird auch das charakteristische Moment, durch
welches die Fürsorgeerziehung erfordert wird, ganz richtig fixiert:
Die Unzulänglichkeit der erziehlichen Einwirkung der Eltern oder
sonstigen Erzieher oder der Schule. wobei zu ergänzen ist: gegenüber
der psyschopathischen Konstitution oder Debilität oder normalen sitt-
lichen Verwahrlosung. Die Lücken bezw. der Mangel liegt aber
darin, daß bei einer solchen Unzulänglichkeit die Fürsorge-
erziehung nur dann für zulässig erklärt wird, wenn sie zur
»Verhütung des völligen sittlichen Verderbens des Minder-
jährigen« notwendig ist. Damit werden nämlich gerade diejenigen
Fälle der Fürsorgeerziehung entzogen, welche für sie weitaus am
dankbarsten sind?): jüngere psychopathische (und debile) Kinder, bei
denen infolge ihrer psychopathischen Konstitution (bezw. Debilität) die
elterliche Erziehung, sei es überhaupt, sei es ohne Hilfe einer öffent-
lichen Mitaufsicht, versagt, so daß allerhand ungehörige Handlungen
vorkommen, bei denen aber von sittlichem Verderben noch nicht die
Rede sein kann und daher auch von einer Verhütung des »völligen
sittlichen Verderbens« garnicht gesprochen werden kann. Der Aus-
druck ist nicht nur für viele Fälle viel zu kraß, sondern auch für
viele Fälle, die offenbar den Schutz des Fürsorgegesetzes dringend
erfordern, unrichtig. Das psychopathische Kind, das wieder und
wieder vom Hause fortläuft, allerhand Phantasielügen vorbringt, Jäh-
zornsanfälle hat usf., ist sehr oft überhaupt noch garnicht »sittlich
verderbte. Das Gesetz hat, wie an anderen Stellen, so auch hier viel
zu einseitig diejenigen Minderjährigen im Auge, deren ungehöriges
Benehmen und Schwererziehbarkeit auf normaler sittlicher Verwahr-
1) § 1838 lautet: »Das Vormundschaftsgericht kann anordnen, daß der Mündel
zum Zwecke der Erziehung in einer geeigneten Familie oder in einer Besserungs-
anstalt untergebracht wird. Steht dem Vater oder der Mutter die Sorge für die
Person des Mündels zu, so ist eine solche Anordnung nur unter den Voraussetzungen
des $ 1666 zulässig.«
?) Die Ausführungsbestimmungen erkennen dies auch ausdrücklich an.
498 A. Abhandlungen.
losung beruht, und vergißt darüber die zahlreichen Minderjährigen,
deren ungehöriges Betragen und Schwererziehbarkeit auf pathologischen
Zuständen, Debilität oder psychopathischer Konstitution beruht. Wollte
man immer erst warten, bis $ 1, Z. 3 zutrifft, also die Verhütung
völligen sittlichen Verderbens in Frage steht, so käme man in den
meisten pathologischen Fällen viel zu spät. Das Wort »völlige muß
also gestrichen werden und neben der Verhütung des sitt-
lichen Verderbens der positive Zweck der Heilung bezw.
Besserung hervorgehoben werden. Es könnte also z. B. statt
»zur Verhütung des völligen sittlichen Verderbens« heißen: »zur Ver-
hütung des sittlichen Verderbens!) und — bei krankhafter Grundlage
der Schwererziehbarkeit — zur Heilung des ursächlichen Krankheits-
zustandes«.
Offenbar hängt diese zu rigorose Formulierung der Bedingungen
in § 1, 2.3 mit der eben besprochenen Beschränkung auf zu rigorose
Maßregeln in $2 eng zusammen. Wenn man nur die stärksten Maß-
regeln zuläßt, wird man geneigt sein, auch die Bedingungen sehr zu
erschweren, und andererseits wird man, wenn man nur die schwersten
Bedingungen ins Auge faßt, geneigt sein, nur die stärksten Maßregeln
zu berücksichtigen. Beides ist falsch und hat das Gesetz vielfach
odiös gemacht. Der Einwand, daß für die leichteren Fälle $ 1666
bleibe, ist, wie ich nochmals hervorhebe, unzutreffend, da dieser
$ 1666 nur für eine ganz beschränkte Zahl von Fällen, nämlich bei
irgendwie schuldhaftem Verhalten der Eltern (strenggenommen sogar
nur des Vaters) in Betracht kommt. Entweder muß also $ 1666
B.G.B. erweitert werden, so daß er auch bei Unzulänglichkeit der
Erziehung ohne schuldhaftes Verhalten der Eltern bezw. Erzieher
Anwendung finden kann, oder im Gesetz über die Fürsorgeerziehung
muß im $ 1 das Wort »völligen« gestrichen und im $ 2 die öffent-
liche Aufsicht in der eigenen Familie und die Unterbringung in einer
Heilanstalt zugefügt werden.
Die Mängel des jetzigen Gesetzes in den nicht-straffälligen Fällen
sind mit der soeben besprochenen unzweckmäßigen Formulierung im
$ 1, Z. 3 nicht erschöpft. Wenn nämlich ein Fall vorliegt, der
unter $ 1, Z. 1 oder 3 fällt, so ist nicht genügend vorgesorgt, daß
der Antrag auf Fürsorgeerziehung auch wirklich stets gestellt wird.
Es heißt zwar ausdrücklich in $ 4: »Zur Stellung des Antrags sind
D
1) Auch der Ausdruck »wenn das geistige oder leibliche Wohl gefährdet wird«
im $ 1666 wäre besser als der jetzige Wortlaut des $ 1, 3. Selbstverständlich
muß dann auch in $ 135 des Einführungs-Gesetzes zum B. G. B. das Wort »völligen«
gestrichen werden.
Ziehen: Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung. 499
berechtigt und verpflichtet«, aber erstens ist der Kreis der be-
rechtigten und verpflichteten Personen (Landrat, Gemeindevorstand,
Vorsteher der Polizeibehörde) zu eng gezogen, und zweitens ist die
Verpflichtung nicht scharf genug bestimmt.
Was den Kreis der antragberechtigten und antragverpflichteten
Personen anlangt, so ist die jetzige unzweckmäßige Einengung desselben
schon seinerzeit bei der Beratung des Gesetzes beanstandet worden.
Die definitive Fassung, wie sie jetzt vorliegt, ist trotz der schon damals
erhobenen Einwände dem $ 4 Absatz 1 vom Herrenhaus gegeben
worden. Vor allem ist zu vermissen, daß Vater, Mutter,!) Geistlicher,
Schulvorstand, Lehrer und behandelnder Arzt bei dem Anstoß zur
Herbeiführung der Fürsorgeerziehung ganz ausgeschaltet sind. Es
müßte allen diesen Personen wenigstens das Recht zugesprochen
werden, den Antrag auf Prüfung der Notwendigkeit der Fürsorge-
erziehung bei dem Gericht?) zu stellen. Das jetzige Fürsorgerziehungs-
gesetz kennt leider nur eine Kategorie von Personen bezw. Behörden,
die den Anstoß zur Herbeiführung der Fürsorgeerziehung geben können,
nämlich die zum Antrag auf Fürsorgeerziehung Berechtigten und zu-
gleich Verpflichteten. Tatsächlich sind 3 Kategorien zu unterscheiden:
1. die zum Antrag auf Prüfung der Notwendigkeit der Für-
sorgeerziehung Berechtigten,
2. die zum Antrag auf Fürsorgeerziehung Berechtigten,
3. die zum Antrag auf Fürsorgeerziehung Verpflichteten.
Da man die erste Gruppe gestrichen und die zweite mit der
dritten verschmolzen hat, ist man dann — wenigstens teilweise mit
Recht — zu der oben beanstandeten Einengung des Kreises der zum
Antrag zugelassenen Personen gelangt. Man wende nicht etwa ein,
daß der Antrag auf Prüfung (sub 1) jedermann freistehe.®) Mit
diesem Freistehen ist gar nichts geholfen; Arzt, Geistlicher und Lehrer
haben dabei nur dasselbe Recht wie irgend ein Fremder und werden
daher im allgemeinen, wie es auch tatsächlich der Fall ist, da sie
nicht besonders genannt sind, auch nur in den schwersten Fällen
und erst nach langem Zuwarten sich zu einem solchen Antrag auf
Prüfung entschließen. Gegenüber dem oft unvermeidlichen Odium,
das von seiten der Eltern droht, ist eine ansdrückliche Legitimation
1) Ich denke hierbei nicht nur an freiwilligen Entschluß beider Eltern, sondern
vor allem auch an die Fälle, wo entweder nur der Vater oder nur die Mutter von
der Unzulänglichkeit der ausschließlichen Erziehung in der eigenen Familie über-
zeugt ist.
2) Vergl. S. 494 Anm. 1.
3) Die Ausführungsbestimmungen heben dies ausdrücklich hervor.
500 A. Abhandlungen.
garnicht zu entbehren. Dazu kommt endlich, daß das Gericht gar
nicht verpflichtet ist, einem solchen Antrag stattzugeben.!) Auch
glaube man nicht etwa, daß die Trennung von Antrag auf Fürsorge-
erziehung und von Antrag auf Prüfung der Fürsorgeerziehungs-
bedürftigkeit überflüssig sei, da auch der erstere Antrag nur im
Sinne eines Antrags auf Prüfung der Fürsorgeerziehungsbedürftigkeit
gemeint sein könne. Praktisch geht beides weit auseinander. Der
erstere Antrag ist mit weit mehr Odium und mit weit mehr Ver-
antwortlichkeit für die Beibringung des Beweismaterials für den
Antragsteller verknüpft. Wer weiß, welche große Rolle die Furcht
vor den Racheakten der Eltern und vor den Scherereien und Schwierig-
keiten der Beweiserhebung in diesen Angelegenheiten spielt, wird be-
greifen, daß die Unterscheidung der beiden Anträge ganz unerläßlich
ist, um praktische Erfolge zu erzielen.
Es wäre also meines Erachtens dringend wünschenswert, daß
erstens als Personen, die zum Antrag auf Prüfung der Fürsorge-
erziehungsbedürftigkeit berechtigt sind und deren Antrag von seiten
des Gerichts (vergl. S. 494 Anm. 1) stets Folge zu geben ist, ausdrück-
lich genannt werden: Vater, Mutter, behandelnder Arzt, Geistlicher,
Lehrer bezw. Schulvorstand, Erziehungsverein;
zweitens unter den zum Antrag auf Fürsorgeerziehung Berechtigten
auch Vater, Mutter, beamteter Arzt und Schulvorstand
und drittens unter den zum Antrag auf Fürsorgeerziehung Ver-
pflichteten wenigstens auch der beamtete Arzt aufgeführt wird.
Jetzt tritt bei Tausenden (nach meinen Erfahrungen ist das buch-
stäblich zu nehmen) der Antrag auf Fürsorgeerziehung überhaupt
nicht oder zu spät ein, weil der erste Anstoß zu einer Prüfung der
Fürsorgeerziehungsbedürftigkeit zu spät erfolg. Man kann von den
im $ 4 genannten Antragsbehörden gar nicht verlangen und erwarten,
daß sie auch noch die dringend erforderliche Initiative in jedem Fall
rechtzeitig ergreifen.
Zu alle dem kommt noch hinzu — und damit gelange ich zu
dem S. 495 an zweiter Stelle genannten Mangel des $ 4 —, daß die
laut $ 4, 1 antragberechtigten und antragverpflichteten Behörden
durch die Ausführungsbestimmungen geradezu angewiesen werden,
1) Der Kommentar von Noelle (2. Aufl, Berlin 1901) charakterisiert die
jetzige Sachiage ganz richtig durch den Satz: »Da das Vormundschaftsgericht auch
von Amts wegen einschreiten kann und soll, darf es eine durch Angabe von Beweis-
mitteln unterstützte Anzeige nicht unberücksichtigt lassen, zumal, wenn sie von
Behörden oder Beamten ausgeht.« Der von mir gesperrte Satz zeigt ganz
deutlich, daß iu anderen Fällen keine absolute Verpflichtung besteht.
Ziehen: Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung. 501
die Fürsorgeerziehung möglichst lange hinauszuschieben (im einleiten-
den Absatz). Es hängt dies natürlich wieder zum Teil damit zu-
sammen, daß das Gesetz, wie oben erörtert, die Fürsorgeerziehungs-
maßregeln nur in der strengsten Form in Betracht zieht und die
obligatorische Aufsicht in der eigenen Familie nicht mit einschließt
und daß man für die leichten Fälle mit dem $ 1666 auskommen zu
können glaubt, der, wie gleichfalls bereits erörtert, für viele Fälle ver-
sagt. So erlebt man es denn nicht selten, daß Kinder auf ihren sog.
Fugues, d.h. bei ihrem pathologisch bedingtem Fortlaufen usf. immer
wieder polizeilich aufgegriffen werden und doch kein Antrag auf Fürsorge-
erziehung bei dem Gericht erfolgt oder der Antrag solange aufgeschoben
wird, bis die Fürsorgeerziehung zu spät kommt. Es ist daher dringend
zu wünschen, daß diesen Mißständen abgeholfen wird. Dies muß teils
dadurch erreicht werden, daß auch die Berechtigung zum Antrag auf
Prüfung der Fürsorgeerziehungsbedürftigkeit ausdrücklich eingeführt
wird (s. S. 499) und der Kreis der Antragberechtigten und Antrag-
verpflichteten erweitert wird (s. S. 499), vor allem aber auch dadurch,
daß die Verpflichtung zur Antragstellung verschärft wird (vergl. S. 498).
Diese Verschärfung wird allerdings kaum im Gesetz selbst zum Aus-
druck gebracht werden können, sollte aber in den Ausführungs-
bestimmungen zur Geltung kommen. Die Anweisungen zu $ 3 und
4!) in den jetzigen Ausführungsbestimmungen sind nicht ausreichend.
Auch stellen sie schuldhaftes Verhalten der Eltern und normale
(moralische) Verwahrlosung zu sehr in den Vordergrund, so daß die
pathologisch begründete sittliche Gefährdung der psychopathischen
Konstitution und der Debilität ganz zurücktritt. Noch wichtiger ist
natürlich, daß auf dem Verwaltungswege die nachgeordneten Polizei-
und Gemeindeorgane wie auch die Antragsbehörden selbst zu einem
rechtzeitigen Antragstellen angehalten werden. Insbesondere müßten
auch die Vormundschaftsgerichte angewiesen werden, über jeden Fall
verspäteter Antragstellung an die vorgesetzten Verwaltungsbehörden
zu berichten, damit diese die in Betracht kommenden Antragsbehörden
auf die begangene Versäumnis aufmerksam machen und über die
nachteiligen Folgen der letzteren belehren können.
Hat der Fürsorgeerziehungsbedürftige nun aber glücklich einen
Antragsteller gefunden und hat das Vormundschaftsgericht auf Antrag
(oder eventuell auch von Amts wegen) die Fürsorgeerziehung beschlossen,
so sind noch nicht alle Klippen überwunden. Die Ausführung der
Fürsorgeerziehung ist durch das jetzige Gesetz ($ 2), wie sich oben
1) Im Noelleschen Kommentar S. 135 u. 136 angeführt.
502 A. Abhandlungen.
bei Besprechung der straffälligen Minderjährigen ergeben hat, in einen
viel zu engen Rahmen gezwängt. Es fehlt die öffentliche Aufsicht
in der eigenen Familie, wie sie oben ausführlich erörtert wurde,
und es fehlt der ausdrückliche Hinweis auf Heilanstalten. Der
erstere Mangel macht sich bei den nichtstraffälligen Individuen praktisch
sogar noch viel fühlbarer als bei den straffälligen, weil bei Abwesen-
heit einer Strafhandlung eine wichtige Pression auf die Eltern weg-
fällt und es darum doppelt wichtig ist, auch leichtere Maßregeln zur
Verfügung zu haben und das Gesetz seiner rigorosen Form zu entkleiden.
In denjenigen Fällen, in welchen der Verbleib in der eigenen
Familie ausgeschlossen ist, erscheint das Gesetz und seine Ausführung
ausreichend, wenn die Unterbringung in einer anderen Familie be-
schlossen wird. Dagegen weist das Gesetz, wenn nur eine Anstalts-
unterbringung in Frage kommt, die bereits erwähnte Lücke auf, daß
die Heilanstalten nicht ausdrücklich genannt werden. Außerdem aber
scheitert die Ausführung recht oft daran, daß keine genügende
Anstalt zur Verfügung steht.
Es kann nämlich nicht dringend genug betont werden, daß die
ungesonderte Unterbringung aller Fürsorgezöglinge in einer Anstalt
die Erfolge der Fürsorgeerziehung geradezu in Frage stellt. Wie sich
oben ergeben hat, zerfallen die Fürsorgezöglinge in 3 große Gruppen:
1. die Psychopathischen,
2. die Debilen,
3. die normalen lediglich Sittlich-Verwahrlosten.
Die Psychopathen und Debilen verfallen weiterhin infolge ihrer
psychopathischen Konstitution bezw. Debilität oft genug gleichfalls
der sittlichen Verwahrlosung, aber ursprünglich besteht diese Verwahr-
losung sehr oft nicht, sie tritt erst als ein Folgezustand der psycho-
pathischen Konstitution bezw. Debilität auf, wenn keine geeignete
Behandlung eintritt und alle Schädlichkeiten des modernen sozialen
Lebens einwirken. Unser ganzes Bestreben geht auch gerade dahin,
die bedrohten psychopathischen und debilen Minderjährigen schon zu
einem Zeitpunkt einer geeigneten Anstalt zuzuführen (natürlich nur,
soweit überhaupt Anstaltserziehung erforderlich ist), wo eine sittliche
Verwahrlosung noch nicht eingetreten is. Was muß nun geschehen,
wenn wir in einer Fürsorgeerziehungsanstalt, z. B. einer sogenannten
Besserungsanstalt, den Psychopathen bezw. Debilen mit schlechthin
Unmoralischen, die ihre ethische Verwahrlosung lediglich der Ver-
nachlässigung der Erziehung, der Verführung usf. verdanken, zusammen-
bringen? Sie müssen erst recht schwer und rasch moralisch infiziert
werden. Draußen das soziale Leben bietet Verführungen usw. doch
Ziehen: Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung. 503
wenigstens nur in einer gewissen Verdünnung; in solchen gemischten
Anstalten stößt der Psychopath und Debile im Verkehr mit einfach
unmoralischen Zöglingen oft geradezu auf ein konzentriertes Extrakt
der Verführungen, denen er durch seine Anstaltsunterbringung ent-
zogen werden sollte. Die genaueste Aufsicht vermag solche Schädlich-
keiten nicht fernzuhalten. Der günstige Einfluß der erziehlichen
Maßnahmen in solchen Anstalten wird daher in vielen Fällen geradezu
aufgewogen oder sogar noch übertroffen durch die ungünstige Ein-
wirkung der Umgebung. Ich habe mich oft gewundert, daß die Leiter
solcher Anstalten überhaupt noch Erfolge bei Psychopathen und
Debilen erzielten. Selten genug sind sie allerdings nach meinen Er-
fahrungen. Oft genug habe ich die Mutter eines psychopathischen
Kindes weinend klagen hören, daß ihr Kind erst in der Besserungs-
anstalt sittlich verdorben worden sei, Onanieren, Lügen und Stehlen
gelernt habe oder wenigstens »schlechter herausgekommen sei, als es
hineingekommen«. In nicht wenigen Fällen habe ich nach meiner
eigenen Kenntnis des Zustandes im Stillen dieses Urteil bestätigen
müssen.
Dazu kommt auch, daß die erziehliche Beeinflussung in diesen
gemischten Anstalten nicht selten zu wünschen übrig läßt. Man kann
von dem Leiter eines Besserungshauses nicht wohl verlangen, daß er
zugleich volles Verständnis für psychopathische und debile Kinder
hat und die Methoden zur Behandlung und Erziehung dieser Kinder
beherrscht. Man stellt die Leiter solcher Anstalten vielfach vor ganz
unmögliche Aufgaben und sollte sich nicht allzusehr wundern, wenn
der Leiter in dieser verzweifelten Situation schließlich zu ganz
unerlaubten Maßregeln greift, wie es durch einige Skandalprozesse
allgemein bekannt geworden ist.
Ärztlich muß also die Trennung der Debilen und Psychopathen
von den Unmoralischen, wie ich sie kurz nennen will, verlangt werden.
Ebenso dringend ist aber weiterhin auch die Trennung der Psychopathen
von den Debilen. Ich habe diese Notwendigkeit an anderer Stelle!)
so ausführlich auseinandergesetzt, daß ich hier mich auf einige Worte
beschränken will. Der Psychopath und der Debile taugen nicht zu
gemeinsamem Unterricht, da ersterer eine normale, letzterer eine ab-
geschwächte Intelligenz hat. Bei gemeinsamem Unterricht, sofern er
dem Niveau des Debilen angepaßt wird, langweilt sich der Psychopath
und verdummt oder treibt Allotria, oder — wenn der Unterricht der
Intelligenz des Psychopathen angepaßt wird — kommt der Debile
1) Erkennung der psychopathischen Konstitutionen usw. Berlin 1912.
504 A. Abhandlungen.
nicht mit und könnte ebensogut vom Unterricht fortbleiben; wenn
vollends der Unterricht einen Mittelweg einschlägt, lernen beide
Gruppen nichts Rechtes. Ebensowenig aber taugen beide zu gemein-
samem Verkehr. Bei einem solchen geben die Debilen für den
Psychopathen ein willkommenes Material für allerhand Streiche und
Launen ab. In einer Privatanstalt, in der die Zahl der beaufsichtigen-
den Lehrer bezw. Lehrerinnen naturgemäß sehr viel größer ist, mag
diesen Nachteilen noch einigermaßen — obwohl auch nur unvoll-
kommen — gesteuert werden können, in öffentlichen Anstalten ist
dies vielfach ganz ausgeschlossen.
Es sind also dreierlei Fürsorgeerziehungsanstalten erforderlich:
erstens solche für psychopathische!), zweitens solche für debile und
drittens solche für normale unmoralische Fürsorgezöglinge.
Die Einwände, welche man gegen diese Sonderung erhoben hat,
sind sämtlich ganz fadenscheinig.
So hat man behauptet, eine solche Sonderung sei zu kostspielig.
In der Tat ist es natürlich kostspieliger drej getrennte Anstalten für je
100 Psychopathen, Debile und Verkommene zu bauen als eine ge-
mischte Anstalt für 300 Individuen aller drei Kategorien. Was hindert
aber, größere Gebiete, einen Regierungsbezirk oder selbst mehrere
zusammenzufassen und statt dreier gemischter Anstalten für je 300 ver-
schiedenartige Individuen drei Anstalten ebenfalls für 300 Individuen
zu bauen, eine für 300 psychopathische, eine für 300 debile, eine für
300 einfach verkommene Individuen.
Dabei ist zuzugeben, daß schließlich die administrative Ver-
einigung und räumliche Nachbarschaft der drei Spezialanstalten
nicht einmal unbedingt ausgeschlossen ist,?) nur das muß gefordert
werden, daß die drei genannten Kategorien im Unterricht und Ver-
kehr völlig getrennt sind. Auch wird man nur ausnahmsweise
Persönlichkeiten finden, die erzieherisch und unterrichtlich für alle
1) Ich möchte bei dieser Gelegenheit auch ausdrücklich bemerken, daß für nicht
zu schwer psychopathische Kinder sehr oft ein kürzerer, z. B. 2—3 monatiger,
entweder einmaliger oder wiederholter Aufenthalt in einem Heilerziehungsheim aus-
gezeichnet wirkt (etwa entfernt vergleichbar mit den Huysmansschen Retraiten); er
genügt oft, um das Betragen und das Lernen für längere Zeit in normale
Geleise zu lenken. Auch die systematische Abhängigmachung der Aufenthalts-
dauer von dem Betragen im Sinne des sogenannten Meritsystems (vergl. Raecke,
Ztschr. f. Erf. u. Beh. d. jug. Schwachs., 1910, Bd. 4, S. 167) scheint mir wohl in
Betracht zu kommen.
?) Auch die Anfügung an eine Irrenanstalt als selbständiger Adnex kann
ausnahmsweise in Betracht kommen (etwa in demselben Sinne, in dem man eine
»innere« und eine »chirurgische« Abteilung in großen Krankenhäusern vereinigt).
Ziehen: Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung. 505
drei Kategorien ausreichend vorgebildet und erfahren sind. Bei dem
jetzigen Verfahren nimmt man notgedrungen mit halbgeeigneten Kräften
vorlieb und wundert sich dann noch, wenn die Resultate nicht be-
friedigen. Für debile Kinder kommt übrigens außerdem die Auf-
nahme in der Spezialabteilung einer Schwachsinnigenanstalt in Be-
tracht.
Geradezu lächerlich ist der Einwand, daß wegen der Übergangs-
und Kombinationsfälle Spezialanstalten unzweckmäßig oder überflüssig
seien. Oben ist dieser Einwand bereits widerlegt worden. Diese
Übergangs- und Kombinationsfälle sind vor allem viel seltener, als
man am grünen Tisch sich vorgestellt hat. Ich habe bereits früher an-
geführt, daß kaum ein Siebentel der psychopathischen Konstitutionen
mit Debilität kombiniert ist. Die Kombination der psychopathischen
Konstitution und auch der Debilität mit einer sittlichen Verkommen-
heit, die sich von ihrer pathologischen Grundlage schon unabhängig
gemacht hat. ist allerdings bei älteren Psychopathen und Debilen er-
heblich häufiger — aber nur, weil wir die richtige Zeit des Ein-
greifens versäumt haben. Bei der großen Mehrzahl der Psychopathen
und Debilen bleiben etwa bis zum 14. Jahr die auffälligen Hand-
Jungen (das ungeordnete Betragen, die Fugues usf.) noch von der
krankhaften Grundlage abhängig. Erst nach dem 14. Jahr — begreif-
licherweise Hand in Hand mit dem Schulaustritt — macht sich ein
selbständiger ethischer Defekt geltend. die antisozialen Handlungen
haben sich von ihrer pathologischen Wurzel unabhängig gemacht.
Meist kommt dann aber auch ein Eingriff überhaupt zu spät. Gerade
bei der Mehrzahl derjenigen minderjährigen Individuen also, die für
die Fürsorgeerziehung in einer Anstalt die beste Aussicht geben,
nämlich der Kinder von 6—14 Jahren, liegt die gefürchtete Kom-
bination mit einer selbständigen sittlichen Verkommenheit nicht vor,
und eben für diese Mehrzahl wird die Gründung von Spezialanstalten
verlangt, in denen die psychopathischen und debilen Kinder vor
unmoralischer Infektion geschützt sind.
Was im übrigen die Unterbringung der Übergangs- und Kom-
binationsfälle betrifft, so wird man sie je nach dem Überwiegen des
Defekts bezw. der psychopathischen Konstitution bezw. der einfachen
moralischen Verkommenheit auf die drei Spezialanstalten verteilen,
Gegenüber der soeben erörterten Unzulänglichkeit der zur Ver-
fügung stehenden Anstalten wiegt ein anderer Mißstand nicht ganz so
schwer: der Widerstand der Eltern gegen die Anstaltsaufnahme. Vor
allem glaube ich, daß dieser Widerstand wesentlich abnehmen wird,
wenn man die im vorausgehenden nachgewiesenen odiösen Zutaten
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 33
506 A. Abhandlungen.
und die tatsächlichen Mängel des jetzigen Gesetzes beseitigt. Schon
der Name »Heilanstalt« statt »Erziehungs- und Besserungsanstalt«
würde bei debilen und psychopathischen Kindern die Erlangung der
elterlichen Zustimmung — die doch wenigstens in den pathologischen
Fällen stets erstrebt werden sollte — erheblich erleichtern. Überhaupt
kann nicht dringend genug befürwortet werden, daß die ärztliche
Motivierung in allen diesen Fällen vom Vormundschaftsgericht in den
Vordergrund gestellt und die bureaukratisch-offizielle Einkleidung
möglichst zurückgedrängt wird. Es steht gar nichts im Wege, daß
in vielen Fällen das Vormundschaftsgericht einen beanıteten sach-
verständigen Arzt direkt ersucht, die Eltern über die Notwendigkeit
und Zweckmäßigkeit einer Heilanstaltsbehandlung aufzuklären. Ich
habe diese Aufgabe oft übernommen und meistens mit Erfolg gelöst.
Freilich stellt sich hier oft noch ein letzter Mißstand des Gesetzes
in den Weg, der allerdings nichts mehr mit dem ärztlichen Stand-
punkt zu tun hat, aber die ärztliche Tätigkeit in den einschlägigen
Fällen so schwer behindert, daß er auch hier zur Sprache gebracht
werden muß: die Streitigkeit der Kostenfrage!) und der Wider-
spruch zwischen dem Kammergericht und anderen Gerichten
bezüglich der Anwendung des Fürsorgeerziehungsgesetzes an Stelle
des $ 1666 des B.G.B. Erfolgt nämlich die Unterbringung in eine
Anstalt auf Grund des $ 1666, so haben die Armenbehörden (Armen-
verbände) die Kosten zu tragen;?) erfolgt sie hingegen auf Grund des
Fürsorgeerziehungsgesetzes, so fallen die Kosten mit gewissen hier
nicht näher zu erörternden Ausnahmen dem Kommunalverband zur
Last. Nun geht das Kammergericht von der durch den Wortlaut des
Fürsorgeerziehungsgesetzes gewiß gerechtfertigten Auffassung aus, daß
die Fürsorgeerziehung eine besonders scharfe, nur in den schwersten
Fällen (»zur Verhütung des völligen sittlichen Verderbens«) zulässige
Maßregel ist, und weist in seinen Entscheidungen — das Kammer-
gericht ist in Preußen die oberste Spruchbehörde in Angelegenheiten
der Fürsorgeerziehung — auf $ 1666 an Stelle des Fürsorgeerziehungs-
gesetzes hin und legt die Kosten den Armenbehörden auf. Dabei
ist nun sehr mißlich, daß $ 1666 in allen den Fällen versagt (siehe
S. 492), in welchen kein Mißbrauch, Vernachlässigung oder sonstiges
1) Bezüglich des Folgenden verweise ich namentlich auf Vieregge, Die
Zwangserziehung im Handbuch für Jugendfürsorge. Langensalza, Hermann Beyer
& Söhne (Beyer & Mann), 1912. 8.100 ff.
?) Ich setze hier immer den häufigeren Fall voraus, daß die Kosten von dem
Minderjährigen oder seinen Angehörigen nicht oder höchstens teilweise getragen
werden können.
Ziehen: Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung. 507
schuldhaftes Verhalten des Vaters vorliegt, und daß es also schließlich
von dem oft sehr schwierigen und zweifelhaften Nachweis eines solchen
schuldhaften Verbaltens abhängen würde, ob der Armenverband oder
der Kommunalverband die Kosten trägt. Dazu kommt nun, daß der
Standpunkt des Kammergerichts vielfach bekämpft wird. Die Ver-
waltungsbehörden, die Armenverbände, die Vormundschaftsgerichte
berücksichtigen ihn oft nicht, und das Oberverwaltungsgericht als
oberster Gerichtshof für armenrechtliche Streitigkeiten bestreitet gleich-
falls die Verpflichtung der Armenverbände zur Kostentragung.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Ausführuug der vormund-
schaftsgerichtlichen Beschlüsse auf Anstaltsunterbringung durch solche
Streitigkeiten und Widersprüche in der bedenklichsten Weise verzögert
werden kann.!) Vor allem zeigt dieser Mißstand, von dem nach-
gerade gelegentlich auch die Eltern der bez. Kinder Kenntnis erhalten,
daß der $ 1666 B.G.B. und das Fürsorgeerziehungsgesetz nicht nur
die oben erörterten Lücken aufweisen, sondern auch, statt gegenseitig
ihre Lücken zu ergänzen, zu Widersprüchen selbst unter den gericht-
lichen Entscheidungen führen. Hier ist eine definitive einheitliche
Regelung unbedingt erforderlich und dringlich.
Zusammenfassend möchte ich vom psychiatrischen Standpunkt
auf Grund aller dieser Erwägungen folgende Abänderungen der Fürsorge-
gesetzgebung und ihrer Ausführung vorschlagen: ?)
1. Herstellung einer Übereinstimmung zwischen $ 1666 B.G.B.
und Fürsorgeerziehungsgesetz und damit auch Regelung der Kosten-
frage. Die Übereinstimmung kann hergestellt werden entweder
durch Ergänzung des $ 1666 mit Bezug auf die Bedingungen der
Anwendung (Zulassung auch derjenigen Fälle, in denen kein schuld-
haftes Verbalten des Vaters vorliegt, d. h. also namentlich der im
$ 1,3 des Fürsorgeerziehungsgesetzes berücksichtigten Fälle) oder durch
Ergänzung des $ 2 des Fürsorgeerziehungsgesetzes durch Zulassung
auch weniger scharfer Maßregeln (also allgemeinere Formulierung der
1) Sehr drastisch wird dieser unhaltbare Zustand durch eine Entscheidung des
Kammergerichts vom 15. 4. 1910 illustriert, die in den Mitteilungen der Deutschen
Zentrale f. Jugendfürsorge Jahrg. 5, Nr. 4, 8.1 (15. Dez. 1910) abgedruckt ist.
2) Von Reformvorschlägen, welche die Untersuchung der bezüglichen Kinder
betreffen, sehe ich in diesem Aufsatz ab. Die hier und da geforderte Herabsetzung
der oberen Altersgrenze vom 18. auf das 16. Jahr im $ 1 des F.E.G. erscheint
mir vom ärztlichen Standpunkt durchaus nicht so unbedingt vorteilhaft. Vergl.
z. B. auch Bürger, Off. Ber. d. Preuß. Med. Beamten-Vereins f. 1911, Sep.-Abdr.
S. 14 und Kluge, Ztschr. f. Vormundsch., Jugendger. u. Fürsorgeerz. 1910, S. 194.
Man sollte doch wenigstens erst abwarten, ob sich in Sachsen diese dort eingeführte
Herabsetzung bewährt.
33*
508 A. Abhandlungen.
Maßregeln, wie sie jetzt schon im $ 1666 vorliegt) und Milderung
der Bedingungen (Streichung des Wortes »völligen« im $ 1,3). Der
letztere von beiden Wegen ist vorzuziehen;!) $ 1666 könnte dann
ganz wegfallen.
2. Bei Zugrundelegung des Fürsorgeerziehungsgesetzes außer
Streichung des Wortes »völligen« im $ 1 auch ausdrückliche Erwähnung
der Heilanstalten ?) (Heilerziehungsheime für psychopathische Konstitu-
tionen, Schwachsinnigenanstalten für Debile), vor allem ausdrückliche
Hinzufügung der »öffentlichen Aufsicht in der eigenen Familie« oder
mit andern Worten Einbeziehung einer solchen öffentlichen Aufsicht
in der eigenen Familie in den Begriff der Fürsorgeerziehung. Diese
öffentliche häusliche Aufsicht besteht in der obligatorischen Aufsicht
durch einen beamteten Arzt oder auch einen anderen sachverständigen,
gerichtlich beauftragten Arzt (event. auch eine Poliklinik) und durch einen
gerichtlich beauftragten Verein (event. auch einzelne »Fürsorger«).
3. Ausdehnung und Unterscheidung der antragberechtigten und
antragverpflichteten Personen gemäß den Ausführungen S. 22 ff., ins-
besondere auch Ergänzung des $ 55 St.G.B. im Sinne einer Ver-
pflichtung des Gerichts bezw. der Polizeibehörde zur Prüfung der
Fürsorgeerziehungsbedürftigkeit (nach Analogie des $ 56 St.G.B.)
4. Sonderung in Spezialanstalten für psychopathische, debile und
einfach verkommene Fürsorgezöglinge, vor allem also auch Begründung
besonderer Heilerziehungsheime für psychopathische Kinder.
Am wichtigsten sind die Punkte 1, 2 und 4. Die spezielle
Formulierung der Abänderungen des Wortlauts des Gesetzes muß
natürlich ganz den Juristen überlassen bleiben.
Zum Schluß darf ich wohl gegenüber manchen sehr pessimistischen
Beurteilungen,3) welche unser Fürsorgeerziehungswesen erfahren hat,
1) Der jetzt im Preuß. Abgeordnetenhaus vorliegende Antrag Schmedding
auf Abänderung des $ 1, Z. 1 des Fürsorgeerziehungsgesetzes hilft den im Obigen
angeführten Mißständen nicht ab. Er beseitigt den Widerspruch nur äußerlich.
?) Ich vermisse diese übrigens auch im $ 69 des Vorentwurfs des neuen
Strafgesetzbuchs; sie ist erforderlich, da nicht jede psychopathische Konstitution
verminderte Zurechnungsfähigkeit bedingt.
®) Andererseits ist die Berechnung von ca. 70 °/, Erfolgen, welche man für die
Fürsorgeerziehung auf Grund der Statistik des Preuß. Ministeriums des Innern über
das Nachleben der Fürsorgezöglinge (1904—1909) aufgestellt hat, irreführend opti-
mistisch (man hat sogar von 76—86 °/, Geretteten gesprochen). Die Zahl ergibt
sich nämlich nur, wenn man u.a. die geisteskrank gewordenen und die nicht er-
mittelten Zöglinge von der Gesamtsumme abrechnet. Man kann mit größter Wahr-
scheinlichkeit annehmen, daß diese Fälle zum größten Teil als Mißerfolge der
Fürsorgeerziehung zu rechnen sind. Ich fürchte außerdem, daß die Auskünfte der
Familienväter usf. oft zu günstige gefärbt waren. Dazu kommt schließlich, daß die
Beobachtungszeit zu kurz ist.
Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. 509
doch die Überzeugung aussprechen, daß das Gesetz vom 2. Juli 1900
eine zweckmäßige vorläufige Basis geschaffen hat und bei zweck-
entsprechender Weiterbildung und Verbesserung große Erfolge ver-
spricht.
2. Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der
Testmethode.
Von
Franz Weigl, München-Harlaching.
(Schluß.)
II. Der Wert der Testserienprüfung für die Hilfsschule.
Bei der Aufnahme des unten näher zu beschreibenden Materials
haben wir gefunden, daß die Tests fast durchwegs für den Umgang
mit den schwachbeanlagten Kindern unserer Hilfsschulen sehr ge-
eignet sind. Sie vermeiden komplizierte Forderungen und
stellen nur eine bestimmte und wichtige Seite der zu erforschenden
Seite der Intelligenzäußerung in den Mittelpunkt. Ohne schwierige
Instruktionen, in der Form einer Verstandesfrage, wie sie im Unter-
richt dutzendmal fällt, in der Form eines kleinen Auftrages, wie er
auch sonst oft zu erfüllen ist, in der Form einer kleinen Arbeit, wie
sie in der Handfertigkeitsstunde auch oft auftritt, wenden sich die
Tests an die Kinder. Dies ist deshalb sehr viel wert, weil die
Hemmungen und Störungen von selbst ausgeschaltet werden, die bei
Versuchen mit besonderen Vorbereitungen mit all dem »Drum und
dran«e und bei komplizierteren Instruktionen immer vorhanden sind.
Für den Prüfenden kommt dabei — nebenzu bemerkt — die ver-
hältnismäßig einfache Handhabung der Aufnahme seitens des psycho-
logisch geschulten Hilfsschullehrers und die Einfachheit des not-
wendigen »Instrumentariums« vorteilhaft in Frage.
Weiterhin scheint mir bedeutend, daß die Tests der unteren
Lebensjahre ohne weiteres auch leicht mit Kindern durchgeführt
werden können, die neu in die Hilfsschule einzutreten haben. Wir
haben bisher immer die Kinder geprüft. Jeder Lehrer hatte sich auch
eine gewisse Methode dafür zurecht gelegt. Aber es fehlte der ob-
jektive Maßstab, der namentlich auch die Prüfung des einen
Lehrers mit der des anderen, die Feststellung seitens des einen Schul-
körpers mit der eines anderen Schulkörpers z. B. der gleichen Stadt
hätte vergleichen lassen.
Namentlich fehlte dabei dann eine Wertung des Intelligenzdefekts
510 A. Abhandlungen.
selbst, so daß man aus der Prüfung heraus den Grad des Defekts
auch nur einigermaßen hätte feststellen können. Man denke nur
daran, wie sehr schwankend die Grenzen von debil und imbezill,
imbezill und idiotisch immer noch waren, und wie u. a. eben hier
besonders ein objektiver Maßstab und sicherer Gradmesser
für geistige Leistungen abgegangen ist. Wer in den folgenden
Darlegungen die Ergebnisse unserer Untersuchung der Berechnungen
über den Intelligenzquotienten vergleicht und dann überlegt, wie hier
tatsächlich der Maßstab für die Schwachsinnsgrade abgenommen
werden könnte, wird schon deshalb die Aufnahme nach dieser
Methode nicht gering schätzen.
Mit dieser Abwägung ist auch angedeutet, wie wir in den Auf-
nahmen eine Hilfe für den Entscheid, ob Besuch der Hilfsschule
oder Verbleib in der Normalschule zu erfolgen hat, erhalten. Wird
die Aufnahme vorsichtig von einem mit psychologischer Beobachtung
vertrauten Lehrer gemacht, so erhält das pädagogische Urteil des bis-
herigen Klassenlehrers und das medizinisch-psychiatrische Gutachten
des Hilfsschularztes die wertvollste Ergänzung.
Macht der Hilfsschullehrer die Prüfung selbst, so gewinnt er
zudem in der kurzen Zeit der Prüfung eine so vorzügliche Orien-
tierung über die »geistige Struktur« des Hilfsschulkandidaten, daß
er sich die Beurteilung und Behandlung in der Schule wesentlich
leichter machen wird, als wenn er für die Sammlung der besonderen
Eigenschaften einzig auf die gelegentliche Beobachtung verwiesen ist.
Es ist ja ein großer Vorzug der Serienprüfung, daß auch Aufmerk-
samkeit, Auffassungs- und Kombinationsvermögen, Vor-
stellungs- und Begriffsbildung, Urteilsfähigkeit, Gedächtnis,
Ermüdung, Interessenrichtung usw. dabei klar zu erkennen sind,
so daß die ganze Eigenart des Schülers sich in kurzer Zeit vor uns
auftut. Ich selbst habe in meiner Klasse die Erfahrung gemacht, daß
mir einige Seiten der geistigen Eigenart von Schülern erst bei diesen
Testprüfungen zum Bewußtsein kamen, und von Kollegen wird mir
die gleiche Tatsache bestätigt.
In diesem Sinne hat es auch sicher seine Berechtigung wenn
Chotzen in der Zeitschrift »Die Hilfsschule« (1912, Heft 6, S. 162)
in einem Aufsatz über »Die Bedeutung der Intelligenzprüfungs-
Methode von Binet und Simon für die Hilfsschulee schrieb: »Die
Hilfsschullehrer erfahren in einer Untersuchung von 30—40 Minuten
über die sie interessierenden Dinge hier mehr, als sonst in wochen-
langer Beobachtung. In wenigen Stunden sind sie imstande, sich über
alle neu übernommenen Kinder gleich eine vertiefte Kenntnis und
Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. 511
ein zutreffendes Urteil zu verschaffen.« Wie viel dies wert ist, weiß
jeder Lehrer selbst, der die Unzufriedenheit mit der langsamen Orien-
tierung über das Schülermaterial in den ersten Schulwochen einmal
gekostet hat.
Zu dieser Orientierung rechne ich vor allem auch, daß wir durch
die Anwendung dieser Testserien jene Kinder kennen lernen, deren
Zurückbleiben in der Normalschule nicht durch Intelligenzdefekte ver-
anlaßt war — sie zeigen dann normale Leistungen bei den ihrem
Alter entsprechenden Tests —, sondern durch moralische Minderwertig-
keit, Willensdefekte, mangelhafte Erziehung, körperliche Krankheit und
ähnliches. Daß wir diesen Kindern gegenüber in unseren Anforde-
rungen und in der Behandlung von Anfang an klar sehen, scheint
mir außerordentlich wichtig. Die Testserienuntersuchung, wie sie hier
angegeben ist, gibt Gelegenheit gleich am Anfang hier richtig zu
unterscheiden.
Mehr als theoretische Überlegungen kann nun die praktische
Veranschaulichung über die Bedeutung der Aufnahmen sagen. Deshalb
geben wir hier eingehend unsere Resultate wieder. Wenn wir die
Nachahmung empfehlen, so möchten wir indessen ausdrücklich zu
sorgfältigstem Vorgehen raten. Nur dann wird man auch die
erhofften Ergebnisse erzielen. Wir empfehlen deshalb jedem, der die
Aufnahmen nach der hier im allgemeinen gegebenen Beschreibung und
den Verrechnungen machen will, erst eingehend noch die schon er-
wähnten Arbeiten von Bobertag im Bd. III, V und besonders VI der
»Zeitschrift für angewandte Psychologie« zu studieren, damit alle Vor-
sichtsmaßregeln angewendet und die Ergebnisse so einwandfrei werden.
IH. Das Ergebnis der Aufnahmen in der Münchener Hilfs-
schule an der Silberhornstraße.
Das Material, das zur Untersuchung beigezogen war, setzt sich,
wie bemerkt, aus den 4 Klassen der Hilfsschule an der Silberhorn-
straße in München zusammen und zwar in folgender Weise:
Knaben Mädchen Summa
Klase I. . 12 9 21
a M- z 15 7 22
„ IH. . 16 9 25
a IVa 12 13 25
Summa 55 38 93
512
A. Abhandlangen.
Tabelle I.
Die sieben- und achtjährigen Hilfsschüler.
‚eh
E
F=]
ES}
=>
oa
8 jährig
7 jährig
6 jährig
5 jährig
Ordnen 5 Gewichte
Tagesdatum
Erklärung des Bildes
provoziert
BRETTET
Herausgeben 80 Pf,
auf 1 M
Definition durch Ober-
begriffe
1 Hauptpunkt aus der
Zeitungsnotiz
Pa A E T I 1 E E de h a va oh P Da Ge D
PETELEGA TARER
E E E E a E E D a A A a,
3 leichte Verstandes-
fragen
ELLELE TEER EE
4 Hauptfarben
El
Vergleich 2 Dinge aus
dem Gedächtnis
Rückwärtszählen 20—1
Unterschied: rechts - links
Lücken in Zeichnungen
WERTET EEE
UNCERSRETSITIIUZEL
LU FH ET
E ETER ETELA
Münzen 1 Pf. bis 1 M
Behalten 5 Ziffern
Bilder beschreiben
Rechteck aus 2 Dreiecken
a ee
BERBENEREE SZENE ET
| I HHE I a
LILIELELEI+II I++]
Nachsprechen 16 silb.
Sätze
LIII I HHHH] I Een
Drei gleichzeitig erteilte
Aufträge
HEHEHE | a 27
Ästhetischer Vergleich | ++++++ | H+H+H+H+H++++++ |
4 Zahlen behalten
ETHE I IAHT HH +
Definition durch Zweck-
angabe
I a ca |]
4 Pfennig abzählen
+++ I I ++I +++
Nachsprechen 10 silb.
Sätze
Alter
Klasse
HHHH HH HH ++
Te De Te Te TE A elelee]
g wa g E 2
= U PET) Š .. .
a'"sası, ee
© Pagg Snb ELESE
25 SSEL o rl RNE Eu SAnS
EEEE EEEE
“BR n aaa „HAST Enr
Br a ee er
bd od A I ba ha E O uÀ o a A m E a a a A d
=a mnnon M A N na S Noa
- pg pi pj e p p a g
Tabelle II.
Die neunjährigen Hilfsschüler.
10 jährig
9 jährig
8 jährig
Unterschied: rechts - links
Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. 513
Behalten 6 Ziffern
Nachsprechen 26silb. Sätze
6 Erinnerungen aus der
Zeitungsnotiz
Kenntnis aller Münzen
Mit 3 Worten 2 Sätze bilden
Ordnen 5 Gewichte
Tagesdatum
EEE IS het
Erklärung des Bildes
provoziert
Herausgeben 80 Pf. auf 1 M
Definition durch Oberbegriffe
1 Hauptpunkt aus der
Zeitungsnotiz
3 leichte Verstandesfragen
4 Hauptfarben
Vergleich 2 Dinge aus
dem Gedächtnis
Rückwärtszählen 20—1
|
|
|
|
|
|
l
|
LEREN
ERNA A
E O A
ETRNEN
MESAR
IIIT
I=E&1-1-153
Ta a
LECITA
BREMER
=- 411414 H-
=+ — -H+ | — || — |—|—
—|—| — |+—|—|—| — [——
i
|
|
FE
7
|
|
|
+
DORTTAESERESESESBERUSER
TEELE
AREL A kE
I+II HIHI HHHH] I +++
LILII E+I I I+++++I+I II+
+HI+H+I+HIHI I +HHH+H+ I++ I +++
#| Lücken in Zeichnungen | ++++++] || I+I++I+I+IIIILI
‘S| Münzen 1 Pf. bis IM | +++ | ++ +++ I HH +++ HH +++ ++
Behalten 5 Ziffern | I I I IH III IT IHHII II HH
| Bilder beschreiben | | FFF I +44 HH HH HH HH HH
| Rechteck aus 2 Dreiecken| |+} | I | | | 1 +++I+I I ++ HH I I
Š | Nachsprechen 16silb.Sätze| ++ | +++] +1 + I+++++++ 1 | I ++
© Drei gleichzeitig erteilte | I ig tt I+ I +++
Ästhetischer Vergleich | ++++4+4+4++++4++4+++++++ | ++++
ap) Definition dureh Zweck- | LI HI
S| 4 Pfennig abzäblen | H HEHEHEHEH EHEHEH HE HH+Hi+H+
Nachsprechen 10siib. Sätze | +++++++4+ | +++4+4+++++ | +H+H+++
Alter ARMAAAARDANADAFDnn
Klasse HHen
DT E Tee, SERIE a ag a S a S 5
g 2 R-
Sa aa a a E a E a E B wa
© Da n5 ER Ds g= ® e
fz] BB E T r ee-
G gEESSBHSTGESSSSUISLESSESEN
zZ SEATZET52732238338585 Band Sn
RED EB, PA<HEE<«S9a T „47,6
N u ER EEE a N a A eh O-
avyon Ndidi aaa
Nr. SSHÄRNÄSSÄRSHAÄRFSEZFRTEHÄG
AT. AUNANNAWANAFTMAÄMTAÄTMARrTEHEHH
A. Abhandlungen.
514
Tabelle IL
Die zehnjährigen
7 jährig
5 jährig
Unterschied: rechts - links
Lücken in Zeichnungen
It tr tt Hr HH Hr tt HH +++
Münzen 1 Pfennig bis 1 Mark
Behalten 5 Ziffern
Bilder beschreiben
Rechteck aus 2 Dreiecken
Nachsprechen 16 silbiger Sätze
Drei gleichzeitig erteilte Aufträge
HEEZIBEIEEZZIEZZIERZIGEE
HEZZEEIEREEZEIERZEEEGER
HEEZIEEIEEEEENEZZUENESENG
IF HH HH tt HH HH HH HH HH HH HH
HHEZIHEIEEZIEERZESEETENE
+++ I I ++ I HH I HH HH HH A+++
Art HH
Ästhetischer Vergleich
4 Zahlen behalten
Definition durch Zweckangabe
FHtt tt tt HH HH HH HH HH +
I I++H I HH I HH FF HH HH HH HH HH
IF+t+t tt tt HH tt
4 Pfennig abzählen
IF + tt tt tt HH HH HH HH HH HH +
Nachsprechen 10 silbiger Sätze
Alter
Klasse
Name
4
SS2OSOQOSISHZTS2 292939993
m o o o o o o o o Cn E e E a
EL E L E ALIE E, E E i S a E ESNE E E LI E Ah Sa T
34 De N a P 2 Ehe rn ni
S] ao D w g s a0 E
S-E . Te u S T H > 2
283353235292 3833 2435833 5854
Su 5 50; ôg ongo, E- 3S g
JALAR ASSESS SACHER
A E E N E ey NE
jadadda nooinóa t ada P aige
ISSESSZSHÄTFSSSGESZÄSE SON G
nn > ./ 4% 19 IO n0 g O I 0 A DO o oo OS OO DD >
515
Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode.
Tabelle III.
Hilfsschüler.
11 jährig
10 jährig
9 jährig
8 jährig
Kritik absurder Sätze
Wortdurcheinander zu Satz ordnen
Definition abstrakter Begriffe
Mit 3 Worten Satz bilden
Behalten 6 Ziffern
Naehsprechen 26 silbiger Sätze
6 Erinnerungen aus der Zeitungsnotiz
Kenntnis aller Münzen
LERFIERA
wu
VEN
Mit 3 Worten 2 Sätze bilden
Ordnen 5 Gewichte
Tagesdatum
|
|
A aA
|
|
I Re E
LEPI EFT Fer Frl
EFT LET IIFE
Erklärung des Bildes provoziert
Herausgeben 80 Pfennig auf 1 Mark
|
|
HENEHEZEBEIEREZE.
I +++ +++ ++ ++++
Definition durch Oberbegriffe
1 Hauptpunkt aus der Zeitungsnotiz
3 leichte Verstandesfragen
4 Hauptfarben
Vergleich 2 Dinge aus dem Gedächtnis
Rückwärtszählen 20—1
E EEEE AN A TT
IIL+I++I+I II FI II FI +++I +I +]
IF HF Ft HIHI FI FF FF HH tt tt HH HH
HHHHHI ++ I HF tt I HH HH HH HH HH!
IF FF FI I + FI ++ I HH HH HH HH HH |
II+t++ I I I I IF HI tt HH tt HH ++
Tabelle IV.
Die elf-, zwölf- und dreizehn-
A. Abhandlungen.
516
Unterschied: rechts -links ma Ib 2 Me ru a TEI an Wk a a al
ei Lücken in Zeichnungen IH IH I Ft FH HH
# | Münzen 1 Pfennig bis 1 Mark | FI FI FF I FH FFrFe Fr Herr Hr ++
| Behalten 5 Ziffern | LIEFERTE TIEF HT
Bilder beschreiben HH HH HH HH HH HH HH
Rechteck aus 2 Dreiecken Li ELI HEEEEEH+HI EHEH! +++
i pan TI EETENETETEZTISTTEIT TE
© | Drei gleichzeitig erteilte Aufträge SEELE ESENTER SEES EEE
Ästhetischer Vergleich
HHH HEHEHEHEHE HH Hr HH HH HH HH
4 Zahlen behalten DERART re
P Definition durch Zweckangabe HIHI st tt tt HH HH HH HH HH
a TRE E
5 4 Pfennig abzählen a ed ee
Nachsprechen 10silbiger Sätze HIHI ++++++++++++-++4+4+4+4+-4+-+ m
Alter EEE A ee ee E A R
Klasse HS SS EI SE epe EEE SS SE SF pippe
[ie ee
© o
© ER CN N Ai . PEE z f
g N gAn Tus 3
G g 2 -3 8 Eau Fu k 3 Aah
“ 5635552332 585=3533332°8355
= Rn = oDah 208 Fr Au =
‘iS „SESTESHESEFPrSENSSSE533
Ber2mdakäÄnkskimiksHarsdPänauonch
Nr. SERRRERERKRZERBISEHRKEEBÄS
517
Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode.
Tabelle IV.
jährigen Hilfsschüler.
Schwere Verstandesfragen
+|1—
Vergleich 2 Dinge aus Jdem Gedächtnis
BRPABRERERDIENAND TERN Lehel
3 Ergänzung von Textlücken U Kan VO I aa a I a a We iS I a Ka U DR Ra I
> 3 Reime in 1 Minute BEPESEEE REIT PISTEN
| Spontane Erklärung von Bildern ERLITT WLLTLLENT ET IT
Kritik absurder Sätze EE IE FEET I EF T AE RE BE det]
5 Wortdurcheinander zu Satz ordnen PANETTA e E e E Te E a O
i Definition abstrakter Begriffe | I I J I Si SIT
Mit 3 Worten 1 Satz bilden DELTEITITIIPIIT EEE IE EEE EI
Behalten 6 Ziffern E ERREKIE e IT eae
t Nachsprechen 26silbiger Sätze N E Va a N EG Dh a PA Fa S) Itı +1 I I +1
= 6 Erinnerungen aus der Zeitungsnotiz ITALIA EN ATELIER N;
= Kenntnis aller Münzen FRE LFFLLFEISL FF ELF EIFEL FE,
Mit 3 Worten 2 Sätze bilden FILTER ILL FETI RT
Ordnen 5 Gewichte IITFLIPERIFEFFIID Er 11029
= Tagesdatum LELIA +++ I++
3 Erklärung des Bildes provoziert IST FIT I TE
Herausgeben 80 Pfennig auf 1 Mark ILL I IT++++EI FE FF HE +] +++
Definition durch Oberbegriffe a A 1a 3] a Ua Da La La m EN LAN Da Ka LE: GER BD) E LA as o]
1 Hauptpunkt aus der Zeitungsnotiz II +++I1 1) SEP PEFT | ++ HB. I ++
$ 3 leichte Verstandesfragen Hs tt tt tr tt HH HH tt
a 4 Haupfarben ++ ++ tt tr Hr Hat |
$ +1
||
+I +++ tt tet tt tt ++
|
Rückwärtszählen 20—1 +I+FFHr FH HH HH Hr IH I HH |
518 A. Abhandlungen.
Nach dem Alter gruppierten sich die Kinder folgendermaßen:
Knaben Mädchen Summa
q jährig . . 2 1 3
8; ...10 6 16
Doy >a 12 12 24
10? ;. +8,85 -18 7 25
11; TEE: 7 15
12. y ale. 32 5 7
13 , N: — 3
Summa 55 38 93
Ausgegangen wurde bei der Prüfung jeweils von den normalen
Leistungen für das Jahr vor dem Lebensalter des Kindes, sodann
wurde bei Bedarf noch weiter zurückgegriffen und außerdem wurden
auch die Testserien des Lebensjahres geprüft in dem der Prüfling
stand und die eines weiteren Jahres. Nach unten wurden — des
Gesamtüberblickes wegen — die sämtlichen Altersstufen, auch bei
den ältesten Kindern, durchgeprobt. Das Ergebnis ist nun in den
Tabellen I bis IV niedergelegt. Jedes + bedeutet, daß der Schüler
den Test löste bezw. bei mehreren Beispielen die Mehrzahl korrekt
behandelte, jedes — bedeutet fehlerhafte Lösung. Die Namen sind
der Geschlechtsunterscheidung wegen beigefügt, wobei der Hausname
abgekürzt wurde. Es ist durch die Anfügung der Namen leicht auch
der Vergleich der späteren Verrechnungen mit den Grundtabellen
ermöglicht.
Im einzelnen möchte zu den Ergebnissen bei den verschiedenen
Schülern noch folgendes bemerkt werden: Beim Nachsprechen der
Sätze wurde — gerechnet, wenn ein Satz nicht richtig wiedergegeben
wurde. Bei der Definition durch Zweckangaben wurde im Falle un-
überwindlicher Schüchternheit die Angabe provoziert durch die sprach-
liche Hilfe z. B. Die Gabel ist zum —? Das Nachsprechen der Zahlen
erscheint mir als ein nicht ganz einwandfreier Intelligenztest. Es
gibt Kinder mit außergewöhnlich stark entwickeltem akustisch-
mechanischen Gedächtnis; diese sind hier im Vorteil, obwohl sie
intellektuell tief stehen können.
Ich habe in meiner eigenen Klasse aus diesem Grunde mit dem
Zahlenbehalten einen Kontrollversuch gemacht, indem ich auf Grund
tachistoskopischer Auffassung mit der gleichen Expositionszeit,
wie sie das Vorsprechen in Anspruch nimmt, die Zahlen be-
halten ließ; die Abweichung war nur gering. Freilich ist mein Ver-
gleichsmaterial zu klein, es wäre wünschenswert, daß an größerem
Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. 519
Material und zwar auch an normalen Kindern der Kontrollversuch
durchgeführt würde; er ist ja wohl auch geeignet, in die Typen-
veranlagung Einblick zu gewähren. Mein Ergebnis der Vergleiche war:
Richtig wiedergegebene Zahlen bei der
Name akustischen Darbietung visuellen Darbietung
5 6 5 6
D
St. Michael
Z. Karl .
O. Rosa.
I. Johann . . .
Sch. Fritz . . 3 2 _ — 8
Für den ästhetischen Vergleich und die Beobachtung von Lücken
wurden genau die Zeichnungen verwendet, wie sie von Binet-Simon
in L’Année Psychologique Bd. XIV, Paris 1908, S. 29 wiedergegeben
sind. In doppelter Vergrößerung auf eigenen Blättern wurden sie den
Kindern zur Beurteilung vorgelegt.
Sehr leicht fiel den Kindern die Ausführung der 3 Aufträge, da-
gegen sehr schwer die Zusammensetzung des Rechteckes aus den
2 Dreiecken trotz der Vorlage. Wie die Gesamtübersicht zeigt, wurde
dieser Test bis in die oberen Jahrgänge hinauf sehr häufig verfehlt.
Bei diesem Test tritt auch etwas störend in Erscheinung, daß die
Leistung mit + und — nicht ganz richtig gewertet ist. Manche
Kinder lösen die Aufgabe spontan mit einem Griff, dem man das Er-
HeH W W o wm www eo | wm
SO DDOH DOW WII WW WW DD WW w w
jN
J
w a w w w a www www ww wm w
set) AE E E E E E | er
|
|
520 A. Abhandlungen.
fassen der Aufgabe schon gleich ansieht, andere bringen erst nach
langen verschiedentlichen Versuchen die Lösung zustande; beide
müssen mit + gewertet werden, obwohl in der ersten Lösung eine
bedeutend bessere Leistung zu erblicken ist.
Der Test mit dem Beschreiben der Bilder ist sehr zweckmäßig
und hat sich auch bei den Hilfsschülern vorzüglich bewährt. Auf-
fallend ist die Konstanz, die bei manchen Kindern sofort zutage tritt
und den geistigen Tiefstand verrät, indem z. B. das noch auf der
Stufe des bloßen Aufzählens der Teilfiguren des Bildes stehende Kind
nicht einmal durch Zwischenfragen zum Beschreiben zu bringen ist.
Der Rückstand unserer Schüler tritt auch darin zutage, daß die
immerhin deutliche Pointe von einer ganz verschwindenden Zahl nur
erfaßt wird.
Bei dem Test mit der Kenntnis der Münzen und des Tagesdatums
tritt wohl etwas störend auf, daß wir diese Dinge von der I. Klasse
an bereits sehr eifrig üben. Immerhin waren wir überrascht, daß der
Test trotzdem noch brauchbar war, wie die Ergebnisse zeigen. Dies
gilt namentlich auch für das »Herausgeben«. Trotzdem wir fleißig
mit dem Kaufladen rechnen versagten hier sehr viele Schüler, ein be-
sonderer Beweis dann für den intellektuellen Rückstand.
Die Unterscheidung von rechts und links, die mancherorts auf
ihre Brauchbarkeit als Test angezweifelt worden war, habe ich sehr
zweckmäßig gefunden. Dem einigermaßen geübten Lehrer fällt es
nicht schwer ein Zufallsergebnis von dem sicheren Unterscheiden
von rechts und links zu scheiden.
Das Rückwärtszählen ist schon um dessentwillen als brauchbarer
Test anzuerkennen, weil wir Hilfsschullehrer längst selbst die Er-
fahrung gemacht haben, daß wir daraus auf größeren oder geringeren
Defekt schließen können. Ich hatte schon vor der Bekanntschaft mit
der Binetschen Methode das Rückwärtszählen als Prüfungsmittel bei
der ersten Orientierung über einen neueintretenden Hilfsschüler ver-
wendet.
Bei der Lektüre war ich dem Vergleich zweier Gegenstände
skeptisch gegenüber gestanden, die Praxis hat mich gelehrt, daß der
Test vorzüglich ist. In dem Ergebnis tritt auch die Verschiedenartig-
keit der Lösung durch die Schüler je nach größerer oder geringerer
Intelligenz deutlich zutage.
Zur Prüfung der 4 Hauptfarben haben wir ungefähr 12 >< 12 cm
große Quadrate aus Buntpapier in sattem matten Farbenton gewählt.
Die leichten Verstandesfragen brachten überraschend günstige
Resultate zutage. Es kommt dabei eine gewisse praktische Lebens-
Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nách der Testmethode. 521
erfahrung in Betracht, die uns besonders auch erkennen läßt, welche
Schüler sich später im Leben zurecht finden dürften.
Die Schwierigkeit des Auffassens von Gelesenem tritt deutlich bei
der »Zeitungsnotiz« zutage. Dazu kommt bei den Hilfsschülern, daß
sie im 8. Jahr häufig noch nicht imstande sind, die Zeitungsnotiz
zu lesen.
Wie langsam das geistige Reifen vor sich geht, zeigt sich dann
besonders in den schwierigeren Aufgaben der Bildung von Ober-
begriffen, der Bildung eines Satzes aus drei gegebenen Worten, der
Definition abstrakter Begriffe, des Ordnens von verstreuten Wörtern
zu einem Satz, der Kritik absurder Sätze und aller Tests für die
zwölfjährigen.
Es bleibt noch zu erwähnen der Test, der die Ordnung von
5 Gewichten vorsieht. Er ist außerordentlich wertvoll, wenn er sich
in die Prüfung mit den anderen Tests einordnet. Die Ver-
gleichung der Ergebnisse mit denen anderer Tests lehrt uns dies.
Schließlich sei noch erwähnt, daß die Schülerin Nr. 33, B. Anna,
die als neunjähriges Kind noch 3 Tests von der Gruppe der zehn-
jährigen löste auch noch mit der Serie der elfjährigen geprüft wurde,
aber mit negativem Ergebnis bei den 4 Tests; ebenso versagte Nr. 35
H. Jakob bei diesen Tests völlig, obwohl er von denen der zehn-
jährigen noch zwei gelöst hatte. —
Aus dem eingehend in den Tabellen vorgelegten Material habe
ich nun die wesentlichsten Verrechnungen vorgenommen, von denen
im folgenden die wichtigsten Ergebnisse formuliert sind.
Dem Lebensalter (L. A.) wird das Intelligenzalter (I. A.) gegen-
übergestellt. Nach dem Vorgange der bisherigen Arbeiten nach Binet-
Simon, wurde das Kind zunächst der Altersstufe eingereiht, auf der
es alle Tests mit Ausnahme von höchstens einem richtig löste. Bei
dem einen kann angenommen werden, daß momentane Indisposition
das Versagen bedingte. Wird nun auf den höheren Stufen kein Test
mehr gelöst, so bleibt das Kind auf diesem Intelligenzalter fixiert.
Löst es aber von weiteren Altersstufen noch Tests so kommen diese
bis zu 4 nicht Anrechnung. Löst es deren 5 so werden diese als ein
weiteres Jahr zugute gerechnet, und das Kind rückt um 1 Jahr im
I A. aufwärts. 10 weitere Tests würden sogar 2 Jahre ergeben.
Ein Vergleich der ausführlichen Tabellen mit der folgenden Ver-
rechnung veranschaulicht diesen theoretischen Standpunkt. Aus der
Differenz von L. A. und I. A. ergibt sich sodann der Intelligenz-
rückstand (I. R.).
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 34
522 A. Abhandlungen.
Mit gutem Glück wurde von Stern für die Verrechnung der Er-
gebnisse noch der Begriff des Intelligenzquotienten (I. Qu.) ein-
geführt. Er hat den Vorteil, daß er die ziffernmäßige Fixie-
rung des Intelligenzrückstandes unabhängig von der ab-
soluten Höhe des Lebensalters macht und die Verschieden-
heit zum Ausdruck bringt, die verloren geht, wenn nur der
L R. bezeichnet wird, z. B. bei 8jährigen Kindern mit 2 Jahren
I. R. oder bei 12jährigen mit 2 Jahren I. R. Im ersteren Falle ist
natürlich ein größerer Defekt gegeben als im letzteren; die Bezeich-
nung des Rückstandes wäre aber die gleiche. Als Formel für den
T @u. ist zu wählen a Hatz. B. ein achtjähriges Kind 2 Jahre
I. R. so ist sein I. A. 6 Jahre und der I. Qu. %,—= 0,75; hat das
12 jährige 2 Jahre Rückstand, so ist sein I. Qu. 1%/,,—= 0,83. Deut-
lich kommt also zum Ausdruck, daß der Defekt nicht so
groß ist.
Man kommt mit dieser Berechnung sodann sogar zur
Möglichkeit, Dreiviertelsintelligenz zu konstatieren, die
vielleicht als für die Debilität charakteristisch genommen
werden könnte, ferner eine Zweidrittelintelligenz für die
Imbezillen, darunter die Leistungen vonidiotischen und über
0,80 etwa die zweifelhaft Debilen, einfach zurückgebliebenen
Kinder.
Besehen wir die Ergebnisse nach dieser Richtung, so findet sich:
7 jährige:
Nr. Name Klasse L.A. IA. LR. I. Qu.
1. K. Alis . . . L 7 5 2 0,71
2. B. Wilhelm . . L 7 4 3 0,57
3 P. Elsa. ...1I T 4 3 0,57
8jährige:
Nr. Name Klasse L.A. IA LR. I. Qu.
1. H. Andreas. . I 8 6 2 0,75
2. Kö. Johann . I 8 6 2 0,75
3. Ko. Johann . I. 8 5 3 0,63
4. M. Leonhard I. 8 4 4 0,50
5. O. Xaver. I. 8 6 2 0,75
6. S. Elise . I. 8 7 1 0,88
Ta S. Else I. 8 6 2 0,75
8. Sch. Fanny . I. 8 T 1 0,58
Nr.
B
g
(oni
p
@ m wo © Go wo 00 0 \
Name ILA.
H. Fritz .
J. Ludwig
M. Ludwig .
S. Josef .
A. Anna.
Schw. Marie.
R. Fanny.
A. Willy.
I.
EHHHHHHH
ou an
9jährige:
Name Klasse L.A. LA L
B. Johann
B. Karl . .
G. Christian .
Ha. Anna
R. Elise .
Sch. Ernst .
St. Christine.
H. Johann
Ludwig
. Leni .
. Anna.
Fanny.
Hans .
Anna.
Josef .
H. Jakob.
K. Josef .
M. Anton
Sch. Karl.
F. Agathe
Ho. Anna .
Sch. Kathar.
S. Dora .
Th. Sophie
N A AN
E EEEE AEAEE
NEADON NOAN N
BSBEBESHBBBHBEHBFHARRBHTnHnnnn
10 jährige:
Name Klasse L.A. IA. LR.
E. Marie. .. L 10 4 6
Sch. Heinrich . I. 10 7 3
DHDHDDWm W
DDVHWwVvVvP DR RHHHMHDDDRHOID DON ID y
Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode.
I. Qu.
0,75
0,63
0,75
0,75
0,88
0,75
0,88
0,75
I. Qu.
0,78
0,78
0,67
0,67
0,78
0,78
0,44
0,89
0,56
0,78
0,67
0,78
0,89
0,89
0,89
0,89
0,89
0,78
0,56
523
524 A. Abhandlungen.
Nr. Name Klasse L.A. LA. LR. I. Qu.
3. B. Heinrich . . II. 10 8 2 0,80
4. V. Josef I 10 8 2 0,80
5. K. Ludwig u 10 8 2 0,80
6. M. Josef I 10 5 5 0,50
7. R. Robert. . I. 10 6 4 0,60
8. St. Michael . 1 10 8 2 0,80
9. Z. Karl u 10 6 4 0,60
10. O. Rosa e a IE 10 6 4 0,60
11. C. Ludwig . . IL. 10 7 3 0,70
12. Ei. Johann mL. 10 8 2 0,80
13. I. Alfons . II 10 6 4 0,60
14. K. Josef . I. 1 6 4 0,60
15. St. Josef . UI 10 8 2 0,80
16. W. Jose... IL. 1 8 2 0,80
17. Sch. Anna . . IV. 10 8 2 0,80
18. B. Josef . . . IV. 10 8 2 0,80
19. B. Ludwig . . IV. 10 8 2 0,80
20. W. Gottfried. . IV. 10 9 1 0,90
21. W. Hans. . . IV. 10 7 3 0,70
22. B. Fanny. . . IV. 10 7 3 0,70
23. K. Maie. . . IV. 10 9 1 0,90
24 R. Fanny. IV. 10 8 2 0.80
25 W. Marie. IV 10 8 2 0,80
ll jährige:
Nr. Name Klasse L.A. LA. LR. I. Qu.
1. U. Anna . l. 11 7 4 0,64
2. J. Johann. u 11 5 6 0,46
3. Sch. Fritz. z JE 11 6 5 0,56
4. L. Alois . ML 11 8 3 0,73
5. N. Hans . M> 11 8 3 0,73
6. F. Olga DI 11 8 3 0,73
T. P. Anna . II 11 8 3 0,73
8. Z. Frieda . II 11 8 3 0,73
9. F. Johann . W 11 8 3 0,73
10. K. Heinrich. . IV. 11 9 2 0,82
11. S. Ferdinand. IV 11 8 3 0,73
12. F. Auguste IV 11 9 2 0,82
13. H. Therese IV 11 9 2 0,82
14 St. Wally. s EV U 8 3 0,73
15. W. Josef. . . IV. 11 8 3 0,73
Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. 525
12 jährige:
Nr. Name Klasse L.A. LA. LR I. Qu.
1. G. Marie. . . IV. 12 8 4 0,66
2. R. Käthie. . . IV. 12 8 4 0,66
3. W. Lina . . . IV. 12 8 4 0,66
4. R. Michael . . IV. 12 8 4 0,66
5. L. Michael . . IV. 12 10 2 0,83
6. R. Barbara . . IV. 12 8 4 0,66
T. S. Fanny. . . IV. 12 7 5 0,58
13 jährige:
Nr. Name Klasse L.A. LA LR I. Qu.
1. Z. Brunno . . I 13 7 6 0,54
2. F. Adolf . . . IV. 13 8 5 0,62
3. K. Michael . . IV. 13 7 6 0,54
Von diesen Ergebnissen interessiert des ferneren folgende Ge-
samtübersicht, die uns zeigt, daß von den sämtlichen Kindern, wie
wir sie in unserer Hilfsschule hatten, keines zu Unrecht eingereiht
war. Einige zeigten 1 Jahr I.R. und zwar auf der unteren Alters-
stufe, wo dies 1 Jahr noch sehr in die Wagschale fällt, die große
Mehrzahl aber hat dann 2 bis sogar 6 Jahre I. R. Die tabellarische
Übersicht gibt folgendes Bild:
Zusammenfassende Darstellung:
Wie viele Kinder sind im Rückstand um:
te 0 Jahre 1 Jahr 2 Jahre 3 Jahre 4 Jahre 5 Jahre 6 Jahre Summa
Total
7 — — 1 2 — — — 3
8 ne 4 9 2 1 — — 16
9 — 7 9 5 2 1 — 24
10 — 2 12 4 5 1 1 25
11 — — 3 9 1 1 1 15
12 — — 1 — 5 1 — 7
13 — — — — — 1 2 3
Summa — 13 35 22 14 5 4 93
in Prozenten
7 — — 33,3 66,6 — — — 100
8 — 250 56,2 12,5 6,3 — — 100
9 — 29,2 37,5 20,8 8,3 4,2 — 100
10 — 8,0 48,0 16,0 20,0 4,0 4,0 100
11 — — 20,0 60,0 * 6,7 6,7 6,7 100
12 — — 14,3 — 71,5 143 — 100
13 — — — = — 33,3 66,6 100
Samma: — 139 378 237 151 54 44 100
526 A. Abhandlungen.
Das Ergebnis ist vom Standpunkt der Beurteilung der Methode
für die Prüfung von Hilfsschülern aus sehr befriedigend. Die Über-
sicht zeigt, daß wir ein klares Bild über die intellektuelle Verfassung
des Schülers erhalten. Bedenkt man, daß dieses Urteil auf Grund
einer nur 20 höchstens 30 Minuten erfordernden Prüfung gefällt
werden kann, wie ich bei vielen Fällen, in denen ich die Prüfung
vollständig allein vornahm, beobachten konnte, so erhält die Methode
für das Aufnahmeverfahren an unseren Hilfsschulen eine Bedeutung,
die jedenfalls durch weitere Aufnahmen nachgeprüft zu werden ver-
dient. Ich kann es mir nicht versagen noch eine Zusammenstellung
herzusetzen, die geeignet ist die Brauchbarkeit dieser Prüfung zu er-
weisen. Ich hatte vor der Aufnahme schon in meiner eigenen Klasse
die Kinder jeder Altersstufe nach ihrer intellektuellen Beschaffenheit
in eine Reihenfolge vom besten bis zum tiefststehenden Kinde ge-
bracht und erbat auch von jedem Lehrer eine solche Rangierung der
Schüler auf Grund ihrer zum Teil mehrjährigen Beobachtung der Kinder.
Die Übereinstimmung jener völlig unbeeinflußt entstandenen Listen
mit den auf Grund der Testleistungen berechneten Listen war nun
eine zum Teil so überraschend große, daß die Bewährung der Methode
dadurch in günstigstem Lichte erscheint. Wo größere Abweichungen
vorhanden, gaben die Kollegen zu, daß von ihnen die Rangierung
mehr mit Rücksicht auf die Leistung als den wirklichen intellek-
tuellen Stand geschehen war, was naturgemäß besonders auf der
obersten Stufe zum Ausdruck kommt, weil dort schon mancherlei
Fächer behandelt werden. In einigen Fällen wurde auch bei der
nachträglichen Gegenüberstellung zugegeben, daß die Test-Rangierung
richtiger sei, und daß sich der Lehrer geirrt hatte, weil er den Schüler
erst einige Monate in seiner Klasse hatte. In einigen Fällen war
Schwerhörigkeit des Schülers der Grund für die Abweichung. Die
Rangierung habe ich in der Weise vorgenommen, daß ich bis zu der
Altersstufe, die der Schüler normal beherrschen mußte, alle Minus
zählte und nach der Größe dieser Zahl nun ordnete. Wo mehrere
Schüler die gleiche Anzahl von Minus hatten, wurde so verfahren:
1. Wer noch auf einer höheren Altersstufe als der andere ein +
aufwies, erhielt den Vorzug.
2. In weiteren Zweifelsfällen wurden die + und — in den Einzel-
leistungen für die verschiedenen Tests nachgezählt, wobei sich
ja doch eine Verschiedenheit ergab, weil für manchen Test
2—3 Teilleistungen zu verzeichnen waren.
Auf dieser Grundlage ergab sich dann folgendes Bild:
Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode.
Name
K. Alois. .
B. Wilhelm.
P. Elsa .
Schw. Fanny
Kö. Johann .
S. Elise
O. Xaver.
S. Else . .
Ko. Johann .
H. Andreas .
M. Leonhard
R. Elise .
B. Karl
Sch. Ernst
G. Christian .
B. Johann
Ha. Anna
St. Christine .
Sch. Heinrich
E. Marie .
Name
R. Fanny.
A. Anna .
Sch. Marie
H. Fritz . .
M. Ludwig .
S. Josef
J. Ludwig
Hilfsklasse I.
7 jährige:
Zahl der Rang nach der
Minus Testserie
7 1
9 2
9 3
8 jährige:
5 1
7 2
7 3
8 4
10 5
11 6
11 7
18 8
9 jährige:
7 1
8 2
10 3
12 4
13 5
14 6
19 7
10 jährige:
16 1
24 2
Hilfsklasse II.
8 jährige:
Zahl der Rang nach der
Minus Testserie
4 1
5 2
6 5
6 4
7 5
9 6
10 7
Rang beim
Lehrer
1
2
3
oOoowuDpPprAÄ
ı:190Puw-— 1%
Rang beim
Lehrer
ossavrvpvH+
527
528 A. Abhandlungen.
9 jährige:
Name Zahl der Rang nach der Rang beim
Minus Testserie Lehrer
H. Johann 6 1 1
P. Fanny. 9 2 3
Ko. Leni. 9 3 2
K. Anna . 12 4 4
Z. Ludwig 16 5 5
10 jährige:
Kö. Ludwig . 9 1 2
B. Heinrich . 10 2 1
D. Josef . . 10 3 3
St. Michael . 10 4 6
Z. Karl . 16 5 8
R. Robert. 17 6 4
M. Josef . 19 7 5
O. Rosa 19 8 7
11 jährige:
Sch. Fritz. 20 1 1
J. Johann 26 2 2
Hilfsklasse III.
9 jährige:
Zahl der Rang nach der R beim
Name Minus Toeiserio ehren
B. Anna . 5 1 1
H. Jakob . 5 2 2
K. Josef . 5 3 7
L. Hans . 7 4 9
M. Anton. 9 5 3
B. Josef . . 9 6 8
Schw. Kath. . 9 7 10
Th. Sophie 10 8 4
Ha. Anna 12 9 6
S. Dora 12 10 5
F. Agathe 13 11 12
Sch. Karl. 16 12 11
10 jährige:
W. Josef . 1 2
St. Josef . T 2 1
Name
Ei. Johann
C. Ludwig
I. Alfons .
K. Josef .
F. Olga
N. Hans .
P. Anna .
Z. Frieda .
B. Alois .
Name
W. Gottfried.
K. Marie .
B. Ludwig).
R. Fanny.
Sch. Anna
B. Josef .
W. Marie.
W. Hans .
B. Fanny .
H. Therese
K. Heinrich .
F. Auguste
W. Josef .
St. Wally.
S. Ferdinand
F. Johann
Z. Michael
R. Barbara .
Zahl der
Minus
Rang nach der
Testserie
a oa w
11 jährige:
14
16
vAN
Hilfsklasse IV.
10 jährige:
Zahl der
Minus
10
Rang nach der
Testserie
So ou PB umh
NOT POmD-m
12 jährige:
6
15
Weigl: Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode.
Rang beim
Lehrer
3
aD uy Am
Rang beim
Lehrer
oao RAUND
Ponıwo-m[8
1) Ist schwerhörig und deshalb vom Lehrer so abweichend rangiert.
529
530 A. Abhandlungen.
Zahl der Ragg nach der Rang beim
Name Minus Testserie Lehrer
W. Lina. . ..16 3 4
R. Käthie. . . . 16 4 5
R. Michael . . . 17 5 7
G. Marie. . . . 19 6 6
S. Fanny!) . . . 22 7 3
13 jährige:
F. Adolf . . . . 14 1 1
K. Michael . . . 19 2 2
Wer objektiv an die Prüfung dieser Gegenüberstellungen heran-
tritt, wird die relativ große Sicherheit anerkennen, mit der die Test-
untersuchung gearbeitet hat. Vor allem in der Bestimmung der ersten
und letzten Schüler der Reihe besteht fast ausnahmslos Überein-
stimmung, aber auch in der feineren Nuanzierung in der Mitte der
Reihen trifft sie häufig zu. Am meisten Abweichung zeigt natur-
gemäß die oberste, IV. Hilfsklasse, weil hier die sprachliche, rechne-
rische, realistische Differenzierung der Leistungen dem Lehrer die
Aufstellung einer fixen Reihe erschwert.
Wenn ich mit dieser zur Nachahmung gewiß aufmunternden
Übersicht die Arbeit schließe, so möchte ich nur nochmal in Er-
innerung bringen, daß bei der weiteren Nachahmung auch mit
größter Sorgfalt vorgegangen wird. Diese Arbeit konnte nur einen
Überblick über die Untersuchungsmethoden und die Ergebnisse an
unserer Schule in München geben. Für die vielen kleinen Details
zur Vorbereitung auf die Anwendung der Testserie muß das Studium
der gelegentlich angeführten Bobertagschen Beiträge zu der Frage
dringend empfohlen werden.
3. Die experimentelle Ermüdungsforschung.
Von
Marx Lobsien, Kiel.
(Fortsetzung.)
3. Wesen der Ermüdung.
In den bisherigen Ausführungen wurde eine Abgrenzung der Er-
müdung gegenüber der Übermüdung erstrebt. Jetzt möge versucht
werden, das eigentliche Wesen der Ermüdung zu kennzeichnen. Eine
1) Hört nur auf 5 cm Entfernung und hat deshalb bei der Testaufnahme so
auffallend versagt.
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 531
erschöpfende Antwort zwar vermag man heute noch nicht zu geben,
zumal neueste Forschungen geeignet erscheinen, einer wesentlich ver-
änderten Auffassung über das Wesen der Ermüdung Wege zu weisen.
Allgemein gesprochen ist die Ermüdung ihrem Grundwesen nach
ein Verbrauch von Kraftvorräten. Entsprechend den beiden wichtigsten
Arten der Ermüdungssymptome, könnte man, sie als Hindeutungen
wertend, von geistigen und leiblichen Kräftevorräten reden. Die An-
nahme würde in die Irre führen. Von einem Verbrauch, einem Ver-
nichten psychischer Kräfte kann keine Rede sein, die Erfahrung
bestätigt hier vielmehr übereinstimmend lediglich eine Umwandlung
von Kräften, ein Zusammenwirken zu neuen geistigen Erscheinungen
und Formen. Man kann also lediglich auf physischem Gebiete
von einem Kräfteverbrauch sprechen. Damit lehrt man streng ge-
nommen, daß es eine geistige Ermüdung in dem Sinne, daß nur
psychische Kräfte beteiligt wären, gar nicht gibt. Die Ermüdung be-
ruht lediglich auf den körperlichen Grund- und Begleiterscheinungen
des psychischen Geschehens. Die Natur dieser Kräfte ist uns teils
unbekannt, teils sind wir imstande, sie bekannten anzuordnen und
sie zu bezeichnen als mechanische, chemische, elektrische. Ihre letzte
Quelle haben sie psychisch in der Verbrennung kohlenstoffreicher
Bestandteile, die durch den Blutstrom immerfort den Muskeln, Nerven
und dem Gehirn zugeführt werden. In erster Linie sind es die Kohle-
hydrate, die Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff enthalten, die
leicht zerfallen und verbrennen. Sie bilden bei der Verbrennung
Kohlensäure und Wasser. Bei dieser Verbrennung wird Wärme er-
zeugt, die teils in Bewegung umgesetzt, teils vom Körper ausgestrahlt
wird. Die durch die Wärme erzeugte Energie wird teils bei den
Körperbewegungen, teils bei der geistigen Betätigung verbraucht. Bei
jeder Verbrennung bleiben Schlacken zurück, Verfallstoffe, so auch
hier. Sie müssen, wenn sie nicht zu einem Hemmnis werden sollen,
entfernt werden. Andrerseits aber ist notwendig, daß die verbrauchten
Stoffe, Eiweiß, Fett, Kohlehydrate, Wasser ersetzt werden müssen
durch neue Zufuhren. Das geschieht teils durch die Nahrungsaufnahme,
teils durch die Atmung, teils im Körper selbst durch chemische Ver-
bindungen.
Der Verbrauch körperlicher Kräfte ist notwendig verbunden mit
einer Herabsetzung der physischen Leistungsfähigkeit. Diese Herab-
minderung, also die Abnahme, der Verbrauch physischer Kräftevorräte,
hat eine psychische Komponente, eine geistige Begleiterscheinung in
dem Müdigkeitsgefühl. Das Müdigkeitsgefühl ist komplexer Art
und unter dem Einfluß quantitativer organischer Veränderungen, wie
532 A. Abhandlungen.
es scheint in seiner Grundrichtung durch Seitenkomponenten bestimm-
bar. Man hat somit streng zu unterscheiden zwischen der Ermüdung
und dem Müdigkeitsgefühl: Jenes ist eine körperliche, dieses eine
geistige Erscheinung, jenes besteht eben in dem physiologisch be-
dingten Verbrauch und Verfall der Kräfte, dieses ist psychologisch
fundiert. Daß beide verschieden geartet sind, geht mit unwiderleg-
licher Deutlichkeit aus der Tatsache hervor, daß zwischen beiden keine
durchgehende Kongruenz besteht, worauf oben bereits hingewiesen
wurde Es kann tatsächlich Ermüdung bestehen, aber es stellt sich
dennoch kein Müdigkeitsgefühl als Warner ein; andrerseits kann das
Müdigkeitsgefühl sich viel zu früh, ja wohl gleich mit beginnender
Betätigung einstellen und über den tatsächlichen Kräftebestand oft
folgenschwer täuschen. Diese Inkongruenz zwischen Ermüdung und
ihrem Herolde, dem Müdigkeitsgefühl, ist kein natürliches Verhältnis,
es deutet auf nervöse Störungen hin, ja man bezeichnet sie, zumal
die erstere Form, als unfehlbares Kennzeichen vorhandener Neurasthenie.
»Man macht für die falsche Erziehung die Unrast unserer Tage ver-
antwortlich. Liegt doch in unserm hastenden Zeitalter des Dampfes
und der Elektrizität, welches uns zwingt, die Nacht mit heranzuziehen
zu größter Überarbeit und nervenzerrüttenden Vergnügungen, der
Zustand der ‚Ermüdung‘ bei Tausenden keineswegs mehr in den
physiologischen Grenzen, sondern greift nur zu oft und weit hinüber
in das pathologische Gebiet.« Aber auch jene andere Seite der In-
kongruenz ist pathologisch oft zu werten, nur möchte sehr oft die
Wurzel mehr auf seiten der Seele als des Leibes, mehr als Schlaff-
heit des Willens als Energielosigkeit der leiblichen Organe zu werten
sein, mehr als eine Folge falscher Erziehung als die Nachwirkung
kräftezerstörender Einwirkung auf die leiblichen Organe zu deuten sein.
Auf die organische Seite der Ermüdung gesehen, pflegt man die
Ermüdung ursächlich zurückzuführen auf das Entstehen und Anhäufen
schädlicher, hemmender Stoffe, Gifte, Toxine, die nicht schnell genug
fortgeschafft oder vernichtet werden, andererseits auf den Verbrauch
und mangelhaften Ersatz von Ernährungsmaterial, das für den Aufbau
und die Möglichkeit der Funktionen unbedingt notwendig ist. Natür-
lich können beide ursächlichen Umstände gleichzeitig vorhanden sein,
der eine in höherem, der andere in niederem Grade; es ist keines-
wegs notwendig, daß sich beide ausschließen: Ebenso bleibt die Mög-
lichkeit der Erwägung — Prof. Öhrvall deutet darauf hin — daß
zwar das Ernährungsmaterial nicht fehlt, daß es aber noch nicht in
die Form hat umgesetzt werden können, in der es bei der Muskel-
arbeit verwendet werden kann (wie eine Lokomotive stehen bleibt,
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 533
trotz Überfluß an Kohlen, Wasser usw., wenn nach einem bedeutenden
Dampfverbrauch neuer Dampf sich noch nicht genügend hat bilden
können). Man hat die ursächlich verschieden bedingten Ermüdungs-
formen durch eine verschiedene Bezeichnung gegeneinander abzu-
grenzen versucht. Verworn und nach ihm Aschaffenburg, Rievers
und Kraepelin nennen die durch Toxine veranlaßte verminderte
Leistungsfähigkeit Ermüdung, jene aber, die durch einen Mangel an
Ersatzstoffen hervorgerufen wird, bezeichnen sie als Erschöpfung. Die
Bezeichnungen haben keine weitere Verwendung gefunden und sind
auch nicht unbedenklich, wie Öhrvall mit gutem Recht behauptet,
denn man kann sie nicht wohl anwenden, ohne eine bestimmte An-
sicht über die Ursachen zu äußern; die Ursachen aber sind uns bis
heute nicht völlig klar. Auf Grund neuerer Untersuchungen kommt
man immer mehr dazu, zu leugnen, daß der eben als Ursache der
Erschöpfung genannte mangelnde Wiederersatz lebendiger Substanz
tatsächlich besteht; man ist vielmehr der Überzeugung, daß unter
physiologischen Bedingungen ein solcher Mangel, der zur Erschöpfung
führen könne, nur äußerst selten vorkomme. Vielmehr dringt die
Überzeugung durch, »daß verhältnismäßig schnell ein Verbrauch von
Sauerstoff einsetze, der unter physiologischen Bedingungen dem Orga-
nismus nur in beschränktem Maße zur Verfügung steht. Man neigt
daher dazu, die Erschöpfung geradezu als eine Art von Erstickung
aufzufassen. Hierbei häufen sich infolge Mangels von Sauerstoff Er-
müdungssubstanzen in erhöhtem Maße an.«
Die Kenntnis der Ermüdungsstoffe ist erst ganz jungen Datums.
»Man hatte, nach dem Ausspruche Prof. Weichardts, ‚geradezu‘ eine
gewisse Abneigung dagegen, in diese, der allgemeinen Meinung nach,
noch vollkommene terra incognita genauer einzudringen.< Diesem
Forscher verdanken wir nach Mosso, Zeutz, Verworn neue bahn-
brechende Untersuchungen, die geeignet sind, über die physiologische
Seite der Ermüdung, der leiblichen, wie der geistigen, ganz neues
Licht zu verbreiten, und es steht bestimmt zu hoffen, daß sie der
Ermüdungsmessung neue Methoden an die Hand geben werden,
um zu fruchtbaren und exakten Messungen zu gelangen, wie sie
sich für die Schulhygiene unter der tatkräftigen Assistenz des
Berliner Lehrers Friedrich Lorentz, wie bereits erwähnt wurde,
fruchtbar erwiesen haben. Wegen dieser großen Bedeutung der
Weichardtschen Forschung möge erlaubt sein, einen Moment dabei
zu verweilen an der Hand seiner äußerst lichtvollen Darstellung: Über
Ermüdungsstoffe. Zunächst einige historische Vorbemerkungen! Ranke
und hernach Mosso gelang der Nachweis, daß in den Muskeln (und
534 A. Abhandlungen.
wohl auch in den Nerven) Giftstoffe sich ansammelten, und zwar in
den Gefäßen, worauf bereits hingewiesen wurde. Schon Ranke fand,
daß vollständig ermüdete Muskeln, wenn man die Gefäße mit gas-
freier (physivlogischer) Kochsalzlösung durchspülte, wieder auf Reize
reagierten, später Kronecker, daß die Erfrischung, die Entmüdung
viel vollkommener gelang, wenn die Durchspülung mit hypermangan-
saurem Kali oder mit sauerstoffhaltigem Blute vorgenommen wurde.
Verworn fand, daß nach Durchspülung der Gefäße mit physio-
logischer Kochsalzlösung, noch vielmehr aber mit sauerstoffreicher
Durchspülungsflüssigkeit, die ermüdeten Ganglienzellen wieder leistungs-
fähig gemacht werden konnten. Aus diesen Ergebnissen durfte man
offenbar den Schluß ziehen, daß die Ermüdung in ursächlichem Zu-
sammenhang stehen müsse mit gewissen hemmenden Anhäufungsstoffen
in den Organen, denn zugleich mit ihrem Vorhandensein war der
Ermüdungszustand gegeben und nach ihrer Entfernung trat Frische
und Arbeitsfähigkeit wieder ein. Zugleich ging deutlich hervor, daß
bei der Anhäufung und Entfernung dieser Stoffe, die schon Mosso
als Toxine bezeichnete, der Sauerstoff eine wesentliche Rolle spielt
und zwar in dem Sinne, daß sein Mangel eine stärkere Anhäufung,
sein Vorhandensein in größeren Mengen auch eine größere Abtötung
der Giftstoffe im Gefolge hatte. Der Nachweis, daß es sich bei den
Stoffwechselprodukten, den Ermüdungsstoffen um Giftstoffe handelt,
ergibt sich aus folgendem: Spritzt man sie einem nicht ermüdeten
Muskel ein, dann wird, je nach der eingespritzten Dosis, die Arbeits-
fähigkeit alsbald vermindert oder ganz aufgehoben; er verliert seine
Bewegungsfähigkeit und wird starr. Mosso in Turin spritzte einem
Hunde das Blut eines erschöpften Tieres ein, das durch elektrische
Ströme kis zum Starrkrampf ermüdet war, und erzielte eine ähnliche
Erschöpfung, ohne daß das Tier sich irgendwie angestrengt hätte.
Weil nun weiter ähnliche Wirkungen mittels Einspritzung von saurem
phosphorsauren Kali und verdünnter Phosphorsäure gelangen, glaubte
man einen Anhaltspunkt für die Deutung der chemischen Natur des
Giftstoffes gefunden zu haben.
Über die Methode Weichardts zur Gewinnung des Kenotoxins
folgendes: Weichardt gewann das Gift anfangs aus dem Muskelsaft
total ermüdeter Meerschweinchen, die zunächst mittels einer in der
Kreuzbeingegend befestigten Schnur auf einem sehr rauhen Teppich
ununterbrochen rückwärts gezogen wurden, bis sie keine Versuche
machten, nach vorwärts zu laufen. Nun wurden mittels einer Pinzette
Periostreize ausgeübt, die sehr lebhafte Muskelreflexzuckungen hervor-
riefen, also zu erneuter lebhafter Ermüdungstoxinproduktion führten.
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 535
Endlich wurden anfangs durch schwaches, dann als die Atmung still-
stand, durch starkes Faradisieren Reize ausgeübt, um eine möglichst
starke Anhäufung von Ermüdungstoxin unmittelbar nach dem Tode
des Tieres zu erwirken. Weichardts Forschungen hinsichtlich der
Natur des Giftstoffes und seiner Wirkungen mögen kurz skizziert
werden! Der Muskelpreßsaft eines im Ermüdungssopor verendeten
Tieres bewirkt, anderen Tieren eingepreßt, alle Stadien der Ermüdung
entsprechend dem injizierten Quantum. Der Muskelpreßsaft wurde
einem sehr komplizierten und schwierigen Reinigungsprozeß unter-
zogen und so ein Präparat gewonnen, die erste Aufgabe des Reinigungs-
prozesses bestand in der Entfernung der chemisch definierbaren und
dialysablen Stoffwechselprodukte: Milchsäure, Kreatin, Kreatinin, Harn-
stoff usf., die fernere in der Beseitigung von reichlich vorhandenem
Muskeleiweiß. Das übrigbleibende rötlich gefärbte Filtrat wurde im
hohen Vakuum unterhalb 30° rasch zur Trockne gebracht und die
zurückbleibenden gelblichen Schüppchen in evakuierten Glasröhren
eingeschmolzen. In flüssiger Luft aufbewahrt, hielt sich das Präparat
wochenlang wirksam, d. h. eine 10prozent. Lösung desselben ver-
anlaßte, kleinen Tieren injiziert, je nach dem injizierten Quantum, alle
Stadien der Ermüdung, welche mittels unausgesetzter Muskelbewegung
hervorgebracht werden können. — Das Ermüdungstoxin konnte
Weichardt später aus Eiweiß in vitro herstellen, unabhängig vom
Tierkörper. Zunächst gelang ihm, auch aus dem Muskelsaft nicht er-
müdeter Tiere das Toxin herzustellen, dann aus einer ganzen Reihe
von Eiweißarten mittels der verschiedensten Reduktionsmittel toxische
Substanzen herzustellen; für das künstlich in vitro aus Eiweiß abspalt-
bare Toxin wählte er den Namen Kenotoxin. Er versteht darunter
»das Giftspektrum der höher molekularen Eiweißabspaltungsprodukte«.
Prof. Weichardt gelang weiter, die Kenotoxinwirkungen zu be-
einflussen, zunächst in Form der aktiven Immunisierung. Injiziert
man Tieren geringe Kenotoxindosen, spürt man nur geringe Wirkungen,
wählt man große, dann erleiden die Zellen des Versuchstieres große
Schädigungen; es ist in den nächsten Tagen, sofern es nicht an Atem-
stillstand bald verendet, gegen Kenotoxin überempfindlich; wählt man
endlich mittelgroße Dosierungen, die keine dauernde Schädigungen
im Gefolge haben, dann tritt das Stadium der erhöhten Widerstands-
fähigkeit gegen Kenotoxin und der erhöhten Leistungsfähigkeit voll
ein, allerdings erst nach einigen Tagen. Bei geringen Dosen ganz
reinen Kenotoxins ist dagegen die dadurch veranlaßte Erhöhung der
Leistungsfähigkeit bereits wenige Stunden nach der Injektion zu be-
obachten. Das Vorhandensein aktiver Kenotoxinimmunität kenn-
536 A. Abhandlungen.
zeichnet sich durch: größere Lebhaftigkeit, erhöhte Temperatur, größere
Widerstandsfähigkeit gegen Injektion reinen Kenotoxins, erhöhte
Leistungen nach Ausweis der Kymographionkurven. — Eine weitere
Form der Kenotoxinbeeinflussung ist diejenige durch Antikörper. »Es
gelingt, mittels minimaler Mengen eines aus Eiweiß hergestellten
Antikörpers, Kenotoxin zu beeinflussen, dessen Wirkung aufzuheben.«
Das Antikenotoxin bezeichnet Weichardt mit dem Namen Hornigen.
Wieweit möglich sein wird nicht nur mittels des Kenotoxins
und des Hornigens der Ermüdung besonders in der Schule erfolgreich
und ohne schädigende Folgen entgegenzutreten, wieweit es ferner
möglich sein wird, mittels derselben von dem subjektiven Ermessen
des Experimentators unabhängige zuverlässige Meßbestimmungen der
Ermüdung zu gewinnen, muß der Zukunft vorbehalten bleiben; be-
deutsame Ansätze liegen zweifelsohne vor. Möglich ist auch — das
möge erlaubt sein, hier anzumerken —, daß die Kenotoxinprüfungen
ein wertvolles Kriterium zu geben gestatten gegenüber den zahlreich
vorliegenden Methoden zur Erforschung der Ermüdung. —
Wenden wir uns kurz dem Wesen der geistigen Ermüdung zu!
Naturgemäß sind wir hier noch mehr auf die symptomatische Charakte-
risierung angewiesen. Die geistige Ermüdung äußert sich einerseits
in einer Herabsetzung des Umfangs der geleisteten Arbeit, andrerseits
in einer Steigerung ihrer Fehler, also Abnahme ihres Wertes; kurz,
die Ermüdung vermindert das Quantum und die Qualität der Leistung.
Aber auch hier hat die landläufige Meinung, diese Symptome ständen
in geradem Verhältnis zu der wachsenden Ermüdung, also nähmen in
dem gleichen Maße zu wie diese, sich eine Korrektur gefallen lassen
müssen. Es bestehen Inkongruenzen, die sowohl auf die quantitative,
wie auf die qualitative Seite der Leistungen sich beziehen. Achten
wir zunächst auf jene! Die Erfahrung, die experimentelle, aber auch
die sorgsamere vulgäre, hat ergeben, daß Zu- und Abnahme des
Arbeitsumfanges und des Arbeitswertes nicht einander parallel gehen.
Vielmehr kann unter Ermüdungswirkung sehr wohl das Arbeitsquantum
eine anfängliche oder auch länger währende Steigerung erfahren,
während die Fehlerhäufigkeit eine Zunahme, der Arbeitswert also
eine Abnahme zeigt. — Noch deutlicher offenbart sich aber die In-
kongruenz in folgendem: Unter den Forschern herrscht heute noch
nicht völlige Übereinstimmung in der Beantwortung der Frage: Wann
tritt die Ermüdung ein? Diese, die rein logisch erwägend vorgehen,
schließen so: mit dem Eintritt der Arbeit beginnt auch der Kräfte-
verbrauch, folglich muß die Ermüdung sofort mit dem Beginn der
Arbeit einsetzen. Andere schließen in gleichem Sinne, aber auf Grund
— —_ _ |
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 537
experimenteller Erfahrungen. So urteilt Schulze auf Grund seiner
Beobachtungen nach sechsstündiger fortlaufender Arbeit: »Die Muskel-
ermüdung und die geistige Ermüdung bewirken von Anfang an eine
Verminderung der Arbeitskraft, und zwar sinkt die Leistung am An-
fang schneller als später.«c Denen gegenüber stehen andere, die be-
haupten, die Ermüdung setzt nicht gleich ein, sondern erst nach Ab-
lauf eines gewissen Zeitraums, während dessen die Leistungsfähigkeit
wachse. So urteilt die Schule Kraepelins, so auch Weichardt,
der die anfängliche Steigerung erklärt als beruhend auf der Bildung
von Kenotoxin und der durch dieses veranlaßten aktiven Immuni-
sierung.
Bei der Stellungnahme muß man zunächst bedenken, daß ein-
wandfreie Untersuchungen über die Ermüdungswirkungen nur unter
der Voraussetzung möglich sind, daß für die bei dem Versuch ge-
forderten Arbeiten Maximalleistungen zu Beginn der Experimente
gewährleistet werden, d. h. es müssen den Versuchen Übungskurse vor-
aufgegangen sein, die eine maximale Übungshöhe erzielten, andernfalls
ist selbstredend, daß die Übung gegenüber den Ermüdungswirkungen
stark verdeckend auftritt. Des weiteren ist zu bedenken, daß man
zu unterscheiden hat zwischen der Ermüdung und ihren Symptomen.
Man muß wenigstens die Möglichkeit zugeben, daß die Ermüdung
ihre Wirksamkeit begonnen haben kann, bevor ihre Symptome dem
Experimentator deutlich werden. Dazu ist weiter zu bedenken, daß
nahezu überall, wo die Forderung, eine Maximalleistung an den Anfang
der eigentlichen Versuche zu stellen, erfüllt wurde, dennoch ein so-
fortiger Abstieg der Leistungen nicht erkennbar war; es offenbarten
sich gegenüber einem solchen Abstieg Iukongruenzen. Es ist das
Verdienst der Schule Kraepelins, der Ermüdungsforschung durch
den Nachweis dieser Inkongruenzen neue und wertvolle Aufschlüsse
gebracht zu haben, es handelt sich um Inkongruenzen, die gleichsam
neben der Ermüdung einherlaufen, zumeist aber deren Wirkung für
den unbefangenen Beobachter überdecken. Sie werden uns hernach
noch ausführlicher interessieren, deshalb beschränke ich mich an
dieser Stelle darauf, sie nur namhaft zu machen; es handelt sich um
Wirkungen der Übung, der Gewöhnung, der Anregung (Arbeitsbereit-
schaft nennt Kraepelin diese Erscheinung in der Abhandlung über
die Wirkung kurzer Arbeitszeiten. Bd. IV d. psych. Arb.), des An-
triebes. Die meisten dieser Erscheinungen sind deutlicher erst bei
fortdauernder Arbeit nachzuweisen.
Das Fortschreiten der Ermüdungswirkung ist weiter noch be-
einflußbar durch Ursachen, die mehr oder minder von der Arbeit als
Zeitschrift für Kinderiorschung. 18. Jahrgang. 35
538 A. Abhandlungen.
solcher unabhängig sind. Wir kennen sie ihrer eigentlichen Natur
nach nicht genauer, sie sind nur symptomatisch mit hinlänglicher
Gewißheit experimentell nachgewiesen worden. Sie äußern sich formal
als Energieschwankungen in Gestalt der Wellenbewegung und zwar
in periodischer Wellenbewegung. Die Periodizität ist teils in kleineren
Zeitintervallen nachweisbar, teils aber auch über größere Zeitepochen
hinaus. Man hat sie in Parallele gestellt zu andern regelmäßig wieder-
kehrenden Erscheinungen, wie dem täglichen Wechsel in der Nahrungs-
aufnahme, der Periodizität zwischen Ruhe und Schlaf, (am weit-
gehendsten Schuyten) zum Wechsel der Jahreszeiten. Diese
Parallele ist aber eben nichts weiter als eine solche, keine zureichende
Kausalkonstruktion. Auch die allgemeine Charakterisierung: psycho-
physische Energieschwankungen ist vorderhand nur eine nicht ursäch-
liche Bezeichnung gewisser experimentell erwiesener Erscheinungen.
Neben den quantitativen Schwankungen und Nichtübereinstimmungen
sind diejenigen qualitativer Art zu unterscheiden. Man kann sie auf
zwei Hauptursachen zurückführen, eine mehr nach Seite des Objekts, die
andere nach Seite des Subjekts. Zu den ersteren haben wir diejenigen
zu rechnen, die in den spezifischen Schwierigkeitsdifferenzen der ge-
forderten Arbeitsleistungen wurzeln. Die Bestimmung dieser Schwierig-
keitsunterschiede ist nicht ganz leicht, sie differenzieren sich einerseits
nach der spezifischen individuellen Begabung; daneben aber muß da-
mit gerechnet werden, daß ihnen, auch abgesehen von individuellen
Besonderheiten, ein objektiver Schwierigkeitskoeffizient eigen ist,
wenigstens, wenn man eine Gruppe von Prüflingen ins Auge faßt.
Zwar meint Münch in seinem Artikel: Schülertypen (Ztschr. f. päd.
Psych. I), der Versuch, die Lehrfächer nach dem Maße ihrer Schwierig-
keit oder ihrer Übungswirkung schlechtbin abzustufen, müsse als ge-
scheitert gelten, weil viele Bedingungen da modifizierend einwirken,
aber das Versagen gewisser Schüler gegenüber den Anforderungen
des einen oder andern Faches — das könne nicht mit dem Hinweis
auf die fehlende vollere Lehrkunst bestritten werden — sei ein für
sie natürlich gegebenes und endgültiges. »Die mathematischen Köpfe
sind schlechterdings eine andere Art von Geistern, als die mathematik-
feindlichen Freunde der Sprach- und Geschichtsstudien. Im Grunde
zerfallen alle unsere Gebildeten wesentlich in diese beiden Gruppen,
und das scheidet sie beinahe mehr als Nationalität.« Doch braucht
man bei diesem allgemein bekannten Unterschiede nicht zu verweilen
— die Verschiedenartigkeit der Anforderungen muß notwendig auch
eine Verschiedenheit in dem Grade der Ermüdungswirkung bedingen.
Zu diesen vorwiegend objektiv bedingten Bestimmungen der Er-
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 539
müdung gesellen sich subjektive: Unlust, Überdruck, Widerwillen und
ähnliche Feinde einer energischen Willensanspannung.
Rückblickend dürfen wir sagen: Das Wesen der Ermüdung ist
letzten Endes körperlich bedingt. Nach seiner physiologischen Seite
scheint es relativ einfach, ja, vielleicht auf eine eindeutige Grund-
ursache zurückführbar zu sein — nach der psychologischen Seite aber
ist die Ermüdung, so einfach sie in ihrer Wirkung zu bestimmen ist,
eine sehr komplexe Erscheinung, insonderheit infolge der zahlreichen
modifizierenden und überdeckenden Begleitphänomene.
4. Für die Messung besonders wertvolle Symptome.
Im Anschluß an diese Erörterung mögen die Symptome leiblicher
und geistiger Ermüdung dargestellt werden, die sich insonderheit
brauchbar erwiesen haben, zu einem Maßstabe der Ermüdungsintensität
Verwendung zu finden. Dabei handelt es sich naturgemäß um Vor-
gänge, teils physiologischer teils psychologischer Art, teils beider zu-
sammen. Ein Maßstab hat es immer mit etwas quantitativem zu tun,
mithin kommen als symptomatisch quantitative Veränderungen in Be-
tracht solche, die einer quantitativen Veränderung unter dem Einfluß
der Ermüdung fähig sind. Quantitative Veränderungen sind teils
solche, die im Raume, teils solche, die in der Zeit sich vollziehen,
teils aber solche, die auf eine äußere Wirkung als Ursache bestimmter-
Kraftentfaltung beruhen. — Kurz, es kommen solche Symptome in
Frage, auf die in irgend einer Weise die Zahl Anwendung finden
kann, die Bestimmungen des Viel und Wenig. Die meßbaren Äuße-
rungen nach Seite der Extensität in Raum und Zeit und der Intensität
nach Seite der Häufung von Leistungseinheiten gelten als Symptome
für die Energie eines jeweils vorhandenen psychophysischen Kräfte-
zustandes, den man allgemein als Arbeitskraft oder Leistungsfähigkeit
bezeichnet, dessen Äußerung als Arbeit. Die Ermüdung ist nach der
symptomatischen, also quantitativen Seite, die uns bier allein inter-
essiert, eine Herabminderung der Arbeitskraft oder Leistungsfähigkeit,
ein Kräfteverbrauch. Sie muß daher ganz allgemein in den quanti-
tativen Formen zum Ausdruck kommen, die erfahrungsgemäß mit
dem Kräfteverbrauch notwendig verbunden erscheinen: also Ver-
minderung der Zahl der Leistungseinheiten, Verlängerung der Zeit,
Verkürzung des Weges. Nun handelt es sich aber nicht um rein
mechanische-physische Arbeitsverrichtung, sondern zugleich oder nur
um geistige Betätigung, und diese erlaubt keineswegs immer eine rein
mechanische Ausdeutung der Symptome, sondern erfordert jeweils,
daß die richtige Deutung eine Umkehrung des mechanischen Vor-
35*
540 A. Abhandlungen.
zeichens erfährt. Zur Erläuterung erinnere ich an die Schwellen, etwa
der Hautempfindlichkeit, und ihre Beziehung zur Energie der Auf-
merksamkeit. Je geringer die räumliche Entfernung zwischen den
Spitzenabständen, um so größer ist das jeweils vorhandene Quantum
an Aufmerksamkeitskapazität. Nach rein physisch-mechanischer Auf-
fassung mußte das Wahrnehmen entfernter Zirkelspitzen mit mehr
Schwierigkeit verbunden sein als das geringer Distanzen; wenigstens
haben wir uns auf dem Gebiete daran gewöhnt, das als schwieriger
aufzufassen und eine Ausdehnung der Wirksamkeit über einen größeren
Raum als Symptom eines größeren vorhandenen Kräftebestandes zu
deuten. — Hier aber handelt es sich um ein genau umgekehrtes Ver-
hältnis, die geringere Wegstrecke ist Kennzeichen größerer Energie.
Neben diesen zwar umgekehrten aber immerhin einfachen quanti-
tativen Verhältnissen treten bedeutende Komplizierungen dann auf,
wenn die Qualität der geleisteten Arbeit gewertet werden muß. Die
Qualität entzieht sich teilweise einer quantitativen Schätzung, nur die
Zahl der Fehler erlaubt eine schärfere, ihre Art aber großenteils nur
subjektive, also willkürliche Schätzung, Man wird also dann am
sichersten gehen, wenn man entweder gänzlich auf die Qualität der
Leistung verzichtet und lediglich räumliche und zeitliche oder In-
tensitätswerte verwendet. Das kann entweder dadurch geschehen, daß
man die Arbeitsqualität absichtlich ignoriert, aber auch dadurch, daß
man eine so einfache oft geübte Arbeit ausführen läßt, eine Ermüdung
zu erzielen, daß das Fehlermachen ausgeschlossen ist oder doch in so
minimalem Umfange geschieht, daß man dieses Moment vernachlässigen
kann. Allerdings erkauft man die größere Exaktheit mit einer Ver-
leugnung wirklicher tatsächlicher Arbeitsweise des täglichen Lebens.
Will man aber die Wirklichkeitsferne vermeiden, dann muß man
zumeist auf die genaue Maßbestimmung der zeitlichen und räumlichen
Verhältnisse verzichten (wenigstens vertragen sie nur eine gekünstelte,
gewaltsame Einordnung) und sich auf eine Fehlerwertung festlegen.
Alle Ermüdungsmessung, soweit sie bis heute vorliegt,
ist bis zu einem gewissen Grade lebensfern. Sie arbeitet unter
künstlich geschaffenen Verhältnissen und Voraussetzungen, zwar solchen,
die den tatsächlichen Bedingungen der Praxis möglichst nahe zu
kommen trachten, sie aber niemals völlig erreichen können und dürfen,
wenn sie nicht ihre Absicht aufgeben wollen, das Ermüdungsphänomen
experimentell zu erforschen. Die Bedingungen sind in zweifacher
Hinsicht als künstlich zu werten und dementsprechend die Resultate
als Asymptote der wirklichen Verhältnisse, einerseits rücksichtlich des
verwendeten Maßstabes, andrerseits bezüglich der gemessenen Arbeit.
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 541
Verstehen wir unter einem natürlichen Maßstab denjenigen, dem er-
laubt ist, dem eigentlich Wesentlichen (wenigstens für das augenblick-
liche Interesse) des zu Messenden angelegt zu werden, dann unter
einem künstlichen einen solchen, der nur indirekt, auf dem Wege
der Umdeutung das ermöglicht. Künstlich sind aber auch zumeist
die geforderten Leistungen, weil sonst dem Experimentator nicht mög-
lich ist, willkürliche Veränderungen vorzunehmen, die seiner messen-
den Berechnung standhalten. Nach diesem Gesichtspunkte möge unter
den Ermüdungssymptomen eine Auswahl getroffen werden, für die
maßgebend ist ihr Verhältnis zu dem zu Messenden, hier also der zu
messenden Arbeitsleistung. Künstlich, das möge noch einmal zu be-
tonen erlaubt sein, ist das Verhältnis überall bei den Ermüdungs-
messungen, es kommt mithin nicht darauf an zu sondern zwischen
künstlichen und rein natürlichen Maßstäben und Maßmethoden, sondern
Grade der Annäherung zu unterscheiden. Unter den künstlichen Ver-
hältnissen ist offenbar jenes als das am wenigsten lebensferne zu be-
zeichnen, da das Maß ein Teil, eine Einheit der geforderten Arbeit
selber ist. Ich greife ein Beispiel heraus! Will ich mittels des Ergo-
graphen die Muskelenergie des Zeigefingers messend bestimmen, dann
besteht in dieser Beschränkung auf diese eine spezielle Aufgabe
zweifelsohne ein natürliches Verhältnis zwischen Methode des Messens
und der Muskelenergie. Die Anzahl der kg-m bilden Einheiten der
tatsächlich geleisteten Muskelarbeit. Anders aber, wenn ich bei dieser
nächsten engumgrenzten Aufgabe nicht stehen bleibe, sondern beginne,
die Leistung symptomatisch zu werten! Schon wenn aus zahlreichen
Fingerleistungen derselben Person unter verschiedenen äußeren Be-
dingungen, noch mehr aus solchen einer Reihe von Prüflingen ein
Durchschnitt gewonnen und als allgemeingültig angesprochen wird,
hebt man sich von den tatsächlichen Verhältnissen, dem natürlichen
Zusammenhange zwischen Maßstab und Arbeit (Absicht) hinweg. Noch
in einem höheren Maße künstlich wird das Verhältnis dann, wenn
die gefundenen kg-m angesprochen werden als Leistungsausdruck der
physischen Energie des Individuums, gar einer größeren Gruppe von
Einzelwesen oder überhaupt. Aber noch um einen ganz wesentlichen
Schritt ins Lebensferne hinein erhebt man sich dann, wenn man in
der physischen Leistungsenergie des Fingers einen sicheren Maßausdruck
erblickt auch für die geistige Leistungsfähigkeit, die Energiesumme
eines jeweilig vorhandenen geistigen Kräftevorrats. — Das Beispiel
ward aus dem Bereiche der physischen Maßmethoden gewählt. Ich
hoffe meine Meinung noch weiter deutlich zu machen, wenn ich einen
Symptomenkomplex auswähle, dessen qualitativ - quantitative Wert-
542 A. Abhandlungen.
schwankungen als Ausdruck geistiger Leistungsschwankungen Ver-
wendung finde. Wenn mittels Darbietung von visuellen Wortbildern
ohne Sinn eine Prüfung des Gedächtnisses vorgenommen wird, dann
ist das Ergebnis ein Symptomenkomplex, der in engster Beziehung
zu der gestellten Aufgabe steht, er bietet, sofern er mit hinlänglicher
technischer Sorgfalt gewonnen worden ist, in der Tat einen Maßstab
für die Gedächtnisenergie, die im Augenblick des Versuchs bei der
bestimmten Versuchsperson nachweislich war; offenbar werden wir
hier wieder von einem natürlichen Verhältnis reden können. Aber
wenn man den Versuch zu andern Zeiten wiederholt, und in dem
Auf und Ab der gefundenen Leistungen nun nicht einfach einen
Beweis dafür erblickt, daß die Gedächtnisenergie nicht zu allen Zeiten
und unter allen persönlichen Lebenslagen dieselbe, sondern gewissen
Schwankungen unterworfen ist, wenn man über diesen zweifellosen
Tatbestand hinausgeht und nach kausalen Beziehungen sucht, etwa
derart, daß man die Ermüdung und Erholung für die Schwankungen
verantwortlich macht, wenn man dann in der Ursachenkette noch ein
Glied weiter hinaus leitet und für diese Erholung und Ermüdung
Arbeit verantwortlich macht, die inzwischen verrichtet worden ist,
wenn man in seinem Kausalbedürfnis gar bestimmte Arbeiten, be-
stimmte Erholungsweisen verantwortlich macht und nun in den be-
rechneten Gedächtnisleistungen dafür einen mehr oder minder exakten
Ausdruck erblickt, — dann hat sich das Verhältnis entschieden ge-
wandelt, dann ist es kein natürliches mehr, sondern ein recht künst-
liches. Selbstverständlich dürfte man sich mit einer so oberflächlichen
Beziehung in Bausch und Bogen nicht begnügen, sondern muß
genauere Arbeitseinheiten experimentell festlegen und zu den Ge-
dächtnisleistungen in Beziehung setzen — das ändert aber nichts
daran, daß das Verhältnis kein natürliches mehr ist, sondern unter
der Wirkung der Absicht des Experimentators zu einem künstlichen
geworden ist. Das Verhältnis wird noch um ein erhebliches künst-
licher, wenn man für die leibliche Ermüdung denselben Maßstab ver-
werten wollte.
Als Agens können bei der Ermüdungsmessung die verschiedenen
Formen der Arbeit, leibliche wie geistige, Verwendung finden; man
hat aber auch sogenannte Ruhekurven entworfen und spricht auch
dann, obgleich in uneigentlichem Sinne, von einem Ermüdungsagens.
Wenn ich sagte in uneigentlichem Sinne, dann ist daran eine be-
sondere Meinung geknüpft. Von Ruhe kann in einem lebenden Orga-
nismus überhaupt keine Rede sein. Leben heißt schlechterdings wirk-
sam sein, die Ruhe ist das kontradiktorische Gegenteil des Lebens, ist
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 543
nichts mehr und nichts minder als seine Aufhebung, der Tod. Wenn
man also von einem Agens redet, obwohl man dabei die Ruhe im
Auge hat, dann kann darunter nur verstanden sein ein minderer Grad
von Betätigung, ein Arbeiten, das nicht unter die direkten bestimmten
Absichten gestellt ist, das nicht auf eine bestimmte quantitative und
qualitative Leistungssumme innerhalb eines vorgeschriebenen oder vor-
genommenen Zeitraums gerichtet ist, wenn nicht gar auf ein solches,
in das die bewußte Absicht überhaupt nicht eingreift.
Als Agens können, wie gesagt ward, die verschiedenen Arten
geistiger und leiblicher Betätigung Verwendung finden, die ver-
schiedenen Unterrichtsfächer, bestimmte körperliche Übungen, Spiele,
Spaziergänge. Als Reagens bezeichnen wir mit Baade diejenigen Er-
müdungssymptome, die geeignet sind, einen genauer vergleichbaren,
also meßbaren Ausdruck für die Höhe der Ermüdung abzugeben.
Zwischen Agens und Reagens kann man folgende Verhältnisse
obwaltend denken, entsprechend den weiter oben angeregten Gedanken:
Entweder decken sich Agens und Reagens, also das Agens dient zu- -
gleich als Maßstab für die Ermüdung oder aber Agens und Reagens
sind wesentlich verschieden, das Verhältnis zwischen beiden ist ein
künstliches. Im einzelnen bestehen folgende Beziehungen: Das Agens
ist eine leibliche Arbeit, das Reagens ebenfalls, oder das Agens ist
eine geistige Leistungsforderung, das Reagens ebenfalls. Unter diesen
Verhältnissen reden wir von natürlichen Beziehungen. Das Verhältnis
ist aber auch gekreuzt möglich, daß also ein leibliches Reagens zu
einem vorwiegend geistigen Agens oder umgekehrt, ein geistiges
Reagens zu einem leiblichen Agens in Beziehung gesetzt wird.
Die Ermüdungssymptome, die als Reagens Verwertung finden
können, lassen sich in 3 Hauptgruppen sondern, solche die charakte-
risiert sind als eine Verminderung leiblicher, insonderheit muskulärer
Leistungsfähigkeit, solche die als Herabsetzung im strengeren Sinne
psychophysischer Leistungsmöglichkeiten und endlich solche, die vor-
wiegend als Reduzierung geistiger Arbeitsfähigkeit gedeutet werden
müssen. — Blickt man zurück auf die früher gegebene Übersicht,
dann ist unschwer die obige Einteilung durch reichliche Beispiele
aus der praktischen Ermüdungsforschung zu belegen; eine genauere
Darstellung erübrigt sich. (Forts. folgt.)
544 B. Mitteilungen.
B. Mitteilungen.
1. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers
»Grundzüge der erzieherischen Behandlung sittlich
gefährdeter und entgleister Mädchen in Anstalten
und Familien«.
Von Fr. Bergold, Hamburg (Waisenhaus).
(Schluß.)
Hammer glaubt in folgendem einen Beweis gegen die Erziehungs-
anstalten zu bringen.
Punkt 5.
»Unter den 25 Fürsorgemädchen des Fröbelkrankenhauses, die dort
einen Tagesbestand bildeten, befanden sich nach der Beobachtung der
zwischen ihnen lebenden Pflegerinnen 20 Lesbierinnen, 2 Zweifelhafte,
3 Normale. Innerhalb zweier Monate entpuppte sich eines der hier als
normal bezeichneten Mädchen als leidenschaftliche Lesbierin.
Hingegen waren von 131 polizeilich eingelieferten Nichtfürsorge-
mädchen, die an demselben Tage im Fröbelkrankenhause untergebracht
waren, nach Angabe der Pflegerinnen:
Lesbierinnen . . . 50
Zweifelhaft . . . 8
Normal. . ...73
Mit anderen Worten: Rund die Hälfte aller Dirnen betrieb im
Krankenhause die lesbische Liebe.
Von den Fürsorgemädchen waren #/, ausgesprochene Lesbierinnen.
Von den nicht unter Fürsorge stehenden Dirnen waren jedoch nur 50/51
oder 5/,; ausgesprochene Lesbierinnen.«
Man möchte eine solche Beweisführung als naiv bezeichnen, wenn sie
nicht zu ernsten Bedenken Anlaß gäbe. Kehrt sich nicht der Pfeil und
richtet sich gegen den Schützen? Wie kann Hammer die Erziehungsanstalten
für die Unzuchtbetätigung der Mädchen in einem Krankenhause verantwort-
lich machen wollen? Und ist es von einem Mediziner nicht allzu gewagt,
von einem Krankenhause zu berichten, welches seine Insassen sich in der
lesbischen Liebe »leidenschaftlich« betätigen läßt und nicht längst Vor-
kehrungen traf, dieses zu verhindern? Und noch eines sei Hammer zur
Erwägung gegeben: Die Führung der Zöglinge richtet sich zum großen
Teile nach der Persönlichkeit ihres Vorgesetzten; das will sagen: Über
dieselben Zöglinge, die bei einem Erzieher eine musterhafte Gruppe bilden,
kann ein anderer infolge eigener Unklugheit oder Unfähigkeit die leb-
haftesten Klagen führen. Dieser Fall kann z. B. eintreten, wenn ein An-
staltsleiter sein Personal zu ständiger und scharfer Beobachtung der Zög-
linge auf sexuelle Unzucht hin anhält. Nach einer allbekannten Erfahrung,
daß man bei seinen Zöglingen die Fehler finden kann, die man bei ihnen
1. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers Grundzüge usw. 545
sucht, hat die eben genannte Maßnahme des Anstaltsleiters zur Folge, daß
die Zöglinge auf Dinge aufmerksam gemacht werden, von welchen sie
sonst vielleicht ganz unberührt bleiben würden. Dann allerdings vermögen
»die Brutstätten der gleichgeschlechtlichen Entartung«e, womit aber nicht
die Erziehungsanstalten bezeichnet sein sollen, selbst bei dem Nicht-
fachmanne kein Verwundern mehr zu erregen. Der taktvolle Erzieher
jedoch wird seine bezüglichen Beobachtungen nach Möglichkeit verbergen
und verhüten, daß er selbst zur »überwiegend schädlichen Umgebung«
für seine Zöglinge werde.
Doch abgesehen von diesem allen ist anzunehmen, daß die beobachtenden
Pflegerinnen des Fröbelkrankenhauses vielleicht aus Übereifer in den Fehler
der starken Übertreibung gefallen sind. — Meinen Erfahrungen und Er-
kundigungen nach kommen die Fälle lesbischer Liebe in den Er-
ziehungsanstalten auch nicht entfernt so häufig vor, als wie
Hammer sie durch Pflegerinnen in einem Krankenhause hat beobachten
lassen. Den Hammerschen Ausführungen entgegen steht fest, daß unsere
gut geleiteten Anstalten sehr wohl imstande sind, eine weitere Aus-
dehnung der sexuell unzüchtigen Neigungen ihrer Zöglinge (ausschließlich
solcher, die ihres krankhaften Zustandes wegen in eine andere Anstalt
gehörten) nicht nur zu verhindern, sondern ebensowohl den Kampf gegen
dieselben erfolgreich aufzunehmen. Herrschen dennoch in einer Anstalt
sexuelle Ausschweifungen vor, wie Hammer sie vom Fröbelkrankenhause
berichtet, so ist ganz sicher ein gut Teil der Schuld auf das Konto der
ungünstigen Verhältnisse dieser Anstalt zu setzen. nicht aber, wie diese
ungünstigen Verhältnisse sich unter der Regie des Fürsorgeerziehungs-
gesetzes entwickelten, sondern allein, wie die mangelnde Befähigung oder
direkte Unfähigkeit des Anstaltsleiters und -personals sie schufen.
Es sei die Frage nicht unbetrachtet: Zu welchem Zwecke entwirft
Hammer von den Erziehungsanstalten ein solch’ grauenvolles Bild? Ge-
dachte er den Anstalten zu dienen? Durch mancherlei betrübende Vor-
kommnisse in einzelnen Anstalten und durch eine unbegründete Vorein-
genommenheit weiter Kreise sind die Erziehungsanstalten bei der Öffent-
lichkeit und bei verschiedenen einflußreichen Persönlichkeiten in einen üblen
Ruf geraten. Heißt es da angesichts dieses die Interessen der Anstalten
wahren und fördern, wenn man zu andern unbegründeten Verdächtigungen
neue schwerere hinzufügt? Wohl ist jede gerechte Kritik erlaubt,
und jede Ungehörigkeit der Anstalten verdient an den
Pranger gestellt zu werden, wenn anders keine Abhilfe
beschafft wird, doch muß man bei solchem Unternehmen
allseitige und strenge Prüfung anf Wahrheit und Zweck-
mäßigkeit des Vorgebrachten durch den Darsteller voraus-
setzen dürfen. Dieses trifft meines Erachtens bei Hammer nicht zu.
Es wäre vor allem von Hammer zu bedenken gewesen, daß eine
große Anzahl von Zöglingen (männlichen wie weiblichen, Kindern wie
Jugendlichen) bereits vor ihrer Einlieferung in die Anstalt in sexueller
Beziehung nicht einwandfrei gelebt hat. Während diese Zöglinge alle nun
draußen in der Freiheit sich unter der Menge mehr verloren und sich mit
546 B. Mitteilungen.
ihrem Treiben ohne größere Schwierigkeiten ganz oder teilweise der
Beobachtung entziehen konnten, sind sie in der Anstalt eng zusammen-
gerückt und fast jede ihrer Unzuchtsbetätigungen kommt direkt oder in-
direkt ans Tageslicht.) Muß dieses nun unbedingt dafür bestimmend sein,
daß die Anstalten »Brutstätten gleichgeschlechtlicher Entartung« seien?
Meines Erachtens liegt darin gerade der Beweis, daß die Anstalt der rechte
Aufenthaltsort für sittlich sexuell entgleiste Knaben und Mädchen ist. Nicht
nur wird die Öffentlichkeit von unsauberen Elementen gesäubert, sondern
es ist ebenso sehr in der Anstalt die günstigste Gelegenheit gegeben,
die sexuell entgleisten Kinder und Jugendlichen recht zu erkennen und
in geeignete Behandlung zu nehmen. Bedeutet dennoch ihre gemeinsame
Unterbringung mit anderen Zöglingen ein Mangel der Fürsorgeerziehung
(der in einer nächstens erscheinenden Schrift behandelt werden soll), so
ist darauf hinzuweisen, daß das Anstaltswesen noch in der Entwicklung
begriffen ist, vorläufig aber nach Maßgabe seiner Mittel und Kräfte (mit
relativ gutem Erfolge) alles aufbietet, um ein verderbliches Wirken der
sexuell unsittlichen Zöglinge zu verhindern. Bis zur weiteren Klärung
der in Betracht kommenden Verhältnisse aber bleibt es mit Freuden zu
begrüßen, daß die Herausnahme verdorbener Elemente aus der Öffentlich-
keit infolge des Fürsorgeerziehungsgesetzes erfolgen kann.
Zu der bisherigen Beanstandungen Hammers kommen »noch weitere
nicht unerhebliche Einwendungen«.
Punkt 6.
»Die Fürsorgeerziehung wird von den Zöglingen als Strafe aufgefaßt
und stellt eine weit härtere Einwirkung där, als eine einfache Haft von
kurzer Zeit, ja als selbst eine jahrelange Gefängnis- oder Zuchthausstrafe.«
Ohne Frage hat Hammer sich bei der Abfassung seiner Arbeit von
den widersprechendsten Ideen leiten lassen. Man verfolge nur seine ver-
schiedenartige Beurteilung der Fürsorgezöglinge. Dieselben Zöglinge, die
Hammer eingangs seiner Arbeit nicht tief genug verurteilen kann, für
welche er keine Entschuldigung findet, möchte er jetzt vor der Fürsorge-
erziehung bewahrt wissen. Bezeichnend ist die Heranziehung des kind-
lichen Gedankens von der Bestrafung durch die Fürsorgeerziehung zur
kritischen Betrachtung letzterer. Wenn auch irrig, läßt die erwähnte
kindliche Denkungsweise doch einige Folgerichtigkeit erkennen. In An-
sehung ihrer oft nicht wenigen Untaten urteilen die Kinder instinktiv,
daß sie Strafe verdient haben. Erscheint ihnen da vorläufig die Für-
sorgeerziehung als diese verdiente Strafe, so werden sie doch später (wie
dies auch sonst der Fall zu sein pflegt) in der »Strafe« die Erziehung
erkennen.
Um aber ein ungefähres Bild von einer Erziehungsanstalt zu geben
(d. h. nach Hammerscher Schreibweise), sei eine kurze von Hammer zitierte
1) Die Behauptung, daß sexuell unzüchtige Zöglinge in gut geleiteten Anstalten
nicht entfernt soviel ihren Neigungen nachgehen können, wie draußen, bin ich
jederzeit zu beweisen bereit.
1. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers Grundzüge usw. 547
Beschreibung des Zuchthauslebens aus der Feder des Anstaltsgeistlichen
Pastor Huschenbett wiedergegeben:
»Im Zuchthaus herrscht Grabesstille, die Strafgefangenen dürfen mit-
einander überhaupt kein Wort wechseln, die strengsten Lattenarreststrafen
(also Einsperrung in einer mit spitzen Latten belegten Zelle bei leichtester
Kleidung, so daß der oder die Gefangene mit Striemen bedeckt wird;
»humanes« Ersatzmittel für Prügel), stehen auf der Übertretung des
Schweigegebotes, meist arbeiten die Züchtlinge für sich reserviert in den
Einzelzellen. Da sitzt nun z. B. so eine Frau oder ein Mädchen in ihrer
einsamen Zelle von früh bis spät und arbeitet ihr Pensum, immer ein und
dasselbe, dasselbe Stück Militäruniform, dasselbe Stickmuster usw., sie
arbeitet nicht bloß Wochen, nicht bloß Monate, nein viele Jahre lang
immer dasselbe in monotonem Einerlei, in lautloser Grabesstille, ihr eigenes
Denk- und Willensvermögen ist fast vollständig ausgeschaltet; alles ist
genau vorgeschrieben, alles wird kommandiert: Essen, Arbeiten, Spazieren-
gehen, Schlafen, Aufstehen, und so geht’s Jahre, oft viele Jahre lang.«
Und nach solchem wagt Hammer zu sagen: »Die Fürsorgeerziehung
stellt eine weit härtere Einwirkung dar als selbst eine jahrelange Gefängnis-
oder Zuchthausstrafe?!« Das bedeutet doch eine Ausschaltung jeder Sach-
lichkeit und Gerechtigkeit!
Dennoch spricht Hammer in seiner Behauptung etwas Wahrheit,
jedoch nur in bezug auf Zöglinge, die sich jeder Erziehung widersetzen,
weil ein trotziger »Wılle zum groben Ausleben« sie zum strikten »Ab-
lehnen der herrschenden Sittlichkeitsauffassung«e antreibt. Recht mag
Hammer weiter in der Behauptung haben, daß die Fürsorgeerziehung »eine
weit härtere Einwirkung« darstellt, »als selbst eine jahrelange Gefängnis-
oder Zuchthausstrafe«, wenn die Fürsorgeerziehung so geübt würde, wie
er sie unter »Anregungsmittel, Lohn und Strafe« vorschlägt: 1)
»Die Erzieherin beaufsichtigt jeden Handgriff des Zöglings (des trotzig
widerstrebenden) mit dem Stock in der Hand und zieht bei jeder falschen
Bewegung je nach der Schwere des Fehlers einen Hieb über die Schenkel,
die nur ganz leicht bekleidet sein dürfen, ein äußerstes Mittel, das sich
bei Ausbildung von Tänzerinnen und Zirkusmädchen bewährt hat..... 4
»Die einzelne Erzieherin soll im allgemeinen nicht weniger wie drei
Schläge auf einmal und ohne besondere Zustimmung des Leiters der An-
stalt nicht mehr als sechs Schläge, und nicht mehr als zehn Schläge an
einem Tage verabfolgen. Der Leiter der Anstalt kann jedoch nach An-
hörung der Konferenz bis zu zweimal 25 Schlägen als eine zweimalige
Auspeitschung verhängen.«
»Bei der schweren Züchtigung — Auspeitschung — wird der Zög-
ling festgeschnallt; bei der leichten wird er aufgefordert, sich so über
einen Stuhl zu legen, daß die Hände den Erdboden berühren. Nimmt er
die Hände vom Boden weg, so zählt der erteilte Schlag nicht.«
»Damit nicht wiederholt auf dieselbe Stelle geschlagen wird, ist völlige
Entblößung der Haut erwünscht« usw.
1) Eine Kritik der Prügelmethode Hammers ist in der Märznummer 1913 des
Rettungshaus-Boten erschienen.
548 B. Mitteilungen.
Zum Vergleich mit diesen seltsam anmutenden Strafmethoden gebe
ich folgende Erklärung Hammers:
Punkt 7.
»Die oft gehörte Behauptung, die »Kinder« würden vor der Be-
rührung mit Erwachsenen »bewahrte, ist inhaltlich ebenso haltlos wie der
Ausdruck »Fürsorge« irreführend ist, da gemeinsame Haft vieler Jugend-
licher schlimmer wirkt, als die Unterbringung von Jugendlichen unter
Erwachsene zur Verbüßung einer Strafe.«
Kann solche Erklärung wohl etwas anderes beweisen, als daß Hammer
sehr wenige Einblicke in die Wirklichkeit des Lebens genommen hat, desto
mehr sich aber berechtigt fühlt, ein Urteil vom grünen Tisch aus ab-
zugeben? Also die gemeinsame Unterbringung von Kindern mit erwachsenen
Verbrechern selbst schlimmster Sorte in Gefängnissen und Zuchthäusern
ist nicht so gefährlich als die Gruppierung von Kindern zum Zwecke der
Erziehung?! —
Daß es ein Mitzweck der Fürsorgeerziehung ist, die Jugendlichen vor
der entehrenden und schamraubenden Gefängnisstrafe zu bewahren, will
Hammer nicht einsehen, denn
Punkt 8.
»Die Vergangenheit als Fürsorgezögling wirkt dabei ebenso wie eine
Vorstrafe, selbst wenn man davon absehen wollte, daß die Erziehungs-
sträflinge oft nicht nur vor dem Gefängnis nicht bewahrt werden, sondern
auf Veranlassung ihrer Fürsorgeeltern, z. B. der Anstaltsleiter, überhaupt
erst ins Gefängnis verbracht werden. Als Belastungszeugen, ja selbst als
Anzeigende treten diejenigen zum Teil vor Gericht auf, die Elternstelle
an den Zöglingen vertreten.«
Immer mehr zeigt Hammer, wie wenig er mit dem Wesen und den
Praktiken der Fürsorgeerziehung vertraut ist. Daß »die Vergangenheit
als Fürsorgezögling«e wie eine Vorstrafe wirkt, entspricht nur nach der
Hinsicht den Tatsachen, nach welcher Behörden und vor allem das Pu-
blikum mit einiger Vorsicht an einmal Entgleiste hinantreten. Und
niemand wird diese Vorsicht für ungerechtfertigt und für nicht am Platze
halten. Zum anderen aber glaubt, ınan im Gegenteil zu bemerken, daß in
gerichtlichen Angelegenheiten das »in Fürsorgeerziehung gewesen« hin
und wieder als Entlastungsmoment auftritt. Wenn Hammer aber die
Forderung aufstellen wollte, die Fürsorgeerziehung hat unbedingt das
Gefängnis auszuschließen, so würde er sich eines großen Unrechtes gegen
die nicht in Fürsorgeerziehung befindlichen Jugendlichen schuldig machen.
Jene, die oft schon viele Vergehen auf dem Kerbholze haben, sollten vor
letzteren bei gleichen Vergehen straffrei ausgehen, obgleich (Hammer
würde wahrscheinlich »weil«e sagen) ihnen schon einmal die staatliche
Fürsorge zuteil wurde? Wird auch ein Vater seinen Sohn nicht strafen,
weil er ihm schon einmal verzieh? Ich denke, der Sohn, der die Liebe
und Geduld des Vaters mißachtend sich nur noch schlimmerer Vergehen
als der früheren schuldig macht und trotzig im »Ablehnen der herrschen-
den Sittlichkeitsauffassung« verharrt, hat eine weit härtere Strafe verdient
als der, welcher zum erstenmal sündigt. Doch der einseitige Hammer
1. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers Grundzüge usw. 549
kennt keine anderen Fehltritte der Anstaltsjugend als die durch den An-
staltsaufenthalt verschuldete gleichgeschlechtliche Entartung; er kennt nicht
die Lügenhaftigkeit, Verschlagenheit der Zöglinge, ihre Neigung zum
Stehlen, Rauben, Entweichen; ihre revoltierende Gesinnung, die hin und
wieder vorkommenden wörtlichen und tätlichen Angriffe auf die Vor-
gesetzten; die Brandstiftungen und die nächtlichen Überfälle der Zöglinge,
er würde sonst nicht bare Widersinnigkeiten zu »wissenschaftlichen und
Berufszwecken« herausgeben.
Und wer sagt Hammer, daß die, »die Elternstelle an den Zöglingen
vertreten, zum Teil als Belastungszeugen, ja selbst als Anzeigende vor
Gericht auftreten«? Nach seinen eigenen Worten scheide Hammer »das
Amt von der Persone und sehe in dem anzeigenden Anstaltsleiter die
vom Staate eingesetzte Persönlichkeit, die unbekümmert den Zögling nach
Verdienst und Recht behandelt. Im übrigen jedoch ist es Gebrauch, den
Zögling nach Möglichkeit vor dem Angezeigtwerden zu schützen; hat doch
schon die Anstalt, wenn kein anderes, das Interesse, sich nicht selbst vor
den Behörden und der Außenwelt ein schlechtes Zeugnis auszustellen.
Ein Gesamtüberblick über die von Hammer an der Fürsorgeerziehung
und den Anstalten geübte Kritik möchte das Schlußurteil Hammers ver-
muten lassen: Die Fürsorgeerziehung mitsamt den bestehenden Erziehungs-
instituten stellt ein zweckwidriges und darum verfehltes Unternehmen
dar und ist von Grund aus zu verwerfen. Das ist jedoch nicht der Fall.
Hammer findet vielmehr: »Zurzeit ist eine Aufhebung der Fürsorge-
erziehungsgesetze nicht wahrscheinlich. Nachdem dieser Weg einmal be-
schritten wurde, erblicke ich die Hauptaufgabe darin, mitzuarbeiten, um
die möglichst gute Form der Fürsorgeerziehung zu finden, nicht aber in
einseitiger Bekämpfung der Fürsorgeerziehung nutzlos Kräfte zu ver-
schwenden.«
Höchst sonderbar berührt Hammers Auffassung von seiner »Haupt-
aufgabe«. Wie man an keinem Hause, das von Grund auf schief, morsch
und baufällig ist, »nutzlos Kräfte« verschwendet, um es wieder bewohnbar
zu machen, sondern es niederreißt und ein neues an seine Stelle setzt, so
wäre nach allem von Hammer zu erwarten gewesen, daß er für die Für-
sorgeerziehung einen Ersatz schaffte, der lückenlos ein Werk ausführte,
zu welchem bis jetzt noch viele und anerkannt tüchtige Männer
und Frauen als Lebensaufgabe ihr Bestes leisten.
Il. Die Prostitution und einiges andere aus dem Sexualleben
des Menschen.
Die Bestimmung der Ursachen der sittlich - sexuellen!) Entgleisung
ist meines Erachtens eine schwierige Aufgabe Ich mute mir nicht zu,
mich derselben in allseitig zutreffender und umfassender Weise ent-
ledigen zu können, doch halte ich es nicht für unmöglich nachzuweisen,
daß die Hammersche Feststellung der »Hauptursache zur sittlichen Ent-
1) Ich halte die nähere Be:timmung »sexuell«e für unerläßlich; die »sittliche«
Entgleisung (siehe Hammer) ist ein zu weit gefaßter Begriff.
550 B. Mitteilungen.
gleisung« höchst einseitig und irrig ist.!) Nicht soll dies geschehen,
um überhaupt Hammer eines Irrtums zu überführen, sondern um die
Schlußfolgerung ziehen zu können, daß seine auf einer falschen Voraus-
setzung aufgebaute Erziehungstheorie unhaltbar und die an den staat-
lichen und privaten Fürsorgeerziehungseinrichtungen geübte Kritik un-
berechtigt ist. Der Nachweis zu letzterem Umstande ist zum Teil schon
erbracht, er wird lediglich noch einiger Ergänzungen bedürfen; dagegen
wird die Besprechung der Unhaltbarkeit der Hammerschen »neuen« Er-
ziehungstheorien im nächsten Abschnitt erfolgen. Die Aufgabe dieses Kapitels
ist die Betrachtung der Auffassung Hammers von der Prostitution und
einigem anderen aus dem Sexualleben des Menschen.
Scheinbar unverfänglich mutet die Behauptung Hammers an: »Die
Hauptursache zur sittlichen Entgleisung und zur gewerbeartigen
körperlichen Preisgabe ist der Wille zum groben Ausleben.«
Gewiß leben die Dirnen anscheinend unsagbar gleichmütig und gleichgültig
dahin, sie frönen einem Laster, von welchem sie und alle Welt wissen,
daß es die Beteiligten zu Menschen 2., 3. und 4. Grades macht. Und
doch lassen sie nicht von ihm. Warum nicht? Weil sie nicht anders
wollen, sagt Hammer; weil sie nicht anders können, sagen andere.
Wer spricht die Wahrheit? Diese zu finden ist meines Erachtens für das
Werk der Fürsorge für die Entgleisten und Gefallenen unbedingt notwendig.
Von alters her und bei allen Völkern ist die Prostitution ein Spiegel-
bild »der herrschenden Sittlichkeitsauffassung« von Männern und Frauen
und des jeweiligen Standes der sexuellen Frage in allen ihren Beziehungen
gewesen. Soll demnach von der Prostitution als von einer »Schuld« ge-
redet werden, so kann dieses für die überwiegend meisten Fälle nicht in
der Bedeutung einer persönlichen Schuld einzelner geschehen, sondern es
ist auf eine Schuld der gesamten Menschheit zu erkennen. Weiter ist
es meines Erachtens ein Zeichen von unberechtigter Selbstverherrlichung
des männlichen Geschlechtes und vom Fehlen des rechten objektiven
Blickes über die Gesamtlage der Prostitution, den »Willen (der einzelnen
Frau nämlich) zum groben Ausleben« als die »Hauptursache zur sittlichen
Entgleisung« hinzustellen. Ganz sicher machen sich die Männer nicht
nur durch die Inanspruchnahme der Prostitution zur Befriedigung ihrer
geschlechtlichen Bedürfnisse oder ihrer perversen Neigungen mitschuldig,
sondern sie sehen ebensowohl in der verdammungswürdigen Zubälterei,
dem Kinderhandel, der Kuppelei und maßlosen Ausbeutung der Pro-
stituierten oft genug ein »einträgliches Geschäfte.
Hammer beklagt sich darüber, daß ihm von den Gegnern seiner
Anschauung auf seinen »höflichen Briefe um eine Erklärung keine Ant-
wort geworden sei. Den Grund des gegnerischen Stillschweigens halte
ich für sehr offensichtlich und füge ausdrücklich hinzu, daß vorliegende
Zurückweisung der Hammerschen Ausführungen nur aus dem eingangs
erwähnten Grunde geschieht. Für alle anderen Fälle richtet sich Hammers
Ausspruch selbst. —
1) Ich stütze mich in den nachfolgenden Ausführungen auf eigene Beobachtungen
und vor allem auf Schriften anerkannter Fachleute.
1. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers Grundzüge usw. 551
Offenbar versteht Hammer nach religiöser (?) Anschauung unter dem
Willen des Menschen dessen Befähigung, in jeder Beziehung und in vollster
Unabhängigkeit von allen umgebenden Personen, Verhältnissen und Um-
ständen in bezug auf Vornahmen und Handlungen usw. beliebig zu wählen
und zu entscheiden und aus sich selbst heraus den Antrieb (d. h. des
Willens) zur Inangriffnahme und möglichen Durchführung des Erwählten
zu gewinnen. Sodann unterscheidet Hammer einen sittlich guten Willen
bei einem Menschen, der bestrebt ist, der geltenden Sittlichkeitsauffassung
entsprechend zu leben, im anderen Falle einen nach unseren Begriffen
unsittlichen Willen, der seinem Träger zur Sünde gereicht.
Wie aber will Hammer sittlich und unsittlich an ihren Grenzen
unterscheiden? Und sind nicht beide Begriffe höchst wandelbar und
fließend? Wir verurteilen z. B. Handlungen, die bei anderen Völkern und
zu anderen Zeiten nach den geltenden Sittlichkeitsgesetzen geboten waren.
Und indem ich dies schreibe und Hammers Schrift eine unsittliche nennen
muß, weil sie meines Erachtens durch unwahre Angaben und Berichte
Personen und Einrichtungen übel beleumundet und schwer schädigt, glaubt
mein Partner mit seiner Arbeit einen Akt der Sittlichkeit ausgeführt zu
haben, indem er sich berufen und verpflichtet fühlte, seine Stimme zum
Besten einer großen Aufgabe zu erheben. Es ließe sich also lange hin und
her streiten, ohne daß man zum Ziele käme. Das eine aber wird selbst
Hammer zugeben müssen, daß der »unsittliche«e Wille wenigstens zum
großen Teile in dem Fehlen der Momente beruht, die den Willen des
Menschen erst zu einem »sittlichen« machen. Diese Momente aber sind
überwiegend solcher Art, daß ihr Mangel dem einzelnen Individuum nicht
zum Vorwurf gemacht werden kann. Trifft dieses aber zu, so hat ein
Gleiches auch für die Folgen besagten Mangels Geltung. Hierbei muß der .
Einwand: Der gereifte Mann und die gereifte Frau verfügen über Er-
fahrungen und haben eine tiefere Einsicht, so daß selbst der Mangel
bildender Einflüsse während der Kindheit wieder wett gemacht werden
kann, fast ganz unberücksichtigt bleiben, wenn die Verhältnisse in der
Kindheit und Jugend derartig anhaltend ungünstig wirkten, daß sie un-
löschbare Spuren bei dem betreffenden Menschen hinterließen. Es bleibt
eben zu bedenken, daß ein jeder Mensch das Produkt seiner persönlichen
und äußerlichen Verhältnisse ist.
Für meine Erziehungspraxis leitet mich der Grundgedanke: Es gibt
keinen unsittlichen Willen, sondern nur ein Fehlen des sittlichen
Willens. Dieser Grundsatz läßt den Erzieher gegen die sittlich
Schwachen und Entgleisten gerecht und milde verfahren und hilft ihm,
seinen Zöglingen auf ihren Wegen nachzuspüren und nach Auffindung
der Ursachen ihrer Entgleisung die rechten Mittel zur Heilung zu wählen.
Eine zutreffende Charakteristik der ihrer Obhut übergebenen weib-
lichen Polizeigefangenen gibt meines Erachtens die Stuttgarter Polizei-
assistentin Henriette Arendt in ihrem Buche: »Menschen, die den Pfad
verloren ...«. Unter der Überschrift: »Die verschiedenen Gruppen von
weiblichen Polizeigefangenen« unternimmt die genannte Schriftstellerin
eine Einteilung der weiblichen Polizeigefangenen in drei Gruppen.
552 B. Mitteilungen.
»Die erste Gruppe bilden diejenigen, die man gewöhnlich als
»Gefallene« im weitesten Sinne bezeichnet, das heißt solche, die in einer
von schädlichen Einflüssen ziemlich freien Umgebung aufgewachsen und
dann durch Überredung, Leichtsinn und Vergnügungssucht auf Irrwege
geraten und »gefallen« sind.
»Zu der zweiten Gruppe gehören diejenigen, die ohne besondere
Anlage zum Leichtsinn in unglückliche Verhältnisse gerieten, sich nicht
wieder emporarbeiten konnten und dann im reißenden Strom des Lebens
Schiffbruch litten.
»Zu der dritten, der Hauptgruppe, gehören diejenigen, die
nicht ‚gefallen‘ sind, auch nicht durch Not und Unglück Schiffbruch
gelitten haben; es sind die erblich Belasteten, von dem Schicksal
grausam Enterbten, prädisponiert für ein Leben voll Sünde und Elend.e
Niemand wird sich der ergreifenden Wahrheit solcher Darstellungen
und der gleichzeitig eingefügten Beispiele aus dem Leben verschließen
können; sie führt herzbewegend vor Augen, wie sehr der Mensch ein
gebundener Sklave seiner persönlichen und äußerlichen Verhältnisse ist,
und daß »der Wille« des Menschen, die Wirkungsweise seiner Verhältnisse,
niemals eine Allmacht des Menschen bedeuten kann.
Was wollen dagegen Hammers Statistiken, Aufzählungen und Schil-
derungen von der Herkunft, dem Stande und dem Berufe der sittlich
Entgleisten sagen? Beweisen sie denn überhaupt den Satz von dem
»Willen zum groben Ausleben«?
Obenan unter den sittlich entgleisten Mädchen erwähnt Hammer
»1 adelige Dame, Gutsbesitzerstochter«e. Weiterhin gibt er den Lebenslauf
dieser.!) .... stammte angeblich von einem adeligen Gutsbesitzer. Mutter
war als Köchin in Stellung da, heiratete später einen Kahnschiffer. Vater
zahlte Alimente, blieb ledig, und stellte für die Tochter ein Kapital sicher.
Auch soll er beabsichtigt haben, die Mutter zu heiraten, von dieser Absicht
abgekommen sein, weil seine zwei Schwestern die Mutter des Diebstahls
verdächtigten. Mutter erlaubte dem Mädchen nicht, sich zum natürlichen
Vater zu begeben. Gewerbe des Mädchens: Dienstmädchen.«
Die Betrachtung des Lebenslaufes der »adeligen Dame« läßt den
Verdacht auf fahrlässige Irreführung des Publikums durch Hammer gerecht-
fertigt erscheinen. Das uneheliche Kind einer Köchin, dessen natürlicher
Vater zufälligerweise »angeblich« ein Gutsbesitzer ist, wird als »adelige
Dame« (Was das Heroldsamt zu Berlin wohl zu solchem Adel sagen
würde?) hingestellt, um glaubhaft zu machen, daß »nicht Armut« usw.,
sondern allein »der Wille zum groben Ausleben« bei diesem Mädchen die
Hauptursache zu ihrer sittlichen Entgleisung war. Nur weniges weitere
noch wird aus dem Leben der »adeligen Dame« erzählt, doch dieses
genügt schon, um vor uns ein Bild erstehen zu lassen, welches der
Hammerschen Zeichnung wenig entspricht.
') Der Darstellung nach zu urteilen ist der Lebenslauf der unehelichen Tochter
des Gutsbesitzers auf die »adelige Dame« zu beziehen. Ausdrücklich ist dieses jedoch
von Hammer nicht gesagt.
1. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers Grundzüge usw. 553
Ein Gleiches gilt von Nr. 9 der von Hammer gegebenen Lebensläufe.
»Christine Leichtfuß!
Mutter war Näherin und Witwe eines Töpfers, als sie ein Jahr nach
dem Tode ihres Gatten Christine gebar. Als Vater zeigte die Mutter ihrer
Tochter einen Schlächtermeister. Ob der Alimente zahlte, weiß sie nicht.
Zweimal sah sie ihn auf der Straße, ohne daß sie sich grüßten.
Mutter hatte drei Töchter, darunter die jüngste unehelich. Von den
drei Töchtern wurde die älteste, ehelich geboren, Kontrollmädchen, die
jüngste uneheliche, Dirne, die mittlere Fabrikarbeiterin. Die Fabrik-
arbeiterin gebar zweimal außerehelich von zwei Vätern, blieb Fabrik-
arbeiterin, verheiratete sich mit dem zweiten Manne, einem Fabrikarbeiter.
Die älteste Tochter steht seit ihrem 18. Jahre unter Sitte.
Die jüngste Tochter wurde erst Fabrikarbeiterin, dann aber Kellnerin,
und machte schon mit 15 Jahren die erste Syphiliskur durch, erst mit
17 Jahren, nachdem sie bereits geschäftsmäßig — »das war ja mein
Geschäfte — mit Herren verkehrt hatte, gebar sie ein totfaules Kind
— im 7. Monat —.
An ihrer Erziehung arbeiteten:
1. die Mutter,
2. der Vormund, ein Rechtsanwalt,
3. ein Fürsorgestift.
Der Erfolg war derart, daß Christine mit 13 Jahren das Rauchen
lernte, später täglich 50- 60 Zigaretten rauchte, ihrer Mutter und auch
dem Fürsorgestift wiederholt ausrückte und ihre Absicht mit 18 Jahren
wörtlich so angab:
Meine Mutter weiß, was an mir ist. Ich bin ein bißchen leicht-
sinnig, aber sonst nicht schlecht. So sagt wenigstens meine Mutter zu
mir. Ich bleibe Kellnerin und liebe meinen Beruf. Da können sie mir
noch so lange einsperren. Es wird niemals ein Dienstmädchen aus mir.«
Welch eine Fülle von Not und Elend, sowohl leiblicher als auch
seelischer und moralischer Art mag hinter dem äußeren Leben dieses
Mädchens gewirkt haben! Eines ist als sicher zu behaupten, daß Leute
aus gleichen Verhältnissen wie die Leichtfuß vor lauter Not und Ent-
behrung den Maßstab für ein geordnetes Leben oft ganz verlieren. Sie
sind zufrieden und klagen nicht, auch wenn sie nur am trockenen Brote
nagen, das vielleicht noch dazu gestohlen oder erbettelt ist. — Kinder-
betteleien und -diebstähle. —
Ein hierher gehöriges Beispiel ist mir erst kürzlich vorgekommen.
Die Mutter K.... kümmerte sich wenig um ihre Kinder. Letztere
lebten monatelang nur vom trockenen Brote und Wasser. Da hatte die
Mutter (?) ihre Kinder eines Tages heimlich verlassen und sie in der
Wohnung eingeschlossen. Erst als die Nachbarn aufmerksam wurden und
die Polizei benachrichtigten, konnten die Kinder aus ihrer traurigen Lage
— sie waren an den beiden Tagen ohne jegliche Nahrung gewesen —
befreit und einem Waisenhause übergeben werden.
Die Kinder waren leiblich und seelisch total verkommen. Sie waren
körperlich so geschwächt, daß sie keine Nahrung bei sich behalten und
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 36
554 B. Mitteilungen.
ordentlich verdauen konnten. Erst nach einer längeren ärztlichen Be-
handlung besserte sich ihr Zustand. Dann aber war eine bedeutende
Gewichtszunahme ersichtlich. Wie der körperliche, so machte auch der
seelische Zustand der Kinder erfreuliche Fortschritte, so daß sich im Ver-
lauf von etwa drei Monaten aus unsauberen und unordentlichen Schrei-
hälsen rotbackige und freundliche Kinder entwickelten. Und dennoch
legten sie hin und wieder den Kopf auf den Tisch und weinten und riefen
nach der Mutter. In solchen Augenblicken war alle frühere Not vergessen.
Was aber, Herr Dr. Hammer, wäre aus den Kindern geworden, wenn sie
ein paar Jahre länger in den alten Verhältnissen geblieben wären? Un-
gezählte Beispiele geben die Antwort auf diese Frage.
Schwerlich wird nach solchen Tatsachen Hammer die Wahrheit um-
stoßen können: Die persönliche und wirtschaftliche Notlage breiter Volks-
schichten ist ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Faktor der Demorali-
sierung und sittlich-sexuellen Entgleisung vieler. Wer dieses leugnet und
die Vorbedingungen und mit diesen die Möglichkeit eines sittlichen Lebens-
wandels unter den gegebenen Verhältnissen für jeden Menschen als Satz
aufstellt, der ist mit dem Ringen vieler Geschöpfe um ein bißchen
kümmerliches Leben unter den sie bedrückenden ungünstigen Verhältnissen
wenig vertraut und sicher nicht berufen, über die Opfer menschlicher Un-
vollkommenheit und Niedertracht ein Urteil zu fällen. Man mag in dem
Widerstreit von der Größe der verschiedenen Bevölkerungsschichten gegen-
und untereinander an bis herab zu dem Ringen des einzelnen um das
tägliche Brot eine beliebige Stellung einnehmen, das Dasein eines erbitterten
Kampfes wird man nicht hinwegleugnen können, auch nicht die Wahrheit,
daß dieser Kampf Verwundete und Tote als seine Opfer fordert und nur
zu oft die Quelle leiblichen, seelischen und moralischen Ruins ist.
Eine weitere Klärung findet die in Frage stehende Materie durch die
Betrachtung nachfolgender Aufstellung Hammers:
»Die Neigung zur Fleischeslust und somit die meines Erachtens nach
hauptsächlich als Grundlage des Unzuchtsgewerbes in Frage kommende
Eigenschaft ist eingeboren — nicht jedoch unabänderlich und völlig un-
beeinflußbar. Jeder gesunde Knabe und jedes gesunde Mädcher hat meiner
Ansicht nach von innen heraus sinnliche Anwandlungen. Diese sinnlichen
Apwandlungen sind — weise geleitet — bei denen, die guten Willens
sind, eine Quelle der Kraft und Stärke, eine Macht, die das Leben erleuchtet
und erwärmt; übel geleitet und bei denen, die übeln Willens sind, werden
sie leicht zum verzehrenden und vernichtenden Feuer, zur brennenden
Qual, die nach neuen immer schlimmeren Reizen giert bis zur völligen
Vernichtung des unbeherrscht sinnlichen Menschen und derer, die sich in
Abhängigkeit von ihm begeben.«
Eine Wahrheit spricht Hammer mit den Worten aus, daß die Ge-
schlechtskraft »weise geleitet und bei denen, die guten Willens sind,
eine Quelle der Kraft und der Stärke ist, übel geleitet und bei denen die
üblen Willens sind, aber zum verzehrenden Feuer wird«.
Wer aber möchte von sich behaupten, er sei stets »guten Willens«
und immer »weise geleitet«, jene aber seien »übeln Willens«? Zeigt
1. Kritische Betrachtung von Dr. mod. W, Hammers Grundzüge usw. 555
nicht das Leben oft in erschreckender Weise, wie die Geschlechtskraft in
Augenblicken sinnlichen Taumelns selbst sittlich hochstehenden Männern
und Frauen zu einem argen Fallstrick werden kann? Vorzüglich verweise-
ich auf Männer, die die Bibel als »Männer Gottes« preist. Hammer selbst
sagt an einer anderen Stelle: »Ein völlig einwandfreies geschlechtlich-
sittliches Leben — mit Ausschluß vom Dirnenverkehre und der Selbst-
befleckung — führen die meisten Menschen beider Geschlechter nicht,
wenn sie — wie es bei uns Regel ist — erst Jahre nach Beginn der
Geschlechtsreife (richtiger hätte Hammer gesagt: nach vollendeter Ge-
schlechtsreife) in die Ehe treten. Ja bis jetzt ist es mir noch nicht
gelungen, auch nur einen einzigen Greis oder eine einzige Greisin zu
finden, die ehrlich von sich behauptet hätten, daß sie ein völlig sittliches
Leben geführt hätten. Selbst Volkserzieher und andere lebhafte Verteidiger
der Keuschheit bekannten wiederholt öffentlich, daß sie selbst nicht
dauernd auch nur ihren eigenen Ratschlägen gemäß gelebt hätten.« Weiter
berichtet Hammer dann von heiligen Männern, selbst von dem Apostel
Paulus, daß sie den Anspruch sittlicher Vollkommenheit nicht erheben
konnten. Wenn das aber vom »grünen Holz« gilt, d. h. von Leuten, die
den Ruf besonderer Frömmigkeit und strenger Sittlichkeit haben, »was
soll dann am dürren werden«, d. i. »dem großen Heer der erblich Be-
lasteten, von dem Schicksal grausam Enterbten, prädisponiert für ein Leben
voll Sünde und Elend: Vater Trinker, Mutter Diebin, Vater im Zuchthaus,
Mutter Prostituierte, Vater im Irrenhaus, Mutter Trinkerin oder beide Eltern
Verbrecher, beide Trinker. _ Oft haben die Eltern ihre Kinder in Kost.
gegeben und dann nichts mehr von sich hören lassen oder sie mißhandelt
und gepeinigt, um ihren Tod herbeizuführen, oder sie seit frühester Jugend
zum Laster angehalten. So wachsen diese Geschöpfe auf, ohne etwas
Rechtes gelernt zu haben, bettelarm, körperlich schwach, geistig fast immer
defekt, ohne Glauben, ohne Gewissen, in jeder Sittlichkeit hohnsprechenden
Wohnungsverhältnissen, von ihren eigenen Leidenschaften gehetzt und ge-
ängstigt, vom Schicksal grausam verfolgt; sie enden gewöhnlich hinter
den Zäunen, auf der Landstraße, in den Gossen der Großstadt, im Ge-
fängnis, im Arbeitshaus oder im Zuchthaus.« (H. Arendt, Menschen die
den Pfad verloren.) Angesichts solch schreienden Elends bleibt die Be-
stimmung: Die Hauptursache zur Prostitution ist »der Wille zum
groben Ausleben« eine Verhöhnung der Wahrheit, eine Verschleierung
erschrecklicher Tatsachen, eine inhaltsleere Phrase, die auch rein nichts
bietet, um einem (vielen unbekannten) großen Elende zu steuern.
Erkennt Hammer, daß »die Neigung zur Fleischeslust eingeboren
und nicht unabänderlich und völlig unbeeinflußbar« ist, so wird er auch
folgern müssen, daß die Geschlechtskraft des Menschen sich
auf Grund der eingeborenen Veranlagung den auf sie ein-
wirkenden Verhältnissen und Umständen entsprechend ent-
wickelt. Bei diesem Prozesse kann dem »Willen« des Menschen, der
ja selbst gleichzeitig der Entwicklung unterworfen ist und ebensowohl von
dem Triebleben beeinflußt wird, als er unter günstigen Umständen auf
dieses vielleicht einwirkt, nur eine Rolle zuerkannt werden, in welcher er
36*
556 p. Mitteilungen.
bald als Ursache, bald als Wirkung in Erscheinung tritt. Daß »selbst
diejenigen Kreise, welche die Willensfreiheit nicht anerkennen, als sittliche
Pflicht von Staatsanwälten und Richtern verlangen, daß sie sich bei an-
geblicher Verkennung von Krankheitszuständen nicht auf die Unfreiheit
des richtenden menschlichen Willens berufen« (Hammer meint wohl: Un-
vollkommenheit des menschlichen Wissens!), dürfte ein Wissenschaftler doch
wohl kaum als Beweis für die von ihm verteidigte »Willensfreiheit« ausgeben.
Daß trotz der Leugnung Hammers »Armut und Brothunger«, wenn
auch nicht stets unmittelbar, so doch mittelbar das ihrige zur Betreibung
-der Prostitution beitragen, geht auch aus folgenden seiner Ausführungen
hervor: Die meisten Menschen führen kein völlig einwandfreies geschlechtlich-
sittliches Leben, weil sie, »wie es bei uns Regel ist, erst Jahre nach Be-
ginn der Geschlechtsreife in die Ehe treten«. Was treibt denn den Mann
(besser gestellte Arbeiter, untere und mittlere Beamte usw.), vorläufig noch
von einer Verheiratung abzusehen? Ist’s nicht die Sorge um die Existenz
und weiter eine zum großen Teile aus derselben hervorgegangene bis zur
Mißachtung sich steigernde Gleichgültigkeit und Bequemlichkeit des Mannes
gegen ein natürliches und ordnungsgemäßes Familienleben? Und hart
setzen gleich die Folgen ein und weisen umtändelte, umgarnte, verführte,
gefallene, prostituierte Mädchenleiber auf.
Wie dem weiblichen Geschlechte zum Hohn und sich selbst zur
Geißel geht der Mann ins Bordell. Hier vollführt er, wozu Hammer ihn
aufruft: »Der Mann trete die Herrschaft über die Frau an!« — Warum
aber erwähnt Hammer nichts von dem schmählichen »Herrscher« tum des
Mannes im Bordell? Die maßlosen Anforderungen der Männer an die
Frauen tragen meines Erachtens zum wenigsten ebensoviel zur geschlecht-
lichen Entartung letzterer bei, wie die durch eine traurige Konkurrenz
bedingten Anerbietungen der Frauen. Dies ist um so eher verständlich,
als der Mann der zahlende Teil ist und also seine Ansprüche stellen kann.
Daß dies in der Tat geschieht, und zwar in einer Weise, die öffentlich
wiederzugeben das Schamgefühl verbietet, beweisen viele schriftliche Auf-
zeichnungen selbst aus weit zurückliegenden Zeiten.
Hammer beruft sich wiederholt auf die Bibel und vermeint aus ihr
seine »Anweisungen« zu schöpfen. Ihm sei auch dieses Wort gesagt:
»Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.<
Die ganze in Frage stehende Materie im Spiegel strenger Selbstbeobachtung
geschaut, muß uns in unserm Urteil milder stimmen und ein herzliches
Mitleid mit »jenen« erwecken. »Der Wille zum groben Ausleben«
kann nicht die »Hauptursache zur sittlichen Entgleisung« sein.
Bitter und hart haben die Opfer der Prostitution oft erst gerungen, ehe
die volle Verzweiflung sie in die Arme des dunklen Lasters trieb. Und
jetzt, da sie geknebelt in ihm liegen und sich unter seinen Fesseln
krümmen und winden, füllt sie doch noch oft ein Sehnen und Verlangen
nach Besserem. Aber gezwungen und gegen ihren Willen fristen sie
ihr armseliges Dasein und »enden!) gewöhnlich hinter den Zäunen, auf der
1) H. Arendt, Menschen, die den Pfad verloren. ...
1. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers Grundzüge usw. 557
Landstraße, in den Gossen der Großstadt, im Gefängnis, im Arbeitshaus
oder im Zuchthaus.«
An dieser Stelle möchte ich ein ergreifendes Gedicht anführen, das
von einem jungen amerikanischen Mädchen verfaßt ist, das, aus an-
gesehener Familie stammend, tief in Schande versunken lebte und im
22. Lebensjahr an den Folgen der Liederlichkeit zugrunde ging. Ihre
Familie hatte sie verstoßen, als sie, die damals blutjung, schön und viel
umschwärmt der Verführung unterlag, Verzweiflung und Not hatten sie
dann in den Tod getrieben. Niemand hat ihr die rettende Hand geboten,
niemand ahnte die tiefen Seelenqualen, die sie litt.
Nach ihrem Tode fand der behandelnde Arzt folgendes Gedicht von
ihrer Hand:
Prächtiger Schnee.
= O, wie schön, wie schön, wenn aus den grauen Höhn
In dichtem Gewimmel, hernieder vom Himmel,
Sanft und still, wohin sie will,
A: Weit und breit auf Dach und Gasse
Sich niederläßt die dichte Masse!
Die weiße Flocke dort netzt eine Locke;
Da küßt eine Wange; sei nur nicht bange —
Im Himmel droben, von Engeln gewoben
Ist rein ihr Gewand, ohn’ irdischen Tand!
Wie lacht entgegen dem weißen Regen
Das Auge der Knaben; sie kommen und traben,
Schlitten auf Schlitten, gar lustig geritten.
Mädchen hintenan, auf gleitender Bahn.
Straße ein und aus, Freude in Saus und Braus.
In fröhlichem Necken, in Furcht und Schrecken;
Alt und jung in Schritt und Sprung,
Eifern, treiben, hasten, schnaufen,
Zittern, gleiten, drängen, laufen.
Und jetzt? Das Gleißen des zierlichen weißen,
Gestöbers, des feinen, des engelreinen!
Wo ist es geblieben ? Zertreten, zerrieben!
Kotiger Schlamm, was vom Himmel kam!
Wie diese Flocke rein war ich einmall
Wie sie heruntersank vom Himmelssaal,
So sank von Fall zu Fall bis auf den Grund
Ich auch, zestreten nun und todeswund.
Ich nippte, schlürfte, endlich trank ich aus
Den Taumelkelch bis zu der Hefen Graus.
Für einen Bissen Brot ein feiles Weib,
Verkauft, verloren nun an Seel und Leib.
Ich teilte einst der Flocke reines Weiß,
Der Unschuld Zier; der Stirne Ehrenpreis.
Wo find ich noch der Schwestern trautes Paar ?
Das Mutterherz, den Kranz im goldnen Haar?
558 B. Mitteilungen.
Verloren mir und euch, und ohne Gott,
Auf off’ner Straße jedes Buben Spott,
Dem Leben feind und vor dem Tod erblaßt,
Gespenst den Toten, Lebenden verhaßt.
Und wehe mir, wenn Schauder mich faßt in dunkler Nacht
Und unter mir kein Lager, ob mir kein Aug’, das wacht,
Wenn das Gebet versagt, zum Seufzen ich zu schwach,
Der Himmel mir verschlossen, kein Ohr vernimmt mein Ach!
Verzweifelt mir das Auge und todesmüde bricht,
Mein Grab wird heut das Schneefeld, den Kranz die Hölle flicht!
Und siehe da — die Flocke, des Himmels weißes Kind,
Läßt sich auf Sünder nieder, so freundlich und so lind.
O Sünderin, verzage Du nicht in Deinem Weh’
In deinem Fall zertreten, wie dort im Schlamm der Schnee,
Für Dich stieg ja hernieder das weiße Gotteslamm
Und hat für Dich geblutet am harten Kreuzesstamm.
Ist es denn wahr, daß ferne sein Ohr mein Ach vernahm,
Und bis in meine Tiefen sein Blut herniederkam ?
So will ich ihn ergreifen in meiner tiefen Not,
Dann wird wie Schnees Weiße die Schuld, die blutig rot!
In schroffem Widerspruche zu solchen und ähnlichen Klageergüssen,
wie auch zu den häufig erwiesenen Ursachen der sittlich sexuellen Ent-
gleisung vieler Mädchen steht folgende Behauptung Hammers:
»Daß Geschlechtsnot die überwiegende Mehrzahl der Mädchen
zur Gewerbeunzucht bringt, geht auch aus dem Benehmen der Anstalts-
insassinnen hervor.
Alle mir bekannten Anstalten für Freudenmädchen müssen Vor-
kehrungen treffen lassen, daß die Mädchen nicht mit unzüchtigen Ge-
bärden die Männerwelt anzulocken suchen, auch die Männerwelt, die
nicht zahlt.«
Ein Vergleich vorliegender mit anderen Ausführungen Hammers zeigt
einen offenbaren Widerspruch. Hammer behauptet früher >... diese sinn-
lichen Anwandlungen sind — weise geleitet — bei denen, die guten
Willens sind, eine Quelle der Kraft und Stärke, eine Macht, die das Leben
erleuchtet und erwärmt.«e Ein solcher Satz kann meines Erachtens nur
dann Wahrheit sein, wenn der normale Mensch fähig und gehalten ist,
seine Geschlechtskraft so zu zügeln, daß sie weder ihm noch andern zum
Schaden, sondern ausschließlich (auch in den Überwindungskämpfen) zum
Vorteil und Segen gereicht. Ist dieses aber der Fall, dann kann von einer
in dem von Hammer geschilderten Maße herrschenden Geschlechtsnot
nicht die Rede sein.
Doch Hammer sagt: »Der Geschlechtstrieb ist so stark angelegt, daß
der einzelne Mensch keine Aussicht oder auch nur denkbare Möglichkeit
hat, ihn voll und unmittelbar unter den jetzt in Deutschland gegebenen
Verhältnissen zu befriedigen. Eine solche Befriedigung hat der Mann
1. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers Grundzüge usw. 559
nicht, sie wird auch der Frau nicht geboten.«e Der in diesen Worten
ausgesprochene Gedanke ist meines Erachtens total absurd. Der Mensch
ist sowohl aus Gründen der Sexualhygiene als auch der Sittlichkeit absolut
nicht berufen, seinen Geschlechtstrieb »voll und unmittelbar zu befriedigen«,
Dennoch aber ist die Erwähnung der Verhältnisse durch Hammer zu be-
achten. Hammer gibt zu, daß die Verhältnisse zur sittlichen Ent-
gleisung drängen können; dasselbe kommt in dem Worte »Geschlechts-
not« zum Ausdruck. Wie aber kaun Hammer das Nachgeben von
Männern und Frauen auf den übermäßigen Druck der Verhältnisse
als »Willen zum groben Ausleben« bezeichnen, zumal dieses Nach-
geben oft unter heftigen Sträuben und Kämpfen des »sittlichen Willens«
geschieht?
Doch dieser Irrtum ist es nicht, der Hammer nachgewiesen werden
sollte. Die getroffene Schlußfolgerung geschah nur zur Feststellung des
Widerspruches in den Hammerschen Ausführuhgen selbst. Hammers Aus-
führungen stehen ebensowohl zur allgemeinen Tatsächlichkeit in Wider-
spruch! Die Geschlechtsnot bei gesunden und in geordneten
Verhältnissen lebenden Männern und Frauen existiert nicht in
dem von Hammer angegebenen Umfange! Sie ist, wie sie nach
Hammer in Erscheinung tritt, zum großen Teile eine reine Folge des
Tiefstandes des allgemeinen sittlichen Empfindens und »Wollens«, welcher
wiederum entweder in ungünstigen persönlichen oder äußerlichen Ver-
hältnissen oder in beiden zusammen eine wesentliche Ursache hat. Im
übrigen ist der Mensch verpflichtet zu halten, sich wenigstens nicht zum
Schaden der Mitmenschen geschlechtlich zu betätigen. Dieses »nicht zum
Schaden der Mitmenschen« ist ein absichtlich gewählter dehnbarer Begriff,
der der tatsächlich existierenden Geschlechtsnot (aber nur dieser) ent-
gegenkommen, zugleich aber auf die aus dem Verkehre erwachsenden
Pflichten hinweisen will. Es geht jedoch nicht gut an, daß man (wie
Hammer), der »Not« (?) unsittlicher, entarteter und vertierter Elemente das
Wort redet.
Zur näheren Erklärung des Unterschiedes zwischen der von Dr. Hammer
und von mir angenommenen Geschlechtsnot sei noch der Beweis Hammers
für seine Behauptung, »daß Geschlechtsnot die überwiegende Mehrzahl
zur Gewerbeunzucht bringt«, einer kurzen Betrachtung unterzogen.
Hammer dürfte meines Erachtens überhaupt nicht von einer Ge-
schlechtsnot reden, höchstens von einem den oft allseitig guten und vor-
teilhaften Lebensverhältnissen zum Trotz gewollten »groben Ausleben«.
Denn es hängt nach Hammer »in erster Linie« von dem »Willen« des
Menschen ab, »von der Stellung, die er einnimmt gegenüber den inneren
Versuchungen zum Bösen und zum Guten und gegenüber den äußeren
Umständen, die auf ihn einwirken«, ob bei ihm »die sinnlichen Anwande-
lungen eine Quelle der Kraft und Stärke, eine Macht, die das Leben er-
leuchtet und erwärmte, ist. Aber abgesehen davon ist Hammer dem ver-
fänglichen Irrtum verfallen, die Produkte der denkbar ungünstigsten
Verhältnisse (denn nur diese werden in die Anstalt aufgenommen) zum
Maßstabe für die Feststellung einer Wahrheit (?) zu machen,
560 B. Mitteilungen.
welche die Allgemeinheit betreffen soll. Der Zustand der Anstaltsinsassen
aber ist überwiegend kein normaler, deun
1. in überwiegender Mehrheit hat die sittliche und die sittlich-sexuelle
Verwahrlosung der Anstaltszöglinge ihren Anfang in der Kindheit letzterer
genommen. (Im Kindheitsalter ist die sexuelle Betätigung [d. h. der ge-
schlechtliche Verkehr] kein Bedürfnis) Eine selten ausbleibende Folge
genannten Umstandes ist die vorzeitig erwachte ungesunde und häufig
pervers oder abnorm gerichtete Sinnlichkeit der betreffenden Individuen.
2. Die Geschlechtsnot der Freudenmädchen ist keine naturgemäße
und allgemeine, sondern überwiegend die Folge der unter i. genannten
Umstände. Sie beruht dann in der Nichtbefriedigung der vorzeitig wach-
gerufenen und häufig abnorm erregten und gerichteten Sinnlichkeit.
Solcher Zustand wird richtiger mit Geschlechts wut gekennzeichnet.
3. Daß die Freudenmädchen in Anstalten »mit unzüchtigen Gebärden
die Männerwelt anzulocken suchen, auch die Männerwelt, die nicht zahlte,
ist kein unbedingt zutreffender Beweis für das Vorhandensein einer Ge-
schlechtsnot dieser Mädchen. Es kann die Mädchen dazu ebensowohl
bloße Renommisterei, Gleichgültigkeit oder Trotz gegen die Anstaltsdisziplin,
vor allem auch die zur zweiten Natur gewordene Gewohnheit antreiben.
Daß sie die Männerwelt anzulocken suchen, »die nicht zahlt«, bringt
meines Erachtens mehr die durch die Zwangslage der Mädchen bedingte
Gleichgültigkeit gegen den zahlenden oder nichtzahlenden Mann zum Aus-
druck, als die unbezwingliche Sucht nach einem Manne, ganz gleich, wer er ist.
Daß die Männersucht der Freudenmädchen und Anstaltsinsassen in
ihrem ganzen Umfange niemals ausschließlich auf Geschlechtsnot zurück-
zuführen ist, geht auch aus folgendem hervor:
1. Der geschlechtliche Verkehr zwischen einem Manne und einer Pro-
stituierten muß in vielen Fällen (streng genommen in allen) als nicht
normal bezeichnet werden.
2. Der geschlechtliche Verkehr der Freudenmädchen ist diesen keine
»Quelle der Kraft und Stärke« usw., sondern fast stets Ursache ihres
frühzeitigen Unterganges (der »Geschlechtstrieb des Menschen ist so an-
gelegt, daß er bei gesundem Gebrauche eine ‚Quelle der Kraft‘ für ein
langdauerndes Geschlechtsleben iste).
3. Der Unzuchtstrieb hat für die Freudenmädchen meistens die Be-
deutung des Broterwerbs. (Handeln des Mannes um den Preis!)
4. Die Sinnlichkeit der Freudchenmädchen wurzelt, abgesehen davon,
daß sie oft nur eine vorgespiegelte, geschäftliche ist, in ihren groben
Ausartungen nicht in der naturgemäßen und gesunden Geschlechts-
veranlagung, sondern stellt (abgesehen von Krankheitszuständen) ein Pro-
dukt widernatürlicher Unzuchtsbetätigung dar.
5. Es gibt genügend Mädchen und Frauen, die, obwohl stark sinn-
lich veranlagt, dennoch nicht zu Prostituierten werden.
An dieser Stelle sei auch eine Äußerung des bekannten Pastor
Keller!) zitiert:
1) Keller, Naturtrieb und Sittlichkeit.
1. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers Grundzüge usw. 561
»Die doppelte Moral hat ihre Stärke und Erklärung in einem noch
schwereren Vorurteil; — es ist die Meinung, die man vom 17. Jahre an
in höheren Schulen wie Fabriken, Werkstätten wie Kneipen mit der Un-
fehlbarkeit eines Axioms aussprechen hört: jeder geschlechtsreife Mann
müsse seinem Naturtriebe auch Folge leisten, wenn er nicht durch Ent-
haltsamkeit an seiner Gesundheit Schaden nehmen wolle. Darauf stützen
sich unzüchtige leichtfertige Bücher, Witze, Gespräche und Urteile. Das
gehört zur geistigen Atmosphäre unserer Zeit. Selbst ernster zu nehmende
öffentliche Persönlichkeiten, wie Bebel (»Die Frau«e) rechnen einfach mit
diesem Dogma und bauen darauf, wie auf einer wissenschaftlich fest-
stehenden Erkenntnis ihre Systeme auf. Ist es wirklich mit der apodikti-
schen Gewißheit eines mathematischen Beweises, mit der elementaren Wucht
eines Naturgesetzes ausgemacht, daß sich aus der bloßen Enthaltung vom Ge-
schlechtsgenuß, aus der Nichtbefriedigung des Naturtriebes schädliche Folgen
für die Gesundheit des Mannes ergeben, — dann kann es keinen lebendigen
Gott geben, der in seinen Willensforderungen Keuschheit und Sittlichkeit
von uns beansprucht! Dann ist das böse, wunde Gewissen, das bei jeder
solchen Übertretung der sittlichen Schranken den Sünder straft, ein Un-
sinn. Wie kann ein Gott — oder sagen Sie Natur — mit sich selbst in
Zwiespalt sein? Wie kann ein natürlicher Trieb in uns hineingelegt sein,
dem wir nachgeben müssen, wenn wir nicht krank werden wollen, und
zugleich wäre eine andere Instanz in unserem Gewissen und den Kultur-
bedingungen der Menschheit etabliert, die für viele Menschen viele Jahre
hindurch die Befriedigung unter schwere Strafe stellt? Dann dürfte es
zum Mindesten keine Geschlechtskrankheiten geben.e —
Aus Vorliegendem ist die Schlußfolgerung zu ziehen, daß die In-
anspruchnahme der Geschlechtsnot als Hauptursache zur gewerbeartigen,
körperlichen Preisgabe auf einen groben Irrtum Hammers zurückzuführen ist.
Dem eventuellen Einwande Hammers, daß er selbst die Prostitution
entschieden verurteile und bekämpfe, ist zu entgegnen, daß, wenn die Ge-
schlechtsnot in der von ihm angegebenen Ausdehnung und Weise existiert,
die Prostitution ohne weiteres nicht nur als notwendiges Übel, sondern
geradezu als nackte Naturnotwendigkeit unbedingte Existenzberechtigung
hat. (Dann fort mit aller Sittlichkeit, die nur naturwidrig ist und ein
Leben herbei, das dem Menschen die »volle und unmittelbare« Befriedigung
seines toll gewordenen Triebes gewährt!) Will aber Hammer den Ausdruck
»Geschlechtsnot« dahin verstanden wissen, daß sie eine Folge des »Willens
zum groben Ausleben« ist, anders eine Folge sittlicher Verirrung und Ent-
artung im allgemeinen Sinne, dann wäre ein anderer Ausdruck zweck-
mäßiger und zutreffender gewesen. Not läßt immer auf das Fehlen von
Naturnotwendigem schließen, zumal wenn man Allgemeinsätze aufstellt.
Auch in anderer Beziehung verabsäumt Hammer (sich selbst wider-
sprechend) die verdiente Verurteilung der Prostitution. Im Zusammen-
hange damit sind seine weiteren Aufstellungen über andere abseits liegende
geschlechtliche Äußerungen und Forderungen des Menschen als direkt un-
glückliche zu bezeichnen. So entscheidet er in der sehr verfänglichen
Frage: »Auf Grund welcher Sittlichkeit ist die Selbstbefleckung ein ge-
562 B. Mitteilungen.
-
ringeres Laster als der Verkehr mit einem Manne« (d. h. in der Prosti-
tution)? zugunsten der Prostitution. Wie Hammer aber die Äußerung
wagen konnte: »Für auf die Dauer weniger gesundheitsschädlich halte ich
für die Mädchen das Zusammenschlafen in einem Bette gegenüber der
Selbstbefleckung, soweit sie ausschweifend geübt wird«e, muß gänzlich un-
verstanden bleiben. Man hat sich dabei zu vergegenwärtige, daß Hammer
heute schon die Anstalten, die doch jede Unzuchtsbetätigung ihrer Zög-
linge bekämpfen, ganz davon zu schweigen, daß sie zwei erwachsene
geschlechtsreife Zöglinge sollten in einem Bett schlafen lassen, »Brut-
stätten der gleichgeschlechtlichen Entartung«e nennt und sie zur »Unter-
ordnung unter den Unzuchtstrieb gewerbsmäßiger Freudenmädchen« ver-
urteilt. So unglaublich diese Zusammenstellung erscheint, verdiente das
Zerrbild der Hammerschen Sexualhygiene und -moral doch bekannt ge-
geben zu werden. Alles wird jedoch durch den Vergleich des Ganges zur
Dirne mit dem »Verkehr mit einem Manne« übertroffen. Dem ist ganz
entschieden zu entgegnen: Die Prostitution, ob staatlicherseits beaufsichtigt
oder nicht, ist, abgesehen davon, daß sie die Hauptträgerin und Verbreiterin
der Geschlechtskrankheiten ist, der eigentliche Pestherd aller geschlecht-
lichen Entartungen, und nicht nur dieser, sondern noch vieler anderer Nöte,
Verirrungen, Entgleisungen, Verbrechen. Sie ist niemals berufen, einen
Ersatz für den normalen Geschlechtsverkehr des Menschen zu bieten. Aus
allen Gründen, aus welchen heraus die Sittlichkeit, Hygiene usw. des
menschlichen Sexuallebens gefördert werden soll, ist die Prostitution zu
bekämpfen.
Die Leichtlebigkeit ist ein Zeichen unserer Zeit. Um so mehr bleibt
es zu bedauern, daß Hammer eine absolut nicht existierende Geschlechts-
not für 13—-18 jährige Mädchen als Wahrheit hinstellt und der Lebe-
welt ein ärztliches (?) Gutachten zur Rechtfertigung ihres
zügellosen Lebens in die Hand gibt. —
Aus allem Voraufgegangenen geht hervor, daß zur Minderung der ge-
schlechtlichen Entartung weiter Kreise bei vielen Menschen vorerst die wirt-
schaftliche und allgemein sittliche Hebung, bei anderen nur letztere zu erfolgen
hat. Diesem entsprechend kann auch in der Erziehung geschlechtsreifer,
sittlich-sexuell entgleister Mädchen nicht die sexuelle Entartung als allein
dastehendes Hauptmoment einseitig in Frage kommen, sondern die Er-
ziehung hat, wie auch der bloße Augenschein lehrt, ihre Aufgabe darin zu
erblicken, soweit dieses möglich ist, in ihren Objekten die oft gänz-
lich fehlende sittliche Erkenntnis anzubahnen und zu fördern,
auf welcher Grundlage dann die Mädchen die Unsittlichkeit und Un-
anständigkeit ihres bisherigen Lebenswandels einsehen und einem neuen
besseren Leben zustreben lernen. Daß nun solche Erziehung mehr den
Charakter der Sexualerziehung trägt, muß in Ansehung der Erziehungs-
objekte selbstverständlich erscheinen. Zu verwerfen aber bleibt immer eine
Erziehung in der Form einseitiger und gewaltsamer Bekämpfung der ge-
schlechtlichen Neigungen der Mädchen, nicht nur aus Gründen der Ge-
rechtigkeit und Billigkeit, sondern vor allem um der Zielbewußtheit und
des Erfolges der Erziehung willen.
1. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers Grundzüge usw. 563
Die Erziehung sittlich-sexuell entgleister geschlechtsreifer Mädchen
ist, dieser Gedanke dürfte aus allen bisherigen Ausführungen hervorgehen,
keineswegs einfach und immer sicheren Erfolg versprechend. Ich kann
die Erfolgsicherheit Dr. Hammers absolut nicht teilen. Seinen Einwand,
daß er seine Erfolge (?) von anderen und besseren Erziehungsmitteln
und -wegen abhängig mache, glaube ich bereits entkräftet zu haben.
Es ist entgegen Hammer anerkannte Erfahrungstatsache, daß die Er-
ziehungsanstalten vielmehr die Bösartigkeit als die Böswilligkeit zu be-
kämpfen haben, was ihnen Veranlassung gibt, in ihrem Wirken vorsichtig
und in ihrem Auftreten nach außen hin bescheiden zu sein.
III. Kindererziehung, Nacherziehung, Anstaltserziehung.
Ist am Schlusse des vorigen Kapitels die Forderung aufgestellt worden,
daß die Anstaltserziehung die sittliche Hebung der sittlich-sexuell ent-
gleisten Mädchen anzustreben habe, so gewinnt diese Forderung an der
Notwendigkeit der Anstaltserziehung infolge des Mangels einer rechten
Kindheits- und Nacherziehung nur noch an Berechtigung und Dringlichkeit.
Dieser allgemein gehaltene Satz ist weiter dahin zu ergänzen, daß die An-
staltserziehung individuell zu verfahren hat, d. h. sie hat unter Mitbeach-
tung der Individualität des betreffenden Zöglings vorzüglich die Momente
ins Auge zu fassen, die die gänzlich fehlende Erziehung oder die Fehler
und Mängel derselben ausmachen. In dem Rahmen solcher Erziehungs-
praxis können natürlich nur solche Individuen eingeschlossen werden, die
als ganz oder teilweise erziehungsfähig anzusehen sind. Erziehungsunfähige
Individuen gehören nicht in eine Erziehungsanstalt.
Das Ideal aller Erziehung ist die Familienerziehung. Diese schöpft
ihre Kräfte und Ziele unmittelbar aus dem praktischen Leben und gewinnt
so den Vorzug, daß sie am ehesten und geeignetsten die Kinder für das
Leben vorbereitet, erzieht. Es ist Hammer zuzustimmen, wenn er auf
eine gute Familienerziehung so großes Gewicht legt und die Eltern auf-
ruft, Erzieher ihrer Kinder zu sein.
Die einseitige Stellungnahme Hammers zu dem Verhältnis zwischen
Mann und Weib als Eltern jedoch ist aus Tatsächlichkeitsgründen zu be-
mängeln. Sehr einseitig kehrt Hammer nur die Vorzüge des Mannes
hervor und verschweigt ganz deren häufiger vorkommenden Mängel und
Fehler. Die alltägliche Erfahrung zeigt, daß unter Eheleuten der Mann
längst nicht immer der intelligentere und tatkräftigere Teil ist. Oft erweist
sich die »Herrschaft« der Frau als Notwendigkeit, womit keineswegs ge-
sagt ist, daß eine solche Familie bemerkenswerte Nachteile gegenüber der
Familie erleidet, in welcher der Mann die »Alleinherrschaft« führt. In
diese Betrachtung ist noch nicht die große Zahl der ausgesprochen un-
tauglichen und unfähigen Ehe»herren« einbegriffen. Leider nur zu oft
treten total verkommene Individuen (Saufbolde, Prasser und andere ex-
zentrische Männer) »die Herrschaft über die Frau« an und vernichten roh
und brutal die Früchte stiller und duldsamer Arbeit der armen Frau und
Mutter,
564 B. Mitteilungen.
Die Berichte Hammers über die Berufsarbeit der Ehefrauen sind wahr
und seine Forderungen nach Abstellung derselben nur zu berechtigt.
Schade darum, daß alle diesbezüglichen Wünsche und Bestrebungen so gut
wie erfolglos sind. Nur auf eins sei Dr. Hammer aufmerksam gemacht:
Warum hat er diesen tieftraurigen Lebensverhältnissen ungezählter Frauen
und Kinder in seinen Aufstellungen über die sittlich-sexuelle Entgleisung
der Mädchen nicht mehr Rechnung getragen? Er wäre dann gerecht ge-
wesen.
Dem kurzen Entwurfe Hammers über Kindersexualerziehung ist im
großen und ganzen zuzustimmen. Er fördert jedoch keine wesentlich
neuen Gedanken zutage. Trotzdem ist der energische Hinweis auf die
Gefahren der vorzeitigen »Aufklärung«, (d. h. der Belehrung über nackte
Tatsachen) einer Sache, die bei nüchtern denkenden Menschen eigentlich
längst abgetan sein sollte, zu beachten. Es ist anzunehmen, daß Eltern
bei Befolgung der gegebenen (besonders für die Anstaltserziehung jedoch
nicht ausreichenden) Anweisungen und unter gleichzeitiger Beachtung der
Individualität der Kinder (die von Hammer unerwähnt bleibt, obgleich sie
ein Hauptmoment in der Erziehungsfrage ausmacht) in ihrer Erziehung
Erfolg haben werden, soweit ihnen dieser nicht durch andere Umstände
(teilweise oder gänzliche Erziehungsunfähigkeit des Kindes usw.) gekürzt
oder unmöglich gemacht wird.
Letztere Fälle erwähnt Hammer wie folgt: »Trotz aller Willens-
übunger und trotz aller Aufklärung verunglücken zahlreiche Mädchen und
Knaben, teils weil sie die ihnen angebotenen Hilfsmittel nicht annehmen,
teils weil in der Erziehung wichtige Punkte vernachlässigt wurden.«
Diese Aufstellung läßt die Erwähnung besonders der erblichen Belastung
vermissen.
Die eben genannten, trotz aller Willensübung und trotz aller Auf-
klärung verunglückten »zahlreichen Mädchen und Knaben« sollen nach
Hammer einer »Nacherziehung« unterworfen werden. Die Notwendig-
keit letzterer veranlaßt Hammer zur Suche nach einer »Grundlage der Be-
urteilung in der Nacherziehung«e. Er findet diese Grundlage in folgendem:
»Einen sicheren Maßstab für die sittliche Umwandlung eines Menschen
haben wir überhaupt nicht. Selbst äußerlich sittliche Handlungen können
aus Klugheit, Berechnung, Verstellung begangen werden, wie auch anderer-
seits äußerlich unsittliche Handlungen aus sittlichen Beweggründen hervor-
gehen können. Die inneren Beweggründe sind jedoch nicht unmittelbar
nachweisbar, sondern können nur vermutet werden. Auf Vermutungen
hin einen Menschen jahrelang einzusperren, ist schon deshalb mit schwersten
Gefahren verbunden, weil das Gefühl, willkürlich behandelt und auf bloße
Vermutungen hin bestraft zu werden, nur bei Vorhandensein größten Ver-
trauens sittlich förderlich ist, beim Mangel solchen Vertrauens jedoch ent-
sittlichend wirkt. Ein äußerer Maßstab muß somit die Grundlage der
Beurteilung in der Nacherziehung sein. Dieser äußere Maßstab könnte
gefunden werden in der Beteiligung an gottesdienstlichen Handlungen, in
frommen Worten und Werken der Selbstzucht. Er kann jedoch auch rein
weltlich angenommen werden und in der Arbeitsleistung bestehen.«
1. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers Grundzüge usw. 565
Vorliegende Ausführungen sind insofern unverständlich und wider-
sinnig, als Hammer ebendasselbe, was er anfangs für unangebracht und
nicht zweckentsprechend erklärt, im nächsten Augenblicke seinem Neuerungs-
vorschlage zugrunde legt, indem er die »Grundlage der Beurteilung in der
Nacherziehung« aus äußeren Handlungen finden will. Will Hammer sich
nicht eines Widerspruchs beschuldigen lassen, so wird er zugeben müssen,
daß seine bezüglichen Vorbemerkungen unpassend gewählt sind. In Wahr-
heit verhält sich die Sachlage folgendermaßen:
Es stehen dem Menschen zur Beurteilung des sittlichen Wertes eines
anderen dessen Äußerungen in Worten und Handlungen zur Verfügung.
Von diesen wird unter Mitbeachtung der Individualität des zu Beurteilenden
und der bereits gesammelten Erfahrungen auf die inneren Beweggründe
des Handelnden geschlossen (»vermutet«) und nach Befund das Urteil ge-
fällt. Daß bei solcher Praxis Fehlschlüsse und Fehlurteile vorkommen,
hat seine naheliegende Ursache. Wie aber bei Fehlurteilen oder gar un-
gerechten Bestrafungen deren sittlich fördernde oder entsittlichende Wir-
kung von dem »Vorhandensein oder Nichtvorhandensein größten Vertrauens«
abhängig sein soll, entzieht sich meiner Erkenntnis. Entweder das Urteil
und die eventuelle Bestrafung sind gerechtfertigt und man rechnet bei
beiden unabhängig vom Vertrauen oder Nichtvertrauen mit der Möglichkeit,
daß sie »sittlich förderlich« wirken, oder Urteil und Bestrafung sind un-
gerecht und versagen die erhoffte Wirkung. (Eine »entsittlichende«
Wirkung ist für letztere Fälle nicht naturnotwendig.)
Doch abgesehen von diesem ist Hammer bezüglich seines Maßstabes
zur »Beurteilung in der Nacherziehung« zu fragen, ob er nicht auch
findet, daß nirgends mehr geheuchelt und »aus Klugheit, Berechnung,
Verstellung« gehandelt wird, als »in der Beteiligung an gottesdienstlichen
Handlungen, in frommen Worten und Werken der Selbstzucht?« Ein un-
passenderer »äußerer Maßstab« konnte meines Erachtens nicht gefunden
werden. Der »rein weltlich« angenommene Maßstab aber, der in der
»Arbeitsleistung« gegeben ist, dient bereits der Fürsorgeerziehung als
Grundlage mit. Darum ist der versteckte Vorwurf, daß »viele Anstalten«
ihre Zöglinge zu einem bequemen Schlendrianwesen erziehen, entschieden
zurückzuweisen. Man kann unseren evangelischen Anstalten — über die
katholischen Anstalten kann ich mir kein Urteil erlauben, möchte auch
einer vor einiger Zeit ergangenen sensationell aburteilenden Zeitungsnotiz
über eine katholische Anstalt keinen Glauben schenken — das Zeugnis
ausstellen, daß die Arbeit eines ihrer wichtigsten Erziehungs-
und Schätzungsmittel ist. Es ist daher die besondere Betonung von
»Meisterstück und Pensum« (das Hammersche Pensum ist sowohl im
Verhältnis zu den heute in den Anstalten geforderten Arbeitsleistungen,
als auch innerhalb seines eigenen Arbeitsplanes zu niedrig bemessen,
da Hammer selbst eine dreifache Pensumsleistung für möglich hält) in
der Verrichtung allgemeiner Fertigkeiten (Zimmerreinigen usw.) höchst
überflüssig. Die in den Anstalten übliche Praxis genügt, um gute
Arbeit von schlechter und Faulheit von Fleiß zu unterscheiden und die
Zöglinge zur Treue und Strebsamkeit in der Verrichtung ihrer Arbeiten
566 B. Mitteilungen.
zu erziehen. Einen Fehler nur haben die (großen) Anstalten: daß sie den
Zöglingen einen Einblick in die vielen Kleinigkeiten, deren Beachtung für
die spätere Bewirtschaftung eines kleinen Haushaltes so überaus wichtig
ist, nicht gewähren. Dieser Fehler aber läßt sich schwerlich ganz ver-
meiden.
Gegen die von Dr. Hammer geforderte Geldentlohnung an die An-
staltsmädchen sprechen folgende Punkte:
Die Arbeitsleistungen der Zöglinge entsprechen nicht entfernt den
Unkosten, die dem Staate durch die Übernahme der Mädchen in Fürsorge-
erziehung entstehen.
Die Zöglinge bedürfen besonderer Geldmittel nicht. Sie erhalten alle
Lebensbedürfnisse. Gegenüber ihrem vorherigen ausschweifenden Lebens-
wandel ist die Erziehung zur möglichsten Einfachheit dringend erforderlich.
Dieses bedingt die Vermeidung aller Überflüssigkeiten. Der Vorschlag zu
einer planmäßigen Verabreichung von Genußmitteln, wie Wein, Bier,
Tabak (!) an Anstaltsmädchen aber ist meines Erachtens so ungeheuerlich,
daß Worte über ihn überflüssig sind. Auch übersieht Hammer, welche
Bedeutung Schmuckgegenstände als Anregungsmittel zur lesbischen Liebe
und zur Männersucht für die Mädchen haben.
Die Geldentlohnung hat überhaupt keinen oder doch nur einen sehr
minimalen erzieherischen Wert, da die Ausgaben der Zöglinge ständig und
scharf kontrolliert werden müßten.
In vielen Fällen wird die Geldentlohnung einen bedenklichen Unwert
zeitigen. (Einschmuggeln verbotener Gegenstände, Genußmittel usw. in die
Anstalt. Heimliche Beschaffung von unkontrollierten Geldmitteln von An-
gehörigen. Diebställe an Geld und Genußmitteln. Erpressungen an
jüngeren und schwächeren Zöglingen. Neid.)
Die Lohnauszahlung an Zöglinge dient keineswegs der Anstalts-
disziplin. Neben anderen weckt sie in den Zöglingen unberechtigte An-
sprüche auf materielle Pflichtgegenleistungen der Anstalten.
Da die Entlohnung nach den Arbeitsleistungen bemessen werden soll,
werden in vielen Fällen gerade die schlimmsten Zöglingselemente, die
häufig die geschicktesten Arbeiter sind, sich in den Besitz vermehrter
Geldmittel setzen, deren Verbrauch zweckmäßig zu regeln der Anstalt nur
bei willkürlichem Verfahren möglich ist. Dieses der Anstalt bleibende
Recht werden die Zöglinge zum eigenen Schaden aber nicht einsehen,
sondern nur als Ungerechtigkeit (?) betrachten.
Der Wert der an den Zöglingen geleisteten Erziehungsarbeit macht
eine Geldentlohnung überflüssig.
* *
*
Einen neuen Gedanken bringt Hammers Aufstellung über »frei-
willig bleibende Pfleglinge«.
»Auf Wunsch erfolgt tageweis frühere Entlassung für Leistung jedes
Überpensums vom Werte einer Tagesarbeit. Macht der Zögling von diesem
Rechte des früheren Verlassens der Anstalt nicht Gebrauch, so wird er
als freiwilliger Pflegling im Gegensatz zu den Zwangspfleglingen ge-
führt und erhält einen abermals erhöhten Lohn.
1. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers Grundzüge usw. 567
Freiwillig bleibende Pfleglinge erhalten 5—50 Pf. Tagelohn mit Rück-
sicht darauf, daß sie nicht mehr ganz so eingehender erzieherischer Ein-
wirkung bedürfen, und werden — falls sie sich dazu eignen — als Vor-
arbeiter und Aufsichtspersönlichkeiten verwandt.
Hilfsvorarbeiter und Hilfsaufseher können auch schon Zwangszöglinge
werden.«
Vorstehende Darlegungen zeitigen ein vollständiges Fiasko der
Hammerschen »Grundlage der Beurteilung in der Nacherziehung«. Bereits
in dem Kapitel über Lohnzahlungen an Zöglinge wurde nachgewiesen, daß
in vielen Fällen gerade die schlimmsten Zöglingselemente einen bedenk-
lichen und unverdienten Vorsprung vor ihren schwächeren und un-
geschickteren Kameradinnen haben. Dieser neue Vorschlag jedoch reizt
und zwingt sie, in erhöhtem Maße ihre ihnen von der Natur mitgegebenen
Kräfte und Fertigkeiten direkt zu ihrem Unheil anzuwenden. Und wo
Kräfte und Fertigkeiten versagen, da setzen Raffiniertheit, Dreistigkeit,
direkter Betrug und Vergewaltigung von jüngeren und schwächeren Mit-
zöglingen (d. h. die feinere, stille, heuchlerische Vergewaltigung) ein und
helfen ein Werk echt weiblicher Hinterlist und Tücke vollenden. Wohin
führt da der »äußere Maßstab«, wenn ihm nicht die Einsicht in das
Seelenleben der Zöglinge zu Hilfe kommt?
Erweist sich nun der vorgeschlagene Weg zur Bestellung der »frei-
willigen Pfleglinge« als untunlich, so stehen der Zulassung von »frei-
willigen Pfleglingen« überhaupt nicht unwesentliche Bedenken entgegen.
Der gewählte Ausdruck »freiwillige Pfleglinge« ist meines Erachtens
entweder ein verfehlter, oder aber er betrifft eine Gattung von Zöglingen,
für welche die Erziehungsanstalt kein Aufenthaltsort mehr ist. Die Ent-
lassung der Zöglinge erfolgt heute auf ein Gutachten der Anstaltsleitung,
welche sich in dem Gutachten dahin äußert, daß der Zögling (bis auf
weiteres) endgültig oder versuchsweise entlassungsfähig ist. Als ent-
lassungsfähig gilt der Zögling, welcher seiner Verfassung nach der er-
ziehlichen Einwirkung und Beaufsichtigung nicht mehr bedarf. Zöglinge,
die »nicht mehr ganz so eingehender« erzieherischer Einwirkung
bedürfen, legen wohl für einen teilweisen Erziehungsfortschritt Zeugnis
ab, können jedoch der erziehlichen Beaufsichtigung noch nicht ganz ent-
behren, sind demnach noch nicht entiassungsfähig. Von einem
»freiwilligen« Verbleib in der Anstalt kann fulglich bei ihnen nicht die
Rede sein.
Gegen einen weiteren Verbleib von Zöglingen in der Anstalt über die
notwendige Zeit hinaus spricht auch schon der Beruf der Anstalt. Dieser
ist, daß eine Anstalt ihre Pfleglinge nicht für sich selbst, sondern
fürs Leben draußen erziehen soll. Die Zöglinge sind sobald als
möglich der Außenwelt zurückzugeben. —
Eine offizielle Beförderung von Zöglingen zu Aufsichtspersönlichkeiten
läuft stichhaltigen Erfahrungsgründen zuwider. Zum wenigsten sollten ge-
eignete (?) Zöglinge nicht in derselben Anstalt, in welcher sie Zög-
linge waren, als Erziehungspersonal angestellt werden. Persönlich jedoch
halte ich die Zöglinge (von ganz vereinzelten Ausnahmen abgesehen) zum
5068 B. Mitteilungen.
Erzieher und auch zum Aufseher immer für unfähig und ungeeignet.
Zumal unter weiblichen Zöglingen erscheint es ausgeschlossen, daß ein
Zögling sich unter den früheren Kameradinnen auch nur soviel Respekt
verschaffen kann, daß die Anstaltsleitung ihn mit der Aufsichtsführung
über eine Gruppe verantwortlich betrauen kann. In derartig eingerichteten
Anstalten treten aus leicht verständlichen Gründen Unredlichkeiten und
Disziplinwidrigkeiten stark hervor, die den geeigneten Wucherboden nur
darin finden, daß sie mit Wissen der Aufseherin (?) geschehen können.
Die Aufseherin hat dann ein persönliches Interesse, die unter ihrer Leitung
herrschenden ungehörigen Zustände den Vorgesetzten gegenüber zu ver-
schweigen.
Auf diese Weise ist es erklärlich, daß eine Anstaltsleitung von der
Vorzüglichkeit ihrer Einrichtung überzeugt ist, in Wahrheit aber einer
heillosen Mißwirtschaft (freilich unwissend) Vorschub leistet.
* *
*
Eine kurze Betrachtung erfordern einige Punkte der »religiös-sitt-
lichen (geistlichen) Grundlagen der Nacherziehunge.
Der Ausspruch Hammers: »Gehorsam wird nicht für die Persönlich-
keit des Erziehers, sondern kraft seines Amtes gefordert. Von vorneherein
lehre man die Zöglinge, das Amt vom Manne zu unterscheiden«, läßt
vermuten, daß Hammer das rechte Verständnis für den Erzieherberuf ab-
geht. Recht versehen ist das Erzieheramt mit der Erzieherpersönlichkeit
aufs engste verbunden und läßt sich nicht von ihm trennen. Jede Er-
ziehung ist Persönlichkeitssache. Der Gehorsam wird darum auch für
die Persönlichkeit des Erziehers gefordert. Letzterer ist dem Zöglinge
der Inbegriff seines Vermittlers und Führers in der Erziehung zur Sitt-
lichkeit. (Gehorsam von Amtes wegen oder gegen das Amt gleicht dem
erzieherisch und sittlich minderwertigen knechtischen Gehorsam gegen
den augenblicklichen Vorgesetzten und Gewalthaber. Es bleibt natürlich
bei dem Gehorsam gegen die Persönlichkeit des Erziehers bestehen, daß
jede Gehorsamsleistung der eigenen sittlichen Bildung und Förderung des
Zöglings dienen soll. Im übrigen stehen die Zöglinge dem Anstaltser-
zieher genügend kritisch gegenüber, so daß es keines weiteren Hinweises
auf Abstandhaltung mehr bedarf.
Eine ähnlich unfertige Stellung wie in der Erziehung zum Gehorsam
nimmt Hammer in der Erziehung zur Wahrhaftigkeit ein. Er sagt:
»Die Erziehung zur Wahrhaftigkeit hat nicht den Zweck, die Pfleglinge
zu vollem und unbedingtem Vertrauen den Erziehern gegenüber zu
bringen.«
An sich wäre gegen diese Aufstellung nichts einzuwenden, wenn sie
Hammer nicht zu Folgerungen veranlaßte, die geeignet sind, den Erfolg
der Erziehung zu beeinträchtigen oder ganz zu gefährden. Hammer wird
zugeben müssen, daß das Vertrauensverhältnis zwischen Erzieher und
Zögling eine notwendige Vorbedingung für jede Erziehung ist. In be-
sonderer Weise gilt dies für viele Fälle in der Anstaltserziehung. Bei
Zöglingen z. B., die oft enttäuscht nun jegliches Vertrauen zu sich selbst
1. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers Grundzüge usw. 569
und zu jedem anderen Menschen verloren haben, muß der Erzieher seine
erste und wichtigste Aufgabe darin erblicken, dieselben zu sich in ein
möglichst festes und inniges Vertrauensverhältnis zu bringen. Dasselbe
gilt von allen übrigen Kindern, für welche die Notwendigkeit besteht, in
ihrem Erzieher einen festen Stützpunkt in der Überweisung ihrer Schwächen
und Mängel zu finden. Man darf wohl annehmen, daß mancher Mißer-
folg der Erziehung (nicht nur der Anstaltserziehung) auf den Vertrauens-
mangel des Zöglings zu seinem Erzieher zurückzuführen ist. Nicht Zweck
und Ziel der Erziehung zur Wahrhaftigkeit ist das Vertrauen des Zöglings
zum Erzieher, wohl aber ein unbedingt notwendiges Mittel derselben und
ein Weg, auf welchem Kinder am schnellsten und leichtesten zur Wahr-
haftigkeit kommen.
Der von Hammer vorgezeichnete Weg der Erziehung zur Aufrichtig-
keit ist meines Erachtens nicht nur ein nicht gangbarer, sondern unter
Umständen ein der Erziehung direkt entgegengesetzter Weg, der zur Un-
aufrichtigkeit und Lügenhaftigkeit führt.
»Nicht alles, was dem Zögling wahr zu sein scheint, soll er jeder-
zeit aussprechen dürfen. Hingegen soll alles, was er sagt, wahr d. h.
keine Lüge sein. Um diesem Ziele näher zu kommen, gestatte man
den Zöglingen, die Aussage zu vermeiden, so weit das irgend angängig
ist. Will man sich über das Vorleben unterrichten, so weise man den
einzelnen Pflegling darauf hin, daß er sowohl im ganzen, wie auch im
einzelnen die Aussage verweigern darf, und daß ihm irgend welche Nach-
teile aus dieser Verweigerung nicht erwachsen. — Bevor gerichtliche
Vernehmungen stattfinden, bitte man den Zögling in Erwägung zu ziehen,
ob seine Aussage ihn nicht selbst belaste.«
Solchem entgegen ist man in Erzieherkreisen allgemein der Ansicht,
daß ein Kind, wenn es befragt wird, Rede und Antwort zu stehen hat,
auch in Fällen begangenen Unrechtes. In letzteren wird man, wenn es
sich um ein sehr verlogenes Kind handelt und keine Aussicht besteht,
daß man bei ihm die Wahrheit erzielen wird, entweder das Unrecht
stillschweigend ganz übergehen, oder das Kind durch Blick, bloßen Auf-
ruf, kurze Ermahnung wissen lassen, daß man sein Unrecht bemerkt hat,
oder man wird, wenn man Zenge des Unrechtes gewesen ist, das Kind
stillschweigend bestrafen usw. Die Erziehung bietet hierin viele Ein-
wirkungsmöglichkeiten. Es muß da der erzieherischen Weisheit überlassen
bleiben, die rechte in Anwendung zu bringen. Die Schweigeerlaubnis
zum Zwecke der Umgehung einer verdienten Strafe aber halte ich unter
allen Umständen für völlig untunlich und zweckwidrig, sie führt zur Un-
redlichkeit, Heuchelei, Feigheit und versteckten Bosheit.
Zu den Vernehmungen eines Zöglings vor Gericht ist zu sagen, daß
es erzieherisch falsch ist, dem Zögling das Verschweigen ihn belastender
Momente anzuraten. Man lehre den Zögling vielmehr den Folgen seiner
Übeltaten gefaßt entgegenzusehen und der möglichen Strafe einen nachhaltigen
Antrieb zur Besserung zu entnenmen. Dieses verhindert keineswegs, mit
aller Kraft für den Zögling einzutreten und die Momente hervorzukehren,
die zu seiner Entlastung geeignet erscheinen.
Zeitschrift für Kinderforschung. 18. Jahrgang. 37
570 B. Mitteilungen.
Mit solcher Praxis habe ich bis jetzt immer die besten Erfolge er-
zielt. In jedem anderen Falle wird der Zögling wohl einen kurzen
(äußerst zweifelhaften) Vorteil vor Gericht gewinnen, andererseits aber
alle Scheu vor letzterem verlieren und seinem Erzieher, der ihn zur Un-
aufrichtigkeit erzog, seine Fürsorge am ehesten schlecht lohnen.
* *
*
Die Erzieherfrage sucht Hammer in eigenartiger Form zu lösen. Da
ihm das sexuelle Moment in der ganzen Erziehung das allein vorwiegende
ist, läßt er dasselbe auch die Erzieherfrage entscheiden.
Speziell ı zur Bekämpfung der Gleichgeschlechtlichkeit sind in
Mädchenanstalten »als Vorarbeiter Männer von festem Charakter und
sittlicher Stärke in möglichst großer Zahl anzustellen. Ebenso ist aus
Gründen der geschlechtlichen Sittlichkeit die männliche Leitung dringend
erwünscht. In Knabenanstalten sind hingegen Frauen, die sich auf die
Erziehung von Knaben verstehen, anzustellen.«
Diese rein problematische Forderung, die meines Wissens nirgends
in der Praxis auch nur durch einen Versuch begründet ist, muß doch —
von Hammer aufgestellt — einiges Verwundern erregen. Auf die von
Hammer geschilderte Geschlechtstollheit der Menschen eingehend ist die
Frage aufzuwerfen: Woher will Hammer die vielen »Männer von festem
Charakter und sittlicher Stärke«e nehmen, die nach seiner Ansicht die
»Freudenmädchen« erziehen sollen, die in den Anstalten aus »Geschlechts-
not« »mit unzüchtigen Gebärden die Männerwelt anzulocken suchen, auch
die Männerwelt, die nicht zahlt=?
Will Hammer, um der Gefahr einer eingebildeten gleichgeschlecht-
lichen Entartung in den Anstalten willen die sexuell leicht reizbaren
Mädchen durch den steten Umgang mit Männern ständig in einer Auf-
regung halten, für welche keine Aussicht auf Dämpfung besteht? Und
sollen die Männer, auch wenn sie aus sich selbst nicht in Versuchung
kommen sollen, weiblicher Klatschsucht und Niedertracht »in großer Zahl«
ausgesetzt sein? Hammer selbst sagt doch, daß die Unzufriedenheit und
Gereiztheit des Menschen, die zur »Voreingenommenheit« und »üblen
Nachrede« führt, in der »geschlechtlichen Nichtbefriedigung die Haupt-
ursache« hat. Es ist auch weiter nicht erwiesen, daß der bloße Umgang
mit einem männlichen Vorgesetzten die Mädchen von der Gleichgeschlecht-
lichkeit abhält. Die Annahme ist nicht so unberechtigt, daß die durch
den Umgang mit Männern bei den Zöglingen entstandene geschlechtliche
Erregung sich zu gelegener Zeit in Selbstbefleckung oder homosexuellem
Verkehr austobt. Zu diesem kommt noch das andere, daß die Anstalt
überhaupt nicht dazu da ist, der »Geschlechtsnot« der Freudenmädchen
irgend welche Konzessionen zu machen.
In etwas gibt Hammer die drohenden Gefahren bei einem anders-
geschlechtlichen Erzieherpersonal zu. »In Mädchenanstalten drohen bei
Verwirklichung der hier angeregten Pläne Unzuchtshandlungen der Er-
zieher, in Knabenanstalten Vergewaltigungen der Erzieherinnen.«
Wenn aber Hammer diese Gefahren kennt, warum bedenkt er nicht,
1. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammers Grundzüge usw. 571
daß eine einzige der genannten Handlungen geeignet ist, die Früchte
jahrelanger und mühevoller Erziehungsarbeit mit einem Schlage zu ver-
nichten und für lange Zeit jede weitere Erziehung in der betreffenden
Anstalt unmöglich zu machen? Und wie soll eine Anstalt die Verant-
wortung tragen, nicht nur sich selbst und ihren Zöglingen, sondern dem
ganzen Anstaltswesen einen nicht wieder gut zu machenden Schaden zu-
gefügt zu haben? Darum erscheint es geraten, den Hammerschen Vor-
schlag kurzerhand abzulehnen.
Aus anderen als den von Hammer angeführten Gründen ist die
männliche Mitarbeit in der Anstaltsleitung dringend zu fordern. Die eigen-
artig angelegte weibliche Natur macht vielleicht weniger die ständig aktiv
unterstützende, als vielleicht die gleichmäßig tragende und zielbewußt be-
stimmende Mitwirkung des Mannes im Anstaltsbetriebe erforderlich, wenn-
gleich auch vereinzelte dringliche Notfälle nur durch die männliche Über-
legenheit ihre Erledigung finden können. Das umgekehrte Verhältnis
hätte für die Knaben-Erziehungsanstalten Geltung.
* +
*
Hammers Anforderungen an einem rechten Erzieher und eine rechte
Erzieherin sind nützlich und gut, doch bieten sie, abgesehen von der ein-
gehenderen Beleuchtung vom sexuellen Standpunkte aus, welcher jedoch
in wesentlichen Punkten nicht zuzustimmen ist, keine neuen Gedanken.
Die ideale Seite des Erziehers, wie Hammer sie ausmalt, ist bereits Gegen-
stand aller pädagogischen Werke und Schriften und vieler mündlicher und
schriftlicher Abhandlungen gewesen. Die vorwiegendsten Momente!) aber,
die die heutige Erzieherfrage in den Anstalten ausmachen, werden durch
Hammers Ausführungen nicht getroffen.
Darin stimme ich ganz mit Hammer überein, daß den Erziehungs-
anstalten und ihrer Praxis heute noch mancherlei Unvollkommenheiten
anhaften. Dieses aber ist auch den zuständigen Kreisen bekannt. Die
Tatsache zeigt, wie auch bereits ausgeführt: ist, daß viele anerkannt
tüchtige Kräfte in der Förderung der Fürsorgeerziehungspraxis ihre Lebens-
aufgabe erblicken. Welches aber muß dazu der erste Hauptgedanke sein?
Jede Erziehung ist reine Persönlichkeitssache, wir brauchen
Erzieherpersönlichkeiten! Haben wir darum in unseren Anstalten
vor allem erst ein berufsfreudiges und starkes Erzieherpersonal, wie es
zur Bewältigung der Anstaltsarbeit notwendig ist, dann lösen sich alle
anderen Anstaltsfragen gleichsam von selbst; dann wird die Fürsorge-
erziehung, soweit die Anstalten in Fragen kommen und sofern auch nach
außen hin Vervollkommnungen geschaffen werden, wie es nicht anders
zu erwarten ist, überhaupt in Wahrheit und Kraft ein wirkliches Fürsorge-
werk für unsere sittlich entgleiste und gefährdete Jugend sein.
1) Dieselben sind bereits ausführlich von mir in verschiedenen Artikeln des
Rettungshaus-Boten klargelegt worden.
37*+
572 B. Mitteilungen.
Schlußwort.
Es dürfte sich als vorteilhaft erweisen, in kurzen Sätzen eine Gesamt-
beurteilung, oder sagen wir richtiger -Verurteilung der Hammerschen Arbeit
zu geben.
1. Hammers Ausführungen über die heute geübte Fürsorge- und
Anstaltserziehung zeugen m. E. von einer offenbaren Unkenntnis auf dem
Gebiete der in Frage stehenden Materie. Bei der Lektüre der Hammer-
schen Schrift gewinnt man den Eindruck, als ob Hammer sich bemühe, in
gewollter Verkennung des wahren Sachverhalts exzentrisch dazustehen.
2. Ein Gleiches gilt von seiner Beurteilung der Prostitution und
deren Begleiterscheinungen.
3. Seine Aufstellungen über die sexuelle Sittlichkeit sind zum Teil
geeignet, vielen zu einer direkten Gefahr zu werden.
4. Die Hammersche Arbeit wäre einer kritischen Betrachtung nicht
wert, wenn nicht die Gefahr bestände, daß weitere Unberufene das zum
großen Teile bedenkliche Hammersche Material zum Schaden einer groß-
zügig durchdachten und mit allem Fleiße betriebenen Wohlfahrtseinrichtung
gebrauchen könnten.
Außer im Rettungshaus-Boten hat die Hammersche Schrift meines
Wissens in Anstalts- und Erzieherkreisen nirgends Beifall gefunden. Die
Entrüstung über dieselbe ist allgemein.
Die Hammersche Arbeit dürfte hiermit für die Erziehungsanstalten
ihre Erledigung gefunden haben.
2. Drei Originalbriefe eines ehemaligen jugendlichen
Gefangenen.
Ein Beitrag zu dem Kapitel »Neurasthenische Depressionszuständee«.
Von K. Kruppa, Lehrer an der Königl. Landesstrafanstaft Bautzen.
(Schluß.)
Noch mehr wurde ich in dieser Meinung bestärkt durch den 2. Brief,
den ich nach reichlich 2 Monaten von ihm erhielt. Dieser hat folgenden
Wortlaut:
Leipzig, den 15. 7. 1912.
Hochverehrter Herr Kruppa!
Wenn ich Ihren lieben Brief, ganz dazu angetan, aufmunternd, an-
spornend zu wirken, bisher unbeantwortet ließ, hat mich einzig und allein
die Scham, Ihnen eingestehen zu müssen, daß Ihr Schreiben wohl auf
einige Zeit meinen gefaßten Vorsatz aufrecht zu erhalten vermochte, mich
dann aber nur um so tiefer wieder in den Schlamm sinken ließ, daran
verhindert. — O, wenn Sie wüßten, Herr K., welche Stunden ich durch
mein abermaliges und sich dann wiederholendes Straucheln durchgemacht
habe! Wohl habe ich Ihre Ratschläge, so gut es ging, befolgt, habe mich
bis zur Erschöpfung müde gearbeitet, geschrieben bis die Augen schmerzten:
2. Drei Originalbriefe eines ehemaligen jugendlichen Gefangenen. 573
Aber dann beim Zubettgehen die qualvollen Augenblicke vor dem Ein-
schlafen, wo ich schlafen wollte und doch nicht konnte, wo die nicht zur
Ruhe kommen wollenden und nun unbeschränkte Freiheit habenden Ge-
danken mit unwiderstehlicher Macht immer wieder auf den verbotenen
Gegenstand zurückkamen. Die Macht der Gewohnheit, jahrelanger Ge-
wohnheit, machte sich schließlich wieder geltend, und ich — — unterlag!
— Es ist keine leere Phrase, wenn ich schreibe, daß ich dann infolge
der darauf folgenden Seelenqualen, ohnmächtigen Zorns über meine Willens-
schwäche und dumpfer Verzweiflung stundenlang in kaltem Schweiße ge-
badet lag. Und einmal wieder gefallen, gab es kein wirkliches Aufkommen
mehr. Was ich in diesen wenigen — vom Laster enthaltsamen und daher
mit mir selbst zufrieden verlebten — Wochen an Zukunftsplänen aufgebaut,
sank leicht wie ein Kartenhaus wieder zusammen.
Dieser, durch beständige Selbstanklagen und auch Furcht und Scham
vor der Ihnen zur anberaumten Zeit zu gebenden Antwort auf Ihr Schreiben
unerträglich gemachten Lage glaubte ich dadurch zu entgehen, daß ich
das bißchen Stellung, welche ich inne hielt, aufgab und mich aufs neue
dem Landstreicherleben überließ. Der dadurch bedingte ständige Aufent-
halt in der frischen Luft, sowie der damit verbundene Wechsel täglicher
Eindrücke würden, so glaubte ich (trügerischer Weise wie auch bei frühern
Gelegenheiten) meinen Gedanken die nötige Ablenkung bieten und mich
so vor der zu häufigen Wiederkehr des Lasters bewahren. Jedoch ohne
Erfolg. Hatte mir vordem das Bewußtsein, mein tägliches, wenn auch
kärglich zubemessenes Brot auf redliche Weise verdient zu haben, immer
noch einen gewissen moralischen Halt gegeben, so wurde ich jetzt, nach-
dem ich durch Betteln gezwungen war, meinen Lebensunterhalt zu er-
werben, um so leichter eine Beute meiner niedrigen Leidenschaft.
Jetzt aber, Herr K., nach 6 Wochen langem Umherirren (ich war
nacheinander wieder in Hamburg, Bremen, Braunschweig, Magdeburg etc.,
u. a. fand ich während dreier Wochen Aufnahme in einem kaufmännischen
Heim in Bremen) habe ich mich zu dem Entschlusse durchgerungen, noch
einmal mit allen Kräften ein neues Leben anzufangen. Ich gebrauche
Ihre Worte: Ich will ernstlich und muß daher emporkommen, muß heraus
aus diesem moralischen Schlamme. Ständig will ich mir vor Augen halten,
daß es doch jemand gibt, der sich wirklich um mein Schicksal bekümmert,
Anteil daran nimmt, wenn ein Mensch bestrebt ist, mit allen Kräften sich
wieder auf die Höhe zu schwingen, zu der ihn sein Intellekt und das
Bewußtsein, eine Religion zu haben, befähigt! — —
In dem Augenblicke, wo ich dies schreibe, befinde ich mich in Witten-
berg. Ich hatte eigentlich die Absicht, mich nach Breslau durchzuarbeiten,
aber jetzt, da dieser Entschluß in mir groß geworden ist, will ich nach
Leipzig zurückkehren, zu dem Ort, der Zeuge der verschiedensten Phasen
meines bisherigen Lebens gewesen ist, der aber jetzt bezeugen soll, wie
ich entweder wirklich wieder in die Höhe gelange oder aber endgültig
zu Grunde gehe.
Ich werde Ihnen, sobald ich in Leipzig wieder Beschäftigung ge-
funden habe, meine Adresse zukommen lassen und mich dann äußerst
574 B. Mitteilungen.
glücklich schätzen, abermals einen Brief von Ihnen, Herr K., in den Händen
zu halten.
In dieser Erwartung und mit dem ehrlichen Versprechen, mich diesmal
nicht durch einen etwa eintretenden Rückfall entmutigen zu lassen, sondern
entschlossen vorwärts zu schauen, verbleibe ich für immer
Ihr
Sie hochverehrender und reuiger
Fritz B.
Das Krankheitsbild, das sich aus vorstehenden Briefen enthüllt, ist
folgendes:
B. ist noch nicht über die Zeit des Pubertätsirreseins hinausgekommen
trotz seiner 21 Jahre, im Gegenteil, seine Selbstcharakterisierung in den
Briefen zeigt deutlich alle Spuren der Hebephrenie Schon bei seinem
Hiersein machte B. auf mich den Eindruck, als sei er ein erblich belasteter
Mensch. Der Umstand, daß sein Vater spurlos verschwunden war, läßt
vermuten, daß auch diesen die Neigung zu planlosem Umherschweifen er-
griffen haben mag. wie jetzt auch den Sohn. Selbst Äußerlichkeiten in den
Briefen B.s, wie die fürchterlichen Satzungeheuer, sind nach Ziehen Kenn-
zeichen der Hebephrenie. (Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik von
Rein, 7. Band, Langensalza, Hermann Beyer & Söhne [Beyer & Mann],
1908, S. 134/135, Artikel über »Pubertätsirresein« von Ziehen.)
B. zeigt, wie er mehr als einmal Gelegenheit hatte, aus diesem un-
würdigen Dasein herauszukommen; doch sein Handeln ist direkt entgegen-
gesetzt, vollkommen unlogisch und ziellos. Ja gerade sein planloses Um-
herschweifen ist charakteristisch für seinen Zustand. Beim Lesen der
Briefe werden wir den Eindruck nicht los, daß B. gewissen Wahnvor-
stellungen nachgibt.
Die Pubertäts-Melancholie fehlt ebenfalls nicht zum typischen Bilde.
Sie äußert sich nicht nur in seinen eigenen Worten im 1. Briefe, sondern
sie wird auch gekennzeichnet durch das Unlogische seiner Handlungsweise,
durch sein ganzes Verhalten, das direkte Denkhemmungen erkennen läßt.
Das Verzweifeln an seinem Können, seine Reizbarkeit sind bedeutsam für
den Depressionszustand. Noch ist zwar seine Entschlußfähigkeit nicht
ganz verschwunden, aber doch bedeutend herabgesetzt, wie wir das ferner
noch deutlicher erkennen werden. Es fehlt somit auch nicht der Typus
in diesem Depressionszustand, den man mit dem Worte Abulie bezeichnet.
Hand in Hand mit der verringerten Entschlußfähigkeit geht die
Mutlosigkeit.
Wir sind geneigt, einen großen Teil der Schuld der zügellosen Onanie
zuzuschreiben. In neuerer Zeit hat man zwar die Ansicht aufgegeben,
daß die Onanie allein als Ursache zu psychischen Erkrankungen anzu-
sprechen sei, und auch ich bin der Meinung, daß man mit der Darstellung
der schweren Folgen der Onanie mehr schadet als nützt, doch in vor-
liegendem Falle ist zweifellos eine Mitwirkung dieses Lasters nicht von
der Hand zu weisen, besonders wenn man B.s Mangel an Selbstzucht,
seine Verwirrtheit und Mutlosigkeit ins Auge faßt.
2. Drei Originalbriefe eines ehemaligen jugendlichen Gefangenen. 575
Die Art des Depressionszustandes könnte man wohl am besten mit
dem Worte »Stimmungsdepression« bezeichnen. Unverkennbar sind die
Angstaffekte, die ihn immer aufs neue dazu treiben, die Flucht zu ergreifen.
Scheinbar verdichten sich diese Affekte bei ihm schon zu direkten Wahn-
oder Zwangsvorstellungen. Vom Leben erwartet er gar nichts mehr, und
eine geregelte Berufstätigkeit für längere Zeit ist ihm unmöglich. Daß wir
es hier mit Zwangshandlungen zu tun haben, geht ferner daraus hervor,
daß jede Überlegung beim Verlassen des nach langem Suchen endlich ge-
fundenen Arbeitsplatzes fehlt. Hat er eine Stellung gefunden, so erkennt
er meist, daß er doch noch mehr leisten kann, als er sich selbst zutraute.
Doch nur solange währt der gute Einfluß, als ihm die Tätigkeit neu ist.
Gar bald verblaßt wieder der mit der Neuheit der Stellung verbundene
Gemütseindruck, und der Depressionszustand macht sich aufs neue bemerk-
bar. Somit kann man bei B. wohl auch von periodischem Irresein oder,
da es sich um eine Stimmungsdepression handelt, von periodischer Melan-
cholie sprechen.
Körperlich sind die.psychischen Regelwidrigkeiten wahrscheinlich be-
gründet in Störungen des Herzens und der Blutgefäße; wenigstens lassen
sie sich vermuten, weil B. bereits jahrelang Onanist ist.
Nicht unmöglich ist es, daß B. durch falsche Erziehungsmaßnahmen
seitens Erzieher, Lehrer, Seelsorger, oder auch durch Lesen über die an-
geblichen furchtbaren Folgen der Onanie veranlaßt wurde, an sich selbst
zu verzweifeln, zum mindesten aber Befürchtungen wegen seines Gesund-
heitszustandes zu hegen. Diese Befürchtungen aber tragen, wie Fachleute
betonen, ganz wesentlich dazu bei, neurasthenische Depressionszustände zu
erzeugen. !)
Auf den 2. Brief konnte ich ihm nicht antworten, da er es unterließ,
mir seine Adresse mitzuteilen. Als der 2. Brief mich aber dazu veranlaßte,
mich mit dem psychischen Zustande B.s noch eingehender zu befassen
und durch Bücher von Fachleuten unterrichten zu lassen, mußte ich leider
auch die Ansicht wiederholt bestätigt finden, daß die Hebephrenie als un-
heilbar zu betrachten sei, wenn auch zuweilen »wesentliche und lang an-
dauernde Besserungen«e vorkommen können. Das war für mich um so
bedauerlicher, da das mir entgegengebrachte Vertrauen und der ganze Zu-
stand B.s mich direkt reizte zu erzieherischen Maßnahmen.
Aber schneller, als ich selbst ahnte, sollte ich vor die Frage gestellt
werden: Was ist mit B. zu tun?
Nachdem ich nämlich längere Zeit auf eine Nachricht von B. gewartet
hatte, jedoch vergebens, erschien B. plötzlich persönlich am 24. Januar
1913 in meiner Wohnung, als ich gerade vom Dienste aus der Anstalt
nach Hause gekommen war und mich zum Abendessen hinsetzen wollte.
Ich erkannte ihn zunächst nicht, vermutete aber sofort: einen früheren
Gefangenen in dem jungen Manne, der, wie dies zuweilen vorkommt, mir
einen Besuch abstatten wollte.
1) Vergl. hierzu: Dr. med. Dornblüth, Die Psychoneurosen. Leipzig,
Veit & Co., 1911. 8. 19.
576 B. Mitteilungen.
B.s erste Worte waren: »Herr K., helfen Sie mir, ich bin am Ende,
ich weiß nicht mehr, was ich machen soll!« Als er nun noch seinen
Namen hinzufügte, kann man sich mein Erstaunen gewiß denken.
Ich will den Leser nicht mit den Lebensschicksalen B.s in der Zeit
vom 15. Juli 1912 bis 24. Januar 1913 ermüden, sondern nur erwähnen,
daß er den Entschluß, mich aufzusuchen, in Königsberg gefaßt hatte!
Wahrlich, ein tüchtiger Marsch von Königsberg bis nach Bautzen! In
Königsberg hatte er eine Stellung gehabt mit einem monatlichen Gehalt
von 80 M. Ohne Grund hatte er diese Stellung wieder verlassen und
sich ohne Barmittel bis hierher über Berlin, Leipzig und Chemnitz durch-
gebettelt! Als ich in ihn drang, er müsse doch einen Grund anzugeben
wissen, warum er diese gute Stellung, die, wie er selbst sagte, die beste
gewesen sei, die er je inne hatte, verlassen habe, sagte er: »Ich wollte
eben zu Ihnen, da Sie der einzige Mensch sind, der mich nicht verdammt.
Mein Chef hatte erfahren, daß ich bestraft war, und da hielt ich es nicht
aus, ich schämte mich zu sehr.« Er ging also fort, obgleich sein Prinzipal
ihn behalten hätte. B. sagte ausdrücklich, ihm wäre nicht gekündigt
worden, er sei selbst gegangen.
Zu meinem größten Bedauern mußte ich gerade an diesem Abende
noch in die Stadt und darum das Zusammensein mit B. abkürzen. Trotzdem
habe ich versucht, das Bild, das die Briefe von B. boten, noch zu ver-
vollständigen.
Eine Charakteristik des vor mir Sitzenden würde folgendes ergeben:
An dem 22jährigen jungen Manne ließ sich große Niedergeschlagen-
heit und vollkommene Mutlosigkeit deutlich erkennen. Seine Selbstachtung
war ganz auf dem Null-Punkte angelangt und seine Unentschlossenheit
für einen Menschen seines Alters geradezu erbärmlich; alles Heil erwartete
er von mir. Auch dieser Umstand schien mir die angenommene Minder-
wertigkeit nur zu bestätigen. Auf alle an ihn gerichteten Fragen gab er
zwar höflich Antwort, war aber nur sehr schwer zu bewegen, mich an-
zusehen. Schmerzlich vor sich hinlächelnd, mit den Händen an den
Knöpfen seines Überrockes spielend, saß er vor mir. Übrigens war er
auch nicht zu bewegen, etwas zu genießen. Alle Aufforderungen hierzu
lehnte er mit dem Hinweise ab, er sei satt, nahm aber trotzdem an-
scheinend gern mehrere mit Wurst belegte Butterbrote und einige ge-
kochte Eier an.
Mich hatte aber noch immer nicht der Gedanke losgelassen, daß er
gekommen war, um von mir in einer Stellung untergebracht zu werden.
Ich hatte ihm klar gemacht, daß er doch wenigstens erst an mich
hätte schreiben müssen, und daß sich nicht so im Handumdrehen eine
Stellung für ihn schaffen lasse. Glücklicherweise besann ich mich auf
einen Menschenfreund in der Nachbarstadt L., an den ich einen Brief
schrieb, in dem ich ihm die ganze Lebenslage B.s mit kurzen Worten
klarlegte. Fast hätte ich das Schreiben wieder zurückgenommen, als B.
nach dessen Empfang äußerte: »Es ist nur für eine kurze Zeit, wo ich
Arbeit haben will; ich gehe dann nach London; denn ich komme hier
doch nicht wieder hoch.«
2. Drei Originalbriefe eines ehemaligen jugendlichen Gefangenen. 577
Als er das nötige Geld für Übernachtung und die Reise nach L. er-
halten hatte (er besaß nur noch 5 Pf.), verließ er mich, doch nicht, ohne
plötzlich zu äußern: »Herr K., und nun, bitte, schenken Sie mir noch
Ihre Photographie.« Leider konnte ich seine Bitte nicht erfüllen. Als
ich ihm dann noch sagte, falls er keine Stellung erhalte, solle er sich an
mich wenden, ich wolle versuchen, was sich tun lasse, leuchtete sein Auge
zuversichtlicher als erst, und der Druck der Hand schien zu sagen: »Ich
will es noch einmal versuchen mit allen Kräften!«
Wenn ich auch mit aller Wucht versucht hatte, aufs neue ihm den
verloren gegangenen Glauben an sich selbst zu stärken, so mußte ich doch
das Vergebliche meiner Bemühungen bald erkennen.
Zwei Tage später erhielt ich eine Karte, die nur ganz kurz die Mit-
teilung enthielt, daß er keine Arbeit bekommen habe. (Der Chef des
Hauses war, wie ich später erfuhr, auf Reisen.) Der ganze Februar ver-
ging, und ich wartete umsonst auf eine Nachricht von ihm. Endlich, am
3. März, erhielt ich folgenden 3. Brief:
Berlin, den 1. März 1913.
Sehr geehrter Herr Kruppa!
Leider komme ich meinem Versprechen, Ihnen möglichst bald meine
Adresse aufzugeben, etwas spät nach. Sie werden es jedoch entschuldbar
finden, wenn Sie nachstehendes erfahren:
Nachdem der Versuch, in L. etwas zu erreichen, fehlgeschlagen war,
versuchte ich, streckenweise nach Berlin zu kommen. Unter anderem be-
rührte ich auch Cottbus. Hier hatte ich das Mißgeschick, beim Ansprechen
ertappt zu werden. Nachdem ich 14 Tage in Untersuchung verblieben,
wurde ich zu 8 Tagen Haft verurteilt, die durch die Untersuchungshaft
als verbüßt erachtet wurden. — Am 15. Februar traf ich in Berlin ein,
irrte 8 Tage beschäftigungs- und obdachlos umher, bis ich vor 1 Woche
Arbeit in einem hiesigen Adressenverlag erlangte. Erst heute war ich
imstande, eine Wohnung zu mieten und damit das oben berührte Ver-
sprechen einzulösen. —
Ich bitte Sie nun flehentlich, Herr K., mich nicht zu verdammen,
weil ich doch noch einmal mit der Gerichtsbarkeit in Konflikt geraten bin.
Ich sah keinen anderen Ausweg, hierher zu gelangen, als betteln zu gehen.
In diesem Falle gilt doch das Sprüchwort: Der Zweck heiligt die Mittel.
Ich habe erreicht, was ich erreichen wollte, ich bin in Berlin und habe
ein vorläufiges Unterkommen. Und jetzt werde ich mich allen Anordnungen,
die Sie bezüglich meines fernern Fortkommens treffen werden, bereitwilligst
und bedingungslos unterwerfen. Ich bin ja so froh, daß ich jemand
habe, dem ich alles anvertrauen kann und der Anteil an meinem Geschick
nimmt.
Ich schätze mich sehr glücklich, wenn ich einige aufmunternde Zeilen
von Ihnen in den Händen halte und verbleibe in dieser Hoffnung
Ihr
Angabe der Adresse. Fritz B.
578 B. Mitteilungen.
Daß dieser 3. Brief dazu angetan war, die Züge des Bildes, daß ich
mir von B. gemacht hatte, nur noch kräftiger zu gestalten, läßt sich
leicht begreifen.
Auch ich bin jetzt der Meinung, daß dem B. kaum zu helfen sein
dürfte, zumal er die ihm oft gebotenen Gelegenheiten durch Lehrherren,
Prinzipale usw. ungenützt ließ.
Ein Brief an ihn kam als unbestellbar zurück, da der Empfänger
verzogen sei. Durch die Polizei ließ sich sein Aufenthaltsort ebenfalls
nicht feststellen.
Es ist darum gar nicht unwahrscheinlich, daß er schon wieder sein
unstätes Leben begonnen hat.
3. Der erste heilpädagogische Seminarkursus in Essen
zur Ausbildung von Hilfsschullehrern und -Leitern
beginnt vorbehaltlich der endgültigen Genehmigung des Herrn Ministers
anfangs Oktober 1913 und dauert 4 Semester.
Die Vorlesungen finden statt in je 2 Doppelstunden an einem
Wochentage von 3—7 Uhr.
Das Honorar beträgt:
a) für Vollteilnehmer für das Semester 30 Mark,
b) für Hörer der Vorträge und Darbietungen, die keine Gruppen-
bildung erfordern, für das Semester 10 Mark,
c) für weitere Interessenten zum Besuch der akademischen Vor-
träge für das Semester 1 M, für den Einzelvortrag 0,50 M.
Das Honorar ist am Anfang jeden Semesters bei der Sparkasse Essen
zu entrichten. Maßgebend für die Zulassung ist der Nachweis einer ent-
sprechenden theoretischen und praktischen Vorbildung. Die Entscheidung
über die Aufnahme trifft das Kuratorium. Übergangsbestimmungen und
Prüfungsordnung stehen in Aussicht. Meldungen werden schon jetzt ent-
gegengenommen beim Kuratorium des heilpädagogischen Seminarkursus in
Essen durch Vermittlung des Schulbüros, I. Hagen 20, woselbst auch die
Anmeldeformulare und der genaue Stundenplan zu haben sind. Es können
als Vollteilnehmer außer den an Hilfsschulen tätigen Lehrpersonen auch
sonstige Interessenten, namentlich Leiter und Lehrer an Anstalten für
Abnorme, zugelassen werden. Als Schluß der Meldefrist ist der 20. Sep-
tember vorgesehen.
Die Ausweiskarten für Vollteilnehmer und Hörer werden nach Zahlung
des Honorars übersandt oder zu Beginn der ersten Vorlesung überreicht.
Es lesen im I. Semester:
Reg.-Rat Dr. Schapler-Arnsberg und Schulrat Schreff-Dortmund über
Geschichte, Wesen und Organisation der Hilfsschule und über Grund-
lagen der Hilfsschulpädagogik.
Oberarzt Dr. Kleefisch-Essen über die Funktionen des zentralen
Nervensystems als Grundlage der physiologischen Psychologie.
D. Literatur. 579
Dozent für Philosophie Dr. Dreiling über allgemeine Experimental-
Psychologie.
Stadtschularzt Dr. Steinhaus-Dortmund über die Hygiene des Schul-
kindes mit besonderer Berücksichtigung des Hilfsschulkindes;
im II. Semester:
Oberarzt Dr. Kleefisch über Psychognose und Kinderpsychologie.
Professor Dr. Peretti-Grafenberg über Ursachenlehre, soziale Hygiene
und Fürsorge.
Dr. Dreiling über Experimental-Psychologie;
im III. Semester:
Oberarzt Dr. Kleefisch über Neuro- und Psychopathologie des Schul-
kindes.
Spezialarzt Dr. Lübbers-Gladbeck über Ursachen, Formen und Be-
handlungsmethoden der Sprachstörungen.
Stadtschulrat Dr. Gentzen-Essen über eurhythmisches Turnen, Schul-
orthopädie und Heilgymnastik.
Daneben finden Übungen statt in experimenteller Psychologie und
Pädagogik, sowie in der Erkennung und erziehlichen Behandlung der
Abnormenzustände.
Das IV. Semester
dient fast ausschließlich den praktischen Übungen und der eingehenden
Vorbereitung auf das Examen.
Die Übungen in der Methodik finden in drei Gruppen statt, und zwar
in Düsseldorf unter Stadtschulrat Dr. Schmitz, in Dortmund unter
Stadtschulrat Dr. Kayser und in Essen unter Kreisschulinspektor
Gerdes.
Neben diesen ständigen Vorlesungen finden in jedem Semester noch
mehrere sogenannte akademische Vorträge statt von führenden Ge-
lehrten auf den einschlägigen Gebieten. Vorgesehen sind auch
Besichtigungen verschiedner Schulen und Anstalten mit orientierenden
Vorträgen.
D. Literatur.
Theuermeister, Robert, Unser Körperhaus. Wie ich mit meinen Kindern
über ihren Körper rede. Berlin-Lichterfelde, K. G. Th. Scheffer, 1913. 3. Aufl.
VOI und 247 Seiten. Preis broschiert 2 M, gebunden 3 M.
Aus dem Schulleben heraus ist das kleine Büchlein entstanden, das wir an
dieser Stelle einer warmen Empfehlung für wert erachten. Es ist eine Einführung
in die Lehre vom Menschenkörper, wie es wohl keine zweite gibt. Nicht streng
wissenschaftliche Darstellung, die alles bis ins kleinste an Abbildungen erläutert,
hat Theuermeister für sein Buch gewählt. Er wählte die Sprache der Kinder,
den Anschauungskreis der Kinder. Er setzte nichts voraus als das, was wir rings
580 D. Literatur.
im Leben sehen, beobachten. Er hatte nicht umfangreiche Tafelwerke und große
Bilder und zerlegbare Modelle nötig, wenn’s auch möglich ist, daß hier und da im
Unterricht doch mal eins gebraucht wurde (ich denke mir z. B. bei der Darstellung
des Gehörorgans). Er nutzt die ganze reiche Phantasietätigkeit der Kinder aus.
Und dabei macht er es möglich, in einem viel früheren als dem sonst üblichen
Alter wenigstens eine ganze Reihe der behandelten Fragen mit den Kindern zu
besprechen.
Das Büchlein vom Körperhaus ist nicht nur für Kinder geschrieben. Es will
Eltern und Lehrern den geistigen Verkehr mit ihren Kindern und Schülern er-
leichtern, es will bei Gesprächen oder im Unterricht eine Hilfe sein. Und es wird
sicher jedem, der es benutzt, zu einer trefflichen Hilfe werden.
Freilich: ich kann mir diese Unterhaltungen schwerlich in einem andern Tone
denken als in dem, wie der Verfasser sie darbietet. Und daher möchte ich lieber
als zu seiner Benutzung durch Eltern und Lehrer noch zur Verschenkung und Ver-
teilung des schmucken Bändchens an die Kinder raten. Man wird damit Freude
erwecken. Und man wird damit zugleich zur Gesundung unseres Volkes beitragen.
Ich habe das Gefühl: dieses Büchlein haben wir lange genug entbehrt. Sorgen
wir nun dafür, daß es möglichst vielen Menschen zu Freude und Belehrung gereiche!
Jena. Karl Wilker.
Wir weisen unsere Leser besonders auf den diesem Hefte bei-
liegenden Prospekt hin, aus dem sie ersehen, daß unsre Zeitschrift
vom 1. Oktober ab in erweitertem Umfange erscheinen wird.
Jena und Langensalza, am 1. August 1913.
Schriftleitung und Verlag
der Zeitschrift für Kinderforschung.
Verantwortliche Schriftleitung für Abhandlungen und a rapote
Sophienhöhe b. Jena; für Zeitschriftenschau und Literatur: Dr. Karl wi in
Weißenburgstraße 27.
Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
Pr 59 LIBH
DAAR
K T ÜF N
Ian IFEI
tY OFL
A Id 365P 49
Zeitschrift für Kinderforschung
der pädagogischen Pathologie
Im Verein mit
Dr. G. Anton Dr. E. Martinak Chr..Ufer__ Karl Wilker
Geh. Med.-Ratu. Prof. 0.8. Prof. d. Philosophie Rektor d. Süd-Mädchen- Dr. phil.
an der Univ. Halle u. Pädag. a. d. Univ. Graz Mitteischulei. Elberfeld in jena i. Thür.
herausgegeben von
J. Trüper
Direktor des Erziehungsheims und Jugendsanatoriums auf der Sophienhöhe bei jena
Achtzehnter Jahrgang, 11/12 |
August/September- Heft
Langensalza
Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann)
Herzogl. Sächs. Hofluchhändler
Wien
Manz’sche k. u. k. Hof-, Verlags- u. Universitätsbuchhandlung
1913
Preis des Jahrgangs (12 Hefte von je 3 Bogen) Er
4,80 M oder 6 Kr.
Heft 11/12. Ausgegeben am 1 August 1913.
Inhalt.
Kä” Die im ersten Teile dieser Zeitschrift enthaltenen Aufsätze
verbleiben Eigentum der Verlagshandlung. "=
A. Abhandlungen: Seite
1. Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung bezüglich der sogenannten
psychopathischen Konstitutionen. Von Prof. Th. Ziehen. (Schluß.). 489
2. Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. Von Franz
Weigl. (Schluß). . - . “u. 50
3. Die experimentelle Ermüdungsforschung. Von Marz: Lobsion. (Forts.) 530
B. Mitteilungen:
1. Kritische Betrachtung von Dr. med. W. Hammer’s »Grundzüge der er-
zieherischen Behandlung sittlich gefährdeter und entgleister Mädchen
in Anstalten und Familien. Von Fr. Bergold. (Schluß) . . . 544
2. Drei Originalbriete eines ehemaligen jugendl. EB Von K. Kruppa
(Schuß) . . .. 572
3. Der erste heilpädagogische Seminarkursus in Fasen zur r Ausbildung von
Hilfsschullehrern und -leitern . . . 2 2 2 m m mn nn nn. 578
D. Literatur:
Theuermeister, Robert, Unser Körperhaus. Von Karl Wilker . . . 579
Beiträge aus Österreich-Ungarn sind sämtlich an Universitätsprofessor Dr.
E. Martinak in Graz, Ruckerlberg, Polzergasse 19, zu senden, alle übrigen an
Direktor J. Trüper, Jena, Sophienhöhe.
Alle Beiträge werden vom Verleger mit 40 M für den Druckbogen honoriert.
mm nn
Verlag von Hermann Beyer & Sönne (Beyer & Mans) in Langensalza.
Beiträge zum Kinderiorschung und Heilerziehung,
Beihefte zur »Zeitschrift für Kinderforschung«.
Im Verein mit
Dr. G. Anton Dr. E. Martinak Chr. Ufer Karl Wilker
‘Geh. Med.-Rat u. Prof. o. ö. Prof. d, Philosophie Rektor d. Süd-Mädchen- Dr. phil.
an der Univ. Halle u. Pädag. a. d. Univ. Graz Mittelschulei. Elberfeld in Jena i. Thür.
Fe a
Y p
en
e w
pi pet
an
m Á çë ř Áb
© © N
20.
21.
Seenen» om re
herausgegeben von
J. Trüper
Direktor der Erziehungsheimes und Jugendsanatoriums auf der Sophienhöhe bei Jena.
Die Sittlichkeit des Kindes. Von Dr. A. Sehinz, Privatdozent der Philosophie
an der Akademie Neufchätel. Übers. von Rektor Ohr. Ufer. 46 S. Preis 75 Pf.
Über J. J. Rousseaus Jugend. Von Dr. med. P. J. Möbius. 338. Preis 60 Pf.
Die Hilfsschulen Deutschlands und der deutschen Sehweiz. Von A.
Wintermann, Leiter der Hilfsschule in Bremen. Preis 1 M 25 Pf.
Die medizinisch-pädagogische Behandlung gelähmter Kinder. Von Prof.
Dr. a. Hoffa in Würzburg. Mit 1 Tafel. 16 8. Preis 40 Pf.
Zur Pae der Erziehung unserer sittlich gefährdeten Jagend. Von J.
Trüper, Dir. des Erziehungsheims Sophienhöhe b. Jena. 40 8. Preis 50 Pf.
Über Anstaltsfürsorge für Krüppel. Von Sanitätsrat Dr. med. Herm. Kruken-
berg, Dir. d. städt. Krankenhauses zu Liegnitz. Mit 7 Textabb. 24 8. Preis 40 Pf.
Die Grundzüge der sittliehen Entwieklung und Erziehüng des Kindes.
Von Dr. H. E. Piggott. 87 S. Preis 1 M 25 Pf.
Psyehopathische Minderwertigkeiten als Ursache von Gesetzesverletzungen
Jugendlicher. Von Dir. J. Trüper. 62 S. Preis 1 M.
Der Konfirmandenunterrieht in der Hilfssehule. Von Heinrich Kielhorn,
iter der Hilfsschule in Braunschweig. 40 S. Preis 50 Pf.
ber das Verhältnis des Gefühls zum Intellekt in der Kindheit des
Individuums und der Völker. Von O. Flügel. 45 8. Preis 75 Pf.
. Einige Aufgaben der Kinderforsehung auf dem Gebiete der künstlerisehen
Erziehung. Von Conrad Schubert, Rektor in Altenburg. 31 S. Preis 50 Pf.
Strafrechtsreform und Jugendfürsorge. Von W. Polligkeit, jur. Dir. der
Cent. f. priv. Fürsorge in Frankfurt a/M. 25 S. Preis 50 Pf.
. 16 Monate Kindersprache. Von Dr. H. Tögel. 36 S. Preis 50 Pf.
Die Bedeutung der ehronischen Stuhlverstopfung im Kindesalter. Von
Dr. Eugen Neter. 28 S. Preis 45 Pf.
Zur Frage des Bettnässens. Von Dr. med. Hermann. 188. Preis 30 Pf.
. Warum und wozu betreibt man Kinderstudium? Von A. J. Schreuder,
Direktor des Med.-Päd. Instituts zu Arnheim. 40 8. Preis 50 Pf.
. Psychelogisehe Beobachtungen an zwei Knaben. Von Gottlieb Friedrich,
Gymnasial-Professor in Teschen. 79 8. Preis 1 M 25 Pf.
Die Abartangen des kindlichen Phantasielebens in ihrer Bedeutung fär
die päd. Pathologie. Von Dr. med. Julius Moses. 32 8. Preis 50 Pf.
. Hygiene der Bewegung. Von Dr. H. Pudor. 448. Preis 75 Pf.
Zur Frage der Behandlung unserer jügendlichen Missetäter. Von J.
Trüper, Dir. des Erziehungsheims Sophienhöhe b. Jena. 34 S. Preis 50 Pf.
Die Verwahrlosung des Kindes und das geltende Recht. Von Dr.
Heinrich Reicher, Privatdozent a. d. Wiener Universität. 32 S. Preis 50 Pf.
Über Vorsorge und Fürsorge für die intellektuell schwache und sittlich
gefährdete Jugend. Von Dr. M. Fiebig, Schularzt in Jena. 508. Preis 75 Pf.
Über Arbeitserziehung. Von Pastor Plass, Direktor des Erziehungsheims am
Urban, Zehlendorf. 22 S. Preis 40 Pf.
Das Spielzeug in seiner Bedeutung für die Entwicklung des Kindes.
Von Max Enderlin, Rektor in Mannheim. 44 8. Preis 75 Pf.
Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
Verlag von Herrmann BEYER & Sönne (Beyer & Mann) in Langensalza.
Heft
25. Wesen und Aufgabe einer Schülerkunde. Von Dr. E. Martinak, Professor
der Pädagogik an der Universität Graz. 18 8. Preis 30 Pf.
26. Die forensische Behandlung der Jugendlichen. Von W. Kulemann, Land-
gerichtsrat in Bremen. 218. Preis 40 Pf.
27. Die Impressionapilität der Kinder unter dem Einfluss des Milieus. Von
Dr. Adolf Baginsky, Professor an der Universität Berlin und Direktor des
Kaiserin Friedrich-Kinderkrankenhauses. 21 8. Preis 40 Pf.
28. Rachitis ais eine auf Alkoholisation und Eredniktionbennhp Ten be-
ruhende Entwicklungsanomalie der Bindesubstanzen. Von Dr. M. Fiebig
Schularzt in Jena. 38 8. Preis 75 Pf.
29. Psyehasthenische Kinder. Von Dr. Th. Heller, Direktor der Erziehungsanstalt
für geistig abnorme Kinder Wien-Grinzing. 18 S. Preis 35 Pf.
30. Die Fürsorge für die schulentlassene Jugend. Von Dr. Felisch, Geh.
Admiralitätsrat. 17 S. Preis 30 Pf.
31. Farbenbeobachtungen bei Kindern. Von Dr. Karl L. Schaefer, Professor
an der Universität Berlin. 16 S. Preis 30 Pf.
32. Über die Möglichkeit der Beeinflussung abnormer Ideenassoziation durch
Erziehung und Unterricht. Von Hugo Landmann, Oberlehrer am Trüperschen
Erziehungsheim Sophienhöhe b. Jena, 218. Preis 40 Pf.
33. Uber hysterische Epidemien an deutschen Sehulen. Von Kurt Walther Dix,
Lehrer in Meißen. 46 S. Preis 75 Pf.
34. Die psychologische und pädagogisho Begründung der Notwendigkeit
des praktischen Unterrichts. Von Dr. A. Pabst, Direktor des Handarbeits-
seminars in Leipzig. 20 8. Preis 40 Pf.
35. Die oberen Stufen des Jugendalters. Von Dr. H. Sehmidkunx in Halensee
bei Berlin. 20 S. Preis 40 Pf.
36. Fröbelsche Pädagogik und Kinderforsehung. Von Hanna Mecke in Cassel.
18 S. Preis 35 Pf.
37. Über individuelle Hemmungen der Aufmerksamkeit im Schulalter. Von
J. Delitsch, Hilfsschul-Direktor in Plauen i. V. 25 S. Preis 50 Pf.
38. Die Taubstumm-Blinden. Von G. Riemann, Kgl. Taubstummenlehrer zu
Berlin. Mit 2 Tafeln. 218. Preis 45 Pf.
39. Beitrag zur Kenntnis der Schlafverhältnisse Berliner Gemeindeschäüler.
Von Dr. L. Bernhard, Schularzt in Berlin. 13 8. Preis 25 Pf.
40. Wohnungsnot und Kinderelend. Von A. Damaschke. 17 $. Preis 30 Pf.
41. Jugendliche Verbrecher. Von Dr. G. von Rohden. 188. Preis 35 Pf.
42. Die Bedeutung der Hilfsschulen für den Militärdienst der geistig Minder-
eh Ye Von Dr. Ewald Stier, Stabsarzt in Berlin. 26 S. Preis 50 Pf.
43. Der Zitterlaut R. Von O. Stern, Tbst.-L. in Stade. Mit 2 Fig. 38S. Pr. 75 Pf.
44. Psychologisches zur ethischen Erziehung. Von Professor Dr. han
Witasek. Mit 1 Tafel. 17 S. Preis 30 Pf.
45. Zur Wertschätzung der Pädagogik in der Wissenschaft wie im Leben.
Von J. Trüper, Dir. d. Erziehungsheims Sophienhöhe b. Jena. 288. Pr. 50 Pf.
46. Fingertätigkeit und Fingerreehnen als Faktor der Entwieklung der Intelli-
be und der Rechenkunst bei Schwachbegabten. Von H. Nöll. 608. Pr. 1 M.
47. Der erste Spreehunterrieht (Artikulationsunterricht) bei Geistesschwachen.
Von Hauptlehrer Strakerjahn. Mit 2 Textabb. u. 1 Tafel. 258. Preis 60 Pf.
48. Das staatliche Kindersehutzwesen in Ungarn. Von Dr. Franz v. Torday.
Oberarzt des Budapester staatlichen Kinderasyls. 37 S. Preis 80 Pf.
49. Die Prügelstrafe in der Erziehung. Von Dr. O. Kiefer. 428. Preis 75 Pf.
50. Der Tie im Kindesalter und seine erziehliche Behandlung. Von Gustav
Dirks. 29 S. Preis 60 Pf.
51. Zur Literatur über Jugendfürsorge und Jugendrettung. Von K. Hemprich,
27 8. Preis 50 Pf.
52. Kind und Gesellschaft. Von Konrad Agahd in Rixdorf. 38 8. Preis 60 Pf.
53. Der Kinderglaube. Von H. Schreiber, Lehrer i. Würzburg. 708. Preis 1 M 25 Pf.
54. Psychopathische Mittelschüler. Von Dr. phil. Theodor Heller, Direktor der
Heilerziehungsanstalt Wien-Grinzing. 26 S. Preis 50 Pf.
Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
Verlag von Hzruanv BEYER & Sönne (Beyer & Mann) in Langensalza.
Heft
55. Über den Einfluss der venerischen Krankheiten auf die Ehe sowie über
ihre Übertragung auf kleine Kinder. Von Prof. E. Welander, Stockholm.
43 S. Preis 75 Pf.
56. Die Bedeutung des Unterriehts im Formen für die Bildung der Anschauung.
Von H. Denzer. 25 S. Preis 50 Pf.
57. Über den Einfluss des Alkoholgenusses der Eltern und Ahnen auf die Kinder.
Von Dr. A. H. Oort, Arzt a. Sanat. Rheingeest b. Leiden, Holland. 208. Preis 40 Pf.
58. Jugendsehatz-Kommissionen als vollwertiger Ersatz für Jugendgerichts-
höfe. Von Kuhn-Kelly, Präsident u. Kinderinspektor der Gemeinnützigen Ge-
sellschaft der Stadt St. Gallen. 19 S. Preis 40 Pf.
59. Das amerikanische Jugendgericht und sein Einfluss auf unsere Jugend-
rettung und Jugenderziehung. Von Dr. B. Maennel. 34 S. Preis 50 Pf.
60. Die Entwicklung der Gemütsbewegungen im ersten Lebensjahre. Von
Martin Buchner in Passau. (Mit 4 Tafeln.) 20 S. Preis 50 Pf.
61. Frühreife Kinder. Psychologische Studie von Dr. Otto Boodstein, Stadtschulrat
in Elberfeld. 43 S. Preis 75 Pf.
62. Der Arzt in der Hilfsschule. Von Geh. Reg.- u. Med.-Rat Prof. Dr. Leu-
buscher und Hilfsschullehrer Adam. 26 S. Preis 50 Pf.
63. Die Suggestion im Leben des Kindes. Von Hans Plecher, München. 36 S.
Preis 60 Pf.
64. Das Beobachtungshaus der Erziehungsanstalten. Von J. Petersen, Direktor
des Waisenhauses in Hamburg. 19 S. Preis 40 Pf.
65. Über den gegenwärtigen Stand der Kunsterziehungsfrage in Osterreich.
Von Prof. Alois Kunzfeld in Wien. (Mit 1 Doppeltafel.) 34 S. Preis 75 Pf.
66. Straffällige Schulknabeu in intellektueller, moraliseher und sozialer Be-
ziehung. Von C. Birkigt, Lehrer an der Kgl. Landesstrafanstalt zu Bautzen.
42 S. Preis 65 Pf.
67. Grundlagen für das Verständnis krankhafter Seelenzustände (psyeho-
pathischer Minderwertigkeiten) beim Kinde in 30 Vorlesungen. Von Dr. med.
Hermann, Merzig a/Saar. (Mit 5 Tafeln.) 2. Aufl. 194S. Preis 3 M., geb. 4 M.
68. Lüge und Ohrfeige. Eine Studie auf dem Gebiete der psychologischen Kinder-
forschung u. der Heilpädagogik. Von Kuhn-Kelly, Präsident u. Kinderinspektor
der Gemeinnützigen Gesellschaft der Stadt St. Gallen. 23 S. Preis 40 Pf.
69. Die Sinneswahrnehmungen der Kinder. Von Dr. phil. Hugo Schmidt. 33 S.
Preis 50 Pf.
70. Der Selbstmord im kindlichen und jugendlichen Alter. Von Dr. med.
Neter. 22 S. Preis 40 Pf.
71. Zur Kenntnis der Ernährungsverhältnisse Berliner Gemeindesehüler. Von
Dr. L. Bernhard, städt. Schularzt in Berlin. 28 S. Preis 45 Pf.
72. Einfluss von GEREBIT RENTEN auf die körperliche Entwicklung unserer
Voikssehuljugend. Von Dr. H. Roeder-Berlin. 17 8. Preis 30 Pf.
73. Die sozialen und psychologischen Probleme der jugendlichen Verwahr-
losung. Von Dr. Julius Moses, Arzt in Mannheim. 32 8. Preis 50 Pf.
74. Wie weit reicht das Gedächtnis Erwachsener zurück? Von Gregor
Schmutz, Landes-Taubstummenlehrer in Graz. 27 8. Preis 45 Pf.
75. Ursachen der Verwahrlosung Jugendlicher. Von J. Delitsch. 358. Pr. 60 Pf.
76. Beobachtungen über die geistige Entwicklung eines Kindes in seinem
ersten Lebensjahre. Von Dr. T. Ischikawa, Irrenarzt in Tokio. 538. Pr. 90 Pt.
77. Ein Experiment zur Einübung von Aufmerksamkeit. Von Dr. phil. Y. Motora,
Professor an der kaiserl. Univ. zu Tokio. (Mit 3 Tafeln.) 16 S. Preis 30 Pf.
78. Die Behandlung der jugendlichen Rechtsbreeher im russischen Straf- und
Strafprozessrecht. Von Eugenie Breitbart-Schuchmann aus Odessa (Rußland).
118 S. Preis 1 M 80 Pf.
79. Über die. angeborene Wortblindheit und die Bedeutung ihrer Kenntnis
für den Unterricht. Von Dr. med. F. Warburg, Köln. 218. Preis 40 Pf.
80. Zeitfragen. Von J. Trüper. 32 8. Preis 50 Pf.
81. Die staatsbürgerliche Erziehung im Lehrplan der Volksschule. Von #.
Lambeck, Rektor a. D. in Remscheid-Hasten. 63 S. Preis 1 XM
Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
—
u
Verlag von Hermann Beyer & Sönse (Bever & Mass) in Langensalza.
Heft
82.
101.
. Soziale Fürsorge für die aus der Hilfsschule Entlassenen. Von Johannes
103.
104,
105.
106.
107.
108.
109.
110.
111,
112.
113.
114.
. Die reine Kinderleistung. Von R. Egenberger, München. (U.
. Richtlinien für die Stoffauswahl im Unterriehte schwachsinniger Kinder
Lehrpläne für den Unterricht in der Hilfsschule nebst methodiseher An-
weisung. Von Rud. Weiß, Dir. d. Hilfssch. zu Zwickaui/S. 1358. Pr. 2 M70 Pf.
60 Pf.
Personalienbuch. Von J. Trüper. 2. Auf. XX u. 318. Preis 80 Pf.
on
. Die Pflanzenkenntnis bei den Kindern unserer Elementarklasse. Vi
E. Mentzel, Seminarlehrer in Altenburg. (Mit 4 Tafeln.) 358. Preis L Pe
Von Fr. Rössel. 20 S. Preis 30 Pf.
. Erholungsheime für sehulpflichtige Kinder der Grossstadt. Von Richard
Schauer. 90 S. Preis 1 M 60 Pf.
Die Waldschule, Von Karl König, Kreisschulinspektor in Mülhausen i. Els.
VII u. 124 S. Preis 2 M 20 Pf.
Zar Analyse des kindlichen Geisteslebens beim Sehuleintritte. Von
A. Vincenz. 66 S. (Mit 14 Tafeln.) Preis 2 M 40 Pf.
. Das Jugendgericht in Plauen i. Vgtl. Von F. Schmidt, Amtsrichter, und
J. Delitsch, Schuldirektor. 45 S. Preis 75 Pf.
. Die Beurteilung jugendlicher Schwachsinniger vor Gericht. Von Prof,
Dr. Ernst Ziemke-Kiel. 20 S. Preis 35 Pf.
. Jugenderziehung, Jugendkunde und Universität. Von Dr. Karl Wilker.
62 8. Preis 1 M.
Geschichte der österreich. Schulreform. Von Dr. Lud. Singer. 268. Pr. 40Pf.
. Kinderprügel und Masochismus. Von Dr. Michael Cohn, Kinderarzt in
Berlin. 20 8. Preis 30 Pf.
. Über den Einfluss des Antikenotoxin auf die Hauptkomponenten der
Arbeitskarve. Von Marx Lobsien, Kiel. 28 S. Preis 45 Pf.
. Weises Betrachtung über geistesschwaehe Kinder. Von Max Ki
irmsse,
Lehrer a. d. Erzichungsanstalt Idstein i. T. Mit 2 Abb. 978. Preis 1 M 50 Pê.
Beobachtungen über die typischen Einwirkungen des Alkoholismus auf
unsere Schüler. Von Richard Schauer. 27 S. Preis 45 Pf.
Über die Formen der krankhaften moralischen Abartung. Von Dr. G.
Anton, Geh. Med.-Rat u. Prof. a. d. Univ. Halle 18 S. Preis 30 Pf.
Biogenetik und Arbeitssehule. Von Prof. Dr. Ad. Ferrière. 728. Pr. 1M 60Pf.
Delitsch. 20 S. Preis 35 Pf.
Ziehen und die Metaphysik. Von O. Flügel. 19 S. Preis 35 Pf.
Die Psychopathologie der Pubertätszeit. Von Oberarzt Dr. Mönkemöller.
29 8 Preis 50 Pf.
Ist die Entmündigung psyehopathisch Miadorn E ratsam, und wann
soll sie eingeleitet weraen? Von Amtsgerichtsrat Dr. F. Schmid in Jena.
18 S. Preis 35 Pf.
Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen and sehwersehwach-
sinnigen Kindern. Von Kurt Lehm, Dresden. Mit 4 Abb. 36 S. Pr. 7OPf.
Stoffsammlung zum Sprechunterricht auf der Vor- bezw. Unterstufe der
Hilfsschule. Von Kurt Lehm, Dresden. (U. d. Pr.)
Die experimentelle Ermüdungsforschung. Von M. Lobsien, Kiel. (U. d. Pr.)
Die experimentelle Gedächtnisforschung. Von Dr. N. Braunshausen,
Professor am Gymnasium in Luxemberg. (U. d. Pr.)
Psychische Fehlleistungen. Von R. Egenberger, München. (Mit 12 Tafeln.)
50 Seiten. Preis 1 M 20 Pf.
Intelligenzprüfung von Hilfssehülern nach der Testmethode. Von Franz
Weigl, München-Harlaching. 40 S. Preis 65 Pf.
Ärztliche Wünsche zar Fürsorgeerziehung bezüglich der sog. psycho-
pathisehen Konstitutionen. Von Prof. Dr. Th. Ziehen. 328. Preis 60 Pf.
Das Problem der Schulorganisation auf Grund der Begabung der Kinder.
Von Dr. Willy Heinecker. 83 S. Preis 1 M 50 Pf.
Über die Entwieklung der Seele des Kindes. Von Ferdinand Altmüller.
Neu herausgeg. von Karl Wilker. 152 S. Preis 2 M 40 Pf.
Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
ea
DNA ana. Für geistig Zurückgebliebene
Oppellstrasse 44/4b. Gegründet 1873. Intern. Hygiene-Ausstellung Dresden 1911
Silberne Medaille. — Prospekto und Näheres durch Direktor Trillitzsch.
Verlag von Hermann Beyer & Söhne
(Beyer & Mann) in Langensalza.
Der Kinematograph
als Volkserzieher?
Von
Prof. Dr. Adolf Sellmann.
Zweite, vermehrte Auflage.
selbst-
schließend
Alles staubsicher und übersichtlich. Papiere, 64 Seiten. 80 Pf.
Formulare, Kataloge, Preislisten, Samm-
lungen, Muster, Briefbogen, Rechnungen usw. u Zu
ie tind raknia wie fee Päd A h M z
beliebig in rankform umzubauen.
Seıtenwände Holz, Einlage aus a agogise es agazın.
Pappe besonders verstärkt. Ohne 7
edern. Außenhöhe 6!/, cm. Abhandlungen vom Gebiete der Päda-
Vornehme, gediegene 5 A ; P
Ausführung. gogik und ihrer Hilfswissenschaften.
Geschäftsgrösse Herausgegeben von
(Quart) Stück nur Mark 1.75 Friedrich Mann.
(Folio) ge a 1.95 Bis jetzt erschienen 544 Hefte.
Probepostpaket 4 Stück. Verpackung frei. Ausführl. Verzeichnisse kostenlos zur Verfügung.
Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
Otto Henss Sohn, Weimar 65 N.
Verlag von Hermann Bever & Sönxe (Beyer & Mans) in Langensalza.
Handbuch für Jugendptlege.
Herausgegeben von der
Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge.
Schriftleitung: Dr. jur. Fr. Duensing- Berlin.
Herausgeber und Mitarbeiter des »Handbuchs für Jugendpflege« bieten
die sichere Gewähr, daß wir es hier mit einer Erscheinung zu tun haben, die
einer besonderen Anpreisung nicht bedarf.
Das »Handbuch für Jugendpflege- ist auf 12 bis 15 Lieferungen zu g
4 Bogen, Lexikonformat, berechnet. Der Preis der Lieferung beträgt 80 Pf.
Nach Abschluß des Werkes tritt eine Erhöhung des Preises ein.
Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
Hierzu Beilagen der Firmen G, Küdenberg jun. in Ilannover und Wien
und Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
Soeben erschienen als Band 16—19 der großen Kehrbach - Flügelschen Herbartausgabe
Briefe von und an Herbart
Herausgegeben von
Dr. Theodor Fritzsch.
4 Bünde. Preis 20 M.
Das Werk bringt zum ersten Malo alles nur irgend erreichbare Material für das Leben
Johann Friedrich Herbarts, des Se dar unter den Philosophen und des Philosophen unter
den Pädagogen. Es beginnt mit dem Stammbaum Herbarts, brirgt alle Dokumente zu seiner
Erziehung und läßt Einblicke tun in seinen Entwicklungsgang, es verfolgt das Leben des
Philosophen bis zu seinem Ende. So ersetzt es eine Herbart-Biogiaphie, die uns noch fehlt
dieser Gelegenheit sei an die Bände 14 und 15 erinnert, die man kurz nennt:
Königsberger Akten
Herausgegeben von
Dr. phil. h. e. Otto Flügel.
2 Bände. Preis 10 M.
Sie zeigen Herbart in seinen Nebenämtern als Leiter des akademischen Seminars, als
Mitglied bezw. Vorsitzenden der wissenschaftlichen Deputation, des Kollegiums Fridericianam,
der Prü'ungs-Kommission u. a. Sie gewähren einen Einblick in die Art, wie der preußische
Staat in einem einzelnen Falle auf dem Wege der Erziehung „durch geistige Kräfte zu ersetzen
suchte, was er an physischen verloren hatte“. Vom höchsten Interesse aber
sind die beiden Bände zur Konntnis der Pädagogik wie der Person Herbarts.
Die Bände 14 und 15 sowie 16 bis 19 sind in einer größeren Auflage gedruckt worden
und können infolgedessen vorläufig auch apart abgegeben werden. Die Königsberger
Akten und Briefe fehlen in der Hartenstein schen Herbart- Ausgabe,
bat, die Besitzer dieser sind nunmehr in der glücklichen Lage, ihr Werk vervollständigen
zu können.
Ein %. Band, der verschiedene Nachträge bringt, befindet sich unter der Presse und
somit liegen binnen m
Herbarts sämtliche Werke
Herausgegeben von
t Karl Kehrbach und Otto Flügel
20 Bände. Preis 100 M.
vollständig vor.
Gerade jetzt, da mit dem Streben nach Durchdringung dos Gedankonkreisoa Herbarts
oder Widerlegung seiner Thesen zahllose Irrtümer auftreten, gerade jetzt wird es zur Pflicht,
auf die Quelle zurückzugehen, wenn man in die Gelankenwelt eindringen will, welche die
pädagogischen und psychologischen Forschungen Herbarts einschließen. Gleichviel ob Freund
oder Gegn: ob Systematiker oder Hıstoriker, gleichviel ob Lernender oder Lehrer, ob Uni-
versitätsproissor oder Volksschullehrer, jeder, der sich der hohen Aufgabe der Jugendbildung
und der Erkenntnis des werdenden Menschen gegenüber stellt, jeder, der in diesen Lebens-
fragen Wahrheit sucht und einen richtigen Durchgangs- und Streitpunkt in dem Streben nach
Lösung solcher Probleme erfassen wiil, ist genötigt, sieh an den Urtext Herbarts zu wenden.
Wem es dabei auf ernstıs und durchdringendes Studium ankommt, der wird aus innerstem
Bedürfnis nach der zuver'ässigsten Form greifen, in der ihm die gesuchte Erkenntnis dar-
geboten wird. Dies kann nur eine Ausgabe sein, die die Schriften des Autors in jeder Be-
riehang so getreu und vollständig wiedergibt, daß man einen klaren Einblick in das
ganze Werden desselben gewinnt.
Eine solche Ausgabe der Werke J. F. Herbarts liegt nunmehr vor.
Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
..——v.- .-.