THE UNIVERSITY
OF ILLINOIS
LIBRARY
ITOS
KI
v/9
Zeitschrift für Kinderforschung.
XIX.
Zeitschrift für Kinderforschung
mit besonderer Berücksichtigung
der pädagogischen Pathologie
Im Verein mit
Dr. G. Anton Dr. E. Martinak Chr. Ufer Karl Wilker
Geh. Med.-Rat u. Prof. o. ö. Prof. d. Philosophie Rektor d. Süd-Mädchen- Dr. phil.
an der Univ. Halle u. Pädag. a. d. Univ. Graz Mittelschulei. Elberfeld in Jena i. Thür.
herausgegeben von
J. Trüper
Direktor des Erziehungsheims und Jugendsanatoriums auf der Sophienhöhe bei Jena
Neunzehnter Jahrgang
Langensalza
Hermann Beyer & Söhne
(Beyer & Mann)
Herzogl. Sächs. Hofbuchhändler
1914 e
Alle Rechte vorbehalten.
Ah
Inhalt.
A. Abhandlungen:
Boodstein, Problematische Naturen überhaupt und im weiteren solche schon
in jugendlichem Alter . . . . . . . . 161. 354. 426. 488,
Braunshausen, Der Vorstellungstypus P-
Buchner, Gegenbewegung der linken Hand und Symmetrie ` Atit 9 Ab-
bildungen.) . A == 28.
Goddard-Wilker, Die Familie Kallikak. ` Mit 14 Tafeln.) 3. 65. 132. 193.
Hellwig, Statistisches über den Kinobesuch durch Kinder. . . . . 223.
Hellwig, Die besonderen Wirkungen der Schundfilms
Kirmsse, Ein autobiographischer Brief und eine Schülercharakteristik v von
Dr. Ferdinand Kem . . . .
Lehm, Gedanken zu dem Sprechunterricht auf der Vor- bezw, Unterstufe
der Hilfsschule . . . ara a ne an
Lobsien, Die experimentelle Ermüdungsforschung
155. 216. 350. 407. 483. 554.
Mönkemöller, Die Strafe in der Fürsorgeerziehung . . 24. 85. 148. 209.
Prüfer, Das »Archiv für TR I an der Hochschule für
Frauen in Leipzig. . . . .
Russell-Struve, Junge Galgenvögel pek ei -i 78. "140. 201. 388. 468.
Rupprecht, Die Alkoholkriminalität der Jugend $
Silbernagel, Die Bekämpfung des Kinderhandels im ` Entwurf zu einem
schweizerischen Strafgesetzbuch . . . x Da Ders
Trüper, Ein bedeutsamer pädagogischer Erlaß .
Vertes, Ein unbekannter Heilpädagog .
B. Mitteilungen:
Robert Rissmann f. . . ee ee
Bericht über den XIV. Blindenlahrer-Kongreß in i Düsseldorf N 3
Zur Psychologie des Zahlenbewußtseins . ER ENTE Pr
Pinselübungen in der Hilfsschule .
Biblische Lesebücher
Aufruf zur Gründung einer Grappe abstinenter Volkserzieher it in Bayern
Spinale Kinderlähmung im Kreise Worms . :
Zeitgeschichtliches . . . . . 52, 117. 184. 247. 377. "466. 509. 624. 692.
Ein Fall von Mysophobie. . .
Die Ausstellung zur vergleichenden Jugendkunde der Geschlechter “auf dom
Kongreß des Bundes für Schulreform in Breslau 1913 . . . . 105.
Der II. Österreichische Kinderschutzkongreß . REN hany
198819
VI Inhalt.
Zur Psychologie des Lesens . 3
Úber das Interesse eines sohvwachbegabten Tangen
171. 238. 359. 446. 504. 599. 681.
Sprachliche Eigenbildungen meines Sohnes. . . . . . 174. 242.
Schutz der Familie gegen die trunksüchtigen Familienväter 7 rs
Neueinführung der Hilfsschullehrerprüfung in Preußen
Bericht über den IV. Internationalen Kongreß für Schulhygiene zu ı Buffalo
TIIB: + Wu... te a ri:
Eröffnung des ersten heilpädagogischen Seminars in , Essen i de s
Alkoholforschungsinstitute . 60.25
Preisausschreibten . . š
Zum 80. Geburtstage des Geh. San. „Rates Dr. Ok Berkhan è
Unbewußte Lehrplankritik einer früheren Hilfsschülerin .
Die Selbstmorde Jugendlicher in Preußen 1912 .
Zur Psychologie des Rechtschreibungsunterrichts
Der Lesetext als Kontrolle beim Lesevorgang .
Bericht über den VI. Kongreß für experimentelle Payohologio
Zur Stoffauswahl in der Hilfsschule . s
Über die schulärztliche Tätigkeit an der Hilfsschule zu Worms im Schuljahr
ERDE ee ai S s
Ein deutsches Jugend- -Museum Js
Zu der Frage der Formen der krankhaften norallechen Abartung .
Otto Flügel + . 4
Bericht über den Allg. Fürsorgo-Erziehungstag vom 15. L17. Junii in n Halle a. 8.
Der Lesetext als Kontrolle beim Lesevorgang . . 20 ar A
Zur Bekämpfung des Kinderhandels und der Abtreibung.
Die jugendlichen Kriminellen 1912 a r
C. Zeitschriftensehau: 56. 119. 186. 248. 379. 457. 627. 698.
D. Literatur:
Alkoholfreie Jugenderziehung
Ament, Die Seele des Kindes . Š
Anton, Über die Formen der krankhaften moralisdkeh Abartaig
Arönsohn, Der psychologische Ursprung des Stotterns . a
Baumann, Abriß eines Systems des rationalen Pragmatismus. . .
Bericht über die XIV. Konferenz des Vereins für Erziehung, Unterricht ung
Pflege Geistesschwacher . . DE
Budde, Die Weiterführung der Schulreform auf Aahonalor Grundlage.
Chotek, Gräfin, Fragen? ;
Dannmeier, Die Aufgaben der Schule im i Kampf gegen den “Alkoholismus A
Der Kampf der Parteien um die Jugend DIa ds
Deutsche Fürsorge-Erziehungs-Anstalten in Wort und Bild .
Deutsche Blindenanstalten in Wort und Bild . . . . ë
Echternach, Handbuch des orthopädischen Schulturnens .
Eulenburg, "Kinder- und Jugendselbstmorde
Ferriere, Biogenetik und Arbeitsschule
Franke, Die staats- und volkserzieherische Bedeutung der dentschen Kriegs-
Ba le ne Sea W
Inhalt.
Fulda, Die Beispielspädagogik im Wandervogel . :
Gerhardt, Die Schule der Alsterdorfer Anstalten . ..
Goddard, Sterilization and segregation. . . e
Hart, The extinction of the defective delinquent
Hart, Sterilization as a practical measure . :
Haase, Zur Methodik des ersten Rechenunterrichts er:
Heinecker, Das Problem der POREN auf Grund der Begabung
der Kinder
Hermann, Grundlagen für das Verständnis krankhafter Beelenzustände
(psychopathischer Minderwertigkeiten) beim Kinde in 30 ee >
Hilfsbuch für schriftstellerische Anfänger . ; TEE š
Hug-Hellmuth, H. von, Aus dem Seelenleben des Kindes . `
Kabitz, Neuere Untersuchungen über die Phantasie des Kindes .
Kirmsse, Weise’s Betrachtungen über EN Kinder
König, Die Waldschule . . Ex DEE Wear
Kuhn-Kelly, Über Mißhandlung der Kindersäele..
Lesage, Lehrbuch der Krankheiten des Säuglings .
Lobsien, Das 10 Minuten-Turnen ; $
Lorentz, Die Tuberkulosesterblichkeit der Lehrer 2
Marholds Bücherei
Meltzer, Leitfaden der Schwachsinigen- und d Bidenptloge
Meyer, Aus einer Kinderstube s
Neter, Arzt und Kinderstube . 3 ;
Plecher, Das Problem der Willenserziehung im i Lichte der Sohulpraxia !
Ponickau, Lehrerschaft und alkoholfreie POREDE .
Queck- Wilker, Ein erstes Lebensjahr R u
Rein, Pädagogik in systematischer Darstellung .
Roloff, Lexikon der Pädagogik si
Ruttmann, Die Hauptergebnisse der modernen. Psychologie mit besonderer
Berücksichtigung der Individualforschung .
Schlesinger, Schwachbegabte Kinder .
Schreiber, Mutterschaft . .
Abhalis, Deutsches Lesebuch für Hilfssohulen .
ellmann, Das Seelenleben unserer Kinder im vorschulpflichtigen Alter!
Singer, Geschichte der österreichischen Schulreform . EEE
Stimpfl, Der Wert der Kinderpsychologie für den Lehrer
Stöhr, Psychologie der Aussage . .
Troll, Begründung und Ausgestaltung der Pfloge der schulentlassenen weib-
lichen Jugend
Urstein, Manisch-depressives und Deriodisches Irresein als Erscheinungsform
der Katatonie 5 isi
Vincenz, Zur Analyse des kindli. Ken Geisteslebens beim Schuleintritte ;
Wehrhahn, Deutsche Hilfsschulen in Wort und Bild
Wyneken, Der Gedankenkreis der Freien IE 5
Wyneken, »Was ist Jugendkulture ? A
X. und XI. Bericht über die Tätigkeit der Stadtärzte in Brünn
Zıemke, Die Beurteilung jugendlicher Schwachsinniger vor Gericht
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Robert Rissmann t.
Der Herausgeber der »Deutschen Schule«e, Robert Rißmann,
einer der einflußreichsten Führer der deutschen Volksschullehrer, ist
am 20. August nach langjährigem Leiden (Neurasthenie, Arteriosklerose)
gestorben.
Am 6. März 1851 zu Freystadt in Schlesien geboren, verriet er
schon in seiner Kindheit eine hervorragende Begabung, die sich auch
zeitlebens glänzend bewährt hat. Seine reiche Bildung und seine
ungewöhnliche Arbeitskraft widmete Rißmann, der ledig geblieben
war, restlos dem Dienst der Schule, der Ausgestaltung pädagogischer
Ideen und der Vereinsarbeit für den Lehrerstand, frei von jeder Rück-
sicht auf persönliche Vorteile. Sein Denken umfaßte systematisch das
Ganze der Pädagogik, besonders auch ihre geschichtliche Entwicklung,
bis in feine Einzelheiten; es ist deshalb an dieser Stelle nicht mög-
lich, den Ertrag seiner Lebensarbeit im besonderen darzulegen. Nur
drei Hauptgebiete seines vielseitigen Wirkens seien hier kurz erwähnt.
Unter dem Einfluß der tiefeingreifenden Veränderungen des wirtschaft-
lichen und sozialen Lebens des deutschen Volkes war das bisherige,
im Neuhumanismus wurzelnde Erziehungsideal ergänzungsbedürftig
geworden, insofern die Erkennung der sozialen Beziehungen des In-
dividuums eine erhöhte praktische Bedeutung erlangt hat. Rißmann
hat nun durch seine Mitwirkung an der Begründung und Klärung
des Begriffs der sozialen Erziehung, welche im wesentlichen
eine neue Zielsetzung der Pädagogik bedeutet, die Entwicklung der
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 1
2 Robert Rißmann.
modernen Erziehungsideen nachhaltig beeinflußt. Er war in seinen
Grundanschauungen ein Schüler Pestalozzis. Die grundsätzlichen Ab-
weichungen seines Standpunktes von dem der Herbart-Zillerschen
Schule haben zwar einige temperamentvolle Auseinandersetzungen
veranlaßt; aber nie hat Rißmann die hervorragende Bedeutung Her-
barts, den er aufrichtig bewunderte, verkannt, ebensowenig die großen
Verdienste seiner Schüler um eine wissenschaftliche Pädagogik. Be-
sonders die Fortschritte der pädagogischen Pathologie, in deren Dienst
hauptsächlich unsere Zeitschrift steht, verfolgte Rißmann mit lebhaftem
persönlichen Interesse, weil auf keinem andern Gebiet die Wechsel-
beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft so augenfällig und
pädagogisch so bedeutsam erscheinen, wie gerade hier. In der be-
sondern Schwierigkeit der Heil- und Fürsorgeerziehung fand er auch
die Richtigkeit und Notwendigkeit einer seiner leitenden Ideen bestätigt,
nämlich die Arbeitsschule, deren Hauptvertreter er war. Endlich
hat Rißmann auch, um die wissenschaftliche Arbeit in den Lehrer-
vereinen zu vertiefen, die Anregung zur Gründung der »Pädagogi-
schen Zentrale des Deutschen Lehrer-Vereins« lebhaft auf-
genommen und den Plan zu ihren Arbeiten entworfen.
Sein Tod bedeutet daher einen herben Verlust für die deutsche
Lehrerschaft; doch wird seiner Lebensarbeit noch lange eine Fern-
wirkung folgen.
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A. Abhandlungen.
1. Die Familie Kallikak.
Eine Studie über die Vererbung des Schwachsinns.
(Mit 14 Tafeln.)
Von
Dr. phil. Henry Herbert Goddard, Director of the Research Laboratory
of the Training School at Vineland, New Jersey, for Feeble-minded Girls and Boys.
Berechtigte deutsche Übersetzung
von
Dr. phil. Karl Wilker-Jena.
Vorbemerkung.
Es ist nicht meine Absicht, dieser Studie Henry Herbert
Goddards eine lange Einleitung über die Bedeutung des Vererbungs-
problems für die Erziehung vorauszuschicken. Das mag einer späteren
gesonderten Arbeit vorbehalten bleiben!
Wohl aber erscheint es mir notwendig, einige Worte über die
Anstalt zu sagen, der diese Arbeit entstammt.
The Training School at Vineland, N. J., ist eine großartige Wohl-
fahrtseinrichtung für schwachsinnige Individuen, die zwar einem
Manne ihre Entstehung verdankt, die aber jetzt Eigentum einer Ge-
sellschaft ist, die sie auch überwacht.
Wie Goddard im November- und Dezember-Heft 1910 der von
den Direktoren des Instituts herausgegebenen Zeitschrift »The Training
School« (Vol. VII, Nr. 7) berichtete, gehörten der Gesellschaft damals
etwa 250 Morgen Land mit 25 Gebäuden. Rund 400 Insassen zählte
sie, »Kinder jeden Alters«, wie Goddard sich einmal ausdrückt, von
5 Jahren bis zu 60 Jahren. Denn Kinder sind sie ihrem intellek-
tuellen Vermögen nach ja beinahe alle, die Menschen, die hier ihr
1*
4 A. Abhandlungen.
ganzes Leben zubringen. Sie glücklich zu machen, ist die Haupt-
aufgabe der Anstalt.
Daß einer derartigen Anstalt ein wissenschaftliches Laboratorium
angegliedert wurde, ist eine hocherfreuliche Tat.
Was in einem solchen Laboratorium geleistet werden kann, das
zeigt besser als alle Worte diese Arbeit.
Möge sie in Deutschland die gleiche Beachtung finden, die man
ihr in Amerika zuteil werden läßt, und möge sie vor allem dazu an-
regen, auch bei uns, in unseren Anstalten für schwachsinnige Kinder
im besonderen und für Schwachsinnige überhaupt, den hereditären
Verhältnissen mehr nachzuforschen als bisher, nicht nur durch eine
oder zwei, sondern durch möglichst viele Generationen. Scheint eine
derartige mühevolle Arbeit für die Praxis auch wenig Gewinn zu ver-
sprechen, für die Wissenschaft wird sie von desto größerem Werte sein!
Wir sind Dr. Goddard zu herzlichem Danke dafür verpflichtet,
daß er sich sofort damit einverstanden erklärte, seine Untersuchungen
auch einem deutschen Leserkreise zugänglich zu machen.
Ich habe mich bemüht, die Übersetzung bei aller Treue in der
Wiedergabe doch möglichst angenehm lesbar zu gestalten. Der eng-
lischen Ausgabe sind einige Tafeln mit Bildern der Kallikaks ein-
gefügt, auf die wir hier verzichten zu dürfen glaubten.
Jena. Karl Wilker.
Vorwort.
Am 15. September 1906 eröffnete die Training School for Back-
ward and Feeble-minded Children in Vineland (New Jersey) ein Labo-
ratorium und Forschungsinstitut zum Studium des Schwachsinns.
Es wurde mit dem Studium des geistigen Zustands der im Institut
lebenden Kinder begonnen, in der Absicht, die geistigen und körper-
lichen Eigentümlichkeiten der verschiedenen Grade und Typen fest-
zustellen und ein genaues Protokoll über die Defekte und Leistungs-
unfähigkeiten jedes Kindes anzulegen. Man hoffte, daß diese Protokolle
später verglichen und in Beziehung gebracht werden könnten mit dem
Befunde des Nervensystems des Kindes, wenn dieses während seines
Aufenthalts in unserer Anstalt sterben sollte und die Autopsie ge-
stattet werden würde.
Sehr bald nach dem Beginne dieser Arbeit ging man dann daran,
die Ursachen des Schwachsinns festzustellen. Nach einigen vorbereitenden
Arbeiten gelangte man zu der Überzeugung, daß der einzige Weg,
die nötigen Informationen zu erlangen, der sei, besonders ausgebildete
Goddard- Wilker: Die Familie Kallikak. 5
Kräfte in die Heimat der Kinder zu entsenden, um dort durch sorg-
fältiges und kluges Ausfragen alles Tatsachenmaterial zusammenzu-
bringen, dessen man habhaft werden könne. Es war für uns eine
große Überraschung, als wir dabei so viele geistige Defekte in den
Familien vieler unserer Kinder entdeckten. Das Studienergebnis von
mehr als 300 Familienstammbäumen, das demnächst veröffentlicht
werden soll, zeigte uns, daß etwa 65°/, dieser Kinder erblich be-
lastet sind.
Die vorliegende Studie der Familie Kallikak — der Name ist,
wie auch alle anderen Namen in dieser Arbeit, fingiert — ist das
Ergebnis zweijähriger ununterbrochener Arbeit, die die Verhältnisse
dieser Familie aufdeckte.
Einige Leser werden vielleicht fragen, wie es möglich gewesen
ist, so genaue Daten über Menschen zu erhalten, die lange Zeit früher
gelebt haben.
Ein Wort der Erklärung ist hierzu erforderlich. Erstens war die
Familie selbst so bekannt, daß die Leute, in deren Gemeinden die
jetzigen Generationen leben, sie alle kannten. Sie kannten ihre Eltern
und Großeltern, und die älteren Gemeindeangehörigen kannten die
Vorfahren noch weiter zurück, weil sie immer in einem gewissen
Rufe gestanden hatten. Zweitens ist das Ansehn, das die Training
School im Staate genießt, derart, daß alle gern mitarbeiteten, als
sie Zweck und Plan unserer Arbeit kennen gelernt und verstanden
hatten. Das war eine große Hilfe. Drittens darf die Zeit, die den
Erkundungen gewidmet war, nicht außer acht gelassen werden.
Flüchtige Erkundigungen hätten niemals die Resultate gezeitigt, die
wir erlangt haben. Oft war ein zweiter, ein dritter, ein fünfter oder
gar ein sechster Besuch notwendig, um eine Bekanntschaft oder eine
Verwandtschaft mit den in Betracht kommenden Familien festzustellen.
Dadurch wurden sie dann ganz allmählich veranlaßt, über Dinge zu
berichten, an die sie sich sonst kaum erinnert hätten, oder über die
zu berichten sie sonst nicht für nötig erachtet hätten. Manche
wichtige Angabe wurde so nach mehreren Besuchen in diesen Familien
erlangt. Das vierte Kapitel dieser Arbeit wird die angewandte Methode
noch klarer werden lassen.
Wenn der Leser zu der Annahme geneigt ist, wir hätten sehr
viele Individuen schwachsinnig genannt, die es nicht seien, so mag
er sich versichern lassen, daß das nicht der Fall ist. Im Gegenteil:
wir haben es vorgezogen, in der entgegengesetzten Richtung einen
Fehler zu begehen. Wir haben niemanden zum Schwachsinnigen ge-
stempelt, wenn der Fall nicht derart war, daß wir ihn über allen
6 A. Abhandlungen.
Zweifel klar stellen konnten. Wenn irgend ein guter Grund vorlag,
ein Individuum noch als normal zu bezeichnen, so haben wir den
gelten lassen. Wenn das nicht der Fall war, und wenn wir nicht
imstande waren, selbst eine genaue Entscheidung zu treffen, so haben
wir ganz allgemein auf eine nähere Bezeichnung verzichtet. In
wenigen Fällen haben wir die Bezeichnung »normal« oder »schwaclı-
sinnig« mit einem Fragezeichen versehen. Wir wollen damit an-
deuten, daß wir den betreffenden Fall studiert haben, aber auf Grund
unsererer Überlegungen noch im Zweifel über ihn sind, daß aber die
Wahrscheinlichkeit für »normal« oder »schwachsinnig«e gegeben ist.
Diese bloße Tatsache des Zweifelns deutet jedoch schon darauf hin,
daß es sich in diesen Fällen um Grenzfälle handelt.
Für den wissenschaftlich vorgebildeten Leser bemerken wir noch,
daß die hier gebotenen Daten unserer Ansicht nach ganz außerordent-
lich genau sind. Allerdings haben wir ziemlich dogmatisch Behaup-
tungen aufgestellt und Schlüsse gezogen, die durch die dargebotenen
Daten wissenschaftlich nicht verbürgt scheinen. Wir haben das getan,
weil es uns notwendig schien, zum Besten des Lesers aus Laien-
kreisen diese Behauptungen und Folgerungen aufzustellen, wenn es
auch ganz unmöglich war, in diesem Buch alle die Daten darzubieten,
die sie erhärten würden. Wir haben dabei, um nur eine Tatsache
herauszugreifen, Bezug genommen auf das Material, das demnächst in
einem umfangreichen Werke veröffentlicht werden soll. — Die Aus-
führungen über den Mendelismus sind ein Beispiel für das, was wir
meinen. Sie sind, so wie sie hier geboten werden, knapp und unzu-
länglich, und die Annahme, daß das gegebene Gesetz auf die mensch-
liche Heredität anwendbar sei, bleibt eben nur eine Annahme, was
die hier gebotenen Angaben anlangt. Wir möchten den wissenschaft-
lich gebildeten Leser bitten, sein Urteil über unsere Arbeit aufzu-
schieben und das Erscheinen des angekündigten ausführlicheren Werkes
abzuwarten, das die Beweise für die hier aufgestellten Behauptungen
erbringt und eine angemessene Erörterung des Mendelismus in bezug
auf das ganze Problem ermöglicht.
Die notwendigen Geldmittel für diese Studie wie überhaupt für
alle Arbeiten unseres Laboratoriums wurden durch freiwillige Beiträge
philanthropischer Männer und Frauen aufgebracht. Sie glauben, daß
hier eine günstige Gelegenheit zu humaner Wohltätigkeit geboten sei,
wie ihr so leicht keine andere gleichkomme.
Wir benutzen diese Gelegenheit, ihnen für ihre Sympathie und
für ihren Edelmut unsern herzlichsten Dank auszusprechen. Ganz
Goddard- Wilker: Die Familie Kallikak. 7
besonders erwähnen möchte ich auch den unermüdlichen Fleiß, die
Klugheit, das Taktgefühl und die Urteilskraft unserer Rechercheure,
die das Tatsachenmaterial zusammengebracht haben. Die Ergebnisse
ihrer Arbeit, die ständig kontrolliert wurden, haben allen Anforde-
rungen an ihre Genauigkeit und an ihren Wert entsprochen.
Das Studium dieser besonderen Familie wurde von Elizabeth S.
Kite übernommen, der ich vor allem auch für das vierte Kapitel Dank
schulde. Sehr dankbar bin ich ferner meinen Assistenten im Labo-
ratorium für ihre Hilfe beim Vorbereiten der Tabellen, beim Aus-
füllen der Protokolle und bei der Durchsicht von Manuskript und
Korrekturbogen.
Direktor Edward R. Johnstone, dessen Klugheit und Vorsorge
zur Einrichtung unseres Forschungsinstituts führte, dessen Hilfe, Sym-
pathie und Ermutigung uns bei der Vorbereitung dieser Studie ständig
zuteil wurden, gebührt der Dank und die Anerkennung aller Leser,
die in den hier mitgeteilten Tatsachen einen Beitrag zur Lösung der
Probleme, denen sie gegenüberstehen, finden.
Vineland, N. J., September 1912.
Henry H. &oddard.
Erstes Kapitel.‘
Die Lebens- und Krankheitsgeschichte Deborahs.
An einem schönen Oktobertag des Jahres 1897 kam ein kleines
achtjähriges Mädchen zur Training School in Vineland. Es war in
einem Armenhause geboren. Seine Mutter hatte nachher geheiratet,
allerdings nicht den Vater dieses Kindes, sondern den eines andern.
Später hatte sie sich wieder von ihm scheiden lassen und einen andern
Mann geheiratet, der auch der Vater eines ihrer Kinder war. Sie
war dazu durch die Bemühungen wohlmeinender Leute getrieben
worden, die es für ein großes Unglück für ein Kind hielten, unehe-
lich geboren zu sein. Von ihrem Standpunkt aus war dieses Argu-
ment ganz gut, weil die Mutter mit vier oder fünf kleineren Kindern
sonst nicht imstande war, angemessen für dieses kleine Mädchen, das
beide Ehegatten nicht versorgen wollten, zu sorgen.
Auf die Bemerkung hin, daß das Kind für die Schule nicht recht
geeignet und möglicherweise schwachsinnig sei, gelangte es in die
Training School, um daselbst eine Laufbahn zu beginnen, die für das
Institut interessant und wertvoll wurde, und die zu einer Untersuchung
veranlaßte, die sich als von großem sozialen Werte erweisen muß.
8 A. Abhandlungen.
Die folgenden Angaben bieten Auszüge aus den Aufzeichnungen
über sie während ihres Anstaltsaufenthalts.
Aufnahmeprotokoll (November 1897): Mittlere Größe und
Gewicht. Keine Besonderheiten hinsichtlich Kopfform und -größe.
Ruckweise Bewegung beim Gehen. Keine körperlichen Mißbildungen.
Mund geschlossen. Wäscht sich selbst. Zieht sich selbst an, mit Aus-
nahme des Kleiderzumachens. Versteht Befehle. Nicht sehr folgsam.
Kennt einige wenige Buchstaben. Kann weder lesen noch rechnen
Kennt alle Farben. Keine Freundin von Musik. Gedächtniskraft gering.
Horcht gut. Blickt fest. Ahmt gut nach. Kann eine Nadel ge-
brauchen. Kann Holz tragen und den Wasserkessel füllen. Kann
einen Ball werfen, ihn aber nicht fangen. Sieht und hört gut. Rechts-
händig. Reizbar, aber nicht nervös. Nicht zärtlich. Sehr laut. Nach-
lässig in ihrer Kleidung. Aktiv. Widerspenstig und zerstörerisch.
Achtet nicht auf Scheltworte und Schläge. Großmutter etwas defekt.
Großvater periodischer Trinker und geistig defekt. — Besuchte die
Schule ohne Erfolg.
Aus den Anstaltsprotokollen:
Januar 1899. Betragen besser. Zählt von 1 bis 10 und 10 bis 1.
Kennt beim Anblick und kann aus dem Gedächtnis schreiben: sehen,
mich, laufen, Mann, Ratte, kann. Flechtet schwierige Matten ein- und
dreireihig, erfordert dabei aber viel Hilfe.
Februar 1899. Zählt 1 bis 30, schreibt 1 bis 15. Ordentlich.
Faltet nett.
März 1899. Zeichnet Kreis und Quadrat. Schreibt 1 bis 29.
Verbindet einfache Zahlen.
April 1899. Betragen ganz schlecht, frech und zunehmend
schlimmer. Für einige Zeit vom »Seguin-Cottage« nach »Wilbur«
verlegt. Scheint etwas besser.
Dezember 1900. Schule: unfolgsam. Reizend. Gut beim Exer-
zieren. Kann abschreiben. Kennt eine Anzahl Worte. Schreibt sie
aus dem Gedächtnis. Liest etwas. Addiert Gegenstände Zählt und
kennt den Wert von Zahlen. Turnt nett an Leitern und Stangen.
Gut in der Unterhaltung. Gedächtnis scharf. Im Sprechen und Singen
kann man sich immer auf sie verlassen. Marschiert gut. Ein guter
Hauptmann! Kennt: Halt, Rechts um, Links um, Vorwärts marsch.
Immer im Schritt. — Musik: Kennt verschiedene Noten. Spielt
»Jesus, Liebster meiner Seele« gut. Spielt auf einem kleinen Horn
die C- und F-Tonleiter.
Mai 1901. Spielt C- und F-Tonleitern und die ersten beiden
Übungsstücke aus einem Übungbuch (Beginners’ Band Book) auf dem
Goddard- Wilker: Die Familie Kallikak. 9
kleinen Horn. Sie spielt nach Gehör. Sie hat nicht gelernt, die Noten
dieser beiden Tonleitern zu lesen, einfach weil sie nicht darauf achten
will. Sie hat gelernt, Lieder in einfachem Takt zu spielen, aber der
Fingersatz muß für sie aufgeschrieben werden. — Schule: aus-
gezeichnete Arbeiterin in der Gärtnereiklasse. Hat gerade eine sehr
gute Zeichnung (Diagramm) unseres Gartens für die Jahresausstellung
fertiggestellt. — Haus: Hilft Betten machen und wartet bei Tisch auf;
ist schnell bei ihrer Arbeit, aber sehr laut.
Oktober 1901. Hat beinahe den Entwurf zu einem Parade-
kopfkissen vollendet. Kann sehr gut arbeiten, wenn sie nur will. —
Englisch: Leistet mehr im Rechnen als in irgend einem andern Fach.
Ihr Geist schweift viel umher. Mitten in einer Stunde, in der sie
anscheinend ganz aufmerksam war, will sie eine Frage tun, die zum
übrigen Unterricht gar keinen Zusammenhang hat. Ist träge beim
Lernen.
November 1901. Ist sehr gut im Rechnen, besonders in der
Addition. Kann 25 und 15 addieren. Buchstabiert einzelne Worte,
wie z. B. Wind, weht, Blumen. Schreibt ganz gut nach Vorschrift,
wenn sie will. Ihre Aufmerksamkeit ist sehr schwer zu fesseln. Ist
unruhig in der Klasse. Will in allem die erste sein. Das einzige,
worin sie in der Schule Gutes leistet, ist die Addition von Zahlen
mit Hilfe von Pflöcken. Kennt ungefähr fünfzehn Worte wie: Katze,
Fächer, Laufen, Mann. Sie könnte in der Schule mehr lernen, wenn
sie aufmerksamer sein wollte, aber ihr Geist scheint oft ganz fern
von dem zur Erörterung stehenden Thema zu sein. Konnte C- und
F-Tonleiter auf dem kleinen Horn spielen und würde einiges nach
Gehör spielen, wenn sie ihre Stunden hätte innehalten können (sie
wurde wegen Halsschmerzen dem Unterrichte fern gehalten).
November 1904. Versteht Perlenketten zu machen. Hat deren
vier angefertigt. Weiß, wie man die Nähmaschine benutzt. Hat ein
Hemd angefertigt. Gebraucht das Bandmaß ordnungsgemäß. Kann
auf dem Horn vier schwere Musikstücke und drei Solostücke spielen.
(Die Musikstücke sind: »Attention, March«, »Quick Step Sterling«,
»Onward, Christian Soldierse und »Star-spangled Bannere. Die Solo-
stücke sind: »America«, »Old Black Joe« und »Onward, Christian
Soldiers.e) Liest Lieder und Gesänge leicht vom Blatt. Betragen in
der Schule gut.
Januar 1907. Spielt die Rolle von Mrs. Doe in »Fun in a
Photograph Gallery.«.
Februar 1908. Kann eine Geschichte sauber schreiben, buch-
stabiert aber erst sehr wenige Worte. Hat eine kleine Ahnung vom
10 A. Abhandlungen.
Gebrauch großer Anfangsbuchstaben. Es ist schwierig für sie, die
Sätze zu trennen. Zeichnen, Malen, Kolorieren und allerhand Hand-
arbeit verrichtet sie ganz nett. Beim Modellieren in Ton ist ihre
Formgebung ganz gut. Ihr Betragen hat sich gebessert. Benimmt
sich in der Klasse nicht mehr so wild. — In der Holzschnitzerklasse
beginnt sie eine Arbeit mit großer Begeisterung. Wenn sie ihr aber
zu lange dauert, erschlafft ihr Interesse, und sie muß angespornt
werden durch den Gedanken an ein gutes Resultat. In diesem Jahr
hat sie ein Bücherregal geschnitzt. Jetzt arbeitet sie an einem Hemden-
kasten mit Zapfenverbindung. Die Oberfläche wird getäfelt. Sie kann
das meiste nach ihren eigenen Angaben machen, wenn es ihr gezeigt
ist. — In der Musik hat sie während des letzten Jahres große Fort-
schritte gemacht. Sie kann auf ihrem Horn einen besseren und
volleren Ton hervorbringen. Sie liest alle Musikstücke, die sie spielt,
nach Noten. Spielt zu etwa 25 Stücken die Hornstimme.
Januar 1909. Hat einen Hemdeneinsatz gestickt und einen
Bortenzwickel. Sie hat in diesem Jahre viel Geduld, Beharrlichkeit
und Urteilskraft bei ihrer Arbeit gezeigt. Sie war ängstlich darauf
bedacht, ihre Arbeit zu tun, und ist ein gutes Mädchen gewesen. Im
Holzschnitzen arbeitet sie viel sorgfältiger als im letzten Jahre. Sie
fertigte einen großen Stuhl mit nur geringer Hilfeleistung beim Zu-
sammensetzen. Sie maß das Holz selbst zu und schnitzte es. Sie
behandelte das Holz vor dem Färben selbst, was sie vordem nie
getan hatte.
Juni 1909. Machte die Garnitur fertig, die sie zu Anfang des
Jahres gestickt hatte, wobei sie die Maschine gebrauchte. Half F. B.,
ihren Stuhl zusammenzusetzen; sie handelte wirklich wie eine Lehrerin,
als sie ihr zeigte, wie sie das Möbel zu machen habe. Sie will in
diesem Sommer Helferin in der Holzschnitzerklasse werden. — Sie
hatte schon am Weihnachtsspiel 1908 hervorragenden Anteil ge-
nommen; jetzt war sie in dem Japanischen Spiel, das zum Jahrestage
1909 aufgeführt wurde, ein »Fächer-Mädele«.
März 1911. Sie arbeitet in der Holzschnitzerklasse wie alle die
anderen Jahre. Sie kann sehr schnell arbeiten, wenn sie will, aber
sie will oft nicht. Sie hat nicht viel Zutrauen zu sich selbst, wenn
sie ihre Arbeit aufzeichnet. Wenn sie aber gedrängt wird, harrt sie
so lange dabei aus, bis sie sie in Ordnung gebracht hat. Sie macht
einen großen Arbeitskasten. — Sie arbeitet sehr genau, besonders in
der Leibespflege.
Mai 1911. Sie vollendet ihren Arbeitskasten. Sie wurde aber
zuletzt nachlässig, so daß er nicht ganz so sauber ausfiel wie erwartet.
Goddard- Wilker: Die Familie Kallikak. 11
Sie machte ein sehr schönes gesticktes Leinenkleid, auch einen ge-
stickten Korsettschoner. Beide Stücke fertigte sie unter Aufsicht an.
— Sie kann eine im Ausdruck gute Geschichte schreiben, aber man
muß ihr mehr als die Hälfte der Worte vorbuchstabieren. Kennt sehr
wenige Zahlenkombinationen. Bezeugt sehr viel Interesse für natur-
wissenschaftliche Dinge.
Der Leser wird den Eindruck bekommen haben, daß Deborahs
Lehrer treu und sorgfältig mit ihr gearbeitet haben in der Hoffnung,
Fortschritte mit ihr zu erzielen, selbst dann noch, als später klar
wurde, daß sie keinen wirklichen Fortschritt mehr machte. Oft findet
man die Bemerkung über sie: »Sie könnte, wenn sie nur wollte«
oder >Wenn sie nur aufmerksam sein wollte!« und ähnliche Angaben,
die die Abneigung der Lehrer erkennen lassen, sich selbst zu gestehen,
daß Deborah wirklich schwachsinnig ist. In den früheren Protokollen
war vermerkt, daß Deborah keine Musik liebe, während aus den
späteren Berichten hervorgeht, daß sie darin eine große Fertigkeit
besaß.
Jetzt ist sie ein junges Mädchen von 22 Jahren. Die überein-
stimmende Ansicht derer, die sie während der letzten vierzehn Jahre
in -der Anstalt kennen lernten, ist folgende:
»Sie ist heiter, leicht zänkisch, sehr tätig und unruhig, willig
und unternehmungslustig. Sie ist lebhaft und reizbar, dabei aber gut-
mütig. Sie lernt eine neue Arbeit gern, aber sie bedarf einer halben
Stunde oder 24 Wiederholungen, um vier Reihen auswendig zu lernen.
Sie behält gut, was sie einmal gelernt hat. Sie bedarf strenger Be-
aufsichtigung. Sie ist keck gegenüber Fremden, freundlich zu Tieren.
Sie kann eine elektrische Nähmaschine handhaben, kochen und aller-
hand praktische Hausarbeit verrichten. Sie zeigt keinen ohne weiteres
wahrnehmbaren Defekt. Sie ist lebhaft und beobachtet, hat ein gutes
Gedächtnis, schreibt nett, arbeitet in der Holzschnitzerei und im
Kindergarten ausgezeichnet, ahmt vortrefflich nach. Sie liest und
rechnet dürftig. In der Korbflechterei und in der Gärtnerei leistet
sie gutes. Ihr Buchstabieren taugt nicht viel. Ihre musikalischen
Fähigkeiten sind ausgezeichnet, ihr Nähen und ihre Unterhaltungsgabe
gleichfalls. Zu Kindern ist sie sehr zärtlich, zum Helfen bei ihrer
Pflege sehr brauchbar. Sie hat einen guten Ordnungssinn und ist
sauber. Sie ist bisweilen sehr halsstarrig und widerspenstig. Sie ist
nicht immer wahrheitsliebend. Auch ist bekannt, daß sie stiehlt, wenn
sie auch deswegen nicht in schlechtem Rufe steht. Sie ist stolz auf
ihre Kleider. Sie liebt hübsche Kleider. Sie hilft gern in anderen
12 A. Abhandlungen.
Heimen, wobei sie sogar zeitweise die Pflege einer Gruppe über-
nimmt. «
Die Kinder der Training School schreiben an Sankt Nikolaus
Briefe mit ihren Weihnachtswünschen. Von 1899 an (als sie 10 Jahre
alt war) hatte Deborah folgende Wünsche:
1899 Buch und Harmonika
1900 Buch, Kamm, Farben und Puppe
1901 Buch, Fausthandschuhe, Spielzeugklavier, Halstuch, Schiefer-
stifte
1902 Wachspuppe, Band, Musikdose
1903 Postkarten, farbige Bänder, Handschuhe und große Schere
1904 Blasrohr, Musikdose, Feenmärchen, Spiele, Bänder, eine
große Puppe
1905 verschiedenfarbige Bänder, Spiele, Halstücher, Musikdose,
Feenmärchen
1906 ein Paar Strümpfe, Bänder, Wischlappen
1907 Taschenuhr, rotes Band, Bürste und Kamm, Papier
1908 3 meter Schleierstoff, Wischlappen
1909 schöne Schuhe, rosae, dunkelblaue und weiße Bänder
1910 Geld für Zahnarztrechnung
1911 Wischtücher, drei Hemden, blauer Schal, 3 meter Lein-
wand, 2 meter Tüll für feine Handarbeiten.
Es mag daran erinnert werden, daß in den Aufzeichnungen über
sie das Rechnen als eine ihrer starken Seiten erwähnt war. Sie hatte
in der Tat eine große Übung darin. Ein neuerer Versuch, festzu-
stellen, wieviel sie davon noch behalten hatte, und ob die Arbeit als
geistige Disziplin von irgend welchem Werte gewesen war, ergab
negative Resultate. Es ließ sich feststellen, daß sie weder addieren
noch subtrahieren konnte, ausgenommen wo es sich um konkrete
Gegenstände aus dem täglichen Leben handelte. Sie kann z. B. ganz
gut den Tisch decken und dabei aufwarten. Sie kann die richtige
Zahl Teller ans Kopfende des Tisches stellen, wenn sie die Personen
sieht, die zu Tisch sitzen. Sie ist aber nicht imstande, an einer Tafel
mit genau der gleichen Zahl fremder Gäste die richtige Berechnung
anzustellen.
Bei einer neueren Untersuchung in Gegenwart eines hervor-
ragenden Gelehrten wurde sie gefragt: »Wieviel ist 12 weniger 3?«
— Sie dachte einen Augenblick nach, blickte im Zimmer umher und
antwortete endlich: »Neun.« — »Richtige, sagte der Examinator. —
Goddard- Wilker: Die Familie Kallikak. 13
»Weißt Du, wie ich das gemacht habe?« fragte sie froh über ihren
Erfolg. »Ich hab’s an meinen Fingern abgezählt«.
Einige an sie gerichtete Fragen und ihre Antworten darauf
lauteten:
»Zehn Personen kommen zu Tisch. Sieben haben gegessen. Für
wieviel mußt Du das Essen noch warm halten?« — »Drei.«
»Wenn Du acht Ergographen hättest und verkauftest sechs, wie-
viel blieben da übrig?«e — (Nach 28 Sekunden Überlegen) »Zwei.«
>Wenn Du acht Dreiecke hättest und zwei davon weggäbest, wie-
viel hättest Du dann zurückbehalten?« — »Fünf.«
»Wenn acht Personen zu Tisch säßen, und zwei gingen weg,
wieviel würden übrig bleiben?« — (Nach 13 Sekunden) »Sechs.«
Nach den Binet-Tests zeigte das Mädchen im April 1910 die
geistige Beschaffenheit eines neunjährigen Kindes mit zwei überzähligen
Punkten, im Januar 1911 die gleiche mit einem, im September 1911
mit zwei, im Oktober 1911 mit drei überzähligen Punkten. Alle
Fragen bis zum Alter von 7 Jahren beantwortet sie richtig, abgesehen
davon, daß sie zwei von fünf gegebenen Figuren beim Nachlegen
nicht zustande bringt. Sie liest das aufgegebene Pensum nicht in
der vorgeschriebenen Zeit und erinnert sich auch nicht an das, was
sie gelesen hat. Beim Zählen von Briefmarken war ihre Antwort
»zehn Cents«, doch verbesserte sie sie nachher. Von den Tests unter
neun Jahren waren neun ihrer Definitionen besser als der gewöhn-
liche Durchschnitt: »Eine Gabel dient zum Essen, ein Stuhl zum
Sich-drauf-setzen«e usw. Bisweilen kann sie die Gewichte ordnungs-
gemäß aufstellen, zu Zeiten wieder nicht. Dasselbe ist der Fall beim
Einfügen dreier Silben in ein Sprichwort. Geld kennt sie nicht. Ihre
Definitionen abstrakter Ausdrücke sind sehr dürftig, in einigen Fällen
an und für sich brauchbar. Zergliederte Sprichwörter kann sie nicht
zusammensetzen. Sie reimt: »storm« mit »spring«e und »milk« mit
»mille, später mit »bill«, »will«, »till«.
In den verbesserten Test-Reihen!) entwirft sie nicht die Zeich-
nungen, die als zweiter Test für zehnjährige Kinder gefordert werden. ?)
Auch widersteht sie nicht der Suggestion (Test 4 für Zwölfjährige).
1) Eine Zusammenstellung der Binetschen Test- Reihe mit den von Goddard
auf Grund seiner Erfahrungen vorgeschlagenen Erweiterungen findet sich in dem
Aufsatz »Two thousand normal children measured by the Binet measuring scale
of intelligence« in »The Pedagogical Seminary«. Vol. XVII, pp. 231—258 (June
1911). K. W.
73) Es sind sechs Figuren nachzuzeichnen. Nach Goddards Erfahrungen er-
innern sich zehnjährige Kinder im allgemeinen an sechs Figuren. K. W.
14 A. Abhandlungen.
Auf den ersten Teil von Frage 5 für Zwölfjährige antwortet sie: »Ein
Vogel am Baume hängend«, und auf den zweiten: »Jemand war sehr
krank «.!)
Das ist eine typische Illustration für den Geisteszustand einer
hochstehenden schwachsinnigen Person, der Moronin,?) der Delin-
quentin, der Art von Mädchen oder Frau, die unsere Besserungs-
anstalten füllen. Solche Personen sind launisch, sie geraten in allerlei
Wirrnisse und Schwierigkeiten sexueller und anderer Art — und doch
sind wir gewöhnt, ihre Fehler auf Grund von Fehlerhaftigkeit, Um-
gebung und Unwissenheit zu beurteilen.
Demselben Mädchentypus begegnen wir auch in den öffentlichen
Schulen: ziemlich gutes Aussehn, vielfach glänzende Erscheinung,
mit vielen anziehenden Zügen; der Lehrer klammert sich an die
Hoffnung und besteht sogar darauf, daß solch ein Mädchen gut vor-
wärts kommen müsse. Unsere Arbeit an Deborah überzeugt uns da-
von, daß derartige Hoffnungen Täuschungen nach sich ziehen.
Hier ist ein Kind, das höchst sorgfältig überwacht ist. Es ist
seit seinem achten Lebensjahre beständig unterrichtet, und doch gelang
es nicht, es auf eine höhere intellektuelle Stufe zu heben. Wenn
dieses junge Mädchen heute die Anstalt verlassen würde, würde es
sofort eine Beute schlechter Männer oder Weiber werden und ein
lasterhaftes, unsittliches und verbrecherisches Leben beginnen, für das
es wegen seines Geisteszustandes nicht verantwortlich gemacht werden
könnte. Es gibt nichts, wozu es nicht verführt werden könnte, weil
es keinerlei Selbstbestimmung besitzt. Alle seine Instinkte und Ge-
lüste liegen in einer Richtung, die zum Laster führen würde.
Wir können jetzt die immer wieder auftauchende Frage stellen
— und dürfen hoffen, eine Antwort darauf zu finden —: Wie er-
klären wir eine derartige Individualität? Und die Antwort lautet mit
1) Die Aufgaben lauten: Was hängt am Baum? — und: Wann kommen die
Nachbarn zu Besuch? K. W.
?) Goddard klassifiziert in: Normale, Moronen, Imbezille, Idioten und total
Defektive. Die Bezeichnung »Morone« ist bei uns nicht üblich. Goddard definiert
sie in seinem Aufsatz »Höhe und Gewicht schwachsinniger Kinder in amerikanischen
Instituten« (Eos, Jg. 8, Heft 4, Oktober 1911, S. 241—260) als »jene Gruppe von
Kindern, welche früher in den meisten Instituten als ‚Schwachsinnige‘ im spezi-
fischen Sinne betrachtet wurden«. Es sind vor allem die Kinder, die eine einem
acht- bis zwölfjährigen Kinde gleichwertige Mentalität haben, während der Imbezılle
die Mentalität eines normalen Kindes von ungefähr drei bis sieben Jahren zeigt
und der Idiot um weitere zwei Jahre oder mehr dahinter zurückbleibt (a. a. O.,
S. 243). K. W.
Tafeln
zu
Goddard-Wilker, Die Familie Kallikak.
Tafel 1.
Figur 1.
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Tafel II.
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Russel-Struve: Junge Galgenvögel. 15
einem Worte: Vererbung — ein schlechter Stamm. Wir müssen zu-
geben, daß die menschliche Familie variierende Stämme oder Arten
zeigt, die gekennzeichnet sind und entstehen wie Stämme und Arten
im Pflanzen- und Tierreich.
Früher wäre eine derartige Behauptung eine bloße Vermutung,
eine Hypothese gewesen. Wir unterbreiten auf den folgenden Seiten,
was uns ein klarer Beweis für die Berechtigung dieser Behauptung
zu sein scheint. (Forts. folgt.)
2. Junge Galgenvögel.
Von
Charles E. B. Russell, M. A.
Chief Inspector of Reformatories and Industrial Schools.
Berechtigte Übersetzung von Dr. jur. Karl Struve.
Vorbemerkung des Übersetzers.
Es ist nicht lange her, als ich — mit dem Studium der Behand-
lung jugendlicher Rechtsbrecher in England beschäftigt — mit Charles
E. B. Russells Buch »Young Gaol Birds« bekannt wurde. Das
Buch wurde mir zu einer Quelle reichster Belehrung. Es gewährte
mir, was ich bislang vergebens gesucht hatte: eine wahrheitsgetreue
und lebenswarme Darstellung des Denkens und Handelns der krimi-
nellen Jugend, geschrieben von einem ihrer erfahrensten Kenner und
Freunde.!) Denn die Schicksale der vierzehn »Galgenvögel«, deren
kriminelle Laufbahn Russell schildert, gewähren einen umfassenden
Einblick in die Lebensverhältnisse, in alle die persönlichen, beruflichen
und gesellschaftlichen Umstände, welche für die Entwicklung und Be-
urteilung des jugendlichen Rechtsbrechers von Bedeutung sind.
Die einzigartige Stellung, die Russells Buch in der gesamten
Jugendrechtsliteratur, die deutsche eingeschlossen, hat, erweckte in mir
den Wunsch, es durch Übersetzung einem größeren heimischen Leser-
kreise zugänglich zu machen. Der Umstand, daß das Interesse an der
Jugendfürsorge weitere Volkskreise ergriffen hat und eine Reform des
Jugendstrafrechts in Vorbereitung ist, ließ eine Schilderung der Zu-
stände, deren Besserung es gilt, besonders wünschenswert erscheinen.
Die Tatsache, daß die Russellsche Darstellung englische Knaben und
1) Während der Drucklegung trifft die Nachricht ein, daß Russel zum Chief
Inspector of Reformatories and Industrial Schools ernannt und damit an die Spitze
der staatlichen Fürsorge für die verbrecherische und verwahrloste Jugend in Eng-
land gestellt ist.
16 A. Abhandlungen.
Jünglinge zum Gegenstand hat, beeinträchtigt ihren Wert für deutsche
Leser nicht. Denn der Typ ist der gleiche und das Problem dasselbe
wie bei uns: die gefährdete Großstadtjugend.
Möge das Buch vielen meiner Berufsgenossen und darüber hinaus
allen, die ein ergreifendes Dokument menschlichen Lebens willkommen
heißen, dieselbe Belehrung und Anregung gewähren wie mir!
London, Sommer 1913. Dr. jur. Karl Struve.
(Preetz in Holstein.)
Einleitung.
Elf der folgenden Skizzen erschienen ursprünglich in stark ge-
drängter Form im Manchester Guardian, eine in dem People’s Journal,
und Teile des Nachworts in den Manchester Evening News. Ich
danke hiermit den Eigentümern der genannten Zeitungen für die mir
mit liebenswürdiger Bereitwilligkeit erteilte Erlaubnis, die derzeitigen
Veröffentlichungen in diesem Bande zu benutzen. Sie verdanken ihr
Neuerscheinen in der vorliegenden Gestalt der Erwägung, daß diese
einfachen Aufzeichnungen von Lebensschicksalen, welche gemeinhin
einer Betrachtung nicht wert erachtet werden, durch Vereinigung in
einem Buch einige Bedeutung gewinnen mögen. Ihre Zusammen-
fassung in Buchform wird ihnen vielleicht zu nachhaltigerer Wirkung
verhelfen als dem nur vorübergehenden Interesse, welches die in den
Zeitungsartikeln dargestellten Hauptgeschehnisse allenfalls erweckt
haben. Auch hoffe ich so zur Förderung einer Sache beizutragen, die
mir seit Jahren schon am Herzen gelegen hat, nämlich der Reform
der Gesetze, welche den im Jünglingsalter stehenden Rechtsbrecher
betreffen.
Der einzige Anspruch, den ich zugunsten der Skizzen, die keine
literarischen Verdienste haben, erheben kann, besteht darin, daß sie
völlig wahrheitsgetreu sind, wenn auch an einigen wenigen Stellen
Ereignisse, die sich in dem Leben verschiedener Burschen gleichen
Schlages zugetragen haben, unter einem einzigen Namen beschrieben
sind. Die Anschauung, daß der junge Galgenvogel ein abschreckendes
und kaum noch menschliches Charakterbild darstellt, ist so weit ver-
breitet, daß ich um der Wahrheit willen froh bin, auch auf seine guten
Eigenschaften aufmerksam machen zu können. An letzteren fehlt es
nicht neben den vielen schlechten Charakterzügen dieser Menschen,
die infolge ihrer Umgebung und der schlechten Gesellschaft, in der
sie von Jugend auf leben, fast unvermeidlich schon während des
Knaben- und Jünglingsalters ihren Weg ins Gefängnis finden. Wie
Russel-Struve: Junge Galgenvögel. 17
zu erwarten ist, stammt die große Mehrzahl der jugendlichen Ver-
brecher aus den Reihen jener Burschen, die in den verrufensten Be-
zirken großer Bevölkerungszentren ein träges Lasterleben führen und
überdies von gedankenlosen Eltern in den ärmlichsten Verhältnissen
aufgezogen sind. Fall für Fall ist es das Heim — in Wirklichkeit
kein Heim zu nennen —, dem in erster Linie die Verantwortung
für ihre verbrecherischen Neigungen zur Last fällt. Es gibt Jünglinge,
die zwar den Wunsch nach einem ordentlichen Leben hegen, denen
aber gute Anlagen so vollständig fehlen, daß im Wege erziehlicher
Behandlung anscheinend wenig getan werden kann, solange nicht ge-
wisse Bestimmungen des Strafrechts erheblich geändert sind. Zur
Hoffnung berechtigt jedoch die Tatsache, daß es viele gibt — und
zwar ist es sicher die Mehrzahl — die das Zeug haben, bei weiser,
sorgfältiger und liebevoller Aufsicht und vor allem bei Entfernung
aus ihrer Umgebung nützliche Menschen zu werden. Die Aufgabe,
die wir unsern Gesetzgebern ans Herz legen möchten, ist die Rettung
derer, die gerettet werden können, und damit die Verminderung der
Zahl der alten und verhärteten Gefängnis-Stammgäste.
Der Schauplatz der verschiedenen Lebensschicksale, welche mir
meinen Stoff geliefert haben, ist Manchester und Umgebung. Soviel
ich jedoch habe beobachten können, unterscheiden sich Lebensweise
und Umgebung junger Verbrecher in allen Städten nur wenig, Was
von dem jungen Galgenvogel in Manchester gilt, gilt in gleicher
Weise von seinem Kollegen in Liverpool, Birmingham oder London.
Meine Hoffnung geht dahin, daß die Veröffentlichung dieses
kleinen Bandes in gewissem, wenn auch noch so geringem Grade das
öffentliche Interesse an der Frage der Beurteilung und Nachbehand-
lung der Jünglinge, welche unsere Polizeigerichte passieren, erhöhen
und so als Ergänzung zu meinem mehr technischen Werk über den-
selben Gegenstand!) dienen möge.
I. Ralph Kehrdichannichts.
Männer und Frauen, die genügend Teilnahme an der Wohlfahrt
entlassener Gefangener zeigen, um den Versuch zur Besserung ihrer
Lebenslage zu unternehmen, haben sich unweigerlich nicht nur auf
wiederkehrende Enttäuschungen und Fehlschläge gefaßt zu machen,
sondern müssen sich gelegentlich sogar eingestehen, daß ihre Be-
1) Der Entwicklungsgang des Verbrechers (The making of the criminal). London,
Macmillan, 1906. 3s. 6d.
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 2
18 A. Abhandlungen.
mühungen mehr Schaden als Nutzen gestiftet und Missetäter zur Fort-
setzung ihrer bösen Laufbahn ermutigt haben. Es ist vielleicht zu
hart geurteilt, daß ihre Hilfsbereitschaft in jedem Falle als ein An-
trieb zu Verstellung und allerlei kleinen Schlechtigkeiten wirkt.
Soviel aber ist gewiß, daß solche Bereitwilligkeit von einer gewissen
Sorte von Übeltätern keinen Augenblick vergessen und außer Berech-
nung gelassen wird. Ich denke dabei an solche Leute, die sich lächelnd
mit ihrem Mißgeschick abfinden und stets bei der Hand sind, ihren
Willen zu einem Leben völliger Hingabe an Arbeit und Pflicht zu
beteuern. Nur solle man ihnen »eben dies eine Mal« in der jeweils
gewünschten Weise helfen — sei es durch Beschaffung von Arbeit
oder durch Kauf einer mehr oder weniger umfangreichen Kleider-
ausstattung für eine Beschäftigung, die sie angeblich sofort bekommen
können, wenn sie sich in passendem Zeuge vorstellen.
Meine Erfahrungen mit einem Burschen namens Ralph betreffen
einen Fall dieser Art. Denn ich muß bekennen, daß meine Be-
mühungen seinetwegen ihm nur neue Wege zu schamlosen Aus-
beutungsversuchen gegen mich gezeigt haben. Auch hat er sich nicht
ein bißchen gebessert, seit ich begann, mich seiner anzunehmen.
Als ich ihn vor drei bis vier Jahren zum ersten Male im Ge-
fängnis traf, war er ein helläugiger, frischfarbiger Junge von achtzehn
Jahren, wohlgebaut und körperlich augenscheinlich in ausgezeichneter
Verfassung. Da er vorher schon mehrere Strafen verbüßt hatte, würde
ich im gewöhnlichen Laufe der Dinge auf seinen Fall nicht aufmerk-
sam geworden sein. Aber als ich ihn bei seiner Arbeit streifte, hörte
ich die Bemerkung: »Das ist der dreisteste junge Dieb in der Stadt,
und eine ganze Menge Leute haben regelrecht Angst vor ihm.« Meine
Teilnahme war mit einem Schlage wach, und so wurde ich mit ihm
bekannt.
Nach und nach erfuhr ich, daß Ralphs Eltern in einem ganz
ordentlichen Teile der Stadt ein anstößiges Leben geführt hatten und
von ihren Nachbarn verachtet und gemieden worden waren. Das
Verbrechen und seine Folgen waren ihm von früher Jugend auf ver-
traut; denn sein Vater war ein wohlbekannter Dieb. Der Gedanke
ans Gefängnis hatte für Ralph nicht den Schrecken, den er für die
meisten Knaben hat. Zu oft nur hatte er seinen Vater über das
bißchen Unannehmlichkeit witzeln und lachen hören, das eine Spanne
von drei oder sechs Monaten Gefängnis wirklich in sich schloß.
Immerhin würde er sich wahrscheinlich nicht zu dem gesellschaft-
lichen Schädling, der er heute ist, entwickelt haben, wenn er seine
Freunde nicht aus einer gewissen »Clique« junger Burschen erwählt
Russel-Struve: Junge Galgenvögel. 19
hätte. Diese waren größtenteils reiferen Alters und brüsteten sich
offen damit, daß sie nicht arbeiteten und auch nicht beabsichtigten,
es je zu tun. Sie wetteiferten, aus dem Neuling in ihrer Mitte eine
Hauptperson zu machen. Denn sie liebten sein lustiges Gebahren und
sahen in seiner Verwegenheit und Wildheit die Eigenschaften, die in
ihrem Kreise besonders vonnöten waren. Sie waren nämlich eine
Rotte, deren kleine Eifersüchteleien alle niedriger und erbärmlicher
Natur waren und deren Glieder keine Spur von Festigkeit oder Mut
besaßen. Bei einem Jüngling von Ralphs Temperament erwies sich
ihre Schmeichelei als ein unfehlbarer Ansporn, sich gegen Gesetz und
Eigentum zu vergehen. Wollte er doch beweisen, daß er der Taten
fähig wäre, die er, wenn er’s nur mal probieren wolle, mit Leichtig-
keit vollbringen könne — wie sie ihm so zungengewandt klar machten,
obwohl sie den Erfolg genau voraussahen. Aber seine Verwegenheit
nahm von Anfang an kümmerliche und niedrige Formen an. Denn
seine Phantasie erhob sich nicht zu besonders hohem Fluge, und seine
Heldentaten waren — glücklicher- oder unglücklicherweise — nur
ausnahmsweise durch Großzügigkeit gekennzeichnet. Die Art seines
Vorgehens zeigt folgendes Beispiel: Er trat an ein Haus heran, klopfte
an die Tür und schlich sich, wenn niemand öffnete, nach der Rück-
seite des Geweses. Dort erzwang er sich Eingang und erbrach mit
geringem Aufwand von Scharfsinn den Geldbehälter des automatischen
Gasmessers, der bei dem Penny-Einwurfsystem die Bezahlung des
Lichtspenders enthält.
Gelegentlich eines dieser Beutezüge, der mit größerer Frechheit
und Kühnheit als die früheren ausgeführt war, wurde er beim Davon-
schleichen von dem Eigentümer des Hauses gesehen. Angerufen, holte
er sofort unter einem Schwall von Flüchen zu einem Fußtritt gegen
seinen Häscher aus und suchte das Weite. Bei dem folgenden Hallo
und Geschrei wurde er aber schnell angehalten. Seine Unschulds-
beteuerung half ihm nicht viel, und mit einem Monat Gefängnis be-
gann er einen neuen Abschnitt einer Laufbahn, welche jetzt, sechs
Jahre später, so hoffnungslos, wie nur möglich, ist. Bevor ich ihn
kennen lernte, hatte er schon von Zeit zu Zeit Gasmesser geplündert,
war stolz auf seinen Erfolg und machte sich wenig aus den gelegent-
lichen Bestrafungen. Im Falle seiner Entdeckung war er, wenn der
unvermeidliche Augenblick der Festnahme eintrat, stets zu einem
Kampf um die Freiheit, zum Widerstand mit aller Kraft, zu einem
rauhen Spiel« bereit. Er arbeitete selten; denn wenn er nichts auf
unehrliche Weise erwarb, fand er stets Aushilfe bei verschiedenen
Freundinnen aus dem anderen Geschlecht, die ihn um seines guten
9+
20 A. Abhandlungen.
Aussehens, seines gemeinhin munteren Gebahrens und seiner netten
Kleidung willen bewunderten.
Wie es mit allen diesen Burschen geht, so beteuerte auch Ralph,
als ich ihn nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis sah, daß sein
ganzer Wunsch auf »Arbeit« gerichtet wäre. Wenn er nur anständige
Kleidung hätte, könnte er leicht eine Stellung bekommen und brauche
künftig niemanden zu belästigen. Durch seine ganze Erscheinung und
sein gewinnendes Lächeln angezogen, entschloß ich mich, ihm eine
Möglichkeit zu geben. In der Hoffnung, daß er Wort halten werde,
wurden die Kleider gekauft. Aber Ralph hatte nicht die leiseste Ab-
sicht, Treue zu halten. An demselben Tage, an dem er die Kleidungs-
stücke bekam, versetzte er sie auch schon wieder. Mit dem Hergang
unterhielt er wohl ein Dutzend seiner Kumpane und gab ihnen den
Rat, auch »den alten Einfaltspinsel«, der ihm geholfen hatte, aufzu-
suchen und »ihren Vers gut herzusagen«, damit es ihnen auch glücken
möge, Geschenke an Kleidung oder, noch willkommener, einen kleinen
Geldvorschuß zu erhalten. Einige hatten Erfolg, und alle waren
mehrere Wochen hindurch eine Plage für mich.
Merkwürdigerweise ist nicht der stumpfe, gewöhnliche Bursche,
wie man ihn im Gefängnis sieht, der Menschenschlag, der sich trotz
allem, was für ihn getan wird, am häufigsten zum durchtriebenen
Verbrecher entwickelt. Im Gegenteil, die hellen und hübschen Jungen,
deren Leitung und Unterstützung stets so viel mehr Freude macht,
sind gerade diejenigen, welche alle Bemühungen in Enttäuschung
enden lassen. Ich möchte keineswegs den Eindruck erwecken, daß
Ralph von Grund aus schlecht war oder ist. Denn eine Begebenheit,
die sich an einem der ersten Abende unserer Bekanntschaft zutrug,
beweist in der Tat das Gegenteil. Ein Freund, der mich besucht
hatte, hatte eine Reisetasche und einen Überzieher zurückgelassen mit
der Bitte, dafür zu sorgen, daß die Sachen nach dem Salforder Bahn-
hof gebracht und dort seine Ankunft mit einem bestimmten Abendzug
abgewartet würde. Da ich mir die unverbesserliche Diebesnatur
meines Schützlings nicht vergegenwärtigte, betraute ich ihn in einem
Augenblicke der Unbesorgtheit, die vielleicht seiner eigenen nichts
nachgab, mit jener Sendung. Hätte ich ihn gekannt, wie ich ihn jetzt
kenne, so würde ich sicher gezögert haben. Selbst damals hatte ich
— ich will es ehrlich bekennen — nach seinem Verschwinden einige
Beklemmungen und hatte ein Gefühl dankbarer Erleichterung, als er
nach treulicher Erfüllung seines Auftrages zurückkehrte. Vielleicht
hat er gedacht, es war eine Probe; aber ich glaube das kaum. Ich
nehme vielmehr an, daß seine seltsame Ehrlichkeit die Wechselwirkung
Russel-Struve: Junge Galgenvögel. 21
seiner besseren Natur auf ein Vertrauen und eine Zuversicht darstellte,
von der er als etwas völlig Ungewohntem zu sehr mitgenommen
wurde, um sie täuschen zu können. Erfahrungen mit anderen Burschen
ähnlichen Schlages bestätigen diesen Eindruck. Es gibt seltsame, un-
erforschte Tiefen in den Seelen der Bösen wie der Guten. Wir tun
den Menschen ebenso großes Unrecht wie sie der Gesellschaft, wenn
wir sie leichthin als »schlecht« marken und sie in Gedanken hinweg-
stoßen zu dem Schutthaufen der Verzweiflung.
Es war nicht schwer, Arbeit für einen Burschen mit Ralphs
äußeren Vorzügen zu finden, aber es war unmöglich, ihn von seinen
Freunden, lauter wohlbekannten Übeltätern, fernzuhalten. Nach wenigen
Wochen war er wieder in Ungelegenheiten. Als er zu später Abend-
stunde durch eine der Hauptstraßen seines Wohnortes kam, wurde er
sich plötzlich der Tatsache bewußt, daß es regnete und er keinen
Überzieher hatte. So machte er vor dem Geschäft eines Pfandleihers
Halt, vor dessen Ladeneingang einige billige Überzieher und Regen-
mäntel hingen. Scheinbar in die Betrachtung einiger Uhren im
Schaufenster vertieft, wartete er in Wahrheit mit verstohlenen Seiten-
blicken, bis die Straße von Fußgängern annähernd leer war. Als
dieser Augenblick gekommen war, holte er in seiner üblichen Un-
verfrorenheit den Mantel gewandt vom Haken herunter und eilte pfeil-
geschwind die Straße dahin. Zu seinem Unglück war er aber doch
nicht schlau genug gewesen; denn er war gesehen und wurde schnell
dingfest gemacht. Seine einzige Entschuldigung für die Tat lautete:
»Na, Sie glaubten doch nicht etwa, ich hatte Lust, mich durchregnen
zu lassen ?«
Drei Monate Gefängnis folgten auf diesen frechen Diebstahl, aber
Ralph blieb unverbesserlich. Das Gefängnis hatte sich nicht als be-
sonders unangenehm erwiesen und sah Ralph bald wieder wegen »ab-
sichtlichen Herumlungerns«. Er brachte vor, daß die Polizei ihm
mehr Aufmerksamkeit widme, als recht sei. Dabei vergaß er freilich,
daß die Polizei ihre Pflichten gegenüber dem Publikum hat, und daß,
wenn ein wohlbekannter Dieb nach Einbruch der Dunkelheit eine
volle Stunde bei gewissen Läden herumlungert, man hierin sehr wohl
das Auskundschaften einer Stellung sehen kann, die zu der best-
geeigneten Zeit gestürmt werden soll.
Nach seiner Entlassung suchte er mich auf. Wie gewöhnlich be-
teuerte er, »den ganzen Krempel abschütteln« und ein ordentliches
Leben führen zu wollen. Als ich sagte, daß ich ihm auch keine
Sekunde glaube, antwortete er mir lächelnd: »Schön, Herr, wenn Sie
mir nicht helfen wollen, weiß ich schon, was ich tue, und Sie sind’s,
29 A. Abhandlungen.
der mich dazu genötigt hat.« Selbst dies rührte mein hartes Herz
nicht, und er verschwand, jedoch nicht, um sich zu bessern. Wenige
Wochen später hörte ich wieder von ihm. Er war zu seinen alten
Kumpanen zurückgekehrt, hatte einen Schuppen entdeckt, in welchem
ein Grünkrämer seine Gemüsevorräte aufbewahrte, und seinen Freunden
vorgeschlagen, in einer dunklen Nacht, mit einer Handkarre versehen,
den Platz zu überfallen. Sein Plan gelang nur zu gut. Aber Ralph
ist nun einmal nicht übermäßig schlau und bewies auch hier wenig
Voraussicht. Als der unglückliche Grünkrämer seinen Verlust der
Polizei meldete, richtete sich der Verdacht sofort gegen die Rotte, der
Ralph sich angeschlossen hatte. Eine bei den Burschen vorgenommene
Haussuchung förderte noch die vollen Säcke zutage. Denn Ralph
hatte vor Beiseiteschaffung der Beute versäumt, sich Abnehmer zu
sichern und fand sie hinterher nicht so leicht, wie er erwartet hatte.
Nicht lange nach Verbüßung der Gefängnisstrafe, die auf diesen
Zwischenfall folgte, heiratete er. Er sagte, er müsse dafür sorgen, daß
die Ehre des Mädchens, das sich ihm hingegeben hatte, nicht bloß-
gestellt würde. Eine Zeitlang konnte seine Frau noch bei ihrer Mutter
bleiben, ein Notbehelf der in Ralphs Stand in solchen Fällen keines-
wegs ungewöhnlich und häufig mit vielen Mißhelligkeiten verknüpft
ist. Beispiele, daß das junge Weib bei Geburt ihres ersten Kindes
von ihrem Gatten verlassen wird, sind an der Tagesordnung. Ebenso
häufig sind die Fälle, in denen das unerwünschte, lästige Kind nur
einige Wochen oder Monate lebt. In der Tat, die in allen Schichten
verbreitete Auffassung, daß, wenn ein Mädchen »von Mißgeschick be-
troffen ist«e, Heirat alles wieder gut macht, ist grundfalsch und ge-
eignet, die Achtung vor dem Ehestand zu vermindern. Solche Heiraten
machen oft aus schlecht schlimmer und führen zu den unerquick-
lichsten Formen häuslichen Unglücks. Was Ralph anlangt, so verließ
er nach wenigen Monaten sein Weib und tat sich wieder mit seinen
früheren Gefährten zusammen. Der Erfolg war der gewöhnliche. Er
kam bald wieder ins Gefängnis, und zwar wegen Diebstahls von Juwelen
aus einem Pfandleihgeschäft.
Ralphs Rückkehr aus dem Gefängnis bildete diesmal den Beginn
einer Periode wirklicher, harter Arbeit. Auf irgendwelche Weise er-
langte er Beschäftigung durch die Stadtverwaltung, und es hatte den
Anschein, als wolle er sich schließlich doch noch zur Ordnung be-
quemen und ein stetiger Arbeiter werden. Aber es sollte nicht sein.
Eine von ungefähr gefallene Äußerung seines Vorarbeiters entflammte
sein rasches, böses Blut. Er ging auf der Stelle davon, um bald eine
neue, diesmal allerdings nur kurzfristige Strafe zu empfangen.
Russel-Struve: Junge Galgenvögel. 23
Einige Wochen später erhielt ich eine Postkarte mit der Meldung,
daß Ralph krank zu Bett liege. Gleichzeitig bat er um eine kleine
Unterstützung, um das Elend abwenden zu können, daß er in diesem
Zustand aus seiner Wohnung ausgewiesen werde. Ich entsandte einen
Boten, um nachzufragen und nach Ralph zu sehen, und war nicht
einmal sehr überrascht, als sich herausstellte, daß Ralph einfach den
ihm bekannten Hauseigentümer gebeten hatte, Briefe für ihn in
Empfang zu nehmen. Er war genau derselbe geblieben, der er immer
gewesen war. Als ich ihm schrieb und ihm seine Täuschung und
Schamlosigkeit vorwarf, erwiderte er: »Was ist denn dabei los? Irgend
etwas mußte ich anfangen. Ich dachte, Sie würden nicht so kleinlich
sein nach dem Hause zu schicken. Aber ich kenne Sie jetzt und
werde Sie niemals wieder um Hilfe angehen.«e Vierzehn Tage später
jedoch machte er, durch leere Taschen zur Verzweiflung getrieben,
einen neuen Versuch. Er kam und erzählte, daß er eine Stellung
bei Smith & Robinson erhalten habe, und bat um bessere Kleidung,
um darin seine Arbeit zu beginnen. »Hör zu, mein Junge«, ant-
wortete ich, »bevor irgendwas für dich geschehen kann, wenn das
überhaupt noch möglich ist, mußt du eine Bescheinigung von der
Firma bringen, daß du bei ihr in Stellung bist«. »Gut«, sagte Ralph
und verschwand, um nach einigen Abenden mit einer Bescheinigung
anzutreten, die zwar auf dem Briefpapier der Firma, jedoch offenbar
von ihm selbst geschrieben war. Als ich ihm dies auf den Kopf zu
sagte, ging er wutentbrannt davon. Am nächsten Tage fragte ein
Geheimpolizist bei mir an, ob ich etwas von ihm gesehen hätte; es
werde nämlich nach ihm wegen eines Einbruchs in Smith & Robinsons
Büro gefahndet. Es stellte sich heraus, daß er tatsächlich in den
Raum eingebrochen war und einige Bogen Firmenpapier gestohlen
hatte. Soweit man sehen konnte, hatte er dies lediglich zu dem
Zweck getan, um mich zu täuschen. Nach wenigen Tagen wurde er
gefaßt, brachte es aber auf irgend eine Weise fertig, ohne Strafe
davonzukommen.
Nach diesem unglücklichen Fehlschlag kam Ralph monatelang
nicht zu mir. Vor wenigen Wochen erschien er aber wieder einmal
auf der Bildfläche. Er war gut gekleidet und behauptete, zu arbeiten.
Trotzdem bat er um Hilfe, wurde aber abschlägig beschieden. Nach
allem, was ich höre, muß ich fürchten, daß er tiefer und ticfer sinkt.
Bald lebt er von dem Ertrag kleiner Betrügereien und Gemeinheiten,
bald von der »Verschärfung« der Beute, die ihm bei der schamlosen
Ausplünderung kleiner Läden in die Hände fällt. (Nebenbei sei ge-
sagt, daß die Inhaber letzterer durch Auslage ihrer Waren im Freien
24 A. Abhandlungen.
Leuten mit diebischer Veranlagung große Versuchungen in den-Weg
legen.) Zeitweilig ist er sogar auf die verächtlichste Art des Unter-
haltes ohne eigene Arbeit — auf den Verdienst liederlicher Frauen-
zimmer — angewiesen. Er ist ein schamloser Lügner und geht mit
kühlem Blut und völlig gefaßt seinem Treiben nach. Nur legt er mit
den zunehmenden Jahren seine Tolldreistigkeit ab und nimmt dafür
an Verschmitztheit zu. Ralph wird niemals im Freien nächtigen und
niemals betteln — solche Sachen sind unter seiner Würde und zu
unbequem. Jederzeit aber ist er bereit, bei einem verbrecherischen
Unternehmen die Gefahr der Ergreifung auf frischer Tat in Kauf zu
nehmen; denn Ehrgefühl kennt er nicht.
Ralph ist nur ein Beispiel aus der Menge der jungen Leute, die
ohne häusliche Beeinflussung oder unter noch schlimmeren Verhält-
nissen aufwachsen und infolge ihres Umganges stetig hinabgleiten, bis
sie auf der Stufe des Verbrechers anlangen. Für Ralph, als einen
behenden und gewandten Burschen, würde eine langjährige Erziehungs-
haft unter Einrichtungen, wie sie z. B. in der Besserungsanstalt des
Staates New York zu Elmira getroffen sind, wahrscheinlich das Beste
gewesen sein. Oder er hätte nach irgendeinem entlegenen Fleck,
etwa den Hinterwäldern von Nordwestkanada, hinausgesandt werden
müssen. Dort, glaube ich, wäre er höchstwahrscheinlich im Laufe
weniger Jahre ein guter und erfolgreicher Ansiedler geworden. Denn
er ist nicht von Herzensgrund schlecht. Aber seine guten Anlagen
sind durch die hervorstehenden bösen Eigenschaften verdeckt. So
wie die Dinge jetzt stehen, ist und bleibt er ein wirklich gefährlicher
junger Mann, ein lästiger Schädling in der menschlichen Gesellschaft.
(Forts. folgt.)
3. Die Strafe in der Fürsorgeerziehung.
Von
Oberarzt Dr. Mönkemöller, Hildesheim.
Die Umwandlung der Zwangserziehung in die Fürsorgeerziehung
ist dazu bestimmt gewesen, den ganzen Charakter dieses bedeutsamen
und verantwortungsvollen sozialen Erziehungswerkes sehr wesentlich
umzugestalten. An Stelle des Zwanges sollte, wie das schon in dem
neuen Namen angedeutet war, die Sorge für die verwahrloste Jugend
treten. Man wollte nicht lediglich und in erster Linie die schon
längst bestehende |Verwahrlosung wieder ausrotten. Die Erziehung
sollte das Entstehen der körperlichen und seelischen Zerrüttung von
vornherein im Keime ersticken.
Mönkemöller: Die Strafe in der Fürsorgeerziehung. 25
Damit wurde der Begriff der Strafe, der früher schon der
Bezeichnung dieser Erziehungsform angehaftet hatte, äußerlich voll-
kommen und im inneren Betriebe dieser umgemodelten Erziehungs-
form wenigstens theoretisch ausgeschaltet.
Die historische Entwicklung der Fürsorgeerziehung hat es infolge
des Druckes durch höhere gerichtliche Entscheidungen mit sich ge-
bracht, daß der ursprüngliche Zweck dieses Werkes eine sehr wesent-
liche Umänderung erfahren hat.
Die Vorbeugung ist ja nicht gänzlich ausgeschaltet, aber sie
tritt in der zahlenmäßigen Betrachtung doch recht wesentlich zurück.
Es ist gar nicht zu leugnen, daß die theoretisch totgesagte Zwangs-
erziehung sich in der Praxis wenigstens in gewissem Maße ihr Dasein
noch immer nicht verkümmern lassen will. Denn die Mehrzahl der
Zöglinge, an denen sich dieser Zweig pädagogischer Wirksamkeit ver-
suchen muß, befindet sich meist in einem derartigen Stadium äußerer
und innerer Verwahrlosung, daß das ganze Erziehungsinstrument oft
auf einen schärferen Ton gestimmt werden muß, als es mit dem Namen
dieser Erziehungsform vereinbar zu sein scheint.
Die Zwangserziehung war offiziell die Verwirklichung eines aus
der Strafgewalt des Staates fließenden allgemeinen Erziehungszweckes.
Auch damals sollte es der Zweck des Gesetzes sein, die Kinder nicht
strafen sondern erziehen zu lassen.!) Aber schon unter der Herrschaft
des alten Gesetzes trug die Zwangserziehung in weit höherem Maße
den Charakter der Strafe, als der Verweis, ja selbst als kürzere
Freiheitsstrafen. Das wurde sogar von juristischer Seite ausdrück-
lich zugegeben. Aschrott?) bezeichnet es als unrichtig, daß die
Knaben, welche die zur Erkenntnis der Strafbarkeit der Handlung
erforderliche Einsicht besaßen, also einen höheren Grad der Verderbt-
heit bewiesen hatten, mit der kürzeren Strafe davonkommen, während
diejenigen, welche die Einsicht nicht besessen hatten, der länger
dauernden und einen weit größeren Eingriff in die Freiheit und die
Rechte des Individuums repräsentierenden Zwangserziehung über-
wiesen wurden.
Mag nun auch die Fürsorgeerziehung den Charakter der Strafe
vollkommen eingebüßt haben, mag es auch unter dem Einflusse einer
Änderung der Rechtsprechung, wie sich das glücklicherweise jetzt
1) Wiedemann, Gesetz betr. die Unterbringung verwahrloster Kinder.
1887. S. 28.
7?) Aschrott, Die Behandlung der verwahrlosten und verbrecherischen Jugend
und Vorschläge zur Reform. Berlin 1892.
26 A. Abhandlungen.
anzubahnen scheint, möglich werden, daß der ursprünglich beabsichtigte
rein vorbeugende Zweck des Fürsorgeerziehungsgesetzes reiner zur
Geltung kommt, nach der Ansicht der meisten Zöglinge selbst wie
ihrer Angehörigen übertrifft sie an Wucht alle Strafen, die sonst
über das Kind und den Jugendlichen verhängt werden können. Sie
reißt die Kinder aus dem Elternhause, sie regelt den Verkehr mit
ihrer Familie und muß ihn gelegentlich beschneiden, sie engt ihre
Bewegungsfreiheit ein, sie nimmt ihnen ganz den eigenen Willen,
über die Schul- und Arbeitsstunden hinaus schreibt sie ihnen vor,
was sie zu tun haben und mischt sich sogar in ihre Stellungnahme
zu der zukünftigen Gestaltung ihres Lebens ein. Läßt sie sie in die
Freiheit versuchsweise hinaus, so verbindet jene eine unsichtbare Kette
mit der Anstalt, sie überantwortet sie einem Regime, das bei allem
Wohlwollen, bei aller Güte nicht der Straffheit, ja selbst nicht der
Strenge entbehren kann.
Gibt man zu, daß diese Form der Erziehung, wenn auch nicht
theoretisch, wohl aber praktisch nicht völlig von dem Be-
griffe der Strafe loszulösen ist, dann könnte einen, wenn man
in Theorie schwelgen will, der Gedanke stutzig machen, daß sich
unter dem Material, das sich in der Fürsorgeerziehung und vor allem
in den Anstalten zusammendrängt, ein recht großer Prozentsatz von
Individuen befindet, die der Psychopathie in geringerem oder größeren
Maße verfallen sind. Man braucht sich hierbei nicht auf einzelne
Zahlen festzulegen. Bei den verschiedenen Untersuchungen, die auf
diesem Gebiete veranstaltet worden sind, ist es ja zu manchmal
nicht unerheblichen Differenzen gekommen. Aber man kann mit
gutem Gewissen sagen, daß mindestens 50 Prozent der Zöglinge,
die in den Anstalten untergebracht sind, nicht über eine normale
Psyche verfügen. Und würde man sie vor dem ärztlichen Forum
vom Gesichtspunkte der Zurechnungsfähigkeit in irgend einem krimi-
nellen Verfahren einer eingehenden Untersuchung unterziehen müssen,
dann unterliegt es keinem Zweifel, daß diese Frage bei einem nicht
geringen Teile in negativem Sinne beantwortet werden müßte Nun
sollte ja von allgemein juristischem und erst recht von streng
psychiatrischem Standpunkte aus jemand, der bis zu einem ge-
wissen Grade geistig nicht normal ist, der Strafe nicht erreichbar
sein. Haftet der Fürsorgeerziehung auch nur ihrem inneren Wesen
nach der Charakter der Strafe an, dann müßte sich zunächst die Frage
erheben, ob wir berechtigt sind, einen Teil der Zöglinge diesem
Regime zu überweisen.
Man braucht der Überspannung dieses Begriffes aber nicht ein-
Mönkemöller: Die Strafe in der Fürsorgeerziehung. 27
mal theoretisch näher zu treten, selbst wenn man sich innerlich ge-
trieben fühlt, die unvermeidbaren Härten, die nun einmal diesem
Regime anhaften, noch so hoch zu veranschlagen. Aber eine Strafe,
selbst im idealsten Sinne des Psychiaters, ist es eben nun einmal
nicht. Ganz vereinzelte Fälle ausgenommen würde es die Interessen
dieser Kranken auf das schwerste schädigen, wenn man sie dieser Art
der Erziehung entziehen wollte, die bei richtiger Handhabung in den
meisten Fällen gerade der Eigenart ihres Wesens durch genügende
Individualisierung und Berücksichtigung ihrer psychischen Eigenart
gerecht zu werden vermag. Selbst bei schrofferer Zuspitzung der
Strenge des Erziehungswerkes lassen sich nur verhältnismäßig wenige
Fälle denken, in denen diese Erziehungsform im allgemeinen das
Individuum schädigen könnte. Die Voraussetzung dabei bleibt aber
natürlich, daß die psychischen Krankheitserscheinungen ihre
' gebührende Berücksichtigung finden.
Das ist allerdings auch nicht ganz so einfach, wie es auf den
ersten Blick erscheinen könnte. Diese Aufgabe verlangt eine Indivi-
dualisierung, die sich zunächst über den Seelenzustand der Zöglinge
volste Klarheit verschaffen muß und die Schwierigkeiten, die sich
der Umsetzung der theoretisch unanfechtbaren Grundsätze in die
Praxis entgegenstellen, nicht zu gering veranschlagen darf.
In die Fürsorgeerziehung wird ein Material zusammengepreßt,
das in einer sehr erheblichen Zahl der Fälle allen Erziehungsversuchen
zu spotten scheint. Der Respekt vor der Autorität ist seit Jahren
künstlich untergraben, wenn er überhaupt jemals bestanden hat. Die
Übertretung von Sitte und Gesetz gehört beinahe zum täglichen Brot.
Die Unterordnung unter die Disziplin und das Hausgesetz stellt an
die verwahrlosten Gemüter die schwersten Anforderungen. Stete Ent-
gleisungen fordern gebieterisch eine Korrektur heraus. Gütliches Zu-
reden und sanfte Ermahnung scheitern zunächst an der Verständnis-
losigkeit der verwahrlosten Jugend, die in der Öde des Elternhauses
entweder ganz auf jede Erziehung verzichten mußte, bei denen sich
die verständnislosen Erziehungsversuche lediglich in Mißhandlungen
umsetzten oder bei denen der Asozialismus der Eltern geradezu die
Abkehr vom bürgerlichen Zusammenleben und den Trotz gegen Ge-
setz und Sitte predigte.
So muß sich zur Güte die Strenge gesellen. Die Erziehung darf
nicht der Straffheit entbehren. Die Strafe muß in irgend einer Form
in ihre Rechte treten, soll der Erziehungszweck überhaupt erreicht
werden. Darf sie das nun in rückhaltsloser Weise? (Forts. folgt.)
28 A. Abhandlungen.
4. Gegenbewegung der linken Hand und Symmetrie.
Von
Martin Buchner, Passau.
(Mit 9 Abbildungen.)
In pädagogischen Kreisen setzt man Hoffnungen auf die sogenannte
Linkskultur oder Zweihändigkeitsbewegung, auch kurz Linksbewegung
genannt.
Wenn ich einst als Schulknabe meine Schreibaufgabe vollendet
hatte, trieb ich mit dem Griffel Unfug. Dabei entdeckte ich, daß man
seinen Namen auch mit der Linken schreiben könne, aber in der
Richtung nach rechts ungeläufig; viel leichter gelang er nach links,
doch sah er dann seltsam aus, und man konnte ihn nicht lesen. Ein
älterer Kamerad wußte Rat: er brachte ein Spiegelchen mit und siehe,
im Spiegel konnte ich meinen mit der Linken nach links geschriebenen
Namen lesen.
Unsere Spiegelschrift wandert nach links; die Linke schreibt sie
ohne viel Besinnen; versucht man die Spiegelschrift mit der Rechten
nachzuahmen, so muß man aufmerksam mitdenken. Es gibt Völker,
deren Schrift nach links zieht, z. B. die Türken. Das bedeutet aber
keinen Gegensatz zur Bewegung unserer Hand. Der Orientale hält
seinen Schreibpinsel mit der rechten Hand senkrecht über dem Schreib-
streifen und schiebt diesen unter dem Pinsel nach rechts durch. Die
schreibende Hand rückt nicht von der Stelle, auf dem Papier aber
erscheint eine Bewegung der Schrift nach links. Auf uralten griechi-
schen Denkmälern sieht man beide Bewegungen abwechseln: eine
Zeile zieht nach rechts, die andere nach links. Da die Zeichen des
griechischen Alphabets einfacher sind als die des lateinischen oder
gar des deutschen, machte wohl das Lesen der Spiegelschrift keine
Schwierigkeit. Vielleicht mochte die Hand, die mit dem Schreibgriffel
nach rechts gewandert war, nicht untätig zurückkehren.
Unsere Spiegelschrift ist Gegenbewegung der linken Hand.
Woher der Bewegungsdrang unserer Spiegelschrift nach links?
Schreibt die Linke keine Spiegelschrift, ehe die Rechte des
Schreibens kundig ist?
Im 4. Jahre verlangte unser Knabe auch etwas »hinzuzuschreiben«,
wenn ein Brief an Großmama abging. Als er das 4. Jahr vollendet
hatte, ließ ich ihn einmal das Gekritzel mit der Linken ausführen:
es entstand das Spiegelbild des Geschreibsels der Rechten in der
Richtung und Neigung nach links. Die gleiche Beobachtung ergab
sich, als der Knabe 5 Jahre alt war. In diesem Alter wurde er auch
Buchner: Gegenbewegung der linken Hand und Symmetrie. 29
zum erstenmal aufgefordert mit beiden Händen gleichzeitig zu
əschreibene. Er wußte nicht recht zu beginnen. Auf die Mahnung:
»Schnell!« kritzelte er rasch mit beiden Händen; die Linke erzeugte
das Spiegelbild. (Abb. 1.) Daraus folgt für diesen einen Fall: Die
Spiegelschrift hängt nicht von der Ausbildung der Rechten
im Schreiben schlechtweg ab; die Anlage zum Nachlinksschreiben
der Linken steckt tiefer, wohl so tief wie die Anlage zum Nachrechts-
schreiben der Rechten bei uns Abendländern. Um zu sehen, wie die
fortgesetzte Übung der Rechten im gewöhnlichen Schreiben die
Linke beeinflußt, ließ ich in einem Versuch 10 jährige Volksschüler
4
Rechte Hand. FIN
= )
Linke Hand. SAN
Beide Hände
gleichzeitig.
(Abbildung 1.)
mit der Linken rasch die Buchstaben (langes) s, 1 und h nieder-
schreiben. Von 49 Schülern schrieb nur ein einziger alle 3 Buch-
staben in Spiegelschrift; einzeln wurden je 1 s, 1 1 und 1 h voll-
ständig, der letztere Buchstabe auch 1mal unvollständig gespiegelt.
Die Spiegelschrift war also fast ganz verschwunden.
Da prüfte ich auch eine Klasse von Sechsjährigen, die eben die
kleinen Buchstaben überwunden hatten. Es fanden sich noch 18%,
Spiegelbilder des s, 16°, des h und 14°/, desl. Die Schreibübungen
eines Vierteljahres hatten den ursprünglichen Drang der Linken zur
30 A. Abhandlungen.
Spiegelschrift einzudämmen gewußt: die immer wiederkehrende Buch-
stabenform hatte sich dem Gedächtnis des Auges eingegraben.
Als mein eigener Knabe 6 Jahre alt war, hatte er sich mit Nach-
hilfe seiner Mutter eine Art Elementarschrift angeeignet, eine Antiqua
in einfachster Gestalt, wie sie im Steinschnitt vorkommt. Die Formen
wurden ihm so vertraut, daß sie in einem Versuche die Linke nicht
im Gegen-, sondern im Abbild nachahmte. Als aber beide Hände
gleichzeitig schrieben, erzeugte die Linke das Spiegelbild.
Ein Vierteljahr später, als der Knabe in der Schule die Buch-
staben s, 1 und h in der Schreibschrift gelernt hatte, wiederholte ich
den Versuch, den ich ein Jahr früher in der Klasse der Sechsjährigen
angestellt. Die linke Hand schuf vollständige Gegenbilder — im
Gegensatz zu dem Versuch mit der Elementar-Antiqua. Auf die Frage,
warum er die Buchstaben so verkehrt mache, antwortete er: »Weil
es so leichter ist!«e Die Schreibbuchstaben waren seinem Auge noch
nicht so vertraut wie seine Elementarschrift.
Ein Versuch mit beiden Händen gleichzeitig erbrachte das gleiche
Ergebnis.
Auch in beiden angeführten Schulklassen wurden die Buchstaben
s, l], h mit beiden Händen gleichzeitig geschrieben. Bei den Sechs-
jährigen ergaben sich dabei 39 °/, Spiegelbilder des s und je 30%,
des 1 und des h. Bei den Zehnjährigen erschienen 43 /, des s, 21°),
des 1 und 13°, des h vollständig, außerdem 7 °/, des 1 und 17%,
des h unvollständig gespiegelt. Der ursprüngliche, unbewußte Hang
der linken Hand zur Gegenbewegung drang somit in beiden Klassen
bei gleichzeitiger Tätigkeit beider Hände wieder deutlicher durch als
bei dem Versuch mit der Linken allein und zwar in annähernd
gleichem Maße; das Gedächtnis des Auges hatte nicht Zeit seinen
Einfluß auf die Linke voll zur Geltung zu bringen.
Beschränkt sich diese Gegenbewegung beider Hände
auf das Schreiben?
Nein.
In dem Vortrag von H. Liepmann Ȇber die wissenschaftlichen
Grundlagen der sogenannten Linkskultur«!) wird berichtet:
»In der Biographie des Lionardo da Vinci von Seydlitz 1909
findet man S. 86 und S. 394 authentische Zeugnisse über Lionardos
Linkshändigkeit. Beim Schreiben bediente er sich mit verschwinden-
den Ausnahmen der linken Hand; er lieferte dabei Spiegelschrift.
Daß es sich dabei nicht, wie man geglaubt hat, um eine absichtliche
1) Deutsche Medizinische Wochenschrift. Jahrg. 1911. Nr. 27. S. 1252.
Buchner: Gegenbewegung der linken Hand und Symmetrie. 31
Geheimschrift gehandelt hat, geht daraus hervor, daß er auch das.
Gleichgültigste von der Welt links in Spiegelschrift niederschrieb und
vor allen Dingen auch links zeichnete.
Von Menzel zitiert Seydlitz die Worte: »Als ich noch als
Kind in Breslau auf dem Boden herumkroch und mit Kreide Figuren
auf den Boden zeichnete, da war es mit der linken Hand. »Die linke
Hand nannte Menzel ‚seine Liebe‘.<
Wir wollen die Bewegung der Linken beim Zeichnen näher
verfolgen.
Ich erinnere mich, in der Volksschule meine Rößlein stets so ge-
zeichnet zu haben, daß sie nach links galoppierten, daß also meine
rechte Hand zuerst den Kopf begann und dann den Körper nach
rechts hin vollendete. Die gleiche Manier fiel Kerschensteiner auf
in seiner Untersuchung über »Die Entwicklung der zeichnerischen
Begabung« (München, Kellerer).
In —
2 za
»Waldemar« Rechte Hand. Beide Hände gleichzeitig.
(Abbildung 2.)
Ich hätte diese Erscheinung nicht weiter beachtet, wenn mich
nicht ein kleines, drolliges Erlebnis nachdenklich gemacht hätte.
Als unser Knabe noch nicht ganz 2 Jahre alt war, zeichnete er
besonders gern seinen Vetter Waldemar. Das Kunstwerk sah einem
Männchen ähnlich mit einem Stock in der Hand; es wurde ihm sehr
geläufig. Wir besuchten zur selben Zeit seine Tante, eine Lehrerin,
und er hielt sich gern im Schulzimmer auf. Die Schultafel lehnte
am Boden an der Wand, seiner Hand leicht erreichbar. Die Tante
versorgte ihn mit Kreide. Da traf ich ihn, wie er, in der Rechten
wie in der Linken eine Kreide, seinen »Waldemar« mit beiden Händen
32 A. Abhandlungen.
gleichzeitig begann; die rechte Hand faustelte nach rechts, die linke
gleichzeitig nach links. Es gelang freilich nur 3 Striche weit:
nur das Rund des Kopfes, das Auge und eine Linie des Rumpfes
entstanden gleichzeitig. Als die Linke nicht mehr mitkam, vollendete
er zuerst mit der Rechten den rechten »Waldemar«, dann mit der
Linken den linken. (Abb. 2.)
Der Knabe entwickelte sich als »Rechtser«, indes nicht ganz ohne
Beeinflussung. Ehe er gehen konnte, wurde er fast ausschließlich auf
dem linken Arm getragen, so daß sich seine Linke größerer Be-
wegungsfreiheit erfreute. Er neigte deshalb anfangs dazu, zum Gruß
die linke Hand zu geben und mit dieser Löffel und Bleistift zu fassen.
Mütterliche Korrektur gewöhnte ihn aber bald mit geringer Mühe
daran, die Rechte zu gebrauchen. In seinen »Zeichnungen« war der
Zug der rechten Hand nach rechts deutlich zu beobachten. Wag-
rechte und Bogen liefen nach der rechten Seite und nicht nur die
Linie sondern auch die ganze Figur folgte dieser Richtung. Wurde
eine Fahne gezeichnet, so war die Stange zuerst fertig, den Wimpel
wehte der Wind nach rechts. Ein Hakenstock bog sich von links
nach rechts. War ein Wagen fertig gestellt, so wurde die Deichsel
nach rechts eingesteckt. Kam die Schnur an den Peitschenstiel, so
flatterte sie nach rechts. Ward ein Eisenbahnzug abgefertigt, so
wurden die Wagen rechts an die Lokomotive gehängt. Der Kopf der
Tiere wurde zuerst gezeichnet, der Rumpf erstreckte sich nach rechts.
Rechts fügte sich die Lehne an Stuhl oder Schlitten an. Wurde vom
Auto zuerst der Motorkasten gezeichnet, so schloß sich der übrige
Bau nach rechts an; fing die Hand mit dem Sitz an, so geriet der
Motorkasten nach rechts. Das Gewehr schoß nach rechts, wenn die
Hand mit dem Kolben begann. War der Stiel einer Sense zuerst
fertig, so schwang sich die Klinge nach rechts. Entstand ein Gruppen-
bild, so schloß sich die zweite Figur rechts an die erste an. In der
Märchenillustration vom Tode des Hühnchens stand die Jungfrau mit
dem Kränzchen rechts des fließenden Brunnens.
Von dieser Ordnung nach rechts wich die Hand selten ab, wenn
sie eine Zeichnung begann, dagegen immer, wenn sie inmitten der-
selben nicht absetzen wollte um den zusammenhängenden Zug von
Linien nicht zu unterbrechen.
Senkrechte und Schiefe liefen gewöhnlich von oben nach unten.
Die Neigung der rechten Hand zur Rechtsbewegung er-
schien in einem Klassenversuche mit Zehnjährigen in
gleicher Deutlichkeit. Unter 49 Schülern führten 48 eine Wag-
rechte, 47 einen ausgebogenen, 46 einen eingebogenen Strich von
Buchner: Gegenbewegung der linken Hand und Symmetrie. 33
links nach rechts; 45 hefteten den Wimpel einer Fahne rechts an und
42 stellten einen Stuhl an die rechte Seite des Tisches.
Gegen Ende des 3. Jahres fing unser Knabe an »Soldaten« im
Profil zu zeichnen. Ob ihn die Mutter oder ein Bilderbuch hiezu
verführte, vermag ich nicht zu sagen. Da er den Kopf mit der Linie
begann, die einmütig Stirn und Nase umfaßte, ragte letztere nach
fi
Linke Hand. Rechte Hand.
(Abbildung 3.)
links. Als er einst einen solchen Krieger herstellte, entspann sich
zwischen Vater und Sohn folgendes Gespräch:
Vater: »Zeichne auch einen, der da hinüber schaut! (Nach rechts
zeigend.)
Sohn: (Will mit seiner rechten Hand beginnen, zögert aber.) »So
kann ich nicht!«
Vater: (Aufmunternd) »Du kannst schon!«
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 3
34 A. Abhandlungen.
Sohn: (Nach vergeblichem Ansetzen den Bleistift in die Linke
nehmend) »Vielleicht mit der Hand!«
Und er zeichnete mit der linken Hand das Spiegelbild
des Soldaten. Der Strich war zaghafter, schwächer, und die Geduld
hielt nicht an bis zur Vollendung der Beine; auch die Haare fehlten.
(Abb. 3.) (Forts. folgt.)
5. Ein unbekannter Heilpädagog.
Von
Dr. phil. Josef O. Vértes- Budapest, Leiter der staatl. Mittelschule
für nervöse Kinder.
Im XVII. Jahrhundert büßte die Kirche auch in Österreich langsam
ihre uneingeschränkte Macht über das Unterrichtswesen ein, und es ging
allmählich in die Hände des Staates über. Das Erziehungswesen weckte
auch in den höchsten Kreisen das regste Interesse, wofür als bepedter Be-
weis der Briefwechsel Kaiser Josefs II. mit Kaunitz gelten kann. Aller-
dings war auch der Staat nicht viel liberaler als die Kirche. Maria
Theresia machte auch kein Hehl aus ihrer Überzeugung, und ihr Wahl-
spruch: »Die Schule ist uud bleibt allzeit ein Politikum« kennzeichnet
aufs trefflichste das Erziehungswesen ihrer Zeit.
Dieses Politikum ließ am wenigsten das Individuum zur Entfaltung
gelangen. Man bekümmerte sich um die Verschiedenheit der Geistes-
begabungen allzuwenig, und den meisten Pädagogen dieser Zeit schwebte
stets der Typ eines Durchschnittsmenschen vor Augen.
Einer, der noch am Typ des Durchschnittsmenschen festhielt, aber
schon die Verschiedenheiten der Geistesanlagen berücksichtigte, war Johann
Ignaz Felbiger (1724—1788). Im Jahre 1774 wurde er aus Preußen
— mit Friedrichs II. Genehmigung — nach Wien berufen, um die Volks-
schule zu reformieren.
Ziegler!) sagt nicht mit Unrecht, daß der Mechanismus der
Felbigerschen Methode die Schule in die spanischen Stiefel einer alles
nivellierenden Form und Norm einzuschnüren drohte. Aber trotz den be-
rühmten fünf Punkten der saganischen Methode: der Buchstaben- und
Tabellarisierungsmethode, dem Zusammenlesen und -unterrichten, dem
Katechisieren, sagt Felbiger viel Bemerkenswertes über die Begabung
der Schüler. Er schreibt über die guten, mittelmäßigen und schwachen
Schüler sehr interessant und wo er über die letzteren handelt, betritt er
das Gebiet der Heilpädagogik.
Felbiger als Heilpädagogen kennt weder die allgemeine, noch die
Heilpädagogik. Zum ersten Male wollen diese paar Zeilen seine theo-
retischen Arbeiten auf diesem Gebiete beleuchten. Denn auf welche Art
in der Praxis für die Schwachbegabten gesorgt wurde, dafür mangelt es
1) Dr. Theobald Ziegler, Geschichte der Pädagogik. Dritte Auflage. München
1909. S. 254.
Vertes: Ein unbekannter Heilpädagog. 35
uns an den nötigen Daten. Immerhin ist es erwähnenswert, daß zur
selben Zeit auch die Heilwissenschaft sich der Schwachsinnigen annimmt.
Maria Theresia und Josef II. wollten ihre Obsorge auch den Schwach-
sinnigen angedeihen lassen. Auf Veranlassung des Hofarztes Gerhard
van Swieten wollte man für die Kretins und Blödsinnigen Fürsorge-
anstalten errichten; wir wissen aber über ihre Wirksamkeit, über ihre ärzt-
liche und pädagogische Tätigkeit gar nichts.!) Wahrscheinlich sind diese
Anstalten gar nicht zustande gekommen.
Felbiger behandelt besonders in seinem Hauptwerke eingehend die
schwachbegabten Schüler. Die vollständige Überschrift dieses Werkes lautet:
Methodenbuch
für
Lehrer der deutschen Schulen
in den
kaiserlich-königlichen Erbländern,
darin
ausführlich gewiesen wird, wie die in der Schulordnung bestimmte
Lehrart nicht allein überhaupt, sondern auch insbesondere, bei
jedem Gegenstande, der zu lehren befohlen ist, soll beschaffen sein.
Nebst der genauen Bestimmung,
wie sich
die Lehrer der Schulen in allen Teilen ihres Amtes, ingleichen die
Direktoren, Aufseher und Oberaufseher zu bezeigen haben, um der
Schulordnung das gehörige Genüge zu leisten.
1. Aufl. Wien 1775. Frankfurt und Leipzig 1777.2)
Die Allgemeine Schulordnung wurde unter Rücksichtnahme auf
das Methodenbuch verfaßt.
Die neue Schulorganisation Felbigers begann sich sehr verheißungs-
voll zu entwickeln. Es gab in Wien 11, in den Vorstädten Wiens 65,
in den Ländern ob der Enns 784 Schulen. Die Zahl der Schüler be-
trug 31 168.
In dem 9. Punkte der Schulordnung unterrichtet uns Felbiger,
»Wie die Klassen einzurichten seien«.
Schüler, die einerlei Gegenstände lernen, wenn sie gleich verschiedenen
Alters und Geschlechtes sind, gehören zusammen in eine Klasse, welche nach
Beschaffenheit der Fähigkeit der Schüler weiter abgeteilt werden kann; also
1) Max Kirmsse, Der Kretinismus in Salzburg und Gotthard Guggenmoos,
der erste Schwachsinnigenpädagog. Eos 1907. 8. 194.
?) Ich benutzte eine Neuausgabe des Methodenbuches und zwar die von Johann
Panholzer (Bibliothek der katholischen Pädagogik. Bd. V). Freiburg im Breisgau,
1892. Die Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe.
3*
36 A. Abhandlungen.
zwar, daß die besten, die mittelmäßigen und die schlechten zusammenkommen,
und jede dieser Gattungen ist nach ihrem Bedürfnis von dem Lehrer zu be-
handeln, wie in der für sie gehörigen, im Methodenbuche enthaltenen Instruktion
ihnen umständlich an die Hand gegeben wird.<')
Im dritten Hauptstück des zweiten Teiles des Methodenbuches ($ 7)
bespricht er schon ausführlicher die einzelnen Schülertypen.?)
»Die Geduld ist auch eine der Haupteigenschaften eines rechtschaffenen
Schulmannes. Die verschiedenen Fähigkeiten der Kinder sind geeignet, die Ge-
duld des Lehrers immer auf die Probe zu setzen. Wenn einige eine Sache bald
fassen, andere eben dieselbe sehr spät oder fast gar nicht begreifen können, so
müssen ihn notwendig die letzteren in starke Versuchung der Ungeduld führen.
Eben dieses geschieht, wenn einige Lust, andere Abneigung beim Lernen bezeigen ;
wenn einige sittsam, aufmerksam und ordentlich, andere immer ungezogen, un-
ruhig und zerstreut sind; wenn eine Sache hundertmal wiederholt und doch von
schwachen Köpfen nicht aufgefaßt wird; wenn Eltern solcher schlechtbeschaffenen
Kinder dem Schulmanne die Schuld beimessen, daß ihre Kinder nicht so wie
andere Vorteil vom Unterrichte schöpfen.«
Im IV. Hauptstücke des zweiten Teiles?) schreibt Felbiger »Von
der Klugheit eines Schullehrers«. Dies »Hauptstück« zerfällt in zwei
Teile. In dem ersten gibt der Verfasser Ratschläge hinsichtlich dessen,
»Wie ein Schulmann sich Gehorsam und Ansehen verschaffen
solle. Der zweite Teil führt die Überschrift: »Von dem Bezeigen der
Schulleute bei Kindern von verschiedener Fähigkeit, Gemüts-
beschaffenheit, Aufführung, von verschiedenem Alter und Ge-
schlechte.«
Dieser Teil des Methodenbuches ist vom heilpädagogischen Gesichts-
punkt außerordentlich interessant. Seit Comenius, der in den Kapiteln III,
IV, V, VI, IX, XI, XVII und XXIX seiner Magna Didactica zum
erstenmal sich eingehender mit der Pädagogik der Schwachsinnigen be-
faßt, richtet wieder Felbiger sein Augenmerk auf diese Unglücklichen.
Die heutige moderne Heilpädagogik, die durch die Praxis begründet worden,
wird an diesen Ausführungen viel auszusetzen haben, aber sie wird auch
viel wertvolle Bemerkungen finden, die auch heutzutage stichhaltig sind.
Felbiger ist in gewisser Hinsicht ein Nachfolger Comenius’. Die
Einwirkungen der Magna Didactica sind an einzelnen Stellen recht
deutlich zu erkennen.
Die von Felbiger ausgearbeitete Schulordnung (1774) unterscheidet
Normal-, Haupt- und Trivialschulen. Alle drei Schularten haben es gemein,
daß sie deutsche Schulen, nationale Einrichtungen, darstellen, gleichwie
Comenius’ schola vernacula.
In dem Buche »Die wahre saganische Lehrart«*) und in dem
oben angeführten Abschnitt 9 zeigt sich uns Felbiger als Anhänger des
1) A. a O. 8.302. — °?) A. a. O. 8.251. — °®) A.a.0. S. 256-270.
4) »Die wahre saganische Lehrart in den niederen Schulen; heraus-
gegeben von dem saganischen Prälaten Johann Ignaz von Felbiger.« Wien 1774.
100 8. Bamberg, bei Göbhardt.
Vörtes: Ein unbekannter Heilpädagog. 37
Massenunterrichts und ist auch in dieser Hinsicht der Nachfolger Comenius’,
der in der Magna Didactica (Kap. 9) für den Massenunterricht eintritt.
Aber der Massenunterricht — wie wir dies aus dem oben angeführten
Werke Felbigers ersehen — bildet kein Hemmnis für die Trennung der
Begabungen. Die Notwendigkeit dieser Ausscheidung fühlt auch Comenius.
Statt der drei Gruppen Felbigers sehen wir bei ihm sechs.
1. Es gibt Scharfsinnige, die lernbegierig, bildsam und für die Studien
geeignet sind.
2. Andere sind scharfsinnig aber träge.
3. Es gibt Scharfsinnige und Wißbegierige, die aber dabei eigen-
sinnig sind.
4. Folgsame, Lerneifrige, die aber langsam und schwach-
begabt sind.
5. Einige sind schwachbefähigt und außerdem faul.
6. Zuletzt kennen wir Schwachbefähigte, die überdies noch bös-
artig sind.
Felbiger spricht folgenderweise:
(S. 260.) »a) Den Unterschied der Fähigkeiten und Gemüts-
beschaffenheit der Menschen hat Gott weislich angeordnet.
Kinder sind an Fähigkeiten und Gaben sowie an Gemütsneigungen und
Temperamenten sehr voneinander verschieden. Der Schöpfer selbst hat die Ver-
schiedenheit nach seiner höchsten Weisheit geordnet, und er bedient sich der-
selben zur Erreichung seiner Absichten und zum Besten des Ganzen. Der Schul-
meister ist weder bestimmt, noch fähig, diesen Unterschied aufzuheben, wohl
aber ist es seine Pflicht, sich nach diesem Unterschiede zu richten und je nach-
dem die Schüler so oder anders beschaffen sind, seinen Unterricht dergestalt ab-
zumessen, damit Schüler von jeder Beschaffenheit Nutzen aus seinem Unterrichte
schöpfen. Es liegt ihm daher ob, wohl zu beurteilen und zu überlegen, wie er
mit jeder Gattung der Schüler zu ihrem Besten zu verfahren habe. Außer
obigem Unterschiede gibt es noch einen andern, den er in manchen Fällen auch
nicht außer acht lassen kann. Es sind nämlich Kinder auch nach dem Geschlechte,
dem Alter, der Aufführung und nach den äußerlichen Umständen sehr voneinander
verschieden.
b) Dreierlei Hauptgattungen von Fähigkeiten der Schüler.
In Ansehung der Fähigkeiten gibt es Schüler, die eine Sache ungemein
leicht begreifen, wohl behalten und zu gebrauchen wissen. Es gibt andere von
mittelmäßiger Geschicklichkeit, denen es viel Mühe kostet, etwas zu erlernen,
Und endlich scheinen andere zum Lernen ganz und (S. 261) gar ungeschickt zu
sein; sie begreifen nichts und haben bald wieder vergessen, was sie mit der
größten Beschwerde erlernt haben; sie wissen von dem Erlernten keinen Ge-
brauch zu machen und sind nicht imstande, es aufzuwenden, oder wie es in der
Sprache der Schulmeister heißt: dasjenige heraus und von sich zu geben, was
ihnen beigebracht worden ist.«
Der Punkt c spricht darüber, »wie ein Schulmann mit guten
Köpfen umgehen solle.
(S. 262.) »d) Was bei mittelmäßig begabten Schülern zu tun sei.
Man hält insgemein dafür, daß Schüler von mittelmäßiger Fähigkeit jene
sind, welche ein schwaches Gedächtnis haben und entweder sehr schwer etwas
38 A. Abhandlungen.
erlernen oder das Erlernte bald wieder vergessen und folglich sich des Er-
lernten nicht wohl erinnern, wenn sie es brauchen. Bei dergleichen Schülern
untersuche nur der Schulmeister, wie es um die Beurteilungskraft stehe. Wird
er gewahr, daß Schüler von vorkommenden Dingen richtig urteilen, so kann er
sicher schließen, daß diese schätzbare Seelenkraft vor anderen an einem solchen
Schüler wohl beschaffen sei. Dergleichen Personen sind gar wohl imstande, hin-
längliche Kenntnisse zu erlangen, wenn ihnen nur eine vernünftige Anweisung
gegeben, Fleiß für sie angewandt und öftere Wiederholung nicht gespart wird.
Solche Schüler müssen mit Gedächtnissachen nicht allzusehr gequält werden; da-
durch würde ihnen aller Mut benommen und am Ende sich offenbaren, daß die
angewandte Mühe größtenteils vergeblich sei. Das Katechisieren, nämlich das
Zergliedern und Durchfragen der Sachen, die man lehrt, so wie wir es im
zweiten Abschnitte des zweiten Hauptstückes vorgetragen haben, dient vornehm-
lich, dieser Art von Schülern etwas beizubringen.
Wenn aber auch an irgend einem Schüler die Beurteilungskraft nicht sonder-
lich sich zeigte, so kann er doch noch unter mittelmäßig Begabte gerechnet
werden, wenn er nur Witz hat. Unter dem Witze verstehen wir hier das
Vermögen der Seele, das Ähnliche bald gewahr zu werden, welches zwei
oder mehrere Sachen an sich haben. Wer Gleichnisse bald erfaßt und daraus
dasjenige leicht versteht, was man dadurch hat erläutern wollen, der besitzt Witz
oder ist witzig. Ein geschickter Schulmann kann also ohne Mühe erforschen,
welche von seinen Schülern witzig sind und welche nicht; er erläutere nur
Sachen durch Gleichnisse, bemerke die Schüler, welche solche am besten und
geschwindesten verstehen, eben diese sind die Witzigen. Dergleichen Köpfen muß
er durch sinnliche Vorstellungen zur Hilfe kommen; er muß ihnen die Wahrheiten,
die er sie lehrt, durch Beispiele, Bilder und Gleichnisse beizubringen suchen.
Noch eine Gattung von mittelmäßigen Köpfen gibt es, welche aber un-
wissende Schulmeister nach der alten Art für gut erklären würden, nämlich die-
jenigen, die ein gutes Gedächtnis haben, denen es aber an anderen Seelenkräften
fehlt, deren Verstand schwer etwas begreift, die ohne Witz sind. Diese sind
unter den mittelmäßigen gewiß die allerschlechtesten!), und ein Schulmann muß
bei solchen alle Kunst und Mühe anwenden, sie, soviel als möglich ist, zum Nach-
denken zu bringen und ihren Verstand zu üben, Auch für diese ist das Katechi-
sieren das beste Mittel. Ein Schulmann brauche es nur vorschriftsmäßig und
präge ihnen wohl ein, daß es (S. 263) damit nicht ausgemacht sei, viel ins Ge-
dächtnis gefaßt zu haben, sondern daß nur jene wirklich etwas gelernt haben, die
wohl verstehen und bei Gelegenheit dasjenige gut zu gebrauchen wissen, was sie
gelernt haben.
e) Von schlechten Schülern, das ist von einfältigen und so-
genannten schwachen Köpfen.
Die bedauerungswürdigsten unter allen Schülern sind die sogenannten blöd-
sinnigen oder seichten Köpfe, bei denen Gedächtnis, Beurteilungskraft und Witz
gleich schlecht beschaffen ist. Bei so beschaffenen Schülern wird aller Fleiß
und alle Mühe des emsigsten Schulmannes wenig oder nichts ausrichten, weil
die Natur solchen Köpfen das sparsam gegeben hat, was beim Unterrichte zu-
grunde liegen muß. Ein Schulmann glaube aber nur nicht, daß viele Kinder
gar so schlecht beschaffen sind; einige scheinen nur so, andere verstellen sich
1) Die allerschwächsten. Anm. d. Verf.
Vertes: Ein unbekannter Heilpädagog. 39
aus Bosheit, wenn sie den schlimmen Willen haben, nichts zu lernen. Er unter-
suche daher auf mancherlei Art und prüfe die Schüler fleißig. Die er nach
angestellter genauer Prüfung also befindet, muß er dennoch seines Unterrichtes
nicht gänzlich berauben; er suche ihnen nur das Allernotwendigste beizubringen
und verschone sie mit dem Übrigen. Vornehmlich bemühe er sich, ihnen die
Grundwahrheiten unseres heiligen Glaubens ins Gedächtnis sowohl, als in den
Verstand zu bringen; er lasse nichts unversucht. Öfters fassen sie mit der Zeit,
was ihnen anfänglich unbegreiflich war. Er ermuntere sie auf allerlei Art und
halte sie vornehmlich zur Achtsamkeit an, wenn er mit anderen Kindern die
nötigsten und unentbehrlichsten Sachen abhandelt. Die Zeit und die unerläßliche
Übung hat sehr oft die dümmsten Köpfe gebessert. Nur brauche man bei dieser
Art von Schülern weder Prügel, noch Poltern; dies sind nicht die Mittel, die
natürliche Dummheit zu heben; sie benehmen vielmehr die Lust zum Lernen
und schlagen solche unvermögende Schüler nur noch mehr nieder. Wenn sich
aber bei angestellter Untersuchung finden sollte, daß Schüler aus Hartnäckigkeit,
Faulheit oder Bosheit mutwilligerweise nichts erlernen wollen und daß sie sich
nur so stellen, als ob sie nichts begreifen und behalten könnten, so muß Zucht
und Ernst ihren steifen Sinn beugen; man kann gar wohl die Rute in diesem
Falle gebrauchen, um ihre Faulheit zu bestrafen.«
Der Punkt f) behandelt das Thema, »Wie mit munteren und auf-
geweckten Köpfen umzugehen ist«.
(S. 264.) »g) Wie mit Furchtsamen und Blöden umzugehen ist.
Furchtsame und schüchterne Gemüter lassen sich wohl leichter regieren,
aber dabei ist in Obacht zu nehmen, daß der Lehrer diese Gemütsbeschaffenheit
nicht mißbrauche und etwa durch ein liebloses und ungestümes Bezeigen ihnen
eine knechtische Furcht einjage; diese kann gefährliche Wirkungen haben. Sie
macht nicht allein Abscheu vor dem Lernen und benimmt den Schülern das so
nötige Vertrauen zu ihrem Lehrmeister, sondern verdirbt sie oft auf lebenslang,
indem sie dadurch argwöhnisch, leutscheu und, wenn dies bei ihnen zu Gewohn-
heit wird. untüchtig werden, etwas Rechtes in der Welt anzufangen. Bei so
gearteten Schülern muß sich der Lehrer angelegen sein lassen, durch liebreiches
und freundliches Zureden sich Zutrauen zu erwecken; er muß mit ihnen Geduld
haben, viel Nachsicht bezeigen, wenn sein Unterricht nicht bald aufgefaßt wird.
Öfters wird ein solcher Schüler dadurch gebessert, daß man das, was er lernen
solle und bald zu begreifen nicht vermag, mit dem neben ihm sitzenden Schüler
treibt und bloß verlangt, daß er diesem achtsam zuhören soll. Auch ist nicht
ohne Nutzen, dergleichen Furchtsamen kurz und eindringend vorzustellen, wofür
sie sich fürchten sollen.«?)
Die drei Typen der Schwachbefähigten des Comenius zählt auch
Felbiger auf, indem er krankhafte, träge und bösartige Schwachbefähigte
unterscheidet. Ihre Behandlung richtet sich ebenfalls nach der Magna
Didactica (Kap. XVII. Abschnitt 45, 46). Nämlich der Lehrer soll
einen Zögling aufrufen, der dasselbe zu tun hat, wie der zuvor Auf-
gerufene. Die übrigen schweigen unterdessen; dann kommt der dritte,
der vierte oder soviel man eben braucht, daran, bis es sich ergibt, daß
1) Wozu sie sich fürchten oder daß sie keine rechte Ursache haben, sich zu
fürchten. Panholzers Anm.
40 A. Abhandlungen.
alle Schüler die Aufgabe erfassen, erneuern und hersagen können. Da
empfiehlt Comenius nur die Reihenfolge, daß zuerst die Begabteren
aufgerufen werden sollen, damit die Schwächeren, durch das Beispiel der
Fähigeren ermutigt, diesen leichter folgen können. Wenn wir dasselbe
Ding sehr oft wiederholen lassen, so wird es auch von den Denkfaulsten
begriffen, so daß sie mit den übrigen Schülern Schritt halten können, und
die von besserer Auffassung sind, werden sich freuen, daß sie den Stoff
mit voller Klarheit und Sicherheit erfaßt haben.
Nachdem Felbiger über das Lernen gehandelt hat, geht er zur
Besprechung der Disziplin über und bewährt sich auch hier in einigen
Bemerkungen als praktischer Pädagog.
(S. 269.) »r) Von Schülern, die sich schlecht aufführen.
Was endlich die Schlechten betrifft, so haben wir hier in Absicht auf das
Lernen nichts anderes zu sagen, als was wir bereits oben bei e), f)!) und g)
von den Blöden und Unfähigen erinnert haben. Schülern von schlechter Auf-
führung ist größtenteils ebenso zu begegnen, wie wir oben bei q) von den
mittelmäßig Gesitteten gesagt haben. Nur dies ist vorzüglich bei dieser Art
von Schülern in Obacht zu nehmen, daß sie durch ihre Bosheiten und Unarten
nicht andere verführen. Die Liebe erfordert wohl, sie zu bessern, so viel sich
tun läßt; allein wenn keine Besserung erfolgt und aus hinlänglicher Erfahrung
erhellt, daß dergleichen auch nicht zu hoffen sei, so ist einem Schulmanne auch
nicht zu verdanken, wenn er ihrer los zu werden sich bemüht. So lange er
dergleichen noch in der Schule hat, kann er sie anderen zum Abscheu vor-
stellen. Er darf nicht ermangeln, so oft ihm dazu Gelegenheit geboten wird,
sie zu ermahnen, zu warnen und zu bestrafen. Hilft auch dies bei solchen
Ungeratenen nicht, so hilft es doch den anderen und macht bei jenen guten
Eindruck, die dergleichen Ermahnungen und Warnungen hören. Die Menschen
sind ohnedies meistens so beschaffen, daß sie die Fehler besser an anderen als
an sich selbst gewahr werden; sollten nun nicht auch Ermahnungen und
Warnungen anderer, die sie mit anhören, auch auf sie mehr Ein- (S. 270) druck
machen, als wenn sie ihnen selbst gegeben werden? Da ihr Gemüt dabei ruhiger
und zum Überlegen geschickter ist, als wenn sie eigener Vergehen halber ent-
weder voller Scham, Reue oder wenigstens voller Unwillen sind, so ist gewiß,
daß sie davon nicht geringen Nutzen haben werden, entweder zur Beharrlichkeit
im Guten oder um sich vor ähnlichen Mißhandlungen künftig zu hüten.«
In dem dritten Hauptstücke ($ 5) des dritten Teiles werden die
Strafen behandelt.
(S. 337.) »a) Nicht zu bestrafen sind:
1. Fehler des Verstandes und des Gedächtnisses, z. B. Blödigkeit, natür-
liche Langsamkeit oder geringe Fähigkeit, etwas zu fassen.
2. Temperamentsfehler, wie Flüchtigkeit, Unachtsamkeit, Schläfrigkeit und
Langsamkeit; wenn Fehler aus Übereilung oder Unbesonnenheit, nicht aber
wenn sie aus Vorsatz und Mutwillen und nach genügsam angewandten und zum
Zwecke sich schickenden Besserungsmitteln begangen werden.
1) Den Abschnitt f) als nicht zur Heilpädagogik gehörigen habe ich außer
acht gelassen. Anm. d. Verf.
Vertes: Ein unbekannter Heilpädagog. 41
3. Fehler, die von Gebrechen und Krankheiten des Leibes herrühren.
Dabei hat der Lehrer noch sorgfältig zu verhüten, daß dergleichen erbarmungs-
würdigen Kindern weder von den Mitschülern noch von ihm selbst bittere und
schimpfliche Vorwürfe über ihre Gebrechen gemacht werden.« !)
Wir können von der Wirkung der Grundsätze Felbigers nicht
sprechen, weil diese spät entdeckten Daten zur Geschichte der Heil-
pädagogik auf dem Papiere zur Welt kamen und höchstwahrscheinlich
auch dort ihren Tod fanden.
Wie die Einteilung und Absonderung in den Schulen durchgeführt
wurden, dafür fehlen bisher die Daten. Ob mit ‚den Zöglingen fachgemäß
umgegangen wurde, wissen wir auch nicht. Diese heilpädagogischen Grund-
sätze haben weder in Österreich noch anderwärts tiefere Spuren hinter-
lassen. Nur das folgende Jahrhundert weist größere Erfolge auf diesem
Gebiete auf, aber ganz unabhängig von Felbiger.
Felbiger verkündete seine heilpädagogischen Ideen in der Zeit,
wo am Wiener Hofe der berühmte Freidenker und ausgezeichnete Arzt
Gerhard van Swieten eine führende, richtungweisende Rolle spielte.
Van Swieten beschäftigte sich viel mit den geistigen Abnormitäten,
auf die seine Aufmerksamkeit durch die seelisch abnormen Opfer der
Hexenprozesse gelenkt wurde. Maria Theresia war es ja, die die Hexen-
prozesse abschaffte.
Zu dieser Zeit lebte der sehr berühmte Wiener Arzt Joh. Peter
Frank, der in seinem System einer vollständigen medizinischen
Polizei?) die Notwendigkeit begründet, schwachsinnige Kinder zu erziehen
und zu bilden.®) Frank hat besonders die ärztliche Überwachung der
Schulen und der Schüler für notwendig erkannt und in diesem Sinne
moderne Anschauungen antizipier. Im Zusammenhang hiermit stehen
auch die heilpädagogischen Bemerkungen des großen Wiener Arztes.t)
Die einzige Schöpfung der praktischen Heilpädagogik in dieser Zeit
ist das von Josef II. gegründete Wiener Taubstummeninstitut.
Alle diese Regungen und Bewegungen ließen hoffen, daß die Heil-
pädagogik sich zu einer lebensfähigen und lebenspendenden Organisation
entwickeln werde.
!) Neben diesem Werke sind aus heilpädagogischen Gesichtspunkten zu erwähnen:
l. Eigenschaften, Wissenschaften und Bezeigen rechtschaffener Schul-
leute usw. Sagan 1768. 568 S. in 8°. Fernere Ausgaben erschienen in Bamberg
ud Würzburg 1772, 1791; Würzburg 1773; Breslau 1792. — 2. Die Allgemeine
Sehulordnung für die Normal-, Haupt- und Trivialschulen in den
Lk Erbländern. Wien 1774, 1785. — 3. Kern des Methodenbuches, be-
sonders für die Landschulmeister in den k. k. Staaten. Wien 1777.
2?) 6 Bände; Mannheim, Tübingen und Wien 1779—1819. Supplement 3 Bde.,
Tübingen und Leipzig 1812—1827. Der 3. Bd. (Suppl.) ist in der Budapester Kgl.
Ung. Univ.-Bibliothek leider nicht vorhanden, und so konnte ich diesen nicht benutzen.
3) Teodor Heller, Grundriß der Heilpädagogik. 2. Aufl. Leipzig 1912. S.409.
* Nach einer freundlichen brieflichen Mitteilung des Herrn Dr. pbil. Theodor
Heller- Wien.
42 B. Mitteilungen.
Das steht fest, daß Maria Theresia, van Swieten und Felbiger
es fühlten, sahen und wußten, daß den Schwachsinnigen Hilfe gebracht
werden müsse.
Die organisierende Hand, die die Heilpädagogik des XVIII. Jahrhunderts
hätte schaffen sollen, zeigte sich aber nicht,
B. Mitteilungen.
1. Bericht über den XIV. Blindenlehrer-Kongress
in Düsseldorf vom 21.—24. Juli 1913.
Von G. Fischer, Inspektor der Blinden-Erziehungs-Anstalt Braunschweig.
Nach $ 1 der Kongreßordnung erstreben die Blindenlehrerkongresse
»Die Verbesserung des Loses der Blinden durch gemeinsame Besprechung
aller in das Blindenbildungswesen einschlagenden Fragen«.
Dem I. Blindenlehrerkongreß in Wien im Jahre 1873 reihten sich in
Abständen von je 3 Jahren die folgenden an, der 14. in Düsseldorf in
den Tagen vom 21.— 24. Juli d. J. Wie seine Vorgänger, so war auch
dieser Kongreß sowohl von Leitern und Lehrern der Blindenanstalten des
Deutschen Reiches und einzelner ausländischer Anstalten wie auch von
Vertretern verschiedener Behörden zahlreich besucht; auch Blinde be-
teiligten sich wieder in größerer Zahl als Gäste an den Verhandlungen
und Veranstaltungen. In welchem Grade die Blindenlehrer-Kongresse die
von ihnen erstrebte » Verbesserung des Loses der Blinden« erreichten,
zeigen die Fortschritte im Blindenwesen, die nachweisbar durchweg als
Erfolge der Kongresse anzusehen sind. Als einzige fachmännische Ge-
samtvertretung des Blindenwesens finden die Kongresse die wohlwollende
Beachtung der zuständigen Behörden und ihre Forderungen und Beschlüsse
möglichste Befolgung und Nachachtung seitens der einzelnen Blinden-
anstalten, wie wiederum die Blindenlehrer es selten unterlassen, neue Be-
strebungen, Einrichtungen usw. vor ihrer Durchführung zunächst dem
Kongreß zur Begutachtung vorzutragen.
Als größere Erfolge der Blindenlehrer-Kongresse sind zu verzeichnen:
Die allgemeine Einführung der Brailleschen Punktschrift, des Brailleschen
Musikschriftsystems, der deutschen Kurzschrift, der gewerblichen Ausbildung
der Blinden in geeigneten Berufszweigen (Stuhl- und Korbflechten, Bürsten-
machen, Seilerei, Klavierstimmen usw.) und der technischen Lehrfächer,
Fröbel- und Handfertigkeitsunterricht, Modellieren und plastisches Zeichnen,
die Errichtung von Vorschulen, Fortbildungsklassen und Hilfsklassen für
Schwachbefähigte, die Verbesserung und Vergrößerung des Lehrmittel-
bestandes durch regelmäßige Veranstaltung von Lehrmittelausstellungen an
den Kongreßtagen, die Aufstellung von Grundlinien zu einem Normallehrplane
für Blindenschulen, die Gründung des Vereins zur Förderung der Blinden-
bildung, der Fachzeitschrift »Der Blindenfreund«, der an zahlreichen An-
stalten bestehenden Fonds für die Entlassenen, der Blindenfürsorge-Vereine,
1. Bericht über den XIV. Blindenlehrer-Kongreß in Düsseldorf. 43
die sich besonders der erwerbsfähigen Blinden durch Errichtung und
Unterhaltung von Heimen und Werkstätten annehmen, vermehrte augen-
ärztliche Fürsorge und andere den Blinden gewährte Vergünstigungen,
wie Fahrpreis- und Portoermäßigungen. Auch der jetzt (seit 1. April
1912) in Preußen eingeführte Unterrichtszwang für Blinde und der Erlaß
der Prüfungsordnung für Direktoren und Lehrer der preußischen Blinden-
anstalten (gültig vom 1. Oktober 1913 ab) entsprechen den schon auf
früheren Kongressen gefaßten Beschlüssen.
Das den Kongreßteilnehmern in Düsseldorf überreichte, vom Direktor
der Kgl. Blindenanstalt in Steglitz, Schulrat Matthies, unter Mitwirkung
der Leiter der einzelnen Anstalten verfaßte Werk »Deutsche Blinden-
anstalten in Wort und Bild« (Carl Marhold-Halle a. S.) gibt ein erfreu-
liches Bild vom heutigen Stande des deutschen Blindenwesens.
Während die früheren Kongresse auch das Gebiet der Blindenfürsorge
berücksichtigten, kamen auf diesem hauptsächlich nur Fragen des Unter-
richtes und der Erziehung zur Verhandlung, die auf Einführung neuzeit-
licher pädagogischer Richtungen in den Blindenunterricht abzielen.
Die rheinische Provinzialverwaltung hatte für die Kongreßverhand-
lmgen den großen Saal des Ständehauses in Düsseldorf und für die Lehr-
mittelausstellung die Nebenräume zur Verfügung gestellt.
Die Verhandlungen begannen mit einer Vorversammlung am 21. Juli,
in der nach Begrüßung der den großen Saal des Ständehauses fast füllen-
den Versammlung durch den Vorsitzenden des ÖOrtsausschusses Herrn
Landesrat Westermann das Kongreßpräsidium gewählt, die Tagesordnung
für die einzelnen Kongreßtage festgestellt, der »ständige Kongreßausschuß«s
durch statutenmäßige Zuwahl für zwei regelmäßig ausscheidende Mitglieder
ergänzt, der Bericht des Obmanns des ständigen Kongreßausschusses er-
stattet und die Stadt Hannover als nächster Kongreßort vorgeschlagen wurde.
In der Eröffnungssitzung, am Dienstag den 22. Juli, begrüßte
zunächst der 1. Vorsitzende, Direktor Baldus von der katholischen Pro-
vinzialblindenanstalt in Düren, die Versammlung mit einer Ansprache. Von
den dann folgenden zahlreichen Begrüßungen erwähne ich die des Herrn
Geheimen Oberregierungsrates Heuschen als Vertreter des preußischen
Kultusministeriums, die des Landeshauptmanns der Rheinprovinz und Vor-
sitzenden des rheinischen Blindenfürsorge-Vereins Herrn Dr. v. Renvers,
die des Herrn Geheimrates Wolfgarten als Vertreter der Königlichen
Regierung und des Herrn Oberbürgermeisters Dr. Oehler als Vertreter
der Stadtverwaltung Düsseldorf. An Se. Majestät den Kaiser sandte die
Versammlung sodann ein Huldigungstelegramm, desgleichen ein Telegramm
an den preußischen Herrn Unterrichtsminister als Dank für dessen weit-
gehende Förderung des Blindenwesens.
Herr Geheimer Oberregierungsrat Heuschen erwähnte in seiner An-
sprache die neuesten preußischen Bestimmungen, das »Gesetz über die
Beschulung blinder und taubstummer Kinder« und die »Prüfungsordnung
für Direktoren und Lehrer an Blindenanstalten,e und gab bekannt, daß
im November d. J. in Berlin zur Förderung des Blindenschulwesens ein
12 tägiger Fortbildungskursus für Blindenlehrer stattfinden werde.
44 B. Mitteilungen.
Die Reihe der Vorträge wurde eröffnet durch das Referat des Direktors
der Blindenanstalt Lembcke in Neukloster in Mecklenburg-Schwerin über
»Die Quellen unserer Berufsfreudigkeit«.
Der Vortrag enthielt folgende Grundgedanken:
Der Blindenlehrer findet vielfach nicht die gleichen Quellen der Be-
rufsfreudigkeit wie der Lehrer Sehender; sie werden ihm zudem durch
mancherlei in der Eigenart der Blinden und im Anstaltsleben wurzelnde
bedrückende Erfahrungen getrübt, die er nur durch opferfreudige, auf dem
Boden einer religiös-sittlichen Weltanschauung erstarkende Nächstenliebe
überwinden kann. Heilige, opferfreudige Nächstenliebe, wie sie Rosegger
und Förster vertreten, sei besonders dem Blindenlehrer nötig; sie erfülle
ihn in seiner Berufstätigkeit mit innerer Befriedigung und bilde die er-
giebigste Quelle seiner Berufsfreudigkeit.
Direktor Zech von der Blindenanstalt Königsthal bei Danzig folgte
mit seinem Vortrag über
»Das Problem der Arbeitsschule und seine Bedeutung für die Blindenanstalt«.
Der Vortragende begründete die »Arbeitsschule«, eine neuzeitliche
methodische Forderung, die neuerdings besonders in Kreisen der Volks-
schullehrer erhoben wird und aus zahlreichen Erörterungen bekannt ist, in
psychologischer Hinsicht vom Standpunkte des Blindenunterrichts aus und
forderte mehr Eigentätigkeit, mehr inneres Erleben des Schülers bei der
Entwicklung seiner inneren Anlagen, besonders eine ausgiebigere Heran-
ziehung der motorischen Kräfte des Schülers zur Gewinnung einer besseren
realen Grundlage für die Geistesarbeit, vor allem auf der Unterstufe, aber
auch auf den oberen Stufen wünscht er mehr handelnde Betätigung; ge-
staltende Darstellung, mehr Umgang und vielseitiges Hantieren mit den
Dingen zur Vertiefung der Anschauung und als Gegengewicht zu dem in
der Blindheit begründeten passiven Verhaltung den Dingen gegenüber.
Die Umwandlung der bisherigen »Lernschule« in die »Arbeitsschule« er-
fordere eine Umgestaltung der Methode und mancher Lehrmittel und eine
Einschränkung der Lehrpläne nach ihrer systematischen Vollständigkeit;
die durch letztere ersparte Zeit sei für handelnde Betätigung der Schüler
zu verwenden. Doch warnt er selbst zum Schluß vor übereilten Reformen.
Bezweckte dieser Vortrag eine Reform des Unterrichts, so der folgende
des Blindenlehrers Müller in Halle a. S. über
>Selbstregierung im Lichte unserer Anstaltserziehung«
eine Reform der Anstaltserziehung. Der im ersteren geforderten größeren
Selbstbetätigung entspricht die im letzteren empfohlene Selbstregierung,
die jedoch nicht in absoluter Freiheit bestehen, sondern auf der Grund-
lage einer Familienerziehung beruhen soll. In gemeinsamem Spiel, ge-
meinsamer Arbeit in der Fortbildung, geselliger Unterhaltung, in Ver-
trauensämtern, in Vereinigungen verschiedener Art und auch in der Mit-
wirkung bei etwaigen Strafbemessungen soll ein gewisses Selbstbestimmungs-
recht, eine Art Selbstverwaltuug gewährt werden, die der Lehrer im Sinne
Försters als väterlicher Freund und Berater leitet und fördert. Hierdurch
soll die sittliche Willensbildung erhöht, die Kraft des Wollens im Handeln
und Leiden gestärkt werden.
2. Zur Psychologie des Zahlenbewußtseins. 45
Am Nachmittage dieses ersten Verhandlungstages fand die auf jedem
Kongreß veranstaltete General-Versammlung des Vereins zur Förderung
der Blindenbildung statt unter dem Vorsitz des Direktors der Provinzial-
Blindenanstalt Hannover, Herrn Geiger. Dieser im Jahre 1876 auf dem
Blindenlehrerkongreß in Dresden gegründete Verein hat jetzt seinen Sitz
bei der Hanuoverschen Blindenanstalt; er bezweckt die Versorgung der
Blindenschulen und einzelner Blinden mit Büchern in Blindendruck und
anderen Lehrmitteln zu ermäßigten Preisen. Der Bericht über die Tätig-
keit des Vereins seit dem vorigen Kongreß fand die Zustimmung der
Versammlung. Aus dem Bericht ist zu entnehmen, daß das Vermögen
der Anstalt ca. 45000 M. beträgt und einer Einnahme von 28472 M.
eine Ausgabe von 27000 M. gegenübersteht. Nach der Beratung des für
die nächste Arbeitsperiode vorgesehenen Arbeitsprogrammes kamen Anträge
und Mitteilungen zur Erledigung. Über den Bestand an Büchern und
Lehrmitteln gibt das »Verzeichnis der vom Verein herausgegebenen Bücher
und geographischen Karten« Aufschluß.
Am Spätnachmittage folgten die Kongreßteilnehmer einer Einladung
der Stadt Düsseldorf zu einer Rheinfahrt auf dem Dampfer »Düsseldorfe«.
(Schluß folgt.)
2. Zur Psychologie des Zahlenbewusstseins.
Von Oberlehrer Dr. Krassmöller, Berlin-Wilmersdorf.
Im folgenden betrachten wir einen Fall von Unfähigkeit eines neun-
jährigen Schülers, sich im abstrakten Zahlenschema zu bewegen, verbunden
mit der gleichzeitigen Fähigkeit, im Spiel die Resultate derartiger Auf-
gaben scheinbar bewußt verwerten zu können.
Der Schüler X. zeigte im Rechnen die absolute Unfähigkeit, im
Zahlenkreis 1—20 mit Zahlen und Ziffern zu operieren. Er war nicht
imstande, selbst Aufgaben wie folgende richtig zu rechnen: 7 +8, 6 — 5,
14-+6 und dergl. Die falschen Lösungen ließen nicht auf ein und den-
selben Denkfehler schließen, sondern auf das gänzliche Unvermögen, diesen
doch sehr kleinen Zahlenkreis zu übersehen. Die verschiedensten An-
schauungsmittel, die zur Anwendung gebracht wurden, wie Rechenmaschine,
Pınkte auf der Wandtafel, stereometrisch gleiche Holzwürfel usw. ver-
mochten nicht, ihm eine Anschauung von den zugrunde liegenden, ab-
strakten Aufgaben zu vermitteln.
Um so merkwürdiger wirkte folgende Beobachtung auf mich:
Beim Barlaufspiel fiel ihm wiederholt die Aufgabe zu, sich aus einer
Gruppe von Schülern drei »Wächter« auszuwählen und diese zu verteilen.
Daraufhin gab ich ihm den Auftrag, bei dem nunmehr folgenden Ballspiel
je zwei Gruppen von drei und vier Schülern auszuwählen. Diese Auf-
träge erledigte er fehlerlos.. Es sei noch bemerkt, daß ihm seine Mit-
schüler alle wohlbekannt waren.
Es erhebt sich nun die Frage, wie dieser Fall psychologisch zu er-
ist.
Man könnte hier zunächst einwenden, daß diese Divergenz doch
immerhin erstaunlich sei: wenn X. wirklich derartige Gruppen zusammen-
46 B. Mitteilungen.
stellen kann, dann müsse er doch auch in der Lage sein, diese Fähig-
keiten in abstrakter Weise im Unterricht zu verwerten.
Bei näherer Betrachtung ergibt sich jedoch, daß zwischen den prak-
tischen Versuchen und dem Unterricht durchaus kein Zusammenhang be-
steht. Bei dem einen Fall handelte es sich um abstraktes Rechnen, das
ihm schwer oder unmöglich wurde, — bei den Versuchen auf dem Schul-
hof dagegen um mechanisches Sortieren von ihm dem Aussehen nach be-
kannten Kameraden, ohne daß ihm das Bewußtsein kam, hier mit den
Zahlenbegriffen 3 und 4 zu operieren. Das durch ein Jahr hindurch ge-
übte Spiel hatte dem X. ein instinktsicheres Bewußtsein gegeben, wann
eine solche Gruppe genügend Schüler aufzuweisen hatte, — dann hörte
er von selbst mit dem Sortieren auf.
Ferner ist zu berücksichtigen, daß die psychische Grundstimmung
des Schülers eine andere in der Spielstunde als in der Rechenstunde ist:
denn als ich einmal in der Rechenstunde mit dem Unterricht abbrach,
und ihn in dem Klassenraum denselben Sortierungsversuch nur theoretisch
machen ließ — er wußte genau, daß es nicht zum Spielen kommen
würde —, versagte er.
Daraus geht doch hervor, daß es sich bei derartigen Anwendungen
von anscheinend selbst gebildeten Zahlenbegriffen nicht, wie es den An-
schein hat, um die bewußte Verwertung eines durchgedachten Schemas
handelt, sondern um die unbewußte Sortierung bekannter Personen. Ich
entsinne mich eines ähnlichen Falles, den Trüper anläßlich einer Be-
sprechung eines Aufsatzes von H. Schreiber anführte.!) Dort handelte
es sich um ein Mädchen, das durchaus unfähig war, im Zahlenkreis von
1—10 zu operieren. Dagegen war es aber imstande, eine Tafel von
zwanzig Gedecken herzurichten, dergestalt, daß sie zwanzig Messer und
Gabeln genau zu unterscheiden vermochte und an den richtigen Platz
legte. Wir folgern auch hier daraus, daß die Unfähigkeit des Mädchens
abstrakte Zahlen in ein für sie ebenso abstraktes System einzuordnen,
mit der Fähigkeit, den Tisch richtig zu decken, nichts zu tun hat. Sie
verband eben mit jedem Namen, den sie auf einer Gabel las, sofort das
Aussehen der betreffenden Person und den ihr zugewiesenen Platz. Nie-
mals hatte es systematisch dabei alle zwanzig Namen, zwanzig Plätze,
zwanzig Bestecke vor sich, sondern sie dachte jedesmal nur an ein Ding,
unter gänzlicher Außerachtlassung der übrigen neunzehn. Hätte man die
Plätze gewechselt oder überhaupt die Aufgabe, den Tisch zu decken,
rechnerisch abstrakt kompliziert oder modifiziert, so wäre das Mädchen
bestimmt in Verwirrung geraten.
Man sieht hieraus, daß man — dem oft überschätzten Anschauungs-
unterricht im Rechnen nicht allzuviel Wert beilegen soll: ein Rückschluß
von der Unfähigkeit des Kindes im Rechenunterricht auf die Fähigkeit,
hier und da im praktischen Leben mit Zahlenbegriffen zu operieren, ist
unzulässig, weil — wie wir gesehen haben — dem Kinde selbst dieser
Zusammenmenhang gar nicht zum Bewußtsein kommt.
1) S. d. Zeitschrift 1906, Jg. 11, S. 108. — Vergl. auch dieses Heft S. 12/13.
3. Pinselübungen in der Hilfsschule. 47
3. Pinselübungen in der Hilfsschule.
Von Hugo Schmidt, Hilfsschullehrer in Bremen.
Die Zeichenstunden in der Hilfsschule erfreuen sich leider bei den
Hilfsschullehrern keiner allgemeinen Beliebtheit. In manchen Hilfsschulen
tritt der Zeichenunterricht sogar erst während der beiden letzten Schul-
jahre auf. Diese Unterschätzung des Zeichenunterrichts erkläre ich mir
aus den großen Schwierigkeiten, die sich in diesen Stunden einstellen.
Die manuelle Ungeschicklichkeit und die mangelhafte, auch oft falsche
Perzeption optischer Eindrücke spielen bei unsern Hilfsschülern eine große
Rolle. Eine Hauptschwierigkeit, die sich allerdings zum Teil aus den ge-
nannten Erscheinungen ergibt, begegnete mir oft in dem durch Mutlosig-
keit gehemmten Darstellungstrieb. Jede Linie wird vielmals durch den
Gummi beseitigt, und die damit sich steigernde Unsicherheit läßt die
Zeichnung immer zweifelhafter werden.
Wiederholt habe ich bestätigt gefunden, daß sich Pinselübungen
als ein sehr wertvolles Mittel zur Hebung des Sicherheitsgefühls in den
Zeichenstunden der Hilfsschule erweisen können. Diese Pinselübungen
bestehen darin, daß auf die Bleifedervorzeichnung vollständig verzichtet
und sofort mit der Flächendarstellung in Farbe begonnen wird.
Als erster Versuch eignet sich am besten die Darstellung eines Balles
oder einer Apfelsine. Die Kinder neigen zunächst dazu, erst die Umrisse
malen zu wollen. Dem ist vom Anfang an entgegenzuarbeiten. Es wird
den Kindern gezeigt, wie zuerst ein Farbenfleck von der annähernden
Größe des zu malenden Balles angelegt wird, und wie erst dann die
genaue Form daraus entsteht. Die Farbe wird am besten recht kräftig
angerührt. Noch einige andere Formen, die sich für die ersten Übungen
eignen, seien genannt: Kirsche, Pflaume, gefärbte Ostereier, verschiedene
Formen von Luftschiffen und verkleinerte Heftumschläge mit Auslassung
des weißen Namensschildes. Diese Formen können sämtlich einfarbig an-
gelegt werden. Für mehrfarbige Darstellungen kann ich vorschlagen:
Hammer, Axt, Pinsel mit Holzgriff (dreifarbig, Pinselhaare, Blechhülse
md Holzgriff), Gummiball mit farbigen Feldern, Federn und verschiedene
Blatt- und Blütenformen.
Warum sind diese Übungen besonders für Hilfsschüler zu empfehlen?
Die Aufmerksamkeit wird geübt. Der Pinsel muß mit Sorgfalt
geführt werden, denn gar leicht zeugt ein Farbenspritzer von einer un-
bedachten Bewegung. Für Kinder mit gesteigertem Bewegungsdrang —
in der Hilfsschule eine häufige Erscheinung — sind solche Konzentrations-
übungen eine heilsame Willensgymnastik. Bald beachten die Kinder auch,
daß das einmal Dargestellte nicht wieder entfernt werden kann.
Der Formensinn wird günstig beeinflußt. Die flächenhafte Dar-
stellung mit kräftiger Farbe wirkt sofort weit gegenständlicher. als eine
Stiftzeichnung. Wirkungsvoll hebt sich die satte Farbengebung von dem
weißen oder bunten Papier ab.
Das Farbenverständnis kann eine regelmäßige Förderung erfahren.
Die Farbenwahl und das Mischen wirken außerordentlich anregend anf die
48 B. Mitteilungen.
schwachen Kinder. Manche Hilfsschüler werden zuweilen als farbenblind
bezeichnet, die nur wegen mangelhafter Übung nicht fähig sind, die Farben
richtig zu benennen.
Besonders ist aber hervorzuheben, was bereits anfangs angedeutet
wurde: Das bald entstehende Gefühl eigenen Könnens hebt den Dar-
stellungstrieb.
Daß in den ersten Stunden Mißerfolge nicht selten sind, braucht
wohl kaum gesagt zu werden. Aber selbst die ersten Versuche lassen
bereits die genannten Vorteile deutlich erkennen.
Am vorteilhaftesten werden die Übungen längere Zeit nacheinander
getrieben. Bisher wurden sie nur gelegentlich vorgenommen. Eine plan-
mäßige Durchführung während eines größeren Zeitraumes verbürgt erst
den gewünschten Erfolg.
4. Biblische Lesebücher.
Von Direktor 0O. Krebs-Jena.
Von jedem Schulbuche fordern wir, daß es der Geisteshöhe der be-
treffenden Schüler entspreche in Inhalt und Form, also vollverständlich
sei und frei von allem, was über die Gefühls- und Begriffswelt der Lehr-
stufe hinausliegt. Auch muß der Umfang und die Anordnung des Stoffes
die nötige Übersichtlichkeit bieten, um das Gedächtnis in der Aneignung
des wesentlichen Kerninhalts zu unterstützen. Wenn man aber die Voll-
bibel, die ihrem ganzen Inhalt und Gepräge nach nur für erwachsene
Menschen vom 17. Lebensjahre an geschrieben ist, der Jugend in die
Hand gibt, so schlägt man den obigen unbestreitbaren pädagogischen
Forderungen ins Gesicht. Aus diesem Grunde hat man für Schaffung
von Schulbibeln, Bibelauszügen oder Biblischen Lesebüchern schon seit
den Tagen der Reformation gekämpft. Als erster gab Veit Dietrich zu
Nürnberg, der eine Zeitlang Luthers Hausgenosse war, in seinen Summarien
diejenigen Stücke des alten und neuen Testaments an, die mit der Jugend
zu behandeln seien. J. Locke, Pietisten, Herrenhuter und die Philanthropen
forderten Schulbibeln. König Friedrich Wilhelm III. von Preußen regte
den Minister an, einen Bibelauszug abfassen zu lassen. Doch vergeblich:
1814, 1854 und auf späteres fortgesetztes Drängen von pädagogischer
Seite noch in manchen andern Erlassen wurde seitens der Ministerien die
Vollbibel für die Kinder zur Benutzung geboten. Allmählich erst, in den
letzten 40 Jahren, ist man anderer Ansicht geworden. Selbst der preußische
Oberkirchenrat hat sich nun schon seit Jahren für Einführung von
»biblischen Lesebüchern« ausgesprochen, die die Gefahr ausschließen, die
Vollbibel aus der Familie zu verdrängen. Wenn aber trotzdem diese noch
in Tausenden von Schulen gebraucht wird, wer trägt die Schuld daran?
Die ängstlichen Vertreter der Orthodoxie, die der Meinung sind: Wenn
man in religiösen Fragen am Buchstaben rüttelt, geht alles kirchliche und
sittliche Leben außer Rand und Band. Gottlob! Die wahre religiöse Ver-
ehrung Gottes, die Anbetung in Geist und Wahrheit und die Sehnsucht
nach religiöser Erkenntnis nimmt gerade in den letzten Jahrzehnten in
4. Biblische Lesebücher. 49
den Kreisen denkender und fühlender Christen zu, trotzdem man in un-
zähligen, namentlich höheren Schulen biblische Lesebücher eingeführt hat.
Man ist auf pädagogischer Seite bemüht, diese immer mehr zu verbessern
nach Inhalt und Form.
Welche Forderungen müssen wir im einzelnen an ein gutes, wert-
volles biblisches Lesebuch stellen?
1. Ein schönes, würdiges Äußere mit festem, sauberen, am besten
schwarzen Einbande und bestmöglichem Papier, das völlig undurchscheinend
ist und angenehmen, dem Auge wohltuenden, deutlichen Druck mit ge-
nügend breitem Abstand zwischen den Zeilen zeigt.
2. Auswahl nur desjenigen Stoffes, der Kindern zum Verständnis
gebracht werden kann und von ethisch und religiös tiefem Werte ist —
also nur wirkliches Gold bietet. Im alten Testament gebe man klare
Darstellung solcher Stoffe, die das Verständnis für den geschichtlichen
Hintergrund in möglichst deutlichem Zusammenhange vermitteln.
3. Der Text entspreche durchaus der Übersetzung nach heutiger
Forschung, weiche aber nicht ohne zwingenden Grund der Richtigkeit und
Klarheit vom Lutherischen Texte ab. Z. B. Jes. 7, 14 ist zu übersetzen
sjunges Weib«, nicht »Jungfraue«.
4. Alle Ausdrücke, die für das Kind »gemein« sind, wie das nament-
lich aus Kindesmunde fürchterlich klingende Wort »Hure«, oder die für
Kinder verfrüht erscheinen, wie das Wort »schwanger«, bleiben unter
allen Umständen weg.
5. Auch die Anordnung und Bezeichnung der biblischen Bücher muß
den gesicherten Ergebnissen der heutigen Forschung entsprechen. Das
bezieht sich vor allem auf die Stellung der Bücher Ruth, Daniel, Hiob
und der Klagelieder Jeremias und auf die Bezeichnung des zweiten Jesaias
und der Evangelien »nach« Matthäus, Markus usw.
6. Kleine Abschnitte mit bezeichnenden kurzen Überschriften in mög-
lichst deutlich sich abhebendem Drucke.
7. Eine Zugabe von biblischen Bildern ist sehr wertvoll, weil dem
Kindesgeiste fast ein Bedürfnis. Sie darf sich aber nicht in phantastischen
Zeichnungen verlieren, in rätselhaften Sinnbildern.
8. Die poetischen Texte werden in entsprechender Form gedruckt
zur Unterscheidung von den Prosadarstellungen. Das gibt eine schätzens-
werte Abwechslung und trägt auch zur Übersichtlichkeit und richtigen
Beurteilung der Stoffe bei.
9. Alle Hauptaussprüche sind in fetten Lettern hervorzuheben, nicht
etwa nur die auswendig zu lernenden.
10. Über allem die Wahrheit — nichts, was später sich als Täuschung
offenbaren muß und doch Lebenshalt bieten sollte. (Vergl. z. B. Jes. 7, 14!)
11. Kapitel- und Versangabe der Bibel ähnlich.
12. Genügende Anzahl guter Karten und Abbildungen.
13. Durchweg Übersichtlichkeit zum leichten Sichzurechtfinden.
14. Außer dem selbstverständlichen Inhaltsverzeichnis der Bücher
auch Angabe der Perikopen, eine Zeittafel, eine Wort- und Sacherklärung,
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 4
B. Mitteilungen.
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5. Aufruf zur Gründung einer Gruppe abstinenter Volkserzieher in Bayern. 51
vielleicht auch eine Angabe von Lesestoffen für verschiedene Lebenslagen;
doch gehört diese vor allem in eine Hausbibel.
Gibt es jetzt schon nach allen Seiten hin empfehlenswerte biblische
Lesebücher? Nebenstehende Übersicht, die jeder Religionslehrer an dem
Maße seiner Ansichten prüfend vergleichen kann, möge uns das Urteil
und die Entscheidung erleichtern. Mir liegen fünf biblische Lesebücher
vor, für die Schule bearbeitet.
Genannte 14 Forderungen sind nur angedeutet.
5. Aufruf zur Gründung einer Gruppe abstinenter
Volkserzieher in Bayern.
Unter der Überschrift »Die Schuld der Schule?« erließ jetzt A. Lohr-
Kempten in Nr. 22/23 der »Pädag. Blätter« einen Aufruf, zu Leibe
rückend dem Alkoholmißbrauch in Bayern und fordernd die Gründung
einer Gruppe abstinenter Volkserzieher in Bayern.
Einleitend sagt er: »Abgrundtiefes Elend gähnt uns rings entgegen:
19 Arbeits- und Zuchthäuser, 632 Krankenhäuser, 295 Gefängnisse,
89 Irren-, Epileptiker- und Kretinenanstalten u. ä. stehen allein in Bayern,
alle meist bis zum letzten Platz gefüllt. Das traurigste Elend muß der
Lehrer in der Schule sehen: Das Kinderelend. Über 3000 sind so elend,
daß sie in den 31 Heil- und Pflegeanstalten mehr vegetieren als leben;
glücklicher zu nennen sind die 3438, die im ersten, und die weiteren
12620, die vor dem 10. Jahre sterben. Von der Million Schulkinder, die
in 7665 Schulen von 30900 Lehrkräften ausgebildet werden, erreichen
Tausende nicht oder nur sehr schwer das verlangte Schulziel.«
Dazu kommt weiter noch die jährlich zunehmende Zahl der Ver-
wahrlosten, der Unbotmäßigen, der jugendlichen Verbrecher, der Müßig-
gänger, der Unbrauchbaren,
Rasch ist man dann zur Hand und spricht von einem »Bankrott des
Schulsystems«. Schade ist es, heißt es dann nicht selten, für die
53 Millionen, die für die Volksschule Verwendung finden. Wieder andere
rıfen nach »Reformen« als: Arbeitsschule, Werkunterricht, Wald- und
Freiluftschulen, als wäre von ihnen alles Heil zu erwarten. Doch weit
gefehlt. »Schwächlichkeit, Unterernährung, Kränklichkeit, Rhachitis, an-
geborene Nervosität, Zerstreutheit usw., das sind die Gründe, warum die
Schule oft so wenig Erfolg hat trotz aller Mühe und Aufopferung ihrer
Lehrer.«
Und die Hauptursache hierfür wieder ist — das steht erwiesener-
maßen fest — der Alkoholismus, das gewohnheitsmäßig viele Trinken.
Man trinkt ja«, heißt es weiter, »in Bayern jährlich 151/, Mill. Hektoliter
Biere, was einer Ausgabe von 400 Millionen Mark gleichkommt.
Angesichts dieser Tatsachen erwächst eine unabweisbare Pflicht. »Es
ist höchste Zeit«, wird fortgefahren, >daß wir auch in Bayern uns end-
lich erheben; kaum irgendwo ist das Kinderelend größer als bei uns,
gerade wegen des Alkoholismus. Lieben wir unsere Kinder, dann müssen
4*
52 B. Mitteilungen.
wir den Alkohol hassen. Soll es besser werden, so ist das nur möglich
durch eine starke Abstinenzbewegung.«
Wie in anderen Ländern sich zuerst mit Ärzten und Geistlichen die
Lehrer erhoben haben zum Kampfe gegen den Alkoholismus, so müßte es
auch in Bayern geschehen.
Worms. Georg Büttner.
6. Spinale Kinderlähmung im Kreise Worms.
Wie im Jahre 1909 in der Provinz Oberhessen, so tritt jetzt auch
in der Provinz Rheinhessen, und zwar speziell im Kreise Worms, die
spinale Kinderlähmung auf. Hoffentlich nimmt sie nicht größeren Umfang
an. Gottlob ist ja die Zahl der Fälle bislang noch gering. Auch wurden
sofort die energischsten Gegenmaßnahmen ergriffen.
Die ersten Fälle wurden beobachtet Ende Juli in Horchheim,
1/, Stunde von Worms. Am 3. August wurden sie dem Großherzogl. Kreis-
gesundheitsamt Worms gemeldet. Sofort wurde zwecks näherer Unter-
suchung dieser Epidemie und zwecks Feststellung der zu treffenden Maß-
nahmen beim Großherzogl. Ministerium ein Antrag um Entsendung eines
Bakteriologen gestellt.
Infolgedessen erschienen am 6. August vom Großh. Ministerium d. I.,
Abteilung für öffentliche Gesundheitspflege die Herren Geh. Med.-Rat
Dr. Hauser und Ober-Med.-Rat Dr. Balser, sowie der Hygieniker der
Landesuniversität Gießen, Professor Dr. Neumann. Folgende Maßnahmen
wurden getroffen. Zunächst wurde eine Polizeiverfüguug erlassen, wonach
die für andere Krankheiten bestehende Anzeigepflicht auch auf die Kinder-
lähmung für die Dauer von 4 Wochen ausgedehnt wurde. Ferner mußte
wegen der Übertragbarkeit der Krankheit auf die Isolierung der Kranken
und auf die Vornahme von Desinfektionen gedrungen werden. Von der
Stadt Worms aus wurde in bereitwilligster Weise zur Verfügung gestellt
die städtische Desinfektionsanstalt, der Krankentransportwagen und ein
Isolierzimmer im Krankenhause.
Was die weitere Verbreitung anbelangt, so bestehen jetzt, Ende
August, im ganzen 27 Fälle, und zwar in Horchheim 11 Fälle, Worms 5,
Hamm 2, Rhein-Dürkheim 1, Osthofen 3, Abenheim 1, Bechtheim 2,
Heppenheim a. d. W. 2. Fünf Fälle fanden tödlichen Ausgang. Von den
22 lebenden Kranken sind 5 geheilt, 9 gebessert, 8 wenig oder überhaupt
nicht gebessert.
Bezüglich des Alters sei bemerkt, dal das jüngste erkrankte Kind
6 Monate, das älteste 7 Jahre alt war.
Worms. Georg Büttner.
7. Zeitgeschichtliches.
Robert Rißmann, der verdienstvolle Herausgeber der »Deutschen Schule«,
starb am 20. August 1913. Er war ein aufrichtiger und wahrer Streiter, der jeder-
zeit für das Beste der deutschen Lehrerschaft, für das Beste der ganzen deutschen
Jugend eintrat. Sein Tod wird von Tausenden aufs schmerzlichste betrauert (S. S. 1/2).
7. Zeitgeschichtliches. 53
Professor Fr. W. Foerster-Wien hat eine ordentliche Professur für Päda-
gogik an der Universität München angenommen. Er wird seine Lehrtätigkeit dort
im Sommersemester 1914 beginnen.
Professor Dr. phil. Ferdinand Jakob Schmidt, der Direktor der Städtischen
Margaretenschule zu Berlin, wurde als außerordentlicher Professor der Pädagogik
an die Universität Berlin berufen.
Die Alsterdorfer Anstalten können am 19. Oktober 1913 auf ihr
50jähriges Bestehen zurückblicken. Ebensolange besteht in den Anstalten eine
Schule für Schwachsinnige. Aus diesem Anlaß hat J. P. Gerhardt eine Jubiläums-
schrift über »Die Schule der Alsterdorfer Anstalten« bei Gustav Fischer in Jena
erscheinen lassen, die neben dem Schülermaterial und der Unterrichtsmethode auch
die geschichtliche Entwicklung der Schule würdigt. Die Schrift umfaßt VIII und
98 Seiten und ist mit verschiedenen Bildern geschmückt. (Preis 3 Mark.)
Zum 2öjährigen Jubiläum der Erziehungsanstalt zu Idstein im
Taunus (7. Oktober 1913) hat Max Kirmsse eine Studie über »Die Schwach-
sinnigen in Nassau in alter und neuer Zeit« veröffentlicht (56 Seiten und 8 Tafeln.
Idstein, Georg Grandpierre, 1913), die mancherlei wertvolle neue Angaben bietet.
Ein zweiter heilpädagogischer Kursus findet vom 4.—25. März 1914 in
Hannover statt. Arbeitsplan und weitere Angaben durch Rektor W. Murtfeld,
Hannover, Wörthstraße 1.
Ein Abschluß-Hilfsschulkursus findet vom 12. Oktober bis zum 4. Nov.
1913 in Bonn statt. Anfragen an Rektor Lessenich, Bonn, Beethovenstraße 3.
Zu dem im vorigen Jahrgang unserer Zeitschrift (Heft 12, S. 578/579) mit-
geteilten Programm des ersten heilpädagogischen Seminarkurses in Essen
sind noch folgende Vorlesungen nachzutragen: im ersten Semester wird Direktor
Schulte-Pelkum vom Franz- Sales- Hause in Essen »Über Anstaltsfürsorge für
Abnorme« lesen und im dritten Semester »Über Formen und Methodik der hand-
werksmäßigen Arbeitserziehung Schwachsinniger«, im zweiten Semester Professor
Dr. Weygandt-Hamburg Ȇber klinische und anatomische Grundlagen der
Schwachsinnsformen«.
Geschenke, Stiftungen usw.: für die Erbauung einer Anzahl von Jugend-
heimen im Landkreise Stolp 250000 Mark (vom Kreistag beschlossene Jubiläums-
stiftung); für ein Jugendheim in Breslau 300000 Mark (von den städtischen
Kollegien beschlossene Jubiläumsstiftung); zur Förderung der Jugendpflege
m Bad Orb 25000 Mark (von den Stadtverordneten bewilligte Jubiläumsstiftung);
für Jugendheime: Erfurt 76000 Mark, Hannover 200000 Mark, Liegnitz
10000 Mark; für Spielplätze: Schöneberg 150000 Mark, Osnabrück 100000
Mark, Sundwig (Kreis Iserlohn) 10000 Mark und einige Grundstücke; der Kaiser
stiftete anläßlich seines Aufenthalts in Posen im September 1913 für Jugend-
pflege 30000 Mark; ein Kapital von 100000 Mark, aus dessen Zinsen den Kindern
der bei der »Konsolidation« in Gelsenkirchen-Schalke beschäftigten Arbeiter
Badekuren ermöglicht werden sollen; 100000 Mark für ein Kindererholungs-
heim in Dürrenberg; für die Erweiterung der Waldschule in Elberfeld
20000 Mark; für die Hilfsschule in Peine 3000 Mark.
Eine Schulzahnklinik wurde in Chemnitz eingerichtet.
Ein Verein zur Gründung und Erhaltung von Heilerziehungs-
heimen wurde in München begründet. Vorsitzender: Dr. med. Albert Loeb.
Anmeldungen an Bankdirektor Carl Ulrich, München, Lenbachplatz 4.
Ein Jugendschutzhaus mit 16 Betten für Knaben bis zu 16 Jahren zu
vorübergehendem Aufenthalt bei Überweisung durch die Polizei, das Jugendgericht
oder ähnliche Institute, ist in Berlin eingerichtet. Die Mittel dafür stiftete
Professor Darmstädter, der auch die wirtschaftliche Leitung übernommen hat,
während die pädagogische Leitung in den Händen von Amtsgerichtsrat Dr. Köhne
liegt. Die Einrichtung ist zunächst nur provisorisch für ein Jahr gedacht, soll aber
beibehalten werden, wenn sie sich bewährt.
54 B. Mitteilungen.
An der Harvard-University ist ein Universitäts-Kindergarten er-
öffnet, dessen Zöglinge (beiderlei Geschlechts) später womöglich die Universität be-
suchen sollen, nachdem die nötigen Zwischenglieder zwischen Kindergarten und
Universität ergänzend geschaffen sind.
Frankreich wird jetzt auch Jugendgerichtshöfe einführen.
Orthopädische Turnkurse sollen in der Hilfsschule in Leipzig ein-
gerichtet werden.
Den Ministerien der deutschen Bundesstaaten ging eine Eingabe zu, auf Ab-
schaffung des Alkoholgenusses in den Erziehungsinternaten hinwirken
zu wollen und die Zöglinge durch Vorträge usw. aufklären zu lassen über die
großen Schädigungen, die der Alkoholgenuß hervorruft.
Während der diesjährigen Tagung des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch
geistiger Getränke wurden vor etwa 10000 Schülern und Schülerinnen der ersten
beiden Klassen der höheren Schulen, der Mittelschulen und der Fortbildungsschulen
Thora und Lindens 13 Vorträge über die Gefahren des Alkohols ge-
ten.
Die Abstinenzbewegung unter den Volksschullehrern Deutsch-
lands ist in erfreulicher Zunahme begriffen: Der deutsche Verein enthaltsamer
Lehrer hat im ersten Halbjahr 1913 um beinahe 200 Mitglieder zugenommen (von
680 auf 869).
Lehrer G. Temme in Nordhausen veröffentlicht seinen ersten Bericht über
die Wander-Wohlfahrtsausstellung für die Provinz Sachsen, die für die
Lehrerwelt von größtem Interesse ist (Die Enthaltsamkeit, Jg. 15, Nr. 9, September
1913). Sie wurde in einem Jahre von 68500 Personen besucht. An den 300 Vor-
trägen dieses Jahres sind vor allem die Arzte beteiligt.
Die Volksborngesellschaft für medizinisch -hygienische Aufklärung (Dresden,
Waisenhausstraße 29) hat eine Wanderlehrausstellung »Mutter und Säugling«
eingerichtet.
Über den leider noch viel zu wenig bekannten Verband der katholischen
Anstalten Deutschlands für Geistesschwache berichtet Oberarzt Dr. Klee-
fisch-Essen in »Eos«, Jg. 9, Heft 3, Juli 1913, S. 200—214. Die Satzungen des
am 5. Oktober 1905 gegründeten Verbandes sind im Wortlaut mitgeteilt. Eine
Übersicht zeigt, daß dem Verband 42 Anstalten mit wohl über 10000 Pfleglingen
angeschlossen sind. Er ist danach der größte unter den deutschen Verbänden von
Schwachsinnigenanstalten. Der beigefügte Arbeitsplan zeigt eine außerordentlich
rege Tätigkeit auf den bisherigen Konferenzen. Erster Vorsitzender des Verbandes
ist Direktor Fünfgeld, Anstalt Herthen in Baden.
Eine umfassende Pädagogische Auskunftsstelle, die vor allem auch der
Berufsberatung dient, hat die »Deutsche Elternzeitschrift«, die von dem Mindener
Lehrer Fritz Küppers herausgegeben wird und bei Hermann Beyer & Söhne (Beyer
& Mann) in Langensalza erscheint, eingerichtet. Die Nr. 10 vom 1. Juli 1913
orientiert ausführlich über das dankenswerte Unternehmen.
Ein »Monatsblatt des Kant.-Bernischen Vereins für Kinder- und
Frauenschutz« erscheint seit dem 15. August 1913 als Beilage zur »Zeitschrift
für Jugenderziehung und Jugendfürsorge« (A. Trüb & Cie. in Aarau).
Das Verzeichnis der im Wintersemester 1913,1914 an der Hochschule für
Frauen in Leipzig zu haltenden Vorlesungen ist in Kommission bei Alexander
Edelmann erschienen und durch die Hochschule für Frauen, Leipzig, Königstr. 18,
zu beziehen. Die Pädagogische Abteilung weist wie in den früheren Semestern
zahlreiche interessante Vorlesungen auf.
Als Beiheft zu Jg. 26, Nr. 8 (August 1913) der »Zeitschrift für Schulgesund-
heitspflege« erschienen im Umfange von 226 Seiten die » Verhandlungen der
XII. Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Schulgesund-
heitspflege und der V. Versammlung der Vereinigung der Schulärzte
Deutschlands vom 13. bis 15. Mai 1913 in Breslau«, herausgegeben von Selter
und Stephani (Leipzig und Hamburg, Leopold Voß, 1913).
7. Zeitgeschichtliches. 55
Die Schweizerische Vereinigung für Kinder- und Frauenschutz hat ein von
Pfarrer Alb. Wild (Mönchaltdorf-Zürich) verfaßtes »>Schweizerisches Jahrbuch
für Jugendfürsorge über das Jahr 1912« herausgegeben. (IV u. 255 Seiten.
Zürich 1913. Druck von Zürcher und Furrer.)
Im Verlage von A. W. Zickfeldt, Osterwieck-Harz und Leipzig, erschien
die erste Lieferung von J. Fr. Herbarts Pädagogischen Schriften, heraus-
gegeben von O. Willmann und Th. Fritzsch (48 Seiten, 60 Pfennig). Diese
erste Lieferung enthält einige kurze Vorbemerkungen und dann die Briefe und Be-
richte aus der Hauslehrerzeit (reichend bis zum dritten Bericht an Herrn von Steiger
aus dem Frühling 1798). Eine kritische Würdigung dieser Herbartausgabe müssen
wir uns natürlich bis zum Abschluß derselben vorbehalten,
Inzwischen gingen uns noch die Lieferungen 2 bis 5 zu. Sie umfassen die
Seiten 49 bis 240. Die Briefe und Berichte aus der Hauslehrerzeit, aus Bremen
die Ideen zu einem pädagogischen Lehrplan für höhere Studien, über die ästhetische
Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung, vor allem aber in der
dritten Lieferung die bisher nicht veröffentlichten Diktate zur Pädagogik (vermutlich
aus dem Wintersemester 1802/03), ferner die »Genauere Entwicklung der Haupt-
begriffe, welche in die Bestimmung des pädagogischen Zwecks eingehen« in extenso
(»da sie gerade dadurch geeignet ist, manche Dunkelheit der Allgemeinen Pädagogik
aufzuhellen«, 8.176) und die ersten Seiten der »Allgemeinen Pädagogik« werden uns
in ihnen vorgelegt. Die Herausgeber haben mannigfache wertvolle Anmerkungen
und Vorbemerkungen beigefügt. Die erstmalige Veröffentlichung der Diktate ist be-
sonders erfreulich und wird diese Neuausgabe allen Herbartfreunden und -studie-
renden unentbehrlich machen.
»Die umfangreichste und gründlichste Familienuntersuchung, die jemals unter-
nommen worden iste (Max von Gruber), 1898 begonnen, ist jetzt unter dem Titel
»Medizinisch-biologische Familienforschungen innerhalb eines 2232 köpfigen
Bauerngeschlechtes in Schweden (Provinz Blekinge)«e bei Gustav Fischer in Jena
erschienen. Verfasser dieser gewaltigen Untersuchungen ist der Dozent für Psychi-
atrie und Neurologie an der Universität Uppsala, Dr. H. Lundborg. Das große
Werk (Text im Umfang von XVI und 470 Seiten und Atlas) wurde mit Subvention
des schwedischen Staates, der schwedischen Gesellschaft für Rassenhygiene und des
Regnellschen Fonds an der Universität Uppsala gedruckt. Es ist mit 7 Karten,
5 Diagrammen und zahlreichen Tabellen im Text sowie mit 37 Abbildungen auf
10 Tafeln und 51 Deszendenztafeln im Atlas ausgestattet. Der Preis beträgt
120 Mark.
Den Rückenmühler Anstalten zum 50jährigen Jubiläum (14. Oktober)
gewidmet ist der Inhalt von Heft 1—3 des VII. Bandes der »Zeitschrift für die
Erforschung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns« (Jena, Gustav Fischer).
Ein Wandtafelwerk zur Alkoholfrage, auf Grund der neueren wissen-
schaftlichen Forschungen bearbeitet von W. Ulbricht (Lehrer in Dresden), wird vom
Deutschen Verein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke e. V., Berlin W 15,
herausgegeben. Das ganze Werk soll 18 künstlerisch ausgeführte Tafeln umfassen
(davon mehrere in Zweifarbendruck) und 25 Mark (auf Leinwand gefaltet 63 Mark,
mit Stäben und Ringen 95,25 Mark) kosten.
Nach den »Medizinalstatistischen Nachrichten«, Jg. 5, Heft 1, hat die Zahl
der Lebendgeborenen in Preußen im ersten Vierteljahre 1913 gegenüber
demselben Vierteljahr 1912 um rund 10000 oder 3,36°/, abgenommen. »Also der
Geburtenrückgang hält an.«
Wir entnehmen den Medizinalstatistischen Nachrichten, im Auftrage
des Herrn Ministers des Innern herausgegeben vom Königlich Preußischen
Statistischen Landesamte, Jg. 5, 1913/14, Heft 1, folgende Übersicht der jugend-
lichen Personen, der erblich Belasteten und der Trunksüchtigen beim
Zugange sämtlicher Anstalten für Geisteskranke usw. nach Krankheits-
formen im Jahre 1911 (die Angaben beziehen sich auf Krankheitsfälle):
56 C. Zeitschriftenschau.
Davon waren Von ie 100 des Zugangs waren
a Zugang
Krankheits- überhaupt 4 -
fo unter | erblich | m. unter erblich F
re 16 Jahren| belastet | Trinker | 16 Jahren | belastet Truiker
m | w |m. |w. |m. |w. |m. | w. m. | w. |m. | vw. | m. | w.
1. Einfache |
Seelenstörung | 12 335| 12 372] 133| 100/3334/3303|2549|224ļ| 1,08| 0,81127.03/26,70| 20,66| 1,81
. Paralytische
Seelenstörung | 3091| 889] 10) 5| 439| 127| 205| 28| 0,32] 0,56|14,20|14,29| 6,63| 3,15
. Imbezillität |
|
|
w y
(angeborene),
Idiotie und
Kretinismus .| 2778|
. Epilepsie mit
und ohne
Seelenstörun-
BONN: (02.000 3415| 1366| 404| 22811086) 311! 984| 39111,83/16,69)31,80 22,77| 28,81| 2,86
. Hysterie... 640| 1994| 37| 53| 103| 363| 57| 17| 5,78] 2,66/16,09|18,20| 8,91] 0,88
. Neurasthenie. | 2588| 1286] 16| 14| 379| 230| 88| 6| 0,62] 1,09114,64 17,88 3,40) 0,47
. Chorea... . 59 96| 31| 41| 11 9| — |— |52,54|42,71|18,64| 9,38) — —
Tabs» 50, ; 286 sa — | — | 25) 5 17 21 — | — | 874| 5,95 5,94) 2,38
. Andere
Krankheiten | |
des Nerven-
systems ... ..| 1789| 1100| 90| 75| 54| 41| 41| 9| 5,03] 6,82] 3,02) 3,73) 2,291 0,82
10. Alkoholismus | 4413| 3341 — | — | 752| 7044131334] — | — [17,0420,96|100,—|100,—
11, Morphinis-
mus u.andere | |
narkotische |
Vergiftungen 178 75 1| — 17 6 17| 2] 0,561 — | 9,55; 8,001 9,55; 2,67
12. Andere
Krankheiten. į 1109| 1225| 32| 42| 21| 20| 14| 4| 2,89| 3.43| 1,89| 1.63| 1,26| 0,33
Zusammen | 32 681| 22 709|1773|1231|7190|5062|8591|683| 5,43| 5,42 22,0 |22,29| 26,29| 3,01
1 888|1019| 673| 969| 577| 206| 18|36,68/35,65/34,88/30,56! 7,42| 0,95
A
DONU
C. Zeitschriftenschau.
Anormalenpädagogik.
Tatsachen.
Hübner, A. H., Pathologie und Therapie der Degeneration. Deutsche Med. Wochen-
schrift. 39, 20 (15. Mai 1913), S. 921—925.
Der Verfasser bezeichnet als Degenerierten einen Menschen, »der bei meist
intellektueller Durchschnittsbegabung eine hochgradige Labilität des Vorstellungs-
und Gefühlslebens, einen ungewöhnlich stark ausgeprägten Egoismus, gesteigertes
oder verringertes Selbstgefühl, Sprunghaftigkeit im Handeln und Denken darbietete.
Das Krankheitsbiid des Psychopathen wird mit wenigen Zügen treffend gezeichnet.
Die Erziehbarkeit der Degenerierten ist ein noch nicht vollständig gelöstes Problem.
Der Verfasser gibt einige treffliche Ratschläge, besonders auch, in welchen Fällen
C. Zeitschriftenschau. 57
vom Schulbesuch abzusehen ist (unsoziale Neigung, zu hohes Alter). Ländliche
Berufe bieten den Degenerierten mitunter (und wohl noch am ehesten) gute
Existenzmöglichkeiten.
Steiner, Gabriel, Über die Physiologie und Pathologie der Linkshändigkeit.
Münch. Med. Wochenschrift. 60, 20 (20. Mai 1913), S. 1098—1103.
Bei etwa 95°/, der Menschen ist die linke Großhirnhemisphäre, bei nur 5°/,
die rechte die prävalente. Es scheint daß diese beiden Überordnungstypen (linke
Hemisphäre über die rechte = Rechtser, rechte über die linke = Linkser) nicht
vollständig gleichwertig sind. »Mit Sicherheit ist bis jetzt festzustellen gewesen,
daß unter Linkshändern selbst, unter Kindern noch mehr wie unter Erwachsenen,
bedeutend mehr Stotterer, Stammler und andere Sprachgestörte ähnlicher Art sich
finden. Und entsprechend ließ sich zeigen, daß auch in der Verwandtschaft links-
händiger Menschen mehr Sprachstörungen vorkamen, als in der von rechtshändigen.«
Neben Sprachstörungen finden sich bei Dextrozerebralen (= Linkshändern) epilep-
tische Erscheinungen, vielleicht auch Taubstummheit und Farbenblindheit, ferner
Debilität und Entartungszeichen häufiger. Möglicherweise bestehen auch zwischen
Verbrechen und Linkshändigkeit Beziehungen. — Die Versuche, linkshändige Kinder
zu rechtshändigen umzugewöhnen, sind kaum von besonderen Erfolgen begleitet.
»Für den erwachsenen Menschen freilich wird die Ausbildung beider Hände zu
gleicher Geschicklichkeit keine Störungen der hemisphäralen Überordnung mehr nach
sich ziehen.«
Massnahmen.
Maier, Hans W., Die Verhütung geistiger Störungen. Schweizerische Blätter für
Schulgesundheitspflege. 11, 2 (Februar 1913), S. 23—27; 3 (Februar), S. 39—42.
Die Frage nach der Zunahme der Geisteskranken läßt sich nicht mit Sicher-
heit beantworten. Unter den Militärdienstuntauglichen der Schweiz ist ein langsames
konstantes Steigen wegen geistiger Störungen zu beobachten. Nach Schätzungen
des Verfassers dürften etwa 2!/,°/, der erwachsenen Bevölkerung geistig abnorm
sein, davon vielleicht '/, */, anstaltsbedürftig. Von den Ursachen der Geisteskrank-
heiten ist vor allem der Alkoholismus zu nennen: unter 4000 Kranken der Anstalt
Burghözli, die in 12 Jahren aufgenommen wurden, waren 650 wegen Alkoholismus
zur Internierung gekommen. Die Alkoholvergiftung setzt vielfach schon in frühester
Kindheit ein (Verabreichung von Schnaps an Kinder in vielen Schweizer Tälern,
während alle Milch verkauft wird). Zur Verhinderung der Fortpflanzung geistig
Defekter bestehen Heiratsverbote und Internierungsmöglichkeiten. Ratsamer ist die
Sterilisation nach amerikanischem Muster. Besonders wichtig sind alle Maßnahmen
zur Gesunderhaltung der Jugend.
Hoffmann, A., Gedanken und Erfahrungen zum Verbandsthema: Soziale Fürsorge
für die aus der Hilfsschule Entlassenen. Zeitschrift für die Behandlung Schwach-
sinniger. 33, 3 (März 1913), S. 57—64.
Bericht über die Fürsorge in Meißen, wo seit 1909 ein Fürsorgeausschuß be-
steht, dessen Tätigkeit näher beschrieben wird. Auch werden einige Ratschläge zur
Vermeidung von Fehlgriffen gegeben.
Fuchs, W., Schutz vor Irrsinn und Irren. Der Arzt als Erzieher. 9, 1 (1913),
8. 1—9.
Als prophylaktisches Mittel ist die Fürsorgeerziehung sehr wirksam. Sie
müßte aber besser gehandhabt und mehr »verärztlicht« werden. Auch das Problem,
wie geistig begabten Kindern ein soziales Aufsteigen zu ermöglichen ist, wird kurz
gestreift. Es werden dann speziell badische Anstaltsverhältnisse besprochen.
— nn
58 C. Zeitschriftenschau.
Schenk, Alwin, Was soll mit solchen unglücklichen Kindern geschehen, die zu
schwach sind, um an dem Unterrichte der Hilfsschule mit Erfolg teilnehmen zu
können? Die Hilfsschule. 6, 2 (Februar 1913), S. 34—37.
Der Wunsch, solche Kinder in Erziehungsanstalten unterzubringen ist praktisch
nicht immer durchführbar. Deshalb muß auch die Hilfsschule zu der Frage Stellung
nehmen. Die Hilfsschule soll eintreten für alle, die zu einer selbständigen Betätigung
im Leben gewonnen oder in besonderen Arbeiterkolonien doch nutzbringend ver-
wertet werden können. — Im einzelnen werden die Fragen auf dem 9. Hilfsschul-
tag in Bonn erörtert werden.
Major, Gustav, Bedürfen die Psychopathen besonderer Fürsorge und welcher?
Der Arzt als Erzieher. 9, 1 (1913), S. 9—12.
Eine solche Fürsorge ist dringend nötig. Zu empfehlen ist, aus den bestehen-
den Fürsorgeerziehungsanstalten eine abzusondern als Heilerziehungsheim für Psycho-
pathen (ganz so einfach geht die Sache aber wohl nicht!). Der Leiter soll päda-
gogisch-psychiatrisch ausgebildet sein.
Franke, Sind auf Grund der bisberigen Erfahrungen in der Fürsorgeerziehung be-
sondere Anstalten für Psychopathen notwendig? Der Rettungshaus-Bote. 33, 4
(Januar 1913), S. 74—79; 5 (Februar), S. 97—101.
Anlaß zu dem Aufsatz gaben die Untersuchungen Sieferts, die denn auch
mehrfach herangezogen wurden. Als Psychopathen betrachtet der Verfasser die
Zöglinge, deren Gefühls- und Wollensleben krankhaft stark belastet ist. Solche
leichteren Grades können in den Erziehungsanstalten erzogen werden, solche
schwereren Grades gehören in ärztlich geleitete Anstalten. Bei der Auswahl soll
aber der Erzieher mitreden. Kurz wird noch die Erziehungsaufgabe charakterisiert.
Am wichtigsten ist der Schlußsatz: »Wir sind damit einverstanden, daß die Psycho-
pathen in Anstalten untergebracht werden, die unter ärztlicher Leitung stehen.«
Schwenk, Arbeitskolonien für Schwachsinnige. Zeitschrift für die Behandlung
Schwachsinniger. 33, 3 (März 1913), S. 52—57.
Die Arbeit knüpft an die Idsteiner Anstaltsverhältnisse an und zeigt die Vor-
züge der Arbeitskolonien auf. — Vortrag auf der XIV. Konferenz des Vereins für
Erziehung, Unterricht und Pflege Geistesschwacher, September 1912.
Lazar, Erwin, Fürsorge für epileptische Kinder. Heilpädagogische Schul- und
Elternzeitung. 4, 1 (Januar 1913), S. 1—5.
Gegen eine allgemeine Internierung der Epileptiker sprechen verschiedene
Gründe. Anstaltsbehandlung ist notwendig, wenn ein sonst psychisch intaktes Kind
an häufigen Anfällen leidet. In Anstalten wären die Kinder von den Erwachsenen
vollkommen zu isolieren. Leicht epileptische Kinder könnten nach des Verfassers
Meinung ruhig in den öffentlichen Schulen belassen werden. Epileptische Schwach-
sinnige sind in jedem Falle den Anstalten zu überweisen.
Abramowski, Eleonore, Das Schwachsinnigen-Problem Jin England. Die Ge-
sundheitswarte. 10, 1912, 11, S. 261—264.
Nach einem Aufsatz von Kirby in »The Child«, 11. Januar 1912. — Be-
sonders befürwortet wird die Unterbringung schwachsinniger Kinder und Schul-
entlassener in ländlichen Kolonien, wo sie zugleich durch Absonderung an der Fort-
pflanzung verhindert werden können.
Saffiotti, M. Umberto, Die Erziehung der Abnormen in Italien. Eos. 9, 1
(Januar 1913), S. 34-44.
Als Abnorme bezeichnet der Verfasser die Kinder, die sich nicht gleich den
andern dem Schulmilieu anzupassen fähig sind. Vom praktischen Standpunkt aus
C. Zeitschriftenschau. 59
(der für die Organisation von Abnormen-Schulen allein in Betracht kommt) ist es
gefährlich, analytische Klassifikationen der verschiedenen Typen abnormer Schüler
auf Grundlage einer auf theoretischer Klassifikation möglichen Unterscheidung her-
zustellen. Vom pädagogischen Standpunkt aus empfiehlt sich die Einteilung in Ab-
norme der Intelligenz und in Abnorme des Charakters; daneben ist noch ein ge-
mischter Typus zu berücksichtigen. Vom praktischen Standpunkte aus ist in Italien
bisher fast nichts für eine konkrete und allgemeine Fürsorge für abnorme Schüler
geleistet. In allen Fällen ging die Initiative von privater Seite (Vereinen) aus.
Saffiotti bringt dann ausführliche Mitteilungen über die Organisation einer heil-
pädagogischen Klinik. Für die physio-psychologische Untersuchung der abnormen
Schüler wurde ein besonderer Plan aufgestellt, dem folgendes Schema zugrunde liegt:
1. Biographische Notizen.
2. Historische Notizen:
a) anamnestische,
b) pädagogisch-scholastische,
c) hereditäre.
3. Somatisch-beschreibende Notizen:
a) anthropometrische,
b) anthropologische.
4. Somato-funktionelle Notizen:
a) Untersuchung der Funktionen des vegetativen Lebens.
b) Untersuchung der Funktionen des Nervensystems:
aa) Beweglichkeit,
bb) allgemeine Sensibilität,
cc) spezifische Sensibilität,
dd) Sprache und Mimik.
5. Psychologisches:
a) im allgemeinen,
b) Tests: Binet-Simon,
c) Tests: de Sanctis.
Mit Treves zusammen stellte der Verfasser eine ange Reihe von Experimenten
mit der metrischen Intelligenzleiter an, die sich auf 406 Kinder im Alter von 6 bis
9 Jahren, 260 Kinder im Alter von 11—15 Jahren und 300 Kinder im Alter von
7—12 Jahren (aus einer anderen Klasse) erstreckten. Auf Grund dieser Experi-
mente kamen die Versuchsleiter zu der Überzeugung, »daß es unmöglich ist, die
Intelligenz nach dieser Methode zu messen, daß man den Grundgedanken Binets
‚einer unkultivierten Intelligenz‘ nicht akzeptieren kann, und endlich, daß die
Methode der von den Autoren vorgeschlagenen Schätzung weder gerecht noch psy-
chologisch begründet ist, nachdem sie auf Kompensationsnormen aufgebaut ist,
welche dahingehen, Individuen als vorgeschritten oder zurückgeblieben zu quali-
fizieren, welche es nicht sinde. Demgegenüber ist eine Gruppierung zu empfehlen,
die sich nicht auf die eigentliche Intelligenz, sondern mehr auf die Fähigkeit, sich
der intellektuellen Schularbeit anzupassen, bezieht. Die Methode von Binet-Simon
setzt der Gefahr aus, mental schwache, aber nicht ganz abnorme Kinder als zurück-
geblieben oder gänzlich abnorm zu bezeichnen. — In einem Schlußwort protestiert
8. noch einmal scharf gegen die Hilfsklassen, durch die man in Italien die Lösung
des ganzen Problems nur hinausziehen wolle: die Hilfsklassen sollten alle abnormen
Kinder aufnehmen, mithin die Anstalten ausschließen, und denselben Schulverwaltungs-
modalitäten unterworfen sein wie die gewöhnlichen Klassen.
60 D. Literatur.
Kielhorn, H., Von den Verfehlungen geistig zurückgebliebener Kinder. Deutsche
Elternzeitschrift. 4, 5 (1. Februar 1913), S. 71—72.
Die kurzen Ausführungen, die sehr allgemein gehalten sind, sollen dazu bei-
tragen, die geistig zurückgebliebenen Kinder sorgfältiger als bisher zu studieren und
ihnen eine sorgfältige Erziehung angedeihen zu lassen. Bei der Erziehung ist vor
allem auf gutes Vorbild Gewicht zu legen.
Rotter, Leopoldine, Das blinde Kind im vorschulpflichtigen Alter im öffent-
lichen Kindergarten. Eos. 9, 1 (Januar 1913), S. 44—51.
Das körperlich gesunde und geistig normale blinde Kind kann sehr wohl den
öffentlichen Kindergarten besuchen. Es ist aber ratsam, mit dem blinden Kinde so
wenig wie möglich Ausnahmen zu machen.
Bürklen, Karl, Blinde und taubstumme Kinder in der Volksschule. Öster-
reichischer Schulbote. 63, 2 (Februar 1913), S. 49—57.
In einzelnen Kronländern Österreichs besteht noch keine Möglichkeit, blinde
und taubstumme Kinder in Spezialanstalten unterzubringen. Diese Kinder haben
dann bis zum 14. Jahre die öffentliche Volksschule zu besuchen. Was in dieser
für viersinnige Kinder geleistet werden kann, wird kurz besprochen.
Freunthaller, Adolf, Die Grundlagen der Körperbildung und die Art ihrer
Durchführung an Taubstummeninternaten. Eos. 9, 1 (Januar 1913), S. 9—22.
Die Arbeit will aufklären über die Notwendigkeit einer rationellen Leibes-
erziehung für Taubstumme und deren Durchführung. Außerdem wird ein spezielles
Verfahren für die Heilung der typischen Schäden im Bewegungssystem aufgestellt.
Den Taubstummen muß das Internat eine gesunde Lebensführung ermöglichen, d. h.:
die Luft in den Aufenthaltsräumen muß stets atembar gehalten werden; die Sonne
muß ausgenutzt werden (periphere Lage, Sonnenbäder); die Ernährung muß alle
Bedürfnisse angemessen befriedigen; Arbeit und Ruhe müssen in richtigem Ver-
hältnis stehen; auf die Gesundheitspflege ist großer Wert zu legen (zweckent-
sprechende Belehrung der Eltern). Eine Reihe von Übungen dienen zur Hebung
der Konstitution. Außerdem ist ein spezielles orthopädisches Verfahren einzuleiten,
das insbesondere der Übung des Körpergleichgewichtes und der Körperenergie zu
dienen hat. Wenn möglich muß im Turnunterricht die Lautsprache verwandt werden.
Major, Gustav, Das Poltern der Kinder und seine Behandlung. Zeitschrift für
Schulgesundheitspflege. 26, 4 (April 1913), S. 249—253.
Die Behandlung ist nicht leicht, Sie muß frühzeitig einsetzen. Zu bedenken
ist, daß der Polterer dazu neigt, leicht andere Sprachgebrechen anzunehmen (Stottern,
Stammeln).
D. Literatur.
Ferrière, Adolphe, Biogenetik und Arbeitsschule. Heft 101 der »Beiträge
zur Kinderforschung und Heilerziehung«. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne
(Beyer & Mann), 1912. 72 8. 1,60 M.
Man wirft von den verschiedensten Seiten dem überlieferten Erziehungssystem
vor, daß es nicht genügend Rücksicht nehme auf die leibliche und geistige Eigenart
des Kindes, und daß es nicht auf das praktische Leben unserer Zeit vorbereite.
Und doch sei das dringendste Bedürfnis der Gegenwart ein doppeltes, nämlich
1. Anpassung an die natürlichen Entwicklungsgesetze des Kindes, um es 2. für den
D. Literatur. 61
Daseinskampf der Gegenwart vorzubereiten und auszurüsten. Wenn dieses Ziel er-
reicht werden soll, ist nach Ferrière folgendes erforderlich:
a) Man muß die allgemeinen Gesetze der geistigen Entwicklung bei den
Kindern kennen.
b) Man muß die besonderen Formen kennen, in welchen sich die geistige
Entwicklung, gerade bei den Kindern, vollzieht.
c) Man muß die Komplexe lebendigen Interesses, die im Kinde schon vor-
handen sind, benutzen, um sie auf weitere Kreise auszudehnen und dadurch Kräfte
in dem Zögling zu bilden, welche ihn dem Doppelziele der individuellen und der
praktisch-sozialen Bildung näher bringen.
d) Man muß das geeignetste Verfahren anwenden, sein Interesse neu zu
wecken, wach zu halten und anwachsen zu lassen für diejenigen Gebiete, welche
seinem Streben nach geistigem, sittlichem und sozialem Fortschritt die beste
Nahrung bieten.
e) Man muß endlich dieses Vorgehen und den allgemeinen Gang des Er-
ziehungswerkes den Bedürfnissen und Wünschen jeder Altersstufe anpassen.
Diese Forderungen lassen sich nur innerhalb der Organisation einer wirklichen
Arbeitsschule erfüllen, für die Ferrière einen eingehenden, wohldurchdachten
und interessanten Plan aufstellt, auf dessen Einzelheiten an dieser Stelle nicht
näher eingegangen werden kann. Aber es sei hervorgehoben, daß das Programm
dieser Arbeitsschule sich auf das psychologische Interesse des Kindes gründet,
dem die bestehenden Lernschulen bei weitem nicht in der erforderlichen Weise
Rechnung tragen. »Wir legen«, sagt Ferrière, »besonderen Nachdruck hierauf,
denn bis jetzt hat man in Deutschland zu wenig vom Interesse gesprochen. Das
Interesse ist etwas anderes und Besseres als die bloße ‚geistige Neugierde‘, welche
Herbart allein unter diesem Namen berücksichtigt. ... Mehr und mehr erkennt die
zeitgenössische Psychologie an, daß aller psychische und organische Fortschritt durch
die Aufmerksamkeit herbeigeführt wird; nicht durch eine Aufmerksamkeit ana-
Iytischer Art, welche zersetzt und ertötet, sondern durch diejenige Aufmerksamkeit,
die sich auf die Erreichung eines Zieles und die dazu erforderlichen Mittel richtet.
Nun ist die Aufmerksamkeit durch das Interesse bedingt und das Interesse selbst
durch die Bedürfnisse des Geistes, reicher und mächtiger zu werden«.
Eine große Rolle spielt in Ferriöre’s Arbeitsschule der Handfertigkeits-
unterricht, dem nicht nur eigene Stunden gewidmet werden sollen, sondern der
auch mit dem übrigen Unterricht überall verbunden werden soll. Die Bedenken, die
ich gegen diesen mit dem Lesen, Rechnen usw. verbundenen »Werkunterricht« habe,
und die ich mehrfach, so vor allem in meiner Schrift »Der Kampf gegen die Lern-
schule«, zum Ausdruck gebracht habe, hat auch Ferrière nicht in mir zu zerstreuen
vermocht. Dagegen bin ich entschieden für einen selbständigen, in besonderen
Stunden zu erteilenden Handfertigkeitsunterricht, und zwar für alle Schulen, niedere
wie höhere.
Aber man mag sich nun zu Ferrières speziellem Organisationsplan stellen, wie
man wolle, jedenfalls wird ein jeder zugeben müssen, daß seine Schrift eine Fülle
wertvollster kritischer und positiver pädagogischer Gedanken enthält, daß sie die
mancherlei Schäden des überlieferten Schulsystems richtig aufweist und sehr be-
achtenswerte Winke für ihre Beseitigung gibt und deshalb wärmste Empfehlung
verdient.
Hannover. Prof. Dr. Budde.
Queck-Wilker, Hanna, Ein erstes Lebensjahr. Beobachtungen an einem
Kinde nach Tagebuchaufzeichnungen mit Abbildungen nach photographischen Auf-
‚nahmen von Dr. Karl Wilker. Pädagogisches Magazin. Abhandlungen vom
Gebiete der Pädagogik und ihrer Hilfswissenschaften. 483. Heft. Langensalza,
Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1912. 80 Pf.
Es ist für das Forschen und Arbeiten der Kinderpsychologen wertvoll, wenn
Eltern die Entwicklung ihrer Kinder genau beobachten und das objektiv erworbene
Material in Tagebuchform veröffentlichen. Sind dann die Beobachtenden selbst
nicht fremd in der Literatur der Kinderseelenkunde, stellen sie ihre Beobachtungen
nach bestimmten, wissenschaftlich begründeten Gesichtspunkten an, so ist dies
62 D. Literatur.
Tagebuch als besonders brauchbar zu begrüßen. Ein solches liegt uns hier vor.
Hanna Queck-Wilker beobachtete im Sinne des Altmeisters Preyer, was ihr auch
auf den einzelnen seelischen Gebieten sehr gut geglückt ist. Besonders begrüße
ich auch die beigefügten photographischen Aufnahmen ihres Gatten als wertvolles
Material zur Psychologie der Ausdrucksbewegungen und Gefühle. Photo- und phono-
graphische Aufnahmen können nicht genug den Beobachtern empfohlen werden, da
dadurch augenblickliche Vorgänge, Zustände und Äußerungen fixiert und jederzeit
reproduzierbar gemacht werden.
Für eine leichtere Verwendbarkeit des guten Materials empfiehlt es sich, daß
sich die Verfasserin in ihren hoffentlich zu erwartenden anderen Heftchen der von
Sterns eingeführten Zeitbezeichnung (0,1) bedient und ein Sachverzeichnis anfügt.
Das stilistisch flott geschriebene Büchel ist für jede Mutter, die ihren Liebling
bewußter erziehen und »genießen« will, eine gute Vorlage; sieht sie doch darin die
Entwicklung eines gesunden, vernünftig erzogenen Kindes. Auch von hieraus be-
grüßen wir also die Veröffentlichung als eine wertvolle Bereicherung der Literatur
übers Kind.
Meißen i. Sa. Kurt Walther Dix.
Deutsche Fürsorge- Erziehungs - Anstalten in Wort und Bild. Heraus-
gegeben von Direktor P. Seiffert-Strausberg. Halle a. S., Carl Marhold, 1912.
I. Band. XIII und 722 Seiten. Mit 732 Abbildungen, Grundrissen und Plänen.
Preis: in Halbleder gebunden 30 Mark.
Beschreibungen von 206 deutschen Erziehungsanstalten enthält dieses Buch.
Und wenn man absieht von Berichten, wie sie der Verein zur Errichtung und Unter-
haltung von Kinderhorten in der Stadt Hannover bietet, oder auch von dem Bericht
über das Fürstbischöfliche Krüppelheim zum hl. Geist in Beuthen O.-S., dann hat
man es wohl durchweg mit Fürsorge-Erziehungs-Anstalten im engeren Sinne zu tun.
Und da ist es erfreulich zu sehen und zu hören, wie überall gearbeitet wird. Wer
dieses Buch studiert, der muß zu der Überzeugung kommen, daß es so arg doch
nicht in unseren Fürsorgeerziehungsanstalten aussieht, selbst dann nicht, wenn man
den Berichten mit einigem Skeptizismus gegenübersteht, weil sie ja durchweg von
Beteiligten selbst geschrieben sind. Wer sollte denn auch anders derartige Berichte
schreiben können? Wir sind noch nicht so weit, daß alle Anstalten von einer
Studienkommission nicht nur auf Stunden, sondern auf Tage und Wochen besucht
werden könnten, die dann einen Bericht schriebe, der alle Anstalten nach einheit-
lichen Gesichtspunkten beurteilte. Eine gewisse Einheitlichkeit wird man hier ver-
missen; denn dem einen schien es wichtig, ein Stück Geschichte zu bieten, und
das liegt ja auch nahe, wenn man daran denkt, daß viele der Anstalten in gewisser
Weise Prioritätsrechte zu wahren haben: der andere wieder wollte einen Ausschnitt
aus dem Leben geben; noch andere legten besonderen Wert auf die baulichen Ein-
richtungen. In diesem und jenem Bericht findet man auch wertvolle Angaben über
erziehliche Maßnahmen, über Lohn und Strafe. In einem andern findet man hin-
wiederum allgemein wertvolle Erörterungen, wie etwa die, daß sich leider noch oft
eine schädliche Verschleppung und Verzögerung bei der Einlieferung von der Für-
sorge bedürftigen Zöglingen geltend macht. Wertvoll wäre es auch gewesen, wenn
aus allen Anstalten Angaben über die Kosten für den einzelnen Zögling vorlägen,
wie sie sich ja vielfach finden.
Doch auch mit dem Gebotenen können wir vollauf zufrieden sein. Für den,
der das Buch recht zu nutzen weiß, birgt es eine ungeheure Fülle wertvollen
Materials, ganz einerlei, von welcher Seite er an die Materie herangeht, sei es als
Theologe oder Arzt, sei es als Jurist oder Nationalökonom. oder sei es endlich auch
als Architekt und Baumeister. '
Ein zweiter Band des Werkes ist bereits in Vorbereitung. Man wird ihm um
so begieriger entgegensehen, als er ein Verzeichnis sämtlicher Fürsorgeerziehungs-
anstalten und -vereine, sowie ein genaues Personen- und Sachregister für beide
Bände enthalten soll.
Den Mitgliedern des Allgemeinen Fürsorge-Erziehungs-Tages in Dresden (vom
24.—27. Juni 1912) konnte der Verlag keine größere Freude machen, als die war,
die er ihnen durch Überreichung dieses prächtigen Bandes gemacht hat.
Jena. Karl Wilker.
D. Literatur. 63
Kirmsse, Max, Weise’s Betrachtungen über geistesschwache Kinder.
Heft 97 der »Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung«. Langensalza,
Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1911. 97 8. 1,50 M.
Der Aufschwung, den die pädagogische Pathologie seit 2 Jahrzehnten zu ver-
zeichnen hat, läßt es begreiflich erscheinen, daß wir den Blick auch rückwärts
wenden; und da finden wir ganz erfreuliche Ansätze, die seinerzeit wenig beachtet
worden und bald in Vergessenheit geraten sind. Weise’s »Betrachtungen«, 1820
erschienen, muten uns in manchen Teilen ganz modern an, und wir können heute
noch von dem alten Meister lernen (S. 27--43). Die Schrift wurde 1821 ins
Holländische übersetzt und vom Übersetzer, Schulinspektor Visser, mit Anmerkungen
versehen, die uns in deutscher Bearbeitung auf S. 44—65 der vorliegenden Schrift
geboten sind. Die Lebensbeschreibung Weise's (S. 1—26) gibt interessante Einblicke
in die Schulverhältnisse am Anfang des vorigen Jahrhunderts. Ein Anhang: »Zur
Geschichte der erziehlichen Behandlung Schwachsinniger« (66—97) ist das Ergebnis
fleißiger Forscherarbeit, wäre aber vielleicht besser gesondert erschienen.
Stuttgart-Böblingen. M. Glück.
Stöhr, Adolf, Psychologie der Aussage. Berlin, Puttkammer & Mühlbrecht,
1911. 189 5. 3,60 M.
Es ist zweifellos nicht ganz richtig, wenn man meistens so tut, als sei die
Aussagepsychologie erst ein Kind der letzten Jahrzehnte, denn schon in den Beweis-
regeln, welche sich im Laufe der Jahrhunderte in der gerichtlichen Praxis heraus-
gebildet hatten, steckt ein gut Teil von praktischer Aussagepsychologie, und wer
einmal Jahrgänge älterer kriminalistischer Zeitschriften aus den ersten Dezennien
des vorigen Jahrhunderts durchblättert hat, der wird eine von den wenigsten ge-
ahnte Fülle von aussagepsychologischen Einzelbemerkungen sowohl als auch von
Abhandlungen im Anschluß meistens an praktische Fälle finden. Die methodische
Beobachtung der Aussage, namentlich auch der Versuch, sie experimentell zu er-
forschen, gehört freilich erst den letzten beiden Jahrzehnten an. Bezeichnender-
weise hat sich außer dem Psychologen William Stern wieder ein Jurist das
Hauptverdienst um die Aussageforschung erworben, Professor Dr. Hans Groß, der
früher Jahre lang Untersuchungsrichter und erkennender Strafrichter war. Denn
wohl nirgends tritt die praktische Bedeutung der Aussageforschungen erkennbarer
hervor als gerade in der gerichtlichen Praxis. Bisher allerdings sind die Resultate
im ganzen mehr negativer als positiver Art, da uns die Aussagepsychologie nur
zeigt, wie trüglich die Aussage ist, wie leicht auch der Sachverständige und der
Richter dem Irrtum unterworfen ist, was man zu vermeiden hat, um die Fehler-
quellen nicht noch zu erhöhen. Die positive Bedeutung der Aussagepsychologie für
die gerichtliche Praxis ist heute noch gering, wird aber in Zukunft aller Wahr-
scheinlichkeit nach bedeutend größer werden, so insbesondere durch den Ausbau
der Tatbestandsdiagnostik usw.
Heute ist die Aussagepsychologie noch nicht imstande, dem Richter sichere
Handhaben zu bieten, da ihre Ergebnisse noch keineswegs als gesichert angesehen
werden können, da sich erhebliche Unterschiede und selbst diametrale Gegensätze
zwischen den Resultaten der einzelnen Forscher ergeben. Dies geht auch klar aus
dem Überblick hervor, welchen Stöhr über die bisherigen Ergebnisse gibt. Für
den Juristen, namentlich den psychologisch nicht geschulten, ist sein Buch nicht
immer leicht zu lesen, da es ihn durch die Fülle der psychologischen Gesichts-
punkte und des Materials, das die Hervorhebung der leitenden Gesichtspunkte er-
schwert, leicht verwirrt; auch nimmt die Darstellung Stöhrs auf den juristischen
Gesichtspunkt nicht immer genügend Rücksicht. Wer sich für die Stellung des
Juristen zur Frage der Aussagepsychologie interessiert, der sei auf den schönen
Aufsatz von Boden über »Die Psychologie der Aussage« in der »Monatsschrift für
Kriminalpsychologie« (Bd. 9, S. 668 ff.) zur Ergänzung des Stöhrschen Buches
verwiesen. Wer wiederum den Zusammenhang der Aussagepsychologie mit den
übrigen Gebieten der forensischen Psychologie kennen lernen möchte, wird das
Büchlein von Reichel über »Forensische Psychologie« (München 1910) mit Inter-
esse lesen, und wer endlich den Zusammenhang der forensischen Psychologie mit
den übrigen Anwendungsgebieten der Psychologie nicht aus den Augen verlieren
64 D. Literatur.
möchte, sei warm auf die fesselnden Ausführungen von Marbe über »Die Bedeutung
der Psychologie für die übrigen Wissenschaften und die Praxis« in seinen »Fort-
schritten der Psychologie und ihren Anwendungen« aufmerksam gemacht. Daß die
Psychologie künftig bei der Vorbildung der Juristen eine bedeutende Rolle spielen
wird, kann nicht dem geringston Zweifel unterliegen (vergl. darüber Stern »Die
Psychologie und die Vorbildung der Juristen« in der »Zeitschrift für angewandte
Psychologie«, Bd. 7, S. 70 ff.); es wäre aber sehr erwünscht, wenn die ersten
Keime zu einem psychologischen Verständnis und Interesse bei den künftigen
Juristen schon in der Schule geweckt werden würden.
Berlin-Friedenau. Dr. Albert Hellwig.
Heinecker, W., Das Problem der Schulorganisation auf Grund der
Begabung der Kinder. Heft 113 der »Beiträge zur Kinderforschung und
Te Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1913.
3 S. 1,50 M.
Zwei Probleme sind es in der Hauptsache, die zur wissenschaftlichen Richtig-
und Sicherstellung unserer heutigen Schulorganisation einer gründlichen Erörterung
bedürfen. Einerseits ist es das Problem von der Verschiedenheit der Schüler-
begabung, und andererseits das der vorhandenen Bildungsbedürfnisse für die ver-
schiedenen Milieu-Schichten. Vor das erste Problem stellt uns der Verfasser in
seiner Dissertation, die Prof. Rein ihre Anregung verdankt. Seiner Behauptung
(S. 63) entsprechend: »Der Wert der Differenzierung ist empirisch nicht festzu-
stellen; er ist nur theoretisch erfaßbar«e — veröffentlicht Verfasser zur Beweis-
führung seiner Aufgabe nicht zahlenmäßige Feststellungen aus dem Gebiete der
exakten Begabungsforschung, auch nicht etwa Vorschläge zu wirklichen Schul-
reformen; ihm liegt vielmehr daran, das viel erörterte, in steter Entwicklung be-
griffene Arbeitsgebiet des bekannten Mannheimer Stadtschulrates, sowie seiner Vor-
gänger und Nachfolger in das Gebiet wissenschaftlicher Erforschung zu rücken. Zu
diesem Zwecke läßt er den Leser die Frage der Schüler-Auslese zunächst geschicht-
lich verfolgen von den Anfängen der Pädagogik an bis zur Gegenwart. Wir lernen
dabei die verschiedenen Lösungsversuche der Gliederung bei niederen und höheren
Schulen kennen. Sodann ermittelt Verfasser auf dem Wege der Analyse die
wissenschaftlichen Bedingungen, unter denen eine einigermaßen zw eckmäßige” Lösung
erfolgen kann. Es werden mit anderen Worten die das System einer wissenschaft-
lichen Pädagogik ausmachenden didaktischen Prinzipien in Beziehung gesetzt zur
Notwendigkeit einer rationellen Schulgliederung. Sie, diese Prinzipien, sind es ja,
die allein den Maßstab zu einer wissenschaftlichen Beurteilung der unermüdlichen
Arbeit Dr. Sickingers abgeben können; sie eröffnen zugleich erst den Biick für die
vermeintlichen und wirklichen Schwierigkeiten seiner praktischen Durchführung;
sie lehren aber auch wiederum, daß das Bildungswesen, wenn es sich seiner Ab-
hängigkeit von der Psychologie bewußt bleibt, fortschreitend sich zu differenzieren hat.
Eine überraschend reichhaltige, alphabetisch geordnete Übersicht (S. 64—83)
von Hinweisen auf Abhandlungen, die das Problem der Schulorganisation auf Grund
der Begabung der Kinder, und insbesondere die Mannheimer Schulorganisation, zum
Gegenstande haben, beschließt die sehr lesenswerte Dissertation.
Halle, Saale. Dr. B. Maennel.
Kabitz, W., Neuere Untersuchungen über die Phantasie des Kindes.
Vortrag, gehalten im Breslauer Kindergartenverein. Breslau, Otto Gutsmann, 1913.
In einfacher Darstellung gibt der Vortrag einen Überblick über die neueren
Untersuchungen. In Fußnoten sind die Literaturnachweise angefügt; denn Kabitz
hat nicht das Bestreben, eigene neuere Untersuchungen zu bieten, sondern das, die
vorhandenen gemeinverständlich darzustellen.
Jena. Karl Wilker.
Verantwortliche Schriftleitung für Abhandlungen und Mitteilungen: Dir. J. Trüper,
Sophienhöhe b. ronn für Zeitgeschichtliches, Zeitschriftenschau und Literatur:
. Karl Wilker, Jena, Weißenburgstraße 27.
Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
KREBS SRSRS
: 308020 808082080808 en =
A. Abhandlungen.
1. Die Familie Kallikak.
Eine Studie über die Vererbung des Schwachsinns.
Von
Dr. phil. Henry Herbert Goddard, Director of the Research Laboratory
of the Training School at Vineland, New Jersey, for Feeble-minded Girls and Boys.
Berechtigte deutsche Übersetzung
von
Dr. phil. Karl Wilker-Jena.
(Fortsetzung.)
Zweites Kapitel.
Die Daten. z
Die Training School in Vineland hat vor zwei Jahren Hilfs-
arbeiterinnen (Rechercheure, »field workers«) angestellt. Es sind das
sorgfältig ausgebildete Frauen mit großer Menschenkenntnis und warmem
Interesse an den sozialen Problemen. Mehrere Wochen hindurch
werden sie in der Training School mit den Verhältnissen der Schwach-
sinnigen bekannt gemacht. Sie studieren alle Stufen, lernen ihre
Besonderheiten erkennen und machen sich mit den verschiedenen
Prüfungs- und Erkennungsmethoden bekannt. Dann begeben sie sich
mit einem Begleitschreiben des Direktors in die Heimat der Kinder
und bitten da, daß ihnen alle irgend zugänglichen Tatsachen zugäng-
lich gemacht werden, damit wir das betreffende Kind noch mehr
kennen lernen und noch besser imstande sind, für es zu sorgen und
es sorgfältig zu erziehen.
Bisweilen konnten alle erforderlichen Informationen aus einer
zentralen Quelle erlangt werden. Häufiger mußten aber, besonders
wo die Eltern selbst defekt waren, viele Besuche in anderen Familien
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 5
66 A. Abhandlungen.
gemacht werden. Die Eltern veranlaßten unsere Hilfsarbeiterinnen
oft, nahe und ferne Verwandte zu besuchen, oder auch Dienstherren,
Nachbarn, Lehrer, Ärzte, Geistliche, Armenaufseher, Armenhausdirek-
toren usw. Sie mußten ausgefragt werden, und alle so erlangten
Nachrichten mußten bewertet und viele von ihnen durch wiederholte
Besuche an derselben Stelle bekräftigt werden, ehe eine besondere
Übersicht über die hereditären Verhältnisse eines einzigen Kindes
angefertigt werden konnte.
Zur Feststellung des geistigen Zustands von Personen früherer
Generationen, das heißt also, ob sie schwachsinnig waren oder nicht,
verfährt man in derselben Weise, wie man den Charakter eines
Washington oder eines Lincoln oder sonst irgend eines Mannes aus
der Geschichte bestimmt. Wenn irgend möglich nimmt man seine
Zuflucht zu Originaldokumenten. Wenn es sich um defekte Personen
handelt, liegen natürlich nicht viele derartige Dokumente vor. Oft-
mals ist ihr Fehlen da, wo sie erwartet werden könnten, an sich be-
zeichnend. Z. B. ist das Fehlen einer Heiratsurkunde oft ebenso
typisch wie ihr Vorhandensein. Im allgemeinen wohl zu erlangen
ist eine Urkunde oder eine Erinnerung, ein Andenken daran, wie die
Person gelebt hat, wie sie sich führte, ob sie imstande war, ihren
Lebensunterhalt selbst zu verdienen, ob sie ihre Kinder aufzog, wie
ihr Ansehn in der Gemeinde war. Die so zusammengebrachten Tat-
sachen reichen oft schon aus, mit einem hohen Grade von Genauig-
keit zu bestimmen, ob das betreffende Individuum normal war oder
nicht. Bisweilen ist der Zustand mitbestimmt durch das Vorhanden-
sein anderer Faktoren. Wenn ein Mann ein starker Alkoholiker war,
ist es z. B. fast unmöglich, zu bestimmen, ob er auch schwachsinnig
war. Denn gewöhnlich erklären die Berichte, daß sein einziger Fehler
der war, daß er immer betrunken war. Und dann heißt es weiter:
er wäre ein ganz tüchtiger Kerl gewesen, wenn er nur nüchtern ge-
wesen wäre. Das mag wahr sein! Aber andrerseits ist es ganz gut
möglich, daß er schwachsinnig war.
Nach einiger Erfahrung bekommen die Hilfsarbeiterinnen Geschick,
über die Konstitution von Personen, die sie nicht sehen, Schlüsse zu
ziehen aus dem Vergleich der zu ihrer Beschreibung benutzten Aus-
drücke mit den Ausdrücken, die zur Beschreibung von Personen, die
sie sahen, verwandt wurden.
In Deborahs Fall war die zuerst besuchte Frau die einzige, die
sich für das Kind und seine Mutter interessiert hatte, als letztere ihr
Kindchen gerade geboren hatte. Von dieser Frau erfuhren wir die
Goddard- Wilker: Die Familie Kallikak. 67
im ersten Teile dieser Beschreibung wiedergegebene Geschichte von
Deborahs Mutter. Beziehungen, die uns von ihr verschafft wurden,
führten bald zu weiteren Entdeckungen. Die jetzige Familie lebte, wie
wir fanden, 20 Meilen von ihrem angestammten Hause, von dem wir
später erfahren werden. Die Gegend bot weder die schmutzigen
Gassen einer Großstadt noch die wilde Einöde einer weit abgelegenen
Landgemeinde, sondern es war eine reich bevölkerte Ackerbau-Gegend,
einer der besten Distrikte des Staates. Genau und sorgfältig angestellte
Ermittelungen in der kleinen Stadt und unter den Farmern der Gegend
ergaben, daß die Familie immer berüchtigt gewesen war wegen der
großen Zahl defekter und verbrecherischer Personen, die sie hervor-
gebracht hat. Diese Offenkundigkeit ermöglichte es, sie bis auf nicht
weniger als sechs Generationen zurückzuverfolgen.
Es wurde beschlossen, einen Überblick über die ganze Familie
anzufertigen und soweit möglich die Konstitution jeder Person in
jeder Generation aufzudecken.
Überraschend und erschreckend war dabei, daß, wohin wir den
Spuren nachgingen — in den günstigen ländlichen Distrikt; in den
Großstadtspelunken, in die einige verschlagen waren; oder in ab-
gelegenen Berggegenden; und ganz einerlei, ob es sich um die zweite
oder sechste Generation handelte —, überall eine ganz erschreckende
Defektivität gefunden wurde.
Im Verlaufe der Recherchen über versehiedene Mitglieder der
Familie fand sich unsere Hilfsarbeiterin gelegentlich mitten in einer
guten Familie gleichen Namens, die anscheinend in keinerlei Weise
mit dem Mädchen, dessen Ahnen wir nachspürten, verwandt war. In
solchen Fällen blieb nichts anderes übrig, als den Rückzug anzutreten
und in einer anderen Richtung wieder loszugehen. Diese Fälle wurden
jedoch so häufig, daß wir allmählich zu der Überzeugung gelangten,
daß unsere Familie ein degenerierter Ausläufer einer älteren Familie
besseren Stammes sein müsse Wir gingen schließlich daran, den
Punkt festzustellen, an dem die Trennung erfolgt sein mußte. Ein
über das andere Mal wurde die Untersuchung in schierer Verzweiflung
aufgegeben, da es unmöglich schien, absolute Beweise aufzufinden
oder die erforderlichen Verbindungsglieder in die Beweiskette einzu-
fügen. Dann warfen einige neu entdeckte Tatsachen, die oft ganz
unerwartet kamen, neues Licht auf die Situation, und die Arbeit
wurde wieder aufgenommen.
Der Ururgroßvater Deborahs war Martin Kallikak. (Wir bemerken
hier nochmals, daß alle Namen, sowohl Vornamen wie Zunamen, er-
5*
68 A. Abhandlungen.
dichtet sind.) Das wußten wir. Wir hatten auch die gute Familie,
auf die vorher angespielt wurde, zurückverfolgt bis zu einem Vor-
fahren, der zu einer älteren Generation als dieser Martin Kallikak
gehörte, aber denselben Namen trug. Er war der Vater einer großen
Familie. Sein ältester Sohn hieß Frederick. Ein Sohn mit Namen
Martin existierte nicht. Konsequenterweise ließ sich keine Verbindung
herstellen. Viele Monate später erhellte eine Enkelin Martins in zu-
traulicher Weise die Situation. Sie erzählte uns (und das wurde
später vollauf wahr befunden), daß Martin einen Halbbruder Frederick
hatte. Einen eigentlichen Bruder habe Martin nie gehabt, »weile,
wie sie sich ganz naiv ausdrückte, »seine Mutter, wie Sie ja sehen,
ihn schon hatte, ehe sie verheiratet ware. — Eine gründliche Unter-
suchung von Martin Kallikak seniors Leben, die durch gut aufgehobene
Familienurkunden ermöglicht wurde, setzte uns in den Stand, die Ge-
schichte zu ergänzen.
Als Martin Kallikak senior aus der guten Familie ein Bursche
von 15 Jahren war, starb sein Vater und hinterließ ihn ohne elter-
liche Pflege und Aufsicht. Eben bevor er großjährig wurde, gesellte
sich der junge Mann zu einer der zahlreichen Militärabteilungen, die
zum Schutze des Landes zu Beginn der Revolution gebildet wurden.
In einem der Wirtshäuser, die durch die Miliz zahlreich besucht
wurden, traf er ein schwachsinniges Mädchen, durch das er der Vater
eines schwachsinnigen Sohnes wurde. Das Kind erhielt von seiner
Mutter des Vaters vollen Namen, und so wurde der Nachwelt des
Vaters Namen und der Mutter geistiges Vermögen überliefert. Dieser
uneheliche Knabe war Martin Kallikak junior, der Ururgroßvater
unserer Deborah. Von ihm stammen 480 Abkömmlinge 143 von
ihnen = 29,8°/, waren oder sind — dafür haben wir entscheidende
Beweise — schwachsinnig, während nur 46 = 9,6°/, normal befunden
wurden. Der Rest ist in dieser Hinsicht unbekannt oder zweifelhaft.
Unter diesen 480 Deszendenten waren
unehelich. . . . 2.2..2...386=75%
unsittlich, zumeist Prostituierte . 33 = 6,9 „,
nachweislich Alkoholiker . . . 24= 5,0 ,„
Epileptiker . . 2. 2 .2.2.2...93=06 .
kriminell. . . a ia DENG
82 von ihnen = 16,7 0/, starben in früher Kindheit. 8 = 1,7%),
besaßen Häuser von schlechtem Ruf.
Diese Leute haben in andere Familien von im allgemeinen gleichen
Typus hineingeheiratet, so daß wir jetzt Protokolle und Aufzeichnungen
über 1146 Individuen haben.
Goddard- Wilker: Die Familie Kallikak. 69
In dieser großen Gruppe fanden sich nach unseren Feststellungen
262 = 22,9°/, schwachsinnige Individuen, während 197 = 17,2°/ als
normal befunden wurden. Die bleibenden 581 = 50,7°/, sind un-
bestimmt. 1) (»Unbestimmt«, so wie es hier gebraucht wird, bezeichnet
nicht, daß wir über die Person nichts wissen, sondern nur, daß
wir darüber nicht entscheiden konnten. Es sind Leute unter den
so bezeichneten, die wir kaum als normal betrachten können. Oftmals
können sie nicht auf die Bezeichnung »gute Glieder der Gesellschaft«
Anspruch erheben. Aber es ist sehr schwierig, ohne weitere Tat-
sachen zu entscheiden, ob der Zustand, den wir fanden, oder von
dem wir erfuhren, im Komplexe älterer Generationen wirklich ein
solcher echten Schwachsinns ist oder war.)
Im Jahre 1803 heiratete Martin Kallikak junior, sonst auch unter
dem Namen »Old Horror«e bekannt, Rhoda Zabeth, eine normale
Frau (Figur Il). Sie hatten zehn Kinder, von denen eins früh starb.
Ein anderes starb bei der Geburt mit seiner Mutter. Von denen,
die am Leben blieben, war das älteste Millard, der direkte Vorfahr
unserer Deborah. Er heiratete Alther Haight. Sie hatten fünfzehn
Kinder.
Der nächste Sohn von Martin junior war Nathan, in seiner Ge-
meinde bekannt als »Daddy« (Figur II).2) Er starb im hohen Alter
von 93 Jahren. Er war Vater von sechs Kindern. Einer seiner
Söhne war ein Pferdedieb, der auch eine Schafherde stahl, die der
Besitzer ganz arglos forttreiben half. Drei andere Kinder »Daddys«
heirateten und hatten auch Kinder. Sie alle bilden Familien, über
deren geistiges Vermögen schwer zu entscheiden ist. Sie weisen
eigentümliche Züge auf, sind aber achtenswerter als einige andere
Zweige dieser Familie. Ein Kind starb. Das sechste Kind, eine
Tochter, ist schwachsinnig und unsittlich. Sie heiratete einen schwach-
sinnigen Alkoholiker. Von ihren sechs Kindern sind wenigstens zwei
schwachsinnig. Ob ihr Gatte der Vater aller dieser Kinder ist, er-
scheint sehr zweifelhaft. Unsittlichkeit und Alkoholismus herrschen
in dieser Familie vor. Einer der Söhne heiratete eine schwachsinnige
Frau, die aus schwachsinnigem Geschlecht stammte. Sie hatten sechs
Kinder, die alle schwachsinnig waren. Eins von ihnen gehört dem
mongoloiden Typus an -— eine interessante Erscheinung, die zeigt,
1) Ein Rest von 9,2°/,, der sonach noch verbleibt, ist wohl früh verstorben
oder nicht ausfindig zu machen. K. W.
3) Es ist wichtig, diese Verwandtschaftsbeziehungen auf den Stammbäumen
bis ins einzelne zu verfolgen. Goddard.
70 A. Abhandlungen.
daß diese besondere Form von Entwicklungshemmung einem in einer
defekten Familie begegnet. !)
Martin juniors drittes Kind war James (Figur II), der aus seiner
Heimat auswanderte. Von ihm wissen wir nichts.
Martin juniors viertes Kind, »Old Sal« (Figur IV), war schwach-
sinnig und heiratete einen schwachsinnigen Mann. Zwei ihrer Kinder
sind unbestimmt; aber eins von diesen hatte wenigstens ein schwach-
sinniges Enkelkind. Das andere Kind, ein Alkoholiker, hatte drei
schwachsinnige Enkelkinder, von denen eins in der Training School
zu Vineland ist. Dies Kind ist eine Cousine Deborahs — eine Tat-
sache, die erst durch diese Untersuchung bekannt wurde. Die beiden
anderen Kinder »Old Sals« waren schwachsinnig, heirateten schwach-
sinnige Frauen und hatten große Familien mit schwachsinnigen Kindern
und Kindeskindern, wie aus den Figuren zu ersehen ist.
Das fünfte Kind Martin juniors war Jemima (Figur V), schwach-
sinnig und unsittlich. Sie lebte mit einem schwachsinnigen Manne,
namens Horser, zusammen, mit dem sie vermutlich verheiratet war.
Von ihren fünf Kindern waren drei schwachsinnig, zwei unbestimmt.
Von diesen stammen wieder eine große Zahl schwachsinniger Kinder
und Kindeskinder. Jemima hatte einen unehelichen Sohn vun einem
Manne, der eine hohe Stellung im Staatsdienst bekleidete. Dieser
Sohn heiratete ein schwachsinniges Mädchen. Sie hatten schwach-
sinnige Kinder und Enkelkinder.
Das sechste Kind Martin juniors, bekannt als »Old Moll«e, war
schwachsinnig, Alkoholikerin, epileptisch und unsittlich (Figur V]).
Sie hatte drei uneheliche Kinder, die ins Armenhaus geschickt wurden,
von wosie zu benachbarten Farmern entliefen. Eins von ihnen zeigte
sich normal, eins war schwachsinnig und das andere unbestimmt. Die
beiden ältesten hatten keine Kinder. Das dritte Kind, eine Tochter,
war tuberkulös. Von ihren Nachkommen ist weiter nichts bekannt,
als daß mehrere Kinder und Enkelkinder vorhanden waren.
1) „Der Umstand, daß die Degeneration eigentlich schon angeboren erscheint,
legt die Frage nach der Erblichkeit nahe. Tatsächlich wird bei manchen Fällen be-
richtet, daß in der Familie geisteskranke und dazu idiotische Verwandte vorkamen.
Auch die Tuberkulose ist in solchen Familien verbreitet. Beachtenswert ist aber
weiterhin, daß oft die Eltern zur Zeit der Geburt schon ziemlich alt waren, vor
allem die Mutter um 40 Jahre oder mehr, und dann, daß ein beträchtlicher Alters-
unterschied zwischen den beiden Eltern besteht. Nicht selten ist das mongoloide
Kind das letztgeborene einer großen Reihe von normalen Geschwistern, vereinzelt
freilich auch ist ein erstgeborenes mongoloid.«e Weygandt, Artikel »Mongolismus«
in »Enzyklopädisches Handbuch der Heilpädagogik« (Halle a. S., Carl Marhold, 1911),
Sp. 1110—1115. K. W.
Goddard - Wilker: Die Familie Kallikak. 71
Das siebente Kind Martin juniors war eine Tochter Sylvia (Figur VII)
die eine normale Frau zu sein schien. Sie wurde sehr jung in eine
gute Familie aufgenommen, die sie sorgfältig aufzog. Sie heiratete
später einen normalen Mann. Wenn wir sie auch als normal be-
zeichnet haben, so war sie doch immer etwas eigentümlich. Alle ihre
Kinder und Enkelkinder waren oder sind unbestimmt.
Das jüngste Kind Martin juniors, das lebte und aufwuchs, war
Amy Jones. Sie war auch normal (Figur VII). Sie wurde gleich-
falls in eine gute Familie aufgenommen und heiratete später einen
normalen Mann. Sie erreichte ein hohes Alter. Zwei von Amys
Kindern starben klein. Von den zwei anderen war eins normal und
eins schwachsinnig. Das letztere heiratete einen normalen Mann. Sie
hatten eine schwachsinnige und unsittliche Tochter; fünf andere Kinder
sind unbestimmt.
Wir wenden uns jetzt wieder zu Martin juniors ältesten Sohne
Millard (Figur IX), um die Geschichte seiner Abkömmlinge zu ver-
folgen, von denen unser Mädchen Deborah ein Sproß ist.
Millard heiratete 1830 Althea Haight. Sie hatten fünfzehn Kinder,
geboren in den Jahren 1830, 1831, 1832, 1834, 1836, 1838, 1840,
1841, 1843, 1845, 1847, 1849, 1851, 1854, 1856. Die Mutter starb
1857.
Diese Mutter, Althea Haight, war schwachsinnig. Daß sie aus
einer schwachsinnigen Familie stammte, geht wohl daraus hervor, daß
sie wenigstens einen schwachsinnigen Bruder hatte. Von ihrer Mutter
erzählte man sich, daß »selbst der Teufel nicht mit ihr leben könnte.
Der schwachsinnige Bruder hatte sechs Kinder, von denen drei als
schwachsinnig bekannt waren. Er hatte sieben Enkelkinder, die
schwachsinnig waren, und nicht weniger als neun schwachsinnige
Urenkel. (Diese sind in den Stammbaum nicht miteingetragen.)
Das älteste Kind Millards und Altheas war eine Tochter, die sich
zu einer schwachsinnigen und unsittlichen Frau entwickelte. Sie hatte
mehrere Männer. Von ihren Kindern wurde nur eins alt genug, um
heiraten zu können. Dieses eine, eine Tochter unehelicher Geburt,
heirate einen Mann aus guter Familie, der allerdings Alkoholiker war.
Ihre Kinder sind alle unbestimmt, ausgenommen eins, das normal war.
Das zweite Kind Millards, eine Tochter, zeigte einen schlechten
Charakter. Wir kennen von ihr einen ehelichen und schwachsinnigen
Sohn, der ein schwachsinniges und unsittliches Mädchen heiratete. Sie
hatten vier Kinder, aber alle starben früh. Diese Frau war auch die
Mutter eines unehelichen Sohnes, der schwachsinnig und unsittlich war.
72 A. Abhandlungen.
Das dritte Kind Millards war Justin (Figur IX E), der Großvater
unserer Deborah. Über seine Familie werden wir später sprechen.
Gemäß der Mendelschen Regel müßten alle Kinder von Millard
Kallikak und Althea Haight schwachsinnig gewesen sein, weil die
die Eltern es waren. Die Tatsachen bestätigen soweit bekannt diese
Regel mit Ausnahme des vierten Kindes, einer Tochter, die in eine
gute Familie aufgenommen wurde und anscheinend zu einer normalen
Frau aufwuchs. Sie heiratete einen normalen Mann, und sie hatten
einen Sohn, der normal war. Er heiratete eine normale Frau, und
sie haben zwei Kinder, einen Knaben und ein Mädchen, die normal
sind und über der Durchschnittsintelligenz stehen.
Das fünfte Kind Millards, Albert, war schwachsinnig und starb
28 (25?) Jahre alt. Er war unverheiratet.
Das sechste Kind war Warren, der vier Kinder hatte, von denen
drei schwachsinnig waren. Sie waren von sehr zweifelhafter Moralität.
Alle drei hatten schwachsinnige Kinder. Eins von ihnen, Guß mit
Namen, war besonders liederlich und vielfach in eheliche Schwierig-
keiten verwickelt.
Das siebente Kind war Lavinia, die im Alter von 39 Jahren un-
verheiratet starb. Sie war in einer guten Familie aufgezogen und ließ
nie ein Charakteristikum, das Schwachsinn angezeigt hätte, erkennen.
Das achte Kind war Cordelia. Sie starb mit 9 Jahren. Ihre
Konstitution war unbekannt.
Das neunte Kind war Prince Er starb mit 4 Jahren.
Das zehnte Kind war Paula, schwachsinnig. Sie war verheiratet
und hatte vier Kinder. Ihr Mann und ihre Kinder sind unbestimmt.
Dazu kommt Gregory, das elfte Kind (Figur IX C). Er war
schwachsinnig und Alkoholiker. Er heiratete eine syphilitische Säuferin,
deren Geisteszustand schwer zu bestimmen ist. Sie hatten sieben
Kinder, von denen zwei schwachsinnig, syphilitisch, Alkoholiker und
unsittlich waren. Eins starb an Säuferwahnsinn, das andere an
chronischem Alkoholismus. Dieses letztere hinterließ eine lange Reihe
von Nachkommen. Die andern Kinder Gregorys starben jung, aus-
genommen eine Tochter, die ein schwachsinniges Enkelkind hat, das
nicht sprechen kann.
Das zwölfte Kind war Harriet, schwachsinnig, zweimal verheiratet,
aber kinderlos.
Das dreizehnte Kind, Sanders, ertrank als junger Mann. Er war
schwachsinnig und unsittlich, Alkoholiker.
Das vierzehnte Kind war Thomas, schwachsinnig, Alkoholiker
Goddard-Wilker: Die Familie Kallikak. 73
und unsittlich. Er war verheiratet und hatte eine Tochter, aber ihre
sowohl wie ihrer Mutter Konstitution ist unbekannt.
Das letzte Kind war Joseph (Figur IX D). Er war schwachsinnig.
Er heiratete seine erste Cousine, Eva Haight, die auch schwachsinnig
war. Sie hatten fünf Kinder, von denen zwei in früher Kindheit
starben, die übrigen schwachsinnig waren. Von ihren 19 Enkel-
kindern starben fünf klein, eins ist unbestimmt. Die übrigen 13 sind
alle schwachsinnig.
Millard Kallikak heiratete ein zweites Mal, und zwar eine normale
Frau, eine Schwester eines angesehenen Mannes (Figur IX A). Von
ihr hatte er drei Kinder. Zwei davon starben jung. Das eine, das
aufwuchs, war Alkoholiker und Syphilitiker. Er lief später mit dem
Weibe seines Neffen weg, der mit ihm gleichaltrig war. Seine geistige
Konstitution ist unbestimmt. Er kam wenige Jahre später durch einen
Unfall um.
Wir wenden uns nun zu dem dritten Kinde dieser Familie, zu
Justin Kallikak, dem Großvater unserer Deborah (Figur IX E). Er
war schwachsinnig, Alkoholiker und unsittlich. Er heiratete Emmie
Barrah, die zu einer Familie von trägem Geisteszustand gehörte. Ihre
Mutter und ihr Großvater väterlicherseits waren schwachsinnig. Der
Großvater hatte einen Bruder, der auch schwachsinnig war. Dieser
Bruder hatte wenigstens sechs Abkömmlinge, die auch schwachsinnig
waren. Der Vater hatte gleichfalls einen schwachsinnigen Bruder,
der elf Kinder, Enkelkinder und Urenkelkinder hatte, die schwach-
sinnig waren (in den Stammbäumen nicht gezeichnet).
Die Kinder von Deborahs Großeltern Justin und Emmie waren:
Martha, die Mutter unserer Deborah, deren Lebensgeschichte schon
teilweise mitgeteilt ist. Diese Frau hatte vermutlich, ehe Deborah
geboren wurde, drei uneheliche Kinder. Sie starben früh. Die nächst
jüngere Halbschwester Deborahs wurde, als sie noch sehr jung war,
von einem Wohltätigkeitsverein übernommen. Aus den Protokollen
über sie erfahren wir, daß sie in fünf Jahren in dreizehn verschiedenen
Familien untergebracht war und überall »unmöglich« gefunden wurde.
In einer dieser Familien setzte sie die Scheune in Brand. Als unsere
Hilfsarbeiterin sie fand, war sie zu einem zwanzigjährigen hübschen,
anmutigen, aber geistig trägen Mädchen herangewachsen. Sie war
bereits dem ihr von ihrer Mutter eingepflanzien Instinkt gefolgt und
sollte einem unehelichen Kinde das Leben geben. Sie wurde in ein
Hospital geschickt. Das Kind starb, und das Mädchen wurde dann
für immer in einem Heim für Schwachsinnige untergebracht. Ein
74 A. Abhandlungen.
Bruder dieses Mädchens wurde in Familienpflege gegeben. Als er
noch nicht 16 Jahre alt war, starb seine Pflegemutter, und ihr Gatte
heiratete wieder. So war der Knabe dem Geratewohl preisgegeben.
Da er gut erzogen war und angenehme Umgangsformen zeigte, fand
er leicht eine Anstellung. Schlechte Gesellschaft führte jedoch bald
zu seiner Entlassung. Er geriet jetzt von einer in die andere
Großstadt. Es erfordert keine Prophetengabe, seine Zukunft voraus-
zusagen.
Die übrigen Halbbrüder und -schwestern Deborahs leben augen-
blicklich bei der Mutter und ihrem zweiten Manne. Die ältesten drei
von ihnen sind deutlich schwachsinnig. Zwischen ihnen und den
beiden jüngeren Kindern liegen noch eine Totgeburt und eine Fehl-
geburt. Die kleineren Kinder scheinen normal zu sein, geben auch
für ihr Alter normale Tests. Aber man ist wohl zu der Annahme
berechtigt, daß sie, wenn sie älter werden, dieselben Defekte ent-
wickeln wie ihre Geschwister.
Außer Deborahs Mutter hatten Justin und Emmie noch zehn
andere Kinder, von denen sechs früh starben. Eine Tochter, Margareth,
wurde von einer guten Familie aufgenommen, als sie noch ganz klein
war. Im Alter von etwa 13 Jahren besuchte sie für wenige Wochen
ihre Eltern. Während ihre Mutter auf Arbeit war, beging ihr Vater,
ein viehischer Trunkenbold, Blutschande mit ihr. Als das ihren
Adoptiveltern bekannt wurde, wurde sie ins Armenhaus geschafft.
Das dort geborene Kind starb bald, und sie wurde wieder in die
Familie aufgenommen, in der sie früher gelebt hatte. Die Sorgfalt,
mit der sie hier gehegt wurde, ließ nicht zu, daß sie ein lasterhaftes
Weib wurde. Obgleich von träger Geistesbeschaffenheit war sie eine
gute und heitere Arbeiterin. Als sie 35 Jahre alt war, heiratete sie
einen angesehenen Handwerker, hatte aber keine Kinder von ihm.
Eine andere Tochter, Abigail, war schwachsinnig. Sie heiratete
einen schwachsinnigen Mann, von dem sie zwei schwachsinnige Kinder
bekam. Ein drittes Kind starb früh. Später heiratete sie einen
normalen Mann. Das nächste Kind Justins und Emmies war der
schwachsinnige Beede. Der heiratete ein Mädchen, das ihn verließ,
ehe ihr Kind geboren war. Er lebt gegenwärtig mit einem sehr tief-
stehenden unsittlichen Weibe zusammen.
Das jüngste Kind Justins und Emmies war ein Sohn, Gaston,
schwachsinnig und ein Pferdedieb. Er zog in eine entfernt gelegene
Stadt, wo er heiratete. Er hat ein Kind. Der Geisteszustand von
Mutter und Kind ist unbestimmt.
Goddard- Wilker: Die Familie Kallikak. 75
Das ist die schauerliche Geschichte der Abkömmlinge Martin
Kallikak seniors von dem namenlosen schwachsinnigen Mädchen her.
Wenn auch Martin weder dem Mädchen noch ihrem Kinde weitere
Aufmerksamkeit zollte, so hatte und hat doch die Gesellschaft große
Summen zu zahlen für all das Übel, das er hervorbrachte.
Als Martin senior die Revolutionsarmee verließ, wurde er ein
tüchtiger Mann und heiratete ein angesehenes Mädchen guter Ab-
stammung. Aus dieser Verbindung stammt eine andere Reihe von
Abkömmlingen völlig anderen Charakters. In direkter Deszendenz
zählen sie jetzt 496 Angehörige. Sie alle sind normale Menschen.
Nur drei Männer fanden sich unter ihnen, die etwas degeneriert, aber
nicht defekt waren. Zwei von diesen waren Alkoholiker, der andere
war ein sittlich lockerer Mensch.
Alle ehelichen Kinder Martin seniors heirateten in die besten
Familien ihres Staates, Abkömmlinge von Kolonialbeamten, Unter-
zeichnern der Unabhängigkeitserklärung, Soldaten und sogar von dem
Begründer einer großen Universität. Tatsächlich finden wir in dieser
Familie und in ihren Seitenzweigen nur hoch angesehene Bürger. Es
sind unter ihnen Doktoren, Rechtsanwälte, Richter, Pädagogen, Guts-
besitzer, Handelsleute, kurz lauter angesehene Bürger, Männer und
Frauen von Bedeutung in jeder Phase sozialen Lebens. Sie sind zer-
streut über die Vereinigten Staaten und sind hochangesehen in ihren
Gemeinden, wo immer sie hingekommen sind. Ein halb Dutzend
Städte New Jerseys sind benannt nach Familien, in die Martins
Deszendenten hineinheirateten. Unter ihnen finden sich keine schwach-
sinnigen, keine unehelichen Kinder, keine unsittlichen Weiber, kein
einziger sexuell liederlicher Mann. Keine Epileptiker, keine Ver-
brecher, keine Bordellwirte sind darunter. Nur 15 Kinder = 3°),
starben in früher Jugend. Ein einziger Geisteskranker war unter
ihnen, ein Fall von religiöser Manie, vielleicht ererbt, aber nicht von
der Kallikakseite her. Die Sucht nach starken Getränken findet sich
hier und da in dieser Familie von Anfang an. Sie fand sich bei
Martin senior und wurde gepflegt zu einer Zeit, da solche Bräuche
noch allgemein üblich waren. Aber während der andere Zweig der
Familie 24 Opfer der Trunksucht (=5°/,) zählte, werden für diese
Linie nur 2== 0,4°/, angemerkt.
Die Stammbäume dieser beiden Familien sind auf den Tafeln I
bis XIV aufgezeichnet. !)
1) Die Tafeln wurden dem ersten Heft beigegeben.
76 A. Abhandlungen.
Die Figuren.
Figur I zeigt die Deszendenz der Familie Kallikak von ihrem
ersten Kolinialvorfahren. Martin teilte sie in einen schlechten Zweig
einerseits und in einen guten Zweig andererseits. Jeder dieser beiden
Zweige ist verfolgt vom ältesten Sohne abwärts bis zu einer Person
der lebenden Generation. Auf der schlechten Seite endigt der Stamm-
baum mit Deborah Kallikak, einem Zögling der Training School zu
Vineland, auf der guten Seite endigt er mit dem Sohn eines hervor-
ragenden und wohlhabenden Bürgers gleichen Familiennamens, der
jetzt in einem anderen Staate lebt.
Figur II zeigt die Kinder Martin seniors von seiner Frau und
von dem namenlosen schwachsinnigen Mädchen, sowie die Kinder
Martin juniors.
Dann folgen die Figuren III bis IX und A bis K, die jeden der
beiden Zweige bis ins einzelne übersehen lassen. Die oberen Stamm-
bäume sind jedesmal die der normalen Familie, die Deszendenten
Martin Kallikak seniors mit seinem ehelichen Weibe. Die unteren
Stammbäume sind die der schlechten Familie, Martins Abkömmlinge
von dem namenlosen schwachsinnigen Mädchen, das nicht sein Weib war.
Erklärung der Abkürzungen.
Die einzelnen Individuen sind durch Quadrate und Kreise dar-
gestellt: die Quadrate bedeuten männliches, die Kreise weibliches Ge-
schlecht.!) Schwarze Quadrate und Kreise bedeuten schwachsinnige
Individuen. Das N bedeutet normale Geistesbeschaffenheit der be-
treffenden Person.
Die unbezeichneten weißen Quadrate und Kreise zeigen an, daß
der Geisteszustand der betreffenden Person unbestimmt ist.
kl. + bedeutet: in früher Jugend gestorben, klein gestorben.
Eine horizontale oder wenig schräge Linie verbindet die Personen,
die verheiratet sind. Wo nicht anders bemerkt, wird angenommen,
daß sie rechtlich verheiratet waren.
Die von der gleichen Horizontalen abgehenden Symbole dienen
für Brüder und Schwestern.
1) Ich kabe mich nicht entschließen können, bei der Anfertigung der Figuren
die bei uns nicht gebräuchliche Bezeichnung der Geschlechter in dieser Weise auf-
zugeben, da mir diese Zeichen viel deutlicher und übersichtlicher scheinen als g
und 2. K. W.
Goddard-Wilker: Die Familie Kallikak. 77
Eine senkrechte Linie, die diese Horizontale mit einem Indivi-
duum oder mit einer Verbindungslinie zwischen zwei Individuen ver-
bindet, gibt die Eltern (oder eins derselben) des Geschwisterkreises an.
Die Buchstaben unter dem Symbol für ein Individuum bedeuten:
A Alkoholiker (im Sinne von entschieden unmäßig, Trunken-
bold).
B Blind.
V Verbrecher, kriminell.
Tst Taubstumm.
E Epileptisch.
W Wahnsinnig.
Sy Syphylitisch.
Sx unsittlich (sexuell).
T Tuberkulös.
Eine kurze senkrechte Linie von der horizontalen Geschwister-
linie abwärts bedeutet ein Kind unbekannten Geschlechts.
Ein Fragezeichen unter dem betreffenden Symbol besagt, daß die
geistige Beschaffenheit des betreffenden Individuums nicht eindeutig
bestimmt war, daß aber bei Berücksichtigung aller Daten im großen
ganzen geschlossen werden durfte, daß die betreffende Person wahr-
scheinlich normal oder schwachsinnig war, je nach der mit einem ?
versehenen Angabe.
Ein + mit einer Ziffer gibt das Sterbealter an.
Eine einzelne Ziffer unter einem Symbol bedeutet, daß dieses
Symbol für mehr als ein Individuum steht (ein Kreis mit einer 4
darunter zeigt z. B. an, daß dieser Geschwisterkreis vier Mädchen
zählt, die durch dieses einzige Symbol vertreten sind).
Die Hand unter einem Symbol bedeutet, daß das Kind, dessen
Familiengeschichte Gegenstand der Figur ist, in unserer Anstalt in
Vineland lebt.
Die Tatsache, daß die Eltern nicht verheiratet waren, ist entweder
durch die Bezeichnung »unverheiratet« oder durch das Wort »illegitim«
neben dem Symbol für das Kind zum Ausdruck gebracht. !)
(Forts. folgt.)
1) Auf eine Wiederholung der Abkürzungen unter den einzelnen Figuren
glaubten wir verzichten zu können. Im vorstehenden nicht näher aufgeführte Ab-
kürzungen, die in den Figuren zur Anwendung gekommen sind, werden ohne weiteres
klar werden. K. W.
78 A. Abhandlungen.
2. Junge Galgenvögel.
Von
Charles E. B. Russell, M. A.
Chief Inspector of Reformatories and Industrial Schools.
Berechtigte Übersetzung von Dr. jur. Karl Struve.
(Fortsetzung.)
II. Ein Räuber.
Seine Erscheinung hatte nichts Romantisches, nichts, aber auch
gar nichts Gefälliges. Denn wenn auch manche Diebe, besonders die
verwegeneren, lustige und gutmütige Gesellen sind, so ist doch der
mitternächtliche Räuber, der Erbrecher kleiner Läden, der Plünderer
von Hofräumen, der feige Fledderer heimwärts taumelnder Trunken-
bolde niemals eine anziehende Natur, und Ned war und ist leider ein
Beispiel dieser Sorte.
Von dunkler Gesichtsfarbe, mit lauerndem Blick und Augen, in
denen niedrige Verschmitztheit und eine gewisse Wildheit glühten, so
kam er vor fast fünf Jahren zu mir. Er erzählte eine trübselige Ge-
schichte, daß er noch nie Glück gehabt habe, und erging sich in den
üblichen Beteuerungen, wie hart er arbeiten wolle, wenn er nur Be-
schäftigung bekommen könne. Seine Hände waren schlaff, sein Ge-
sicht voll Pusteln und Schmutz, und, obwohl erst dreiundzwanzig Jahre
alt, trug er doch alle Zeichen eines ausschweifenden Lebens zur Schau.
Von Beruf war er Eisenformer; er hatte aber schon längst vergessen,
was wirkliche harte Arbeit war. Seit langem pflegte er sich erst in
später Nachtstunde nach einem mit seinen Zechgenossen mehr oder
weniger ausgelassen verbrachten Abend zur Ruhe zu legen. Morgens
erhob er sich einige Stunden nach dem sechsten Glockenschlage, mit
dem der Handarbeiter gewöhnlich sein Tagewerk beginnt. Das Gefäng-
nis hatte ihn allerdings von Zeit zu Zeit mit »harter Arbeit« versehen
— er hatte schon einige zwanzig Strafen hinter sich —; aber diese war
in keiner Weise, was die körperliche Kraftentfaltung anlangt, mit der
harten Arbeit in einer Gießerei zu vergleichen. Er war also eher
alles andere als eine Persönlichkeit, die einen Arbeitgeber für sich
einnehmen konnte. Nichtsdestoweniger entschloß ich mich, den Kern-
punkt seiner Klage zu beseitigen. Dank der Hilfsbereitschaft einiger
Freunde erhielt er nach einem oder zwei Tagen Arbeit in seinem
eigenen Gewerbszweig für einen Wochenlohn von dreißig Schilling.
Die Gelegenheit, nach der er verlangte, war ihm also geboten.
Wenn er jetzt nur die Kraft gehabt hätte, sich von seinen
Kumpanen, die gleich ihm alle Galgenvögel waren, fernzuhalten, hätte
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 79
er es vielleicht geschafft; denn seine Sehnsucht nach einem anständigen
Leben war damals echt. Aber leider! Schon nach wenigen Stunden
hatte sich unter Neds sogenannten Freunden die Kunde verbreitet,
daß er Arbeit gefunden habe. Es verstand sich für sie von selbst,
sich an seinem ersten Lohntag gleich Geiern um ihn zu versammeln
und darauf zu bestehen, daß er sie freihalten solle. Ned erklärte sich
dazu in seiner Schwachheit — oder sollen wir sagen: seinem Standes-
gesetz gehorchend? — gleich bereit. Im Laufe des Sonntags ging
sein ganzer Lohn drauf, und am Montag verpfündete er, anstatt zur
Arbeit zurückzukehren, seine wenigen Werkzeuge. So war er wieder
einmal von seinen Gefährten zugrunde! gerichtet, die, wenn jemand
aus ihrer Mitte ehrlich oder unehrlich ein paar Schillinge erworben
hat, sich wie böse Geister an ihn heften und nicht rasten, bis auch
der letzte Heller vertan ist. In der nächsten Woche fand sich Ned
wieder im Gefängnis wegen »absichtlichen Herumlungerns«, und noch
am Tage seiner Entlassung wurde er aufs neue wegen Trunkenheit
eingesperrt.
Es schien stets unmöglich, ihm die ganze Verderblichkeit des
Umganges mit seinen Kameraden klar zu machen, die, einzeln be-
trachtet, nicht schlechter waren als er selbst, deren vereinter Einfluß
aber so verhängnisvoll für jeden in ihrer Gesellschaft war. Kein
einziger war unter ihnen, der nicht schon häufig gesessen hatte, kein
einziger, der sich nicht aufs Winseln und Betteln so gut wie aufs
Stehlen verstand, kein einziger, der nicht schwer trank, kein einziger,
der einen Funken Selbstachtung zu besitzen schien. Auf seinen
Gängen zu mir war Ned von zwei oder mehreren dieser rüden Ge-
sellen begleitet. Diese pflegten an einer benachbarten Ecke auf das
Ergebnis seiner Besuche zu warten und kamen später selbst, wenn sie
auch nur die geringste Aussicht auf »Hilfe« irgend welcher Art zu
haben glaubten. Obwohl diese Unternehmungen stets erfolglos ver-
liefen, hielten sie es doch für kurzweilig, von Zeit zu Zeit vorzu-
sprechen. Die seltenen Reuegedanken und Besserungsvorsätze Neds
führten deshalb zu keinem Ergebnis, weil er sich von diesen alten
Gefährten nicht loszureißen vermochte und sich durch nichts dazu be-
wegen ließ, nach einem anständigeren Stadtteil überzusiedeln. Viele
Monate hindurch sah ich ihn ab und zu. Stets war er in derselben
Verfassung, verwandelte sich aber immer mehr aus einem Mann in
einen winselnden Feigling. Die Ursachen lagen klar zutage: Es
waren der Trunk und seine Umgebung, verbunden mit der Unfähig-
keit, sich aus letzterer emporzuarbeiten und das Verlangen nach dem
Alkohol zu besiegen. Mehr als einmal versetzte er die notwendigsten
80 A. Abhandlungen.
Kleidungsstücke wenige Stunden, nachdem sie für ihn angeschafft
waren, nur um mehr Geld zum Kauf der feurigen Getränke zu haben,
die ihm zu seiner Wohlfahrt unentbehrlich deuchten. Ebenso ließ er
bei der Ausführung seiner armseligen Räubereien alle Vorsicht und
Berechnung außer acht. Als er mich eines Abends wieder einmal
aufgesucht hatte und mit der Aussicht auf Arbeit fortgeschickt war,
schnappte er auf dem Heimwege eine vor einem Schlachterladen auf-
gehängte Hammelkeule weg und rannte mit ihr gleich dem sprichwört-
lichen Taffy!) davon. Er wurde schnell ergriffen und saß mit guter
Laune seine übliche kurze Strafe ab.
Es gibt jedoch nur wenige Menschen, die von Grund ihres
Herzens schlecht sind, und zu diesen gehörte Ned sicher nicht. Seine
ständigen Räubereien führte er fast immer dann aus, wenn er in mehr
oder weniger trunkenem Zustande von anderen dazu verleitet war.
Wenn er gelegentlich einmal von seinen bösen Freunden ferngehalten
und nüchtern bewahrt werden konnte, hatte er die ehrenwertesten
Vorsätze und schien ein gutartiger ehrlicher Geselle. Aber allmählich
wurden seine besseren Anlagen überwuchert von dem allen gemeinen
Spitzbuben innewohnenden Zwange, bei jeder günstigen Gelegenheit
stehlen zu müssen, auch wenn von augenblicklicher Not nicht die
Rede ist. Diese Eigentümlichkeit wurde zu seinem Verderb, als er,
leider zu spät, wirklich auf dem Wege zu etwas Besserem war.
Neds gewöhnlicher Vorhalt: »Nun, Sie werden doch sicher nicht
einen armen Schlucker wegen eines oder zweier Schillinge ins Gefäng-
nis wandern lassen?« ist bei Leuten seines Schlages eine gebräuch-
liche Redewendung und darf nicht ernst genommen werden. Solche
Burschen fürchten das Gefängnis nicht im mindesten und haben es
gewöhnlich auf eine Geldunterstützung abgesehen, die sie nachher ver-
prassen. Auch seine Klagen, »niemals eine Gelegenheit gehabt zu
haben,« war in Wahrheit völlig unbegründet. Allerdings läßt sich
nicht leugnen, daß er seit frühster Jugend an eine Umgebung ge-
kettet war, die ihn aller Voraussicht nach zu seiner jetzigen Lebens-
weise führen mußte. Ebenso steht aber auch fest, daß er viele Ge-
legenheiten zu einem besseren Fortkommen gehabt und von Zeit zu
Zeit sehr annehmbare Beschäftigung gefunden hatte. Freilich verlor
er sie infolge grober Nachlässigkeit oder schlechten Betragens bald
wieder, oder gab sie nicht selten am Ende der ersten Woche, wenn
er ein paar Schillinge und damit die Mittel zur Befriedigung seiner
1) Ein bekanntes englisches Volkslied beginnt: -Taffy war ein Welschmann,
Taffy war ein Dieb.e Die Bewohner von Wales galten im übrigen England als
Leute von zweifelhafter Ehrlichkeit.
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 81
unnützen Neigungen in der Tasche hatte, wieder auf. Es fiel ihm
nicht ein, bei der Arbeit zu bleiben, wenn irgend ein Pferderennen
stattfand. Ebenso ließ er ohne Skrupel sein Werk im Stich, um einem
besonders interessanten Mittwochnachmittags- Fußballwettkampf beizu-
wohnen. Diese Unbeständigkeit war schließlich nicht verwunderlich;
denn sie stellt eine Eigentümlichkeit dar, die bei einer gewissen Be-
völkerungsschicht ständig um sich greift. Sie wird vielleicht am
besten durch die außerordentlich große, mitunter zu Tausenden an-
schwellende Zahl von Arbeitern bewiesen, die sich häufig an Mittwoch-
Nachmittagen als Zuschauer bei einem vielbesprochenen Fußballwett-
spiel versammeln. Selbst in Zeiten besonderen Arbeitsmangels scheinen
diese Ziffern nur wenig Abbruch zu erfahren und befrenden den, der
sich sozial betätigt. Denn angesichts der nagenden Armut der Hinter-
straßen ist es ein Rätsel, woher das Eintrittsgeld zu diesen Wett-
kämpfen kommt, und wie es möglich ist, daß junge Burschen, die wo-
möglich mit verkürzter Stundenzahl arbeiten, so leichthin einen halben
Tagelohn fahren lassen und dabei doch noch Geld zu ihrer Unter-
haltung finden. Nicht selten werden junge Leute aus ihrer Stellung
entlassen, wenn sie in dieser Weise blau machen. Aber sie sehen
sorglos den Folgen entgegen und beklagen sich, seltsam genug, über
ihr grausames Geschick, wenn sie nicht auf der Stelle neue Arbeit
finden. Gering fürwahr ist die Zahl derer, die wirklich keine Ge-
legenheit auf dem Felde der Arbeit gehabt haben, dagegen groß die
Zahl derer, die von einem Arbeitgeber nach dem anderen entlassen
sind. Jemand mag vielleicht um eine neue Gelegenheit bitten.
Leute wie Ned bitten aber fälschlich einfach um eine Gelegenheit
und schlagen sie, wenn sie ihnen noch einmal gegeben wird, wieder
und wieder in den Wind. »Mein Rücken tat mir weh«; »Er verlangte
von mir die Arbeit zweier Männer«; »Er bezahlte mich schlechter als
seinen geringsten Arbeiter«; »Ich war nicht wohl und blieb einen
Tag von der Arbeit wege — das sind so die Entschuldigungen, die
ihnen gewöhnlich auf der Zunge liegen und doch nur Umschreibungen
der Wahrheit sind, die heißt: »Ich bin ein fauler Bursche und habe
keine Lust zur Arbeit.«
Der Straßenhandel mit Früchten und Gemüsen war die »Gelegen-
heit«, die Ned wie vielen seinesgleichen am meisten zusagte. Er war
dann sein eigener Herr, konnte ans Werk gehen, wann es ihm be-
liebte, brauchte bei schlechtem Wetter nicht hinaus, sondern konnte
den ganzen Tag in angenehmer Trägheit zubringen. Dabei hatte er,
wie so mancher arme Schlucker, stets das Gefühl, daß dies wirklich
»Arbeit« sei. Denn viele Leute bilden sich ehrlich ein, daß sie hart
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 6
82 A. Abhandlungen.
schaffen und arbeitsreiche Tage verleben, während sie in Wirklichkeit
so gut wie gar nichts tun. Ebenso glauben sie, ernstlich nach Arbeit
ausgeschaut zu haben, wenn sie am Morgen in einigen Speichern vor-
fragen und den Rest des Tages mit Herumlungern an irgend einer
beliebten Straßenecke zubringen. Leute, die gerne einen Hausierhandel
anfangen wollen, versichern stets, daß sie eine gute Runde wissen und
eine Menge Kunden bekommen können. Man brauche ihnen nur mit
einer oder zwei Kisten Apfelsinen oder einigen großen Bananenbündeln
auf den Weg zu helfen, um ihnen eine gesicherte Zukunft zu schaffen.
Aber wenn die gewünschte Gelegenheit ihnen gegeben wird, erweist
sich der Versuch nur sehr selten als erfolgreich. Gewöhnlich reichen
eine oder zwei Wochen aus, um jeden Warenvorrat völlig verschwinden
zu lassen. »Die Sachen waren feucht geworden« oder »sie waren auf
dem Markt verdorben« sind ihre Entschuldigungen, während sie in
Wahrheit den Ertrag alsbald nach Verkauf der Waren durchgebracht
haben. Ihnen fehlt die genügende Willensstärke, um etwas Geld zur
Beschaffung neuer Vorräte zurückzubehalten. Dabei steht die ver-
lockende Wirtshaustür immer offen, und die Geselligkeit dieser
Kumpane verschlingt jeden Heller, den einer von ihnen besitzt. So
kommt es, daß nach einer oder zwei Wochen der Bittsteller mit dem-
selben alten Anliegen um einen nochmaligen »kleinen Anlauf« wieder-
kehrt. Höchst selten suchen wirkliche, außer Stellung geratene Arbeiter
auf solche Weise Hilfe. Fast immer handelt es sich um den Hilferuf
derer, die aus dem einen oder anderen Grunde aufgehört haben, in
den Reihen des Arbeiterheeres zu stehen, und jetzt das erbärmliche,
lasterhafte und tiefgesunkene Mannesdasein ernten, zu dem eine ver-
nachlässigte Kindheit und ein unbeaufsichtigtes und ungezügeltes
Jünglingsalter den Keim gelegt haben. In seinen Jugendtagen spürte
Ned wenig von dem Glück, das sonst das Vorrecht des Kindesalters
ist. Seine Eltern waren beide dem Trunk ergeben. Sein Vater ver-
richtete nur selten regelrechte Arbeit, sondern lebte, so gut er kunnte,
von der Hand in den Mund unter krampfhaften Versuchen, eine
Kleinigkeit als Markthelfer zu verdienen. Weder Vater noch Mutter
kümmerten sich viel um ihre Kinder. Alle sechs wurden mehr oder
minder vernachlässigt und schlecht ernährt. Ned, in jenen Tagen noch
ein frischer Junge, fand frühzeitig Arbeit in einer Eisengießerei seines
Wohnortes und beschloß, Former zu werden. Trotz mancher Wider-
wärtigkeiten brachte er es zu einem guten Arbeiter in seinem Fach.
Aber als er heranwuchs, hatte er das Unglück, in die Gesellschaft
nachlässiger, träger und lasterhafter Burschen zu geraten, in deren
Umgang er bald sowohl Trinken wie Stehlen lernte. Ich wollte seine
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 83
Hausiergelüste nicht unterstützen; denn ich wußte genau, daß ich
gerade so gut das für einen solchen »Anlauf« nötige Geld ihm schenken
und ihm freistellen konnte, dafür in der nächsten Kneipe Getränke
zu kaufen.
Als letztes Mittel sandte ich Ned nach London, wo er so glück-
lich war, mit Hilfe einiger Mitglieder der Borstal-Gesellschaft sehr
gute Beschäftigung bei einer Bauunternehmerfirma zu finden. Hier,
fern von seinen Verführern, ging alles gut, und er schrieb fröhlich,
daß Arbeit für ein paar Jahre vorhanden und er so glücklich wie
nur möglich sei. Einige ruhige Monate gingen ins Land, da erwählte
ihn die Versuchung wieder einmal zu ihrem Opfer. Es war an dem
jährlichen Bohnenfest der Firma, und Ned fuhr mit den übrigen nach
Yarmouth. Auf dem Rückweg überließen sich alle dem Schlaf. Nur
Ned wachte unglücklicherweise auf und verlor, noch dazu etwas an-
getrunken, angesichts der ahnungslosen Gestalten um ihn her seine
Vernunft und Selbstbeherrschung. Wenn nur ein einziger aufgewacht
wäre, würde alles gut gegangen sein. Aber das Geschick war ihm
abhold, und alle schlummerten weiter. Zuletzt, so erklärte er mir
später, konnte er nicht länger an sich halten. Alle guten Vorsätze
in den Wind schlagend, durchforschte er die Taschen seiner Arbeits-
gefährten, stieg an der ersten Haltestelle aus und eilte davon, um
schon eine oder zwei Stunden später mit Bedauern und Reue erfüllt
zu werden. Er wurde gefunden, festgenommen und ins Gefängnis ge-
schickt. Nach seiner Entlassung kehrte er nach Manchester zurück.
Wieder suchte er mich auf und bat aufs neue um Hilfe, wobei
er die übliche Drohung aussprach, daß er andernfalls »sein altes
Treiben aufnehmen und schon heute Nacht wieder eingelocht sein
würde«. Diesmal lehnte ich es rundweg ab, etwas für ihn zu tun,
versprach aber, ihn nach Süd-Wales zu schicken, wenn er sich drei
Monate lang vom Trunke freihalten könne. Ich machte jedoch zur
Bedingung, daß er sich während dieser Zeit zweimal wöchentlich
melden solle. Etwa fünf bis sechs Wochen hindurch erschien er
regelmäßig, stets in Begleitung eines achtjährigen Bruders. Denn ob
er schon ein erwachsener Bursche war, glaubte er doch, den Ein-
ladungen seiner Zechgenossen zum Trunk nur dann widerstehen zu
können, wenn er den kleinen Kerl bei sich hatte. Dann kam eine
Woche, in der Ned sich nicht zeigte, und nun hörte und sah ich zwei
bis drei Monate lang nichts von ihm. Schließlich erhielt ich zu
meinem Erstaunen einen Brief aus Waterford!) mit der Nachricht, daß
') Hafen an der Südküste Irlands.
6*
84 A. Abhandlungen.
Ned und zwei seiner Freunde es fertig gebracht hätten, sich in
Liverpool auf einem Paketboot zu verstecken, und daß er jetzt ans
Land gesetzt sei. Ned teilte mir ferner mit, daß er und seine Kumpane
beabsichtigten, sich bei der nächsten Gelegenheit wieder auf einen
Ozeanfahrer zu schleichen. So schien wenigstens Aussicht vorhanden
zu sein, daß er außer Landes gehen und in einer neuen Heimat
besser gedeihen würde, als er es in der alten je getan hatte. Aber
auch diese Hoffnung ging fehl. Denn schon in der nächsten Woche
kam ein Schreiben der Polizeibehörde in Bristol mit der Nachricht,
daß Ned unter der Beschuldigung eines Einbruchs verhaftet sei, und
mit der Anfrage, was über ihn bekannt sei. Er erhielt drei Monate,
und im letzten Frühherbst stellte er sich wieder ein, in seiner äußeren
Erscheinung liederlicher als je zuvor. Obwohl er Hilfe, mit anderen
Worten Geld, nicht bekam, brachte er es doch auf die eine oder
andere Weise fertig, sich noch im Verlaufe desselben Abends zu be-
trinken und empfing am nächsten Morgen sein übliches Urteil von
vierzehn Tagen Gefängnis.
Nach wenigen Wochen erschien er plötzlich in einer Infanteristen-
uniform (er hatte mit wenig Ruhm den südafrikanischen Krieg durch-
gemacht), sehr von sich eingenommen. Er erklärte, daß er eine
Woche Urlaub bekommen und keine Mittel habe, die Kosten seines
Unterkommens zu bestreiten. Es war fast unbegreiflich, daß ein
Werbesergeant ihn angenommen haben sollte, und die Vorstellung, daß
die Uniform eines Fahnenflüchtigen ihm irgendwie in die Hände ge-
fallen sei, gewann schnell in mir Raum. Mit dem Wunsche, daß er
gut vorwärts kommen möge, entließ ich ihn.
Vor einem oder zwei Monaten trat er wieder einmal an. Diesmal
erzählte er, daß er bei seiner Schwägerin wohne, und verlangte ledig-
lich eine Ausstattung als Hausierer; dann würde er sich mit Sicher-
heit als wirklich braver Kerl bewähren. Aber seine Augen funkelten,
als er sprach, und der Duft gemeiner Kneipen umgab ihn. Kurz, es
war klar, daß er völlig im Banne des Trunkes war. Auf meine
Weigerung, ihm zu helfen, antwortete er mit der Drohung, es bekannt
werden zu lassen, daß ich für ihn, den hilfsbedürftigsten Burschen in
Manchester, nichts tun wolle. Ohne seine Drohungen zu beachten,
setzte ich ihn an die Luft. Augenblicklich verbüßt er eine Strafe von
neun Monaten wegen eines neuen Einbruchs.
Ned bietet das Beispiel eines Burschen, der in seinen jungen
Jahren von guten Vorsätzen erfüllt war und seine Hände arbeiten ließ,
der aber durch seinen schlechten Umgang und seine Trinkleidenschaft
völlig zugrunde gerichtet ist. Wäre er ein oder zwei Jahre in
Mönkemöller: Die Strafe in der Fürsorgeerziehung. 85
Zucht gehalten worden, so hätte er vielleicht seine Fehler überwunden.
Aber wie die Dinge jetzt liegen, wird er wahrscheinlich immer tiefer
ins Elend hinabsinken. Er und die vielen Jünglinge, die gleich ihm
nicht »aufgezogen«, sondern seit frühester Kindheit sich selbst über-
lassen worden sind, bedürfen in erster Linie werktätiger Teilnahme
seitens der älteren und besseren Männer in ihren Arbeitsstätten. Wenn
solche Teilnahme weiter ausged&hnt und auch auf das außerberufliche
Leben jener jungen Männer übertragen würde, könnte sie mehr zur
Läuterung unserer Großstadtgassen beitragen als manche geldmächtige
Gesellschaften und Verbände. (Forts. folgt.)
3. Die Strafe in der Fürsorgeerziehung.
Von
Oberarzt Dr. Mönkemöller, Hildesheim.
(Fortsetzung.)
Es ist nicht meine Aufgabe, auf die so oft erörterte Frage ein-
zugehen, welcher Spielraum der Strafe — und erst recht ihrer
schwersten Verkörperung, der körperlichen Züchtigung, — in der
Erziehung eingeräumt werden soll, ganz abgesehen von der noch weiter
gehenden und oft im verschiedensten Sinne ausgelegten Frage nach
dem Wesen der Strafe überhaupt.
Daß den Kindern und Jugendlichen in irgend einer Form zum
schmerzlichen Bewußtsein gebracht werden muß, daß sie sich strafbar
gemacht haben, daß in ihnen, wenn auch nicht immer die Reue er-
weckt werden kann, doch wenigsten genügende Gegenvorstellungen
gegen ein späteres ähnliches Handeln hervorgerufen werden, das ist
ja geradezu eine Selbstverständlichkeit. Wie aber diese Strafe voll-
zogen werden soll, das ist eine Frage, in der es dem Erzieher über-
lassen bleibt, der Individualität des Täters entsprechend die Sühne so
zu vollziehen, daß sie ihn nicht schädigt und doch ihren Zweck erreicht.
Vom Standpunkte des Psychiaters wird man sich mit gutem Ge-
wissen auf den Standpunkt Försters!) stellen: »Wir sind weder für
brutale Strafmittel noch für straflose Erziehung, sondern für eine
Strenge, die sich an das Edelste und Vernünftigste im Kinde wendet
— sich damit verbündet. Wir empfehlen also überall dort, wo es
sich um eine Gegenwirkung gegen größere Ungezogenheiten oder Ver-
gehen handelt, stets von dem Gesichtspunkte einer notwendigen Sühne
auszugehen, die darin besteht, daß die Verfehlung ausgeglichen
1) Förster, Jugendlehre. 1909. S. 701.
86 A. Abhandlungen.
wird, entweder durch irgend eine positive Leistung oder durch
eine freiwillige Einschränkung und Versagung, durch welche
möglichst gerade diejenigen inneren Kräfte und Triebe gestärkt werden,
die sich vorher als zu schwach erwiesen. Man läßt das Kind die
Strafe — Handarbeit, freiwilliges Fasten, Schweigen bei Tische —
selber wählen, um das Geschäft der freiwilligen Buße zu verstärken.
Die Sühne soll nur als Ausdruck der entschlossenen Abwendung des
Sünders von dem bisher beschrittenen Wege betrachtet werden.«
Der Durchführung der Strafe in dieser Form, wie sie im Kreise
der Familie in idealer Weise ohne jede Frage möglich ist, stehen
allerdings in der Fürsorgeerziehung, soweit sie sich in den Anstalten
vollzieht, nicht unerhebliche Schwierigkeiten entgegen.
Sie scheitert vor allem daran, daß wir es eben in der über-
wiegenden Mehrzahl der Fälle mit Individuen zu tun haben, denen
eine normale Psyche versagt ist. Die Saiten, die mitklingen sollen
und müssen, fehlen hier vollkommen. Es fehlt vor allem die Mög-
lichkeit des aktiven Mitarbeitens, ohne die eine Umsetzung
dieser Erziehungsform in der Tat eine Chimäre bleibt.
Und erst recht dürfte sich in diesem Gebiete die Undurchführ-
barkeit der Spencerschen Theorie über das Strafen der Kinder er-
weisen. Nach ihr soll ja stets so gestraft werden, daß die Strafe so
weit wie irgend möglich die natürlichen Folgen falscher oder
schlechter Handlungen verkörpert, statt dem Kinde diese natürlichen
Folgen zu ersparen und durch ganz künstliche Reaktionen zu ersetzen.
In einem Betriebe, in dem eine große Menge von Kindern erzogen
werden muß, würde die Durchführung dieser Grundsätze nicht nur
äußerst schwierig sein, sondern gelegentlich eine heillose Verwirrung
anrichten, wieder eben wegen der Herrschaft der Psychopathie in
diesem Gebiete.
Der Schwerpunkt in der Frage der Strafe liegt ja in erster Linie
ohne jeden Zweifel darin, ob und in welchem Maße die körper-
liche Züchtigung in der Erziehung Platz haben soll.
Hierbei kommt eine Reihe von Gesichtspunkten in Frage, die
im wesentlichen in das Gebiet des Arztes fallen. Wie sehr solche
Züchtigungen körperlich schwache und in nervöser Beziehung wenig
widerstandsfähige Individuen mehr treffen als robuste Naturen, liegt
auf der Hand. Nicht immer kommt es dem Erzieher zum Bewußt-
sein, daß er es mit solchen nervösen Individuen zu tun hat, so daß
hier auch die entsprechende Dosierung, die diesen Schaden verhüten
könnte, nicht in ihre Rechte tritt. Die Gefahr, die dadurch droht,
daß Ohrfeigen, die nicht einmal zu stark zu sein brauchen, sehr
Mönkemöller: Die Strafe in der Fürsorgeerziehung. 87
leicht Zerreißungen des Trommelfells und sekundäre Schädigungen des
Gehörapparates nach sich ziehen können, sind zu oft geschildert worden,
als daß sie mehr als nur erwähnt zu werden brauchten. Die Schläge
gegen den Kopf rufen gleichfalls gelegentlich Schädigungen hervor,
die weit über das hinausgehen, was der Strafende beabsichtigt. Man
braucht dabei nicht einmal zu bedenken, daß eine abnorme Brüchig-
keit der knöchernen Schädelkapsel vorliegen kann, wie denn
auch gelegentlich durch verhältnismäßig leichte Schläge gegen den
Kopf Schädelbrüche verursacht werden. Außerdem kann aber durch
solche Attacken gegen den Sitz des Zentralnervensystems, vor allem,
wenn sie sich wiederholen, eine um so deletärere Wirkung ausgeübt
werden, als bei einer bestehenden Herabsetzung der nervösen und
psychischen Widerstandskraft eine Schädigung gesetzt werden kann,
die sich unmerklich vollzieht und später unausgleichbare schädliche
Folgen im Gefolge hat. Nicht minder muß vor den Schlägen auf das
Gesäß und die unteren Partien der Wirbelsäule gewarnt werden.
Gerade in den Jahren der beginnenden Geschlechtsreife, in
denen das Geschlechtszentrum in den unteren Teilen des Rücken-
markes gereizt wird, üben körperliche Züchtigungen in dieser Gegend
eine geschlechtlich erregende Wirkung aus und können onanistische
Neigungen befördern. Und wenn eine masochistische Dispo-
sition vorliegt, wenn überhaupt eine Neigung zu sexuellen Abnormi-
täten vorbanden ist, können sie durch körperliche Züchtigungen ge-
steigert werden. Moll!), einer der erfahrensten Kenner des Sexual-
lebens des Kindes, betonte ausdrücklich, daß die Strafe auch unter
dem speziellen Gesichtspunkte der sexuellen Pädagogik betrachtet
werden müsse. Das Schlagen kann die Perversion erregen oder
nur die Disposition wecken. Moll kannte Perverse, die in der
Schule absichtlich unrecht handelten, um bestraft zu werden, um
dabei Wollust zu empfinden. Er wies daher die Podexzüchtigung
unter allen Umständen als die gefährlichste durchaus zurück. Er hielt
Schläge auf die Hand vom hygienischen, speziell auch vom sexual-
hygienischen Standpunkte aus für ungefährlich. Ob wir dies Straf-
mittel allerdings entsprechend den massivsten Ausschreitungen unserer
Fürsorgezöglinge immer richtig zu dosieren vermögen, erscheint mir
denn doch etwas zweifelhaft.
Daß auch die Erzieher, bei denen eine Perversion des Ge-
schlechtstriebes nur leicht angedeutet zu sein braucht, durch die
Züchtigungen ein Auswachsen dieser sadistischen Neigungen
1) Moll, Das Sexualleben des Kindes. Leipzig 1908. S. 281.
88 A. Abhandlungen.
an sich erfahren können, ist eine Gefahr, die nicht ganz gering zu
veranschlagen ist.
Hermann:!) Es sind nicht vereinzelte Fälle, in denen Erzieher,
die später wegen sexueller Ausschreitungen zur forensischen Begut-
achtung kommen, glaubhaft berichteten, daß diese zuerst ganz un-
klaren Neigungen durch die Züchtigungen ihrer Schutzbefohlenen zur
vollsten Deutlichkeit angefacht wurden und ihnen zum Bewußtsein
kamen, um dann in dem bequemen Tummelplatz der Schule zur
chronischen Betätigung zu gelangen.
Und selbst dort, wo das wohl der Fall ist, sollte unter allen Um-
ständen der Anschein vermieden werden, daß solche Regungen im
Spiele sein können. Muß ja doch aus einem Anstaltsbetriebe alles
ferngehalten werden, was nach dieser Richtung hin das Vertrauen
auch nur im entferntesten erschüttern könnte.
Gerade die degenerierte und hierin wohl sehr aufgeklärte Jugend
dieser Aufbewahrungsstätte des sittlichen Proletariats wittert in diesen
Züchtigungen oft einen Zusammenhang, wo man ihn kaum ahnt, und
die krause Psychologie der Zeugenaussage feiert ihre Orgien gerade
in solchen Prozessen, in denen sexuelle Ausschreitungen der Lehrer
gegen ihre Schüler den Gegenstand der Verhandlung bilden.
Die Beschaffenheit des Materials, das in den Fürsorgeerziehungs-
anstalten solche Strafen provoziert, weckt diese Befürchtungen in
doppelter Beziehung. Sind doch gerade bei so vielen Degenerierten,
wie sie sich hier zusammendrängen, die sexuellen Instinkte sehr
stark ausgeprägt. Da sich in der Pubertätsentwicklung, die schon
sowieso die Schwierigkeiten in der Behandlung häuft, die geschlecht-
lichen Triebe eine außerordentlich starke Steigerung erfahren, ist es
eine selbstverständliche Pflicht, alles fernzuhalten, was ihnen irgendwie
Nahrung geben könnte.
Die sonstigen Einwände, die sich gegen die körperliche Züchti-
gung wenden, bestehen auch für die Fürsorgezöglinge im allgemeinen
zu Recht. Selbstachtung und Ehrgefühl werden dadurch, wenn
auch nicht ganz vernichtet, so doch ganz erheblich geschädigt;
mögen diese Verkörperungen eines höher stehenden Geisteslebens hier
auch manchmal nur über eine recht schattenhafte Gestaltung verfügen.
Ist die Ethik schon an und für sich nicht zu stark entwickelt,
so befördern die Prügel nur zu sehr diesen moralischen Tief-
1) Hermann, Grundlagen für das Verständnis krankhafter Seelenzustände
(psychopathischer Minderwertigkeiten) beim Kinde. Langensalza, Hermann Beyer
& Söhne (Beyer & Mann), 1910.
Mönkemöller: Die Strafe in der Fürsorgeerziehung. 89
stand. Ist eine Neigung zu Gewalttätigkeiten vorhanden — und die
spielt bei recht vielen der Fürsorgezöglinge eine nicht unbedeutende
Rolle, dann findet sie eine wesentliche Nahrung darin, wenn sie sieht,
wie sie selbst und andere dem Stocke verfallen. Wird dann noch
gar die Strafe nicht mit vollkommener Ruhe erteilt, schimmert bei
dem Züchtigenden der Affekt auch nur von weitem durch, glaubt
man nur entfernt in der Strafe die Befriedigung eines Rachegelüstes
zu sehen, dann kann die Wirkung auf Gemüter, die nicht gerecht
und objektiv zu urteilen vermögen, die vielleicht dazu neigen, in den
Handlungen ihrer Umgebung lediglich gegen sie gerichtete Maßnahmen
zu sehen, nur die sein, daß sie verbittert werden, das Vertrauen zu
ihren Erziehern verlieren und immer tiefer in eine asoziale Denkart
hineingetrieben werden.
Das alles sind Gedanken, die für die Allgemeinerziehung zutreffen,
und für die Sonderart der Fürsorgeerziehung gleichfalls am Platze
sein sollten.
Sie sollten es um so eher sein, als sich hier die Bedenken noch
weit mehr häufen. Zunächst muß man ja bedenken, daß sich hier
die verschiedensten Altersklassen zusammendrängen. Für die
Jahrgänge, die noch vor der Einsegnung stehen, könnte man sich ja
noch eher damit abfinden, wenn man sich überhaupt die Anschauung
zu eigen zu machen vermag, daß für ein Kind, das noch in den
Schuljahren steht, eine Züchtigung nicht nur nicht verpönt, sondern
zeitweise sogar recht angebracht ist.
Hier tritt uns aber nun schon die Schwierigkeit entgegen, daß
infolge der großen äußerlichen Verwahrlosung oft noch Zöglinge die
Schulbank drücken, die ihnen unter normalen Verhältnissen schon
längst entwachsen sein sollten. Und das sind gar nicht selten solche,
die sich eben wegen ihrer intensiven inneren und äußeren Verwahr-
losung nicht gerade zu Vertretern sanfter Gesittung, einträchtigen Zu-
sammenlebens und zu unbedingten Anhängern der Disziplin heraus-
gebildet haben und die Strafen geradezu absichtlich auf ihr Haupt
heraufzubeschwören scheinen.
Bedeutend schwieriger gestaltet sich aber diese Frage für dıe
Schulentwachsenen. Sie unterstehen ja bis zum 21. Jahre der
Disziplinargewalt der Anstalt. Was sich nicht von der Notwendigkeit
der Anstaltsbehandlung frei zu machen vermag, was der Familien-
pflege nicht anvertraut werden kann, was immer wieder seine An-
sprüche an die Strafgewalt_ der Anstalt geltend macht, das ist zum
größten Teile der Extrakt einer Masse, die sich nicht durch Wohl-
erzogenheit auszeichnet, die oft die Geduld der Erzieher auf eine
90 A. Abhandlungen.
harte Probe stellt und bei der manche — sogar recht viele — Er-
zieher ohne die schwerste Ausprägung ihrer Erziehungsgewalt nicht
auskommen zu können glauben. »Ohne Züchtigung keine Zucht«
ist ein Grundsatz, ohne den die Anstalt nicht zum Ziele kommen zu
können glaubt, mögen auch gerade ihr noch so viele sonstige Er-
ziehungsmittel zur Verfügung stehen.
Und das ist auch die Stelle, an der die Psychiatrie zu dieser
Frage vernehmlich Stellung nehmen muß. Man sehe sich die Kraft-
naturen dieser Jahrgänge an, denen nicht einmal die geringe Selb-
ständigkeit der Familienpflege, die Unterbringung in Lehrstellen oder
auf dem Lande anvertraut werden kann. Das sind zum größten
Teile die Vertreter der Psychopathie in den verschiedensten
Formen.
Hier tritt die Frage, wie sich die Psychiatrie zur Frage der
Züchtigung von Individuen, die in psychischer Beziehung nicht ganz
einwandfrei sind, zu stellen hat, in ein sehr aktives Stadium.
Die Einmischung der Psychiatrie in die Fürsorgeerziehung mußte
seinerzeit, wie das gar nicht anders erwartet werden konnte, auf
einen oft mehr als passiven Widerstand der Pädagogen stoßen. Diese
befürchteten, und das mit einer gewissen Berechtigung, daß, wenn die
psychiatrischen Anschauungen rückhaltslos in dies Gebiet hinein-
getragen würden, die straffen Erziehungsgrundsätze, ohne die man
nicht auskommen zu können glaubte, rettungslos gefährdet würden,
und daß dadurch die Ziele der Erziehung eine schwere Gefährdung
erfahren müßten.
Diese Anschauungen haben ja seitdem zweifellos in den weitesten
pädagogischen Kreisen eine wesentliche Korrektur erfahren. Man hat
gesehen, daß die Psychiatrie sich auch den praktischen Verhältnissen
anpaßte, daß sie sich nicht Ziele steckte, die theoretisch wunderschön
sind, aber mit der Praxis des Lebens hart zusammenstoßen. Und die
Psychiatrie selbst hat ihre Forderungen seufzend und resigniert
heruntergeschraubt. Sie sucht nur das Erreichbare zu verwirklichen
und hat hier, wie auf so manchem Nachbargebiete, auf die Er-
füllung der Ideale verzichtet, die ja auf dem Nährboden der Psycho-
pathie sowieso nur so kümmerlich gedeihen.
Ich muß gestehen, daß ich, als ich vor Jahren in meine ärztliche
Tätigkeit in der-Zwangserziehungsanstalt zu Lichtenberg eintrat, zuerst
noch von vollstem rein psychiatrischem Mißbehagen erfüllt war, wenn
überhaupt eine Züchtigung erfolgte.
Ich kann es aber ebensowenig verschweigen, daß diese ideale
Auffassung entschieden etwas gelockert wurde, je länger ich mich
Mönkemöller: Die Strafe in der Fürsorgeerziehung. 91
in diesem Milieu der konzentrierten Verwahrlosung bewegte, je mehr
ich einsehen mußte, wie hoch die Wellen der Renitenz und Unbot-
mäßigkeit schlugen, je mehr ich mich davon überzeugte, daß die Be-
fürchtungen, die ich als Psychiater hegen zu müssen glaubte, sich
nicht in allen Fällen verwirklichten. Die Praxis sieht eben manch-
mal anders aus als die Theorie. Größer fast war mein Bedauern, daß
ich diese Züchtigungen meist für vollkommen zwecklos halten mußte.
Wenn ich mich damals sogar für die Imbezillen zu dem Aus-
spruche!) aufraffen konnte:
»Wird ihnen (d. h. den schulpflichtigen imbezillen Fürsorge-
zöglingen) bei den Züchtigungen das Maß ihrer Dummheit zugute
gehalten, so halte ich es für eine entschieden überflüssige Sentimen-
talität, wenn ihnen das versagt werden sollte, was jedem normalen
Schüler in seiner Schulzeit geblüht hat, und dessen Fehlen sie in
ihrer Entwicklung schwerlich weiter bringen wird,« so habe ich
damit sicher frühzeitig genug bewiesen, daß ich einer unnötig
scharfen Betonung dieser psychiatrischen Grundsätze nicht das
Wort rede.
Gewiß sind wir als Psychiater nur dadurch, daß wir nicht über
dies Ziel hinausschießen, imstande, uns unseren Einfluß im Reich der
Fürsorgeerziekung zu sichern. Das entbindet uns aber nicht von der
Pflicht, immer wieder nachdrücklich darauf hinzuweisen, daß — auch
wenn man hier die weitesten Konzessionen macht — doch für eine
Reihe von Fällen die Strafe und in erster Linie die körperliche
Züchtigung durchaus verpönt sein muß, daß sie nicht wirkt, daß
sie dem Betreffenden direkt schaden kann.
Ich muß gestehen, daß es mir bei meinen psychiatrisch-
neurologischen Untersuchungen der Fürsorgezöglinge immer als die
schwierigste Frage erschien, diese Grenze der Straffähigkeit zu
ziehen. Man kann sich im allgemeinen ohne größere Gewissensbisse
damit abfinden, daß gelegentlich auch einmal einen Psychopathen
die Strafe treffen kann. Wenn in der Diskussion über mein Referat
über »Psychiatrie und Fürsorgeerziehung« auf dem Psychiatertage in
Breslau auch von Weygandt gesagt wurde, er halte es für kein großes
Unglück, wenn einmal in der Fürsorgeerziehung eine Züchtigung
stattfände, so wird man dem sicherlich für viele Fälle zustimmen
‚können. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß wir, wenn wir
bei der Untersuchung von psychisch defekten Individuen, bei der Be-
1) Mönkemöller, Psychiatrisches aus der Zwangserziehungsanstalt. Allgem.
Zeitschrift f. Psych. 1899. Bd. 56. S. 62.
92 A. Abhandlungen.
sprechung ihres künftigen Schicksals in der Anstalt von den Erziehern
über die Zweckmäßigkeit und Erlaubtheit einer eventuellen Bestrafung
gefragt werden, oft in der größten Verlegenheit sind, wie wir uns mit
unseren theoretischen Grundsätzen auf den einzelnen Fall praktisch
festlegen sollen.
Diese Schwierigkeit ist zunächst einmal darin begründet, daß es
sich nicht lediglich um ausgesprochene Psychosen handelt, die
rein psychiatrische Erwägungen erheischen. Was hier in Frage kommt,
sind in der übergroßen Mehrzahl der Fälle Übergangsformen,
Degenerationszustände der mannigfaltigsten Art, angeborene geistige
Schwächezustände der verschiedenartigsten Formen, die die Skala von
der »normalen« Dummheit, die ihre Existenz ja lediglich in Laien-
kreisen fristet, bis zu den schwereren Formen der Idiotie durchlaufen.
Hier im einzelnen Falle die Grenze zu ziehen, wo das Normale auf-
hört, und wo die Psychopathie so vorherrscht, daß sie der Strafe in
den Arm fällt, ist oft nicht restlos möglich.
Sie stellen uns vor dieselbe Frage, die wir als forensische
Sachverständige so häufig vor Gericht zu lösen haben. Auch hier
liegt in so vielen kriminellen Fällen, in die die geistige Krankheit in
irgend einer Form hereinspielt, sehr oft nicht ein derartiges Maß geistiger
Krankheit vor, daß die Voraussetzungen der Unzurechnungsfähigkeit
in vollem Maße erfüllt sind und daß eine gänzliche Straffreiheit nicht
erwirkt wird. Dem Maß der psychischen Unfreiheit kann hier nach
den bestehenden Gesetzen nur durch die Zubilligung mildernder Um-
stände Genüge geleistet werden.
Was wir erstreben und was in der neuen Strafgesetzgebung
sicher zur Wirklichkeit erstehen wird, das ist die geminderte Zu-
rechnungsfähigkeit. Sie soll dem Delinquenten die Strafe nicht er-
schweren, sie soll nicht einmal eine wesentliche Kürzung des Straf-
maßes herbeiführen. Wohl aber soll in der Ausübung der Strafe
dem geistigen Zustande Rechnung getragen und die Durchführung
der Vergeltung ermöglicht werden, ohne daß ihm geschadet wird.
In entsprechender Übertragung sollte dies Prinzip auch auf die
Übergangsformen und Zwischenstufen Anwendung finden. Die
Strafe darf ihm nicht erspart werden. Wohl aber soll dem Delin-
quenten bei der Abmessung und Ausführung das Maß seines geistigen
Unvermögens zugute gehalten werden. s
Wenn jetzt die meisten Kriminellen, die in diesem Zwischenlande
wohnen, der vollen Strafe verfallen, ohne daß eine psychiatrische
Erwägung angestellt war, so können wir es auch bei dieser Form von
psychischer Minderwertigkeit noch am ersten ertragen, daß sie hier
Mönkemöller: Die Strafe in der Fürsorgeerziehung. 93
einer Würdigung ihrer Psychopathie und der daraus folgenden prak-
tischen Folgerungen enbehren müssen, weil ihr psychisches Versagen
sich dem Laienblicke entzieht. Denn hier kann oft nur ein theoretisches
Bedauern zu Worte kommen, wenn Straftat und Sühne ohne Berück-
sichtigung der Zurechnung gegeneinander abgewogen werden. Eine
wesentliche Schädigung, ein allzugroßes Unrecht, das ihnen ge-
schieht, braucht hier nicht beklagt zu werden.
Noch größer aber, und jedenfalls für die Praxis der Durchführung
der Disziplin in der Anstalt drückender, ist die Schwierigkeit, daß in
der Anstalt vollkommen verschiedene Elemente gleichzeitig neben-
einander erzogen werden müssen. Neben den Zwischenformen stehen
uns auf der einen Seite eine große Zahl vollnormaler Zöglinge, auf
der anderen Seite aber auch solche gegenüber, bei denen die geistige
Minderwertigkeit so stark ist, daß die Strafbefugnis bei ihnen auf ein
gebieterisches Veto stößt. Und gerade sie sind es, die immer wieder
den Strafmechanismus in Bewegung setzen. Die Vergehungen gegen
die Disziplin, die Übertretungen der gesetzlichen und sittlichen Gebote
sind eben bei ihnen so gut wie ausschließlich der Ausfluß ihrer
geistigen Krankheit. Was als Schlechtigkeit, Widerspenstigkeit, Roheit,
Grausamkeit, Lügenhaftigkeit, sexuelles Vergehen erscheint, ist nur
als Krankheitssymptom zu würdigen. Sie sind die Hauptsünder der
Anstalt, sie sind auch meist die Rädelsführer, die Hauptleute. Sie
haben ihre Hand im Spiele bei den gemeinsamen Entweichungen, bei
den Anstaltsdiebstählen, bei den gemeinsamen geschlechtlichen Ver-
irrungen. Wollte man ihnen ohne weiteres einen Generalpardon ent-
gegenbringen und ihnen gänzliche Straffreiheit zusichern, dann wäre
damit das Ende der Anstaltsdisziplin besiegelt.
Ihnen selbst ist es ja nicht gegeben, den tieferen Grund dieser
Bevorzugung zu erkennen. Sie würden darin nur einen Freibrief für
ihre Neigung zu Exzessen aller Art sehen, sie würden ihren weniger
begünstigten Genossen gegenüber damit renommieren und sie in ihre
asozialen Bestrebungen zu den wüstesten Ausschreitungen steigern.
Und ihre normalen Kameraden würden nicht verstehen, daß gerade
jene, die ihnen immer als der Ausbund der Schlechtigkeit vor Augen
stehen, ohne Strafe davonkommen, während sie selbst, die sich sonst
immer so gut führen, bei jeder Kleinigkeit daran glauben müssen.
Der Glaube an die Gerechtigkeit, an die Unparteiischkeit der Erzieher
würde systematisch zerstört.
Wären in den Anstalten nur psychisch abnorme Zöglinge unter-
gebracht, dann wäre die Beantwortung der Frage nach der Anwendung
der Strafgewalt viel einfacher. (Forts. folgt.)
94 A. Abhandlungen.
4. Gegenbewegung der linken Hand und Symmetrie.
Von
Martin Buchner, Passau.
(Mit 9 Abbildungen.)
(Schluß.)
Als der Knabe etwas über 4 Jahre zählte, ließ ich ihn folgende
Figuren zeichnen und zwar je eine erst mit der rechten Hand auf
die eine, dann mit der linken auf die andere Seite eines Blattes:
Mann. Wagen mit Pferd. Hund. Schlitten. Schaff mit Wäscherin.
Säbel. Gewehr. Bogen und Pfeil. Krug. Haus mit Zaun. Rad-
fahrer. Tisch mit Stuhl. Drache. Auto.
Wieder zeichnete die Linke zaghafter als die Rechte, wieder war
der Strich unbeholfener und schwächer. Es entstanden 5 vollständige
Spiegelbilder. 3 Gruppenbilder waren unvollständig gespiegelt. Alle
übrigen Figuren erschienen als Abbilder, doch so, daß zum Teil nur
wenige Striche die Ähnlichkeit mit dem Gebilde der rechten Hand
hervorriefen, während in den übrigen Linien die Gegenbewegung zum
Ausdruck kam. Abbilder schienen besonders in Zeichnungen zutage
zu treten, in denen schon die Tätigkeit der rechten Hand eine er-
höhte Aufmerksamkeit des Auges erforderte wie beim Auto und beim
Radfahrer mit Rad; vielleicht aber prägte sich die deutlichere Gruppie-
rung der einzelnen Teile dem Gedächtnis des Auges besser ein.
Enthielt eine Figur zwei Senkrechte in gleicher Höhenlage, so
zog die linke Hand den rechten senkrechten Strich zuerst, den die
rechte Hand zuletzt gezeichnet, falls nicht der zusammenhängende Zug
einer Figur die Regel sinngemäß umkehrte.
Während beide Hände die Senkrechten und Schiefen von oben
nach unten zu ziehen pflegten, wurden Säbel und Gewehr, welche
die Rechte nicht in wagrechter, sondern in fast senkrechter Lage zu
Papier gebracht, durch die Linke entgegengesetzt von unten nach oben
geführt, so daß also die Gegenbewegung der linken Hand sich nicht
ganz auf die wagrechte Ausdehnung beschränkte.
Das Hauptergebnis des Versuches war dieses: Das Gedächtnis
des Auges hatte begonnen mit dem Automatismus der Gegen-
bewegung der linken Hand zu kämpfen.
Zu derselben Stunde ließ ich den Knaben mit beiden Händen
gleichzeitig erst einen Kasperl und dann ein Auto zeichnen. (Abb. 4a u. b.)
Im Versuch a fingen die beiden Hände wohl zu gleicher Zeit
an, aber sie kamen gemeinsam nicht weit — wie vor zwei Jahren auf
der großen Schultafel — und arbeiteten dann abwechselnd; das Auge
Buchner: Gegenbewegung der linken Hand und Symmetrie. 95
konnte beide Hände nicht gleichzeitig verfolgen und wanderte, den
Strich beobachtend, bald nach der rechten bald nach der linken Figur.
Diese gestaltete sich zum Spiegelbild.
Beide;Hände gleichzeitig.
(Abbildung 4 a u. b.)
Im Versuche b wechselten die Hände von Anfang an ab. Das
Auge heftete sich erst nach rechts, dann nach links, Zug für Zug; die
Räder mit dem Schutzblech entstanden zuletzt. Die Linke brachte
ein Abbild hervor, einzelne Züge aber wie die Räder usw. laufen in
der Gegenbewegung.
96 A. Abhandlungen.
Der Automatismus der Gegenbewegung siegte im Versuch a voll-
ständig, das Auge im Versuch b nicht ganz.
Nach Ablauf eines Jahres wiederholte ich sowohl den Versuch
mit beiden Händen nacheinander als auch den mit beiden Händen
gleichzeitig. Der Knabe war 5 Jahre alt; seine Linke war im Zeichnen
nicht geübt worden. Er mußte die 14 erwähnten Bilder zuerst mit
der Rechten auf die eine Seite eines Blattes, dann mit der Linken
auf die Kehrseite ausführen: Gegenüber 5 vollständigen Spiegelbildern
vor einem Jahre ergaben sich deren 8, gegenüber 3 unvollständigen
deren 4 und gegenüber 6 Abbildern nur deren 2. Es hatte sich an-
scheinend eine Verschiebung vollzogen zugunsten des Bewegungs-
automatismus der Linken. Die Übung der Rechten im Zeitraum eines
Jahres verstärkte wohl den unbewußten Drang der Linken zur Gegen-
bewegung, während das Erwachen des Auges nicht in gleichem Maße
fortschritt.
Gegenüber diesem Vordringen der Neigung der linken Hand zur
Gegenbewegung trat ein Jahr später ein auffallender Umschwung
zutage. Wohl führte die Linke noch immer eine Gerade, eine ein-
und eine aufgebogene Linie nach links und ließ den Wimpel einer
Fahne nach links flattern, aber von den 14 aufgeführten Versuchs-
bildern erschienen nur Pfeil und Bogen sowie Haus mit Zaun als
Gegenbilder, wenn auch in anderen Figuren Linksbewegungen ein-
geflochten waren.
Ein Klassenversuch mit Zehnjährigen bestätigte diesen Umschwung.
Es wurde untersucht, wie sich die Linke bewegte bei einem wagrechten,
bei einem ausgebogenen und bei einem eingebogenen Strich, beim
Anbringen eines Wimpels an eine Fahnenstange und beim Stellen
eines Stuhles zum Tisch.
Es zeigte sich, daß von 49 Wagrechten nur 20 nach links liefen
und von 50 aus- und eingebogenen Linien nur je 10. Von 49 Wimpeln
wurden 6 links an die Stange geheftet und 12 von 49 Stühlen standen
links des Tisches.
So sehr ist beim Zehnjährigen der Automatismus der Gegen-
bewegung unterlegen, so sehr das Auge zur Leitung der Hand erwacht.
Von 21 Sechsjährigen zeichnete die Linke noch 15 Wagrechte,
13 ausgebogene und 11 eingebogene Linien im Zug nach links und
die Hälfte von 20 Wimpeln flatterte in dieser Richtung. Auch hier
rang schon das Auge mit dem Automatismus der Gegenbewegung.
In dem Versuch mit beiden Händen zugleich hatte unser Fünf-
jähriger einen Mann (an Stelle des Kasperls) und ein Auto zu zeichnen.
Während vor einem Jahre nur der Kasperl als Spiegelbild auftauchte,
Buchner: Gegenbewegung der linken Hand und Symmetrie. 97
wurde dieses Mal auch das Auto gespiegelt. (Abb. 5a u. b.) Im
Laufe des Jahres hatte die Rechte das Auto, den Mittelpunkt der Ge-
danken des Knaben, vielhundertmal abgebildet.
Das gleiche Ergebnis brachte derselbe Versuch, als der Knabe
6 Jahre zählte. Die rasche gleichzeitige Bewegung beider Hände ließ
dem Auge nicht Zeit zur Überlegung oder die Erinnerung war nicht
stark genug die Bewegung zu leiten.
Beide Hände gleichzeitig.
(Abbildung 5 a u. b.)
Aber ein Versuch mit Zehnjährigen zeigte auch hier einen Um-
schwung. Während der 6jährige Knabe seine Fahne noch in der
Gegenbewegung der Hände zeichnete, brachten von 46 Schülern bei
gleichzeitiger Tätigkeit der Hände nur 5 mit der Linken den Wimpel
links an. Der gleiche Versuch wurde mit Sechsjährigen angestellt.
Von 25 linken Händen fügten noch 6 den Wimpel links an.
Einen einwandfreien vergleichenden Schluß zu ziehen über den
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 7
98 A. Abhandlungen.
Auf- oder Abstieg des Gegenbewegungsautomatismus der linken Hand
ist nicht möglich, da sich Einzelversuche den Klassenversuchen mit
gleichem Recht nicht gegenüberstellen lassen, abgesehen davon, daß
unsere Einzelversuche mit beiden Händen gleichzeitig hätten weiter
ausgedehnt werden müssen. Überhaupt müßten, um fertige Schlüsse
zu erlangen, gleiche Versuchsbedingungen geschaffen werden können.
Dabei wären auch die wirklichen Linkser auszuscheiden und ge-
sondert zu prüfen.
Die Angaben über die Zahl der Linkser unter den Menschen
schwanken und gehen über 10°/, selten hinauf. In der Versuchs-
klasse der Zehnjährigen meldeten sich jedoch unter 50 Schülern
10 Linkser. Sie mußten zur Probe ihren Mantel anziehen, einen Blei-
stift spitzen und aus einem Henkelkrug trinken. Nur 3 Schüler
schlüpften zuerst mit der Linken in den Ärmel und hielten mit der-
selben das Messer und den Henkel des Kruges. 2 der Knaben ge-
brauchten in 2 der Proben die Linke, 4 nur in einer der Proben und
1 Schüler war zweifellos ein Rechtser. Man nennt es Beidhändigkeit,
wenn Rechte und Linke gleich geschickt oder ungeschickt sind. Unsere
Prüfung müßte selbstredend auf die ganze Klasse ausgedehnt werden
und noch andere Tätigkeiten wie Nageleinschlagen, Nadeleinfädeln
u. dergl. zur Aufgabe stellen.
Die Versuchsleistungen der Linkser unter .den Zehnjährigen im
Schreiben und Zeichnen mit der linken Hand hoben sich nicht ab
von denen der Rechtser. Ein einziger der vollständigen Linkser
schrieb die Spiegelschrift auffallend geläufig.
Zweifellos darf man schließen, daß im Alter von 10 Jahren
die an die Oberfläche tretende Neigung der linken Hand
zur Gegenbewegung im Zeichnen stark unterdrückt und
im Schreiben fast überwunden ist. Der unbewußte, willenlose
Automatismus unterlag der bewußten Leitung der Hand durch
den Willen. Daß dieser indes durch das Auge allein bestimmt sei,
ist nicht wahrscheinlich.
Einigen Aufschluß über die Abhängigkeit der linken Hand von
der rechten vermögen uns Gehirnphysiologie und -pathologie zu geben.
Sprechen und Lesen sind im allgemeinen an die linke Großhirnhälfte
gebunden. Diese leistet auch, was die rechte Hand tut und schreibt.
Die linke Hand ist, dem gekreuzten Verlauf der Nervenbahnen im
Gehirn entsprechend, von der rechten Hirnhalbkugel abhängig. Indes
fand H. Liepmann,!) »daß Herde, die die linke Hemisphäre betrafen,
1) Deutsche Medizinische Wochenschrift 1911. Nr. 27. S. 1249.
Buchner: Gegenbewegung der linken Hand und Symmetrie. 99
unter bestimmten, sehr häufig vorhandenen Umständen nicht nur die
rechte Körperhälfte lähmten, sondern auch die Gebrauchsfähigkeit der
linken Hand in Mitleidenschaft zogen, daß sogenannte dyspraktische
Störungen der linken Hand auftraten. Diese .dyspraktischen Störungen
erwiesen sich als unabhängig von der Lähmung der rechten Hand«
selbst. Er konnte nachweisen, »daß auch Läsionen, welche nicht die
rechte Hand lähmten, wenn sie gewisse Gebiete der linken Hemi-
sphäre oder den Balken betroffen hatten, die Fähigkeit der linken
Hand zu Zweckbewegungen herabsetzen. Wenn aber Läsion der linken
Hemisphäre Störungen in den Verrichtungen der linken Hand bewirkt,
so kann wohl das Auftreten gleicher Störungen nach bloßer Balken-
läsion nur so erklärt werden, daß der Balken den Einfluß der linken
auf die rechte Hemisphäre vermittelt, und daß eine Läsion derselben
diesen Einfluß aufhebt oder einschränkt. Beide Tatsachen vereinigen
sich also zu dem Satz: Die linke Hemispbäre übt eine gewisse
Herrschaft auch über die Bewegungen der von der rechten
Hemisphäre innervierten linken Hand aus. Damit war gezeigt,
daß die Überlegenheit der linken Hemisphäre nicht nur für die
Sprache, sondern auch für die höheren Bewegungsakte besteht. ...
Die linke Hemisphäre ist nicht nur, was allgemein bekannt war, in
dem Maße der rechten überlegen, als die rechte Hand mehr an Können
besitzt als die linke, sondern auch das, was die linke Hand kann, ver-
dankt sie in nennenswertem Umfange der linken Hemisphäre. Nament-
lich die spontane Erweckung von Bewegungserinnerungen, der Ent-
wurf komplexer Bewegungen, ihre Ausführung nach einem inneren
räumlich-zeitlichen Plane, das Nachmachen von Bewegungen und die
Präzision der Ausführung sind vorwiegend Leistungen der linken
Hirnhalbkugel, — auch wenn die linke Hand in Tätigkeit tritt.« Als
Bewegungen der linken Hand, die er von der linken Großhirnrinde
abhängig fand, führt H. Liepmann »Grüßen, Winken, Drohen, Kuß-
handwerfen, Langenasemachen, Anklopfen, das Markieren von Be-
wegungen ohne Objekt wie Drehorgelspielen, Kaffeemühledrehen,
Schlüsseldrehen usw. und das Nachmachen beliebiger vorgemachter
Bewegungen« auf. Nach Liepmann ist die Abhängigkeit der linken
Hand von der rechten keine unmittelbare, der Träger des Zusammen-
hangs ist die linke Großhirnhälfte. Eine mittelbare Gebundenheit der
linken Hand an die rechte ist aber unbestreitbar, denn »gelernt haben
wir ja das Winken, Drohen, Schlüsseldrehen usw. mit der rechten
Hand. Kein Wunder, daß der eigentliche Erinnerungsschatz und
Übungserwerb samt dessen Einordnung in das gesamte geistige Leben,
insbesondere die Zuordnung des Kinetischen zu dem Räumlich-Zeit-
7*
100 A. Abhandlungen.
lichen und zu dem Öptischen sich vorwiegend in der linken Hemi-
sphäre abspielt.« !)
Liepmanns Beobachtungen setzen eine gewisse mittelbare Ab-
hängigkeit der linken Hand von der rechten außer Zweifel. Für
unsere Untersuchung wäre es von Wert, die Bewegungsstörungen der
linken Hand bei Verletzungen der linken Großhirnhälfte unter dem
Gesichtspunkt, ob Gegen- oder Gleichbewegung, zu verfolgen. In Frage
stünde auch, inwieweit diese Abhängigkeit mit dem Maß der Übung
der rechten Hand ansteigt oder fällt und ob und wie dabei auch das
Auge seinen Einfluß geltend macht.
Die physiologischen Unterlagen für den Auf- und Abstieg der
Gegenbewegung der linken Hand sowohl bei den von Liepmann er-
wähnten Handtätigkeiten als auch beim Zeichnen und Schreiben liegen
wohl am tiefsten im Erdinnern der Forschung.
Die ursprüngliche Anlage der linken Hand zur Gegenbewegung
kann übrıgens nicht ausgerottet werden; wir sehen sie nur
überwältigt in unseren Schreib- und Zeichenversuchen mit Zehn-
jährigen. In den Handfertigkeiten — auch im Zeichnen —, im
Schwimmen, Turnen u. dergl. tritt sie immer deutlich zutage. Sie
wohnt nicht allein in Arm und Hand sondern auch im Bein; unser
linker Fuß schreitet in der Gegenbewegung vorwärts. Die Linkskultur,
die heutigen Tages warme Anhänger hat, würde gut tun in ihrer
Methode der Naturanlage der linken Hand zur Gegen-
bewegung Rechnung zu tragen. Die Zeichenmethode der
linken Hand lausche sie zeichnenden Linksern ab, welche un-
willkürlich wie Leonardo und Menzel den Stift auch in die Linke
nehmen.
Das Schreiben mit der linken Hand in der Rechtsbewe-
gung ist für Völker, deren Schrift nach rechts wandert, im tiefsten
Grunde widernatürlich; unsere Spiegelschrift aber ist nicht leserlich.
Der ungleichen Leistung der beiden Hirnhalbkugeln entsprechen
leise Abweichungen im Bau derselben, die aber dem Auge nicht auf-
fallen. Messungen ergaben, daß in Übereinstimmung mit der un-
gleichen Leistung der Großhirnhälften auch die Ausbildung der Arme
leicht voneinander abweicht; aber auch hier nimmt das Auge ohne
Messung nicht wahr, daß der rechte Arm des Rechtsers durchschnitt-
lich 1 cm länger ist als der linke. Das nicht unterstützte Auge sieht
Kopf und Gliedmaßen des Menschen zweiseitlich symmetrisch angelegt.
Symmetrisch erscheinen die Rindenbezirke für die Bewegung: ist
1) Deutsche Medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 28. S. 1308.
Buchner: Gegenbewegung der linken Hand und Symmetrie. 101
deshalb der Automatismus der Gegenbewegung beider Hände ver-
wunderlich? Symmetrie ist in dem Bau der Rindengebiete für die
Sinnesempfindungen, überhaupt in den anatomischen und physiologi-
schen Grundlagen unseres Geistes: warum sollten unsere Augen nicht
Wohlgefallen haben an symmetrischer Ordnung, da sie selbst sym-
metrisch eingebaut sind in Kopf und Gehirn?
Aber nie zuvor ist mir dieser Gedanke so überraschend, so greif-
bar, so lebendig verkörpert vor das Angesicht getreten als in dem
Augenblicke, da das kleine symmetrische Wesen, unser zweijähriger
Knabe, mit beiden Fäustchen gleichzeitig an der großen Schultafel die
symmetrische Gruppe der beiden »Waldemare« ins Leben rief. (Abb. 2.)
Mit 3 Jahren zeichnete er die symmetrische Gruppe der Soldaten
(Abb. 3), mit 4 Jahren die der »Kasperl« (Abb. 4), mit 5 Jahren die
der Männer, der Autos (Abb. 5) und des Gekritzels (Abb. 1).
Als der Knabe 4 Jahre zählte, tauchte in mir der Gedanke auf,
ob sich die Entwicklung des Sinnes für Symmetrie nicht näher be-
obachten ließe.
Ich sah dem Knaben zu in seinem Spiel mit Bauklötzchen. Es
schien mir, als ob sich in den »Bauten« ein Anlauf zu symmetrischer
Ordnung zeigte. Aufs Geratewohl stellte ich einen Versuch an. Leider
war dieser viel zu wenig planmäßig angelegt. Ich gab dem Knaben
erst zwei Klötzchen und forderte ihn auf mit diesen zu »bauen«.
Dann mußte er mit 3, darauf mit 4 Klötzchen »etwas machen«. Was
entstand, war zum Teil symmetrisch gelegt oder gestellt, zum Teil nicht.
Noch weniger befriedigte ein Versuch, solche Bauten aus 2, 3
und 4 Klötzchen zu zeichnen. Das Bestreben nach symmetrischer
Ordnung war zu erkennen, doch drang es nicht durch.
Als der Knabe fünf Jahre alt war, wiederholte ich an einem Tag
den Bau-, am nächsten Tag den Zeichenversuch. Dieses Mal waren
die Versuche überlegter.
Bau- und Zeichenversuch stimmen sinngemäß überein; deshalb
sei zum Verständnis des Bauversuches auf die Zeichnungen des
Knaben in den Abbildungen 6—9 hingewiesen.
a) Ich legte ein Klötzchen hin und forderte den Knaben auf, ein
zweites daraufzustellen. Er fragte, ob er mit der linken Hand
bauen müsse. Antwort: »Mit der rechten!« Der Knabe ge-
brauchte die rechte Hand. (In den folgenden Bauten wollte die
Linke einigemal mithelfen; er besann sich aber schnell und zog
sie wieder zurück.) Die Hand stellte nun das Klötzchen zuerst
rechts auf das Ende des liegenden. Ich nahm es weg und
forderte den Knaben auf, es anders daraufzustellen. Er er-
102 A. Abhandlungen.
richtete es auf dem linken Ende. Ich nahm es wieder. Er
stellte es nun in der Nähe der Mitte auf.
Nun verlangte ich, es so aufzubauen, daß es am schönsten ist.
Jetzt setzte er es genau auf die Mitte. (Abb. 6.)
Ich: »Ist es so am schönsten ?«
Er: »Mir gefällt am allerbesten, wenn das (auf das stehende Klötzchen
zeigend) in der Mitte ist, daß man halb auseinander sieht.«
Ich: »Nun sollst du alles so bauen, daß es am schönsten ist!«
b) Ich stellte ein Klötzchen aufrecht mit der Aufforderung ein
zweites darunter zu legen.
a b c
| d-
(Abbildung 6.)
c) Ich stellte eines aufrecht und veranlaßte ihn ein zweites darauf
zu legen.
d) Ein Klötzchen liegt. Erste Aufforderung: »Stelle eins darauf!«
Zweite Aufforderung: »Nun lege noch eins darüber!«
e) Er darf beliebig weiter bauen.
Sämtliche Gebilde von a bis e sind symmetrisch.
Nun wurden 3 Klötzchen, 1 längeres und 2 kürzere benutzt. (Abb. 7.)
a b c
(Abbildung 7.)
Buchner: Gegenbewegung der linken Hand und Symmetrie. 103
a) Ich stelle 2 Klötzchen auf. Er legt ein längeres symmetrisch
darüber.
b) Ich lege ein längeres hin. Er errichtet die zwei kürzeren sym-
metrisch darauf.
(Abbildung 8.)
c) Ich setze zwei Klötzchen auf. Er legt ein längeres symmetrisch
darunter.
Es wurde mit 4 Klötzchen, 3 kürzeren und einem längeren, ge-
baut. (Abb. 8.)
(Abbildung 9.)
a) Ich errichte die 3 kürzeren Hölzchen. Er legt das längere
symmetrisch darüber.
b) Der Knabe legt das längere symmetrisch darunter.
104 B. Mitteilungen.
Endlich wurden Gebilde mit 5 und mehr Klötzchen aufgeführt.
(Abb. 9.)
a) Ich lege ein längeres hin. Er stellt 3 kürzere darauf und legt
über diese ein längeres. Die Anordnung ist symmetrisch.
b) Er darf weiter bauen.
Der Zeichenversuch, dessen Ergebnis die Abbildungen 6 bis 9
bilden, bedarf keiner weiteren Erklärung. Die symmetrische An-
ordnung ist nicht immer ganz rein, doch beanstandete es der Knabe
stets selbst, wenn er etwas »nicht ganz schön fertig gebracht«, wie in
Abbildung 6.
Die Aufeinanderfolge im Zeichnen der Stöckchen ist auf Abb. 9b
in Ziffern vermerkt. Die Hölzchen 9, 9, 9“, 9“ in dieser Figur
wurden nacheinander erst links gezeichnet und dann in derselben
Reihenfolge rechts. Diese Rechtsbewegung der rechten Hand wurde
nicht nur im Zeichen- sondern auch im Bauversuch beobachtet.
Als Ergebnis beider Versuche darf für unsern Knaben der Satz
ausgesprochen werden: Im Alter von 5 Jahren ist der Sinn für sym-
metrische Anordnung einfacher Gebilde von Bauklötzchen sowohl im
Bauen als auch im Zeichnen deutlich erschlossen.
Sollen wir einen letzten Bogen spannen über die Untersuchung
»Gegenbewegung der linken Hand und Symmetrie«, so mag er so aus-
sehen: In der linken Hand liegt eine natürliche Neigung zur
Gegenbewegung. Sie wird sichtbar in der Spiegelschrift, in
der Linksbewegung beim Zeichnen, geht aber im Schreiben
und Zeichnen bis zu einer gewissen Tiefe unter und ragt
nur dauernd hervor in verschiedenen Handarbeiten, im
Schwimmen, Turnen u. dergl. Die Gegenbewegung beider
Hände schafft symmetrische Gebilde Unser Sinn für Sym-
metrie taucht unter in den symmetrischen Bau unseres Leibes.
B. Mitteilungen.
1. Ein Fall von Mysophobie.
Von Oberlehrer Dr. Krassmöller, Berlin-Wilmersdorf.
Im Anfangsunterricht der Physik einer Berliner Realschule hatte ich
Gelegenheit, einen Fall von Mysophobie (Berührungsfurcht, Schmutzfurcht)
festzustellen.
Anläßlich der Versuche über Reibungselektrizität forderte ich den
vierzehnjährigen Schüler N. N. auf, eine Hartgummistange mit einem
Katzenfell zu reiben. Zu meiner größten Verwunderung geriet der Junge
2. Die Ausstellung zur vergleichenden Jugendkunde der Geschlechter. 105
bei diesem Aufruf in eine mir zunächst unerklärliche Angst: er begann
zu zittern, wurde bleich und kam auch meiner wiederholten Aufforderung
nicht nach. Da sein Betragen sonst nichts zu wünschen übrig ließ, und
er mir auch als ein nervöser, schwächlicher Junge bekannt war, ließ ich die
Sache zunächst auf sich beruhen und forderte einen andern Jungen auf. —
Nach der Stunde fragte ich den Schüler, der immer noch sehr auf-
geregt war, weshalb er denn das Katzenfell nicht angefaßt habe. Er geriet
darauf wieder in einen krankhaften Angstzustand und wollte erst nicht
mit der Sprache heraus. Erst auf eindringliches Zureden gab er mir als
Grund für sein Verhalten an, er befürchte, in dem Katzenfell sei Un-
geziefer, eine Vorstellung, die ihm einen unwiderstehlichen Ekel einflöße.
Diese Angabe entbehrte jeder tatsächlichen Grundlage; denn das Katzen-
fell war zufälligerweise gerade neu angeschafft worden. Jetzt erkannte
ich, daß er mir nicht den wahren Grund gesagt, sondern nur eine Aus-
rede angegeben hatte, durch die er vor sich selbst und andern sein merk-
würdiges Verhalten motivieren wollte. Es handelte sich also um einen
Fall von Mysophobie. Ich versuchte nun durch gütiges Zureden zu er-
reichen, daß er das Fell wenigstens flüchtig berührte. Das gelang mir
nach einer Weile: der Junge brachte vorsichtig seine Fingerspitzen an das
Fell, streifte sie sogleich wieder mit einer charakteristischen Bewegung an
seiner Jacke ab. Auf näheres Befragen gab er zu, daß er die gleiche Be-
rührungsfurcht auch vor allen sammetartigen Stoffen habe. —
Der Mysophobie lag auch hier natürlich eine Zwangsvorstellung zu-
grunde, deren Herkommen ich nicht zu ergründen vermochte. Dies war
Aufgabe des Spezialarztes, dem die Eltern den Jungen auf mein Anraten
in Behandlung gegeben hatten. —
2. Die Ausstellung zur vergleichenden Jugendkunde
der Geschlechter auf dem Kongress des Bundes für
Schulreform in Breslau 1913.')
Bericht von A. Lode.
Mit der diesjährigen Tagung des Bundes für Schulreform war eine
» Ausstellung zur vergleichenden Jugendkunde der Geschlechter« verbunden.
Sie war dazu bestimmt, die Vorträge des Kongresses, die sich dem Haupt-
thema der Verhandlung: »Der Unterschied der Geschlechter und seine
Bedeutung für die öffentliche Jugenderziehung« unterordneten, zu ergänzen.
Sie sollte »einen Überblick gewähren über Übereinstimmungen und Unter-
schiede im psychischen Verhalten von Knaben und Mädchen verschiedenen
Alters« und enthielt darum nur solche Materialien, die unter vergleich-
baren Bedingungen gewonnen worden waren.
Wie Prof. W. Stern im Vorbericht ausdrücklich bemerkt, haben die
Ergebnisse lediglich als Durchschnittswerte Bedeutung; »sie geben
das typische Verhalten von Knaben und Mädchen an, können aber nicht
1) Vergl. »Arbeiten des Bundes für Schulreform 7«. Leipzig, Teubner, 1913.
Im Buchhandel zu haben zum Preise von 1 M.
106 B. Mitteilungen.
über die großen individuellen Variationen innerhalb jedes Geschlechts aus-
sagen.«
Ehe ich auf die Darstellung der einzelnen Ausstellungsbeiträge ein-
gehe, möchte ich vorausschicken, daß es zum Teil recht schwer war, aus
der Fülle des Gebotenen die wichtigsten Ergebnisse der einzelnen Ver-
suche herauszulesen, da eine große Anzahl der Aussteller zu wenig Wert
darauf gelegt hatte, die Hauptergebnisse kurz und leicht übersichtlich in
einer Ergebnistabelle zur Darstellung zu bringen. Das wäre schon
deshalb recht wünschenswert gewesen, weil auch der Ausstellungskatalog
den Besucher in diesem Punkte im Stiche ließ und — weil auch dem
Laien die Ausstellung offen stand, der kaum aus den zahlreichen Kurven
und sonstigen graphischen Darstellungen die Ergebnisse wird heraus-
zulesen vermögen.
Der Inhalt der Ausstellung bestand »in Erzeugnissen kind-
licher Geistesarbeit (Gedichten, Aufsätzen, Zeichnungen, Plastiken,
Werkarbeiten), in graphischen und tabellarischen Darstellungen von statisti-
schen und experimentellen Untersuchungsergebnissen,« die aus den ver-
schiedensten Schulgattungen, besonders aber Volksschulen, entstammten.
Wir wenden uns nun den einzelnen Ausstellungsobjekten zu und be-
ginnen mit den
I. »Erzeugnissen freien literarischen Schaffens von Kindern
und Jugendlichen,«< die Poesie und Prosa umfassen und von Fritz
Giese-Berlin in außerordentlich großer Anzahl gesammelt und verarbeitet
worden sind.
Sämtliche Beiträge, ca. 3200, von denen natürlich nur Stichproben
ausgelegt waren, waren gänzlich unbeeinflußt entstanden; kein Verfasser
war zur Produktion durch den Aussteller veranlaßt worden, hatte beim
Produzieren auch nicht geahnt, daß sein Erzeugnis jemals einer statisti-
schen Erhebung als Material dienen würde.
Durch die Stichproben wurden
1. die verschiedenen Themata der Jugenddichtung demonstriert,
2. die Variation der Grundstimmung jugendlicher Dichtungen ver-
anschaulicht und
3. Spezialfälle behandelt.
Zu 1. Aus dem Vergleich der Geschlechter ergibt sich, daß in der
Poesie die Satire rein männlich ist, ferner die Historie, Politik, der
Patriotismus, die Technik. Dagegen sind typisch weiblich die Themata
Märchenwelt, Übersetzung, Idyllen, Erbaulich-Lehrhaftes. In der
Prosa sind männliche Themen: Sturm und Drang, Parodien, Gesell-
schaft, Übersetzung, Anekdote, Patriotismus, Technik, Wissenschaft,
Kritizismus, Referat, Essay, Reformerisches.
Für die Mädchen kommt typisch in Betracht: Natur, Gelegenheits-
dichtung, bestimmtes Ereignis, Symbolik, also viel weniger Themata.
Zu 2. Aus den graphischen Darstellungen ergibt sich eine sehr
starke Verschiedenheit der Geschlechter, außerdem eine Verschiedenheit
in Poesie wie in Prosa. »In der Poesie ist vorwiegend männliche
Stimmung die ernste, traurige, abenteuerliche, ironische, — die vor-
2. Die Ausstellung zur vergleichenden Jugendkunde der Geschlechter. 107
wiegend weibliche Stimmung die heitere, frohe, romantische und viel-
leicht noch die sinnliche und unbestimmte. In der Prosa ist männlich
die komische, abenteuerliche, ironische, nachdenkliche, sinnliche, kritische
Stimmung. Dagegen dominieren in der weiblichen Prosa die frohe,
traurige. ernste und romantische Stimmung, obwohl hier die Tendenzen
lange nicht so klar sind, so typisch, wie beim männlichen Autor.«
Zu 3. Diese Abteilung enthielt zunächst eine kleine Auswahl von
Zeitschriften für die Jugend, geschrieben von der Jugend, z. B. den »An-
fange, den »Quell«, den »Monat« und die weibliche »das vierblättrige
Kleeblatt. — Außerdem waren in Proben bedeutsame Einzelpunkte aus-
gesucht worden, z. B. für die Frage nach dem Milieu. Man konnte ver-
gleichen die dichterischen Erzeugnisse von männlichen Arbeitern, Fürsorge-
zöglingen und Strafgefangenen mit denen von weiblichen Arbeiter- und
Volksschulkindern. Dem Gymnasiasten gegenüber wurde die Gymnasiastin
vorgeführt. Die Proben ließen deutlich erkennen, »daß das sozial tiefere
Milieu primitiver, sozusagen zurückgeschraubt in seinem Schaffen sein
kann, daß aber trotzdem dort auch gute Begabung zutage tritt«. Alle
Proben dieser Schichten zeichneten sich aus durch »krasse Unlogik und
Unwahrscheinlichkeit. Unter dem Spiegel der Märchenwelt werden von
den tieferen Schichten oft unglaubliche Dinge als möglich dargestellt.«
Dabei herrscht eine gedrückte Stimmung in der Arbeiterdichtung, die
übrigens auch nicht frei von Tendenz ist. »Bei der Gymnasiastin ist sehr
interessant, daß sie, trotz gymnasialmännlicher Bildung, ihre Vorliebe für
die Natur und das mehr Heiterfrohe bewahrt, daß sie nicht wie die
Gymnasiasten philosophiert und grüblerisch arbeitet!«
In dieser Abteilung war weiter ausgestellt eine ungefähre Übersicht
über die typischen Vertreter der Altersstufen beider Geschlechter. —
Der Kulminationspunkt der Jugenddichtung liegt zwischen 12—17 Jahren.
Während bei den Knaben dann erst das eigentliche Schaffen beginnt, hört
die Produktion bei den Mädchen meist ganz auf. Der Typ der frühen
Kindheit ist das Reimen, an den sich der Typ der lehrhaften und morali-
sierenden Beiträge anschließt. »Ein dritter Typ ist dann das Religiöse,
das bei den Mädchen schon vorher, nun aber besonders gern eintritt, und
bei den Knaben deshalb auch hier erscheint, weil für diese die Zeit des
Kritischen naht. Das Mädchen ist um das 12. bis 13. Jahr fromm-gefühl-
voll, traditionell, der Knabe antireligiös, prometheidenhaft, keck und zer-
trümmernd.« In der anschließenden Zeit neigen die Mädchen vorzüglich
der geheimnisvollen Märchenwelt zu, an die sich darnach die Erotik an-
schließt, die von nun an neben der Natur die weibliche Dichtung beherrscht,
während die Knaben immer mehr der Satire, dem bissigen Aphorismus
huldigen und abenteuerliche Phantasiekonstruktionen berücksichtigen. »Ein
letzter Typ ist der des Erwachsenen, etwa vom 17. Jahre ab,« der freilich
nicht mehr als reiner Typ bezeichnet werden kann, »denn das Mädchen
ist nun vollendet und bleibt (gewöhnlich) stehen, während der Knabe, der
männliche Jugendliche jetzt beginnt frei, individuell zu produzieren.«
Eine letzte Gruppe behandelt noch gesondert das Thema Erotik, da
es zu den interessantesten der Jugenddichtung gehört. Ein besonders
108 B. Mitteilungen.
interessantes Moment ist das der Verhüllung, das angewandt wird, um
erotische Gefühle zu verbergen, so daß Liebesgedichte zunächst gar nicht
als solche erkannt werden. Es wird beispielsweise das Erotische verhüllt
durch Religiöses. Eine Unterart bilden die nur beim weiblichen Ge-
schlechte vorgekommenen Täuschungsgedichte, die darin bestehen, daß etwa
14—15 jährige in Gestalt des Jünglings, des Mannes ihre Sehnsucht be-
singen, um so ihr eigenes Geschlecht zu verbergen, oder die die Natur
anbeten und in Wahrheit eine männliche Person meinen.
Zusammenfassend schreibt Giese selbst im Führer: »Im ganzen
zeigt sich eine starke Verschiedenheit der Geschlechter in Prosa wie
Poesie, in Inhalt wie Stimmung. Diese Verschiedenheit ist sowohl im
allgemeinen wie bei den Altersstufen durchaus als klar hervortretend an-
zusehen. Folglich muß der psychische Hintergrund der Produktion auch
ein verschiedener sein.«
I. Ergebnisse psychologisch-statistischer Untersuchungen
über das schriftliche Darstellen an Knaben und Mädchen der
Volksschulen.
Durch die Breslauer psychologische Arbeitsgemeinschaft des Breslauer
L.-V. war im Winter 1911/12 eine Aufsatzuntersuchung als Massen-
experiment veranstaltet worden, an dem etwa 800 Kinder, Knaben und
Mädchen, teilgenommen hatten. Folgende 3 Themen waren als Klassen-
arbeiten ohne jede besondere Instruktion innerhalb von je 45 Minuten
zu bearbeiten:
1. »Das Wiedersehen.« (Jedem Kinde wurde 7 Minuten lang ein
Münchener Bilderbogen »Das Wiedersehen« vorgelegt, dessen Text weg-
geschnitten war. Darnach mußten sie den Inhalt schriftlich darstellen.)
2. »Warum der Winter gefällt.«
3. »Was ich tun möchte, wenn ich groß sein werde.«
»Die Vielheit der Themata erwies sich als sehr vorteilhaft; denn es
zeigte sich, daß gewisse psychische Unterschiede zwischen den Geschlechtern
in nicht unbeträchtlichem Maße vom Thema abhängig waren. Bei An-
wendung eines einzigen Themas hätte man also leicht zu falschen Ver-
allgemeinerungen kommen können.e — Von dem reichen Material wurde
zunächst nur das einer Knaben- und Mädchenschule und zwar im psycho-
logischen Universitätsseminar unter Prof. W. Sterns Leitung verarbeitet.
Die Ergebnisse dürfen deshalb auch noch nicht als allgemein gültige be-
trachtet werden.
Die Haupttätigkeit des Seminars erstreckte sich auf das 1. Thema.
Es wurden ausgearbeitet a) ein Grundschema, welches das unbedingt
notwendige Gerippe des im Bilde dargestellten Vorgangs enthielt, b) ein
für jeden Aufsatz auszufüllender Individualbogen. Dieser enthielt
Rubriken für die Analyse, sowie Gesichtspunkte für eine Gesamtschätzung
jedes Aufsatzes. Aus den ausgelegten Tabellen und Kurven war nun zu
ersehen, »daß der Altersfortschritt der Knaben fast überall ein sehr viel
gleichmäßigerer ist als der der Mädchen. In der 4. Klasse sind die Mädchen
den Knaben in fast allen Punkten merklich voraus; in der 3. und 4. Klasse
herrscht ziemliche Ähnlichkeit; in der 1. Klasse stehen die Mädchen in
3. Bericht über den XIV. Blindenlehrer-Kongreß in Düsseldorf. 109
den meisten Punkten außerordentlich weit hinter den Knaben zurück.«
So zeigt dieser Versuch wiederum, »daß ein Hauptunterschied der Ge-
schlechter während des Jugendalters in ihrem ganz verschiedenen Ent-
wicklungstempo liegt«.
Vom 2. Thema wurden 200 Aufsätze von Herrn Kreisrektor Krämer
und Fräulein M. Hoffmann unabhängig voneinander bearbeitet und dabei
folgende Ergebnisse gewonnen: Von den Knaben wurde das Thema leb-
hafter begrüßt als von den Mädchen. Sie haben nicht nur mehr zu er-
zählen, sondern verfügen auch über viel mehr persönliche konkrete Er-
lebnisse. Die Mädchen sind objektiver. »Sehr verschieden sind die Inter-
essenrichtungen. Das betrachtende Interesse an der Natur ist bei den
Mädchen ungleich stärker als bei den Knaben, das aktive Interesse am
eigenen Bewegen und Schaffen (Schlittenfahren, Schneeballwerfen usw.)
ungleich geringer.« »Die freiich teils durch subjektive Deutung ge-
wonpenen Resultate ergeben, daß bei den Knaben die Intensität der
Reaktion auf das Thema eine höhere ist als bei den Mädchen. Eigenart
tritt bei Knaben stärker als bei Mädchen hervor.«
Vom 3. Thema wurden je 20 Aufsätze aus jeder der 4 Knaben- und
Mädchenklassen einer Bearbeitung unterzogen und darüber von Frl. Reich
folgende vorläufige Ergebnisse mitgeteilt:
»Geschiechtsunterschiede traten besonders deutlich bei den höheren
Schulklassen hervor.
1. Das Streben nach sozialem Höherkommen ist bei den Knaben ein
weit stärkeres als bei den Mädchen.
2. Zukunftspläne der Knaben sind meist langfristig und erstrecken
sich über Jahrzehnte, manchmal sogar über das ganze Leben hinaus.
Die Zukunftspläne der Mädchen dagegen sind auffallend kurzfristig,
was wohl zum Teil in der stillschweigenden Voraussetzung einer
zeitigen Heirat seinen Grund hat.
3. Soziales Interesse zeigt sich bei den Knaben häufiger, ist dagegen
bei den Mädchen so gut wie gar nicht vorhanden.
4. Wißbegierde zeigt sich bei den Knaben häufig, bei den Mädchen
überaus selten und auch dann meistens nur innerhalb des Berufes
oder im Hinblick auf die Tätigkeit im Haushalt.« (Schluß fogt.)
3. Bericht über den XIV. Blindenlehrer-Kongress
in Düsseldorf vom 21.—24. Juli 1913.
Von G. Fischer, Inspektor der Blinden-Erziehungs-Anstalt Braunschweig.
(Schluß.)
Am 2. Kongreßtage wurden die Verhandlungen in Düren in der
dortigen Provinzial-Blindenanstalt fortgesetzt.
Morgens führte ein Sonderzug die Kongreßteilnehmer nach Düren, wo
sie sich zunächst in das »Annaheim«, eine Stiftung des Geh. Kommerzien-
rates Philipp Schöller und seiner Gattin, begaben und dort von dem
Sohne des Stifters, Herrn Philipp Schöller jun., herzlichst begrüßt
wurden.
110 B. Mitteilungen.
Namens der Provinzial-Verwaltung in Hannover lud hier Herr
Schatzrat Dr. v. Campe den nächsten Kongreß nach Hannover ein. Die
freundliche Einladung wurde gern angenommen. Im Saale des Annaheims
hielt sodann Herr Blindenlehrer Koch-Düren einen Vortrag über
»Jugendpflege in der Blindenanstalt«.
Jugendpflege betrachtet er als eine der vornehmsten Aufgaben einer
jeden Blindenanstalt. Sie bezweckt die Heranbildung der jungen Blinden
zu körperlich leistungsfähigen, frohen, von Gemeinsinn und Gottesfurcht,
Heimat- und Vaterlandsliebe erfüllten Menschen durch intensive Pflege
des Körpers, allgemeine hygienische Maßnahmen und besondere Veranstal-
tungen wie Turnen, Schwimmen, Spiel und Wanderungen in einer das
Vertrauen der Zöglinge gewinnenden Weise.
Nicht minder nötig sei der Jugendpflege auch geregelte Geistestätig-
keit, um durch sinnige Betrachtung der Natur, durch Lektüre und Musik
den körperlich Tüchtigen auch für das Schöne und Edle empfänglich zu
machen. Die den Kongreßteilnehmern sodann dargebotenen Vorführungen
der Zöglinge, der Vortrag des Hallelujah aus dem Messias von Händel
für gemischten Chor, turnerische Leistungen (Frei- und Geräteübungen)
der klassenweise geordneten männlichen und weiblichen Blinden und
Schwimmübungen der männlichen Zöglinge in der Schwimmanstalt im
Roerfluß gelangen vorzüglich und erweckten den lebhaftesten Beifall der
Zuschauer; besonders anerkennenswert und kaum vom Sehenden zu über-
treffen war die Gewandtheit, Sicherheit und Kraft der blinden Turner und
Turnerinnen.
Es folgte dann die Besichtigung der einzelnen Anstaltsgebäude und
ihre innere Einrichtung und Ausstattung. Die Blindenwerkstätte und das
Heim für gebrechliche Blinde werden von dem Blindenfürsorge-Verein der
Rheinprovinz unterhalten. Neun Einzelgebäude, von Spielplätzen und
Parkaulagen umgeben, im Innern zweckmäßig eingerichtet und vorbildlich
ausgestattet, bilden die Gesamtanstal. Das Annaheim (Philipp Schöller-
Stiftung), mit einem Kostenaufwande von 500000 M. errichtet, zählt
90 Insassen, die vorzugsweise das Bürstenmachen, die bewährteste Be-
schäftigung für blinde Mädchen, betreiben. Die Gesamtzahl der Blinden
in der Dürener Anstalt beträgt etwa 400, davon sind über 200 Zög-
linge; letztere werden in 8 Schulklassen, 1 Vorschule, 2 Abteilungen
für Schwachbefähigte und 1 Abteilung für Taubblinde von dem Direktor,
9 Blindenlehrern und 1 Hilfslehrerin unterrichtet. Die von einer Anzahl
von Werkmeistern und Werkmeistergehilfen gewerblich unterrichteten
Zöglinge erhalten außerdem in 3 Fortbildungsklassen Fortbildungsschul-
unterricht. Die Rheinprovinz unterhält außer der größeren katholischen
Blindenanstalt in Düren noch eine kleinere in Nenwied a. Rh. Der Pro-
vinzialzuschuß beträgt für die erstere 128565 M., für die letztere
66545 M., zusammen 195110 M. im laufenden Jahre. Die hohen Zu-
schüsse ermöglichen eine bessere Verpflegung der Anstaltsbewohner. Wie
die Provinzialverwaltung so ist auch der unter dem Vorsitz des Landes-
hauptmanns Dr. v. Renvers wirkende »Verein zur Fürsorge für die
Blinden der Rheinprovinz« in der Lage, reiche Mittel bereit zu stellen.
3. Bericht über den XIV. Blindenlehrer-Kongreß in Düsseldorf. 111
Dieser Verein sorgt — wie auch die übrigen in Deutschland bestehenden
Blinpdenfürsorge- Vereine — besonders für die Ausbildung Späterblindeter
in einem geeigneten Gewerbe und für lohnende regelmäßige Beschäftigung
der seiner Fürsorge unterstehenden Blinden. Er hat in Düren eine Blinden-
werkstätte für 250000 M. und vor kurzem ein Heim für gebrechliche
Blinde für 217000 M. errichtet. Der Verein zählt 31400 persönliche,
440 korporative und 256 Ehrenmitglieder; in 398 Bezirken werden die
Vereinsinteressen erfolgreich vertreten, die Beiträge der Mitglieder allein
betragen annähernd 50000 M.
Im einheitlichen Zusammenwirken mit der Provinzialverwaltung und
den Direktionen der beiden rheinischen Blindenanstalten Düren und Neuwied
konnte der Verein zur Fürsorge für die Blinden der Rheinprovinz eine
langjährige segensreiche Tätigkeit entfalten und an der Entwicklung des
rheinischen Blindenwesens zu seiner heutigen Höhe hervorragenden An-
teil haben.
Gegen Abend folgten die Kongreßteilnehmer mit ihren Gästen einer
Einladung der Provinzialverwaltung zum Festessen in den oberen Räumen
der Gesellschaft »Harmonie« in Düren, nachdem sie mittags schon vom
Verein zur Fürsorge für die Blinden der Rheinprovinz im »Annaheim«
gastfreundlich bewirtet worden waren.
Der 3. Verhandlungstag brachte zuerst den Vortrag des Blinden-
lehrers Peyer (Hamburg) über das Thema i
»Der erste Sprachunterricht in der Blindenschule unter besonderer Be-
rücksichtigung der sprachlichen Entwicklung des blinden Kindes«.
Der Vortragende kennzeichnet zunächst die eigenartige sprachliche
Entwicklung des blinden Kindes, die sich in einem langsameren Fort-
schreiten, einer ungenaueren Artikulation und besonders auch darin von
der des sehenden Kindes erheblich unterscheide, daß die Gebärdensprache
als wichtiges Bindeglied zwischen Nachahmung und selbständigem Sprechen
ausgeschaltet sei und die Verknüpfung der Lautvorstellung (als Gehör-
und Sprachbewegungsvorstellung) mit der Sachvorstellung bei der be-
kannten Begriffsarmut der Blinden nur mangelhaft und lückenhaft erfolgen
könne. Sodann zeigt er, wie diesen Mängeln im Unterrichtsverfahren zu
begegnen sei durch zweckmäßige lautsprachliche Ausbildung, einen
lebendigen sprachlichen Anschauungsunterricht und allseitige Durchbildung
und Verknüpfung aller Vorstellungsbestandteille.e Auch hier seien die
Prinzipien der »Arbeitsschule«, möglichste Selbstbetätigung der blinden
Schüler, zur Geltung zu bringen.
Es folgte nun eine Gesamtbesprechung der vorerwähnten 4 Vorträge,
die in Anbetracht des inneren Zusammenhangs derselben von vornherein
beschlossen war. An der Besprechung beteiligten sich die Herren Schlüter
(Neuwied), Grasemann (Hamburg), Reckling (Halle) in einem den
Forderungen der »Arbeitsschule« zustimmenden’Sinne, während Herr Ober-
lehrer Conrad (Steglitz) und Berichterstatter ihren in mancher Beziehung
abweichenden Standpunkt vertraten.
Letzterer führte aus, daß schon in der heutigen Blindenschule der
zwischen »Lernschule« und »Arbeitsschule« konstruierte Gegensatz nicht
112 B. Mitteilungen.
bestehe, da sie die handelnde Betätigung, das Prinzip der Erarbeitung des
Wissens durch möglichste Selbstbetätigung der Zöglinge im weitgehendsten
Maße seit Einführung des Modellierens, plastischen Zeichnens, der Fröbel-
arbeiten und des Handfertigkeitsunterrichts berücksichtigte, daß die Reform-
bewegung demnach keine neuen Gedanken bringe, sondern nur schon be-
stehende und anerkannte Grundsätze, wenn auch mit mehr Nachdruck
und eingehenderer psychologischer Begründung, vertrete, daß ferner eine
Einschränkung der jetzigen Lehrpläne zugunsten einer vermehrten motorisch-
technischen Betätigung der Zöglinge nicht empfehlenswert erscheine, be-
sonders in Rücksicht auf die weniger motorisch, um so mehr aber geistig
gutveranlagten Blinden, die dann benachteiligt würden; auch sei die
»Arbeitsschule« vorerst in der Hauptsache nur theoretisch begründet, an
hinreichenden praktischen Erfahrungen mangele es zurzeit noch; der
Warnung des Referenten vor übereilten Reformen könne er sich daher
aus voller Überzeugung anschließen.
Direktor Bauer (Halle) äußerte sich zu dem Thema »Selbstregierung«
usw. dahin, daß die in dieser Hinsicht in der Blindenanstalt Halle a. S.
gemachten Erfahrungen noch nicht befriedigt hätten, daß aber trotzdem
weitere Versuche im Sinne des Referenten stattfinden würden.
Herr Peyer (Hamburg) sprach sich sehr lobend aus über den körper-
lichen Zustand und die turnerischen Leistungen der Zöglinge in der
Provinzialblindenanstalt in Düren.
Direktor Maas (Soest) erklärte den von ihm im Garten der Blinden-
anstalt in Soest angelegten Spielpark, der den Zöglingen nicht nur den
Aufenthalt im Freien angenehmer gestalte, sondern auch ein reiches An-
schauungsmaterial, besonders geographisches, darbiete.e Zu einer ausführ-
licheren Besprechung der inhaltreichen Vorträge reichte leider die schon
vorgerückte Zeit nicht aus.
Ein Antrag des Direktors Schaidler (München) auf Einführung der
gesetzlichen Schulpflicht für Taubstummenblinde wurde seitens des Ver-
treters des preußischen Kultusministeriums dahin beantwortet, daß nach
den angestellten Erhebungen für diese Kinder, soweit sie bildungsfähig
seien, schon jetzt durch Überweisung in Blinden- oder Taubstummen-
anstalten hinreichend gesorgt sei, daß es demnach gesetzlicher Maßnahme
zurzeit nicht bedürfe.
Aus der weiteren Besprechung dieses Antrages, an der sich die
Herren Regierungsrat Mell (Wien), Direktor Baldus (Düren) und Direktor
Wagner (Prag) beteiligten, ergab sich, daß der Prozentsatz der Taub-
stummenblinden in Preußen und Deutschland auffallend gering ist im
Vergleich zu anderen Staaten.
Herr Musikdirektor Meyer (Steglitz) berichtete über die Tätigkeit der
Musikschrift-Kommission betr. das Braillesche Musikschriftsystem für Blinde,
Herr Direktor Wagner (Prag) erstattete den Bericht der »statisti-
schen internationalen Kommission«, nach dem ein auffallender Rückgang an
Erblindungen zu verzeichnen ist, der der ärztlichen Wissenschaft ein
glänzendes Zeugnis ausstellt.
4. Der II. Österreichische Kinderschutzkongreß. 113
Dem Schlußvortrage des Privatdozenten Herrn Dr. Bühler (Bonn) über
»Die Methoden der Intelligenzprüfung an Kindern mit Hin-
weisen auf ihre Anwendung bei Mindersinnigen«
lagen folgende Leitsätze zugrunde:
1. Eine möglichst allseitige Begabungsprüfung wird erstrebt von den
Testmethoden.
2. Systematisch zusammengestellte Serien ausgewählter Tests bieten
die Möglichkeit, das »Intelligenzalter«e eines Kindes mit praktisch
ausreichender Genauigkeit objektiv zu bestimmen.
3. Die besonderen Bedingungen für die Prüfung Mindersinniger werden
sich voraussichtlich ohne große Schwierigkeiten erfüllen lassen. Doch
mangelt es an Erfahrungen. Vor dilettantischen Versuchen ist die
pädagogische Praxis dringend zu warnen.
In Anschluß an diesen lehrreichen Vortrag gab Herr Grasemann
(Hamburg) auf Grund eigener Erfahrungen Erläuterungen über zweckmäßige
Anwendung von Testmethoden speziell bei Blinden.
Die mit dem Kongreß verbundene sehr reichhaltige und lehrreiche
Ausstellung von Lehrmitteln für die verschiedenen Zweige des Blinden-
unterrichts und von Arbeiten der Blinden erfreute sich eines beständigen
zahlreichen Besuches und gab von dem heutigen, weit vorgeschrittenen
Stande des Lehrmittelwesens und der Pflege der Handgeschicklichkeit im
Blindenunterricht ein anschauliches Bild.
4. Der II. Österreichische Kinderschutzkongreß.
Von Helene Goldbaum- Wien.
Kinderschutz und Jugendfürsorge stehen gegenwärtig im Mittelpunkt
aller sozialen Bestrebungen. Fast überall wird dieser Frage seit Jahren
groBe Aufmerksamkeit geschenkt, und fortwährend werden neue Reformen
zum Wohle der Jugend geschaffen. Ganz besonderes Interesse wendet
jetzt Österreich der Jugendpflege zu. Der im Jahre 1907 abgehaltene
I. Österreichische Kinderschutzkongreß, der Männer und Frauen aus allen
Teilen des Reiches und auch aus dem Auslande vereinigte, gestaltete sich
zu einer wahren Kundgebung. Manche Zweifel über die Ursachen der
kindlichen Verwahrlosung wurden aufgehellt und nützliche Anregungen
zu Reformen gegeben. Die Schaffung einer Zentralstelle für Kinderschutz
und Jugendfürsorge, die den Mittelpunkt der Jugendfürsorgebewegungen
bilden sollte, ist aus dem I. Kinderschutzkongresse hervorgegangen. Vieles
ist seit 1907 in dem Bereiche der Jugendfürsorge geschehen. So konnten
durch die im Justizministerium und im Ministerium des Inneren erlassenen
Bestimmungen manche früher gegebene Anregungen verwirklicht werden,
so z. B. die Errichtung eines Jugendgerichtshofes, die Regelung des Kine-
matographenwesens usw. Ganz besonders wurde in einzelnen Kronländern
der verwaisten, verlassenen, kranken und verwahrlosten Kinder gedacht.
Eine ganze Reihe von Anstalten sind zum Wohle des Kindes geschaffen
worden. Namentlich war es das Jubiläumsjahr 1908, das sehr beträcht-
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 8
114 B. Mitteilungen.
liche Spenden »Fürs Kind« brachte und einen großen Fortschritt in der
Ausgestaltung des Fürsorgewesens ermöglichte.
Dennoch bleibt noch viel zu tun übrig. Ganz besonders muß noch
jener Kinder gedacht werden, die durch schwere verderbliche Arbeit ge-
schädigt werden. Eine außerdem noch bestehende große Lücke in der
Fürsorgeerziehung ist bisher noch unberücksichtigt geblieben: wir Öster-
reicher entbehren bis jetzt einer allgemeinen Grundlage für das Fürsorge-
wesen. Viele schöne Anregungen können nicht durchgreifen, weil die dem
Abgeordnetenhause des Reichsrates vorgelegten Fürsorgegesetzentwürfe
noch immer ihrer Erledigung harren.
Der im September 1913 in Salzburg abgehaltene II. Österreichische
Kinderschutzkongreß hatte es sich zur Aufgabe gemacht, über die Regelung
der Kinderarbeit und über die Vorbereitung und Durchführung des Ge-
setzes über die Fürsorgeerziehung zu beraten.
Vertreter der Regierung, der kirchlichen, der Landes- und der Kom-
munalbehörden, Ärzte und Pädagogen, Anhänger der Kinderschutz-
bestrebungen waren gekommen, um mit Interesse den in der Aula der
alten Universität abgehaltenen Verhandlungen zu folgen. Auch Deutsch-
land war durch Delegierte sozialer Vereine sowie durch Pädagogen ver-
treten.
Nach einer feierlichen Eröffnungsansprache des Vorsitzenden, Ge-
heimen Rates Dr. Josef Maria Baernreither, Präsidenten der Zentral-
stelle für Kinderschutz und Jugendfürsorge, und nach einigen Begrüßungs-
reden begannen die Beratungen.
Die Verhandlungen wurden in zwei Abteilungen geführt. In der
ersten Sektion erstattete Dr. Michael Hainisch aus Wien ein inter-
essantes Referat über Kinderarbeit, in der zweiten Abteilung besprach
Sektionsrat Dr. Ladislaus Müller die Vorbereitung und Durch-
führung des Gesetzes über die Fürsorgeaktion.
Dr. Michael Hainisch gab einige Vorschläge zur Regelung der
Kinderarbeit vom wirtschaftlichen und sozialen Standpunkte. Redner faßte
seine Ausführungen in einer Reihe von Leitsätzen zusammen, von denen
ich die wichtigsten hier wiedergeben will: die Kinderarbeit ist mit einer
Reihe von nachteiligen Folgen für die Kinder verknüpft. Aus Gründen
wirtschaftlicher, insbesondere aber aus solchen sozialer Natur ist nur an
die vollständige Beseitigung einzelner Arten der Kinderarbeit, sonst aber
fast nur an eine Einschränkung derselben zu denken. Die Arbeit der
Kinder im Haushalte der Eltern lst keiner Beschränkung zu unterwerfen,
hingegen die im fremden Haushalte zu verbieten. Die Voraussetzung für
dieses Verbot ist allerdings, daß für die Versorgung der Armen- und
Waisenkinder, der unehelichen Kinder, sowie der besonders bedrängter
Familien seitens der Armenbehörde weit größere Mittel aufgebracht werden
wie bisher, so daß diese Kinder nicht mehr auf den Ertrag ihrer eigenen
Arbeit angewiesen sind. Im landwirtschaftlichen Großbetrieb ist die
Kinderarbeit ganz oder doch an Schultagen zu verbieten, in Mittel- und
Kleinbetrieben die Arbeit der Kinder des Besitzers zu erlauben. In allen
landwirtschaftlichen Betrieben ist die Kinderarbeit zwischen 7 Uhr abends
4. Der II. Österreichische Kinderschutzkongreß. 115
und 6 Uhr früh ebenso zu verbieten wie das Tragen von Lasten oder die
Arbeit an Maschinen überhaupt. Eigene Aufsichtsbeamte sollen die Ein-
haltung dieser Vorschriften überwachen. Hinsichtlich der Arbeit der
fremden Kinder im mittleren und kleineren Landwirtschaftsbetrieb gilt das
oben von der Arbeit im fremden Haushalte Gesagte. Die Verrichtung von
solchen gewerblichen Arbeiten, die an sich schon mit Gefahren für die
Arbeiter verbunden ist, soll den Kindern durch die Gesetzgebung unter-
sagt werden. Die Durchführung des Verbotes der Kinderarbeit im Groß-
betriebe ist streng zu überwachen. Das Verbot der Kinderarbeit in der
Hausindustrie hat Hand in Hand mit einer Regelung der Heimarbeit der
Eltern zu gehen.
Dr. Hainisch glaubt nicht, daß es möglich sein wird, die Kinder-
arbeit vollständig zu beseitigen.
An diese Ausführungen schloß sich eine lebhafte Debatte an, an der
sich zunächst Reichstagsabgeordneter Dr. Ofner beteiligte. Redner wies
darauf hin, daß im Referate einige Widersprüche enthalten wären und
sprach die Forderung aus, daß der Kongreß Schritte unternehmen möge,
um ein Verbot der erwerbenden Kinderarbeit durchzusetzen. Dr. Ofner
stellte einige Gegenanträge, in welchen er u. a. hervorhob, daß die
Kinderer werbsarbeit, verschieden von der erziehlichen Anleitung oder
gelegentlichen Verwendung der Kinder zu leichter Beschäftigung, mit
schweren Schäden für die Entwicklung der Kinder verbunden ist. Daher
sei eine vollständige Beseitigung der Kindererwerbsarbeit anzustreben.
Erwerbsarbeit muß bis zu einem gewissen Mindestalter unbedingt verboten
sein, ebenso Nachtarbeit, Arbeit an Sonn- und Feiertagen, bis auf Notfälle,
ferner schwere und gefährliche Arbeiten. Außerdem ist — insoweit Kinder-
erwerbsarbeit gestattet wird — die Arbeitszeit in Art und Dauer festzu-
stellen, so daß sie die Kraft des Kindes nicht übersteigt und den Schul-
besuch nicht beeinträchtigt. Staat, Land und Gemeinde sind verpflichtet,
Lernmittel und Unterkünfte für arme Kinder bereitzustellen.
Prof. Gurlitt (Berlin) vertrat die Ansicht, man müsse bei der Kinder-
arbeit auf dem Lande Unterschiede zwischen nützlicher und schädlicher
Kinderarbeit machen.
Hierauf beleuchtete Dr. Friedjung (Wien) die Nachteile der Kinder-
arbeit auf dem Lande. Das frühe Aufstehen, das Tragen schwerer Lasten
auf große Anhöhen bringt entschieden körperliche Schädigungen mit sich.
Damit trat er den Ansichten des landwirtschaftlichen Referenten entgegen,
der sich für die Kinderarbeit auf dem Lande aussprach.
Wanderlehrerin Ada Trunz (Brünn) trat ebenfalls für ein Verbot
der Kinderarbeit ein.
Gutsbesitzer Neuppert (Steiermark) führte aus, daß eine Einschränkung
der Kinderarbeit auf dem Lande unmöglich sei, da die Landarbeit sonst
zu sehr leiden würde.
In analogem Sinne äusert sich Dr. Pattai, indem er darauf hinwies,
daß die Bauern der Kinderarbeit ohne schwere Schädigung ihres Standes
und ihrer Einnahmequellen nicht entbehren können. Nimmt man den
Bauern die Möglichkeit, sich in schweren Arbeitszeiten mit den Kindern
8r
116 B. Mitteilungen.
zu behelfen, so nimmt man ihnen auch die Möglichkeit, die Kinder zu
ernähren.
Lehrer Neumann fordert ein gesetzliches Verbot der nicht erzieh-
lichen, sondern erwerbsmäßigen Beschäftigung der Kinder vor dem
14. Lebensjahre, eine gesetzliche Regelung des Schulzwanges in allen
Kronländern, die Abschaffung der Halbtagsbefreiung und die Umwandlung
der Lernschulen in Arbeitsschulen. Dr. Kraus spricht sich gegen die
musikalischen Aufführungen von Kindern aus. Abgeordneter Smitka meint,
daß das Verbot der Kinderarbeit durchgeführt: werden müsse ohne Rück-
sichtnahme auf die Heimarbeit.
In seinem Schlußworte wies Referent Dr. Hainisch darauf hin, daß
seinem Referate der Gedanke zugrunde lag, einem Ziele zuzustreben, das
wirklich erreicht werden könne. Dr. Hainisch meint, daß das Gesetz
nur dann durchführbar wäre, wenn sich die Verhältnisse der Heimarbeiter
bessern.
Hierauf gab Sektionschef Dr. Mataja eine Zusammenfassung der in
der Sektion »Kinderarbeit« stattgefundenen Verhandlungen. Er führte
aus, daß zwei verschiedene Meinungen einander gegenüber gestanden seien,
die des Dr. Hainisch, welcher die Durchführung des Verbotes der Kinder-
arbeit nur bei einer Regelung der sozialen Fürsorge für möglich halte und
die des Dr. Ofner, welcher in erster Linie für eine vollständige Beseitigung
der Kindererwerbsarbeit eintrat. Die die landwirtschaftliche Kinderarbeit
betreffenden Fragen werden auch weiterhin Streitfragen bleiben.
Die Sektion für Fürsorgeerziehung, welche unter dem Vorsitz des
Präsidenten Minister a. D. Dr. Marchet tagte, beschäftigte sich mit der
Vorbereitung und Durchführung des Gesetzes über die Fürsorgeerziehung.
Referent Sektionsrat Dr. Müller faßt sein Referat in folgende Leitsätze
zusammen:
Der vom Herrenhause angenommene Gesetzentwurf über die Fürsorge-
erziehung bildet eine geeignete Grundlage für die Lösung dieser wichtigen
und dringenden Kulturaufgabe Zur praktischen Durchführung der Für-
sorgeerziehung sind erforderlich: die Errichtung besonderer Heime in den
größeren Städten zur Unterbringung gefährdeter Kinder und allenfalls zur
Beobachtung der zur Fürsorgeerziehung überwiesenen; die Sorge für eine
zweckmäßige Durchführung der Fürsorgeerziehung in fremder Familie;
die Errichtung von Kursen zur Ausbildung eines seiner Aufgabe ge-
wachsenen Erziehungspersonals für die Anstalten. Vor allem sollen die
längst und allgemein als notwendig erkannten Gesetze über Fürsorge-
erziehung und Jugendstrafrecht beschlossen werden.
An dieses Referat schloß sich eine lebhafte Diskussion an, an der sich
ganz besonders die Frauen beteiligten.
Olga v. Zedlakowitz stellte den Antrag, daß in allen Instituten
und Wohltätigkeitsanstalten u. dgl. Mädchen, welche das 14. Jahr er-
reicht haben und Dienstboten werden sollen, unter dem weiteren Schutze
der Anstalt bis zum 17. Jahre bleiben mögen.
Oberleutnant Teuber, Präsident des Pfadfinderkorps, trat für die
Notwendigkeit der Förderung dieses Korps ein.
5. Zeitgeschichtliches. 117
Landesschulinspektor Hofrat Rieger gab einige wertvolle Anregungen;
er sprach sich für die Errichtung von regelmäßigen Kursen zur Aus-
bildung der Lehrer in allen Fragen der Jugendfürsorge aus. Es wäre ein
Verdienst des Kongresses, dahin zu wirken, daß dem $ 38 des Reichs-
volksschulgesetzes eine derartige Auslegung gegeben werde, daß die Tätig-
keit des Lehrers auf dem Gebiete der Jugendfürsorge als Tätigkeit im
politischen Schuldienste entsprechend angerechnet werde.
Bürgerschuldirektorin Marie Schwarz (Wien) spricht den Wunsch
aus, daß im Fürsorgegesetz des Schutzes der Mädchen vor sittlicher Ver-
wahrlosung gedacht werde.
Lehrerin Margarete Roller (Brünn) tritt für die Familienerziehung
ein und fordert eine gesetzliche Grundlage für die Organisation der
Jugendfürsorge.
Dr. O. Polligkeit, Leiter der Zentralstelle für private Fürsorge in
Frankfurt a. M., schließt sich ganz den Ansichten Dr. Baernreithers
an und meint, daß das Ziel der Fürsorgeerziehung Kampf gegen Ver-
brechen und Verwahrlosung sei.
Der Referent vertrat u. a. in seinem Schlußworte die Ansicht, daß
man der Mitwirkung der Lehrerschaft in der Fürsorgeerziehung nicht ent-
behren könne.
Der Vorsitzende, Minister a. D. Dr. Marchet, betont die Wichtigkeit
des Fürsorgegesetzes. Auch sei die Mitarbeiterschaft der Schulmänner an
der Fürsorgeaktion durch die freundliche Aufnahme, die dieses Verlangen
gefunden habe, als notwendig und erfreulich anerkannt worden.
In der Schlußplenarversammlung kamen nochmals Dr. Hainisch
und Dr. Ofner zu Worte. Nachdem Sektionsrat Dr. Müller sein
Thema und die sich demselben anschließenden Diskussionen in kurzen
Worten zusammengefaßt hatte, sprach noch Regierungsrat Dr. Windt
über die Aufgaben der polizeilichen Jugendfürsorge. Die Frage der Zu-
ständigkeit, die bei behördlichen wie auch bei privaten Einrichtungen zu-
nächst in Betracht kommt, wird in der polizeilichen Fürsorge vollständig
außer acht gelassen, und somit ist eine große Schwierigkeit überwunden.
Schließlich wurden noch einige Anträge gestellt, von denen der des
Hofrat Rieger als besonders beachtenswert erscheint; der Antrag ging
dahin, es möge eine ministerielle Zentralstelle für alle Agenden der Jugend-
fürsorge geschaffen werden. Mit einigen Dankesworten und einer auf-
richtigen Kundgebung für den Präsidenten wurde der Kongreß unter
lebhaftem Beifalle der zahlreichen Anwesenden geschlossen. Allen, denen
es gegönnt war, dem II. Österreichischen Kinderschutzkongresse beizu-
wohnen, werden diese anregungsreichen Tage unvergeßlich bleiben.
5. Zeitgeschichtliches.
Ernst Dürr, Professor für experimentelle Psychologie und Pädagogik in Bern
(seit 1907), starb nach langer Krankheit im Alter von 35 Jahren (Ende September a
Professor Dr. Karl Roller, Oberlehrer an der Ludwigsoberrealschule, erhielt
die venia legendi für das Fach der Pädagogik an der Technischen Hochschule in
Darmstadt.
118 B. Mitteilungen.
In Berlin ist jetzt die erste Schulärztin angestellt.
Die Ordentliche Mitgliederversammlung der Deutschen Vereini-
gung für Krüppelfürsorge soll 1914 in Heidelberg stattfinden.
Nach Professor Reinitzer (Graz) erhalten in Steiermark 42370 = 20°),
aller Schulkinder täglich Alkohol und 152 370 gelegentlich.
Wir entnehmen dem schulärztlichen Bericht der Stadt Halle a. S.
folgende Zahlen:
Kinder der Mittel- Kinder der
und höheren Schulen Volksschulen
lo lo
Körperbeschaffenheit gut . . . . . . 1919 38,1
en ET e EET 58,1
angelhaft . . . 2,44 3,8
Unter besonderer ärztlicher hr Orne 4,13 10,6
Es litten an:
Blutarmut . . 2 2 2 2 2 2 nn. 22,31 Tt
Herzleiden. . . Tot erR oi gb ME 4,3
Lungenleiden (ernste) . rt Wia ar O27 11
berea NEN AL 14,2
Sehstörungen . . . A acea een RER 9,1
Schwerhörigkeit . . E E E EAL A 2,0
Drüsenschwellungen . . o a CABO 22,6
Nasen- und Rachenwucherungen un. 408 7,9
Schlechten Zähnen. . . . . 2.2... 101 20,2
'Nervenleiden . . 9,12 0,8
Untersucht wurden im ganzen 5507 Kinder der höheren und mittleren Schulen
und 17 605 Kinder der Volksschulen.
Nach dem Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich (Jg. 34, 1913;
Berlin, Puttkammer & Mühlbrecht, 1913) wurden im Jahre 1911 50880 Jugend-
liche (12 bis unter 18 Jahre alt) verurteilt, davon 26505 wegen Diebstahls,
6243 wegen gefährlicher Körperverletzung, 2781 wegen Unterschlagung, 2684 wegen
Sachbeschädigung, 1861 wegen Betrug, 1333 wegen Hehlerei, 1245 wegen Beleidigung.
1014 wegen Unzucht und Notzucht. Unter 100 Personen, die
verurteilt wurden wegen waren jugendlich
Brandstiftung . . 2 . s... . . 366
Diebstahl . . . ER RAS FT 23,9
Raub und Erpressung El a fe 21,0
Unzucht, Notzucht . < a . 2 2 asa 18,2
Hehlerei. . . ter Re N re aa 15,0
Sachbeschädigung . a ERD aaie 14,2
Urkundenfälschung . . . . 2.2... 11,3
Unterschlagung . . E et 9,2
Gefährlicher Körperverletzung 6,9
Betrug . . 6,4
Mord und Totschlag . 4,7
Hausfriedensbruch . . 42
Verletzung der Eidespflicht 4,0
Leichter Körperverletzung. 3,9
Nötigung und Bedrohung ir 2,7
Gewalt und ee 3 gegen Beamte 2,0
Beleidigung . 2,0
Arrestbruch. 0,5
Die Hilfsschullehrer Ernst hiosönzen Hagen; w) und Heinrich See-
baum (Hannover) werden im Verlag der Dürrschen Buchhandlung in Leipz zig unter
dem Titel »Jugendfreudene Bücher für Hilfsschulkinder herausgeben. Der
Preis der mit einfachen Zeichnungen geschmückten Bändchen beträgt 1 Mark. Der
erste Band, »Kinderleben«, bringt Geschichten und Skizzen aus dem Alltag der
C. Zeitschriftenschau. 119
Kleinen, der zweite, »Lustige Leute«, solche aus dem Leben Eulenspiegels und
Münchhausens.
Unter dem Titel »Alkoholfreie Jugenderziehung« erschienen im Verlag
des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke (Mäßigkeitsverlag)
in Berlin W.15 soeben die Vorträge des Ersten deutschen Kongresses für alkohol-
freie Jugenderziehung in Berlin vom 26.—28. März 1913. Der Preis des vorzüglich
ausgestatteten Buches im Umfange von XVI und 224 Seiten beträgt geheftet
2,40 Mark, gebunden 3,20 Mark. >
»Büchlein zum Weitergeben« gibt! der; Deutsche Verein gegen den
Mißbrauch geistiger Getränke (Berlin W.15) heraus. Sie sollen durch kurze gute
Erzählungen zur Bekämpfung der Alkoholnot gewinnen. Sie wollen dem Jugend-
und Volkswohl dienen. Die drei ersten Nummern, die bereits erschienen und zum
Preise von 15 Pfennig für das Stück zu beziehen sind, sollen vor allem für die
Jugend bestimmt sein. Wir empfehlen die nett ausgestatteten Bändchen nament-
lich für Schulentlassene.
Ein »Vollständiges Verzeichnis aller wichtigen Literatur zur
Alkoholfrage« ist in zweiter neubearbeiteter und erweiterter Auflage im Mimir-
Verlag G.m.b.H. in Stuttgart (Nadlerstraße 15/I) erschienen und daher zu beziehen.
Im Verlag von Felix Alcan-Paris (108, Boulevard Saint-Germain) erschien
der zweite Jahrgang von L’Annde Pédagogique, publiée par L. Cellerier et
L. Dugas, im Umfang von VIII und 524 Seiten (Preis 7 francs 50). Außer fünf
kürzeren Abhandlungen enthält das Jahrbuch eine Bibliographie von 2729 päda-
gogischen Arbeiten französischer, englischer und deutscher Sprache, und zwar von
selbständigen Werken wie auch von den Aufsätzen der wichtigsten pädagogischen
Zeitschriften. Die Bibliographie begnügt sich nicht mit einfachen Titelangaben,
sondern referiert kurz und objektiv. Ein Sach- und Autorenregister erleichtern den
Gebrauch des Werkes, das auch in Deutschland Beachtung verdient, weil ihm nichts
ähnliches an die Seite zu stellen ist.
C. Zeitschriftenschau.
Anormalenpädagogik.
Tatsachen.
Hausstein, J., Sprachheilkurse oder Sprachheilklassen ? Die Hilfsschule. 6, 4
(April 1913), S. 106—112.
Weist Angriffe Loepers auf die Sprachheilschulen zurück und weist die
Existenzberechtigung von Sprachheilklassen nach. Man sollte beide Einrichtungen
schaffen.
Knauf, H. C., Die grundlegende Sprachbildung des taubstummen Kindes. Blätter
für Taubstummenbildung. XXV, 21 (1. November 1912), S. 321—327.
Der Verfasser zeigt, wie seit langer Zeit taubstummen Kindern der Sprach-
unterricht erteilt wird. Die Gebärde ist erwünscht, soweit sie verdeutlichende Kraft
besitzt (Prinzip der natürlichen Gebärden. Die Auswüchse der Schneiderschen
Methode werden abgelehnt.
Knauf, H., Die Praxis des Herrn Schneider. Blätter für Taubstummenbildung.
26, 3 (l. Februar 1913), S. 43—44; 4 (15. Februar), 8. 49—53; 5 (1. März),
8. 73—75.
Schneider gebraucht beim Unterricht der Taubstummen zwei Arten von Ge-
tärden, die Lautgebärde und die Sachgebärde. Der Verfasser berichtet, was er im
Unterricht nach dieser Methode beobachtete und läßt sich dann in eine langwierige
120 C. Zeitschriftenschau.
Polemik gegen Schneider ein. Auf Grund seiner sorgfältigen Beobachtungen ist
Knauf der Ansicht, daß es eine unmittelbare Lautsprachassoziation gibt.
Schneider, M., Randbemerkungen zu dem Artikel des Kollegen Knauf in Nr. 21 der
Blätter. Blätter für Taubstummenbildung. 26, 3 (1. Februar 1913), 8. 39—43.
Polemik und Wahrung seiner Stellung zur Gebärde. »Meine Lautgebärden
sind den Lauten natürlich, und die Gebärden für grammatische Beziehungen sind
den betreffenden Beziehungsakten natürlich.«
Lindner, Rudolf; Querll, Walter; Polster, Curt. Erklärung. Blätter für
Taubstummenbildung. 26, 4 (15. Februar 1913), 8. 54—55.
Gegen einen Aufsatz Schumanns. Die Verfasser nehmen für sich das Ver-
dienst in Anspruch, Methoden und Ergebnisse der experimentellen Psychologie und
Pädagogik für eine Reform des Taubstummenunterrichts zum ersten Male ausgewertet
zu haben und noch auszuwerten.
Kampe, Otto, Vom Robinson zur Heimatkunde. Die Hilfsschule. 6, 3 (März
1913), S. 78—80.
Der Verfasser benutzte für seine 2. Hilfsschulklasse in Hamburg eine eigene
Ausarbeitung des Robinson mit lokalen Beziehungen, aus der dann später das 1. Heft
der Marholdschen Jugendbücherei wurde. Vor allem muß der Versuch gemacht
werden, die Kinder zu produktivem Lesen zu erziehen (nicht gedankenlos!); deshalb
sollten im Leseunterricht hin und wieder ganze Bücher gelesen werden, vor allem
solche, die den heimatkundlichen Unterricht anregend beeinflussen können.
Lehm, Kurt, Zur Frage des Religionsunterrichtes auf der Vorstufe der Hilfsschule.
Die Hilfsschule. 6, 2 (Februar 1913), S. 37—47.
Aus mehreren Plänen werden Ausführungen über den Religionsunterricht auf
der Vorstufe referiert. Sie zeigen, daß die Frage nicht überall die gleiche Lösung
gefunden hat. Der Verfasser hat mit einem »gleichmäßigen religiösen Anschauungs-
unterricht« gute Erfolge erzielt. Er skizziert in großen Zügen seinen Lehrplan.
Hilscher, Karl, Das Märchen als Grundlage des Gesamtunterrichtes in der Hilfs-
schule. Heilpädagogische Schul- und Elternzeitung. 4, 4 (April 1913), S. 65—70.
An einer Skizze über die Behandlung des Märchens »Die Sternkronen« wird
gezeigt, wie ein Märchen in der 1. Klasse der Hilfsschule in den Mittelpunkt des
Unterrichts gestellt werden kann. Der Unterricht soll etwa vier Schulwochen ausfüllen.
Gosselck, Johannes, Zum Anschauungsunterricht in der Hilfsschule. Die Hilfs-
schule. 6, 1 (Januar 1913), S. 16—18.
Eine Skizze, wie der Verfasser in Rostock die Lage der Hilfsschule für den
Unterricht auszunützen versteht.
Rösse!, Fr., Ein Soldatenspiel in der Hilfsschule. Zeitschrift für die Behandlung
Schwachsinniger. 33, 1 (Januar 1913), S. 1216.
Kurz skizzierte Stoffbehandlung (allerdings nicht im Klassenunterricht durch-
geführt). Das Soldatenspiel bot reichlich Material für die unterrichtliche Arbeit.
Odelga, P., Literatur- Nachweis zum Zwecke des Studiums der Lesebuchfrage.
Blätter für Taubstummenbildung. 26, 3 (1. Februar 1913), S. 36—39.
Literaturnachweis der speziellen Fachliteratur (Taubstummenlesebuch) und der
allgemeinen Volksschulliteratur, die erste Gruppe mit 18, die zweite mit 11 Nummern.
Ziegler, K., Über das Ausstellen von Handarbeiten Schwachbegabter. Die Hilfs-
schule. 6, 1 (Januar 1913), S. 3—16.
Gegen das Ausstellen von unselbständigen Arbeiten. Die Ausstellungen sollen
zeigen, was auf dem Gebiete manuellen Unterrichtes getrieben wird und was die
C. Zeitschriftenschau. 121
Kinder durchschnittlich und im einzelnen leisten. Die Ausstellungen müssen unter-
scheiden zwischen Produkten der systematischen Handfertigkeitsfächer, des so-
genannten Werkunterrichts und des industriellen Arbeitsunterrichts. Im einzelnen
wird das näher besprochen. Wertvoll erscheint die Anregung, auch Angaben über
die von den Kindern für eine Arbeit verwandte Zeit zu machen. Am Ausstellungs-
wesen ist noch vieles zu bessern. An der Besserung müssen verschiedene Faktoren
mitwirken, vor allem auch eine offene und ehrliche Kritik.
Ziegler, Karl, Über die Feststellung der Bildungsresultate bei schulentlassenen
Schwachbegabten. Heilpädagogische Schul- und Elternzeitung. 4, 2 (Februar
1913). S. 25—34.
Die bisher aufgestellten Erwerbsfähigkeits-Prozentzahlen sind als Maßstäbe für
den Erfolg der Schwachbegabtenbildungsarbeit fast ganz wertlos. Die tatsächlich
erzielten Resultate sind auch nicht so günstig wie man gemeinhin annimmt. Ein ein-
heitliches Beurteilungsschema muß möglichst objektive Maßstäbe an die Hand geben.
Zu berücksichtigen sind: Grad der Erwerbsfähigkeit, der Erwerbswilligkeit, der wirt-
schaftlichen Selbständigkeit. Für die Feststellung des ersteren möchte Z. die Lohn-
höhe maßgebend sein lassen; dagegen dürften sich mancherlei Bedenken erheben
lassen.
Büttner, Georg, Wodurch können Hilfsschulerfolge beeinträchtigt werden? Heil-
pädagogische Schul- und Elternzeitung. 4, 1 (Januar 1913), S. 5—9.
Es ist Wert zu legen auf Einrichtung und Gliederung (mehrklassig), richtige
Auswahl der Schüler, richtige Auswahl der Lehrerpersönlichkeit, richtige Methode usw.,
wenn die Hilfsschularbeit erfolgreich sein soll.
Egenberger, Die Güte der Hilfsschulorganisationen. Die Hilfsschule. 6, 4 (April
1913), S. 97—104.
Die Arbeit bringt sehr viele brauchbare Vorschläge. Sie weist vor allem nach,
daß die starre Volksschulorganisation für Hilfsschulen nichts taugt. Die jetzt be-
stehenden Hilfsschulorganisationen sind oft rein vom Zufall geschaffen und eng an
die Volksschulen angegliedert. Selbständig sind in Deutschland überhaupt nur etwa
ein Drittel aller Hilfsschulen, während der Rest unselbständig ist. Notwendig ist
die Schaffung großer Organisationen, mit denen allen Formen und Komplikationen
des Schwachsinns gerecht zu werden ist. Hinsichtlich der Klassenorganisation werden
ganz bestimmte wohl durchdachte Forderungen aufgestellt. Betont wird, daß man
auch Versuchsschulen für heilpädagogische Forschungszwecke einrichten sollte. »Die
ganze Hilfsschulpädagogik ist bis jetzt vielzuviel auf den bloßen naiven Eindruck
gegründet. Das ganze Problem des Umfanges und der Grenzen der Bildsamkeit
müßte mittels exakter Methoden festgestellt werden.e Egenberger sieht hier eine
bedeutsame Aufgabe für den Deutschen Hilfsschulverband.
Neue Bestimmungen über das Hilfsschulwesen. Die Hilfsschule. 6, 1
(Januar 1913), S. 18—19.
Wiedergabe der vom oldenburgischen Ministerium für Kirchen und Schulen
erlassenen Bestimmungen im Wortlaut.
Kleefisch, Zur Frage der Tätigkeit und Ausbildung des Hilfsschularztes. Die
Hilfsschule. 6, 3 (März 1913), S. 74-75.
Prinzipielle Gesichtspunkte über Stellung und Tätigkeit des Hilfsschularztes in
Form von 10 Thesen, die auf der Generalversammlung des niederrheinischen Hilfs-
schullehrervereins am 19. Oktober 1912 diskutiert und angenommen wurden. U. a.
fordert der Verfasser psychiatrische Vorbildung für den Hilfsschularzt und die Er-
richtung eigener Seminare für die Hilfsschularbeit.
122 C. Zeitschriftenschau.
Seminarkurse für Hilfsschullehrer und Hilfsschulleiter. Die Hilfs-
schule. 6, 3 (März 1913), S. 76—78.
Bericht über die Versammlung in Essen vom 6. Januar 1913, die zu dieser
Frage Stellung nahm und zur Einrichtung der Essener Kurse führte, die staatlich
subventioniert werden.
Meltzer, Das erste spezialpädagogische Seminar. Zeitschrift für die Behandlung
Schwachsinniger. 33, 4 (April 1913), S. 73—78.
Orientierung über die Essener Seminarkurse auf Grund der Sitzungsprotokolle.
Insbesondere wird auch der Stoffplan mitgeteilt. Sehr vorteilhaft ist es, daß die
Kurse Sonnabend nachmittags abgehalten werden. An der Verteilung des Stoffes
werden aus der Praxis heraus wohl noch manche Änderungen vorgenommen werden.
Meltzer schließt sein Referat mit den Worten: »Mag dieses Beispiel für alle ähnlich
wie Essen im Zentrum eines Kultusgebietes liegenden größeren Städte vorbildlich
werden. Denn es ist bei näherer Prüfung der ganzen Sachlage unumgänglich, daß
in Deutschland nicht nur eine solche Gelegenheit zur Ausbildung des höheren An-
stalts- und Hilfsschulpersonals, sondern mindestens zehn geschaffen werden müssen.«
Müller, Betrachtungen am Jahresschluß und Wünsche für das neue Arbeitsjahr.
Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger. 33, 1 (Januar 1913), S. 2—6.
Die Forderungen gipfeln in dem Wunsche: Mehr Erziehung. In den An-
stalten muß die Erziehung so intensiv wie möglich gestaltet werden. Erziehungs-
fübige Schwachsinnige sind fern von erziehungsunfähigen zu halten. In Sachsen ist
eine zweckmäßige Trennung in Sonderanstalten bereits durchgeführt. Empfohlen
wird auch die Abtrennung schwerhöriger Schwachsinniger im Unterricht. — Zum
Schluß wird hingewiesen auf die Notwendigkeit der Personalauslese.
Böcker, W., Zur Frage der Indikationen der Arthrodese. Deutsche Med. Wochen-
schrift. 39, 10 (6. März 1913), S. 458—459.
Bespricht die Leistungen der Arthrodese und die Methoden, mit denen sie
konkurriert. Vom medizinischen Standpunkte aus ist bei Krüppelkranken bald die
Apparatbehandlung, bald die Operation als das beste zu bezeichnen. Namentlich
bei hochgradigen Lähmungen ist die Apparatbehandlung nicht außer acht zu lassen.
Ulbricht, Martin, Wie ich heute ein Krüppelheim bauen würde. Zeitschrift für
Krüppelfürsorge. 6, 1 (Februar 1913), S. 50—56.
Der Verfasser legt dar, wie er sich auf Grund seiner praktischen Erfahrungen
ein modernes Krüppelheim eingerichtet denkt. Einwandfreie Muster existieren bisher
in der Praxis noch nicht.
Erfolge.
Büttner, Georg, Fürsorgebestrebungen für entlassene Hilfsschüler. Eos. 9, 1
(Januar 1913), S. 22—34.
Folgende Maßnahmen haben sich bewährt: Beratung bei der Berufswahl;
Prämienzahlung an Handwerksmeister für gute Ausbildung Schwachsinniger; Arbeits-
lehrkolonien, die zu Asylen für vorübergehend arbeitsunfähige und arbeitslose Zöglinge
sowie zu Altersversorgungsheimen und Invalidenhäusern ausgebaut werden könnten;
Fortbiidungsschulunterricht für beide Geschlechter; Haushaltungsschulen für schwach-
befähigte Mädchen; Veranstaltung von Elternabenden; Fürsorge bei der Musterung
und Militärdienstpflicht; Fürsorgevereine. Die Entwicklung dieser Einrichtungen in
Deutschland wird in kurzen Zügen siizziert.
Nitzsche, G., Unsere Entlassenen. Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger.
33, 3 (März 1913), S. 41—51.
C. Zeitschriftenschau, 123
Erfahrungen aus der Königl. Landes-Erziehungsanstalt zu Chemnitz-Altendorf.
Von den entlassenen bildungsfähigen Zöglingen bat nur ein kleiner Teil unter fremder
Leitung zu ausreichender Erwerbsfähigkeit gebracht werden können. Von den Ent-
lassenen erreichen 30°/, die volle Erwerbsfähigkeit und finden sich ziemlich selb-
ständig durchs Leben. Der günstige Stand der Entlassenen ist besonders der Arbeit
der für sie bestellten Vertrauenspersonen zu danken. Einige kriminelle Fälle werden
kurz besprochen.
Zieting, Statistische Erhebungen über die Berufswahl und die Erwerbsfähigkeit
ehemaliger Hilfsschulzöglinge. Die Hilfsschule. 6, 2 (Februar 1913), S. 47—50.
Aus dem Resultat der Umfrage in der Provinz Brandenburg ergibt sich, daß
verhältnismäßig wenig Knaben einen Beruf ergriffen haben, auf den die Schule
durch ihren Handfertigkeitsunterricht vorbereitete. Erwerbsunfähig sind nach der
Zählung 9,5°/ Bei den Kriminellen spielen Eigentumsvergehen eine Hauptrolle.
Als dringend notwendig ergibt sich eine über die Schulzeit hinausgehende Über-
wachung der Hilfsschulkinder.
Eckstein, Gustav, Operative Krüppelfürsorge der Deutschen Landeskommission
für Kinderschutz und Jugendfürsorge in Böhmen. Zeitschrift für Kinderschutz
und Jugendfürsorge. V, 2 (Februar 1913), S. 49—51.
Die Zeit der rein charitativen Krüppelfürsorge ist vorüber. Namentlich ist
das dem Aufkommen der unblutigen Operationen zu verdanken. In dem Vorbericht
für 1913 ist ein Aufwand von 260000 Kronen für 1027 in ständiger Fürsorge be-
findliche Kinder vorgesehen. Dieser Betrag muß durch öffentliche Sammlungen
aufgebracht werden.
Fuchs, Arno, Die Berliner Pflichtfortbildungsschule für schwachbeanlagte Jüng-
linge und Mädchen (ehemalige Hilfsschulkinder). Die Hilfsschule.. 6, 3 (März
1913), S. 66—74.
Die 1906 gegründete Fortbildungsschule für Schwachbeanlagte in Berlin wird
vom 1. April 1913 ab Pflichtfortbildungsschule. Im letzten Winter (1912/13) wurde
sie von insgesamt 606 Jünglingen und 121 Mädchen besucht. — Die Arbeit orientiert
einleitend über die Fortbildungsschulverhältnisse für Schwachbefähigte in 143
deutschen Städten. Die statistischen Angaben liegen allerdings bereits 2 Jahre zu-
rück. Das Ergebnis der Umfrage beeinflußte die Berliner Behörde bei ihrem Vor-
gehen. Die Fortbildungsschule für Schwachbeanlagte ist nunmehr der allgemeinen
Pflichtfortbildungsschule als selbständiger Schulkörper eingeordnet. Das wird an
einzelnen Paragraphen dargelegt. — Genaue statistische Erhebungen über das Fort-
bildungsschulwesen für Schwachbefähigte sind wünschenswert.
Der Sprachheilunterricht in Halle a. d. S. Deutsche Blätter für erziehenden
Unterricht. 40, 25 (14. März 1913), S. 247—249.
Aus dem offiziellen Bericht in der Saale-Zeitung, Nr. 583, 1912. — Die Lehrer
werden mit den Sprachgebrechen genau bekannt gemacht. Neben den Sprachheil-
kursen für schulpflichtige und vorschulpflichtige Kinder wurden 1910 auch Sprach-
heilklassen eingerichtet. Der Unterrichtserfolg ist befriedigend. Nach jedem Sprach-
heilkursus konnten 40 bis 60°/, der Teilnehmer als geheilt entlassen werden. Der
Aufsatz enthält auch die Bestimmungen für die Sprachheilkurse.
Feldt, J., Der Tastreifen, ein Hilfsmittel zur Verbesserung des Sprechens der
Taubstummen. Blätter für Taubstummenbildung. 26, 2 (15. Januar 1913), S. 26
bis 29; 3 (1. Februar), S. 33—35.
Die Sprechwellen werden vom Gehörlosen am besten mit den Fingerspitzen
gefühlt. Um das zu ermöglichen, konstruierte der Verfasser einen Tastreifen (Reifen
124 C. Zeitschriftenschau.
aus Kiefern oder Tannenholz, 4 mm stark, 4 cm breit, 50—60 em im Durchmesser),
mit dessen Hilfe die Schüler die Sprechwellen fühlen. Der Verfasser glaubt, da-
durch besser an das Sprechen der Schüler »heranzukommen«; das Sprechen habe
an Reinheit und Fluß gewonnen, die Nebengeräusche seien verschwunden, der dumpfe
und matte Klang des Sprechens habe sich verloren, die Stimmen seien klangvoller,
kräftiger und natürlicher geworden. Das alles bereits nach einer Versuchsdauer
von ein Vierteljahr. Um Prüfung wird gebeten.
Kohlemann, Steiner, Teistler, Bericht über die Ergebnisse der Nachprüfung
der Querllschen IlIa-Klasse, die ein Jahr lang nach der Schriftbildmethode
Lindners unterrichtet worden ist. Blätter für Taubstummenbildung. 26, 7
(1. April 1913), S. 106—110.
Die Ergebnisse einer objektiven Prüfung werden ausführlich mitgeteilt. Die
Behauptungen (Querlls sind richtig, die Ergebnisse der Methode gut.
Ligocki, J., Wert der fremden Sprache für den Taubstummenlehrer. Blätter für
Taubstummenbildung. 26, 4 (15. Februar 1913), S. 57—60.
Das Studium einer fremden Sprache ist für den Taubstummenlehrer ein Mittel
zur Vertiefung des Verständnisses für die vielgestaltigen Sprachfunktionen. Es ist
auch sehr empfehlenswert zur Kenntnisnahme der ausländischen Literatur. Deshalb
ist es zu begrüßen, daß in der Taubstummenlehrerprüfung die Kenntnis einer
fremden Sprache nachzuweisen ist.
Biffl, Fritz, Die Feier des 100 jährigen Bestandes der Taubstummenlehranstalt in
Linz. Blätter für Taubstummenbildung. 26, 4 (15. Februar 1913), S. 56—57.
Bericht über die Feier am 12. Dezember 1912.
Roggenburg, Zwei wichtige Beschlüsse. Eos. 9, 1 (Januar 1913), S. 53—55.
Am 20. August 1912 hat der Wiener Stadtrat die Errichtung neuer Hilfs-
schulen beschlossen, nachdem durch amtliche Zählung festgestellt war, daß sich in
den drei untersten Volksschulklassen Wiens 937 schwachsinnige Kinder befanden,
die nicht in Hilfsschulen versorgt werden konnten. — Der zweite Beschluß bezieht
sich auf die »Sicherungsmaßregeln«, die vom 31. Deutschen Juristentag in Wien
am 5. September 1912 angenommen wurden (Ausgestaltung der Zwangsarbeitsanstalt
zur Arbeitserziehungsanstalt für willensschwache Elemente; Verwahrung gemein-
gefährlicher Geisteskranker und geistig Minderwertiger).
Büttner, Georg, Der 9. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands in Bonn.
Neue Bahnen. 24, 8 (Mai 1913), S. 377—379.
Kurzer Bericht. Der Verbandstag zählte 822 Teilnehmer.
Druschba, A., Die IX. Versammlung des Bundes deutscher Taubstummenlehrer-
in Würzburg. Eos. 9, 1 (Januar 1913), S. 72—78.
Genaues Referat über die Tagung (Pfingsten 1912).
Goddard, Henry H., Die Konferenz der Nationalvereinigung für das Studium der
Schwachsinnigen und der Epileptiker vom 3.—5. Juni 1912 in Vineland N. J.
Eos. 9, 1 (Januar 1913), S. 78—80.
Die Versammlung war von 100 Spezialisten aus den Vereinigten Staaten be-
sucht. Der kurze Bericht hebt treffend das Wichtige hervor.
von Hovorka, Oskar, Anstalten für schwachsinnige Kinder in Holland. Heil-
pädagogische Schul- und Elternzeitung. 4, 3 (März 1913), S. 45—49.
Kurzer Bericht über eine Studienreise. »Alle Fürsorgeeinrichtungen für
schwachsinnige und idiotische Kinder in Holland machen einen ungemein wohl-
tuenden, zweckmäßigen Eindruck.«e Besonders gut entwickelt ist die Körperpflege.
D. Literatur. 125
D. Literatur.
Lesage, Dr. A., Medicin des Höpitaux in Paris, Lehrbuch der Krankheiten
des Säuglings. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Prof. Dr. Rudolf
Fischl in Prag. Leipzig, Verlag von Georg Thieme, 1912. 696 S. Geheftet 12 M.,
gebunden 13 M. ie
Da wenige deutsche Arzte die Fähigkeit und Zeit dazu haben werden, ein
wissenschaftliches Werk in einer fremden Sprache zu lesen, so ist es stets mit
Freude zu begrüßen, wenn ein solches von berufener Seite durch eine Übersetzung
zugänglich gemacht wird. Ganz besonders wird es jeden Arzt reizen, in der ver-
hältnismäßig jungen Säuglingsheilkunde die Ergebnisse und den Standpunkt unserer
französischen Kollegen kennen zu lernen, zumal da in ihrem Land wegen des großen
Geburtenrückganges eine fieberhafte Tätigkeit auf diesem Gebiete sich entfaltet
haben muß. Einer guten Übersetzung darf man meiner Meinung nach nicht an-
merken, daß es eine Übersetzung ist. In lem vorliegenden Werke finden wir nicht
nur eine gute Übertragung eines großen französischen Lehrbuches ins Deutsche,
sondern sind sogar von der Schönheit und Treffsicherheit der Sprache überrascht,
so daß wir nicht wissen, ob wir diesen Vorzug des Buches der deutschen Sprach-
gewandtheit des Übersetzers oder der Darstellungskunst des französischen Verfassers
verdanken. »Um den Charme der Darstellung, wie er eine natürliche Begabung der
französischen Kollegen bildet, möglichst ungeschmälert zu erhalten,« hat sich Fischl
der Mühe unterzogen, »zunächst wörtlich zu übersetzen und auf Grund dieses Ur-
materials sprachlich auszufeilen, so daß jede Gewaltsamkeit in der Satzstellung ver-
mieden und die Ausdrucksweise auf die unserer Muttersprache übergeführt wurde.«
Fischl hat schon einmal ein französisches Werk, das Handbuch der Säuglings-
ernährung von Marfan, seinen ärztlichen Landsleuten zugänglich gemacht. Die
günstige Aufnahme, welche dieses Beginnen fand, veranlaßte ihn zur Übersetzung
auch des Lesageschen Buches und der gewaltige Aufschwung, welchen die Kinder-
heilkunde und besonders die Lehre von den Säuglingskrankheiten in den letzten
Jahren genommen hat, läßt ihn hoffen, daß die deutsche Ärztewelt auch diese Über-
g freundlich begrüßen wird. Eins macht mir das Buch ganz besonders wert-
voll, nämlich daß der vielerfahrene Übersetzer uns bei der Lektüre des Buches selbst
begleitet und durch eingeklammerte kurze Zusätze und Fußnoten zu den einzelnen
Fragen Stellung nimmt. »Mit euch, Herr Doktor, zu spazieren, ist ehrenvoll und
ist Gewinn.« Mitunter bestärkt der Übersetzer die abweichende Ansicht des Lesers
nur durch ein eingeklammertes Fragezeichen: »Jedes Kind, das an Schlaflosigkeit
leidet, ist krank (zu reichliche oder ungenügende Ernährung, Alkoholismus der Amme,
Zahndurchbruch (?) u. dergl.)« oder tröstet den erstaunten Leser durch einen kleinen
Zusatz: »Man legt es mit dem Kopf gegen Norden und den Füßen gegen Süden, da
dies die normale Lage für den guten Schlaf ist (der Leser wird gleich mir fragen,
wie solche Ammenmärchen in ein sonst so gutes Buch kommen. Anm. des Über-
setzers). Dazu las ich heute in der »Täglichen Rundschau« vom 1. Juni 1913:
»Dr. Laignel rät in einer Studie über den Schlaf ausdrücklich, das Bett in der
Richtung der Magnetnadel von Norden nach Süden zu orientieren, damit der erd-
magnetische Strom den Körper des Schlafenden der Länge nach durchfließe.«
Lesage legt »das Schwergewicht auf die dem Säugling eigentümlichen Krank-
heitszustände und beschränkt sich darauf, die auch beim Erwachsenen zu beachten-
den Affektionen nur flüchtig zu streifen.«
Er ist »weiter bemüht gewesen, den Nachweis zu führen, daß ein recht be-
deutender Teil der unter der Marke ‚Gastroenteritis' gehenden Fälle nichts anderes
ist als der klinische Ausdruck einer Allgemeinerkrankung (Septicämie, Meningitis),
und daß der Kreis der Magendarmaffektionen in den letzten Jahren immer enger
gezogen werden mußte. Bei dieser Gelegenheit will er auch zeigen, wie sehr der
Ursprung dieser Erkrankungen noch im Dunkel liegt, mag man sich nun an den
Begriff der alimentären Intoxikation im Sinne der deutschen Autoren, oder an den
der intestinalen Infektion in dem der französischen Forscher halten.
126 D. Literatur.
Der Leser wird auch neuen Anschauungen über die Spasmophilie, die Gleich-
gewichtsstörung der Körpertemperatur, den Hitzschlag, den Sommerbrechdurchfall,
den Scharlach, die scarlatinöse Albuminurie, die Kachexien und Anästhesie der Ab-
stillungsperiode, die dermatolymphatische Kachexie, die septischen Infektionen, die
Cerebrospinalmeningitis, die tuberkulöse Hirnhautentzündung und die Aufzucht der
Kinder in den ersten drei Lebensmonaten begegnen. Alle diese Erfahrungen sind
das Ergebnis von persönlichen Beobachtungen, die sich über mehr als 25 Jahre er-
strecken.«
»Der Säugliug bietet eigentümliche Lebensbedingungen dar, welche mit seiner
zarten Konstitution, seinem raschen Wachstum und seiner speziellen Ernährungs-
weise zusammenhängen. Seine Pathologie ist das Widerspiel dieser Verhältnisse
und es ist auch zum Verständnis der Krankheitsursachen notwendig, die normalen
Funktionen seines Organismus möglichst genau zu kennen.« (Vorrede des Ver-
fassers.) Darum beschäftigt sich der erste Teil des Buches eingehend mit der
Physiologie des Säuglings. Der erfahrene Kinderarzt faßt gleich in dem ersten Satze
seines ersten Kapitels an den Angelpunkt der ganzen Säuglingsfrage: »Das Kind soll
von der Geburt ab von seiner Mutter an der Brust ernährt werden, oder, wenn dies
nicht möglich ist, eine Amme erhalten. Es ist Pflicht des Arztes, alles zu tun, um
die Mütter zum Stillen ihrer Kinder zu veranlassen, und ich halte es für ein direktes
Verbrechen, eine Mutter, welche die Tauglichkeit hierfür besitzt, vom Stillen abzu-
balten.« Daran schließt er die Geschichte des Stillens und Nichtstillens an. Daraus
eine Kostprobe: »Man muß gegen solche Irrlehren energisch zu Felde ziehen, da
viele Frauen nur nach einem Vorwand suchen, um nicht stillen zu müssen. In den
besseren Ständen können sich die Damen nicht dazu entschließen, da sie gehört
haben, daß sie dadurch entstellt und geschwächt werden. Die ersterwähnte Be-
fürchtung ist vollständig unbegründet, denn die Gravidität ist es, welche die Formen
schädigt, mag die Frau nachher stillen oder nicht; was den zweiten Punkt anlangt,
so liegt es nur zu oft an der Gleichgültigkeit oder dem zu großen Entgegenkommen
der Arzte, daß er geltend gemacht wird. »Die Liga der Frauen und der Ärzte«
sagt Rousseau im »Emile« (Note zu Band I) »ist mir stets als eine der merk-
würdigsten Eigentümlichkeiten von Paris erschienen. Durch die Frauen gelangen
die Ärzte zu ihrem Ruf und durch die Arzte setzen die Frauen ihren Willen durch.«
Die Schwächung, welche manche Frauen durch das Stillen erfahren, hängt einfach
mit der mangelhaften Regelung desselben und damit zusammen, daß das Kind miß-
bräuchlicherweise in der Nacht angelegt wird. Die Mutter braucht Ruhe und soll
deshalb in der Nacht die Brust nicht geben. Oft sind die Hebammen die Veran-
lassung, daß die Frauen nicht stillen. Escherich sagt, daß in Deutschland 16 °/, der
Fälle eine Verweigerung der Brustnahrung auf das Konto schlechter Ratschläge
seitens der Hebammen zu setzen sind. Hutzler (zitiert bei Klose) meint, daß unter
den zwei Millionen jährlicher Geburten in Deutschland 480000 Todesfälle durch die
Hebammen veranlaßt werden. (Wohl ein wenig übertrieben! Anm. des Übersetzers.)«
Noch schlimmer als wie bei uns scheint in Frankreich die Stillungsnot zu herrschen,
denn die geschichtliche Einleitung läuft sehr schwarzseherisch aus; Die Saugflasche
gewinne noch stetig an Ausbreitung. Die erfolgreiche Aufzucht der Kinder ohne
Brust sei eine wirkliche Kunst, für deren Ausübung im allgemeinen die Künstler
fehlten. Die künstliche Ernährung sei somit ein soziales Übel, mit dem man rechnen
müsse, und dessen schädliche Folgen abzuschwächen unsere Aufgabe sei. Bei der
Besprechung der Hindernisse für das Selbststillen der Mütter lehnen Lesage und
Fischl, wie viele Frauen- und Kinderärzte, Bunge ab: »Vererbt ist die Unlust zum
Stillen, und nichts ist bequemer, als die Erblichkeit für seine eigenen Fehler ver-
antwortlich zu machen. .... Fast jede Frau kann und soll stillen.«e Die Gegner
beachten nicht, daß sich Bunges Statistik nur auf die Frauen erstreckt, welche ihre
Kinder trotz redlicher Bemühungen nicht 9 Monate hindurch ausreichend stillen
können. Alle Fälle, wo das Stillen aus äußeren Gründen, Abhaltung durch die Be-
rufspflichten, Bequemlichkeit, Unlust, Abraten des Arztes unterlassen wurde, hat
Bunge gar nicht in seine Statistik aufgenommen. +)
1) Näheres siehe: Fulda, Von der Stillungsnot und ihren Ursachen. In-
augural-Dissertation. Berlin 1912.
D. Literatur. 127
Sehr lehrreich und beachtenswert sind die ausgedehnten Vergleiche von Brust-
und Flaschenkind: z. B. Das Brustkind setze ein Drittel des aufgenommenen Stick-
stoffes an und scheide zwei Drittel aus, während beim Flaschenkinde diese Werte
ein Sechstel und fünf Sechstel betrügen. .... Das Brustkind sei liebenswürdig, heiter,
lache hell auf und unterhalte sich über alles; das Flaschenkind sei (oft, denn der
hier geschilderte Zustand deute doch schon auf Störungen der Gesundheit, Anm.
des Übersetzers) matt, häufig traurig, resigniert und lache selten. »Allesamt sind
sie Egoisten, anspruchsvoll und eifersüchtig; es genügt, daß die Wärterin ein Kind
auf den Arm nimmt, um die übrigen Insassen des Saales zum Schreien zu ver-
anlassen, und es wird nicht früher Ruhe, als bis sie auch aus der Wiege genommen
worden sind. Ich habe auch gesehen, daß ein Kind den Platz am Arme heftig be-
hauptete und sich einfach nicht niederlegen ließ. Dieser Egoismus und dieser Hang
zur Eifersucht steigern sich bei verwöhnten Kindern zur Unerträglichkeit. Den
Grundton all dieser Gemeingefühle gibt die Befriedigung der Gewohnheiten an.
Wenn man den Säugling nicht gelehrt hat, andere Befriedigungen als das Sättigungs-
gefühl zu haben, so weiß er auch nichts’ von solchen und bleibt ruhig in seiner
Wiege liegen. Die öftere Wiederholung eines Vorganges weckt jedoch bald das Be-
dürfnis nach demselben. Daher die schlimmen Gewohnheiten wie das Wiegen, der
Schnuller, die Darreichung der Brust oder der Flasche zu jeder Tages- und Nacht-
stunde.«e Das Wiegen wird verdammt, weil es eine Betäubung hervorrufe, ohne die
das Kind später überhaupt nicht in Schlaf zu bringen sei. Auch das Einsingen der
Kinder wird gewürdigt. Der Leibarzt Heinrichs II. habe zu diesem Behufe ein
eigenes Liederbuch herausgegeben. Das Buch ist überhaupt reich an ausführlichen
Abhandlungen der Säuglingshygiene in Geschichts- und Völkerkunde, die auch für
den Laien lesbar und gewinnbringend sind. Über die Lagerstatt des Säuglings wird
weiter ınitgeteilt: Der Säugling soll wegen der Gefahr des Erdrücktwerdens sein
Lager nicht mit einem Erwachsenen teilen. In England und Wales stürben jährlich
etwa 1600 Kinder den Erstickungstod durch die eigene Mutter; die Hauptursache
dieser bedauerlichen Vorkommnisse bilde Trunkenheit, denn die meisten Fälle er-
eigneten sich in der Nacht von Samstag auf Sonntag oder in den Festtagsnächten.
Die Tatsache sei so unzweifelhaft festgestellt, daß das Haus der Gemeinen im Jahre
1908 folgendes Gesetz angenommen habe: »Wenn ein Säugling durch Erdrückt-
werden stirbt, und die Person, welche seinen Tod verschuldet hat, über 16 Jahre
alt ist und in der Zeit des Zubettgehens unter dem Einfluß eines berauschenden
Getränkes stand, so ist sie der groben Vernachlässigung gegen das Leben ihres Kindes
schuldig und soll einer festgesetzten Strafe unterliegen.«e Da Alkohol in Blut und
Milch übergeht, so sind die Kinder auch häufig einer Alkoholvergiftung ausgesetzt
(S. 671). Bemerkenswert ist die Erfahrung (S. 107), daß Kinder, die täglich mehr-
mals auf den Arm genommen werden, besser als solche gedeihen, die in der Wiege
bleiben. Deswegen hingen auf Arbeit gehende Mütter ihre Kinder an Haken an
die Mauer oder lagerten sie auf sanft geneigte Bretter mit einem Fußteil.
In der Frage, ob es Zahnungskrankheiten oder nur Krankheiten im Zahnungs-
alter gibt, gehen die Ansichten von Verfasser und Übersetzer auseinander. Nach
jenem gibt es zweifellos Fieberattacken, Wachstumsstillstände, Schlaflosigkeit, Un-
ruhe, Husten, Diarrhoen und Meningismus (Schielen, Konvulsionen, Nackenstarre
ohne Fontanellenspannung und Kernigsches Symptom), welche plötzlich auftreten
und nach dem Zahndurchbruch rasch schwinden; dieser hat es niemals begreifen
können, daß so eminente Kliniker wie unsere französischen Kollegen sich von dem
Märchen der Zahnkrankheiten so schwer lossagen könnten.
Aus den besprochenen Arbeiten über die Tuberkulose zieht der Verfasser
folgende Lehren: »1. Da der menschliche Tuberkelbazillus der Erreger der Luft-
infektion mit Tuberkulose ist, muß man das Kind von jeder Berührung mit tuberku-
lösen Personen fernhalten. 2. Da der Bacillus bovinus die Tuberkulose auf digestivem
Wege erzeugt, ist es am besten, die Milch zu sterilisieren.«
Da es unmöglich ist, den Inhalt des großen Buches auch nur annähernd hier zu
würdigen, so soll nur noch eine von Lesage und Colin entdeckte Tatsache mitgeteilt
werden: Bei Kindern bis zu 2!/, Jahren fehlt das Ermüdungsgefühl. Die Kinder
hielten ihre Arme !/, Stunde lang nach oben gestreckt, während dies Erwachsene
nur 3—12 Minuten vermochten.
128 D. Literatur.
Der Druck ist lateinisch und weist Fehler auf, wie wir das von wissenschaft-
lichen Werken gewöhnt sind.
Minden i. W. Dr. med. Leopold Fulda.
Budde, Gerhard, Die Weiterführung der Schulreform auf nationaler
Grundlage. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1913.
IV und 121 Seiten. Preis 3,20 M.
Am höheren Knabenschulwesen ist mannigfach herumreformiert. Kein ver-
ständiger Mensch aber wird behaupten, daß es, so wie es jetzt ist, modernen An-
forderungen entspricht. Budde, wohl der unbestritten beste Kenner der Gymnasial-
pädagogik, zu der wir ihm eine ganze Reihe wertvoller Schriften verdanken, unter-
nimmt es, in dieser neuen Arbeit den Weg zu einem neuen Gymnasium, dem
deutschen Gymnasium, zu zeigen.
Budde geht aus von einer kritischen Besprechung der Schulreform von 1900
(S. 1—53), deren eigentliche Bedeutung in der Aufhebung des Gymnasialmonopols
liegt, während sie sonst eigentlich wirklich nichts gebracht hat. Er tut dann kurz
die Unzulänglichkeit dieser Schulreform dar (S. 53—70). Er betont in diesem Ab-
schnitt vor allem, daß — als Folge der vorhandenen Unterrichtsorganisation —
»Tausende von akademisch gebildeten Deutschen, die sich einst in jahrelangem Mühen
mit den Flittern von drei bis vier Fremdsprachen behängt haben und vor allem des-
halb für gebildet gelten, auch nicht ein einziges Werk unserer großen nationalen
Historiker und Philosophen gelesen haben, daß sie also unsere nationale
Kultur gar nicht kennen« (S. 65), ein Umstand, der dazu beiträgt, das nationale
Selbstbewußtsein zu untergraben. Im letzten Abschnitt gibt Budde die Wege zur
Weiterführung der Schulreform an (S. 70—121): Modernisierung der höheren Schul-
bildung (mehr Verständnis für die Gegenwart); Nationalisierung (humanistische
Bildung auf Grund der deutschen Humanitätsidee == Persönlichkeitsbildung auf der
Basis unserer nationalen Kultur; also Ersatz der noch herrschenden Intellektpäda-
gogik durch eine Persönlichkeitspädagogik); Individualisierung (die Haupttypen der
Begabung und Neigung müssen auf der Oberstufe Berücksichtigung finden). Es
folgen eine Reihe Einzelmaßnahmen zur Vertiefung und Erweiterung der höheren
Schulbildung und endlich die Vorlage eines bedeutungsvollen Planes: die einheitliche
deutsche höhere Schule als Vorbereitungsanstalt für die Hochschule, das deutsche
Gymnasium. Zum Schluß fordert Budde eine besondere pädagogische Vorbildung
der Oberlehrer, was gleichbedeutend ist mit der Forderung pädagogischer Lehrstühle
an unseren Universitäten.
Buddes Arbeit verdient weiteste Beachtung. Sie verdient sie vor allem da,
wo man dıe Möglichkeit hat oder doch wenigstens haben könnte, dafür zu sorgen,
daß seine wohlausgearbeiteten und -durchdachten Pläne nicht nur auf dem Papier
stehen bleiben, sondern wirklich die Grundlage zu der dringend nötigen Reform
unseres höheren Schulwesens werden.
Jena Karl Wilker
Baumann, Julius, Abriß eines Systems des rationalen Pragmatismus.
Zugleich eine Widerlegung des Materialismus und des Monismus. Pädagogisches
Magazin, Heft 500. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann),
1913. 41 Seiten. Preis 75 Pf.
Der Verfasser, Professor der Philosophie an der Universität Göttingen, feierte
in diesem Frühjahr sein goldenes Doktorjubiläum. Zu diesem hat er diese kleine
Schrift herausgegeben, die ein Beleg dafür sein kann, »daß der pragmatische Grund-
gedanke sehr wohl theoretisch gewendet werden kanne. Besonders erfreuen wird
an der wertvollen Studie die knappe und präzise Form.
Jena. Karl Wilker.
Verantwortliche Schriftleitung für Abhandlungen und Mitteilungen: Dir. J. Trüper,
Sophienhöhe b. Jena; für Zeitgeschichtliches, Zeitschriftenschau und Literatur:
Dr. Karl Wilker, Jena, Weißenburgstraße 27.
Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
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A. Abhandlungen.
1. Die Bekämpfung des Kinderhandels im Entwurf zu
einem schweizerischen Strafgesetzbuch.
Von
Dr. Alfred Silbernagel, Zivilgerichtspräsident in Basel,
Mitglied der schweizerischen Strafrechts-Expertenkommission.
Der schweizerische Gesetzgeber ist der erste, der auch die Be-
kämpfung des Kinderhandels ins Strafgesetzbuch aufnimmt. Die
Bücher und Vorträge von Schwester Arendt hatten zuerst auch in
der Schweiz die Aufmerksamkeit weiter Kreise auf diese Frage ge-
richtet, besonders das Buch »Kleine weiße Sklaven«.
Die Feststellungen der französischen und italienischen Patronage-
gesellschaften haben eine Zeitlang die öffentliche Meinung in Frank-
reich und Italien auf die Überlassung vieler kleiner Italienerknaben
von ihren Eltern gegen eine minime Vergütung an Besitzer franzö-
sischer Glashütten gelenkt, in denen sie zu den Arbeiten verwendet
wurden, deren Verrichtung wegen ihrer Gesundheitsschädlichkeit von
den erwachsenen Arbeitern abgelehnt wird, bei einer Lebensweise,
die den frühen physischen und moralischen Ruin der betreffenden
Knaben zur Folge haben mußte.
In Deutschland ist es besonders Prinzessin Lwoff in Grafrath
bei München, welche in aufopfernder Tätigkeit die Grundlagen zu
einer internationalen Bekämpfung des Kinderhandels, ähnlich dem-
jenigen zur Bekämpfung des Mädchenhandels zu legen bestrebt ist.
Als der schweizerische Bundesrat sich an die andern Staats-
regierungen wandte, zum Zwecke der Schaffung eines internationalen
Amtes für Kinderschutz, nahm er die Bekämpfung des Kinderhandels
ebenfalls in das Arbeitsgebiet des künftigen Zentralamtes auf.
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 9
130 A. Abhandlungen.
Die schweizerische Strafrechts- Expertenkommission befaßte sich
schon in ihrer letztjährigen Session in Lugano unter dem Vorsitz des
schweizerischen Bundespräsidenten mit diesen Fragen. Damals wurde
gegenüber den Befürwortern einer strafgesetzlichen Regelung der Be-
kämpfung des Kinderhandels bemerkt, daß ein genügendes Tatsachen-
material aus der Schweiz selbst fehle. Diesem Mangel ist seither ab-
geholfen worden durch die Untersuchungen und Feststellungen von
Amtsstellen (städtischen Amtsvormundschaften in Bern und St. Gallen,
dem »Pflegekinderwesen « des Basler Sanitätsdepartements) wie von
privaten Vereinen, insbesondere der schweizerischen Vereinigung für
Kinder- und Frauenschutz. Daraus ergab sich, daß die Verhältnisse
in der Schweiz hinsichtlich der verschiedenen Arten des Kinderhandels
nicht günstiger sind als in Deutschland. Natürlich sind auch in der
Schweiz zahlreiche Adoptionsinserate ehrbarer, anständiger Natur. Da-
neben aber wurden einerseits Fälle konstatiert, wo Eltern gegen eine
ihnen zu zahlende einmalige Abfindungssumme von einigen hundert
Franken ihre Kinder abtraten, zum Teil an unbekannte Personen, ohne
sich über deren Persönlichkeit zu erkundigen. Als die Polizei sich
in einem Falle, als das Kind schon weggegeben war, nach der Person
der Käuferin erkundigen wollte, war diese verschwunden, und die den
Eltern angegebene Adresse erwies sich als falsch. Weit zahlreicher
als die Fälle, da Eltern ihre Kinder gegen Abfindungssummen ab-
treten, also verkaufen, sind aber andrerseits die Fälle, da Individuen
Kinder mit einer dem Empfänger zu zahlenden einmaligen größeren
Abfindungssumme zu übernehmen wünschen, wobei es dem Über-
nehmer — meist Leuten, die ganz mittellos oder schwer verschuldet
sind — einzig auf die Abfindungssumme ankommt, und das Kind als
notwendiges Übel mit übernommen wird, dessen man sich möglichst
bald wieder zu entledigen trachtet. Zum Teil sind die Elemente,
die durch Zeitungsinserate zu einer Abfindungssumme zu kommen
wünschen, wobei das Kind eben mitgeht, ledige unbemittelte Leute,
ohne eigene Wohnung, oder Personen, die nicht die Mittel besitzen,
ihre (mehrere) eigenen ehelichen Kinder zu erhalten. Das sind noch die
harmloseren Fälle. Dazu kommen nun aber solche, da Trunkenbolde,
Dirnen, vielfach vorbestrafte Individuen durch Zeitungsannoncen unter
dem Schutz der Anonymität Kinder mit Abfindungssummen anzu-
nehmen suchen. Man fand Concursite, die daneben im Rufe eines
brutalen, gewalttätigen Wesens stehen, gescheiterte Existenzen ver-
schiedenster Art, die damit sich größere Geldsummen zu verdienen
suchen, daß sie von bemittelten außerehelichen Müttern Kinder mit
Abfindungssummen zu erlangen suchen, wobei es auch den gewissen-
Silbernagel: Die Bekämpfung des Kinderhandels. 131
losen Müttern bloß darauf ankommt, möglichst bald die Verbindung
mit dem Schandfleck der Familie für immer ganz zu lösen.
Ein schwerer Fall von strafrechtlicher Vernachlässigung eines
Pflegekindes kam in Zürich vor. Das Kind soll nach den Angaben
des Stadtarztassistenten jämmerlich ausgehungert und verwahrlost aus-
gesehen haben, als man seine Leiche öffnete. Die betreffenden Leute,
die keine Bewilligung zur Annahme von Kostkindern hatten, wollten
es von einem Doktor in Herisau mit einer Abfindungssumme von
600 Franken erworben haben. Das »Zürcher Volksrecht« bemerkt
hiezu: man erkundigte sich nach dem angeblichen Herisauer Arzt und
stellte fest, daß dieser gar kein Arzt, sondern ein Karussellbesitzer
war, der Damen zu diskreter Entbindung aufnahm. — Daß gewisse
Hebammen an der französisch-genferischen Grenze den Kinderhandel,
d. h. in diesem Fall die Unterbringung von Kindern mit einmaligen
Abfindungssummen gegen Provision, im großen betreiben, ist bekannt.
Eingaben des Zentralvorstandes der schweizerischen Vereinigung
für Kinder- und Frauenschutz, sowie des bekannten Celebesforschers
Herrn Dr. Paul Sarasin in Basel ersuchten die schweizerische
Strafrechts - Expertenkommission zur Aufnahme von Bestimmungen
gegen den Kinderhandel ins schweizerische Strafgesetzbuch. Der Ver-
such, auf diesem Wege zur Einführung einer obligatorischen Pflege-
kinderkontrolle in der ganzen Schweiz zu kommen, in Ergänzung
der Bestrebungen schweizerischer gemeinnütziger Vereine anläßlich
der Beratung der kantonalen Einführungsgesetze zum schweizerischen
Zivilgesetzbuch gelang zwar nicht, oder noch nicht, dagegen wurde
erreicht, daß die Expertenkommission in ihrer Session in Siders
(Wallis) im Oktober 1913 den Art. 142 bis in den Entwurf zu einem
schweizerischen Strafgesetzbuch aufnahm, lautend: »Eltern, die sich
eines Kindes dadurch entledigen, daß sie es Personen zu dauernder
Pflege übergeben, bei denen es, wie sie wissen oder wissen müssen,
in sittlicher oder körperlicher Beziehung gefährdet ist, werden mit
Gefängnis bestraft.ce Hinsichtlich der Pflegeeltern nahm man an, daß
die soeben neuangenommenen strengen Strafbestimmungen gegen
Kindermißhandlung und Kinderverwahrlosung, die u. a. auch gegen
die psychische Mißhandlung, die »grausame Behandlung« sich richten,
ausreichen. Damit sind die Bestrebungen zur Bekämpfung des Kinder-
handels in der Schweiz nicht beendigt. Die schweizerische Vereinigung
für Kinder- und Frauenschutz wird nach Eingang der Berichte ihrer
kantonalen Sektionen ihre Materialsammlung im nächstjährigen Jahr-
buch der Jugendfürsorge, das sie herausgibt, veröffentlichen.
g9*
132 A. Abhandlungen.
2. Die Familie Kallikak.
Eine Studie über die Vererbung des Schwachsinns.
Von
Dr. phil. Henry Herbert Goddard, Director of the Research Laboratory
of the Training School at Vineland, New Jersey, for Feeble- minded Girls and Boys.
Berechtigte deutsche Übersetzung
von
Dr. phil. Karl Wilker- Jena.
(Fortsetzung.)
Drittes Kapitel.
Die Bedeutung unserer Forschungsergebnisse.
Die vorstehenden Figuren und der Text dazu erzählen eine ebenso
lehrreiche wie erstaunliche Geschichte Wir haben eine Familie aus
gutem englischen Blute aus dem Mittelstand, die von den Eigentümern
des Staates zur Zeit der Kolonisierung Grund und Boden erwarb und
sich darauf niederließ. Vier Generationen hindurch bewahrte sie sich
eine ehrenvolle und angesehene Stellung, auf die sie mit Recht stolz
war. Dann tritt ein Sprößling dieser Familie in einem unbewachten
Augenblick abseits von den Pfaden der Rechtschaffenheit und be-
gründet mit Hilfe eines schwachsinnigen Mädchens eine Linie geistig
defekter Individuen, die wirklich erschreckend ist. Nach diesem Ver-
sehen kehrt er zur Tradition seiner Familie zurück, heiratet eine Frau
seiner eigenen Güte und begründet mit ihr ein Geschlecht von genau
dem gleichen ehrenvollen Ansehn wie das seiner Vorfahren.
Wir haben so zwei Reihen von Nachkommen von zwei ver-
schiedenen Müttern, aber von demselben Vater. Sie umspannen sechs
Generationen. Beide Linien leben in der gleichen Gegend und in
der gleichen Umgebung, ausgenommen insofern sie selbst wegen ihrer
verschiedenen Charaktere diese Umgebung änderten. Tatsächlich stehen
sich beide Linien so nahe, daß in einem Falle ein defekter Mann der
schlechten Seite dieser Familie in Diensten einer Familie der normalen
Seite gefunden wurde. Trotz des gleichen Namens wurde auf keiner
von beiden Seiten eine verwandtschaftliche Beziehung vermutet.
Wir haben hier also ein natürliches Experiment von ganz be-
trächtlichem Werte für den Soziologen wie für den Hereditätsforscher.
Daß es sich hier wirklich um ein Vererbungs-Problem handelt, kann
niemand bezweifeln; denn obgleich von den Abkömmlingen Martin
Kallikak juniors viele in schwachsinnige Familien hineinheirateten und
so eine Blutverschlechterung herbeiführten, heiratete doch Martin junior
selbst eine normale Frau und zeigte somit, daß — wenigstens in dieser
Goddard- Wilker: Die Familie Kallikak. 133
Generation — der Defekt vom Vater übertragen wurde. Ferner er-
scheinen die Züge der Familie Kallikak ständig weiter bis herunter
auf die lebende Generation, und viele Eigenschaften kehren in den
guten wie in den schlechten Familien wieder und zeigen so die Stärke
und Beharrlichkeit von Eigenschaften des angestammten Geschlechts.
Der Leser wird sich der berühmten Geschichte der Familie
Jukes erinnern, die Richard L. Dugdale 1877 veröffentlichte: eine
erschreckende Reihe von Verbrechern, Armen, Kranken, mehr oder
weniger miteinander verwandt und durch sieben Generationen sich
erstreckend, kam da zutage.!)
Dr. Winship hat es unternommen, diese Familie zu vergleichen
mit den Deszendenten Jonathan Edwards’ und aus diesem Ver-
gleiche bestimmte Schlüsse zu ziehen. Der Vergleich ist sehr auf-
fallend, aber er ist leider nicht so entscheidend, wie wir es jetzt
verlangen müssen. Die beiden Familien waren durchaus unabhängig,
aus verschiedenem Geschlecht, zerstreut in verschiedenen Gemeinden
und sogar in verschiedenen Staaten, und sie lebten zudem unter ganz
verschiedenen Bedingungen.
Die eine ging von einem starken, frommen und trefflich erzogenen
Vorfahren aus und hat diese Züge und Überlieferungen bis auf den
heutigen Tag gewahrt, und zwar mit beachtenswertem Erfolg. Die
andere Linie ging ohne alle diese Vorzüge aus und lebte in einem
ganz andern Milieu; sie brachte Nachkommen ganz entgegengesetzter
Art hervor.
Es ist nicht möglich, den Milieutheoretiker, der die Umgebung
für den einzig ausschlaggebenden Faktor hält, davon zu überzeugen,
daß, hätten die Kinder Jonathan Edwards’ und des »Old Max« die
Plätze gewechselt, die Resultate nicht so ausgefallen wären, daß es
den Anschein habe, als ob es sich hier nur um eine Frage des
Milieus und nicht der Erblichkeit handle. Der Milieutheoretiker stellt
uns vielmehr einfach vor die Tatsache, daß viele Kinder von hoch
entwickelten Eltern degenerieren und arm und verbrecherisch werden,
während andrerseits einige Kinder minderwertiger und sogar krimi-
neller Eltern die entgegengesetzte Entwicklung einschlagen und an-
gesehene und nützliche Bürger werden.
1) Richard L. Dugdale, »The Jukes.« A study in crime, pauperism and
heredity. New York and London, 1884. — Der Trinker Jukes hatte insgesamt
709 Nachkommen. Von ihnen waren 174 = 24,5°/, Prostituierte, 77 = 10,9%,
Verbrecher (darunter 12 Mörder), 64 = 9,0°/, Geisteskranke, 142 = 20°/, fielen
der öffentlichen Armenunterstützung anheim. K. W.
134 A. Abhandlungen.
Soweit die Kinder des »Old Max« normale Geistesbeschaffenheit
zeigten, ist es gar nicht möglich, anzugeben, was aus ihnen geworden
wäre, hätten sie eine gute Erziehung und eine gute Umgebung gehabt.
Streng wissenschaftlicher Betrachtung gibt glücklicherweise die
Familie Kallikak in den Personen Martin Kallikak juniors und seiner
Nachkommen keinen Raum für eine derartige Argumentierung. Sie
waren schwachsinnig und kein noch so großer Aufwand erzieherischer
Maßnahmen oder keine noch so gute Umgebung kann ein schwach-
sinniges Individuum in ein normales verwandeln, ebensowenig wie
sie einen rothaarigen Stamm in einen schwarzhaarigen verwandeln
kann. Der auffallend hohe Prozentsatz schwachsinniger Individuen
unter den Nachkommen Martin Kallikak juniors und ihr völliges Fehlen
in der Deszendenz seiner Halbbrüder und -schwestern ist in dieser
Hinsicht bestimmend. Es ist ganz klar, daß nicht die Umgebung
diese Familie zu einer guten gemacht hat. Sie gestalteten ihre Um-
gebung. Und ihr eigenes gutes Blut zusammen mit dem guten Blute
der Familien, in die sie einheirateten, tat seine Wirkung.
Was die Familie Jukes betrifft, so findet sich dort nichts, was
den erblichen Charakter von irgend einem festgestellten Verbrechen,
von Pauperismus oder Prostitution bewiese. Das Wesentlichste, was
man darüber sagen kann, ist: wenn eine solche Familie hingehen
kann, wohin sie will, und sich entwickeln kann, wie sie will, ist es
ziemlich sicher, daß sie keine Fortschritte macht, sondern eher ihre
eigene Art weiter verbreitet und die Welt mit degenerierten Menschen
der einen oder der andern Form füllt. Die früher viel erörterte Frage
nach der hereditären Eigenschaft des Verbrechens findet durch die
Betrachtung der Familie Jukes’ keine Lösung. Wohl aber besteht bei
dem gegenwärtigen Stande der Kriminalwissenschaft und der Biologie
ein Recht zu dem Schluß, daß Verbrecher gemacht und nicht geboren
werden. Das beste Material, aus dem Verbrecher zu machen sind,
und vielleicht das Material, aus dem sie am häufigsten gemacht
werden, sind die Schwachsinnigen.
Der Leser möge bedenken, daß der Schwachsinnstyp, von dem
wir sprechen, derselbe jist, zu dem Deborah gehört, das heißt der
hochstehende oder der Morone. Alle Tatsachen deuten darauf hin,
daß dieser Typus einen bedeutenden Prozentsatz unserer Verbrecher
ausmacht. Wir könnten a priori beweisen, daß das der Fall ist. Wir
haben hier in unserer Anstalt eine Gruppe von Kindern, die die ihnen
in der Schule gegebenen Aufgaben nicht lernen können, weil sie in-
folge ihres geistigen Defekts nicht imstande sind, Abstraktionen zu
beherrschen. Sie lernen nie so gut lesen, daß es ihnen Freude machte
Goddard- Wilker: Die Familie Kallikak. 135
oder praktischen Nutzen brächte. Das gleiche ist der Fall im Rechnen.
Bei unserem Zwangsschulsystem und bei unseren augenblicklichen
Lehrplänen zwingen wir diese Kinder, die Schule zu besuchen, und
versuchen, sie alle möglichen schönen Dinge zu lehren, die ihnen viel
zu hoch sind. So quälen sie sich durch einige Klassen hindurch, bis
sie 14 Jahre alt sind und dann die Schule verlassen, ohne daß sie
etwas wertvolles oder etwas, was ihnen zur Gestaltung ihres Lebens
in der Welt helfen kann, gelernt haben. Sie stehen dann verlassen
und völlig von anderen abhängig da. Einige haben Verwandte, die
für sie sorgen und darauf sehen, daß sie wenigstens zu tun lernen,
was ihnen vielleicht zum Erwerb ihres Lebensunterhaltes hilft, und
die ihnen eine hinreichende Unterstützung gewähren, um ihr Leben
einigermaßen sicher zu stellen.
Die große Mehrzahl hat jedoch solche interessierten oder auch
dazu befähigten Verwandten nicht und wird sofort eine direkte Last
des Staates. Sie lassen sich nach ihrem Temperament in zwei Gruppen
scheiden. Die einen sind phlegmatisch, träge, indolent, legen sich
einfach hin und würden umkommen, wenn man ihnen nicht helfen
würde. Wenn sie ins Bereich unserer Wohlfahrtsorganisationen kommen,
werden sie aufgelesen und, falls sie sich nicht zur Arbeit bestimmen
lassen, ins Armenhaus geschafft. Der andere Typus ist nervös, leicht
erregbar, reizbar. Die ihm angehörigen Individuen bemühen sich, ihr
Leben selbst zu gestalten, und versuchen, wenn sie nicht imstande
sind, ehrliches Tagewerk zu verrichten und redlichen Lohn zu er-
werben, mit unehrlichen Mitteln zu Erfolgen zu gelangen. »Betrug
ist die Stärke schwacher Naturen.« Sie bilden den kriminellen Typus.
Die Art des Verbrechens, auf das sie verfallen, scheint im großen und
ganzen von ihrer Umgebung abzuhängen. Wenn sie mit schlechten,
aber intelligenten Menschen zusammenkommen, werden sie die Mittels-
personen für die Ausführung irgendwelcher wagehalsiger Pläne, die
ihre intelligenteren Gefährten für sie aushecken. Infolge ihrer Dumm-
heit lassen sie sich dann leicht fassen und wandern in die Besserungs-
anstalt oder ins Gefängnis. Wenn es sich um Mädchen handelt, ver-
fallen sie frühzeitig der Prostitution, weil sie zwar natürliche Instinkte,
aber keinerlei Selbstbeherrschung und Intelligenz haben, keinerlei Ver-
ständnis für die Tücken und Pläne der weißen Sklavenhändler, der
Kadetten oder ihrer jeweiligen Verführer. Das alles ist unseres Er-
achtens zu erwarten. Sie sind Menschen von gutem Aussehn, aber
von geringer Intelligenz. Sie machen die Schule durch, ohne irgend
eine Fertigkeit zu erwerben. Dann treten sie ins Leben hinaus und
136 A. Abhandlungen.
müssen unvermeidlich einem Schicksal verfallen, wie wir es charakte-
risiert haben.
Wenden wir uns nunmehr unseren staatlichen Einrichtungen zu!
Diese sind noch nicht hinreichend bekannt. Wir besitzen auch keine
zuverlässigen Statistiken, die uns angeben, wieviel Prozent der In-
sassen staatlicher Anstalten tatsächlich schwachsinnig sind. Aber eine
rein zufällige Beobachtung unserer Armenhausbevölkerung zeigt schon,
daß die Majorität entschieden geistig minderwertig ist. Sorgfältige
Tests würden diesen Prozentsatz unzweifelhaft sehr bedeutend ver-
größern.
In unseren Irrenanstalten findet sich auch eine Gruppe von
Patienten, die nach der Ansicht der Ärzte nur teilweise geistesgestört
sind. Sie gehören also eigentlich in eine Anstalt für Schwachsinnige,
wenigstens eher als in ein Irrrenhaus. Sie gerieten nur deshalb in
das letztere, weil ein zu wenig sachverständiges Publikum den Unter-
schied zwischen einer Person, die ihre Geisteskraft verloren hat, und
einer solchen, die sie nie besessen hat, nicht kennt.
Im Hinblick auf die Kriminalität haben wir jetzt hinreichend
Material, das uns zu der Ansicht führt, daß wenigstens 25°, der
Angehörigen der Verbrecherklasse schwachsinnig sind. Unter 100 Auf-
nahmen ins Rahway Reformatory finden sich wenigstens 26 entschieden
schwachsinnige Individuen. Dieser Prozentsatz würde sich sicher be- `
deutend höher stellen, wenn wir die Grenzfälle miteinbezögen.!)
Eine Untersuchung von 100 Jugendgerichtskindern im Be-
wahrungsheim der Stadt Newark ergab, daß 67 von ihnen sicher
schwachsinnig waren. Von dieser Schätzung sind die Kinder ganz
ausgeschlossen, die noch zu jung sind, um endgültig festzustellen, ob
es sich um einen Fall zurückgebliebener Entwicklung handelt. Eine
Klarstellung dieses Punktes würde ohne Frage den Prozentsatz ‘der
Defekten noch weiter anschwellen lassen.
Eine Untersuchung von 56 Mädchen einer Besserungsanstalt in
Massachusetts ergab bei einer einzigen Prüfung, daß 52 von ihnen
entschieden schwachsinnig waren. Es handelte sich teilweise um
Mädchen aus einer besonderen Gruppe, die sehr schwierig zu leiten
waren. Es waren Mädchen darunter, die nicht zu bewegen waren,
in den Familien, die man für sie ausfindig gemacht hatte, zu ver-
1) Wir verzichten darauf, deutsche Zahlen zum Vergleich heranzuziehen, weil
der Maßstab nicht einheitlich ist. Jedenfalls ist aber der Prozentsatz der psycho-
pathischen Konstitutionen (psychopathisch Minderwertiger) unter diesen Individuen
bei uns ein sehr hoher. K. W.
Goddard- Wilker: Die Familie Kallikak. 137
bleiben oder vernünftige und verständige Dinge in diesen Häusern
zu verrichten — eine Erscheinung, die ohne weiteres auf Schwach-
sinn hinweist.
Die vorstehenden Angaben gründen sich auf Test-Untersuobungen
des geistigen Vermögens. Wenn wir die Schätzungen des geistigen
Zustands der Anstaltsinsassen nach den Angaben der Besserungs- und
Straf-Anstalts-Direktoren annehmen, kommen wir bisweilen zu bedeutend
höheren Prozentsätzen. Der Direktor der Elmira- Besserungsanstalt
schätzt z. B. die Zahl der geistig Defekten unter den Insassen seiner
Anstalt auf mindestens 40°),.
Es würde allerdings gar nicht überraschen, wenn sorgfältige
Untersuchungen der Insassen derartiger Anstalten ergeben würden,
daß sogar 50°/, von ihnen bestimmt schwachsinnig sind.
Über die Prostituierten haben wir keine zuverlässigen Angaben.
Die Gruppe delinquenter Mädchen, auf die wir früher verwiesen, ent-
hielt mehrere Mädchen, die als Prostituierte bereits bekannt waren.
Eine einfache Beobachtung von Personen, die ein Dirnenleben führen,
wird jeden, der mit den Schwachsinns-Erscheinungen vertraut ist, zu
der Überzeugung führen, daß ein großer Prozentsatz von ihnen tat-
sächlich geistig defekt ist.!)
Wir haben so, teils auf Grund statistischer Erhebungen, teils auf
Grund sorgfältiger Beobachtung den ausreichenden Beweis für die
Wahrheit unserer Behauptung erbracht, daß die Kriminalität oft auf
Schwachsinn beruhe.
Winship hat durch seinen Vergleich der Familien Jukes und
Edwards unsere Behauptung in dieser Hinsicht bestärkt. Er zeigt,
wie die letztgenannte Familie in jedem Milieu und unter allen Be-
dingungen ausgezeichnete Bürger hervorsprossen läßt, einzig und allein
aus der ihr innewohnenden mächtigen Kraft heraus. Wir schließen:
1) Auch für Deutschland ist diese Mutmaßung sicher berechtigt. Im allge-
meinen spielt aber der sexuelle Trieb wohl die wesentliche Rolle bei der Prosti-
tution. Einer der gründlichsten Kenner der ganzen Frage, Stephan Leonhard,
sagt in sainem Werke »Die Prostitution, ihre hygienische, sanitäre, sittenpolizeiliche
und gesetzliche Bekämpfung« (München, Ernst Reinhardt, 1912): »Zwei Bedingungen
sind es also, welche das Weib zur Prostituierten machen, nämlich die sozialen Ver-
hältnisse und die Spezifität seiner Persönlichkeit, sagt Bettmann in seinem Buche:
‚Ärztliche Überwachung der Prostitution.‘ Erstere bilden den Boden, letztere läßt
die einzelne zur Gefallenen werden. Wenn auch psychische Degeneration und
schwere Schwachsinnsformen öfters die Ursache zur Prostitution sind, so bleibt
doch stets die soziale Lage im weitesten Sinne das auslösende Momente (S. 16).
Unter 176 von ihm untersuchten Prostituierten zeigten nur 4 geistige Abnormitäten.
Der Bildungsgrad war im allgemeinen gut. Ein Mädchen war Analphabetin. K. W.
138 A. Abhandlungen.
weil kein Glied der von Winship beschriebenen Familie Edwards
schwachsinnig war, deshalb wurde keins zum Verbrecher oder zur
Prostituierten. Aber gerade hier ist Winships Beweisführung nicht
überzeugend, weil er nicht über alle Nachkommen berichtet.
Mit der gleichen Sicherheit kann man annehmen, daß viele An-
gehörige der Familie Jukes, vielleicht wohl der eigentliche Stamm,
schwachsinnig waren und deshalb zu einem Leben hinabglitten, wie
sie es bekanntlich gelebt haben.
In dem guten Zweig der Familie Kallikak fanden sich keine
Verbrecher. Auf der andern Seite fanden sich zwar nicht viele, aber
immerhin einige, und niemand, der mit schwachsinnigen Personen,
mit ihren Eigenheiten und ihren Absichten vertraut ist, würde daran
zweifeln, daß ein großer Prozentsatz von ihnen unter anderen Milieu-
verhältnissen verbrecherisch hätte werden können. Lombrosos be-
kannte Verbrechertypen sind wohl, soweit es sich überhaupt um Typen
handelt, Typen von Schwachsinnigen gewesen, denen die Kriminalität
durch die Umstände ihrer Umgebung eingeimpft wurde.
Solche Tatsachen, wie die durch die Familie Kallikak aufgedeckten,
zwingen uns fast unwiderstehlich zu dem Schluß: ehe wir unsere
Kriminalitäts-, Pauperismus- und alle die übrigen sozialen Probleme,
die unsre Zeit und unser Geld belasten, ordnen, sollte der erste und
grundlegende Schritt der sein, eine Entscheidung über die geistigen
Fähigkeiten aller der Personen, die die einzelnen Gruppen zusammen-
setzen, herbeizuführen. Wir müssen diejenigen Menschen, die geistes-
krank sind und deshalb für ihr Handeln nicht verantwortlich gemacht
werden können, so scharf wie irgend möglich von den intelligenten
Verbrechern sondern. Unsere Behandlungsmethode wie unsere Stellung
gegenüber dem Verbrechen wird sich ändern, wenn wir merken, daß
der Verbrecher für einen Teil seines Delikts nicht verantwortlich zu
machen ist.
Wenn die Familie Jukes von normaler Intelligenz gewesen wäre,
würde ein Milieuwechsel Wunder gewirkt und die Gesellschaft vor
diesem schrecklichen Schandfleck gesichert haben. Da sie aber schwach-
sinnig war, konnte keine noch so gute Umgebung etwas anderes als
Schwachsinnige aus ihren Gliedern machen. Schulen und Universi-
täten waren ohne Bedeutung für sie. Eher wäre eine Absonderung
am Platze gewesen, die sie davor bewahrt hätte, dem Schlechten zu
verfallen und ihre Art fortzuzeugen, die also vermieden hätte, daß die
Jukes ihre Defekte und Vergehen auf spätere Generationen übertrugen.
Wo der Vergleich der Familien Jukes und Edwards schwach und
die Beweisführung nicht überzeugend wirkt, ist ein solcher der in
Goddard- Wilker: Die Familie Kallikak. 139
zwei große Stämme geteilten Familie Kallikak stark und in der Be-
weisführung überzeugend.
Die Milieutheorie erhält allerdings durch drei Fälle in unseren
Stammbäumen einige Unterstützung. Auf Figur II bemerken wir, daß
zwei Kinder Martin juniors und Rhodas normal waren, während alle
übrigen schwachsinnig waren. Freilich war hier ein Elter normal,
und wir dürfen deshalb einige normale Kinder erwarten. Gleichzeitig
waren diese beiden Kinder diejenigen, die von guten Familien ad-
optiert und unter günstigen Verhältnissen aufgezogen wurden. Sie
erwiesen sich als normal, wie auch ihre Abkömmlinge normal waren.
Und weiter bemerken wir auf Figur IX A ein Kind von zwei schwach-
sinnigen Eltern, das sich als einziges von allen Kindern als normal
erwies. Dieses Kind wurde auch in eine gute Familie gebracht und
sorgfältig aufgezogen. Eine andere Schwester (Figur IX B) wurde
auch von einer guten Familie angenommen und zeigte, wenn ihr Zu-
stand auch nicht bestimmt klar ist, doch »keinen der Züge, die ge-
wöhnlich auf Schwachsinn hindeuten«. Man kann immerhin be-
haupten, daß die Umgebung für dieses gute Resultat verantwortlich
zu machen sei! Auffallend ist es sicherlich, daß die einzigen Kinder
aus diesen Familien, die normal oder doch wenigstens besser als die
übrigen waren, in guter Familie aufgezogen wurden.
Es muß jedoch bei Betrachtung der Stammbäume als ganzes ge-
nommen ziemlich gewagt erscheinen, eine ganz positive Hoffnung auf
das Milieu zu gründen. Es gibt für die vorhandenen Unregelmäßig-
keiten manche anderen möglichen Erklärungen: es können diese Fälle
z. B. hochstehende Moronen sein, die für unerfahrene Personen dem
Normalen so nahe zu stehen scheinen, daß es in dieser späten Zeit
ganz unmöglich sein würde, irgend jemanden zu finden, der sich ihrer
typischen Züge so gut erinnerte, daß wir sie als Moronen klassi-
fizieren könnten.
Wir dürfen auch nicht außer acht lassen, daß wir auf Figur IX E
die auch in eine gute Familie aufgenommene und sorgfältig aufgezogene
Tochter Justins haben, die sich trotz allem als schwachsinnig erwies.
Dasselbe ist wahrscheinlich bei Deborahs Halbbruder der Fall.
(Forts. folgt.)
140 A. Abhandlungen.
3. Junge Galgenvögel.
Von
Charles E. B. Russell, M. A.
Chief Inspector of Reformatories and Industrial Schools.
Berechtigte Übersetzung von Dr. jur. Karl Struve.
(Fortsetzung.)
III. Ismael.
So groß die jüdische Kolonie in Manchester auch ist und so arm
manche der jungen Juden offenbar auch sind, so kommt es doch nur
selten vor, daß sie ihren Weg ins Gefängnis ‚finden oder hilflos und
heimlos in den Straßen wandernd angetroffen werden. Denn die
jüdischen Gemeinschaften in unseren Großstädten wenden Methoden
in der Behandlung ihrer armen Glaubensgenossen an, die — teils
wegen ihrer guten Geldgrundlage — außerordentlich wirksam sind.
Auch halten sie gute Wacht über ihren Kindern, die überdies von
ihren Eltern weit besser ernährt und versorgt werden als christliche
Kinder des gleichen Standes. So sind unglückliche, kleine, halb-ver-
hungerte Wanderer, dazu bestimmt, entweder ihren Tod zu erwarten
oder nach bestem Vermögen sich durchs Leben zu fristen, unter den
Angehörigen dieses Glaubens überhaupt nicht zu bemerken. Abge-
sehen von dem Falle hoffnungsloser Verdorbenheit kommt es nur sehr
selten vor, daß von Not und Mißgeschick betroffene Hebräerjungen
sich selbst überlassen bleiben. Aus diesen Gründen wird man sie
auch nur selten beim Straßenhandel in den Hauptadern einer Groß-
stadt finden. Ebenso ist ihre Verurteilung wegen Verkehrsbehinderung
oder Vergehens gegen das Landstreichergesetz ein Ausnahmefall.
Höchstens mag man gelegentlich junge, schon dem Knabenalter ent-
wachsene Juden beim Verkauf von Kuplets antreffen, ein bei den
wenigen, die ihren Erwerb auf der Straße suchen, anscheinend be-
sonders beliebter Handelszweig. Die wenigen Glieder dieses Stammes,
die zu Gefängnis verurteilt werden, sind der Regel nach Erwachsene
und erleiden ihre Strafe gewöhnlich für den Vertrieb unbefugt nach-
gedruckter Musikstücke. Unberücksichtigt lasse ich dabei natürlich
die Verbrecher aus einer ganz anderen Schicht, die ihre Klugheit und
Geschäftsbegabung zum Aushecken und Ausführen schlauer Be-
trügereien mißbrauchen.
Ismaels Fall war daher ganz außergewöhnlicher Natur; denn als
ich ihn vor einigen Jahren zum erstenmal im Strangeway - Gefängnis
sah, verbüßte er seine siebente kurze Gefängnisstrafe. Im ganzen war
er schon neunmal wegen »Eisenbahnvergehens« und »Verkehrsbehinde-
rung« vor dem Richter erschienen.
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 141
Der letztere Ausdruck als Bezeichnung einer Straftat verlangt
vielleicht eine kurze Erklärung. Der Begriff ist ziemlich weit. In dem
einen Falle bedeutet er vielleicht, daß gedankenlose junge Burschen
sich irgendwo aufpflanzen und den öffentlichen Fußweg versperren,
eine Ordnungswidrigkeit, die nur sehr selten Gefängnis im Gefolge
hat. In einem anderen Falle ist damit der allzu aufdringliche Ver-
trieb tandartiger Spielzeuge oder Blumen in den Hauptstraßen einer
Großstadt gemeint — sei es, daß die Verkäufer trotz der Aufforde-
rung weiterzugehen, ständig auf demselben Fleck bleiben, oder daß sie
sich auf dem Fußweg selbst breit machen. Ein weiteres Beispiel
bietet der Fall, daß Personen in der Nachbarschaft der Bahnhöfe
herumlungern und Reisende bestürmen, ihr Gepäck tragen zu dürfen;
freilich geht hier die Anschuldigung meistens auf »Eisenbahnvergehen«.
Worin aber auch im einzelnen Fall die als »Verkehrsbehinderung« auf-
gefaßte Übertretung örtlicher Verordnungen bestehen mag, niemals
bedeutet sie ein wirkliches Vergehen im sittlichen Sinne und hat
durchaus keine Verbrechensnatur. Es ist daher beklagenswert, daß
zur Eindämmung dieses Übelstandes dieselbe Strafe verhängt wird, die
bei kleineren Diebstählen angewandt wird. Ja, es ist mehr als be-
klagenswert. Denn Gefängnisstrafe tritt bei »Verkehrsbehinderung«
fast nur dann ein, wenn die in erster Linie auferlegte Geldbuße nicht
bezahlt wird. Im Falle eines Diebstahls wird dagegen Geldbuße sehr
selten anstatt mehrwöchentlicher Gefängnishaft als Sühne zugelassen.
Nun haben aber gerade die, welche am häufigsten wegen Verkehrs-
behinderung ins Gefängnis geschickt werden — junge, mittellose
Burschen, die vom Straßenhandel leben — selten das Geld zur Be-
zahlung der Bußen. Sie gelangen daher bald dahin, kleine Diebstähle
und Verkehrsbehinderung als gleichwertige Missetaten anzusehen. [Denn
da beide Handlungen gleich bestraft werden, erscheint ihnen eine
Unterscheidung nach dem sittlichen Inhalt überflüssig.
Obwohl also Ismaels Missetaten verzeihlicher Natur gewesen
waren, hegte ich doch keineswegs freundliche Gefühle gegen ihn. Ich
suchte ihn nur auf, weil der Gefängnisdirektor mich gebeten hatte,
mich nach einem Mittel umzusehen, um seinen ständigen Besuchen
ein Ende zu machen. Denn da ich wußte, wie sorgsam die Juden
auf alle ihre Glaubensgenossen achthaben, hatte ich von jeher eine
Abneigung, jungen, mehrfach vorbestraften Juden zu helfen. Hatten
mir doch Juden selbst gesagt, daß Glieder ihrer Gemeinschaft, die
ihren Weg ins Gefängnis finden, aller und jeder Hilfe unwürdig seien.
Nur widerstrebend also schenkte ich Ismael Gehör.
»Machen Sie einen Versuch mit mir, Herr!« bestürmte er mich.
142 A. Abhandlungen.
»Ich würde arbeiten, wenn ich nur Arbeit bekommen könnte. Aber
was kann ich anders tun, als vor dem Bahnhof lungern, wenn ich
nichts zu essen und keine Stätte zum Schlafen habe.« Der Ernst,
mit dem er sprach, machte auf mich Eindruck. Ich fühlte, daß hier
vielleicht doch ein Fall war, in welchem Not und nicht lediglich
schlechtes Betragen einen noch nicht siebzehnjährigen Jungen wiederholt
ins Gefängnis gebracht hatten. Ich forschte ihn aus und erfuhr, daß
er als kleines Kind mit seiner Familie von Polen nach Manchester
gekommen war. Der Familie war es in England nicht gut ergangen.
Jahre hindurch hatte sie für das Dach über dem Haupte zu kämpfen
gehabt. Als daher wohlhabende Verwandte in Massachusetts sich er-
buten, für die Eltern die Kosten der Ausreise zu bezahlen, besannen
diese sich keinen Augenblick und machten auch irgendwie den Über-
fahrtspreis für die beiden jüngeren Geschwister Ismaels flüssig. Ihn
selbst ließen sie zurück. Sie sagten, er wäre alt genug, um seinen
Unterhalt zu verdienen, und versprachen, ihn nachkommen zu lassen,
sobald sie es ermöglichen könnten. Es fiel ihnen nicht ein, für den
fünfzehnjährigen Jungen ein ordentliches Heim zu beschaffen. So
war Ismael darauf angewiesen, sich seinen Weg nach besten Kräften
zu erkämpfen. Mit dunklen Erinnerungen an die einstige Flucht aus
Rußland und alles damit verbundene Elend erfüllt, sah er seiner Zu-
kunft mit einem Gefühl von Trostlosigkeit, um nicht zu sagen der
Verzweiflung, entgegen.
Unzweifelhaft war Ismael niemals ein wirklich netter Junge ge-
wesen. Wenig über zehn Jahre alt, hatte er schon das Spielen ge-
lernt und ließ nicht wieder davon ab. Hauptsächlich infolge dieses
Lasters war er niemals lange in seinen Stellungen geblieben. Aber
er hatte an seinem Elternhaus doch stets ein Heim besessen, mochte
es auch noch so ärmlich sein. Auch Nahrung wurde, wenn sie nur
vorhanden war, ihm niemals vorenthalten. Als seine Eltern ihn ver-
ließen, arbeitete er in einer Pantoffelwerkstatt. Er wäre vielleicht
ganz gut durchgekommen, wenn er bei Angehörigen seiner Religions-
gemeinschaft Wohnung genommen hätte. Aber in einem unseligen
Augenblick beschloß er, mit einigen verdorbenen englischen Jungen,
die gleich ihm dem Spiel frönten, gemeinsame Sache zu machen, und
entfremdete sich so seine wenigen jüdischen Freunde. Er suchte in
einer gewöhnlichen Herberge niedrigster Sorte Unterkunft. Die un-
ausbleibliche Folge war, daß er nach wenigen Tagen seine Arbeit ver-
lor und ganz auf sich selbst angewiesen war. Er hatte jetzt kein
Heim und schämte sich, seine Glaubensgenossen um Hilfe zu bitten.
Der Herbergswirt aber wollte ihm ohne bares Geld keinen Einlaß ge-
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 143
währen. Was sollte er tun? Was konnte er tun? Bei dem nahen
Bahnhof Gelegenheitsarbeit suchen? Andere Burschen taten es und
kamen dabei niemals in Mißhelligkeiten; warum sollte er es? Ach,
der Arme! Er kannte nicht die Geschichte seines Stammes und war
sich seiner eigenen Charakterzüge nicht bewußt. Juden zeigen eine
bewundernswerte Zähigkeit bei allen ihren Unternehmungen, und eben
diese Hartnäckigkeit, mit der Ismael sich nach Judenart ans Litzen-
stehen machte, führte ihn fast gerades Wegs ins Polizeigericht. Er
ließ sich von den Leuten, die mit ihrem Gepäck beim Bahnhof aus-
und eingingen, durch ein Kopfschütteln oder durch kurzangebundene
Ablehnung seiner Trägerdienste nicht zurückweisen. So war es un-
vermeidlich, daß er den Bahnhofspolizisten als leichte Beute anheim-
fiel. Dies geschah ein Mal nach dem andern. Er stahl nicht, wollte es
auch nicht tun und bemühte sich mit verzweifelter Anstrengung, seinen
Unterhalt ehrlich zu verdienen. Er hatte eine seltsame Scheu davor,
obdachlos zu nächtigen, wie es doch so viele seiner Bekannten taten,
und bot alles auf, um dies zu vermeiden.
Seiner äußeren Erscheinung nach hatte er ausgesprochen hebräi-
schen Gesichtsschnitt, eine kleine Gestalt, fast verkümmerten Wuchs
— im ganzen also nichts Einnehmendes. Aber er war weder geistig
noch körperlich ein Schwächling, schien auch durchaus keine Anlage
zum Verbrecher zu haben. Freilich war er auf dem besten Wege,
durch die aufeinanderfolgenden kurzen Freiheitsstrafen für nicht-
kriminelle Vergehen in einen Verbrecher verwandelt zu werden. Aber
wenn man auch alles, was zu seinen Gunsten sprach, gelten ließ, so
blieb doch die Tatsache bestehen, daß er ein Spieler, ein unstäter
Geselle und widerspenstig gegen jede Art von Aufsicht war. Nichts-
destoweniger wollten wir mit Rücksicht auf seine Jugend ihm Ge-
legenheit geben zu zeigen, ob er wirklich ein Arbeiter, oder ob er
nur ein Tagedieb war, der sich lediglich aus Untugend und Arbeits-
scheu in der Nähe des Bahnhofes herumtrieb. Wir hatten beträcht-
liche Schwierigkeit, jemanden zu finden, der zu dem unsicheren Unter-
nehmen bereit war, sich um das Wohlergehen einer solchen offen-
baren Straßenrange zu kümmern. Aber schließlich nahm eine freund-
liche, mit Unternehmungslust begabte Seele sich des Rettungswerkes
an. In einiger Entfernung von seinen alten Quartieren wurde ihm
ein Heim eingerichtet, und nach einer oder zwei Wochen wurde er
auch mit passender Arbeit versehen.
Es dauerte nicht lange, da traten die alten Neigungen Ismaels
wieder zutage. In jedem freien Augenblick fand man ihn beim Spiel
mit den Jungen aus seiner Straße. Auch konnte man sich nicht der
144 A. Abhandlungen.
Tatsache verschließen, daß er der Verführer der anderen Knaben war
und sie verleitete, ihr geringes Taschengeld an verschiedene Glücks-
spiele zu wagen. Überdies spielte er nicht immer ehrlich, sondern
ließ sich erwiesenermaßen mitunter Betrug zuschulden kommen. Er
artete bald zu einer Plage aus, und die Nachbarn beklagten sich leb-
haft, daß er die ganze Jugend der Gegend verderbe. Ich konnte dies
nicht bestreiten; aber auf das feierliche Versprechen Ismaels, endlich
und für alle Zeiten dem Spiel entsagen zu wollen, verschaffte ich ihm
Unterkunft bei einer anderen Familie, die in einiger Entfernung
wohnte. Eine Zeitlang ging alles gut; aber die Sonnabendnachmittage
machten ihm viel zu schaffen. Er spielte weder selbst Fußball, noch
liebte er es, dem Spiele anderer zuzusehen. Für Burschen seines
Alters und Standes ist aber die Auswahl unter gesunden winterlichen
Freiluftbetätigungen nur beschränkt. Bald zog er an einer Straßen-
ecke wieder ein Spiel Karten hervor und lud die Jungen in der
Runde ein, beim Bankspiel >mitzumachen« (d. h. auf eine Karte zu
wetten). Dies kam schnell zu meinen Ohren. Wieder wurde Ismaels
Wohnung gewechselt und ihm angekündigt, daß er bei nochmaliger
Wiederholung völlig aus der Gegend verschwinden und sich allein
durchschlagen müsse. Ismael scheint sich nunmehr klar gemacht zu
haben, daß er das Spielen aufgeben müsse, um nicht die Aussicht auf
weitere Hilfe zu verscherzen. Ein völliger und unerwarteter Um-
schwung trat ein. Er gab seine alten Schliche auf und begann sich
fürs Boxen zu interessieren. Abend für Abend übte er, um sich zu
einem Preisfechter auszubilden. Auf seine Bitte erhielt er die Er-
laubnis, einem nahen Boxerklub beizutreten. Aber schon am ersten
Abend, an dem er seine Tapferkeit zur Schau trug, bekam er genug.
Er kannte noch nicht den Unterschied zwischen regellosem Drein-
hauen und kunstgerechtem Boxen und stürzte sich wild auf den Lehrer,
der zunächst die übliche Schonung walten ließ, schließlich aber im
Interesse der Selbstverteidigung seine Zurückhaltung aufgeben mußte.
Nach wenigen Minuten lag Ismael mit der Überzeugung am Boden,
daß er noch nicht der glänzende Schaufechter sei, als den er sich ge-
träumt hatte.
Einige Zeit später — soweit ich erfahren konnte, hielt er sich
noch immer vom Spielen fern — hörte er auf irgend welchem Um-
weg von seinen Eltern in Massachusetts und erhielt nach einigen
Wochen einen Brief von ihnen. In dem Brief befand sich eine Geld-
summe, wofür Ismael verschiedene Sachen kaufen und den Eltern
übersenden sollte. Gleichzeitig versprachen die Eltern, wenn Ismael
eine gewisse Summe selbst aufbringen könne, ihm den zur Bezahlung
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 145
des Überfahrtgeldes nötigen Zuschuß zu übersenden. Unter diesen
Umständen würde ein wirklich schlechter Bursche, als den sicher viele
Ismael eingeschätzt haben, das von den Eltern gesandte Geld behalten
und zu seinem eigenen Vergnügen verwendet haben. Nicht so dieser
junge Jude. Er gab jeden Heller genau so aus, wie seine Eltern
wünschten, und bat sie, ihren Beitrag zu seiner Überfahrt mit der
nächsten Post zu senden. Die Eltern ihrerseits schickten, so wenig
sie sich auch sonst um Ismael bekümmert hatten, das versprochene
Geld, und vor etwa drei Jahren reiste Ismael von Manchester nach
Newyork ab.
Was das Verhältnis zu seiner Familie anlangte, so erwies sich
der Versuch als ein Fehlschlag. Ismael schrieb: 1)
Ich blieb drei Monate bei meinen Eltern. Dann ging ich fort, weil sie
sagten, ich solle nach England zurückkehren. Als ich sie jedoch um mein Über-
fahrtsgeld bat, wollten sie mir nichts geben. Ich ging daher nach einer anderen
Stadt, und hier bin ich noch.
Als Nachschrift fügte er hinzu: »Küsse für alle,« worauf drei
Reihen kleiner Kreuze folgen. Drei Monate hindurch hatte er leidlich
gute Beschäftigung. Dann schrieb er:
Ich habe ein billiges Kartoffelgeschäft. Anderswo kann ich nicht arbeiten.
Meine Wirtin hat es für mich eingerichtet. Es geht mir gut so. Arbeit ist
jetzt in den Staaten sehr schwer zu bekommen. Ich denke, nach dem west-
lichen Teil der Staaten zu gehen und dort ein Geschäft anzufangen.
Der nächste Brief, aus einer Stadt in Pennsylvanien datiert, be-
gann mit einer sehr strengen Kritik meiner Schönschreibekunst:
Ich erhielt Ihren Brief vor einigen Tagen. Ich mußte meine Augen
herausnehmen, sie waschen und wieder einstellen, und auch dann konnte ich
noch nicht die Hälfte des Briefes lesen. Ich hoffe aber, Sie werden sie künftig
in Maschinenschrift schicken, damit ich sie verstehen kann.
Ismael erhielt Beschäftigung bei einem Brückenbau und richtete
sich ganz glücklich ein. Er war jetzt augenscheinlich ein ordentlicher
Arbeiter geworden. Das Boxen war jedoch nach wie vor sein Stecken-
pferd. Er erntete darin sogar beträchtliche Erfolge, von denen er in
demselben Briefe berichtet:
Ich bin mit einigen Sportsleuten bekannt geworden. In der ersten Woche
nach meiner Ankunft focht ich nur, um einmal zu sehen, was ich ausrichten
konnte. In der nächsten Woche focht ich einen schwarzen Burschen nieder
und fertigte ihn ab. Er war Champion von D., bis ich kam. Jetzt kann ich
!) Die Fülle der orthographischen und stilistischen Fehler, welche die Briefe
Ismaels ebenso wie die meisten der später abgedruckten Briefe kennzeichnet und
die englischen Originale zu einer ergötzlichen Lektüre gestaltet, ließ sich bei der
Übersetzung leider nicht wiedergeben. K. S.
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 10
146 A. Abhandlungen.
alle gewünschten Partien bis zu 150 Pfund bekommen. Ich nehme es mit jedem
Gegner von diesem Gewicht auf.
Einen oder zwei Monate später schrieb er:
Daß ich Prügel bekommen habe, ist nicht wahr; denn ich kann die Stöße
so gut aushalten wie austeilen. Wenn ein Bursche nur eine gute Tracht aus-
halten kann, ist alles in Ordnung. Ebenso wie mit dem letzten habe ich mit
einem anderen Kerl gefochten. Ich will Ihnen die Berichte von meinen beiden
letzten Kämpfen senden. Ich habe bald einen neuen zu bestehen. Mein Gegner
ist kräftiger als ich. Aber ich muß es mit ihm aufnehmen, da mein Manager
eine Herausforderung erlassen und dieser Mann sie angenommen hat.
Als die Brücke fertig war, erhielt Ismael Arbeit in einer derselben
Gesellschaft gehörigen Mühle. Er schien aber Angst hinsichtlich der
Dauer der Beschäftigung zu haben, als er schrieb:
In erster Linio möchte ich mich bei einer dauernden Arbeit festsetzen
und nebenher ein bißchen boxen; denn ans Boxen denke ich ebensoviel wie
ans Essen.
Mein Wunsch ist, etwa zwölf Monate in der Mühle zu bleiben und dann
wieder zu wechseln. In dieser Art reisen wir hier draußen rund durch die
Staaten und bekommen auch etwas vom Land zu sehen. Ich denke, im Sommer
nach Chikago, dort im Westen, zu gehen. Dort werden eine Menge Wettkämpfe
veranstaltet, und man kann leicht Geld machen. Vielleicht bin ich imstande,
nach 1 oder 2 Jahren nach England zu kommen und meine alten Freunde
wieder von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Das möchte ich gerne, wenn es
nicht übers Wasser ginge.
Nach einigen Monaten hatte er nicht mehr soviel Gelegenheit
zum Boxen, wie er wünschte; denn, um ihn wieder anzuführen:
Niemand will etwas mit mir zu tun haben, seit sie gesehen haben, was
ich ausrichten kann. Als ich zuerst hierher kam, glaubten sie, leichtes Spiel zu
haben. Als ich aber einen oder zwei von ihnen abfertigte, waren sie befriedigt,
und jetzt bin ich Champion dieser Stadt. Ich besiegte zwei farbige Kerle. Sie
galten für die stärksten der Stadt und sind jetzt meine besten Freunde.
Monatelanges Schweigen folgte, und ich begann neugierig zu
werden, ob ich jemals wieder von meinem »treuen Freunde«, wie
Ismael sich stets zeichnete, hören würde. Dann kam ein Brief, der
— leider unzeitgemäß — mit seiner üblichen Formel begann:
Lieber Herr, Ich schreibe Ihnen diese wenigen Zeilen in der Hoffnung,
daß sie Sie in der besten Gesundheit antreffen werden, so wie sie mich jetzt
verlassen. Ich habe Sie nicht vergessen; aber ich habe die letzten sechs-
Monate mit verrenktem Rücken zu Bett gelegen. Ich wurde bei der Arbeit ver-
letzt und werde jetzt den ganzen Winter nicht arbeiten können. Während der
letzten vier Monate wurde ich von drei Doktoren behandelt. Ich bin jetzt so
schwach, daß ich mit einem Stock gehen muß, ich habe in dieser Zeit 37 Pfund
verloren. Sie würden mich nicht wiedererkannt haben, wenn Sie mich gesehen
hätten. Ich danke Gott, daß ich heute noch am Leben bin; denn ich glaubte
nicht, daß ich das Tageslicht wiedersehen würde. Ich dachte, ich würde sechs
Fuß unter die Erde fahren; aber ich nehme an, es ist noch nicht so weit.
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 147
Sechs Wochen später erhielt ich seinen letzten Brief, der mich
benachrichtigte, daß es ihm viel besser ging. Er hatte wieder Arbeit
und dachte ans Heiraten. Anscheinend liegt kein Grund vor, daran
zu zweifeln, daß er hinfort das Leben eines stetigen Arbeiters
führen wird.
Ismael ist eine dankbare Natur und unterläßt es in keinem Briefe,
seine unwandelbare Anhänglichkeit an alle, die ihn in Manchester be-
treut haben, auszudrücken. Er nennt jeden mit Namen und schließt
mit einer anderen stereotypen Formel: »In weiter Ferne, doch nicht
vergessen.« Gegenwärtig könnte offenbar nichts an ihm den Ge-
danken erwecken, daß er jemals auf dem Wege gewesen sei, sich zu
einem regelmäßigen Gefängnisstammgast zu entwickeln. Und doch
würde dies trotz des Fehlens wirklicher verbrecherischer Neigungen
höchstwahrscheinlich sein Schicksal gewesen sein, wenn er sich selbst
überlassen geblieben wäre; denn Selbstachtung schwindet leicht, wenn
man die Achtung anderer verliert. In der Tat, der Erhaltung seiner
Selbstachtung und der Entdeckung eines neuen Interesses, das an die
Stelle seiner früheren Spielleidenschaft treten konnte — einer Leiden-
schaft, die zu stark war, um ohne solchen Ersatz ausgerottet zu
werden — schreibe ich seine Rettung zu. Es mag seltsam erscheinen,
in der sehr weltlichen Kunst des Faustkampfes einen Pfad zur Recht-
schaffenheit zu erblicken. Aber wenn ich mir die Laufbahn Ismaels
vergegenwärfige, zögere ich nicht, zu erklären, daß für ihn Boxen das
Mittel der Rettung von einem Leben zunehmender Erniedrigung und
Verelendung war. Von dem Augenblick an, in welchem seine Teil-
nahme am Sport erwachte, begann seine Vorliebe fürs Spiel zu schwinden.
Er hörte auf, sich mit einem Haufen schmutziger Karten in der
Tasche an den Straßenecken herumzutreiben und auf eine Gelegenheit
zu lauern, drei oder vier Jungen, die ihm etwa in den Weg kommen
möchten, zum Spiel zu verleiten. Anstattdessen eilte er nach Arbeits-
schluß in den Boxsaal, wo er nicht nur den Gebrauch seiner Fäuste,
sondern zugleich die Tugenden der Zurückhaltung und Selbst-
beherrschung, die ihm in früheren Jahren so völlig fehlten, lernte.
Hätten doch mehr von unsern jungen Straßenrangen den Schneid,
sich einer gleichen Schulung zu unterwerfen! (Forts. folgt.)
10*
148 A. Abhandlungen.
4. Die Strafe in der Fürsorgeerziehung.
Von
Oberarzt Dr. Mönkemöller, Hildesheim.
(Fortsetzung.)
Der Belgier Demoor!) berichtet, daß die belgischen Hilfs-
schulen für Indisziplinierte prinzipiell auf die Anwendung von
Schlägen verzichten, die man in Deutschland für geboten und
erlaubt hält.
Die Pädagogen der Spezialanstalten für schwer erziehbare und
verwahrloste Kinder in allen Ländern haben sich fast ausnahmslos
für gänzlichen Verzicht auf die körperliche Bestrafung entschieden.
Man lese z. B., schreibt Förster?), »was das englische >Journal of
education« über die »Maison paternelle« in Mettray berichtet — eine
Besserungsanstalt, die seit vielen Jahren selbst in ganz desperaten
Fällen die größten Erfolge erzielt hat. Auch die leiseste körperliche
Züchtigung ist dort ganz ausgeschlossen.«
Förster, der sich als radikalen Gegner jeder körperlichen
Züchtigung bekennt, klagt bitter: »Es ist ganz charakteristisch, daß
hier auf Deutschland als auf das klassische Prügelland hingewiesen
wird und es ist leider bezeichnend für die Ungleichheiten der päda-
gogischen Praxis in Deutschland, daß trotz einer so hohen pädagogi-
schen Tradition nirgends mit solchem Idealismus an der hohen päda-
gogischen Bedeutung der rein animalischen Erziehungsmittel fest-
gehalten wird wie dort.«
Auf einem vermittelnden Standpunkte steht Heller’). »Noch
vorsichtiger als der Belohnung muß sich der Heilpädagoge der Strafe
bedienen. Unter keinen Umständen darf der Erzieher im Affekte
strafen. Es ist oft eine schwere Aufgabe, den verschiedenen Unarten
schwachsinniger Kinder gegenüber völlige Ruhe zu bewahren. Aber
wer sich stets vor Augen hält, daß diese vermeintliche Unarten der
Mehrzahl nach Symptome krankhaften Ursprunges sind, wird seinem
Zögling die nötige Gerechtigkeit widerfahren lassen und nur dann
strafen, wenn ein strafbarer Tatbestand vorliegt. Die Art der Strafe
muß sich in erster Linie nach der seelischen Beschaffenheit des Kindes
richten. Es gibt schwachsinnige Kinder, die außerordentlich empfind-
1) Demoor, Die anormalen Kinder und ihre erziehliche Behandlung in Haus
und Schule. Ufers internationale pädagogische Bibliothek, Band III. Altenburg,
Bonde, 1901. 8. 125.
?) Förster, l. c. 8. 710.
*, Heller, Grundriß der Heilpädagogik. Leipzig 1912. S. 279.
Mönkemöller: Die Strafe in der Fürsorgeerziehung. 149
lich sind. Hier genügt oft eine scharfe Ermahnung, um den be-
absichtigten Effekt hervorzubringen. Andere schwachsinnige Kinder
reagieren nur auf gröbere Einwirkungen. Diese in der Regel sittlich
stumpfen Kinder müssen mit großer Vorsicht behandelt werden, weil
man überraschend schnell am Ende der verfügbaren Disziplinarmittel
angelangt ist. ...
Für die Bemessung der Strafe muß nebst der Beurteilung des
Tatbestandes auch die Erfahrung maßgebend sein, wie ein Kind auf
diese Eingriffe reagiert. Es gibt Kinder, deren sich bei Verhängung
einer empfindlichen Strafe heftige Zornausbrüche bemächtigen. Ich
kenne Fälle, in denen der Erzieher, welcher eine kleine Verletzung
der Disziplin bestrafen wollte, hierdurch einen häßlichen Exzeß provo-
zierte, der eine viel schwerere Gefährdung der Disziplin bewirkte als
das anfängliche Vergehen. Am ärgsten gestalten sich solche Exzesse
infolge von körperlichen Züchtigungen. Kein einsichtiger Heilpädagoge
wird sich dieses Mittels in maßloser Weise bedienen. Die Prügelstrafe,
welche Kindern einen empfindlichen Schmerz bereitet, ist überhaupt
kein Erziehungsmittel. Aber es gibt schwachsinnige Kinder, deren
roheste Leidenschaften entfesselt werden, wenn sie nur in leichtem
Maße körperlich gezüchtigt werden. Daß unter solchen Umständen
die Strafe unendlich mehr schadet, als sie unter gewöhnlichen Ver-
hältnissen nützen kann, ist unmittelbar klar und deshalb bekenne ich
mich als unbedingten Gegner von körperlichen Züchtigungen
bei schwachsinnigen Kindern. Wer sich Mühe gibt, die Eigen-
schaften schwachsinniger Kinder zu studieren, findet immer einen anderen
Weg, auf dem er seinem unbotmäßigen Schüler beikommen kann.
Selbstverständlich ist eine Pauschalerziehung bei psychopathischen
Jugendlichen nicht möglich. Verständnisvolles Eingehen auf jede Art
psychischer Regelwidrigkeit ist hier die Vorbedingung des Erfolges.
Wie immer man der Frage der körperlichen Züchtigung gegenüber-
steht, so wird man doch, wenn überhaupt pädagogische Erwägungen
in Betracht kommen, unter keinen Umständen ein Verfahren billigen
können, das die Prügelstrafe gleichsam in den Mittelpunkt stellt.
Der letzteren völlig gleichzuhalten sind auch alle Strafmaßregeln, die
dem Jugendlichen harte körperliche Entbehrungen auferlegen.«
Daß vom rein psychiatrischen Standpunkte aus in einem Milieu,
das sich ausschließlich aus Psychopathen zusammensetzt, die Strafe,
die ausgesprochen als solche auftritt, keinen Platz finden darf, daß
am wenigsten aber die körperliche Züchtigung existenzberechtigt ist,
sollte als zu selbstverständlich gelten, als daß noch viel darüber ge-
sprochen zu werden brauchte.
150 A. Abhandlungen.
Die Zurechnungsfähigkeit, die die Voraussetzung jeder Strafe
darstellt, ist hier immer in Frage gestellt, mag man auch immerhin
den leichteren Formen eine gewisse Zurechnung zukommen lassen.
Selbst wenn man theoretisch in manchen Fällen noch eine gewisse
Straffähigkeit annehmen könnte, muß man sich aus praktischen
Gründen von vornherein diese Erörterungen schenken, die doch meist
nur zu knifflichen und theoretischen Erwägungen führen müßten. So
werden wir denn ohne den Begriff der Strafe in der Irrenanstalt mit
den schwersten Auflehnungen gegen die Disziplin fertig. Es ist ja
nicht immer einfach, den Kranken, den Angehörigen und selbst dem
Wartepersonal die Anschauung zu nehmen, daß die Mittel, durch
welche wir den Entladungen und Gewaltäußerungen und Erregungs-
zuständen der Kranken begegnen müssen, um die Umgebung vor
ihnen zu schützen, um sie selbst zur Ruhe und Selbstbeherrschung
zu erziehen, um in ihnen die nötigen Gegenvorstellungen zu wecken,
soweit das ihrer psychischen Verfassung eben noch möglich ist, keine
Strafe bedeuten soll.
Aber alles, was hierher gehört, Bettruhe, Bäder, Beruhigungsmittel,
Verlegung auf andere Abteilungen, Entziehung von Vergünstigungen
trägt den Stempel des Medizinischen an sich. Der Heil- und
Behandlungszweck wird immer hervorgehoben. Immer wird
betont, daß das nur Mittel sind, um den krankhaften Symptomen zu
begegnen, und daß es eben keine Disziplinierung im Sinne einer
Strafe bedeuten soll. Die Zwangsmittel einer vergangenen Zeit, zu
denen auch die Peitsche gehörte, und die früher oft als ausgesprochene
Strafmittel angewandt wurden, sind längst aus allen Anstalten verbannt.
Wir haben gelernt, daß man mit der freiesten Behandlung psychische
Krankheitssymptome bekämpfen und beseitigen kann, ohne mit dem
Begriffe der Strafe operieren zu müssen.
Inwieweit sind wir nun berechtigt und verpflichtet, diese Grund-
sätze in die Fürsorgeerziehung einzuführen? In welchem Maße ist
das überhaupt praktisch durchführbar?
Auch von seiten der Ärzte und speziell der Psychiater, die sich
nicht prinzipiell gegen die Strafe und speziell die körperliche Züchti-
gung in der Erziehung aussprechen, wird diese Toleranz sofort ver-
lassen, wenn es sich um psychopathische Kinder und Jugendliche
handelt.
So nahm Moll!) nicht den Standpunkt ein, daß das Körperstrafen
in der Schule ganz entbehrt werden könne, solange es keine anderen
1) Moll, Das Sexualleben des Kindes. Leipzig 1908. S. 288.
Mönkemöller: Die Strafe in der Fürsorgeerziehung. 151
Disziplinarmittel gebe. Die Prügelstrafe sei die einzige Strafe, die
ein boshaftes oder rohes Kind schrecke. Die absoluten Gegner der
Prügelstrafe sollten dafür sorgen, daß andere Mittel zur Aufrecht-
erhaltung der Disziplin durchgeführt werden. »So sehr man sich gegen
alle Ausschreitungen des Züchtigungsrechtes wenden muß, soll man
sich auch ‚im Jahrhundert des Kindes‘ vor übertriebener Sentimen-
talität hüten.e Die Bedenken, die er aber gegen die Züchtigung psycho-
pathischer Kinder hatte, sind schon erwähnt.
Auch Neißer!) gehörte keineswegs zu denjenigen, welche Prügel
etwa des Menschen für unwürdig hielten. »Dieser humanitäre Stand-
punkt, um diesen Ausdruck zu gebrauchen, ist mir nicht vollkommen
eigen, aber die Zweckmäßigkeit ist eine sehr fragliche. Dagegen ist
es auf alle Fälle sehr übel, zu strafen, wenn man nicht weiß, ob man
es mit ganz normalen Kindern zu tun hat. Die pathologische Reiz-
barkeit ist ein Faktor, der unter Umständen jedes Erziehungsresultat,
das mit Strenge zu erreichen versucht wird, vereiteln kann. Die Er-
innerung an die Vorkommnisse, die den Grund zur Strafe gegeben
hätten oder doch mindestens die Stimmung, aus der sie hervorgingen,
ist längst verschwunden und das kindliche Gehirn ist nicht imstande,
diese Tatsache so zu verallgemeinern, daß die Strafe, die nachhinkte,
wirklich noch in die erforderliche Beziehung zur Tat gesetzt werden
kann.«
Allerdings hielt Neißer es im Interesse der Anstaltsdisziplin an-
gesichts der Artung bei manchen Burschen (bei Komplotten, tätlichen
Angriffen usw.) für fraglich, ob es nicht vielleicht ganz gut sei, daß
die Möglichkeit ein abschreckendes Beispiel zu statuieren, bestehen
bleibe. Aber nur als Ausnahme, als seltenes Vorkommnis
könnte dergleichen vielleicht gelten gelassen werden.
Czerny?), der sonst bei normalen Kindern die Prügelstrafe für
zulässig hielt, war zunächst dafür, daß sie auch bei diesen nur so-
lange angewendet werden dürfe, als die Schmerzempfindung das
wirksame Prinzip darstelle. Wo sie sich aber durch solche Strafen
in ihrem Ehrgefühle verletzt glaubten, dürfe man von ihnen nicht
mehr Gebrauch machen, da sonst nur Trotz und Haß gegen die Er-
ziehung die Folgen seien.
Bei vielen geistig minderwertigen und imbezillen Kindern ist die
Empfindung für Schmerz stark herabgesetzt. Das Fehlen der Schmerz-
t) Neißer, Psychiatrische Gesichtspunkte in der Beurteilung und Behandlung
der Fürsorgezöglinge. Halle 1907.
3) Czerny, Der Arzt als Erzieher des Kindes. Leipzig u. Wien 1911. S. 41.
152 A. Abhandlungen.
empfindung ist ein mächtiges Symptom geistiger Minderwertigkeit.
Es ist leicht verständlich, daß bei derartig anormalen Kindern eine
körperliche Strafe die beabsichtigte Wirkung nicht finden kann.
Besonders ausführlich und überzeugend sprach sich Scholz!)
über diese heikle Frage aus. Er gab zwar zu, daß das Wort der
»Prügelpädagogik« nicht ohne Grund geprägt sei, bezeichnete es aber
als Übertreibung, wenn man den Anstalten, aus denen die körperliche
Züchtigung noch nicht ganz verbannt sei, die wahre Humanität ab-
spräche.
Der leibliche Schmerz ist das einzige, wovor gewisse Naturen
Respekt haben, und wenn die Prügel auch nicht besser machen,
vorsichtiger machen sie doch.
Allerdings muß man zwischen Prügeln und offizieller Prügel-
strafe, die sozusagen amtlich verfügt und womöglich unter An-
schnallen auf den Bock und ärztlicher Kontrolle verabfolgt wird, wohl
unterscheiden. Aber ein so entschiedener Gegner der Wiedereinführung
der Prügelstrafe bei erwachsenen Verbrechern aus vielerlei Gründen
er ist, so wenig hat er gegen einen gelegentlichen fühlbaren Denk-
zettel, der rasch der schnöden Tat folgt.
Natürlich kann keine Pädagogik ohne Strafe auskommen, aber
der gute Erzieher wird in ihr immer nur einen Notbehelf sehen.
Gerade bei den Schwachsinnigen und Minderwertigen liegt hier der
Mißbrauch sehr nahe, weil hier allzuleicht natürliche Krankheits-
äußerungen mit Ungezogenheiten verwechselt werden, so die Bewegungs-
unruhe des Schwachsinnigen, die Zuckungen des Choreatischen, die
Reizbarkeit des Epileptikers, der Überwindungstrotz des Nervösen, die
Scheinlüge des Phantasten.
»Ich selbst habe von körperlicher Züchtigung nie Gebrauch
gemacht, weiß aber nicht, ob ich mir darauf etwas zugute tun darf.
Manchmal denke ich, in dem oder jenem Falle wäre ein körperlich
empfundener Beweis meiner Unzufriedenheit doch recht angebracht
gewesen, — gerade unter den Defekten gibt es Individuen, die durch
ihre Unbotmäßigkeit, ihren Zynismus, ihre Neigung, die Mitkranken
oder Zöglinge zu verhetzen, die Geduld auf die äußerste Probe stellen.
Aber ich sagte mir gleichzeitig das folgende: Schwachsinnige und
Psychopathische verlangen noch viel strengere Individualisierung
als die geistig Gesunden.«
Und da er sich die ungünstigen Folgen bei den verschiedensten
Kategorien vor Augen hielt, und da er dem Personal gegenüber nicht
1) Scholz, Anomale Kinder. Berlin 1912. S. 379.
Mönkemöller: Die Strafe in der Fürsorgeerziehung. 153
den Glauben an die Unverantwortlichkeit der Schutzbefohlenen nehmen
könne, so habe er bei seiner Überzeugung von dem ganzen Werte
der Körperstrafe sich nicht veranlaßt gesehen, das Prinzip der prügel-
losen Behandlung aufzugeben.
Inwieweit soll man nun diesen Gesichtspunkten im Reiche der
Fürsorgeerziehung selbst Rechnung tragen”?
Zunächst mag noch kurz ausgeführt werden, wie die anderen
schweren Disziplinarmittel, die den Anstalten zur Verfügung stehen,
auf unsere Psychopathen einwirken.
Dabei soll ganz von den eigenartigen und seltsamen Strafmethoden
abgesehen werden, wie sie manchmal in den Monstreprozessen als ab-
schreckende Verirrungen einer verständnislosen Prügelpädagogik an
das Tageslicht kommen. Es ist hierin unvergleichlich besser ge-
worden, wenn man auch immer wieder gelegentlich erfahren muß,
daß sich manche Erzieher, die ganz von dem Gedanken des Ver-
geltungsprinzips erfüllt sind, absonderliche Strafmethoden ausgedacht
haben, die dann natürlich an der Psyche der in geistiger Beziehung
nicht einwandsfreien Individuen am ersten erprobt werden.
Wenn überhaupt gestraft werden soll, dann ist es vom psych-
iatrischen Standpunkte aus unter allen Umständen erforderlich, daß
genau bestimmt wird, wer hier eine Strafgewalt hat und wie sie aus-
geübt werden soll. Die Strafe muß ruhig, leidenschaftslos und unter
entsprechendem Appell an die Psyche vollzogen werden.
Im Interesse des Zöglings sowohl wie des Erziehers muß daran
festgehalten werden, daß dabei stets ein Augenzeuge vorhanden ist.
Denn gerade in diesem Milieu drängen sich die Naturen zusammen,
bei denen Auffassung und Wiedergabe durch die geistige Minder-
wertigkeit unbewußt beeinflußt werden und ein Hang zur Lüge und
Verleumdung sich beinahe als Symptom in das Krankheitsbild einfügt.
Die Psychologie der Zeugenaussage bei Jugendlichen und Kindern
schreibt eben ihre düstersten Kapitel in den Aussagen von derartigen
Psychopathen gegen ihre Lehrer vor Gericht. Es ist daher auch
weiterhin durchaus geboten, daß ein Strafbuch geführt wird, das
neben dem Grunde und der Art der Bestrafung auch die
eventuelle Würdigung der pathologischen Eigenschaften des Gezüch-
tigten enthält.
Bei der Kostbeschränkung und -entziehung ist zu bedenken,
daß vor allem im Beginne der Fürsorgeerziehung eine große Zahl der
Zöglinge sich in einem nicht besonders guten Ernährungszustande
befindet, so daß noch aus der Zeit der häuslichen Misere her mit
einer gewissen Unterernährung gerechnet werden muß. Zudem
154 A. Abhandlungen.
stehen sie in diesem Alter im Zeichen des körperlichen Wachstums.
Es liegt daher gar nicht der Gedanke so ferne, daß hierdurch eine
Schädigung gesetzt werden könnte, und eine Reihe von Autoren
sprechen sich direkt gegen eine solche Kostschmälerung aus. Aller-
dings wird hier wohl höchstens eine kurz dauernde Entziehung ver-
hängt, so daß ein schneller Ausgleich möglich ist, und so bleiben
die Bedenken, die hiergegen sprechen, doch im wesentlichen theo-
retischer Art.
Bedeutend bedenklicher ist es dagegen schon mit den Isolie-
rungen. Die Nachteile, die der Isolierhaft in den Gefängnissen an-
haften, fallen hier ja wohl schon deshalb nicht in die Wagschale,
weil es sich meist nur um ganz kurze Fristen handelt. Ist man mit
der Eigenart des zu Isolierenden vertraut, beobachtet man ihn ordent-
lich und hebt den Abschluß von der Außenwelt rechtzeitig auf, dann
wird man dauernde Schädigungen sicher aus dem Wege gehen.
Gleichgültig bleiben solche Absperrungen psychisch verdächtiger
Individuen aber doch nicht. Sie verfallen ja der aufgezwungenen
Einsamkeit meist dann, wenn sie gerade noch im Banne des Affektes
stehen, wenn der Gedanke, daß sie ungerecht behandelt werden, ihre
Seele erfüllt. Dazu wird ihnen ja in der Regel jede geistige Be-
schäftigung entzogen, sie sollen nicht lesen, nicht arbeiten. Es ist
daher kein Wunder, wenn ihnen gelegentlich die Affekte über dem
Kopfe zusammenschlagen. Dann stellen sich die sinnlosen Erregungs-
zustände ein, bei denen die pathologische Natur in ihrer Reinkultur
zu Worte kommt. Wir erleben die wüsten Auftritte, die den Ge-
fängnisbeamten als Zuchthausknall bekannt sind und auch für den
Erzieher eine Erscheinung darstellen, der er ziemlich ratlos gegen-
übersteht. Meist versucht er sich nur damit zu helfen, daß er diesen
Ausbrüchen eines kranken Geistes noch mit den Waffen der körper-
lichen Züchtigung zu Leibe geht.
Ich selbst entsinne mich aus meiner Tätigkeit an der Zwangs-
erziehungsanstalt noch eines enormen Erregungszustandes bei einem
Epileptiker, dem das Mobiliar der Zelle zum Opfer fiel und bei dem
es große Mühe kostete, den Erzieher davon zu überzeugen, daß hier
Krankheit und nicht Bösartigkeit ihr Spiel trieb.
Will man dieses Straf- und Erziehungsmittels nicht entraten, denn
gleichzeitig soll ja der Täter innere Einkehr halten und den Pfad
der Reue betreten, was bei den psychopathischen Naturen doch nur
zu oft ein eiteles Hoffen ist, — dann sollte man wenigstens die
Isolierräume nach psychiatrischen Grundsätzen einrichten,
-- soweit diese noch an der immer mehr aus der Anstaltspraxis
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 155
schwindenden Isolierung festhalten. Es muß alles beiseite gelassen
werden, an dem der Isolierte seine sinnlose Zerstörungswut auslassen
und mit dem er sich andrerseits selbst gefährlich werden kann.
Denn wie in Irrenanstalten nicht isoliert werden soll, wenn auch
nur im geringsten die Gefahr des Selbstmordes in Betracht kommt,
so sollte man die Isolierung auch in den Erziehungsanstalten unter allen
Umständen ausschließen, auch wenn man nur im entferntesten den Ver-
dacht auf Selbstmord hat. Das ist um so mehr geboten, als Suicidal-
neigungen in diesem Alter und dieser Umgebung erfahrungsgemäß
sehr leicht ansteckend wirken. Der Knabe, von dem ich vorher
berichtete, der wegen seiner hartnäckigen Selbstmordversuche in die
Irrenanstalt überführt werden mußte, sollte gerade isoliert werden
und dieser Selbstmordversuch hätte gerade so gut in der Zelle zum
Ausbruch kommen können.
Ebenso sah ich bei einem Epileptiker, der mehrere Tage isoliert
worden war, sich einen heftigen Angstzustand entwickeln, bei dem
nur durch eine schnelle Überführung in das Lazarett die Neigung
zur Selbstbeschädigung unterdrückt werden konnte.
Solange nicht von ärztlicher Seite eine sachgemäßere Unter-
bringung angeordnet ist, bleibt es die unabweisbare Pflicht der An-
stalt, dafür zu sorgen, daß solchen Kranken die Umsetzung ihres Zer-
störungs- und Selbstbeschädigungstriebes in die Tat nicht zu leicht
gemacht wird. (Forts. folgt.)
5. Die experimentelle Ermüdungsforschung.
Von
Marx Lobsien, Kiel.
(Fortsetzung. !)
Viertes Kapitel.
Kritik der Methoden zur Messung der geistigen Ermüdung.
1. Allgemeine Erörterungen.
Alles Experimentieren, sofern es ernsthaft den Namen eines
solchen verdient, ist nichts weiter als eine besondere Form der Be-
obachtung. Seine Absicht ist in erster Linie gerichtet auf das Sammeln
von einwandfreien Tatsachen, die insonderheit ganz unverfälscht sind
durch persönliche Meinungen, des Experimentierenden nicht minder
1) Vergl. Jg. XVIII, 3/4, S. 132—140; 5, S. 201—212; 6, S. 248—259; 7,
8. 305—312; 8/9, S. 395—405; 10, S. 449—455; 11/12, S. 530—543.
156 A. Abhandlungen.
wie von suggestiv beeinflußten Versuchspersonen. Darin liegen sehr
schwer erfüllbare Forderungen. Erste Voraussetzung für ihre Er-
füllung ist, daß der Beobachter die Phänomene der Erfahrung nicht
einfach hinnimmt, wie sie sich ihm naturwüchsig bieten, sondern,
daß er sie absichtlich zu beeinflussen sucht. Das darf selbstverständ-
lich nur nach einem festen Plane geschehen, keineswegs nach Willkür
und Laune. Seine Absicht geht dahin, gleich dem Naturforscher die
Bedingungen der mehr oder minder komplexen psychophysischen Er-
scheinungen reinlich zu sondern und derart in die Gewalt zu be-
kommen, daß er sie nach seiner Absicht kombinieren kann. Durch Iso-
lierung und Wiedervereinigung der Komponenten wirkt er willkürlich
Resultanten, die er variabel gestalten kann, um sie den naturwüchsig
gebotenen ähnlich, wenn möglich kongruent zu gestalten. Nur die
Willkür, welche bei dem Experimente waltet, ‚unterscheidet es von der
vulgären Beobachtung.
Der Fall nun, daß die Konstruktion der Kongruenz vollkommen
gelingt, ist lediglich ein Idealfall; in Wahrheit ist das Experiment,
zumal dasjenige, das uns hier interessiert, nirgends imstande, die ver-
borgenen und zahlreichen Ursachkomponenten einer psychophysischen
Erscheinung so komplizierter Art, wie die, welche landläufig als Er-
müdung bezeichnet wird, auszulösen — und, wenn ihm das auch
jeweils gelingen sollte, ist es niemals imstande, die Einzelheiten zu
dem lebensvollen Erscheinungsganzen zu verwirklichen, denn, es fehlt
das geistige Band. Die wirkliche Erscheinung ist eben nicht lediglich
das Ergebnis einer Summierung oder einer anderen rechnerischen
Funktion. Dieses Mehrere erschließt sich nicht dem Experimente als
solchem, sondern dessen Deutung ist nur möglich durch die subjektive
Stellungnahme des Experimentators. Daraus ergibt sich notwendig
ein Doppeltes: 1. Das Experimentieren ist nicht jedermanns Sache.
Erdmann hebt mit vollem Rechte und aufs eindringlichste hervor, daß
nur derjenige mit Nutzen experimentelle Forschungen unternehmen
könne und dürfe, der auf dem gesicherten Boden einer allseitig be-
herrschten Psychologie steht, wenn anders man vor Dilettantismus
und wert- und würdelosen Sportexperimenten bewahrt bleiben will.
2. Das Experiment hat eine notwendige Grenze, über die hinaus es
sich nicht wagen darf: Es steht in erster Linie im Dienste der Tat-
bestandsdiagnose, der einwandfreien, deren Ergebnisse es der ge-
schulten psychologischen Erfahrung zu Dienste stellt; es dient in
erster Linie einer gewissenhaften Nachkonstruktion des erfahrungs-
gemäß Gegebenen — eben durch Herbeischaffung des Materials —,
und es ist keineswegs seine erste Aufgabe unter allen Umständen an
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 157
die Stelle des Alten das Neue zu setzen, wie vorschnelle Dränger
öfters haben glauben machen wollen.
Die erste Aufgabe, die eine kritische Methodenbearbeitung sich
setzen muß, besteht auch hier in der rücksichtslosen Ausscheidung
alles Dilettantischen, aller geschäftsmäßigen Ermüdunugsexperimente und
in der Beschränkung auf solche Forschungen, die auf wissenschaft-
lichen Ernst Anspruch erheben dürfen. Die zweite Aufgabe besteht
darin, zu untersuchen, ob die angewandten Methoden in den Deutungen
der Ergebnisse eine Grenzüberschreitung erfahren haben, bezw. zu er-
örtern, wo die natürlichen Grenzen ihrer Anwendungsmöglichkeit liegen.
Die Aufgabe ist keineswegs einfach zu lösen, denn es spielen in der
Methodenwertung vielfach metaphysische Anschauungen eine nicht un-
wesentliche Rolle, diese aber, als Einschlag persönlichen Glaubens,
haben eben letztenendes persönlichen Wahrheitswert und sind deshalb
streng genommen zwar diskutabel aber unwiderleglich. Ich erinnere
z. B. an die fundamentale Frage, ob geistige Phänomene körperlich
bedingt sein‘ können oder lediglich unter die psychische Kausalität
fallen, also ob leibliche Äußerungen als Kennzeichen geistiger Vor-
gänge angesprochen werden dürfen in dem Sinne, daß sie sich gegen-
seitig bedingen oder ob sie nur in einem Parallelitätsverhältnis zu-
einander stehen.
Solche metaphysische Erörterungen wollen wir vollkommen aus-
schalten und uns lediglich auf den Boden des Tatsächlichen stellen.
Wir gehen von der Voraussetzung aus, daß jede Methode ihr
festgewiesenes Geltungsgebiet hat, das unbedingt respektiert werden
muß — respektiert aber auch von der kritischen Beurteilung. Darf
der Methodiker nicht über den selbstverständlichen Rahmen hinaus
anwenden, so darf der Beurteiler von den Leistungen bestimmter
methodischer Maßnahmen nicht mehr erwarten und verlangen, als sie
ihrem Wesen und der hinter ihnen stehenden Absicht gemäß zu
bieten vermögen und bringen wollen.
2. Die natürlichen Grenzen der physischen Methoden.
Es gibt keine isolierte Ermüdung, wie man ehedem geneigt war
anzunehmen; alle Ermüdung ist physisch und psychisch zugleich.
Es ist unmöglich, daß sich eine Herabsetzung der Leistungsfähigkeit
— pathologische Umstände sind natürlich auszuschalten — allein auf
die leibliche oder ausschließlich auf die geistige Seite unseres Wesens
beschränken könnte. Es gibt aber ferner auch keine isolierte Er-
müdung in dem Sinne, als ob innerhalb des vorwiegend betonten Er-
scheinungsbereiches nur eine isolierte Provinz von der Ermüdung er-
158 A. Abhandlungen.
griffen werden könnte, als ob ihr gegenüber gewissermaßen eine
Grenzsperre möglich wäre. Es ist nicht möglich, etwa auf geistigem
Gebiete nur eine Seite des Gedächtnisses, oder eine Richtung der
Assoziationen, auf sich beschränkt, durch Ermüdung wesentlich herab-
zusetzen oder zeitweilig ganz auszuschalten. Es ist ebenfalls aus-
geschlossen, daß man auf physischem Gebiete unter natürlichen, nicht
gestörten Bedingungen etwa einen Muskel oder eine bestimmte Nerven-
region ermüden könnte: — das widerspricht der Wahrheit von der
durchgehenden Einheitlichkeit unseres Organismus, der gegenseitigen
Bedingtheit seiner Funktionen. Man kann, ohne mißverstanden zu
werden, geradezu von einer gleichschwebenden Temperatur dieser
Funktionen reden. Diese durchgehende Einheitlichkeit ist eine äußerst
segensreiche und weise Einrichtung; sie ist die Grundlage der Tat-
sache, die man als Vikarierung bezeichnet hat und ohne deren Vor-
handensein Verfall und frühzeitige Vernichtung notwendig, und ein
Aufbau unseres psychophysischen Wesens unmöglich wäre. Jede
stärkere Inanspruchnahme einer besonderen Funktionsseite, die eine
Ermüdung im Gefolge hat, greift auf den Gesamtorganismus über,
wenn auch in immer schwächer werdenden Wellen von dem Aktions-
zentrum aus; sie zieht in gewissem Sinne den ganzen Menschen in
Mitleidenschaft, sie bewirkt eine Allgemeinermüdung, eine all-
gemeine Herabsetzung der Leistungsfähigkeit.
Ist so zwar unmöglich und zugleich unsinnig, von einer isolierten
Ermüdung zu reden, so muß doch die durch die Erfahrung unbedingt
zuverlässig erwiesene Tatsache, daß je nach der Art und Form der
geleisteten Arbeit bestimmte Teile oder Gebiete unseres Gesamt-
organismus, nämlich alle diejenigen, die örtlich bedingt sind durch
die Lage des Aktionszentrums und dessen nächste Ausstrahlungen, eine
intensivere Ermüdung zeigen, als andere entferntere unzweifelhaft
und deutlich hervorgehoben werden. Es ist üblich, sie als partielle
Ermüdung zu charakterisieren und als solche der Allgemeinermüdung
gegenüberzustellen. Trotzdem die Bezeichnung keineswegs einwandfrei,
weil nicht unmißverständlich ist, möchte ich sie beibehalten. Sie ist be-
sonders deshalb nicht eindeutig, weil es bei der Wesensbezeichnung
dieser Erscheinung nicht zur Hauptsache darauf ankommt, ihre Lokali-
sierung für die naive Beobachtung zu betonen, die Lokalisierung ist
zunächst eine nebensächliche Erscheinung; es kommt vielmehr darauf
an, sie qualitativ als wesensverwandt der Allgemeinermüdung gegen-
über, quantitativ aber als intensiv gesteigerte Leistungshemmung zu
charakterisieren. Man kann den Ausdruck partielle Ermüdung aber
auch deshalb passieren lassen, weil er einer sehr wesentlichen Auf-
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 159
fassung über das Verhältnis zur allgemeinen Leistungsverminderung
nicht hindernd, entgegensteht, (die hauptsächlich den obigen Aus-
führungen entlehnt werden sollte), nämlich: Breitet sich die Ermüdung
von dem Zentrum aus wellenförmig mit fortschreitend abflauender
Energie über den psychophysischen Organismus aus, dann wird der
experimentellen Ermüdungsforschung möglich sein, um so genauere
und schärfere Maßstäbe zur Bestimmung der Ermüdungsintensität zu
gewinnen, je näher heran an das Aktionszentrum sie sich darum be-
müht, am genauesten innerhalb desselben; je näher dem Zentrum, je
kürzer der Radius, desto schärfer und unmißverständlicher prägt sich
die Ermüdung aus, je weiter von demselben entfernt, desto mehr
treten Gegenwirkungen hervor, desto leichter wird die Grundursache
überdeckt, desto verschwommener und vieldeutiger wird der Maßstab.
Das führt von einem andern Gesichtspunkte aus zurück auf einen
Gedanken, dem bereits vordem Ausdruck gegeben wurde: So lange
mittels des physischen Maßstabes eben nur diese physische Leistungs-
fähigkeit gemessen werden soll, darf man auf eindeutige und solche
Ergebnisse rechnen, die allgemeiner Anerkennung sicher sind; schon
bei der Übertragung auf ferner liegende physische, in erhöhtem Maße,
sofern man physische Indizes für geistige Leistungsenergie zu ge-
winnen hofft, wird die Aufgabe schwieriger und bedenklicher.
Im vorliegenden Zusammenhange interessiert uns die Messung
der geistigen Ermüdung mit Hilfe physischer Meßmethoden, wir
werden mithin von vornherein auf Schwierigkeiten gefaßt sein müssen.
Zwar steht uns theoretisch fest, daß geistige Ermüdung auch in einer
Herabminderung der physischen Leistungsfähigkeit zum Ausdruck
kommt, es fragt sich aber, ob die bisher angewandten Meßmethoden das
mit hinlänglicher Sicherheit nachweisen können. Zur Erörterung stehen
zunächst die physischen Methoden strenger Observanz: Die Dynamo-
meter-, Ergographen-, Fußhantel- und Schnellschreibmethode.
Diese Methoden lassen sich insofern zusammenordnen, als die einen
bemüht sind, nur einen Muskel oder doch eine sehr beschränkte An-
zahl koordinierter Muskeln in ihren Leistungen zu verfolgen, während die
andern absichtlich darauf verzichten, vielmehr eine möglichst große
Arbeitsbasis mit Bedacht auswählen. Zu der ersten Gruppe sind die
Ergographenmethode, dann auch die Dynamometermethode zu rechnen.
Ihre Vertreter gehen von der Erwägung aus, daß nur unter möglichst
strenger Isolierung einer beschränkten Muskelanzahl die Ermüdung
in deren Leistungen reinlich zur Ausprägung gelangen könne. Ge-
lingt die Isolierung nicht, dann treten andere Muskel- und Nerven-
partien assistierend und vikarierend ein. Die notwendige Folge davon
160 A. Abhandlungen.
ist, daß die Ermüdung nicht einwandfrei gemessen werden kann; sie
wird hintangehalten. So kommen erst intensivere Anstrengungen zur
Messung, und feinere Ermüdungsunterschiede gelangen nicht zum
Ausdruck. — Die Richtigkeit dieser Erwägungen muß man zwar zu-
geben, zugleich aber auch, daß das mehr oder minder bei allen Er-
müdungsmessungen in Kauf genommen werden muß. Die Forscher,
welche seit Masso den Ergographen zu ihren Messungen benutzten,
sind keineswegs gegen die Schwierigkeit solcher Isolierung blind ge-
wesen. Wir haben in Kap. I gesehen, daß ein gut Teil der Ver-
besserungen, die man an dem Apparate vorgenommen hat, ja die
eigentlich prinzipiellen, darauf gerichtet waren, eine solche Armlage-
rung und Anheftung der Zugschnur zu ermöglichen, daß eine Assistenz
ungewollter Muskelleistungen möglichst ausgeschaltet werde, aber eine
Isolierung in voller Strenge ist nicht gelungen, eben weil sie organisch
und physiologisch unmöglich ist.
Die anderen Methoden erstreben, um diesem Nachteil zu ent-
gehen, die Inanspruchnahme eines möglichst großen Arbeitsfeldes, wie be-
sonders die Weichardtsche Fußhantelmethode, und es muß mindestens
als in hohem Maße wahrscheinlich gelten, daß sie dadurch ein
schnelleres Reagieren, ein präziseres Antworten auf die geleistete
Arbeit nach Seite der Ermüdung erreichen. —
Die Kardinalfrage, die eine kritische Wertung der physiologischen
Methoden zu bearbeiten hat, ist die nach dem Einfluß des Willens
auf die Leistungsfähigkeit. Ein wichtiges Teilgebiet ist jenes, das
charakterisiert wird durch die Frage nach dem Verhältnis der nervösen
zu der muskulären Ermüdbarkeit. Lange Zeit hielt man die Er-
müdung der Nerven für unmöglich, auch heute ist sie nach den Aus-
führungen Weichardts nur auf künstlichem Wege gelungen, so daß
die Entscheidung darüber, ob sie unter natürlichen Bedingungen mög-
lich sei, noch aussteht. Auf jeden Fall steht fest, daß ihre Ermüdungs-
möglichkeit ganz ungemein geringer ist, als von der muskulären fest
steht. Von dieser Erfahrung aus bekommt die Ansicht, daß der Wille
außerstande sei, gegen die muskuläre Ermüdung überdeckend zu
wirken, eine besondere Beleuchtung. Ist eine nervöse Ermüdung
nicht, oder doch nur unter sehr erschwerenden Umständen, möglich,
dann folgert notwendig, daß die Ermüdung zunächst eine periphere,
nicht eine zentrale Erscheinung ist, dann ist ferner wahrscheinlich,
daß periphere, also physische Maßstäbe besonders große Zuverlässig-
keitskoeffizienten besitzen müssen, sofern sie lokalisiert werden können.
Die Ermüdung ist eine physiologische Erscheinung, die sich in zentri-
petaler Richtung ursächlich fortbewegt. Sie ist gegenüber den zentri-
Boodstein: Problematische Naturen usw. 161
fugalen Regungen, die wir allgemein als Willenserscheinungen fassen
wollen, Hemmung. Die Ermüdung stellt sich damit dar als ein
Kampf des Willens gegen die wachsende Unbotmäßigkeit des Leibes
bis zu dem letzten Unterliegen hin, ein Kampf, der sich von dem
Aktionszentrum aus immer weiter zentral fortpflanzt.
Es ist notwendig, einen Augenblick bei der Untersuchung Schulzes
mit der Methode schnellen Dauerschreibens zu verweilen. Zwar ist
der Versuch nur einmal und mit einer Versuchsperson angestellt
worden und hat meines Wissens noch keine Nachprüfung erfahren.
Es ist also nicht erlaubt, das Ergebnis zu verallgemeinern. Trotzdem
aber glaube ich, mich auf dasselbe zuverlässig stützen zu dürfen,
um so mehr als Beobachtungen vorliegen, die geeignet sind, das,
worauf es hier ankommt, durchaus zu beweisen: die Tatsache, daß der
Nerv ungleich schwerer ermüdet als die Ganglienzelle und
der Muskel. Die Nerven galten den wissenschaftlichen Forschern
lange für ganz unermüdbar, weil keine wissenschaftlichen Erfah-
rungen vorlagen, die zu einer solchen Annahme berechtigten, vielmehr ~
nur solche, die die Überzeugung von der Unermüdbarkeit begründeten.
Während man auf experimentellem Wege schon längst die Ermüdung
der Muskeln (Ludwig, Ranke, Kranecker, Mosso u. a.) und die der
Ganglienzellen (Verworn) genauer erkundet hatte, gelang erst in
jüngster Zeit einigen Autoren Nervenermüdung in sauerstofffreier
Atmosphäre herbeizuführen. (Forts. folgt.)
6. Problematische Naturen überhaupt und im weiteren
solche schon in jugendlichem Alter.
Eine psychologische Studie über Erfahrungs- und Erziehungsprobleme.
Von
Dr. Boodstein - Elberfeld.
Vorbemerkung.
Als im November 1910 auch Wilhelm Raabe der Sterblichkeit seinen
Zoll entrichtete, da griff, wie wohl auch mancher andere seiner Verehrer,
der Verfasser der nachstehenden Studie zu der einen oder anderen der
eigenartigen Gaben, mit denen Raabe seine Landsleute beschenkt hatte,
um in aller Stille dem Heimberufenen ein Totenopfer dankbarer Erinnerung
darzubringen. Nach Psychologen- und Philologenart fing er mit den
älteren Sachen an und kam so sehr bald zu der kleinen Sammlung von
Novellen und Skizzen, die 1862 unter dem Titel »Verworrenes Leben«
bei Carl Flemming erschienen, aber inhaltlich, weil auch kritisch wenig
besprochen, in seinem Gedächtnis fast völlig verblaßt waren. Denn der
Sammelname sowohl wie auch ziemlich alle Sonderbezeichnungen der
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 11
162 A. Abhandlungen.
Stücke boten der Einzelerinnerung hierfür wenig Handhaben, mußten
also erst ganz neu sich rechtfertigen. Das letztere ergab sich dann un-
schwer; und enttäuscht wurde höchstens derjenige, der wegen des viel-
deutigen Gesamtnamens etwa Spiele regster Phantasie, die das Ungleich-
artigste zusammengewürfelt und so merkwürdigste Überraschungen und
unvereinbare Widersprüche in den Verhältnissen der Helden vermutet
hatte, vielleicht gar Flunkereien, die aber wirkliche Kenner der Raaben-
Weisheit bei ihm kaum je annahmen, da sie seinem Wahrheits- und Wirk-
lichkeitssinne durchaus widerstrebten. Was bezweckte er dann aber mit
dem Sammelnamen? Der ersten seiner Skizzen schickt er den Spruch
voraus: »Der Wechsel herrscht auf Erden: die Formen läßt er werden
und schwinden wie ein Traum; das Gute nur und Wahre — was ihm
auch widerfahre — hoch steht es über Zeit und Raum!« Andererseits
aber findet sich (z. B. auf S. 237) über diesen auf Erden einmal herrschen-
den Wechsel wieder die Betrachtung ausgesprochen: »Ei, wie wunderlich
spinnt sich ein Menschenleben ab: Wir armen blinden Leutlein auf diesem
Erdenballe wandeln in einem dichten Nebel, der sich nur zeitweilig hier
und da ein wenig lüftet, um sich im nächsten Augenblicke wieder desto
dichter zusammenzuziehen!«< Und an dritter Stelle wieder rät er den
durch ihre Schicksale in Verwirrung gebrachten und ratlos dem Wechsel
gegenüberstehenden Spielbällen göttlicher Bestimmung und menschlicher
Unduldsamkeit: »Gut Gewissen, böse Stunden werden wechselweis er-
funden, weil’s stets gehet, wie Gott will! Halte still!« Scheint nun nach
diesen Raabeschen Stichworten »verworrenes Leben« weder die all-
gemeine Regel, noch eine Krankheit ohne Heilmittel sein zu
müssen, so dürfte doch für selbständig denkende und sich selbst regu-
lierende Menschen ein Leben ganz ohne Wechselfälle, also ein Leben ganz
nach der Uhr, nur ganz selten vorkommen; denn auch die ganz still sich
haltenden, die Stillen im Lande, haben ihre Kämpfe, Versuchungen, ver-
fehlte Hoffnungen und Wünsche zu bestehen und zu überstehen — und
auch für sie hat jeder Tag seine eigenen Sorgen und keiner von ihnen
weiß, was das Morgen ihm bringen werde. —
Aber freilich das Stillehalten ist nicht jedermanns Sache und be-
sonders nicht Sache derer, die die Kraft in sich spüren, sich gegen
Vorgänge zu wehren, die den Schein erwecken, als vermöchten sie die
Daseinsbedingungen des Einzelnen nicht nur mehr oder weniger erheblich
zu verändern, sondern sie geradezu zu verneinen und ins Gegenteil zu
verkehren. Hier tritt bei vielen unwillkürlich ein Kampf ums Dasein ein,
nicht bloß ein solcher gegen menschliche Konkurrenten, denen man doch
noch hofft, gewachsen zu sein; sondern oft auch gegen die Schicksals-
mächte, die den Einzelnen schuldig werden und ihn nun gewärtig sein
lassen, daß alle Schuld sich auch an ihm auf Erden rächen werde. Denn
solches kann der Fall werden, ohne daß sich der Einzelne seiner
Schuld wirklich bewußt wird, weil das Ausbleiben gewünschter Erfolge und
Ergebnisse scheinbar dartut, daß im Kostenanschlag usw. in der Berechnung
Fehler gemacht sein müssen. Ob solche in falscher Wertung gewisser
Umstände persönlicher oder sachlicher Art, in der Verwendung un-
Boodstein: Problematische Naturen usw. 163
geeigneter Mittel, im Einschlagen von unrichtigen Wegen oder im
Unterlassen wesentlicher Maßnahmen gelegen haben, bleibt ihm selbst un-
aufgeklärt.
Wer aber solche Kraft des Sichwehrens und Sichbehauptens in sich
verspürt, der gehört selbstredend nicht in die Mittelschieht der allgmeinen
Begabung seiner Lebensklasse. Denn wenn auch wohl keinem Irdischen
das Kämpfen gelegentlich überhaupt ganz erspart bleiben wird, und jeder
von Selbstgefühl Getragene sich seiner Glieder und Sinne wird be-
dienen müssen, um doch wenigstens ab und zu ein Plätzchen an der
Sonnenseite sich zu erobern; so werden der Verworrenheit des Lebens
im strengeren Sinne des Worts sich nur diejenigen bewußt werden, die
neben dem, was sie persönlich angeht und ihre allernächste Umwelt, auch
noch dem anderweitigen Weltgetriebe selbständige Auffassung, Würdigung,
Teilnahme entgegenbringen. Daß sie hierbei eigene Wege gehen und
nicht sklavisch den von anderen gebahnten Straßen folgen, hängt mit
ihrer ganzen Geistesrichtung zusammen. Daß dergleichen nicht immer
sofort gelingen kann, bedarf angesichts der uns Menschen einmal versagten
Unfehlbarkeit einer Erklärung nicht, selbst wenn der neue von ihnen
gewonnene Gesichtspunkt gute Berechtigung gehabt und vielleicht wirklich
Aussicht auf bessere Erfolge als bisher eröffnet hätte. Aber Rom ist
nicht an einem Tage erbaut worden; und selbst dem »In der Luft-
liegen« einer neuen Idee ersteht nicht sofort ein Kolumbus, der das
Ei auf die Spitze zu stellen versteht. So wird denn hin und her probiert,
und dem Mittelschlag der Geister, der sich nicht gern des Benutzens
gebahnter Wege entschlägt, wird leicht solches Probieren unnütz und ver-
kehrt erscheinen, da es ja gepflasterte Straßen schon gebe. Fällt aber so
ein Urteil nicht gleich so hart aus und so abweichend, so erscheint doch
das Verfahren an sich ihm unverständlich und rätselhaft — und der mit
so unlöslichem Problem sich Abquälende erscheint ihm persönlich als
problematisch. —
Wer wagt sich denn aber an derlei scheinbar unfruchtbare Auf-
gaben? Nicht der erste beste Alcibiades, dem es darauf ankäme, von
sich reden zu machen — und der deshalb sich auch zu Torheiten ver-
leiten läßt. Oft gerade sind es die Bestbegabten, denen es widerstrebt,
neben anderen in Reihe und Glied ihre Arbeit zu verrichten, weil sie
doch erkannt haben, daß man die Arbeit besser anders anfaßte und die
deshalb zu anderen Lösungen ihre Zuflucht nehmen. Um ihres Ruhmes
willen, oft genug auch um mit Fertigem und Vollkommenem vor die
Welt zu treten, umgeben sie ihre Werkstatt mit tunlichst undurchdring-
licher Hülle, überschätzen vielleicht die eigene Kraft und unterschätzen
vielleicht die Schwierigkeit ihrer Aufgabe — und wenn dann der Erfolg
nicht den eigenen und auch fremden Erwartungen entspricht, dann
werfen sie vielleicht die Büchse ins Korn, sind selbst unbefriedigt und
müssen auch von anderen hören, daß sie ihrer Lage nicht gewachsen
gewesen seien.
Goethe kennzeichnet in einem seiner Prosasprüche kurz Leute dieser
Art als »problematische Naturen«, eine Bezeichnung, die Spielhagen in
11*
164 A. Abhandlungen.
seinem berühmtesten Romane zum Titel gewählt und damit zur Ein-
bürgerung als jetzt oft gebrauchten Gattungsbegriff gebracht hat. Da
Goethe aber in seiner Definition dieser Gattung nur negative Merkmale
angegeben hat: »sie seien keiner Lage, in die sie gestellt sind, ge-
wachsen« und dennoch »genüge ihnen keine«, weshalb ihnen »aller
Lebensgenuß entgehe oder verzehrt werde«, so erscheint es für den
Menschenfreund nicht nur, sondern für jeden, der selbst nur zeitweilig
ähnlicher Empfindung unterliegt oder unterlegen ist, eine selbstverständ-
liche Pflicht zu versuchen, über die Umstände klar zu werden, durch
welche ihm selbst oder auch anderen das Leben seiner erwünschten
Früchte entkleidet und dadurch vielleicht ganz verleidet werden kann.
Lehrt nun die Erfahrung, daß manche lebenslang dem Banne solcher
Empfindung ausgesetzt sind, während andere nur in Perioden unter ge-
waltigem Drucke verwandter Art stehen; ferner, daß oft genug gerade in
jugendlichem Alter eine geradezu verzweifelte Gemütsstimmung überhand
nimmt, die schließlich alle Brücken, die zum Lebensgenuß oder zum Er-
tragen der Verhältnisse führen könnten, gewaltsam abbricht; — so erscheint es
nicht nur als allgemeine, sondern geradezu als Selbsterhaltungspflicht,
solchen bedrohlichen Wirkungen bestmöglich entgegenzutreten, damit nicht
ein unnütz Leben, welches das Sprichwort als »frühen Tod« bezeichnet,
Platz greife und damit nicht nur den Einzelnen, sondern die Gesamtheit
der Menschen aufs schwerste schädige. Denn das sich hieraus ergebende
»verworrene Leben«, d. i. ein Leben voller Irrwege und trostlosen
Wechsels, bringt mit sich meist viel Leid und gelegentlich gar ein tragisches
Ende, weil auf die — auch von Raabe in einer der Erzählungen gestellte
— Frage: »wer kann es wenden?« eine befriedigende Antwort nicht ge-
geben werden kann. Hier liegen also oft Probleme vor, deren völlige
Lösung versagt erscheint.
Angesichts dieses Mangels an wirklich positiven Merkmalen der
Problematiker war die Verwendung einer größeren Anzahl persönlich- oder
literargeschichtlicher Beispiele geboten, und zwar im wesentlichen solcher,
die nicht etwa durch bloß gänzlich unbegründete Abenteuerlust sich zu
Ansichten oder Taten hatten verleiten lassen, die ihren schließlichen Schiff-
bruch als unabweisbar und erklärlich erscheinen ließen, ohne sich selbst
oder der Umwelt bezw. der Gesamtheit irgendwie nennenswert zu nützen.
Denn selbst wenn auch durchaus nicht ausgeschlossen zu sein braucht,
daß auch ihnen gelegentlich einmal der Keim eines späteren nutzbaren
Gedankens entsprossen ist, so haben sie doch zu der Entwicklung dieses
Keims nicht mehr beigetragen als etwa einem Vogel als Verdienst anzu-
rechnen wäre, dem beim Plündern eines Obstbaumes oder eines Kornfeldes
Kerne oder Samenkörner entfallen waren, aus denen füglich etwa neue
Bäume oder Ahren erwuchsen. — Anders freilich liegt die Sache, wenn mit
bewußter Absicht Wege und Mittel versucht werden, neuen Gedanken
zur zweckentsprechenden Gestaltung zu verhelfen, ob die gemachten
Versuche auch nicht gleich zum bestmöglichen Ziele führten; denn auch
das Suchen an sich ist schon verdienstlich, selbst wenn es nicht zum
wirklichen Finden ausgereicht hätte. Strebende Naturen dieser Art
Boodstein: Problematische Naturen usw. 165
können, wenn ihnen Ausdauer und Mangel an Selbstbeschränkung zur Last
gelegt werden müßte, zu problematischen Musterbeispielen nach Goethes
Ausspruch werden. —
Zur Etymologie des Wortes »Problematisch«.
Wer über die ursprüngliche Bedeutung eines Begriffswortes klar
werden will, kommt nur daun wirklich zum Ziel, wenn er versucht, die
Entstehung desselben bis dahin zu verfolgen, wo es zum erstenmal zur
Kennzeichnung eines Sinneseindrucks hatte dienen müssen. Daß das
nicht immer leicht ist, lehrt schon die Erwägung, daß das Sprechen
des Menschen das Ergebnis ist eines sicher viele tausend Jahre zurück-
liegenden Vorganges und eines unendlich lange geübten Gebrauches ohne
erkennbaren Anfang. Alexander von Humboldt nennt das Sprechen in
seinem Kosmos eine geistige Schöpfung des Menschen, die weder
anerschaffen noch geoffenbart sein kann. Es ist demnach ein Können,
dessen die Menschen sich nach und nach bewußt geworden sind, nach-
dem sie es vorher als Erbschaft überkommen hatten. Dieses Können wurde
dann angewandt, geübt und in voller Freiheit weiter entwickelt, sobald
sich durch irgendwelche Umstände eine Veränderung als Bedürfnis er-
wies. Ausgestaltet hat sich solches dann in unendlicher Mannigfaltigkeit
und ruht auch jetzt noch durchaus nicht. Bleibt so der Ursprung der
Sprache oder des Sprechens überhaupt tatsächlich ein unlösbares
Rätsel, welches zu klären selbst den scharfsinnigsten Forschern trotz aller
Versuche — ich nenne hier nur Herder und Jacob Grimm — versagt blieb,
so reizt es doch immer wieder zu neuen Anstrengungen, von denen freilich
immer wieder die alte Erfahrung gelten dürfte, daß für unsere volle
Erkenntnis immer dasjenige das letzte sein wird, was seinem Ursprunge
und Wesen nach das erste gewesen war.
Anders wiederum liegt die Sache bei solchen Wörtern, die nicht
als Namen für Urdinge, allererste Tätigkeiten, Eigenschaften, Um-
stände, kurz und gut als Urbegriffe, als unteilbare Elemente zu bezeichnen
sind, sondern als Teilbegriffe, Einzelmerkmale, abgeleitete Tätig-
keiten oder Umstände erst sehr viel später in Erscheinung traten und
sich so auf einer — schon mehr oder weniger bekannten oder erkannten
— Unterlage aufbauten, die also nicht in ihrem Ursprunge so unendlich
weit zurückreichen, daß ihre erste und ursprüngliche Bedeutung nur ver-
mutet werden kann.
Ein abgeleitetes Wort dieser Art ist das Wort »Problem:, aus welchem
das Eigenschaftswort gebildet ist, welches das Thema dieses Aufsatzes
bilden soll. Als bekannt darf vorausgesetzt werden, daß »Problema« ein
griechisches Wort ist und da sein Simplex das Geworfene, also auch
Geschoß, bedeutet, durch seine Vorsilbe etwas nach vorn geworfenes be-
zeichnet. Da dergleichen nun nicht gerade oft geschieht, also nur selten
wörtlich aufzufassen wäre, fand es nach und nach, zumal in wissen-
schaftlicher Hinsicht, Anwendung im übertragenen Sinne, und jedes
größere griechische Wörterbuch weist eine ziemliche Anzahl mehr und mehr
166 A. Abhandlungen.
bildlich zu nehmender Deutungen auf, bis es bei Platon, Aristoteles
und anderen gebraucht wird für »Auftrag, Aufgabe, Streitfrage,
etwa im Gegensatze zu Lehrsatz (Theorema)« im mathematischen oder
rhetorischen Sinne, und in solcher Auffassung im wissenschaftlichen
Fremdwörterschatze ein angesehenes Heimatsrecht fand. Der eben erwähnte
Gegensatz zu dem allgemein anerkannten Lehrsatz kennzeichnete
das Wort also als eine mehrfach widersprochene, sehwererfüll-
bare und sehwerbeweisbare Aufgabe, Behauptung oder Frage —
kurz und gut als einen Gegenstand, hinsichtlich dessen Behandlung, Ver-
wertung, Lösung Versuche mannigfacher Art noch nicht zu einem Er-
folge hatten führen können, und selbst in der Zukunft kaum einen irgend-
wie sicheren Erfolg versprechen. Das nun von diesem vielumstrittenen
Hauptwort »Problem« gebildete und abgeleitete Eigenschaftswort ist, zu-
mal wenn es nicht bloß zur Bezeichnung von Unpersönlichem, also von Zu-
mutungen, Aufgaben. Forderungen, sondern zur Kennzeichnung von
Persönlichkeiten, also von deren geistigen Eigenschaften, ihrem
Charakter, ihrer Lebensauffassung dienen soll, auch in dem letzt-
angeführten Sinne gang und gäbe geworden, also im Sinne von schwer
verständlich, schwer zugängig und zu behandeln, schwer zu beeinflussen;
im weiteren Sinne dann auch von unzuverlässig oder unverläßlich, un-
berechenbar, zweifelhaft, nicht folgerichtig denkend und handelnd usw.
Es fehlt also bei der Begriffsbestimmung streng genommen alles Positive,
und es sieht fast so aus, als fehle bei Problematischem immer das Positive,
was dem sogenannten normalen Menschen in der Regel zu eigen ist.
Daß dem aber tatsächlich nicht so sei, dürften die weiteren Ausführungen
ausgiebig dartun. Sie dürften auch erkennen lassen, daß gewisse Lebens-
lagen und Perioden auch bei sonst durchaus Normalgearteten sogenannte
problematische Zustände erzeugen, in denen sie nicht nur sich selbst
untreu werden, sich selbst vergessen — und deshalb den beobachtenden
Nächsten zu Rätseln werden, für welche der Schlüssel fehlt. Denn
wie es nach einem Ausspruch von W. Riehl »Naturen gibt, die zu-
grunde gehen, wenn sie den geweihten Pfad der Zunft und
Schule verlassen, so gibt es auch andere, die verderben, wenn
sie ihn nicht verlassen.«
Mit Persönlichkeiten also dieser zweiten Art dürften wir es be-
sonders zu tun haben; nicht aber mit solchen, deren Tun und Treiben
vielleicht auf den ersten Blick verwunderlich oder gar verblüffend er-
scheint, weil der gesunde Verstand sie nicht zu begreifen vermag. In
Betracht kommen also nicht ausgeprägte Dummköpfe, d.h. solche, die
wegen der geringen Gesichts- und Tragweite ihres Handelns, wegen der
Unbrauchbarkeit der von ihnen gebrauchten Mittel im besten Falle Staunen,
wenn nicht geradezu Mitleid erregen; ebenso aber auch nicht die so-
genannten Schlauköpfe, die darauf rechnen, daß alle anderen dümmer sind
als sie, — und nun versuchen, andere mit allerlei Mätzchen zu über-
tölpeln oder mit wertlosen Ködern einzufangen. Denn diese beiden Kate-
gorien mögen ja gelegentlich auch zu raten aufgeben, aber freilich solches
mit Kopfschütteln verbunden; denn bei ihnen handelt es sich nicht um
Boodstein: Problematische Naturen usw. 167
Probleme gewichtigerer Art; nicht um Vertretung bedeutsamerer Aufgaben,
die zu erfüllen besondere Treue und Begabung erfordert; auch nicht um
Erreichung höherer Ziele, für welche die gemeine Kraft nicht ausreicht.
Beide Kategorien laufen eben mit und müssen ertragen werden, zumal
man sie rasch erkennt. Problematische Naturen sind sie also nicht;
denn wenn sie auch gelegentlich durch Dummdreistigkeit oder durch Ver-
steckspielen, Aufsetzen einer täuschenden Maske überraschen — lange
hält die Überraschung nicht vor und macht bald einem Bedauern oder
der Mißachtung Platz.
Ganz anders wieder liegt die Sache bei denen, die innerlich getrieben
werden, die gebahnten Pfade zu verlassen und neue zu suchen, weil
die vorhandenen ihnen nicht ausreichend gangbar, einfach oder gerade er-
scheinen, oder weil sie sich durchaus auf eigene Füße stellen, neue,
weitere oder höhere Ziele erreichen, sich und anderen neue Gebiete
erschließen wollen. Kommt hierbei lediglich in Betracht etwa ihre Sucht
nach Neuerungen — sind sie also bloß rerum novarum cupidi — nun,
dann werden sie sich auch vielleicht Spott gefallen lassen müssen, wie
oft genug solche, die bloß jeder Modetorheit folgen. Ist ihnen aber wirk-
lich tiefer dringende Einsicht, vorurteilsfreier Blick, geschärftes Urteil
— also wirklicher Trieb nach Wahrheit, Güte und Schönheit eigen,
und trotzdem vielleicht doch dieser oder jener Fehlgriff und Irrtum be-
gegnet — nun dann wird auch ihnen gelegentlich Hohn und Achselzucken
begegnen und ihnen vielleicht Überschätzung ihrer Kraft nachgesagt
werden. Mißachtung und Bedauern verdienen sie jedenfalls nicht, selbst
wenn ihr Streben von ihren Nächsten nicht sollte begriffen oder gewürdigt
werden. Denn der Trieb nach Selbständigkeit, der aufs Ideale gerichtete
Sinn, nimmer rastendes Nachdenken, Freudigkeit am Graben, Schöpfen und
Schaffen sind immer achtungswert, selbst wenn ihnen voller und dauern-
der Erfolg versagt sein sollte; unter allen Umständen haben auch sie ihr
Scherflein dazu beigetragen, daß der Stillstand der menschlichen Arbeits-
gemeinschaft nicht zum Rückgange wird.
Daß die beiden von Riehl bezeichneten Richtungen für die Betätigung
des Selbsterhaltungstriebes recht weit auseinander führen können, ja
auseinander führen müssen, obwohl sie in gewissem Sinne einander er-
gänzen sollten, bedarf keines Nachweises; auch daß beide berechtigt sind,
um den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht festgehalten zu sehen,
dürfte unwiderleglich feststehen. — Erklärlich ist weiter, daß diese beiden
Antipodenarten oft nur Wirkungen sind ihrer verschieden gestellten Be-
gabung und Ausstattung fürs Leben. Spielt bei der einen Richtung Ge-
wohnheit, Selbstgenügsamkeit, Pflichtgefühl, Erkenntnis einer gewissen Be-
schränktheit des Könnens und Verstehens oder noch dieser oder jener
andere Grund die maßgebende Rolle, so ist für sie jedenfalls die Be-
obachtung der gebotenen Wege und Formen die Bedingung für ein er-
sprießliches Streben und Handeln; gewissenhaft nützen sie Zeit und
Kraft aus, lassen aber ihre Hand geflissentlich von einer Überschreitung
ihrer Zuständigkeit und von Neuerungen, die in ihrem Kodex noch nicht
vorgesehen sind. Sie sind so die Normalbeamten, die Musterverwalter,
168 A. Abhandlungen.
die getreuen Hüter des ihnen Anvertrauten. — Ganz anders geartet und
geraten sind ihre Gegenfüßler, die an allem Hergebrachten Kritik üben
müssen, und glauben würden, sich etwas zu vergeben, wenn sie es nicht
anders machten, als andere Leute. Dergleichen denkendes Handeln
kann ja zum Vorteil ausschlagen, es kann aber auch zu Mißgriffen führen,
die sich an ihren Urhebern rächen. —
Hier wird also der Erfolg das Urteil sprechen; und es ist klar, daß
die Anhänger des gewohnten oder gesetzmäßigen Verlaufes den Umwertern
und Kritikern an den von ihnen geschätzten Werten keine günstigen
Richter sein, ihren Änderungen nicht das Prädikat des Bessermachens
ohne weiteres zugestehen werden, zumal wenn das Endergebnis etwa
noch zweifelhaft erschiene. Daß in solchen Urteilen das ungelöste Pro-
blem der Quadratur des Zirkels nicht selten als passendes Bild eine
Rolle spielen dürfte, ist ganz sicher, und daß alsdann der Übergang zur
Bezeichnung des Verfahrens als eines problematischen und für den
Versuchenden die Kennzeichnung als »problematische Natur« nicht fern
läge, durchaus wahrscheinlich.
In solchem Sinne dürfte auch der bekannte Satz Goethes von dem
Vorkommen problematischer Naturen und seine für ihre Charakteri-
sierung gebrauchten beiden negativen Merkmale: daß »sie keiner
Lage gewachsen seien« und daß »doch keine Lage ihnen genüge
sich erklären. Denn Goethe, dem genialen Verwerter fast unbegrenzter
Gaben, dem sicheren Erfasser der gangbarsten Wege und brauchbarsten
Mittel kamen wer weiß wie viele fördernde Umstände zugute, standen
auch Hemmnisse besonderer Art nur äußerst selten im Wege — und so
vermochte er den mannigfaltigsten Lagen gewachsen zu sein und so
seinen, oft die besten Bahnen findenden Ideen zur angemessenen Er-
scheinung zu verhelfen. Wie unendlich vielen ist aber dergleichen von
Anfang an versagt! Für wie viele ist das Leben nur ein endloser Kampf,
zuerst schon um das bloße Dasein und dann erst recht um die Verwirk-
lichung gewisser neuer Ideen, die sie bewegen, um vielleicht nach Jahr-
zehnten unsäglichen Mühens auch ein ganzes Zeitalter zu erregen und
endlich verdienten Eingang zu finden!
Leute dieser Art mögen — um ihrer Ideen willen — der nüchternen
Alltagsgeschäfte sich nicht mit voller Hingabe annehmen, ja ihnen nicht
recht gewachsen erscheinen; sie mögen durch deren Last sich gedrückt
fühlen und an ihnen kein Genüge finden. Das mag ja den anderen,
die nur die gewiesenen, gang und gäbe gewordenen Pfade gehen, fehler-
haft und tadelnswert erscheinen. Ob Goethe es auch so angesehen wissen
wollte, erscheint mir jedenfalls nieht sicher; ich sehe in seiner Kenn-
zeichnung weniger Prädikate in tadelndem Sinne als Feststellungen
auf Grund unliebsamer Erfahrungen an solchen, die sich höhere
Ziele stecken wollen, gebahnte Wege verlassen und so vielleicht Märtyrer
ihres überschätzten eigenen Vermögens und ihrer unterschätzten Pflichten
werden. Was eben vielen unter diesen letzteren abgeht oder wenigstens
abgehen mag, das ist: die genaue Erkenntnis ihrer selbst, ihrer Kraft,
ferner auch der Zeit- und Lebensumstände, und endlich der traurigen
1. Zur Psychologie des Lesens. 169
Folgen solches inneren Widerstreits gegenüber den ihnen als Gliedern
einer großen Gemeinschaft obliegenden Aufgaben und Pflichten. Für
viele unter ihnen gilt der Spruch: »wer mit dem Leben spielt, kommt
nie zurecht; wer sich nicht selbst befiehlt, bleibt stets ein Knecht«. Dies
Stehen aber unter der Knechtschaft unlösbarer — oder wenigstens für sie
unlösbarer Probleme — ist ein Kennzeichen problematischer Naturen oder
richtiger: stempelt sie dazu.
Schließlich dürfte aber jeder Aufrichtige, selbst wenn er für sich das
Prädikat nicht dauernd in Anspruch nähme, doch gestehen müssen, daß
problematische Anfälle auch ihm — wenigstens periodisch — nicht er-
spart geblieben seien, bis er sich ernstlich genötigt sah, sich auf sich selbst
zu besinnen, um diese Perioden abzuschließen. Daß es gleichwohl nicht
wenige gibt und zwar selbst hervorragend Begabte und Ausgestattete, die
diese ihre Natur nicht zu ändern vermögen, werde ich im folgenden durch
Beispiele verschiedenster Art festzustellen suchen: große Talente, ja wirk-
liche Genies gehören dazu; daß die verkannten Genies die betreffen-
den Merkmale besonders unverfälscht an sich tragen, versteht sich von
selbst, das bezeugt schon das »verkannt« vor ihrem Begabungstitel,
der das zweite Goethesche Merkmal eo ipso in sich schließt. (Forts. folgt.)
B. Mitteilungen.
1. Zur Psychologie des Lesens.
Von Kurt Tucholsky, Berlin.
Im vergangenen Jahre (1912) wurde mir ein Schüler, namens K.,
zugeführt, dem das Lesen solche Schwierigkeiten bereitete, daß er wegen
dieses Mangels die Schule verlassen mußte. Der 12 jährige Schüler war
bereits durch die Hände sowohl der Lehrer in der Schule als auch durch
den Unterricht von Privatpädagogen gegangen, ohne daß es bisher gelungen
war, ihm fließendes Lesen beizubringen. Eine genauere Prüfung ergab
folgendes: K., ein sehr geweckter Knabe, las überhaupt nicht die Buch-
staben der Reihe nach, sondern faßte ganze Wortbilder, ja mitunter das
Bild eines vollständigen Satzes auf seine Weise in einen Begriff zusammen,
ohne sich Rechenschaft darüber abzulegen, wie er zu seinem Resultate
gekommen war. Er hatte sich durch größere Übung eine verblüffende
Kenntnis der gewöhnlichen Inhalte der landläufigen Sätze seines Schul-
lesebuches angeeignet, — und so gelang es ihm, den Inhalt der zu lesenden
Sätze einfach zu erraten. Speziell zeigte sich diese Fähigkeit bei Sätzen,
die dem Stoffgebiet der Zoologie entnommen waren, für die er ein großes
Interesse zeigte: hier erriet er alles, und die Worte »Fuchsschwanz«
»buschig« »rot« genügten, um bei ihm einen vollständigen Satzinhalt, bez.
dessen Vorstellung zu erwecken, der weit vom korrekten Lesen entfernt
war. Wie ich später feststellen konnte, hatte man die verschiedensten
Versuche gemacht, um ihn zum systematischen Lesen zu veranlassen; die
170 B. Mitteilungen.
Eltern hatten ihm zu Weihnachten zoologische Bücher geschenkt, — aber
er ließ sie sich von seinem Fräulein vorlesen, und so verfehlte auch dieses
Mittel seinen Zweck.
Wir haben es hier mit einer leicht neurasthenischen Veranlagung zu
tun, die dem Knaben nicht gestattete, systematisch und korrekt zu lesen.
Infolge dieser nervösen Veranlagung ließ er sich nicht Zeit, die einzelnen
Buchstaben zu Silben und die Silben zu Worte zusammenzusetzen. Viel-
mehr eilte sein nervöses Auge flüchtig über die ihn nicht interessierenden
. Satzbestandteile wie die Wörter »und« »hatte« »unser« und dergleichen
hinweg, um gierig den Inhalt des Satzes an seinen Hauptschlagwörtern
festzustellen. Ebenso verfuhr er wiederum in den Wörtern: stand dort
»Rosenblatt«, so las er oder vielmehr erfaßte er nur »Rosen...« und
erfand dann frei: »Rosenstocke. Hatte er ein Wort oder einen Wortteil
gelesen, so verknüpfte er die dadurch gewonnene Vorstellung mit einer
frei geschaffenen; in diesen Ideenassoziationen zeigte er einen große Ge-
wandtheit, die dem korrekten Lesen hinderlich im Wege stand. Immer
wieder durchkreuzte seine lebhafte und unruhige Phantasie alle Bemühungen,
erst die einzelnen Buchstaben und Silben und Wörter zu erfassen. Hier
setzte ich ein.
Ich mußte zunächst versuchen, diese Ideenverbindungen völlig zu
unterbinden. Zu diesem Zweck wurde der ganze Satz verdeckt, der ihn
nun nicht weiter hindern, seine Phantasie also nicht anregen konnte. Jetzt
wurde auf das erste Wort des Satzes eine Pappschablone gelegt, die durch
eine kleine Öffnung nur den ersten Buchstaben sehen ließ. Diese Öffnung
wurde mit einem Schieber in der Weise vergrößert, daß allmählich ein
Buchstabe nach dem andern in Erscheinung trat. Durch lange Gewöhnung
und andauernde Übung habe ich es erreicht, daß ich den Verlauf der
störenden Vorstellungen zum Teil ausschaltete und auch hemmte. So war
in das überhastete Tempo des unruhigen Lesens und der übereilten Ideen-
verknüpfungen das retardierende Moment gekommen, das bewirkte, daß der
Schüler die so gewonnenen Silben eines Wortes einzeln in sich aufnahm
und diese zusammensetzen lernte. So wurde für ihn allmählich das ganze
Satzbild frei, indem der Schieber von mir nach und nach zurückgeschoben
wurde. Dies mußte ich allerdings bis zum endgültigen Erfolg wochen- und
monatelang täglich fortsetzen.
Eine von mir angestellte Nachforschung über diesen interessanten
Fall ergab, daß schon in frühster Kindheit des K. sich die ersten Anzeichen
der Nervosität bemerkbar machten, wobei eine leicht reizbare und überreife
Phantasie in seinen Vorstellungen zutage trat. Die ersten Leseversuche
wurden bedeutend später gemacht, und da eilte bereits die leichtbeschwingte
Phantasie der Kleinarbeit des Lesens voran.
Man sieht hieraus, daß das Lesenlernen mit der Entwicklung des
Geistes gleichen Schritt halten muß.
2. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen. 171
2. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen.
Von Ernst Willich.
Einer der wichtigsten Grundsätze der Schwachbegabtenbildung lautet
bekanntlich: Schließe alle unterrichtlichen und erziehlichen Beeinflussungen
möglichst ungezwungen an die im Zögling vorhandenen natürlichen Triebe
und lustbetonten Vorstellungen an! Die schwachen Kinder durch eine
liebevolle freundliche Behandlung zu unbefangenen Äußerungen ihres
Denkens, Fühlens und Wollens zu locken, und diese spontanen Äußerungen
zum Ausgangspunkt aller Bildungsarbeit zu machen, darin besteht im
letzten Grunde das ganze Geheimnis des heilpädagogischen Unterrichtes.
Diese Maxime entspricht nicht nur den Anschauungen und Forderungen
der Psychologie, sondern ihre Richtigkeit wird auch tagtäglich durch die -
praktische Erfahrung bestätigt. Trotzdem läßt sich die Frage aufwerfen:
Ist die Durchführung dieses Grundsatzes tatsächlich immer und in allen
Fällen von den erwarteten Erfolgen begleitet? Mit andern Worten: Gelingt
es auf diesem Wege in jedem Falle, im Schüler Lust und Interesse am
Unterricht, die Grundbedingungen aller erfolgreichen Bildungsarbeit, zu
wecken und zu erhalten? Jeder Pädagoge weiß, daß es in der Erziehung
keine Methode gibt, die mit der absoluten Unfehlbarkeit eines Natur-
gesetzes wirkt, und speziell der Heilpädagoge erlebt es hundertfach, daß
auch die erprobtesten Erziehungs- und Unterrichtsmaximen versagen können.
Daß davon auch der angeführte Grundsatz keine Ausnahme macht, soll
im folgenden an einem Beispiel eingehend gezeigt werden.
Der Junge O., um den es sich handelt, steht zurzeit im 19. Lebens-
jahr. Die geistige Schwäche, die schon im vorschulpflichtigen Alter deut-
lich zutage trat, ist angeboren. Der Junge wurde zunächst in die Volks-
schule geschickt, aber ohne Erfolg. Dann erhielt er eine Zeitlang von
einem Volksschullehrer Privatunterricht, wobei aber ebenfalls nennenswerte
Resultate ausblieben. Nicht viel besser ging es bei einem Versuch in
der Hilfsschule. Da die Angehörigen sich zur Unterbringung in einer
Anstalt nicht entschließen konnten, empfing O. etwa von seinem 11. Lebens-
jahr an eine ausschließlich häusliche Erziehung, zunächst von Kinder-
gärtnerinnen und Lehrerinnen und seit 5 Jahren vom Verfasser dieser
Zeilen.
Was damals, als ich die Erziehung des Jungen übernahm, an
dessen geistigem Habitus am schärfsten hervortrat, das war neben der
hochgradigen intellektuellen Schwäche und dem äußerst geringen und
praktisch ganz wertlosen Besitz an Schulkenntnissen und -fertigkeiten vor
allen Dingen eine im buchstäblichen Sinne des Wortes unüberwindliche
Abneigung gegen jede Lernarbeit. In der 12jährigen Idiotenanstaltspraxis,
auf die ich bei der Übernahme des Jungen zurückblicken konnte, war mir
nicht ein einziger Fall solch hochgradiger, hartnäckiger und unverhüllter
Lernscheu begegnet. Man brauchte nur das Wort »lernen« auszusprechen
oder Maßnahmen zur Einleitung einer Unterrichtsstunde zu treffen, und
sofort schlug das an sich freundliche, lebhafte und willfährige Wesen des
Jungen ins Gegenteil um: ein halb trauriges, halb ärgerliches Hängenlassen
172 B. Mitteilungen.
des Kopfes, ein scheues, ängstliches Insichselbstzurückziehen, keine oder
nur widerwillige Reaktionen auf äußere Reize. Selbst gelegentliche unter-
richtliche Beeinflussungsversuche, die unauffällig in laufende Unterhaltungen
eingeschmuggelt wurden, beantwortete er sofort mit entschiedenen Unlust-
und Abwehräußerungen. Es war für O. von jeher ein besonderes Ver-
gnügen, an geselligen Unterhaltungen im engeren Familienkreise (wenn
auch nur zuhörend) teilnehmen zu dürfen; hier fortgeschickt zu werden,
empfindet er als etwas recht Schmerzliches. Sobald aber eine Frage an
ihn gerichtet wurde, die auch nur entfernt an Unterricht oder Lernen
erinnerte, oder wenn er in belehrendem Ton über irgend etwas aufgeklärt
wurde, wandte er sich entweder ostentativ von der betreffenden Person
ab, oder er verließ ohne weiteres das Zimmer, und das alles auch dann,
wenn ihm der Inhalt der betreffenden Frage oder Belehrung durchaus
geläufig war. Genau ebenso verhielt er sich bei Unterhaltungen auf
Spaziergängen. Er sprach hier nicht ungern von dem, was ihn im
Augenblicke interessierte oder beschäftigte. Wurde aber irgend eine
Mahnung, etwa zum langsameren und deutlicheren Sprechen, oder eine
Frage im Sinne einer Belehrung eingeschaltet, die willkürliche Aufmerk-
samkeit von ihm erheischte, so suchte er sich auf alle mögliche Weise
der ihm unbequemen Situation zu entziehen. Im günstigsten Falle stellte
er sich, als hätte er die Einwendung nicht gehört (entweder fuhr er un-
bekümmert um die gemachte Zwischenbemerkung in seinem Texte fort,
oder er sprang plötzlich ohne jeden sachlichen Zusammenhang zu einem
völlig neuen Gedanken über); gewöhnlich aber stoppte er seinen Redefluß,
hörte auf zu sprechen oder lief ganz weg. Dieses Verhalten des Jungen
hat sich, es sei das gleich hier bemerkt, in den letzten 4 bis 5 Jahren
in der einen oder andern Richtung zwar etwas gebessert,. ist aber im
wesentlichen bis heute das gleiche geblieben.
Die Ursachen dieser auffallend starken Lernscheu lassen sich nur
vermutungsweise feststellen. Jn erster Linie kommt natürlich der starke
Intelligenzdefekt und die damit verbundene geringe Lernfähigkeit in Be-
tracht. Was dem Menschen schwer fällt, das tut er nicht gern. Aber
dies allein genügt nicht für eine kausale Erklärung. Es gibt Schwach-
sinnige mit noch größerer Intelligenzschwäche, die trotzdem voll Lust
und Willigkeit zum Lernen sind. Mit dem Intelligenzdefekt verbindet
sich bei O. noch eine hochgradige Willensschwäche und Energielosigkeit,
die namentlich da in die Erscheinung tritt, wo es sich darum handelt,
im Gegensatz zu den eigenen Neigungen fremde Hindernisse und
Schwierigkeiten zu überwinden. Diese Willensschwäche ist bei O. ohne
Zweifel angeboren, sie wurde aber wohl auch durch eine allzu nachsichtige
und verweichlichende erzieherische Behandlung in frühester Jugend ver-
stärkt. Möglich ist ferner, daß die Art und Weise, wie dem Jungen am
Anfang die elementaren Kenntnisse und Fertigkeiten beizubringen versucht
wurden. verfehlt war, d. h. daß ihm von vornherein das Lernen durch
nicht genügende Berücksichtigung seiner natürlichen und individuellen
Kräfte und Neigungen verbittert wurde. Aber nachprüfen läßt sich das
heute nicht mehr. Auf alle Fälle haben die vielen Unterrichtsversuche,
2. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen. 173
die mit O. angestellt wurden, und die immer und immer wieder vorn an-
fingen und ihm das, was ihm schon lange verekelt war, aufs neue vor-
setzten, sehr zur Steigerung seiner Lernunlust beigetragen.
Es ist klar, daß unter diesen Umständen bei dem erneuten Erziehungs-
versuche sämtliche Unterrichtsmaßnahmen vor allen Dingen auf eine Über-
windung oder wenigstens Verringerung der vorhandenen Lernunlust ge-
richtet sein mußten. Nicht nur weil ein Unterricht ohne freiwillige Be-
teiligung des Schülers sowohl für diesen wie für den Lehrer eine Qual
ist und in erziehlicher Hinsicht direkt negativ wirkt, sondern auch weil
bei einem solchen Unterricht quantitativ herzlich wenig herauszukommen
pflegt und auch dieses Wenige qualitativ in der Regel aus weiter nichts
besteht als aus ein paar dürftigen, äußerlich angeklebten Kenntnissen und
Fertigkeiten.
Als erstes und wichtigstes Mittel zur Überwindung der bestehenden
Lernunlust und zur Weckung positiver Teilnahme am Unterricht kam
natürlich der bereits angeführte Grundsatz in Betracht: Den gesamten
Unterricht möglichst zwanglos auf den gegebenen natürlichen Trieben,
Neigungen und Interesserichtungen des Jungen aufzubauen. Die An-
wendung dieses Grundsatzes setzt aber das Vorhandensein irgend welcher
Art von spontanem Interesse und geistiger Aktivität voraus. Denn wo
diese fehlen, da herrscht geistiger Tod und da vermag auch die beste
Kunst der Heilpädagogik nichts auszurichten. Wie sah oder sieht es nun
in dieser Beziehung bei O. aus? Diese Frage soll zunächst eingehend er-
örtert werden, nicht nur darum, weil der Erzieher, der seinen Unterricht
auf den lustbetonten Vorstellungen des Zöglings aufbauen will, diese genau
kennen muß, sondern auch deshalb, weil die eingehende Analyse der von
positiven Gefühlen getragenen Vorstellungskreise eines geistig Minder-
wertigen an sich für den Psychologen von Interesse ist.
Wer den Jungen zum erstenmal sieht, der glaubt einen in hohem
Maße stumpfsinnigen und apathischen Menschen vor sich zu haben.
Namentlich von Fremden wird O. hinsichtlich seiner geistigen Verfassung
regelmäßig unterschätzt. Daran ist zunächst sein scheues, zaghaftes Wesen
schuld, das immer zutage tritt, wenn er mit ihm unbekannten Personen
zusammentrifft. Sobald er sich beobachtet glaubt, ist es, als ob sein
psychischer Mechanismus hypnotisch gehemmt würde, und wenn er in
diesem Zustande zu einer Äußerung genötigt wird, dann kommt sicher
etwas recht Dummes oder Ungezogenes, ja mitunter direkt Flegelhaftes
zum Vorschein.!) Daneben besitzt O. die eigentümliche Eigenschaft, zu
beobachten und aufzuhorchen, ohne daß dies äußerlich in seinen Mienen
und in seiner Haltung deutlich erkennbar zum Ausdruck kommt. So
1) Diese Tatsache ist, beiläufig bemerkt, für das Verhalten eines Psychopathen
ganz charakteristisch. Sie zeigt anschaulich, daß ungezogenes Betragen auch aus
anderen Quellen fließen kann als aus einem sogenannten bösen und widerspenstigen
Willen. Bei O. hat man in solchen Fällen stets die Äußerungen einer rat- und
hilflosen Verlegenheit vor sich. Zum Teil mögen sich dahinter allerdings auch
Symptome der Flegeljahre verbergen.
174 B. Mitteilungen.
pflegt er z. B. bei Besuchen bei fremden Personen auf diese durchweg
den Eindruck eines total blöden und teilnahmlosen Jungen zu machen,
und dabei weiß er nachher hunderterlei Dinge über die Ausstattung der
betreffenden Wohnung, über die Toiletten der Anwesenden, über die ge-
pflogene Unterhaltung usw. zu erzählen.
Allein in demselben Maße, in dem O. von fremden Personen auf
Grund der ersten Beobachtung unterschätzt zu werden pflegt, pflegt sein
geistiger Zustand in der Regel überschätzt zu werden von denjenigen,
denen gegenüber er warm geworden ist, die sich aber nur oberflächlich
mit ihm unterhalten. Diese sind dann erstaunt über die Schärfe der Be-
obachtungsgabe und die Treue des Gedächtnisses, die er in manchen
Richtungen an den Tag legt, sie lassen sich von seiner Willigkeit und
Geschicklichkeit in bezug auf die Verrichtung kleiner Dienste düpieren
und trauen ihm infolgedessen eine viel höhere Bildungsfähigkeit zu, als
er in Wirklichkeit besitzt. Nur wer mit dem Jungen längere Zeit
und intensiver verkehrt, und namentlich wer nicht nur die Äußerungen
seines spontanen, unwillkürlichen Verhaltens, sondern auch die Art und
Weise seines Reagierens auf unterrichtliche und erziehliche Beeinflussungs-
versuche kennt, vermag sich ein ungefähres Bild von seinen tatsächlichen
körperlichen und geistigen Anlagen und Kräften zu machen.
Alles Interesse wurzelt im Gefühl und, wenn man noch tiefer gehen
will, im Erhaltungstrieb. Alle aus der Umwelt wie aus dem Körperinnern
stammenden Reize bezw. Empfindungen, die dem Individuam und seiner
Erhaltung förderlich sind, erzeugen Lustgefühle, während alle gegenteiligen
Eindrücke von negativen Gefühlstönen begleitet sind. Je stärker aber
die Gefühle sind, von denen die Empfindungen, Wahrnehmungen oder Vor-
stellungen getragen werden, einen um so höheren Deutlichkeitsgrad erlangen
diese im Bewußtsein und um so länger vermögen sie sich im Blickpunkt
der Aufmerksamkeit und des Interesses zu halten. Selbstverständlich ver-
feinern und veredeln sich mit der fortschreitenden Bildung des Individuums
die Gefühle oder vielmehr, sie haften jetzt an höheren, weniger sinnlichen
Vorstellungen, so daß ihr genetischer Zusammenhang mit dem Selbst-
erhaltungstrieb beinahe ganz verdeckt ist. Je weniger sich aber die
Bildung eines Individuums über die Stufe des rein animalischen Daseins
erhebt, um so deutlicher tritt die Abhängigkeit des Interesses von den
natürlichen Instinkten des Erhaltungstriebes zutage. Und das ist besonders
beim Seelenleben Geistesschwacher der Fall. (Forts. folgt.)
3. Sprachliche Eigenbildungen meines Sohnes.
Von Frau Hanna Neugebauer-Kostenblut.
Eigenbildungen nenne ich die in diesem Aufsatze besprochenen Aus-
drücke meines Sohnes zum Unterschiede von denjenigen Wörtern, die er
unverändert — von der mangelhaften Aussprache abgesehen — aus der
Sprache der Erwachsenen übernommen hat.
Ich rechne dazu die Schallnachahmungen, Onomatopoetica, sinnlose
3. Sprachliche Eigenbildungen meines Sohnes. 175
Silbenzusammenstellungen, die Namen für Phantasiegebilde, die Ableitungen,
Zusammensetzungen und Vergleiche.
Die ersten Schallnachahmungen fallen in den Beginn des
2. Lebensjahres.!) 1; !/, sagte er brumbrum für Kuh. Es war dies eine
selbständige Schallnachahmung, da er von seiner Umgebung immer die
Kühe mit Muh bezeichnen hörte. Brumbrum gebrauchte Rafael ständig
und täglich durch etwa 4 Wochen; es wurde dann erst zu mmm, noch
später zu mu. — Als er eine arbeitende Lokomobile sah, sagte er selb-
ständig schsch. Am nächsten Tage nannte er schsch das Feuer im Ofen.
Wahrscheinlich erinnerte er sich beim Ofenfeuer an das Feuerloch der
Lokomobile, das er schon oft und mit Wonne offen und glühend gesehn
hatte. Der Name sch war bis um 2; 5 vorherrschend für die Lokomobile
und Lokomotive, die, wie alle Maschinen, bis 2; 7 einen großen Raum in
Rafaels Interessen- und Spielsphäre einnahm, und wurde häufig von uns
Erwachsenen mitgebraucht. — Unerklärlich erschien mir lange Zeit die
von Rafael gebrauchte Bezeichnung /f für Schwein. Er hatte oft Gelegen-
heit, Schweine nah zu sehen ünd zu hören, und sagte eines Tages, als
er ein großes Schwein in geringer Entfernung sah, ein leicht geblasenes
ph. Am nächsten Tage nannte er so ein abgebildetes Schwein, und von
da an hießen ständig 31/, Monate lang alle wirklichen und abgebildeten
Schweine ph. Allmählich wurde ein scharfes ff daraus. Die Bezeichnung
wurde sehr oft gebraucht, da Rafael allen andern Tieren das Schwein
lange Zeit vorzog. Erst viel später habe ich mir die Entstehung des ff
erklären können: es war sicher eine Nachahmung des Schnaufens oder
Schniefens, das große Schweine oft ausstoßen. Er hatte von uns nur
»Nuschel« oder »Nuschnusch« gehört; ortsüblich ist nuik nuik oder neuk
neuk und Neukerle. Nusch wurde erst 1; 51/, nachgesprochen, bis es
das / allmählich verdrängte. — — 1; 3 ahmte Rafael öfters mit © © ©
das Hahnkrähen und mit ss ss ss das Durchreißen von Stoffen nach.
Das Schnäppern eines Gummischnürchens ahmte er 2; 3 mit blim, das
Schnäppern eines breiten Gummibandes 2; 7 mit latt nach. — Für nicht
nachgeahmt, sondern nachgesprochen halte ich bum, das für das Um- und
Herunterfallen von Gegenständen und für das Wegfliegen einer Fliege
gebraucht wurde, und aus dem später ein Verb für »sich stoßen« entstand:
bumßeln.
In der Zeit von 1; 9 bis 2: 3, in der das Interesse für Maschinen
auffallend stark war, entstanden und bestanden — zum Teil monatelang
— eine Anzahl von Ausdrücken, die Geräusche und auch Bewegungen
von Maschinen nachahmten, also schon zu den Onomatopoeticis zu
rechnen sind. Die Lokomobile wurde dauernd mit duffduff und tufftuff,
die Lokomotive mit sch sch sch ch ch ch, manchmal mit pü hä pü hä
vü hä nachgeahmt, die Nähmaschine beim Nähen mit tëětëtët, beim Spulen
mit frrrrr. Für die Bewegungen der Lokomotive entstanden Verben, die
monatelang gebraucht wurden: sie hockelt, hoffelt und doppelt (das Zahl-
wort >doppelt« kannte er nicht); der Dreschkasten teckelt an der Seite
1) Die Alte aben sind in der von Stern angegebenen Weise gemacht.
rsang;
176 B. Mitteilungen.
und möcket dort, wo das Stroh herausfällt. 7Teckeln bezeichnet ein Hin-
und Herschütteln eines gewissen hölzernen Kastens daran. Über die Ent-
stehung von möcket sagt mein Tagebuch: »Von der Straße aus hörte er
in einer Scheune eine Wurfmaschine gehn. Sie polterte und klapperte,
und Rafael sagte: Die Maschine is böse, die macht möcke möcke. Aus
dieser Nachahmung hat sich bald ein Verb gebildet: Die Maschine möcket;
es wurde monatelang gebraucht« und bezog sich namentlich auf das
Auf und Nieder von hölzernen Schaufeln, die Stroh herauswarfen. Die
Achse eines sich drehendes Rades moppeli. Daraus entstand auch ein
monatelang zur Bezeichnung kleiner Dinge gebrauchtes Substantiv: moppelein;
namentlich zum Vergleich: wie ein moppelein. Vorübergehend ahmte er
noch die Lokomobile mit rochroch nach. — Einmal hörte ich an der
Nähmaschine kidri; Rafael machte damit ein leise quietschendes Surren
beim Spulen nach. Ein andermal, als er das Rad der Maschine selbst
drehte, rief er: Die Maschine macht lockna lockna! locko locko locko!
stelpa stelpa! — Nur einmal angewendet wurden auch die folgenden Aus-
drücke: rocklrockl machen beim kräftigen Rühren in einer Teigschüssel,
das blebelt beim Aufziehn einer Taschenuhr und die Lampe schnörkt beim
Hinaufschrauben eines festsitzendes Dochtes. Zwei- oder dreimal hörte
ich mauwel mauwel für das Geräusch und die Bewegung eines großen
Wiegemessers mit zwei Klingen. (2; 31/,) ling lang ling hat se singt,
sagte er einmal von der Uhr, nachdem sie geschlagen hatte; (2; 3) das
nickselt von einem Zelluloidkästchen, das beim Drücken knisterte, und
mit zonge mal forderte er mich auf, die bewegliche Achse seines Musik-
kreisels hin- und herzuschieben. Er hatte es vorher schon getan, es klang
wirklich wie xong. — Dauernd dagegen wurden folgende Ausdrücke an-
gewendet. 1; 9 rabrab fürs Gurkenhobeln, trabtrab fürs Treppabgehn —
das hatte er aber wahrscheinlich vorher schon gehört — und nicknacknuck
für die Gartenschere; damit hatte er anfangs nur das Geräusch der
Gartenschere beim Schneiden bezeichnet und diese Nachahmung dann als
Namen für die Gartenschere benützt. Die Neigung, ein und dieselbe Silbe
spielend mit den Vokalen i a u wie in nöcknacknuck zu wiederholen,
hatte er lange Zeit, z. B. sagte er beim Drehen eines Fensterriegels:
lidl ladl ludl. Tink tink hieß lange Zeit die Briefwage, sicher wegen des
Geräusches, das er beim Spielen damit hervorbrachte. Tump tump! rief
er und stampfte mit dem Passierpilz in einer Büchse mit geriebener Semmel ;
der Passierpilz hieß noch 2; 8 das tumptump.
Dem Wortschatz einverleibt wurde auch es düttert (2; 51/,). Damit
bezeichnete er das Geräusch, das das ÖOlkännchen der Nähmaschine macht,
wenn man die flachen Seiten zusammendrückt: Ich will mal das Dingsel
haben, das so schön düttert.
Nach 2; 6 nahm die Neigung, Onomatopoetica zu bilden, ab. Ich
weiß nicht, ob das an der wachsenden Beherrschung der konventionellen
Sprache lag oder daran, daß in unsrer eintönigen, ländlichen Umgebung
meinem Sohn nicht viele neue Geräusche mehr ans Ohr schlugen. Das
erste ist mir wahrscheinlicher. Jedenfalls bleibt er auch jetzt noch stets
aufmerksam auf Geräusche. Verzeichnet sind außer gelegentlichem piep,
3. Sprachliche Eigenbildungen meines Sohnes.
177
quak, mä und ähnlichen Tierstimmennachahmungen nur schnettert, kneppert
oder knebbert und srrrr (2; 71/,); er schnettert gebrauchte er von einem
abgebildeten Vogel, der den Kopf hoch hebt und den Schnabel weit
öffnet, als sänge er aus voller Brust. Es ist allerdings möglich, daß Rafael
von einem Kanarienvogel hat sagen hören: Der schmettert! und daß dieses
Wort hier anklingt. Einige Tage darauf sagte er: Die Enle schnettert,
aber nicht etwa von ihrem Schnattern, sondern von dem sogenannten
»Gründeln« im schmutzigen Grabenwasser. — Ein unbekanntes Geräusch
erklärte er sich so: Die Maus kneppert oder knebbert, »knabbern« hatte
er wahrscheinlich gehört. Als ein Kanarienvogel sich aufplusterte und
schüttelte, machte Rafael das Federschwirren nach mit srrrr.
Eine besondere Stellung muß ich 2 Worten einräumen, deren Bil-
dung nicht von Geräuschen, sondern von Formen herrührt: Diiteln und
Black. Mit ditteln oder ditierlein bezeichnete Rafael durch 1—2 Monate
z. B. die Rillen am Rande der Stellschraube für das Lampendocht, die
Zähne an einem Zahnrad und ähnliche, kleine, gleichartige, nebeneinander-
liegende Dinge: Hier sind so welche Ditteln dran. — 2; 71/, sagte er
von den Reisern des Schornsteinfegerbesens: Die kleinen Ditterle kratzen
den Schmutz ab. — 2; 9 gebrauchte er ditterlen als Verb. Er wollte
mit dem Fingernagel an den Zähnen des Staubkammes entlangfahren und
sagte: Ich will mal so ditierlen mit den kleinen Dingerlen. Ebenso
2; 111/,; er stellte, wie schon öfter einige Glasteller mit gezähntem
Rand dicht aneinander, drehte ihre Ränder gegeneinander und sagte: das
soll mal wieder so ditterlen. Er meinte damit das Geräusch des fort-
währenden Aneinanderschlagens der Zähne. — Das zweite Wort, black
hätte mich fast dazu verleitet, an eine Worterfindung zu glauben. Ich merkte
jedoch dann, daß er damit nicht einen bestimmten Gegenstand, sondern
etwas Charakteristisches an verschiedenen Gegenständen bezeichnen wollte.
Das Tagebuch sagt: »Er sah mir (2; 3) beim Spekulazibacken zu und
sagte von dem dünn ausgerollten Teig jedesmal, wenn wieder ein Stück
ausgerollt war (4 mal): Das is ein black. Drei Tage darauf, als ich mir
den Kopf wusch, rannte er das glatt vor meinem Gesicht hängende,
nasse, zusammengeklatschte Haar black und einige Tage später beim
Kuchenbacken hieß wieder der ausgerollte Teig black. Ich weiß nicht,
welches andre Wort ihn wohl darauf gebracht haben könnte: das englische
black = schwarz hat er bestimmt noch nicht gehört, und es hätte auch
ganz und gar keinen Zusammenhang mit dem, was er als black be-
zeichnete. Ick kann mir aber ganz gut denken, daß er damit das Flache,
Platte, groß Hingeklatschte ausdrücken will. Ähnlich könnte wohl unser
Wort Fladen entstanden sein.«e Soweit das Tagebuch. Unterdessen habe
ich in Friedr. Kluges etymologischem Wörterbuch meine Vermutung
über »Fladen« bestätigt gefunden. — 2; 11!/, tauchte das Wort black
noch einmal auf, und zwar zum Adjektiv umgewandelt: blackig. Wieder
sagte er vom dünn ausgerollten Teig wie vor 8 Monaten: das is ganz
blackig. Das Wort war in der Zwischenzeit in seiner Gegenwart nicht
genannt worden. N
Von kurz vor 2 Jahren au reihte Rafael oft sinnlose Silben an-
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 12
178 B. Mitteilungen.
einander, denen er aber, wenn ein augenblickliches Bedürfnis nach einem
sinnvollen Wort vorlag, einen Sinn unterlegte 1; 113/, sagt das Tage-
buch: »Er befühlte meine Schulter: hier ein bucklbaukl. .... Heut
früh zeigte er auf die ganz weiße Schlafstubendecke: da oben viele Weich-
leiben. — Dickldapf, apflfuckl, dreianandanina sind ebensolche »Wörtere«.
Er bezeichnet damit ihm fremde Tiere, die er im Zoologie-Lehrbuch sieht,
oder Dinge, für die er die Namen nicht weiß, z. B. Briefumschläge. —
2; 43/, steht im Tagebuch: »Er war sehr lange und eifrig mit der
unteren Angel einer ausgehobenen Tür beschäftigt. Er behämmerte sie
und sagte: das heißt ambo. Ich antwortete: ‚Du meinst wohl Amboß!‘
Das Wort hatte er wohl gehört beim Schmied, aber noch nie gesagt. Er
kehrte sich nicht an mein ‚Amboß‘ und nannte das Ding beharrlich ambo,
auch noch im Laufe des Tages. Bei demselben Spiele sagte er von einem
Teile des Türrahmens: das heißt grizatta und behämmerte ihn ebenso.« —
Solche Bildungen mögen wohl dem Wunsche entsprungen sein, vollständig
sprechen zu können, alles benennen zu können. Ich kann mir ganz gut
denken, daß auf ähnliche Weise das Wort kjob entstanden sein könnte,
das Stumpfs Sohn Felix für »Schnee« gebrauchte (Doch habe ich
Stum pfs Arbeit nicht gelesen) Das Kind sah vielleicht Schnee zum
erstenmal, ohne daß ihm sofort der Name dafür genannt wurde. Das er-
staunliche, weiße, nie gesehene Etwas, das da vom Himmel fiel, war ein
so starkes Erlebnis für das Kind, daß es unbedingt nach einem Ausdruck
drängte, und die Lautverbindung kjob trat ihm auf die Lippen. Dieses
unter dem starken Eindruck des Erlebten selbstgebildete Wort hatte sich
— vielleicht darum — dem Kinde so tief eingeprägt, daß das nachträglich
gehörte »Schnee« garnicht dagegen aufkommen konnte. — Das Verlangen,
alles benennen zu können, scheint mir also der Ausgangspunkt von der-
artigen Bildungen zu sein. Nachdem aber Rafael uns darüber lachen ge-
hört hatte, mag er’s wohl auch bloß zum Spaß gesagt haben, denn er
schrie dann das Wortungetüm 15mal hintereinander mit großem Ge-
lächter und ruhte nicht, bis alle Anwesenden das Wort nachgesagt hatten.
— Auch in bloßen Spielereien und in der Freude am Nachahmen des
Lesens der Erwachsenen kann man wohl einen Grund für solche Bildungen
suchen. Hierher rechne ich spielerisches Sprechen und Lesen meines
Sohnes im selben Alter (1; 113/,), z. B. schiebt die alde, schiebt die ile
ale, schiebt die diele auf .... . itte apte itte dritte .... tampen timpen
tumpen .... tiefe tafe .... rixelraxel oppan bannan .... dassel
isda isda grunze, isda kunze .... inehm bach anananihm. — —
2; !/, habe ich einmal, so gut es ging, mitgeschrieben, was er »lase:
murutapleE — rutamella — tutameta — apparé — aüto — leppe —
ssapó — apü — apü — ssopm — eüpmabü — eüpmabute — rot
— röteröt — metna — brötnamötna — böp — msch — brr — betö
— aütomütio — ebé — repepöta. Er wünschte auch, daß ich statt
eines wirklichen Liedes ihm ähnliches Kauderwelsch vorsinge und sang
mir pummerlatzlix und aftaseialebrasibeia lebrasibeia als richtiges Lied
vor. Auch sollte der Vater aus der Zeitung jadisch vorlesen. Oft waren
unter seinem Kauderwelsch auch richtige Wörter wie Junge geht nach
3. Sprachliche Eigenbildungen meines Sohnes. 179
Hause — oder Maikäfer oder Garten gehn, oder auch Worte und Zeilen
aus Bilderbuch- und Kinderreimen. — 2; 61/, habe ich mitstenographiert:
Omt sink dawupp dawupp dawupp lunkma. Anstatt wie kommt
denn das. Kommt, Kinder, xu der Eisenbahn Zunk, xunge — sinkt
ins Grab (aus einem ihm bekannten Kreidolfvers). Zunde gribt ins
Grab. schut schuti (etwa 10mal). Fertig. sunk sinkt ins Grab.
Und Herr Schlüsselblum (aus demselben Vers) in simp. Da simpt er
gleich. Ding und Ding und Ding. Da is es gleich, da wer ich ein
andres suchen. (Er blättert im Buche) Noch nich gelesen. Da is
ein tockma. Da is ein tockma. Schornstein. Abrotabrot. Schorn-
stein. — 2; 9!/, stehen ein paar vereinzelte sinnlose Silben zwischen
Worten, die er zu lesen vorgab: Blumenkranz — Kügelchen — Blase
— Vase — weiße — weiße Heuschrecke, schwarze Heuschreeke und
blaue Heuschrecke und grüne Heuschrecke — (unterbricht sich:) sind
die Heuschrecken grün? (»liest«:) Weiß sind die Blätter, Rosenblätter
sind weiß (es standen weiße Rosen im Zimmer, er sah sie dabei an)
und — ich wer noch was: Rosenblätter, steht da. Klavierblume und
Klavier und Klavier und Blume steht in ein Blumentopf. Liebe
fahl begeht. Klavier. Licht. Körbel. Achte. Wiese. Wiese.
Wiese. Achtel. Wiese. bi. Dampfturbine. Die Wörter »fahl, begeht«
sind ihm unbekannt und daher sinnlos für ihn.
2; 3 »schrieb« Rafael und sagte dabei: geckse gackse übst äbst übst
übst als ob er die Worte schriebe. 2; 2 brachte er oft dem Vater
einzelne Bohnen und sagte dazu flüsternd irgend ein geheimnisvolles Wort,
häufig habdizel. Dann erzählte er mir: Raffel hat Vatel habdizel sagt! —
Oftmals legte Rafael, wie ich schon erwähnte, seinen sinnlosen » Wörtern «
einen Sinn unter, so, daß einige von ihnen zu Namen für Phantasie-
dinge und -personen wurden. Z. B. gab er uns 2; 2 sehr oft etwas
Fingiertes in die Hand, z.B. ein Schidlix. Besonders beliebt war das
Wort Schiedel. Bevor er in den Garten ging, nahm er vom Sofa fingierte
grüne, weiße und schwarze Schiedel mit, und als er aufgefordert wurde,
einer bekannten Dame etwas von seinem Spielzeug zu zeigen, rief er:
Ja, ein Schiedel! und lief zum Spielzeugtisch. — Eine noch größere Rolle
spielte aber zwischen 2; 23/, und 2; 5 das Wort hädschi. Anfangs er-
schien es wie habdixel als Mitteilung: Er kam aus der Küche zu mir
gelaufen. Auf der Schwelle hörte ich ihn in die Küche zurückrufen: Ich
komm gleich wieder, Emma! Ich sag bloß hadschi! Ich geh schnell!
Dann lef er zu mir und rief: hadschi, Muttel hadschi! und als ich
>hadschi!« bestätigt hatie, lief er eilig zurück und rief schon auf der
Schwelle dem Mädchen zu: Hab schon hadschi sagt! — Bald darauf ver-
dichtete sich das hadschi zu einer Phantasieperson, die täglich in allerlei
Gesprächen vorkam: wenn der hadschi kommt, schläft er. Wenn der
hadschi weg is, muß ich die Stube aufscheuern usw. usw. Er deckte
das Löschblatt auf etwas Geschriebenes: (2; 31/,) das audecken, da kommt
der hadschi nich drauf. Ich fragte: »Was ist das: der Hadschi?« Der
Mann. Doch träg »der Hadschi« nicht etwa den Charakter von etwas
Unheimlichem, zu Fürchtendem, wie etwa des kleinen Scupins »Bubue«.
12*
180 B. Mitteilungen.
Ich glaube, mir diesen »Mann« so erklären zu können: wenn Rafael
in einem Gespräch z. B. den Namen Goethe hört, so fragt er doch natür-
lich: was is das: Goethe? und bekommt die Antwort: ein Mann. Daher
mag er vielleicht auch uns seinen hadschi auf unsre Frage als einen
Mann bezeichnen. — 2; 41/, aber rief er mich: hadschi, komm! hier is
ein kleines keuchelein! keuchelein war während einiger Wochen sehr
beliebt als Name für Phantasiedinge, wie das frühere schiedel, oder auch
für kleine Sachen aus dem sehr geliebten Nagelkasten, deren Namen er
nicht kannte. Das in manchen Gegenden Schlesiens übliche Dialektwort
»Keuchel« für Küchlein hat er nicht gehört. Dieselbe Rolle spielte un-
gefähr gleichzeitig hotschilein, das stark an hadschi anklingt; z. B. war
ein Bettzipfel ein hotschilein, der freßt. — 2; 4 entspann sich folgendes
Gespräch: Der Mann (er selbst) muß was suchen .... Muttel, wie
heißt der Mann? Ich schlug vor: »Güttler?« (ein Mann, den er beim
Sägen beobachtet hat). Da Rafael nicht antwortete, fragte ich: »oder
lieber Funke?« (der Name des Lokomobilenführers). Nein, Güttler ....
was muß der Güttler suchen? »Vielleicht Schrauben ?« fragte ich, da
Schrauben bei ihm damals außerordentlich beliebt waren. — Nein, ein
— ein — Keunscheuder. Ich weiß das; ein Keunscheuder. Der is
nich aus Glas (ge)macht. »Woraus denn?« Aus Glaspapier. Auf
»Glaspapier« kam er wohl durch »Glas«.
Ein Bauwerk von sich bezeichnete er 2; 51/, unter großem Jubel
als drickdrackhei,; ähnliche Namen für Gebautes und Gezeichnetes waren
sehr häufig.
2; 71/, plauderte er: Schussomobor (etwa 6mal). Der Schussomobor
soll mal was machen. An mein Schuhdel. Da is ein Nagel raus,
den muß er wieder reinmachen. Es war aber an seinem Schuh nichts
zu machen. Die zufällige spielende Silbenzusammenstellung schussomobor
hat wohl erst die Phantasieperson und diese die erdichtete Beschäftigung
für sie geschaffen. — Um 2; 4 hatte er einmal von einem » Mann«
namens use gesprochen, der kommen würde.
2; 8 schuf seine Phantasie ein Gebuhne, das er in der leeren Hand
hielt, uns allen zeigte, mit geöffneter Hand an die Zimmerdecke steigen
ließ, wohin seine Augen ihm folgten, und das er dann mit dem Ruf
schnapp! wieder einfing und herunterzog.
2; 9 erzählte er von einer Phantasiedampfwalze: .... die Dampf-
walze, die kannste dir ansehn .... Ich wer mal erst nachsehn, wie
sie heißt: oder Lokomobile oder Dampfwalze oder Blattläuse oder
Fumule oder Knux und vielleicht Dumpsel und dann nischt mehr.
Mup und vielleicht Soße und Mutz.
2; 10 Beim Bilderansehn in Schmeils Zoologie erklärte er (zu
S. 360, 3a): .... Schmetterling will die Schlangenfreus auffressen.
Ich fragte: »Was ist das: Schlangenfreus%« Das is die Stube von der
Schlange. — Kurz darauf (S. 354, 5): Sieh doch, die grüne Raupe,
die geben wir den Hühnern, die grüne Raupe und Fallteulchen. Ich
fragte wieder, was das sei. Er war aber so im Eifer, daß er meine
Frage überhörte und gleich weiter erklärte,
4. Schutz der Familie gegen die trunksüchtigen Familienväter. 181
2; 10 bildete er sich das Wort Lint. Er schabte mit dem Fenster-
vorlegeklötzchen den Fensterschweiß von den Scheiben und sagte: Hier is
soviel Lint. Er gebrauchte dabei das Wort noch 2 mal: Das is der Lint!
Und: das Nasse is der Lint.
2; 10!/, gebrauchte er Sturm in einem rätselhaften Sinne. Er
spielte mit seinen kleinen Holzhühnchen und sagte von den gelben Küch-
lein: Das heißt Sturm. Das sind auch Tiere. Auch ein Sturm.
Ein großer Sturm. Die Sturm gehen zu essen. Das heißt eigent-
lich Sturmtier. »Warum?« fragte ich. Nu ja, weil’s immer so aus-
einandergeht, und immer in so ein Schächtele tun und dann an-
zünden. Da zerläuft’s ganz, und da is es dann so gelb, und da is
es dann Sturm. — Jetzt eben, ehe ich diese Zeilen über Sturm schrieb,
5 Wochen nach diesem Gespräch fragte ich Rafael: »Weißt du, was
Sturm ist?« Er sagte zuerst: nein, besann sich dann und meinte: ge-
storben. Als ich verneinte, suchte er weiter: das is, wenn man die
Leute stört. Er kannte also die Bedeutung des Wortes nicht und suchte
nur mit Hilfe einer Klangähnlichkeit nach einer Erklärung. (Forts. folgt.)
4. Schutz der Familie gegen die trunksüchtigen
Familienväter.
Auf der Ende September 1913 in Darmstadt stattgefundenen Tagung
der »Zentrale für Jugendfürsorge« kam neben verschiedenen anderen
Fragen auch das Thema zur Verhandlung: »Schutz der Familie gegen die
trunksüchtigen Familienväter.e Es referierte darüber Fräulein Dr. jur.
Frieda Duensing-Berlin. Anknüpfend an das furchtbare Familienereignis
zu Steglitz im Juni 1912 (eine Portiersfrau tötete ihre 5 Kinder und suchte
sich selbst das Leben zu nehmen wegen schwerer Mißhandlung durch
ihren trunksüchtigen und arbeitsscheuen Mann), schilderte sie aus einer
langjährigen, reichen Erfahrung heraus die furchtbaren Schädigungen des
Familienlebens durch trunksüchtige Väter und forderte, daß von seiten der
Gesetzgebung energische Maßnahmen dagegen getroffen würden. Ihre
Leitsätze waren: »Unaufhörlich kommen in großer Zahl Fälle vor, in
welchen an Leib und Leben durch den trunksüchtigen Mann schwer ge-
fährdete Ehefrauen Behörden oder Vereine um Schutz für sich und ihre
Kinder anrufen. Vergebens jedoch, weil es bis jetzt an den ausreichenden
gesetzlichen Mitteln dazu fehlt. Gewalttätige Trunksüchtige, die strafbare;
auf Trunksucht zurückzuführende Handlungen gegen die persönliche Sicher-
heit von Angehörigen begangen haben und das Wohl der Familie gefährden,
sind aus der Familie zu entfernen und bis zur Besserung in Gewahrsam
zu halten. Hierzu die erforderlichen, zuverlässig wirksamen Mittel zu
schaffen, ist eine dringende Aufgabe und Pflicht der Gesetzgebung.«
Korreferent war Direktor Schwandn er- Ludwigsburg. Seinen Aus-
führungen lagen folgende Leitsätze zugrunde: »I. Im Interesse eines
wirksameren Schutzes der Familie gegen trunksüchtige Familienväter sind
freudig zu begrüßen die von der Strafrechtskommission vorgeschlagenen
Bestimmungen des künftigen Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich be-
182 B. Mitteilungen.
züglich der Bestrafung und Behandlung von Trinkern und Trunksüchtigen,
namentlich die sichernden Maßnahmen der Unterbringung in einer Trinker-
heilanstalt und der Verwahrung der freigesprochenen gemeingefährlichen
Trinker in einer Heil- und Pflegeanstalt. II. Zur Erhöhung der Wirksam-
keit dieses Schutzes ist anzustreben: 1. Einführung des Pollardsystems
ins neue Strafgesetzbuch in Verbindung mit den Bestimmungen über die
bedingte Strafaussetzung. 2. Einheitliche Gestaltung der Schutzfürsorge
und Schutzaufsicht im Sinne einer Bevormundung und Ausdehnung der
Berufsvormundschaft auch auf die Schutzaufsicht. 3. Bewilligung hin-
länglicher öffentlicher Mittel für die Schutzaufsicht und Schutzfürsorge.
4. Das Antragsrecht der Staatsanwaltschaft im Entmündigungsverfahren
wegen Trunksucht. 5. Änderung der Strafprozeßordnung in Absicht auf
die Verhängung von Untersuchungshaft: a) Durch Einführung des Haft-
grunds der Prävention. b) Durch Ausdehnung der Vermutung der Flucht-
gefahr auch auf solche Vergehen, bei denen die sichernden Maßnahmen
der Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt oder der Verwahrung in
einer Heil- und Pflegeanstalt zulässig sind.«e Eine zweistündige Aussprache
schloß sich an, hinweisend auf die herrschenden Trinkunsitten, auf die
vielfach zu milde Behandlung der Trunksüchtigen im Vergleich zu anderen
Straffälligen, auf die segensreiche Wirksamkeit der Vereine der Alkohol-
gegner u. a. mehr. Unter anderen sprachen Geh. Regierungsrat Pütter-
Berlin, Geh. Regierungsrat Dr. Dietz-Darmstadt, Prof. Dr. Aschaffenburg-
Köln, Bürgermeister Dr. Luppo-Frankfurt a. Main, Frau Bensheimer-
Mannheim. Das Endergebnis war schließlich: Die große Mehrheit ent-
schied sich dafür, daß eine Gesetzesänderung notwendig sei, um die
Familien gegen die Gewalttätigkeiten trunksüchtiger Väter zu
schützen.
Worms. Georg Büttner.
5. Neueinführnng der Hilfsschullehrerprüfung
in Preußen.
Schon jahrelang gehen in Hilfsschullehrerkreisen Bestrebungen dahin,
welche eine besondere Fachausbildung fordern, abschließend mit einer
speziellen Prüfung, die zur endgültigen Anstellung als Hilfsschullehrer
berechtigt. Wiederholt wiesen Fachleute in Wort und Schrift auf die Be-
deutung und Wichtigkeit dieser Frage hin. Als Ergebnis dieser Forderungen
darf man sicherlich die Unterstützung von Hilfsschullehrerkursen, die Ein-
richtung des heilpädagogischen Seminars in Essen und die Prüfungsordnung
für Hilfsschullehrer betrachten, welche das preußische Kultusministerium
am 1. Oktober 1913 erlassen hat.
Das Ganze umfaßt 14 Paragraphen, von denen sich die fünf ersten
befassen mit der Zulässigkeit der Bewerber, mit der Prüfungskommission
und Prüfungszeit, mit den notwendigen Prüfungsnachweisen. Zugelassen
können darnach werden, wie es im $ 2 heißt: »Geistliche, anstellungsfähige
Kandidaten der Theologie und der Philologie, Volksschullehrer, welche
die Prüfung für die endgültige Anstellung bestanden haben, und Lehrerinnen,
5. Neueinführung der Hilfsschullehrerprüfung in Preußen. 183
die mindestens 3 Jahre in wirklichem Klassenunterrichte vollbeschäftigt
gewesen sind und sich in der Praxis bewährt haben.«e Außerpreußische
Bewerber müssen ihre Meldung durch ihre Behörde an den preußischen
Unterrichtsminister gelangen lassen.
Was die Prüfungskommission anbelangt, so setzt sie sich zusammen:
1. aus einem Provinzialschulrate oder aus einem Regierungs- und Schul-
rate als Vorsitzenden,
aus einem Kreisschulinspektor,
aus einem Hilfsschulleiter.
aus einem Hilfsschullehrer (Hilfsschullehrerin),
aus einem Psychiater.
Je nach Bedarf sollen diese Kommissionen in den einzelnen Provinzen
gebildet werden. Sie setzen auch alljährlich die Prüfungszeiten fest,
welche in dem Zentralblatte der Unterrichtsverwaltung zur Veröffentlichung
gelangen.
Bei den Meldungen, 3 Monate vor dem Prüfungstermin einreichbar,
sind außer dem Lebenslauf, dem Gesundheitszeugnis und den Zeugnissen
über bereits bestandene Prüfungen noch beizuschließen Nachweise über
Besuche von Hilfsschullehrerkursen, oder über Teilnahme am heilpäda-
gogischen Seminar, oder über 1 jährige Tätigkeit an einer Schule für schwach-
sinnige Kinder. Nicht zu vergessen ist auch die Bescheinigung ȟber Aus-
bildung in mindestens einem der an Hilfsschulen zur Verwendung kommenden
Zweige der Handfertigkeit oder in der Gartenarbeit.«
Die Prüfung selbst, worüber $ 6—10 sprechen, zerfällt in schriftliche,
mündliche und praktische. Was die schriftliche Prüfung betrifft, so
stellt der Vorsitzende »zwei Aufgaben aus dem Gebiete des Hilfsschulwesens,
wovon eine der Methodik der einzelnen Unterrichtsfächer der Hilfsschule
zu entnehmen iste. Hierfür sind je 4 Stunden an zwei Vormittagen vor-
gesehen. Hält die Kommission diese Arbeiten für ungenügend, so ist der
Bewerber von der mündlichen Prüfung auszuschließen, und diese ist für
nicht bestanden zu betrachten. Bei der mündlichen Prüfung ist nachzu-
weisen die Bekanntschaft:
1. mit der Psychologie und ihren Zweigwissenschaften, der Psycho-
pathologie, der Kinderpsychologie, mit dem Wesentlichen über den
Bau und die Funktionen der Sinnesorgane, des gesunden und kranken
Gehirns und Nervensystems, mit der Psycho-Physiologie der Sprach-
funktionen, den wichtigsten Sprachstörungen und den Methoden ihrer
Behandlung und Heilung;
2. mit der Methodik aller Unterrichtsgegenstände, der Einrichtung und
den Lehr- und Lernmitteln;
3. mit der Geschichte und der Literatur der Hilfsschule, soweit sie für
ihre Entwicklung von Bedeutung ist;
4. mit den Fragen der Fürsorge für Schwachsinnige. Die praktische
Prüfung erstreckt sich auf 2 Lehrproben, von denen die eine auf
der Unterstufe einer Hilfsschule liegen muß. Bei nicht genügenden
Leistungen in diesen Lehrproben oder in der Methodik des Hilfs-
schulunterrichtes ist die Befähigung zu versagen.
Sum win
184 B. Mitteilungen.
Die Leistungen werden einzeln beurteilt, aber schließlich zu einem
Gesamturteil zusammengefaßt, mündlich mitgeteilt und schriftlich in folgendem
Zeugnis ($ 11) zum Ausdruck gebracht: ...... ‚geboren den... zu....
.... Rel., hat sich in der Zeit vom ... bis... der Prüfung für Lehrer
(Lehrerinnen) an Hilfsschulen mit ..... Erfolg unterzogen und wird
hierdurch auf Grund dieser Prüfung für befähigt erklärt, als Lehrer (Lehrerin)
an Hilfsschulen angestellt zu werden.
(Ort)... den......
Die Königl. Prüfungskommission.
(Siegel und Unterschriften.)
Eine Wiederholung der Prüfung kann gewöhnlich nur eiumal, und
zwar frühestens nach 1 Jahre, geschehen, ausnahmsweise mit besonderer
Genehmigung des Ministers auch zum zweiten Mal (dritte Prüfung).
An Stempel werden 3 M und an Prüfungsgebühren 20 M er-
hoben. In Kraft tritt diese Prüfungsordnung mit dem 1. Oktober 1914.
Als Übergangsbestimmung wurde angeordnet, »daß solche Lehrer und
Lehrerinnen, die vor dem 1. April 1913 an Hilfsschulen berufen worden
sind, an diesen Schulen noch ohne Ablegung der Prüfung endgültig an-
gestellt werden können«.
Worms. Georg Büttner.
6. Zeitgeschichtliches.
Der bisherige Professor der Philosophie an der Universität Erlangen, Her-
mann Leser, erhielt einen Lehrauftrag für Pädagogik und Geschichte der Pädagogik.
Dr. Johannes August Petersen, der Direktor der öffentlichen Jugend-
fürsorge in Hamburg, starb am 28. Oktober 1913.
In die Redaktion des »Säemann« wurde an Stelle von Prof. Dr. Cordsen,
der infolge Erkrankung ausschied, Privatdozent Dr. Anschütz- Hamburg als Schrift-
leiter für Jugendkunde gewählt.
Eine Warnung vor der Anwendung der psychoanalytischen Methode
auf Kinder und Jugendliche wurde auf dem Breslauer Kongreß für Jugend-
bildung und Jugendkunde beschlossen. Es wird darauf hingewiesen, daß die Be-
hauptung, erst durch die psychanalytische Methode sei wissenschaftliche Kindes-
psychologie möglich, ungerechtfertigt sei. Die Freigabe der psychanalytischen
Methode zur Anwendung in der Praxis der normalen Erziehung sei verwerflich.
»Die etwaigen von den Psychoanalytikern behaupteten Erziehungserfolge der Methode
stehen in keinem Verhältnis zu dem verheerenden Schaden, der durch sie in der
unentwickelten Seele angerichtet wird.«e Die Warnung trägt 31 Unterschriften von
Vertretern der Kinder- und Jugendforschung und der Pädagogik.
Am 12. September 1913 wurde in Hamburg ein Institut für Jugend-
kunde begründet. Die wissenschaftliche Leitung hat Professor Meumann über-
nommen. Die Verwaltung liegt in den Händen eines Kuratoriums, in dem die ver-
schiedenen Vereine vertreten sind, die das Unternehmen finanzieren. Das neue
Institut ist vor allem der Hamburger Volksschullehrerschaft zu danken.
Das Heilerziehungsheim für 24 psychopathische Knaben, dessen
Gründung der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge zu danken ist, wurde am
14. September 1913 in Templin eingeweiht. Der monatliche Pflegesatz beträgt
einstweilen 75 Mark. Die pädagogische Leitung hat Lehrer Schlegel, die ärztliche
Überwachung Privatdozent Stabsarzt Dr. E. Stier-Berlin übernommen.
Mit der Frage der Koedukation befaßt sich die Zeitschrift für pädagogische
Psychologie und experimentelle Pädagogik, Jg. 14, Heft 10 (Oktober 1913). Ernst
6. Zeitgeschichtliches. 185
Meumann teilt Thesen zur psychologischen Grundlegung der Probleme der Koedu-
kation und Koinstruktion mit, während W. Nef auf Grund seiner eigenen Er-
fahrungen eine eingehende Begründung seines die Koedukation ablehnenden Stand-
punkts bietet.
Von 12220 Schulkindern Oberhessens wiesen nach Untersuchungen Brünings
11,2°/, Rückgratsverkrümmungen auf. Die,Stadt ist daran stärker beteiligt
als das Land, die Geschlechter beide annähernd gleich. Als Ursache kommt wohl
stets Rachitis in Betracht, als auslösendes Moment Überanstrengung bei unzu-
reichender Ernährung.
Ende 1912 gab es nach einer Untersuchung des statistischen Amtes der Stadt
Elberfeld in 20 von 48 deutschen Großstädten Schulzahukliniken, deren erste
1902 in Straßburg entstand. Die Behandlung erfolgt teils kostenlos, teils gegen
eine jährliche Zahlung von 1 Mark für das Kind.
Die Stadt Breslau hat in ihren Etat 10C00 Mark als Beihilfen für jugend-
liche Arbeiter eingestellt, die durch Unterstützung von der Ergreifung des Be-
rufes der sogenannten ungelernten Arbeiter abgehalten werden können.
In Japan ist durch eine Gesetzesverordnung der Verkauf von Tabak an
Jugendliche, auch wenn sie von ihren Eltern zum Kauf beauftragt sind, sowie das
Rauchen Jugendlicher (bis zu 20 Jahren) verboten.
Ein ländliches Jugendschutzhaus ist eine halbe Stunde vom Bahnhof
Neugraben entfernt mit Unterstützung der Stadt Altona, die dafür 8000 Mark be-
willigte, eingerichtet. 20000 Mark wurden durch Spenden aufgebracht.
Der Verein zur Bekämpfung der Schwindsucht in Chemnitz hat
mehrere hundert Landwirte veranlaßt, schulentlassene schwächliche Kinder aufzu-
nehmen, um sie vor der Fabrikarbeit zu bewahren. Nach ihrer Kräftigung sollen
die Kinder in die Stadt zurückkehren, um dort einen Beruf zu erlernen. Der Verein
übernimmt die Vermittelung der Stellen. Die Landwirte verpflichten sich, die
Kinder zu beaufsichtigen und gut zu behandeln.
Die Berufsvormundschaft soll in Baden künftig in allen Fällen ein-
geführt werden können, in denen sie notwendig erscheint.
Nach den »Medizinalstatistischen Nachrichten« (Jg. IV, 1912/13, Heft 4) wurde
in Preußen am 1. Januar 1913 in 48 Taubstummen-Anstalten und -Schulen
Taubstummen-Unterricht erteilt. Die Zahl der Lehrkräfte betrug 634 (514 m.,
120 w.), die der Schüler 5223 (2854 m., 2369 w). Davon befanden sich im Internat
1459, im Externat 2984. Als Schulgänger besuchten den Unterricht 780 Kinder.
443 taubstumme Kinder wurden 1912 ermittelt, welche das schulpflichtige Alter
zwar erreicht hatten, aber noch nicht einer Taubstummenanstalt oder -schule über-
wiesen waren.
Nach den »Mitteilungen der Deutschen Dichter-Gedächtnis-Stiftung« (Hamburg-
Großborstel) tritt die Schundliteratur in neuer Form auf. Wir weisen auf die
folgenden Titel hin: Komet-Romane, Moderne 10 Pfennig-Bibliothek, Vergißmeinnicht,
Argus-Sammlung, Aus dem Sumpfe der Großstadt, Der neue Roman, Roınan-Perlen,
Webers Moderne Bibliothek, Mein Ideal, Mignon-Romane. Dieser verkappten Schund-
literatur ist die größte Aufmerksamkeit zuzuwenden.
Das Oktober-Heft der »Deutschen Schule« (Julius Klinkhardi, Leipzig) ist
als Rissmann-Heft erschienen. Außer autobiographischen Mitteilungen und einigen
kleineren Aufsätzen des Verstorbenen, dessen Andenken es geweiht ist, enthält das
Heft ein Charakterbild Rissmanns von Pretzel, eine Würdigung seines Lebens und
Wirkens in Berlin von Trensch, eine Charakteristik Rissmanns als Pädagoge von
Buchenau, eine Darstellung von Rissmanns schulpolitischen Anschauungen von Tews
und eine umfangreiche chronologisch geordnete Biographie von Otto Schmidt, die
wohl das beste Bild von Rissmanns großem Fleiße gibt. Das mit dem Bilde des
verstorbenen Pädagogen geschmückte Heft (im Umfang von 96 Seiten) ist auch
einzeln durch den Buchhandel zu beziehen zum Preise von 1 Mark.
Von Willmann-Fritzschs Herbartausgabe erschienen im Verlag von
A. W. Zickfeldt, Osterwieck a. Harz und Leipzig. die Lieferungen 6—8, die die
186 C. Zeitschriftenschau.
Seiten 241—384 umfassen. Sie bringen die »Allgemeine Pädagogike.. Abweichend
von der bisherigen Tradition sind die Tabellen im 5. Kapitel des II. Buches (Ana-
lytischer und synthetischer Unterricht) in sechs Kolumnen gedruckt. Auf die wert-
vollen Fußnoten war früher schon hingewiesen.
»Kinder des Vaterlandes« ist der neue Jahresbericht der ehemaligen
Stuttgarter Polizeiassistentin Schwester Henriette Arendt betitelt, der über ihre
Tätigkeit vom 1. September 1912 bis zum 31. August 1913 Rechenschaft ablegt.
In dieser Zeit wurden 122 Fälle mit 148 Kindern behandelt. Der Bericht enthält
eine große Menge erschütternder Dokumente. Ein großer Teil derselben ist mit
den genauen Adressen usw. versehen, um die immer wieder laut werdenden Vor-
würfe von der Unzuverlässigkeit des beigebrachten Materials zu widerlegen. An-
gesichts dieser Schriftstücke fragt man sich immer wieder: wie kann es kommen,
daß die maßgebenden Kreise diesem Elend gegenüber tatlos dastehen? warum greift
vor allem der Staat nicht ein? Jeder Kinderfreund sollte dazu beitragen, dem Buche
die weiteste Verbreitung zu verschaffen. Es ist verlegt von Heinz Clausnitzer,
Stuttgart, Calwerstraße 19. (119 Seiten. Preis 60 Pfennig.)
Unter redaktioneller Mitwirkung von Prof. Dr. Gerhard Budde-Hannover
gibt Realschullehrer Alb. Fielitz-Lübeck im Verlag von A. Molling & Co., K.-G.,
ın Hannover eine neue Zeitschrift heraus, die den Titel führt: Gute Disziplin,
Grundsätze und Ratschläge zur Förderung der äußeren und inneren Disziplin in
Schule und Haus. Die Zeitschrift soll dazu dienen, »die Hindernisse und Gefahren
zu beseitigen, die sich unseren erzieherischen und unterrichtlichen Bestrebungen
durch Fehler und Mängel der äußeren und inneren Disziplin in den Weg stellen«.
Das Programm verspricht viel. — Die Zeitschrift erscheint halbmonatlich und kostet
vierteljährlich 1,80 M.
C. Zeitschriftenschau.,
Kinderschutz und Jugendfürsorge.
Tatsachen.
Wilker, Karl, Handel mit Kindern. Der Vortrupp. 2, 16 (16. August 1913),
S. 484—497.
Zahlreiche Belege geben ein ungefähres Bild vom »Kinderhandel«. Zur Ab-
hilfe befürwortet der Verfasser Maßnahmen wie sie Silbernagel für den Entwurf
des Schweizerischen Strafgesetzbuches vorgeschlagen hat. Er tritt ferner ein für
Überwachung aller unehelichen Kinder durch die Berufsvormundschaft, die womöglich
bis zum 20. oder 21. Lebensjahre ausgedehnt werden muß. Bis zur Durchführung
derartiger Gesetzesmaßnahmen empfiehlt sich die Gründung eines Nationalkomitees
zur Bekämpfung des Kinderhandels.
Silbernagel, Alfred, Kinderhandel in der Schweiz. Süddeutsche Monatshefte.
1913, August, S. 600—602.
Die Bewegung zur Bekämpfung des Kinderhandels hat in Deutschland ihren
Ausgangspunkt genommen. In der Schweiz hat man eigenes Material gesammelt.
An den Schweizerischen Bundesrat wurde eine Eingabe gerichtet, in das künftige
schweizerische Strafgesetzbuch Bestimmungen gegen den Kinderhandel aufzunehmen-
Silbernagel führt an, was er persönlich gegen den Kinderhandel vorgeschlagen hat.
Er hofft auf ein Zusammenarbeiten aller gleiche Ziele verfolgenden Kreise in der
Schweiz und in Deutschland wie auch in anderen Ländern.
Haumann, E., Die jugendlichen »ungelernten« Arbeiter und der freie Arbeits-
vertrag. Die Deutsche Schule. 17, 1 (Januar 1913), S. 23 —26.
C. Zeitschriftenschau. 187
Die Jugendlichen haben das Recht des freien Arbeitsvertrages, doch ist die
ihnen gewährte Freiheit durch drei wichtige Bestimmungen eingeschränkt. Das
Arbeitsbuch soll eine Kontrolle über die Beschäftigung ermöglichen. Aber es hat
die gestellten Erwartungen ebenso wenig erfüllt wie das Lohnzahlungsbuch und die
mögliche Lohnzahlung an die Eltern. »Die vom Gesetz gebotenen Mittel zur Ver-
hütung der für die Jugendlichen nachteiligen Wirkungen des völlig freien Arbeits-
vertrages haben versagt.ce Wenn man das bedenkt, erweist sich die Durchführung
der Fortbildungsschulpflicht auch für ungelernte Arbeiter (die heute im allgemeinen
noch nicht besteht) als dringend notwendig.
Mayr, E., Die Kinderarbeit auf dem flachen Lande. Zeitschrift für Kinderschutz
und Jugendfürsorge. 5, 8/9 (August/September 1913), S. 259—260.
Die Kinder werden in landwirtschaftlichen Betrieben in weit größerem Maße
zur Arbeit herangezogen, als allgemein angenommen wird. Dieser Übelstand wird
nicht wenig gefördert durch die liberale Handhabung der sommerlichen Befreiungen
vom Schulunterricht. Bei den 12 jährigen Kindern werden schon 60—80 °/,, vielfach
100 °/,, bei 13—14jährigen fast überall 100 °/, der Anspruchsberechtigten auf Antrag
vom Schulunterricht im Sommer befreit, Durch die Ausnutzung werden vielfache
körperliche Schäden hervorgerufen. Ganz besonders ist auch zu klagen über Ver-
führung der Kinder zu regelmäßigem Alkoholgenuß.
Hütekinder. Das proletarische Kind. August 1913.
Von den in der Landwirtschaft beschäftigten Kindern sind die Hütekinder am
meisten gefährdet. Die gesetzlichen Anordnungen, die zu ihrem Schutze getroffen
sind, sind recht primitiv zu nennen. Vor allem ist die geistige Verwahrlosung, der
diese Kinder ausgesetzt sind, sehr groß.
Zollinger, F., Die Kinderheimarbeit in der aargauischen Tabakindustrie. Schweize-
trische Blätter für Schulgesundheitspflege. 11, 4 (April 1913), S. 57—60.
Referat über eine umfangreiche Dissertation der juristischen Fakultät Zürich
(1912), verfaßt von Clara Wirtb. Bei einer Gesamtschülerzahl von 2361 Kindern
waren 685 (323 Knaben und 362 Mädchen) — 29 °/, in der Zigarrenheimarbeit be-
schäftig. Von 184 noch nicht schulpflichtigen Kindern der Kleinkinderschulen
waren 36 = 19°/, in der Zigarrenindustrie tätig. Im ganzen sind von 2515 Kindern
721 oder 24,4°/, in der Zigarrenheimindustrie tätig. In Zigarrenfabriken arbeiten
weitere 110 Schulkinder, so daß insgesamt 831 Kinder aus den Schulen oder Klein-
kinderschulen = 32 °/, in der Tabakindustrie des Aargaus tätig sind. Zur Heimarbeit
werden hauptsächlich Kinder im Alter von 6'/, bis zu 10'/, Jahren herangezogen.
Über die Arbeitszeit unterrichtet folgende Tabelle:
Es waren erwerbstätig
70 Kinder = 21,2 °/, täglich 1 bis 3 Stunden (59 im Alter von 3 bis 10 Jahren)
150 ” = 45,4 % ” 3 ” 5 ” (7% G] n» 5 ” 10 » )
97 ” = 29,4 % » 5 „7 ” (54 „ ” » 6 ” 10 » )
13 y = 37 % ” 7.8 ” (In » „6 „ 10 » >)
Die Arbeitszeit währte unter 175 Kindern
bei 25 = 14,3 °/, bis 8 und 9 Uhr abends
„ 86 = 49.1 °/, bis 10 Uhr abends
„ 64 = 36,6 °/, bis 11 und 12 Uhr abends.
Der Gesundheitszustand läßt zu wünschen übrig. Besonders die Atmungs-
organe leiden. In der Mehrzahl der Fälle bildet die Kinderarbeit einen unentbehr-
lichen Nebenverdienst. Die Abhilfevorschläge Clara Wirths Werden mitgeteilt.
188 C. Zeitschriftenschau.
Groß, P., Die Kinderheimarbeit in der Aargauischen Tabakindustrie. Zeitschrift
für Jugenderziehung und Jugendfürsorge. 3, 17 (15. Mai 1913), S. 489—492.
Referat über eine Dissertation dieses Titels von Clara Wirth. — In 11 Ge-
meinden waren 24,4°/, der Kinder in der Tabakindustrie tätig (von 2545 Kindern
721, darunter 36 Zöglinge von Kleinkinderschulen).
Heller, Wolfgang, Die Kinderarbeit in Ungarn. Zeitschrift für Kinderschutz und
Jugendfürsorge. 5, 4 (April 1913), S. 97—104.
Der Ausnützung der Kinder durch übermäßige Arbeit ist in Ungarn bisher
noch wenig Aufmerksamkeit zugewandt. Das Gewerbegesetz vom Jahre 1884 ent-
spricht den modernen Anforderungen nicht. Es ist zwar auf gesunder Grundlage
aufgebaut. Die Durchführung der getroffenen Bestimmungen läßt aber viel zu
wünschen übrig. Besonders beachten die Gewerbebehörden das Alter der Kinder zu
wenig. Kinder unter 12 Jahren werden vielfach beschäftigt. Sogar über Verwen-
dung von Kindern unter zehn Jahren namentlich in der Industrie der Steine und
Erden und in der Holzindustrie wird Klage geführt. Die Mißstände sind im Hand-
werk viel erheblicher als in den Fabriken. 70°/, der erwerbstätigen Kinder unter
14 Jahren sind in der Landwirtschaft beschäftigt. Besserung ist zu erhoffen von
einer strengeren Durchführung der bestehenden gesetzlichen Bestimmungen.
Mönkemöller, Der Einfluß der Verwahrlosung auf die Seele des Kindes. Der
Monatsbote aus dem Stephanstift. 34, 4 (April 1913), S. 50—56; 5 (Mai), 8. 72
bis 85.
In wie mannigfacher Weise das Kind durch das Milieu schädlich beeinflußt
werden kann, zeigen gerade die Erfahrungen aus der Fürsorgeerziehung am aller-
besten. Es kommt darauf an, die Kinder möglichst frühzeitig aus dem schädigenden
Milieu herauszunehmen und die Wirkung der Verwahrlosung nach"Möglichkeit durch
die Fürsorgeerziehung wieder abzuschleifen. Die Fürsorgeerziehung ist in ihrer
Arbeit vor allem auch auf das Zusammenwirken mit der Hilfsschule angewiesen.
Neter, Eugen, Das einzige Kind. Zeitschrift für Kinderpflege. 8, August 1913,
S. 201—208.
Skizziert in großen Zügen das einzige Kind und die große Bedeutung des
isolierten Aufwachsens, das viele Gefahren mit sich bringt.
Schwarz, Irene, Vergiftete Kinderseeleu. Zeitschrift für Kinderpflege. 8, März
1913, S. 116—117.
Einige Gespräche von Kindern miteinander aus dem Kindergarten, die ein er-
schütterndes Bild vom häuslichen Elend zeichnen.
Kuhner, S., Der erste Schritt vom Wege. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugend-
fürsorge. 5, 7 (Juli 1913), S. 187—190.
Die Erzieher müssen auf die ersten kleinen Fehlschritte wesentlich achten.
Viele Abweichungen werden heute als ganz unbedeutend und harmlos angesehen.
Sie geben aber oft genug den Anlaß zu späteren Konflikten mit dem Gesetze.
Samuleit, Paul, Kino und Kind. Die pädagogische Praxis. I, 1 (Oktober 1912),
S. 9—21.
Die kulturelle Bedeutung des Kinematographen kann kaum hoch genug ein-
geschätzt werden. Dem Kinobesucher wird viel Schund und Schmutz vorgeführt.
Die Zensur kann nur die allerschlimmsten Auswüchse beseitigen. Kinder sehen im
allgemeinen dasselbe wie Erwachsene. Echte ästhetische Genußfähigkeit wird in
ihnen durch das Gesehene erstickt. Psychisch und physisch werden sie geschädigt.
Als einzig brauchbares Mittel erscheint das Verbot des Kinobesuchs für Kinder unter
D. Literatur. 189
14 oder besser noch unter 16 Jahren und Veranstaltung besonderer Schülervor-
führungen, die periodisch wiederholt werden, unter Mitwirkung der Lehrerschaft.
Erste Anfänge zu einer solchen Reform sind im Gange.
Hellwig, Albert, Schundfilms als Verbrecheranreiz. Zeitschrift für Jugend-
erziehung. 3, 11 (15. Febrnar 1913), S. 309—313; 12 (1. März), S. 345—348.
Ein sicherer Nachweis eines kausalen Zusammenhanges zwischen Schundfilms
und Verbrechen ist nur schwer zu erbringen. Sorgsame Untersuchungen von Einzel-
fällen sind sehr wertvoll. — Der Verfasser versucht, eine psychologische Grund-
legung des verderblichen Einflusses der kriminellen Schundfilms zu geben, gestützt
auf die Beobachtungen verschiedener Autoren (namentlich Götzes). Auch wenn der
Nachweis eines Zusammenhanges zwischen Schundfilm und Verbrechen nicht zu
erbringen sein sollte, so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß Schundfilms auf die
Jugend außerordentlich verderblicb wirken.
Hellwig, Albert, Die Gefahren der Schundfilms, Schweizerische Blätter für
Schulgesundheitspflege und Kinderschutz. 11, 7 (Juli 1913), S. 97—103.
Die Zahl der Kinotheater wird in der Schweiz nur auf 100, in Österreich auf
600, in Deutschland auf 3000, in den Vereinigten Staaten auf 10000 geschätzt. Die
Gefahren der Schundfilms werden ganz kurz charakterisiert: Trübung des Wirklich-
keitssinns, Nervenüberreizung, unter Umständen körperliche Schädigungen, Verrohung
der Jugendlichen, Schaffung günstiger Dispositionen für verbrecherische Betätigung.
Fraglich ist, ob sich der Nachweis führen läßt, daß ein bestimmter Film den Kino-
besucher zu einem konkreten Verbrechen veranlaßte. Der Verfasser bittet um Mit-
teilung eigener Erfahrungen.
D. Literatur.
Singer, Prof. Dr. Ludwig, Geschichte der österreichischen Schulreform.
Heft 94 der »Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung«. Langensalza,
Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1911. 26 S. 40 Pf.
Es handelt sich bei dieser Broschüre um einen Vortrag, den Dr. Singer am
13. Dezember 1910 in der Österreichischen Gesellschaft für Kinderforschung in
Wie. gehalten hat. Er gibt darin einen interessanten, kurzen geschichtlichen Über-
blick über die Entwicklung der höheren Schulen (Mittelschulen) in Österreich seit
dem Organisationsentwurf von 1849, der endgültig im Jahre 1854 sanktioniert wurde,
und der an die Namen Thun-Hohenstein, Exner und Bonitz geknüpft ist. Durch
diesen Entwurf wurde das Gymnasium achtklassig, die vollständige Realschule sechs-
klassig organisiert. Während das Gymnasium als die eigentliche allgemeine wissen-
schaftliche Vorschule gedacht war, sollte die Realschule neben der Vorbereitung zu
den höheren technischen Studien auf der Unterstufe ihrem Ursprung gemäß auch
unmittelbar praktischen Zwecken dienen. Das österreichische Gymnasium zeichnete
sich von Anfang an vor dem preußischen durch eine geringere Stundenzahl und
durch eine stärkere Berücksichtigung der mathematisch - naturwissenschaftlichen
Disziplin aus. Genau so wie bei uns entbrannte in Österreich ein Kampf um das
Gymnasialmonopol. Mit immer steigendem Erfolg wurde in der »Zeitschrift für das
Realschulwesen« und insbesondere vom Verein »Die Realschule« der Kampf für die
Gleichberechtigung der Realanstalten mit den Gymnasien geführt, und mehr und
mehr wurde den Abiturienten der Realschule das Betreten der Universitätslaufbahn
erleichtert. Besonders zu Beginn dieses Jahrhunderts machten die Realschulmänner
mit erhöhter Energie ihre Ansprüche geltend, während zugleich eine sehr scharfe
Kritik des Gymnasiums einsetzte. Das Gymnasialmonopol und die Methode des alt-
190 D. Literatur.
sprachlichen Unterrichts wurden in gleicher Weise bekämpft. Da berief das öster-
reichische Unterrichtsministerium im Januar 1908 eine Mittelschulenquete, der im
Januar 1910 eine zweite folgte. Ihr Ergebnis ist, daß es gegenwärtig in Österreich
gibt: Gymnasien (achtklassig), seit 1909, mit Griechisch von der dritten Klasse an,
obligatorischem Turnen (bisher freier Gegenstand) in allen und Zeichnen in den
Unterklassen, betreffs der modernen Sprachen und Landessprachen bestehen örtliche
Verschiedenheiten. Achtklassig ist ferner das Realgymnasium, an dem von der
dritten Klasse an statt des Griechischen außer der Unterrichtssprache eine zweite
lebende Sprache gelehrt wird; ferner in VI und VII Chemie mit 2 Wochenstunden
und in V und VI die Grundzüge der darstellenden Geometrie. Philosopbische Pro-
pädeutik wird nur in der VIII. Klasse (3 Stunden wöchentlich, am Gymnasium je
2 Stunden in VII und VIII) unterrichtet. Das Reform-Realgymnasium schließt an
die Unterrealschule an, setzt in der V. Klasse mit dem Lateinischen ein (30 Stunden
in 4 Klassen), setzt das Freihandzeichnen in V und VI, die zweite lebende Sprache
auf der ganzen Oberstufe fort. Eine besondere Form stellt der sogen. Tetschener
Typus, das städtische Ober-Realgymnasium, dar; mit dem dritten Jahre entscheidet
sich der Schüler für Griechisch oder Französisch. Diejenigen, die Französisch
wählen, geben Latein mit der fünften Klasse auf und erhalten statt dessen Englisch,
Chemie, darstellende Geometrie. — Was die Berechtigungsfrage angeht, so sind die
Reifezeugnisse aller Vollanstalten als gleichwertig anerkannt.
Man erkennt leicht, daß die österreichische Schulreform der preußischen im
wesentlichen gefolgt ist. Was sie vor der preußischen auszeichnet, ist die philo-
sophische Propädeutik, die in den preußischen höheren Schulen fehlt; was ihr zu-
sammen mit der preußischen vor allem mangelt, das ist eine unserer Zeit ent-
sprechende Gestaltung des fremdsprachlichen Unterrichts sowie auf der Oberstufe
eine freiere Gestaltung der Unterrichtsorganisation, die eine mehr individuelle Bil-
dung ermöglicht.
Hannover. Prof. Dr. Budde,
Urstein, Maurycy, Manisch-depressives und periodisches Irresein als
Erscheinungsform der Katatonie. Berlin und Wien, Urban & Schwarzen-
berg. 1912. 650 S. Preis 28 M.
Die gegenwärtig sehr regen sozialen Bestrebungen zugunsten der Jugendlichen
(Fürsorgeerziehung, Jugendpflege) lenken die Aufmerksamkeit der Pädagogen natur-
gemäß auch stärker auf die Psychopathologie des Jugendalters, also neben den
psychopathischen Konstitutionen besonders auf die Dementia praecox, das Jugend-
irresein. Schon macht sich in der Literatur hier und da ein Niederschlag dieses
Interesses bemerkbar, wobei man aber gewöhnlich eine unzureichende Kenntnis fest-
stellen muß. In diesem Zusammenhange gewinnt die oben angezeigte Monographie
eine besondere heilpädagogische Bedeutung, weil sie vorzüglich geeignet ist, soweit
es in dieser Form möglich, eine klare Anschauung von Entstehung und Verlauf
dieser ziemlich häufigen, unheimlichen Krankheit zu geben.!) Allerdings hatte der
Verfasser mit seiner überaus fleißigen Arbeit eine vorwiegend polemische Absicht;
er wendet sich nämlich gegen die Praxis der jüngeren Kraepelinschen Schule, die
nach seiner Ansicht dem Begriff »mechanisch-depressives Irresein« einen über-
mäßigen Umfang gegeben hat, indem sie viele Krankheitsfälle dieser zirkulären
Psychose zurechnete, obwohl es sich dabei, wie Ursteins Nachprüfung ergab, zweifel-
los um echt katatonische Erkrankungen gehandelt hat. Die Symptomatologie bedarf
also zum Zweck einer einwandsfreien Diagnostik der Verfeinerung und kritischen
Abgrenzung. Statt der minder zutreffenden Bezeichnung Dementia praecox bevor-
zugt der Verfasser den Ausdruck Katatonie, mit Anlehnung an die mustergültigen
Arbeiten Kahlbaums. Er stützt seine in der Monographie entwickelten Ansichten
auf die Analyse von einigen tausend Fällen. Die vorliegende Arbeit enthält als
wertvollsten Teil eine Sammlung von 30 typischen ausführlichen Krankengeschichten,
1) Nach meiner Vermutung bezieht sich die Erzählung im Ev. Lucas 11, 14
bis 26, auf eine Katatonie, deren periodischer Charakter ausdrücklich hervor-
gehoben wird.
D. Literatur. 191
welche den Journalen der Laehrschen Anstalt »Schweizerhof« in Zehlendorf ent-
nommen sind, ein ganz einzigartiges Material! Bringt es doch die genauesten, durch-
aus unvoreingenommenen Beobachtungen, die sich im Einzelfalle über einen Zeitraum
von 50 Jahren erstrecken, und die von anerkannten Meistern ihres Faches angestellt
worden sind. Dieses unschätzbare Material ist nicht nur für Psychiater, sondern
auch allgemein für Psychologen von höchstem Werte. Und welche ergreifenden
Tragödien spiegeln sich darin wieder! Aus diesen Krankengeschichten, die er mög-
lichst durch eigene Nachforschungen ergänzt hat, abstrahiert Urstein die charakte-
ristischen Symptome der Katatonie zum Zweck einer Frühdiagnose. Nach ihm ist
das Wesentliche die »intrapsychische Ataxie«, d. h. die Spaltung, die Inkoordination
innerhalb der Verstandestätigkeit, der Gefühlsreaktionen oder der Handlungen.
Durch diesen Zwiespalt innerhalb der einzelnen psychischen Komponenten sucht der
Verfasser zu erklären, wie es möglich sei, daß z. B. ein Kranker, der sprachlich
ganz konfus und zerfahren ist, sich zu gleicher Zeit schriftlich korrekt und geordnet.
äußert oder umgekehrt. Auch die oft enormen Gegensätze zwischen subjektiven
Klagen und dem Mangel an objektiver Feststellung der behaupteten Tatsachen leitet
er aus dieser Disharmonie ab, ebenso auch Erscheinungen, die bisher als zirkulär
galten. — Hinsichtlich der Behandlung der Katatonie erklärt Urstein eine rein
medizinische Therapie für wirkungslos; unentbehrlich erscheint ihm aber die Er-
ziehung der Kranken zur Arbeit, auch gerade zu geistiger Arbeit. Er bestätigt
nachdrücklich die Erfahrung der Heilpädagogik, Jaß geistige Tätigkeit einen Schutz
gegen vorzeitigen geistigen Verfall bietet. — Über die Ursache dieser entsetzlichen
Kıankheit kann auch ein so genauer Kenner wie Urstein nur Vermutungen äußern.
Von modernen biochemischen Vorstellungen beeinflußt, liegt ihm die Annahme einer
durch innere Sekretion bedingten Anaphylaxie nahe; doch müßte der exakte Beweis
für die Richtigkeit dieser Auffassung noch erbracht werden. Möge es dann, unter
dieser Voraussetzung, der Medizin gelingen, ein wirksames Heilserum gegen die
Katatonie zu erfinden!
Berlin. Richard Schauer.
Lobsien, Marx, Das 10 Minuten-Turnen. Eine experimentell - statistische
Untersuchung über die Bedeutung der »Übungen für das tägliche Turnen« für
die geistige Frische der Schulkinder. Pädagogisches Magaziu, Heft 471. Langen-
salza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann). Preis 35 Pf.
Das anhaltende Sitzen in der Schule zeitigt manche nachteilige Folgen für
Körper und Geist der Kinder. Auf Anordnung des Kultusministers vom 7. Juni
1907 wurden in preußischen Schulen aller Art Versuche angestellt, durch besonders
ausgewählte und zusammengesetzte Freiübungen diesen Folgen zu begegnen. Der
günstige Einfluß, den diese Übungen erkennen ließen, veranlaßte den Minister,
durch Erlaß vom 13. Juni 1910 in allen preußischen Schulen die dritte Turnstunde
und die »Übungen für das tägliche Turnen« zur Einführung zu bringen. Den Ein-
flaß dieser Übungen auf die geistige Frische und Regsamkeit der Kinder suchte
Lobsien auf experimentellem Wege zu ergründen. Er benutzte bei seinen Unter-
suchungen als Beobachtungsmaterial Kinder der Kieler Volksschulen, als Arbeits-
weise die Gedächtnismethode, und zwar entschied er sich für die Darbietung von
sinnlosen Wortbildern, die er auf akustischem Wege übermittelte. Auf Grund
seiner Untersuchungen kommt Lobsien zu folgendem Ergebnis: Die Atemübungen
sind geeignet, in ganz überraschend hohem Maße die geistige Frische und Aufnahme-
fähigkeit der Schüler zu heben. Über die Verschiedenheit der Einwirkung nach
Alter und Geschlecht der Kinder und über die Forderung des Verfassers hinsicht-
lich der praktischen Ausgestaltung der Übungen lese man selbst in der Schrift nach.
Danzig-Langfuhr. Franz Matschkewitz.
König, Karl, Kreisschulinspektor in Mühlhausen i. Els., Die Waldschule. Heft 89
der »Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung«. Langensalza, Hermann
Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1912. VI und 124 S. Preis geh. 2,20 M.
Unser Zeitalter zeichnet sich durch ein wachsendes Interesse für die sozialen
Notstände aus. In tatkräftiger Weise sucht man diese nach Möglichkeit zu be-
seitigen. Auch Schule und Jugend können sich der sozialen Fürsorge erfreuen.
192 D. Literatur.
Unter den zur Steuerung der Mißstände getroffenen Maßnahmen verdient die Wald-
schule besondere Beachtung, da sie neben der gesundheitlichen Förderung zugleich
der geistigen Ausbildung der Kinder dient. In genannter Schrift behandelt König
alle Fragen, die zu diesem Thema in Beziehung stehen, mit großer Ausführlichkeit
und überzeugender Wärme, so daß jedem, der zur Waldschule Stellung nehmen
will oder sich mit der Verwirklichung dieser Idee beschäftigt, das Buch bestens
empfohlen werden kann.
Danzig-Langfuhr. Franz Matschkewitz.
Dannmeier, H., Die Aufgaben der Schule im Kampf gegen den Alkoho-
lismus. Zweite, vermehrte Auflage, besorgt von Dr. Karl Wilker. Päda-
gogisches Magazin. Heft 211. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer
& Mann), 1913. 40 S. Preis 50 Pf.
Die Verfasser, in der Fachliteratur bestens bekannt, gehen in diesem Buche
einem Thema nach, das die allerernsthafteste Beachtung verdient, und es wäre nur
zu wünschen, wenn es, seinem Zweck entsprechend, »einer großen Kulturarbeit
neue Freunde gewinne, — neue Freunde vor allem aus den Kreisen der Schul-
männer«e. Die Ausführungen zeigen ein eingehendes Vertrautsein, ein vollständiges
Beherrschen des Stoffes und der Literatur. (Gestützt auf wissenschaftliche For-
schungen, auf zahlreiche Beobachtungen von Ärzten und S:hulmännern, sowie auf
eigne Erfahrungen wird uns die Verderblichkeit des Erbfeindes alles Kultur- und
Menschenlebens vor Augen geführt, ganz besonders seine Schädlichkeit für die
Jugend gezeigt.
Was den Inhalt anbelangt, so wird zunächst in klarer Weise dargelegt, daß
die Schule den Alkoholismus bekämpfen muß, denn er hemmt die körperliche und
geistige Entwicklung der Kinder, verdirbt ihren Charakter. Auch ist recht ver-
derblich seine indirekte Schädigung durch die Vererbung. Dazu ist er weiter »eine
ernste Gefahr für die sittliche, wirtschaftliche und nationale Entwicklung unseres
deutschen Volkes und damit für dessen Zukunft«. Weiter folgen Darlegungen, wie
die Schule entgegenwirken kann: a) durch gelegentliche Belehrung auf allen Stufen
und in allen Unterrichtsfächern, sowie durch planmäßige Belehrungen im Unter-
richte in Naturkunde und namentlich in der Gesundheitslehre auf der Oberstufe
und in der Fortbildungsschule; b) durch das Beispiel des Lehrers; c) durch Ge-
wöhnung auf Ausflügen, Schulreisen, Turnfahrten, Schulfesten u. dergl.; d) durch
Fürsorge für die durch Alkohol geschädigten Kinder. Natürlich ist unerläßlich ein
gewisses Gerüstetsein des Lehrers, was geschehen kann: a) durch eine gründliche
Behandlung der Alkoholfrage während seiner Ausbildung und zwar sowohl in ein-
zelnen Unterrichtsfächern, wie auch zusammenhängeud in einem besonderen Ab-
schnitt der Pädagogik; b) durch eignes Studium der Alkobolfrage unter Benutzung
der neueren, den gegenwärtigen Standpunkt der Wissenschaften vertretenden
Schriften; c) durch eigne Beobachtung. Weitergehend kann ein so aus- und vor-
gebildeter Lehrer noch segensreich wirken außerhalb seiner Berufsarbeit durch
Unterstützung von Jugendspielen und Schülerwanderungen, durch Pflege wahrer
Volksunterhaltung und Verbreitung echter Volksbildung, durch Unterstützung der
Anti-Alkoholbewegung.
Neben diesem vorzüglichen Inhalte des Buches muß weiter als lobend hervor-
gehoben werden der am Schluß angefügte Literaturnachweis, enthaltend Schriften
zur allgemeinen Orientierung, für den Unterricht, für die Jugendpflege, die höheren
Schulen, usw.
Wollte das Buch weiteste Verbreitung und Beachtung finden, es würde von
nicht zu unterschätzender Bedeutung sein für den Einzelnen, für die Familie, nicht
in letzter Linie aber auch für Kommune und Staat. Und jeder Lehrer könnte dazu
beitragen, »unser deutsches Volk zum nüchternsten, zum körperlich und geistig
leistungsfähigsten aller Kulturvölker zu machen«.
Worms. Georg Büttner.
Verantwortliche Schriftleitung für Abhandlungen und Mitteilungen: Dir. J. Trüper,
Sophienhöhe b. Jena; für Zeitgeschichtliches, Zeitschriftenschau und Literatur:
Dr. Karl Wilker, Jena, Weißenburgstraße 27.
Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
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A. Abhandlungen.
1. Die Familie Kallikak.
Eine Studie über die Vererbung des Schwachsinns.
Von
Dr. phil. Henry Herbert Goddard, Director of the Research Laboratory
of the Training School at Vineland, New Jersey, for Feeble-minded Girls and Boys.
Berechtigte deutsche Übersetzung
von
Dr. phil. Karl Wilker-Jena.
(Fortsetzung.)
Wir haben behauptet, daß die aus Schwachsinn resultierende
Kriminalität hauptsächlich Sache der Umgebung ist. Doch muß zu-
gegeben werden, daß dabei große Unterschiede im Temperament vor-
kommen, und daß, obwohl dieser eine Zweig der Familie Kallikak
geistig defekt war, er doch keine große Tendenz zur Kriminalität im
Sinne unserer Gesetze aufwies. In anderen Familien besteht ohne
Zweifel eine viel größere Tendenz zum Verbrechen, so daß der Mangel
an Verbrechern in diesem besonderen Falle unser Argument nicht im
geringsten zu schmälern vermag, es im Gegenteil nur stärkt. Man
muß zugeben, daß die einzelnen Glieder in gewissen Familien der
Kriminalität infolge von geistiger Defektivität vielmehr ausgesetzt sind
als in anderen, wahrscheinlich infolge einer Differenz in der Stärke
gewisser Instinkte.
Diese Verschiedenheit im Temperament kommt vielleicht nirgends
besser zum Ausdruck als bei Deborahs Großeltern. Der Großvater
aus der Kallikak-Familie hatte Temperament und Eigenschaften dieser
Familie, die ihn, obgleich sie ihn nicht zu positiver hochgradiger
Kriminalität führten, nichtsdestoweniger zu einem schlechten Manne
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 13
194 A. Abhandlungen.
positiven Typs machten, zu einem Trunkenbold, zu einem Verführer
in sexueller Hinsicht, was allein schon einen schlechten Charakter
ausmacht.
Andrerseits waren seine Frau und seine Familie nur stupid, ohne
jede ausgesprochene Tendenz zum Schlechten, wie sie sich in der
Familie Kallıkak zeigte. Sie waren weder lasterhaft noch schlechten
Kniffen irgendwelcher Art ergeben. Aber sie waren unfähig, macht-
los, in der Welt vorwärts zu kommen, und sie übertrugen diese Eigen-
schaften auf ihre Deszendenten.
So waren von den Kindern dieses Ehepaares, den Großeltern
unserer Deborah, die Söhne aktiv und positiv in ihrem Leben (der
eine war Pferdedieb, der andere ein Verführer zur Unsittlichkeit mit
der Neigung zu alkoholischen Getränken von seiten seines Vaters her),
während die Töchter ruhiger und mehr passiv waren. Ihre Stumpf-
heit steigerte sich jedoch nicht bis zur Imbezillität. Deborahs Mutter
selbst war ein hochstehender Typ einer Moronin mit einer gewissen
Eigenschaft, die ein verfeinerndes Element mit sich brachte. Ihre
Schwester war das passive Opfer von ihres Vaters blutschänderischem
Treiben und heiratete später einen normalen Mann. Eine andere
Schwester war zweimal verheiratet, das erstemal durch Vermittlung
der guten Frau, die um die Legalisierung der von Deborahs Mutter
angeknüpften Verbindungen so besorgt war, während das andere Mal
der — normale — Mann selbst darauf drang. Er war alt und
wünschte eine gute Haushälterin, und da diese Frau, die in einer
ausgezeichneten Familie vorwärts gekommen war, als gute Köchin be-
kannt war, so schien ihm diese Anordnung (die legale Verehelichung)
die beste Lösung zu bieten. Keine dieser Schwestern widersetzte sich
je der zeremoniellen Eheschließung, wenn sie ihnen angetragen wurde.
Sie scheinen aber nie an deren Notwendigkeit gedacht zu haben,
wenn sie mit irgend einem Manne zusammenlebten.
Die träge Hilflosigkeit von Deborahs Mutter im Hinblick auf ihre
eigenen Impulse zeigt sich in verschiedenen Begebenheiten ihres Lebens.
Ihr erstes Kind hatte einen Farm-Arbeiter zum Vater. Der Vater
des zweiten und dritten Kindes, eines Zwillingspaars, war ein gewöhn-
licher Eisenbahnarbeiter. Deborahs Vater war ein junger Bursche,
allerdings normal, aber recht locker in seinen sittlichen Ansichten.
Er unterhielt mit der Mutter ein Liebesverhältnis, während sie außer-
halb auf Arbeit war, und sonst mit anderen Frauen. Nach Deborahs
Geburt im Armenhause wurde die Mutter mit ihrem Kinde in eine
gute Familie aufgenommen. In dieser Stellung, wo sie gute Über-
wachung genoß, wurde sie von einem schwachsinnigen Manne minder-
Goddard-Wilker: Die Familie Kallikak. 195
wertiger Beschaffenheit zu eigen begehrt. Alle möglichen Mittel
wurden angewandt, das Paar zu trennen, aber ohne Erfolg. Ihre
Herrin bestand dann darauf, daß sie heirateten, und achtete selbst
auf alle Kleinigkeiten. Nachdem Deborahs Mutter diesem Manne zwei
Kinder geboren hatte, lebte das Paar auf der Farm eines unver-
heirateten Mannes, der einigen Wohlstand, aber wenig Intelligenz be-
saß. Der Ehemann war ein imbeziller Kerl, der nie für sein Weib
gesorgt hatte. Dieses war noch hübsch, beinahe mädchenhaft. Der
Farmer sah gut aus. Und bald lebten die beiden ganz offen zu-
sammen, und der Gatte war verlassen. Als diese Vorkommnisse be-
kannt wurden, erhob sich in der Nachbarschaft gewaltiger Protest,
aber es wurden nicht eher Schritte dagegen unternommen, als bis
zwei oder drei Kinder geboren waren. Endlich nahmen sich eine
Anzahl führender Bürger, geleitet von der bereits erwähnten guten
Frau, der Sache ernsthaft an. Sie fanden den Ehegatten und über-
redeten ihn, ihnen zu erlauben, eine Ehescheidung durchzusetzen.
Dann veranlaßten sie den Farmer, die Frau zu heiraten. Er stimmte
unter der Bedingung zu, daß die Kinder, die nicht die seinen wären,
fortgegeben würden. Das war der kritische Zeitpunkt, in dem Deborah
zur Training School gebracht wurde.
Bei einem Besuche der Mutter in ihrem gegenwärtigen Heim und
beim Gespräch mit ihr über verschiedene Phasen ihres früheren Lebens
warden uns noch mehrere Punkte in ihrem Leben klar. Sie hatte
niemals irgendwelchen Groll oder absichtlichen Widerstand gegen die
soziale Ordnung in ihrem Leben gehegt. Sie folgte vielmehr ganz
blindlings und ohne jedes objektive Bewußtsein ihrem Impulse. Ihrem
Leben fehlte es ganz und gar an Koordination. Eine Überlegung
über Ursache und Wirkung existierte für sie ebensowenig wie ein
Lernen aus irgend einer erhaltenen Lektion. Scham hatte sie nie
gekannt. Mit einem Worte: sie hat nie gekämpft und nie gelitten.
Ihr Mann ist ein selbstsüchtiger, mürrischer, geiziger Patron, der
seinem Weibe nur wenig Geld gibt, so daß es oft, um Seife oder
andere Dinge kaufen zu können, seine Zuflucht zur Bettelei unter
den Nachbarn nimmt. Zuzeiten arbeitet die Frau so tüchtig auf
dem Felde wie eine Landarbeiterin, so daß man sich nicht darüber
wundern kann, wenn ihr Haus vernachlässigt wird und ihre Kinder
unbesorgt sind. Ihre Lebensweisheit ist die eines Tieres. Keine
Klage, keine Erregung über die Unbilligkeit des Geschicks kennt sie.
Krankheit, Sorge, Niederkunft, Tod — alles nimmt sie mit demselben
Gleichmut auf wie etwa die günstige Gelegenheit, sich und ihre Kinder
mit neuen Kleidern und bunten Bändern anzuputzen und einen
13*
196 A. Abhandlungen.
Sonntagsschul-Ausflug mitzumachen. Sie ist nicht fähig, die Möglich-
keiten, die das Leben bietet, zu verstehen oder die Dinge zu einem
bestimmten höheren Ziele zu leiten. Sie besitzt eine gewisse Zärtlich-
keit für ihre Kinder, aber wirkliche Besorgnis um sie ist ihr fremd.
Sie spricht von denen, die anderswo untergebracht sind, und freut
sich, wenn sie Bilder von ihnen sieht. Sie hat auch etwas Sinn da-
für, daß sie zu ihr gehören, aber nur ganz schwach und ohne jede
innige Verbindung mit ihrem Leben. Sie ist vollkommen hilflos, ihre
älteren Töchter jetzt, wo das Weib in ihnen erwacht, vor den Ge-
fahren zu schützen, die sie umgeben, oder ihnen irgendwelche Regeln
einzuschärfen, die sie zur Selbstzucht und zu ordentlicher Lebens-
führung veranlassen würden.
Derselbe Mangel zeigt sich in auffallender Weise, wenn wir
unsere Aufmerksamkeit dem Problem des Alkoholismus in dieser
Familie zuwenden. Wir erfuhren von einem Mitgliede des guten
Zweigs dieser Familie, daß die Sucht nach alkoholischen Reizmitteln
in älteren Zeiten sehr stark ausgeprägt war, und daß mehrere An-
gehörige jüngerer Generationen diesem Brauche mehr oder weniger
ergeben waren. Zwei von ihnen haben es tatsächlich auch dahin ge-
bracht, daß sie unzurechnungsfähig wurden. Beide waren Ärzte. In
der Linie mit dem schwachen Geistesvermögen finden wir jedoch 24
so ausgesprochene Opfer dieser Gewohnheit, daß sie gemeingefährlich
waren. Wir haben dabei die viel größere Zahl derer außer acht
gelassen, die diesem Brauche auch ergeben waren, aber nicht so
schlimm, daß wir sie in unsere Kategorie der Alkoholiker eingereiht
hätten.
So sehen wir, daß die normale Geistesbeschaffenheit des guten
Familienzweigs imstande war, sich erfolgreich mit dieser heftigen Gier
abzufinden, während die geschwächte Geistesbeschaffenheit auf der
andern Seite dem Übel nicht zu entrinnen vermochte: viele ihrer
Glieder fielen dieser schrecklichen Gewohnheit zum Opfer.
Derartige Erscheinungen wie die hier mitgeteilten, die wir nicht
nur in dieser Familie, sondern auch in vielen anderen fanden, deren
Stammbäume wir demnächst veröffentlichen werden, führten uns zu
dem Schluß, daß Trunksucht bis zu einem gewissen Grade wenigstens
aus Schwachsinn resultiert, und daß ein Weg, die Trunksucht einzu-
schränken, der ist, zuerst die geistig defekten Menschen zu bestimmen
und sie vor der Umgebung, die sie zu diesem Mißbrauch verführen
würde, zu sichern.
Weiter waren acht Abkömmlinge des degenerierten Zweiges der
Familie Kallikak Inhaber von Häusern schlechten Rufes. Und das
Goddard- Wilker: Die Familie Kallikak. 197
trotzdem sie zumeist in ländlichen Gemeinden lebten, wo solche In-
stitute nicht so florieren wie in großen Städten.
Kurz, während wir beim Vergleich der Familien Jukes und
Edwards keine feste Grundlage für eine Beweisführung haben, weil
beide Familien ganz und gar verschieden und getrennt waren, scheint
die Schlußfolgerung in der Familie Kallikak streng logisch. Wir
haben hier also ein natürliches Experiment mit einem normalen Zweig,
mit dem wir unsere defekte Linie vergleichen können. Wir haben
den einen Vorfahren, den Ahnherrn einer Linie normaler Menschen,
die sich bisher alle Generationen hindurch tüchtig erwiesen haben,
mit Ausnahme des einen Mannes, dessen Geschlechtsleben zügellos
war, und*der beiden anderen, die der Sucht nach starken Getränken
nachgaben.
Das ist unsere Norm, unsere Regel, unser Nachweis dafür, wie
sich das Blut der Familie Kallikak bewährt, wenn es rein gehalten
wird, oder wenn es sich mit Blut von gleich guter Qualität mischt.
Daneben haben wir die schlechte Linie, das Blut desselben
Vorfahren verunreinigt durch das des namenlosen schwachsinnigen
Mädchens.
Auf Grund dieser Vergleiche ist der Schluß unvermeidlich, daß
alle Entartung in diesem Falle das Resultat des geistigen Defekts und
des schlechten Bluts ist, das in die normale Familie guten Blutes zu-
erst durch das namenlose schwachsinnige Mädchen und später durch
hinzukommende Verunreinigungen aus anderen Quellen hineingetragen
wurde.
Es ist dem Biologen kaum möglich, ein sorgfältigeres Experiment
als dieses vorzubereiten und durchzuführen, oder ein solches, aus dem
unanfechtbarere Schlüsse als aus diesem zu ziehen wären.
Viertes Kapitel.
Weitere Tatsachen über die Familie Kallikak.
Obgleich die angeführten Tatsachen und die Stammbäume ganz
genau den Unterschied zwischen guter und schlechter Heredität sowie
das Resultat der Einführung eines geistigen Defekts in eine Familie
guten Blutes zeigen, geben wir doch, weil es so außerordentlich
schwierig ist, die Situation genau zu würdigen, und weil die bisher
mitgeteilten Tatsachen und Figuren kaum ein lebendiges Bild geben,
in diesem Kapitel einige von unserer Hilfsarbeiterin an Ort und Stelle
aufgezeichnete Mitteilungen, die die Unterschiede der Menschentypen
in den beiden verschiedenen Zweigen derselben Familie veranschau-
198 A. Abhandlungen.
lichen sollen. Es sind nur wenige von vielen, aber sie sind doch
recht typisch für die Lage der Dinge, die durch unsere Untersuchung
aufgedeckt wurden. Auf der schlechten Seite haben wir den Familien-
typus, dem der Soziologe immer wieder begegnet, und der die meisten
unserer sozialen Probleme bedingt. Das Studium desselben wird die
Überzeugung, die wir hegen, erklären helfen, daß nämlich kein noch
so großer Arbeitsaufwand in den Spelunkengassen, keine Beseitigung
unserer Großstadtspelunken Erfolg haben wird, ehe wir nicht für die
sorgen, die diese Spelunken erst zu dem machen, was sie sind. Wenn
die beiden Arbeitsrichtungen nicht zusammengehen, wird jede für sich
nur Geringfügiges leisten. Wenn morgen alle Spelunkenviertel unserer
Großstädte beseitigt und an ihrer Stelle Muster-Mietswohnungen er-
richtet würden, so würden wir doch innerhalb einer Woche wieder
dieselben Spelunken haben, weil wir die geistig defekte Bevölkerung
haben, die man nicht einfach lehren kann, anders zu leben, als sie
bisher gelebt hat. Nicht eher, als bis wir für diese Klasse von Men-
schen sorgen und darauf dringen, daß ihr Leben von intelligenten
Menschen geleitet wird, werden wir diese schadhaften Stellen aus
unserm sozialen Organismus entfernen.
Familien wie die der Kallikaks gibt es überall unter uns. Sie
verdoppeln die Bevölkerungsziffer. Nicht eher, als bis wir das er-
kennen und auf dieser Grundlage arbeiten, können wir anfangen diese
sozialen Probleme zu lösen.
Die folgenden Lebensbilder sind von unserer Hilfsarbeiterin, Miß
Elizabeth S. Kite, vorbereitet. Sie wollen eine Vorstellung von der
Familie geben und gleichzeitig einen Einblick in Miß Kite’s Unter-
suchungsmethode gewähren, um den Leser so ein Urteil über die Zu-
verlässigkeit unserer Daten gewinnen zu lassen.
An einem bitterkalten Wintertage besuchte unsere Hilfsarbeiterin
die Straße in einem Spelunkenviertel, in der drei Söhne Josephs
(Figur IX D) lebten. Sie hatte vorher mehrere Kinder aus diesen
Familien in der Schule untersucht und gefunden, daß sie von zu-
traulichem Charakter und durchschnittlicher geistiger Regsamkeit waren,
ganz wie unsere Deborah, jedoch ohne ihre Lebenskraft. In ihren
Augen war kein Feuer, sondern ein matter träumerischer Blick, der
zum Teil unzweifelhaft durch die ungesunde Großstadtumgebung ver-
schuldet war. In einem Hause fand sie den Familienkreis — sechs
menschliche Wesen, zwei Katzen und zwei Hunde — in einem ein-
zigen kleinen schmutzigen Raume um einen Kochherd, das einzige
Feuer in dieser Wohnung, zusammengedrängt. Das gesamte mütter-
Goddard- Wilker: Die Familie Kallikak. 199
liche lebende Inventar war in diesem Raume angesammelt. Ein elf-
jähriger Knabe, der vorher in der Schule untersucht war, stand mit
geschwollenem Gesicht am Feuer. Er war aus diesem Grunde zu
Hause behalten. In einem Schaukelstuhl saß ein kleines zwölfjähriges
Mädchen und hielt ein blasses ausgemergeltes Baby. In der Ecke
waren zwei Knaben offenbar mit sich selbst beschäftigt. Die Mutter
machte gerade mit Hilfe eines Kammes und eines Waschbeckens
Toilette. Sie stand dabei am Kochherd, auf dem sich ein Topf und
ein Kessel fanden. Der Eintritt unsrer Hilfsarbeiterin verursachte
keinerlei Aufregung. Der Junge mit dem geschwollenen Gesicht sah
auf und lächelte, die Mutter lächelte und setzte ihre Toilette fort, das
Mädchen mit dem Baby lächelte, die beiden Knaben in der Ecke
merkten gar nicht auf. Endlich wurde ein Stuhl abgeräumt, und sie
setzte sich hin, während alle lächelten. Sie erfuhr dann, daß der
Mann täglich 1 Dollar verdiene, und daß das dem zwölfjährigen
Mädchen an Alter nächststehende ältere Mädchen verheiratet sei und
schon ein Kind habe. Ein anderes jüngeres Mädchen war in der
Schule. Es war der Familie sogar letzthin möglich gewesen, ihr
Schuhe zu besorgen. Das zwölfjährige Mädel hätte nach dem Gesetz
auch die Schule besuchen müssen. Wenn man aber ihr Gesicht an-
sah, merkte man schon, daß es gar keinen Unterschied bedeute, ob
sie hinging oder nicht. Sie war hübsch, von bräunlicher Gesichts-
farbe, dunkel, mit matten Augen, verriet aber keinerlei geistige Reg-
samkeit. Stagnation war das Wort, das in großen Zügen auf alles
geschrieben war. Starr von diesem Schauspiel menschlicher Entartung
verließ unsere Hilfsarbeiterin das Haus und trat auf die Straße hinaus.
Kurze Zeit später kam sie in die Wohnung eines anderen Bruders.
Das scheußliche Bild, das sich ihr darbot, als sich auf ihr Klopfen
die Tür öffnete, war unvergeßlich. In der ersten Wohnung war der
Typus wenigstens kein niedrigerer als der des Moronen gewesen.
Man hatte gefühlt, daß die Familie, wenn der Winter erst vorüber
und der Frühling gekommen sein würde, ihr Leben in gewisser Weise
erweitern würde. Aber hier war eine solche Aussicht gar nicht mög-
lich, denn die Frau, die diesen Haushalt leitete, war imbezill. Im
einen Arm hielt sie ein schrecklich aussehendes Baby, während sie
ein anderes an der Hand hatte. Überall an ihr sah man Ungeziefer.
In dem Raum standen einige Stühle, und ein Bett, letzteres ohne
waschbaren Überzug und über alle Beschreibung schmutzig. Feuer
gab es nicht. Mutter und Kinder waren nur spärlich gekleidet. Sie
schauderten jedoch nicht und schienen die Kälte gar nicht zu spüren.
200 A. Abhandlungen.
Das älteste Mädchen, ein gemeines abstoßendes Geschöpf von 15 Jahren,
kam ins Zimmer und schaute sich den Fremdling an. Sie hatte es
sich irgendwie möglich gemacht, zu leben. Alle anderen Kinder, aus-
genommen die beiden, die die Mutter mit sich herumschleppte, waren
frühzeitig gestorben.
Wir lassen die Geschichte Guß’ folgen, dessen verwandtschaftliche
Stellung sich aus Figur IX A ergibt.
Noch jung an Jahren heiratete er ein normales Mädchen, das
einer braven Familie angehörte, aber keine richtige Erziehung genossen
hatte. Wenige Monate später besuchte die Mutter unserer Deborah
die jungen Eheleute. Sie war damals noch ein junges Mädchen, bereit,
mit jedem Manne, der hinter ihr herguckte, ein Verhältnis einzugehen.
Die beiden betrugen sich so schlimm, das die Frau das Mädchen
herauswarf. Das war der erste Eindruck, den die Frau vom Charakter
ihres Mannes bekam. Sie lebte zehn Jahre oder noch länger mit ihm
zusammen. Da er in dieser Zeit im Durchschnitt nur drei Monate
von zwölf auf Arbeit ging, so mußte sie tatsächlich ihn und die immer
mehr anwachsende Famile unterhalten. Sie wußte, daß ihr Mann ihr
untreu war, aber es ließ sich nicht beweisen. Schließlich schien sie
die Situation zu beherrschen. Sie kam zu der Ansicht, daß irgend
etwas bei ihm geistig nicht in Ordnung sei (und zwar bei der ganzen
Familie nicht in Ordnung), und sie entschloß sich, ihn zu verlassen.
Sie nahm ihre sechs noch am Leben befindlichen Kinder, mietete sich
eine andere Wohnung und ließ ihn zurück. Er begann sofort ein
Verhältnis mit einem schwachsinnigen Mädchen aus einer gering-
wertigen Nachbarsfamilie. Bald, nachdem dies Mädchen ihr Kind
geboren hatte, verließ er es; es geriet dann in seine Verwandtschaft
hinein. Danach verbrachte er und zwei seiner Vettern den größten
Teil von zwei Tagen und Nächten auf einem Baum, um der Polizei
zu entgehen, die nach ihnen und einem anderen Manne fahndete. Sie
waren alle von einem damals im Wochenbett befindlichen Mädchen
angeschuldigt. Als der andere Mann gefaßt und veranlaßt war, das
Mädchen zu heiraten, kamen sie von ihrem Baume herunter.
1904 zog dieser Sprößling der Familie Kallikak, Guß, mit einer
Zigeunerbande ab und heiratete eins der Weiber. Einige Zeit ver-
weilte er bei der Bande und zog mit ihr in einen andern Staat. In
der Nähe des Ortes, wo sie lagerten, wurde ein Mord begangen. Das
richtete die Aufmerksamkeit auf die Zigeuner. Schließlich ereilte
ihn das Schicksal. Ein großer Aufruhr entstand seinethalben in den
Zeitungen. Er wurde verhaftet, schließlich aber von der Anklage
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 201
freigesprochen. Von seiner Liebe zum Zigeunerleben wurde er da-
durch allerdings noch nicht kuriert.
1907 — und hier kommt der schändlichste Teil seiner Lebens-
geschichte — traute ein Geistlicher den Guß mit seiner eigenen leib-
lichen Cousine, einer Frau ganz zweifelhaften Charakters. Die Trau-
zeugen waren Guß’ Schwester und ihr Mann. Alle Beteiligten —
ausgenommen der Geistliche — wußten, daß in einer kleinen Straße
um die Ecke herum, so nah, daß zu bestimmten Tagesstunden der
Schatten des Kirchturms, unter dem sie standen, darauf fiel, ein Haus
stand, in dem Guß’ rechtliche Frau für ihre Kinder lebte und arbeitete.
Der Geistliche hätte es auch wissen können, wenn er sich nur die
geringste Mühe gegeben hätte. Dann wäre diese schandbare Ver-
einigung zweier derartiger Wesen mit dieser Travestie auf den himm-
lischen Segen wohl unterblieben. Bald nach seiner Vermählung gab
dieses Paar sein Zusammenleben auf. Guß ging mit einer anderen
Frau davon und sein Weib mit einem anderen Manne.
Unsere Hilfsarbeiterin konnte den Guß nicht aufstöbern, aber sie
fand, daß ein Geistlicher an einem ferner gelegenen Orte des Staates
1910 seine letzte Frau mit dem Manne, mit dem sie weiterhin zu-
sammen gelebt hatte, getraut hatte. Das Paar hatte jedoch davon
Wind bekommen, daß es beobachtet wurde, und so war es, als unsere
Hilfsarbeiterin ankam, verschwunden, ohne eine Adresse hinterlassen
zu haben. (Forts. folgt.)
2. Junge Galgenvögel.
Von
Charles E. B. Russell, M. A.
Chief Inspector of Reformatories and Industrial Schools.
Berechtigte Übersetzung von Dr. jur. Karl Struve.
(Fortsetzung.)
IV. Mick — ein Tunichtgut.
»Nun, Frau Riley, was hat er diesmal bekommen?« — »Nur
zweieinhalb Schilling und die Kosten, Herr; aber er wird dafür ins
Loch müssen, wenn’s nicht heute bezahlt wird.« — »Wievielmal ist
er jetzt nach der Minshullstraße gewesen?« — »Einunddreißigmal,
Herr, aber er hatte nicht immer Schuld. Sobald er einen Tropfen ge-
trunken hat, können seine Kumpane ihn schier zu allem überreden;
so hängt’s zusammen, Herr.<
Frau Riley, klein, schwach und bleich, ihrer Erscheinung nach
selbst noch ein unentwickeltes Kind, obwohl sie schon ihr drittes, ein
202 A. Abhandlungen.
winziges und teilnahmloses Baby auf dem Arm trug, flehte beredt
um Hilfe, damit sie die ihrem Mann auferlegte Geldbuße zahlen könne.
Trotz seiner Gleichgültigkeit gegen sie und die Kinder und seiner
häufigen gedankenlosen Quälereien hing sie an ihm mit seltener Hin-
gabe und scheute keine Mühe, um ihm in den Tagen seines »Miß-
geschicks«e — ein Ausdruck, der stets die Zeitspanne zwischen der
Verhaftung wegen einer Missetat und der wirklichen Verurteilung zu
Gefängnis bezeichnet — zu helfen.
Einunddreißig Bestrafungen, alle wegen Trunkenheit und tätlichen
Angriffs, darunter einige ernste Fälle von Messerstecherei, und noch
keine dreißig Jahre — »Welch ein Schuft!« höre ich ausrufen.
»Welch ein hoffnungsloser Fall!« seufzt ein anderer. Und doch war
der Mann im Grund seines Herzens kein Schurke. Im Gegenteil, er
war in gewöhnlichen Zeitläuften gutherzig, freigebig und stets zu
einem guten Werk bereit. Überdies war er von schönem Körperbau,
von mehr als gewöhnlicher Stärke und hatte im Heer mit Auszeich-
nung als Rauhreiter gedient. Wie kam es denn, daß er niemals in
einer Stellung lange aushalten konnte, sondern sein Dasein durch
Hausieren mit Salz und Lumpen, mit Blumen und Früchten oder
durch den Versuch eines Maklerhandels mit dem Tand der Hinter-
gärten und Abfallshaufen fristete? Wie kam es, daß man ihn einen
Tunichtgut schalt, und daß selbst gutherzige Leute rieten, an einen
Gesellen wie Mick keine Hilfe zu ‘verschwenden, wenn er völlig am
Ende seiner Hilfsmittel war, ohne Nahrung und Feuerung, mit seiner
Miete hoffnungslos im Rückstand und mit einer Kleidung, die eine
Musterkarte von Flickwerk darstellte? Mußte die Haltlosigkeit seines
Charakters auf angeborene Verderbtheit geschoben werden, oder konnten
Tatsachen aus seiner Vergangenheit ihn gar entschuldigen? Ein Blick
auf seine Geschichte mag eine Antwort auf diese Fragen geben.
Zuerst wollen wir sehen, wo er seine Kindheit verlebte. Eine
»Straße« wurde der Ort genannt, und die Behausungen wurden für
vier oder fünf Schilling wöchentlich vermietet; aber in Wirklichkeit
war es eine schmutzige Gasse, und aus den Wohnungen an beiden
Seiten drang ein Brodem von Schmutz und Unrat hervor. Die An-
wohner lagen meistens dem Straßenhandel ob, und mehr als eine
Familie lebte in jeder dieser Schmutzhöhlen. Starke Getränke und
die aus ihrem übermäßigen Genuß erwachsende Vergessenheit diente
sowohl Männern wie Frauen als Zuflucht aus dem unseligen Elend
ihrer Umgebung. Mit der Gewöhnung an den Trunk ging häufig ein
Sinken der Selbstbeherrschung und Selbstachtung Hand in Hand, was
zu häufiger Einkehr in das Ortsgefängnis als Strafe für Diebstahl und
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 203
Gewalttätigkeit führte. Eine rauhe Kameradschaft war jedoch der
Gasse eigentümlich. Alle ihre Bewohner waren bereit, mit glatter
Zunge eine Entschuldigung für außergewöhnlich unverschämtes Be-
tragen eines »Nachbarn« zu finden. Mit jener unbewußten Mildtätig-
keit, die das wohltuendste Merkmal des Reiches der Gassen ist und oft
beschämt, was wohlhabende Leute mit diesem Namen bezeichnen,
waren sie in Tagen wirklicher Not, welche alle zuzeiten heimsuchte,
zu gegenseitiger Hilfe bereit. Als A. zurzeit des Wochenbettes seiner
Frau sich in Verlegenheit befand und jedes erdenkliche Stück Möbel
und jeder Fetzen Kleidung verpfändet war, da kamen Frau B. und
Frau C. mit Armen voll Bettzeug (bei denen das Eigentümerzeichen
fehlte!), um Frau A. die auf einem aus drei zerbrochenen Stühlen
hergerichteten Lager ruhte, mit einem gewissen Maß von Wärme und
Behaglichkeit zu versehen. Auch litt das Neugeborene keinen Mangel
an Kleidung während seines viertägigen Erdendaseins, auf das es,
schon im Mutterleibe verhungert, es allein bringen konnte. Als ein
heruntergekommener, unbekannter Bursche eines Abends spät an O.s
Tür klopfte und fragte, ob sie einen oder zwei Kupfer für sein Nacht-
logis übrig hätten, wurde er aufgefordert, zu bleiben und auf dem
Sofa zu schlafen und wurde am nächsten Morgen nicht mit leerem
Magen entlassen. Als Witwe X. eines Morgens ihre Laufbahn der
Trunkenheit und Schande endigte, mußten da ihre fünf Kinder von
neun Jahren und darunter ins Werkhaus gehen? Kein Gedanke! Vor
Sonnenuntergang war jedes einzelne von ihnen adoptiert. Aber nur
wer infolge genügender Vertrautheit mit dem Innenleben dieser Leute
solche Züge kennen gelernt hatte, konnte ihr Leben in einen gewissen
Einklang damit bringen, daß sie Einwohner eines christlichen Landes
waren. Denn obwohl viele Bewohner der Straße dem Namen nach
Mitglieder einer religiösen Gemeinschaft waren, so war doch die Aus-
übung der Religion fast gänzlich unbekannt. Die Umgangssprache
der ganzen Gesellschaft kannte keine Rücksicht auf Anständigkeit,
sondern war so gotteslästerlich, grob und unerquicklich, wie nur mög-
lich. Die Leute waren geradezu von ihrer gottverlassenen Umgebung
vergewaltigt. Gute Bilder, Musik, Kunst in jeder Form, ganz zu
schweigen von dem Einfluß von Feld, Wald und offenem Himmel,
waren aus ihrem Leben verbannt, und der Schnapspalast, die gemeine
Singspielhalle und der Tanzsaal, eine überfüllte, schmutzige Höhle,
waren an ihre Stelle getreten. Und doch ließen die — sonst keines-
wegs niedrig gesinnten — Bürger der Stadt diese Dinge mit einer
Gleichgültigkeit auf sich beruhen, die ein trübes Bild von dem inneren
sozialen Leben einer Nation liefert, die stets bereit ist, die Waffen
204 A. Abhandlungen.
zur Befreiung der Sklaven in anderen Ländern zu ergreifen, von Men-
schen, die sich in ihrer Lage oft weit glücklicher fühlen.
Aber gesunkene Männer und Frauen waren nicht die einzige Be-
völkerung der Straße. Viele Kinder wurden ihnen geboren — eine
große Zahl davon, um ihr Erdenwallen schon vor Ablauf eines Jahres
wieder zu beenden, die übrigen, um unter Verhältnissen aufzuwachsen,
die einer gesunden körperlichen und geistigen Entwicklung völlig zu-
wider waren. Manche litten infolge reiner Vernachlässigung an der
englischen Krankheit; manche trugen die Keime der Schwindsucht
oder anderer Krankheiten, deren Namhaftmachung sich hier verbietet,
in sich; viele hatten schwache Augen und eine schmale Brust, runde
Schultern und verwachsene Beine; viele endlich waren geistig zurück-
geblieben. Andere hatten seltsamerweise körperlich über ihre Um-
gebung triumphiert und waren so kräftig, aufrecht und rotbackig, wie
man nur wünschen konnte. Diese fanden mit wenigen Ausnahmen
keine gesunde Ableitung für ihre tierischen Instinkte. Sie entwickelten
mit zunehmendem Alter einen von ihren Eltern auf jede Weise ge-
nährten Abscheu gegen jedes Gesetz und jede Beschränkung und ver-
ursachten den Behörden, die ihre Erziehung zu überwachen hatten,
die größten Schwierigkeiten. Einige wurden zu ihrem eigenen späteren
Besten so unbändig, daß sie das Glück hatten, frühzeitig vom Richter
einer Erziehungsanstalt oder einem Schulschiff überwiesen zu werden.
So ein Junge war Mick Riley. Sein Vater war einer der be-
kanntesten Hausierer der Stadt gewesen und, als Mick erst vier Jahre
alt war, an den Folgen eines bei einem Trinkgelage erlittenen Unfalls
gestorben. Mick war nebst einigen anderen Kindern der Fürsorge
seiner Mutter überlassen geblieben, einer Fürsorge, die über gleich-
gültige Abfütterung der Kinder und Überwachung ihres nächtlichen
Heimkommens hinaus keine Pflicht kannte. Jeder Gedanke an die
Notwendigkeit irgendwelcher sittlicher oder erziehlicher Einwirkung
war ihr, der von ihren Eltern auch keine zuteil geworden war, voll-
ständig fremd. Immerhin mag zu ihren Gunsten gesagt werden —
es ist nämlich das einzige, was ich ihr zugute rechnen kann —, daß
es ihr gelang, »durch ein bischen Reinmachearbeit« mit Hilfe häus-
licher Armenunterstützung das »Heim« zusammenzuhalten.
Mick war trotz seiner Umgebung und seiner keineswegs reich-
haltigen Kost ein kräftiger, gesunder Junge. Er erbte das schnelle,
böse Blut seiner Mutter und alle gesellschaftsfeindlichen Triebe seines
Vaters, hatte aber ein lustiges, unbekümmertes und leichtbeschwingtes
Gemüt eigener Zutat. Gleich allen Kindern aus seiner Straße hatte
er sehr früh gelernt, Früchte von dem nahen Markt zu stehlen, und
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 205
niemals war ihm der Gedanke gekommen, daß es nicht ganz in Ord-
nung wäre, so zu handeln. Er lief Schulen, und obwohl seine Mutter
ihn morgens mit vielen heftigen Flüchen hinausjagte, spielte er ständig
den Schulverächter und suchte die Unterhaltung der Straßen auf, bei
seiner Heimkehr natürlich Lügen vorschützend. Eine wohltätige
Nemesis wartete seiner. Als er neun Jahre alt war, wurde seine
Störrigkeit so berüchtigt und sein Schulbesuch so selten, daß die Ver-
mittelung der Behörden nachgesucht und er einer Erziehungsanstalt
überwiesen wurde. Hier, unter strenger Aufsicht, gedieh er gut und
verbrachte die glücklichsten Jahre seines Lebens. Als er aber sechzehn
Jahre alt wurde, mußte ihm die Schulbehörde die Heimkehr zu seiner
Mutter erlauben, die ihrer Versicherung nach sehr lohnende Arbeit
für ihn gefunden hatte. Die gute Frau hatte schon seit geraumer
Zeit mit der vermehrten Annehmlichkeit gerechnet, die Micks geringer
Verdienst ihr verschaffen würde, und wollte auf den Vorschlag, daß
er Arbeit in Südengland annehmen solle, nicht hören. Das Gesetz
war leider auf ihrer Seite und gestattete nicht, daß ihr Sohn ohne
ihre Erlaubnis fortgeschickt wurde.
So kam Mick heim. Einige Wochen hindurch mag die Jugend
der Gasse an ihm ein leuchtendes Beispiel von Reinlichkeit und
Wohlanständigkeit gehabt haben. Er ging an sein Werk als Arbeiter
in einer nahen Bleichanlage und war recht glücklich. Aber seine
Umgebung war zuviel für ihn. Als geselliger, gutmütiger Bursche
ließ er sich von seinen faulen Kumpanen einen Narren schelten, und
der allgemeine Spott über alle Arten ehrlicher Plackerei verwischte
bald die sittlichen Eindrücke der letzten sieben Jahre. Binnen zwei
Monaten hatte er seine Arbeit mutwillig aufgegeben und sein Heim
verlassen; denn seine Mutter jagte ihn erbarmungslos vor ihre Tür,
sobald er kein Geld mehr brachte. »Du kannst nicht verhungern«,
drangen seine Gefährten in ihn, und Mick stimmte mit der ihm eigenen
Unbekümmertheit zu. Er nahm einen baufälligen Stall aufs Korn, in
dem ein ihm bekannter Hausierer seinen Esel herbergte, brach dort
nächtlicherweile ein und trieb den Esel nach einer zehn Meilen ent-
fernten Stadt, wo er ihn für ein paar Schillinge los wurde. Er wurde
schnell gefaßt und zu seiner ersten Gefängnisstrafe verurteilt, — zu
drei Monaten. Dies ernüchterte ihn, und nach seiner Entlassung
machte er einen ehrlichen Versuch, ein rechtschaffenes Leben zu
führen. Arbeit war nicht leicht zu finden; aber er wußte die
Musterungsvorschriften zu umgehen (— keine schwierige Aufgabe für
einen Burschen von brauchbarer Körperbeschaffenheit —) und trat in
das Heer ein. Er wurde schnell Rauhreiter; doch es war noch die
206 A. Abhandlungen.
Zeit der kurzen Dienstperioden — drei Jahre —, und Riley verließ
den Dienst gerade dann, als er ein guter Soldat geworden war und
eine weitere Zeitspanne der Zucht und Aufsicht ihn vielleicht zurecht-
gemodelt hätte. Seither hat er niemals gut getan. Allmählich eignete
er sich eine wachsende Neigung für starke Getränke an. Ist er
trunken, so macht sein böses Blut ihn zu einem Schrecken für seine
Freunde und zu einer Gefahr für alle, die ihm in den Weg kommen.
Dies geht so weit, daß er unter seinen Bekannten den Beinamen
»Tiger« erhalten hat.
Seine schlimmste Ausschreitung beging er vor einigen Jahren.
Er hatte sich an einem Trinkgelage beteiligt, und einer seiner Zech-
genossen hatte einen Ausdruck gebraucht, den Mick auf sich bezog.
Bevor seine von Entsetzen gelähmten Freunde den Vorgang begriffen,
hatte er sein Taschenmesser hervorgeholt, es geöffnet und seinen ver-
meintlichen Verleumder zweimal in den Rücken gestochen. Alles
war bestürzt, und mit der Feigheit, die ein bemerkenswerter Zug in
dem heutigen niederen Volksleben ist, flohen Micks Kumpane davon.
Mick selbst, der wie ein leibhaftiger Unhold dreinblickte, blieb allein
mit seinem zu Boden gestürzten Freunde zurück. Er nahm sein
Messer auf, ergriff ein Schüreisen und stürzte auf die Straße. Dort
beherrschte er einen Augenblick das Feld, bis ein Polizeibeamter, der
seine Stiefel ausgezogen und seinen Knüppel hervorgeholt hatte, leise
von hinten herankam und ihn mit einem Schlag auf den Kopf zu
Fall brachte. Für diesen Ausbruch der Wildheit erhielt Mick nur
neun Monate Gefängnis. Denn als der Gestochene soweit hergestellt
war, um Zeugnis ablegen zu können, hatte er Mick schon längst ver-
ziehen und erklärte die Geschichte als einen reinen Unglücksfall. Die
Strafe läuterte ihn jedoch, und als er, mit seinen zweiundzwanzig
Jahren immer noch ein junger Bursche, aus dem Gefängnis kam, war
er — wenigstens seiner Meinung nach — wieder einmal entschlossen,
sich zu bessern. Doch der alte Einfluß dauerte fort. Alte, nichts-
würdige Gefährten wurden wieder aufgesucht, und lasterhafte Be-
kanntschaften hielten ihn mit außerordentlicher Zähigkeit fest. So
konnte es, obwohl er ein geliebtes Mädchen heiratete und einige
Monate lang standhaft blieb, nicht fehlen, daß die allgegenwärtige
böse Umgebung ihre Früchte trug. Schon vor Geburt seines ersten
Kindes war Mick in so schlechter Verfassung wie nur je zuvor. Er
vernachlässigte sein Weib und mißhandelte sie ohne Rücksicht auf
ihren Zustand. Fast jeder Heller seines nur noch bei seltenen Ge-
legenheiten erworbenen Arbeitsverdienstes wurde zur Befriedigung
seines Trinklasters verwandt.
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 207
Dann erhellte sich der Ausblick wieder. Dank eines günstigen
Zufalls zog er die Aufmerksamkeit einiger wohlgesinnter Leute auf
sich, die versuchten, ihm bei dem Werk seiner eigenen Rettung bei-
zustehen. Er war durchaus willig, und zuletzt schien es, als ob ein
dauernder Erfolg erreicht sei. Ein Freund hatte die Mittel auf-
gebracht, um ihn mit Pferd und Wagen, sowie mit einem Vorrat
Gemüse zum Handeltreiben auszurüsten. Auch hatte er für ihn ein
Häuschen in einem anderen Stadtviertel erstanden und, was besonders
wichtig war, einen gesetzten und zuverlässigen Mann, der augenblick-
lich ohne Arbeit war, als Partner ausfindig gemacht. Einige Wochen
lang ging alles gut. Als seine alten Kumpane ihn allmählich in
seinem neuen Heim ausfindig machten und zu einem freündschaft-
lichen Glase einluden, lehnte er entschieden ab. Eines Abends schwang
er sich sogar dazu auf, eine von einem Bekannten mitgebrachte Flasche
feurigen Branntweins in die Gosse zu werfen.
In dieser Zeit war eine auffallende Veränderung in seinem Ge-
sicht wahrnehmbar. Der Ausdruck von Mißtrauen und Verfeindung
mit der Welt, den er-im Gefängnis angenommen hatte, verschwand,
und seine offenen, lachenden Augen sprachen von bisher nicht ge-
kanntem Glück. Wie kaum gesagt zu werden braucht, begann auch
sein Heim einen gewissen Anstrich von Behaglichkeit anzunehmen,
und sein Weib war glückselig über die Abkehr von den alten Ge-
wohnheiten.
Doch ach! Sie sollten nicht so leicht abgetan werden. Es kam
ein unglückseliger Abend, an dem er fiel, und andere ähnliche Abende
folgten. Er zankte sich wiederholt mit seinem Teilhaber, der ihn
schließlich verließ. Auch seine Frau trank gelegentlich mehr, als sie
vertragen konnte, und der Zustand der Kinder in dem kahlen,
schmutzigen Raum, den sie jetzt bewohnten, war bejammernswert.
Einmal nach dem anderen wurde Mick, der in nüchternem Zustande
schamerfüllt, kleinlaut und voll aufrichtiger Reue war, Hilfe zuteil.
Aber wie eifrig er auch den riesigen Wohlstand ausmalte, der der
Hilfe auf dem Fuße folgen werde, so wußte er doch die ihm ge-
botenen Gelegenheiten nicht auszunutzen.
Die Geschichte einer Woche gibt ein Bild von seiner Unzuver-
lässigkeit. Am Sonnabend-Abend, mit einem Goldstück, dem Ertrage
seines Hausierhandels in der Tasche, war er auf der Höhe. Aber
am Sonntagmorgen bot er ein klägliches Schauspiel dar. Er erzählte,
wie sein Onkel ihn am vergangenen Abend auf dem Heimweg ge-
troffen und aufgefordert habe: »Mick, mein Junge, komm mit und
laß uns einen trinken.«e »Nein«, sagte Mick, »ich bin jetzt enthalt-
208 A. Abhandlungen.
sam«. — »Na, denn komm und nimm ein Glas Port.« (Portwein
wird seltsamerweise von vielen, die Bier für einen verderblichen
Trank halten, als ein nicht berauschender und harmloser Stoff an-
gesehen.) »So ging ich mit ihm«, fuhr Mick fort, »und hatte einen
Port und noch einen, bis mir jemand einen Trunk anbot. Ich konnte
nicht ablehnen und mußte auch einen ausgeben. So wurde ich be-
trunken und verlor all mein Geld. Nun kann ich morgen nichts an-
fangen und weiß nicht, was ich tun und wohin ich mich wenden soll«.
Es mag schon richtig sein, daß nochmalige Hilfe nur eine Belohnung
seiner Schwachheit war; aber dadurch, daß man ihm dies auseinander-
setzte, wurde die Lage nicht besser. Der Mann war wirklich in Not,
war ehrlich betrübt und schamerfüllt und wünschte aufrichtig, gut zu
tun. Außerdem drohten seine Frau und seine Kinder, Hunger zu
leiden. Für die Familie zu sorgen, war immerhin nicht so schwer.
Mick selbst wurde bedeutet, daß er sich Arbeit suchen und für seine
Torheit büßen müsse. Alles, was zurzeit für ihn getan wurde, be-
stand in der Aushändigung eines Schreibens, das ihm zur Auffindung
von Arbeit behilflich sein konnte.
Schon am Mittwoch fand Mick gute Arbeit für einen Wochen-
lohn von 25 Schilling, denn seine Körperstärke macht ihn für Unter-
nehmer grober Arbeiten zu einer willkommenen Hilfskraft. Bis zum
Freitag kehrte er abends ruhig und gesetzt heim. Auf seine Bitte
wurden ihm einige Zeitschriften mitgegeben, um, wie er sagte, seine
Gedanken zu beschäftigen und ihn im Zaum zu halten. Dann kam
der Sonnabend. Er erhielt einen kleinen Betrag an Lohn und war
am Sonntagmorgen wieder einmal im Gewahrsam der Polizei. Durch
einen kleinen Trunk rasend gemacht, hatte er sich mit einer langen
Brechstange bewaffnet und wurde festgenommen, während er einigen
Bekannten, von denen er sich beschimpft glaubte, auflauerte. Diese
Tat hatte zu der eingangs erwähnten Geldbuße von zweieinhalb
Schilling nebst Kosten geführt, auf die sich das Bittgesuch der Frau
Riley bezog.
Seitdem ist es mit Mick reißend bergab gegangen. Die Zwischen-
räume zwischen seinen verschiedenen Strafen füllt er mit Trinken aus.
Während ich dies schreibe (Juli 1910) verbüßt er eine dreimonat-
liche Gefängnisstrafe wegen Verlassens seiner Frau, die samt den
Kindern im Werkhaus sitzt. Die Frage ist jetzt: Was soll mit ihm
geschehen, wenn er aus dem Gefängnis kommt, und wie kann man
aus ihm noch ein ehrenwertes Glied der menschlichen Gesellschaft
machen? Obwohl Diebe sein Umgang sind, ist er selbst doch kein
Dieb. Trotz aller Bemühungen, sich aufrecht zu halten und trotz
Mönkemöller: Die Strafe in der Fürsorgeerziehung. 209
seiner Körperkraft, die ihm stets gute Arbeit sichern würde, fällt er
immer von neuem. Wie kann ihm geholfen werden?
Ich glaube, es gibt nur einen Weg, nämlich ein vollständiger
Wechsel der Umgebung. Er müßte viele Meilen von Manchester ent-
fernt, am liebsten auf dem Lande, mit Arbeit versehen werden. Ihm
müßte vor allem die Freundschaft eines gesetzten Arbeitskameraden
zur Seite stehen, der in der Kraft seines Glaubens an alles Gute sich
sagen würde, daß er nichts Schöneres tun kann, als einem anderen
seine Bürde tragen zu helfen. Ich glaube, unter solchen Voraus-
setzungen würde sich zeigen, daß er im Grunde ein guter Kerl ist.
Mit der Zeit würde er wahrscheinlich selbst ein 'Arzt anderer »lahmer
Hunde« werden. Denn Mick hat das Zeug zu vielem Guten. Es ist
ein hartes Urteil, das einen noch nicht dreißigjährigen jungen Mann
für einen unverbesserlichen Taugenichts erklärt. (Forts. folgt.)
3. Die Strafe in der Fürsorgeerziehung.
Von
Oberarzt Dr. Mönkemöller, Hildesheim.
(Fortsetzung.)
Zur Entscheidung dieser Fragen ist zunächst die Erwägung er-
forderlich, wie sich die verschiedenen geistigen Krankheitsformen, die
sich in die Fürsorgeerziehung hereindrängen, zur Strafe — und ins-
besondere zur körperlichen Züchtigung — verhalten.
Daß die Strafe bei den psychopathologischen Zöglingen im all-
gemeinen nicht immer ihren Zweck erfüllt, daß eine wesentliche
Besserung dadurch nicht erzielt wird, darüber sind sich die Er-
zieher im wesentlichen einig. Oft kommt als Endwirkung nur die
heraus, daß die schwächeren Gemüter ihrer Genossen, wenn sie d a
Strafgericht über die Attentäter hereinbrechen sehen, den “Antrieb
empfangen, sich mehr zusammenzunehmen. Allerdings hat sie bei den
meisten ethisch und moralisch am tiefsten stehenden Zöglingen
wenigstens die Wirkung, daß sie sich vorübergehend beugen und
der Disziplin für einige Zeit unterordnen. Als Abschreckung tut sie
ihren äußerlichen Dienst, eine innere Umgestaltung ruft sie aber
nicht hervor. Den Gedanken an eine Sühne erweckt sie so gut wie
nie und die Reue läßt sie kaum in Busen dieser mit Ethik so schlecht
bedachten Naturen aufkeimen.
Den Hauptbestandteil der psychisch nicht einwandsfreien Anstalts-
bevölkerung stellt der angeborene Schwachsinn in seinen ver-
schiedenartigsten Gestalten und Abstufungen dar. Die Unergange:
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang.
=
210 A. Abhandlungen.
formen nach der Gesundheitsbreite hin fallen im wesentlichen unter
die Anschauungen, die man über die Strafe im allgemeinen hegt.
Die Formen, bei denen Ethik und Moral nicht allzu kurz gekommen
sind, und das ist wieder wohl die Mehrzahl unter den Anstalts-
imbezillen, sind den erziehlichen Wirkungen der Strafe noch am
meisten zugänglich, lassen auch kaum jemals eine direkt schädigende
Wirkung erkennen. Aber da sie gerade wegen ihrer besseren ethischen
Veranlagung die Strafe kaum herausfordern, kommen sie für das
Problem kaum in Betracht.
Daß bei Imbezillen, bei denen eine schwerere Verkümmerung
der Ethik nachzuweisen ist, irgend eine Schädigung selbst vorüber-
gehenden Charakters nachzuweisen wäre, kann man wohl nur für
einzelne Ausnahmefälle sagen. Aber bei näherem Zusehen wird man
bald bei ihnen die Entdeckung machen, daß hier die Strafe jede
Wirkung verfehlt und daß selbst ein vorübergehendes Zusammen-
nehmen nur sehr selten erreicht werden kann. Will man ihnen nicht
aus prinzipiellen Gründen einen Generalpardon erteilen, so kann man
es mit gutem Gewissen aus der Erwägung heraus, daß hier die Strafe
einen ganz zwecklosen Mechanismus darstellt.
Ähnlich steht es mit den Formen ethischer und moralischer
Verkommenheit, in denen dieser Mangel ganz isoliert dazustehen
scheint, bei denen die Intelligenz noch leidlichen Ansprüchen genügt,
die durch ihr äußerliches Verhalten kaum auffallen, die eben jenen
Typus darstellen, der zur Aufstellung des Begriffes der moral insanity
führte. Wenngleich sie im Außenleben den gefährlichsten Anteil des
Fürsorgeerziehungsmaterials verkörpern, obgleich sie für den Gesamt-
erfolg der Fürsorgeerziehung die weitaus schlechteste Prognose haben,
macht esihnen ihre Pseudointelligenz und ihre einseitige Willensentfaltung
möglich, sich im allgemeinen, allerdings lediglich aus Opportunitäts-
gründen heraus, an die Hausordnung zu halten und wenigstens äußer-
lich mit der Disziplin auf einen guten Fuß zu stellen. Wie körper-
liche Züchtigungen und Insolierungen auf sie einwirken, entzieht sich
der Betrachtung, weil sie sie nur so selten über ihr Haupt herauf-
beschwören. Und kommt es doch dazu, dann gleitet die Strafe an
der verkümmerten Psyche ab, ohne sie im Guten zu beeinflussen, ohne
aber auch die mindesten schädlichen Nachwirkungen zu hinterlassen.
Man mag über die Zweckmäßigkeit ihrer Unterbringung in der Für-
sorgeerziehungsanstalt im Zweifel sein, für die Lösung dieser Frage
liefern sie weder theoretisches noch praktisches Material.
Anders ist es schon mit den Schwachsinnigen, bei denen
eine Neigung zu stärkeren Stimmungsschwankungen besteht,
Mönkemöller: Die Strafe in der Fürsorgeerziehung. 211
bei denen die Reizbarkeit erhöht ist und die Affekte so locker sitzen,
daß bei geringfügigen Anlässen schwere Erregungszustände aus-
gelöst werden. Sie sind schon dadurch für die Strafe prädestiniert,
weil sie stets mit ihrer Umgebung in Konflikt geraten. Bei den
einfachsten Erziehungsmaßnahmen wird in ihnen der Oppositionsgeist
geweckt, mit der Disziplin leben sie in ewigem Kampfe, und da die
Intelligenzschwäche oft von den übrigen Symptomen der Imbezillität
beiseite gedrängt wird, werden ihnen auch die mildernden Umstände
versagt. Fallen sie der Strafe anheim, deren Berechtigung ihnen oft
nicht klar ist, dann werden sie nur noch verbitterter und immer
tiefer in den Asozialismus hineingetrieben. Gelegentlich kann die
Strafe das auslösende Moment zu den schwersten Erregungszuständen
sein. Dann kommt bei diesen Vertretern der impulsiven Gewalttätig-
keit die hochgradig gesteigerte Reizbarkeit zur Entladung, es stellen
sich wilde Wutausbrüche und Akte der sinnlosesten Gewalttätigkeit
ein, die für Zögling und Erzieher gleich unangenehme Folgen haben.
Ein noch zweischneidigeres Schwert ist die Strafe bei den Epi-
leptikern. Hier verlangen nicht so sehr die Fälle mit ausgesprochenen
Krampfanfällen Berücksichtigung, die jetzt in der Regel nicht mehr
der Fürsorgeerziehung überwiesen werden. Bei ihnen muß man ja
damit rechnen, daß durch eine Züchtigung infolge der Steigerung des
Affektes ein epileptischer Anfall ausgelöst werden kann. Aber gerade
so gefährdet sind die Vertreter der psychischen Epilepsie, bei
denen die epileptische Natur nur in den sonstigen Charakterumände-
rungen der Epilepsie zum Ausdrucke kommt. Auch sie zeichnen sich
durch ein gespanntes Wesen aus, die Reizbarkeit ist bei ihnen eines
der charakteristischsten und für die ganze Erziehung unerfreulichsten
Symptome, und die mangelhafte Entwicklung der Ethik sorgt für die
nötigen Entgleisungen und überantwortet sie der Strafe, der sie an-
standslos unterzogen werden, da sich die Krankhaftigkeit ihres Geistes
der Kenntnis des Laien meist entzieht. Auch sie vermögen meist
nicht die Gerechtigkeit der Strafe anzuerkennen und in der tieferen
Ausgestaltung ihres abstoßenden und mißgünstigen Charakterbildes
werden sie nur bestärkt.
Am meisten aber leiden unter der Strafe die paranoischen
Naturen. Das sind die Kinder mit der gänzlich verschrobenen Auf-
fassung, mit dem verschlossenen mißtrauischen Wesen, die meist mit
ihren Kameraden nichts zu tun haben wollen, die verdrossen und
mißtrauisch ihre Anstaltskarriere durchmachen. Immer glauben sie
sich hintangesetzt und ungerecht behandelt. Die Hausordnung sehen
sie als ihre persönliche Feindin an, die geringfügigsten Anlässe ge-
14*
212 A. Abhandlungen.
nügen, um den chronischen Kampf gegen ihre Umgebung zur akuten
Ausgestaltung anzuschüren. Vermeintlichen Kränkungen setzen sie
einen dumpfen Groll und eine verbissene Gereiztheit entgegen.
Wie diese Zöglinge, die stets Geduld und Nachsicht der Erzieher
auf die härteste Probe stellen und die schon in den unverfänglichsten
Fragen und den harmlosesten Bemerkungen Kränkungen und Anzüg-
lichkeiten wittern, auf eine Strafe reagieren, in der sie nur die Steige-
rung der gegen sie gerichteten Widerwärtigkeiten erblicken, liegt auf
der Hand. Sie kann sogar gelegentlich den Erfolg haben, die bei
diesen Vertretern einer später deutlicher zutage tretenden Paranoia
im Unterbewußtsein schlummernden Wahnideen deutlicher auszu-
gestalten, ja sogar Sinnestäuschungen ins Leben zu rufen.
So erinnere ich mich noch an einen Vertreter dieser krankhaften
Gedankenrichtung, bei dem sich im Anschlusse an eine drohende
Züchtigung ein heftiger unter lebhaften Sinnestäuschungen einher-
gehender Erregungszustand eingestellt hatte, der zu sehr energischen
Selbstmordversuchen führte, wobei er sich den Schädel an der Wand
einzurennen versuchte. Es wurde sofortige Überführung in eine ge-
schlossene Anstalt erforderlich.
Das sind ja nun zum Teil wieder ausgleichbare Folgeerscheinungen.
Und man muß sich sagen, daß, wenn einmal eine solche Veranlagung
besteht, sie auch ohne das Eingreifen der Strafe zu der Verschlechte-
rung der angeborenen Anlage führen muß. Hält man sich aber vor
Augen, daß gerade bei diesen Charakteren die Strafe wieder voll-
kommen ihren Zweck verfehlt, dann muß man es doch als das ge-
gebene Prinzip ansehen, daß alles vermieden werden soll, was diesen
Stiefkindern der Fürsorgeerziehung ihr Los, das ihnen durch ihre
krankhafte Veranlagung schon sowieso genug getrübt ist, noch mehr
erschweren kann.
Im allgemeinen ist weiter zu berücksichtigen, daß ein großer
Teil der Zöglinge in der Pubertätsentwicklung steht. Die Um-
wälzungen dieser Periode bringen es mit sich, daß auf der einen Seite
eine vorübergehende ethische Verschlechterung eintreten kann
und daß die innere Unruhe und die gesteigerte Reizbarkeit Hand-
lungen im Gefolge haben, die eine Strafe verwirken. In diesem
Stadium besteht oft eine gesteigerte Empfindsamkeit und Weich-
heit desGemütes, die selbst durch berechtigte Strafen übermäßig
tief erschüttert werden. Außerdem ist, wie schon hervorgehoben, zu
bedenken, daß gerade in dieser Zeit die geschlechtlichen Triebe eine
besonders große Kraft haben, so daß der gefährliche Einfluß der
körperlichen Züchtigungen sich in der Steigerung und krankhaften
Mönkemöller: Die Strafe in der Fürsorgeerziehung. 213
Verkehrung der sexuellen Triebe ganz besonders stark geltend
macht.
Die Fürsorgeerziehung umfaßt weitherhin gerade die Zeitspanne,
in der eine der verbreitetsten und zerstörendsten Geisteskrankheiten,
das Jugendirresein, am häufigsten zum Ausbruch kommt. Der
erste Beginn ist häufig so unmerklich, der Verlauf so schleichend, daß
sich die Krankheit dem Auge der Laien entzieht. Um so häufiger
kennzeichnet sich die Krankheit durch Nachlässigkeiten, durch Eigen-
sinn, Widerspenstigkeit, durch törichte Handlungen, die das Opfer des
Jugendirreseins der Strafe in die Arme werfen. Daß hier, wo es sich
um eine ausgesprochene Geisteskrankheit handelt, die Strafe unter
allen Umständen verpönt sein muß, ist selbstverständlich, auch wenn
man nicht nachweisen kann, daß sie einen direkten schädlichen Ein-
fluß auf die Krankheit ausübt, die doch unerbittlich ihren Lauf nimmt.
Nur ist leider die Krankheit in diesen ersten Anfängen und bei dieser
schleichenden Entwicklung sehr wenig manifest und entgeht erst recht
der Entdeckung durch den Laien.
Ein Unrecht fügt die Strafe auch den hysterischen Kindern
zu. Hier kommt ja zu der hysterischen Launenhaftigkeit und Lügen-
haftigkeit, die oft den Unwillen des Erziehers herausfordert, die Neigung
zu Klagen über körperliche Leiden, die den Eindruck der Simu-
lation machen, obgleich sie gerade so tief davon betroffen werden, als
wären sie mit wirklichen Leiden behaftet. Gerade wenn man gegen
diese anscheinend simulierten Krankheitszuständen strafend vorgeht,
droht dem Erzieher selbst eine gewisse und nicht zu unterschätzende
Gefahr. Durch eine Ohrfeige kann die hysterische Taubheit aus-
gelöst werden, ein leichter Schlag gegen den Kopf hat die hysterische
Stummheit im Gefolge, leichte Schläge gegen das Gesäß werden
von einer Lähmung der unteren Extremitäten gefolgt, Gewalt-
einwirkungen gegen die Extremitäten ziehen Gefühlsverluste und
krampfhafte Zusammenziehungen der Glieder nach sich. Das sind ja
zwar Leiden, die sich ausnahmslos nach einiger Zeit wieder ausgleichen.
Aber der Lehrer kommt in den Verdacht der schwersten Brutalität,
ja er kann auf diese Weise vor das richterliche Forum gezertt
werden.
Bei den Kindern selbst bringt es die abnorme Leichtigkeit
des Stimmungswechsels und die gesteigerte Beeinflußbarkeit des
Empfindens durch äußere Einflüsse mit sich, daß eine unverhältnis-
mäßig starke Verstimmung verursacht wird, daß eine tiefere Depression
gesetzt werden kann, ja es kann auch hier zu Selbstmordversuchen
kommen.
214 A. Abhandlungen.
Weniger ungünstige Folgen hat die Strafe bei den nervösen
Kindern, die durch die Labilität ihres Wesens, die Unfähigkeit, sich
konzentrieren zu können, ihre Zerstreutheit, dem Erzieher zu schaffen
machen. Den größeren Strafapparat setzen sie nicht in Bewegung, so
daß unangenehmere Nachwirkungen nicht in Betracht kommen.
Die psychopathischen Konstitutionen endlich, die in der
Fürsorgeerziehung eine so große Rolle spielen, verfallen hier zwar nicht
den verunglückten Erziehungsexperimenten, denen sie in der Familie
so oft unterworfen werden, und in denen die ererbte Psychopathie
der Eltern oft in Prügelorgien ihren Austrag findet. Aber die Krank-
haftigkeit der Veranlagung kommt gerade bei diesen Vertretern der
Minderwertigkeit recht oft nicht zur Erkenntnis. Die pathologischen
Lügner und Betrüger, die chronisch Manischen kommen ebenfalls mit
der Justiz der Fürsorgeerziehung in Konflikt. Manche von ihnen,
die depressiven Naturen, die labilen Gemüter werden in ihrem Emp-
pfindungsleben beeinträchtigt. Die Affektmenschen reagieren wieder
auf die Strafe mit heftigen motorischen Entladungen und was von
der Einwirkung der Strafe auf diese Vertreter der Minderwertigkeit
zu halten ist, das kommt den meisten Pädagogen nach einiger Zeit
meist melancholisch zum Bewußtsein.
Damit sind natürlich die Beziehungen der Strafe zu der psycho-
pathischen Veranlagung nur in den gröbsten Zügen skizziert. Die
Praxis schreitet über diese Verallgemeinerungen fort. Die individuellen
Verhältnisse sind in jedem Falle anders. Die äußeren Umstände, die
augenblickliche Stimmung, die Persönlichkeit des Strafenden, die Art
und Weise, wie die Strafe vollzogen wird, tun selbstverständlich das
ihrige, um die Verhältnisse in jedem Falle anders zu gestalten.
Ausnahmen von der Praxis bestätigen aber die Regel. Die Tat-
sache, daß manche von diesen theoretisch gefährdeten Individuen in
der Praxis äußerlich keine direkte Schädigung durch die Strafe er-
kennen lassen und daß sie andererseits dadurch anscheinend günstig
beeinflußt werden, berechtigt uns nicht dazu, von dem Prinzip abzu-
weichen, daß bei einem nicht unbeträchtlichen Teile der Fürsorge-
zöglinge schwere psychiatrische Bedenken in den Strafvollzug hinein-
ragen.
Früher brauchte der Erzieher sich nicht mit diesen Bedenken
abzuplagen, da ihm wohl die Sonderlichkeiten mancher seiner Er-
ziehungsobjekte zum Bewußtsein gekommen waren, ohne daß er aber
doch zu einer klaren Erkenntnis der psychischen Abnormität kommen
konnte. Was hier unbewußt gesündigt worden ist — und noch ge-
sündigt wird — darüber ließe sich ein langes Kapitel schreiben.
Mönkemöller: Die Strafe in der Fürsorgeerziehung. 215
Jetzt ist wenigstens die allgemeine Kenntnis von der in diesem
Materiale steckenden Psychopathie in die Fürsorgeerziehung schon in
erfreulichem Maße eingedrungen.
Wie diese Erwägungen auf den Einzelfall zutreffen, wie man
diese psychiatrische Anschauung in die Praxis überträgt, wofern man
die Erziehung nicht überhaupt ohne Zuhilfenahme der harten Straf-
maßnahmen durchführen will, das setzt zunächst die Mitwirkung
des Psychiaters in ganz erheblichem Maße voraus, mag auch der
Erzieher noch so sehr aktiv bemüht sein, auf diesem Gebiete
heimisch zu werden und nicht nur theoretische, sondern auch prak-
tische Kenntnisse zu sammeln.
Man könnte ja an eine ärztliche Untersuchung vor der
Exekution denken, wie sie in Detentionsanstalten Sitte ist und
auch in vereinzelten Erziehungsanstalten gehandhabt wird.
Aber der Arzt ist nur in den wenigsten Anstalten ungesäumt zu
erreichen, und die Strafe, soll sie wirksam sein, muß dem zu ahnden-
den Vergehen ungesäumt auf dem Fuße folgen. Dabei braucht man
gar nicht die Frage zu erörtern, inwieweit der Arzt ohne besondere
psychiatrische Ausbildung, die sogar für dies Gebiet noch eine be-
sondere spezialistische Vertiefung beansprucht, dieser äußerst
schwierigen Aufgabe gerecht werden kann. Denn die Zöglinge be-
finden sich vor der Strafvollziehung, wie ich aus meinen eigenen
praktischen Erfahrungen als Anstaltsarzt in der Zwangserziehung weiß,
in einer derartig gespannten Stimmungslage, daß es in diesem
Momente vollkommen ausgeschlossen ist, der wahren psychischen Ver-
fassung auf den Grund zu kommen. Und ist einmal den Zöglingen,
denen es in dieser Beziehung nicht an dem nötigen Verständnis
mangelt, bekannt, daß zwischen dieser Untersuchung und dem Aus-
bleiben der Strafe ein ursächlicher Zusammenhang besteht, dann
müssen wir gewärtig sein, in kürzester Frist Simulations- und Aggra-
vationsbestrebungen zur üppigsten Blüte gedeihen zu sehen.
Die Rücksicht auf den Strafvollzug ist einer der Gründe, die auf
das Dringendste dafür sprechen, daß vor der Anstaltsaufnahme
oder doch so bald wie möglich hinterher eine möglichst eingehende
Festlegung des Geisteszustandes der Zöglinge erfolgt. (Schluß folgt.)
216 A. Abhandlungen.
4. Die experimentelle Ermüdungsforschung.
Von
Marx Lobsien, Kiel.
(Fortsetzung.)
In der Abhandlung Schulzes gehen uns hier die Versuche mit
fortlaufender Arbeit an und unter diesen die dritte Reihe, wo der
Versuch einer Demonstration einer Überermüdungskurve gemacht wird.
Der Deutlichkeit halber empfiehlt sich, kurz auf die voraufgegangenen
Untersuchungen der normalen Muskelermüdung einzugehen. Schulze
wandte zur Messung der normalen Muskelermüdung das mehrstündige
Abschreiben von Ziffern an. Er stellte seinen Versuch mit Er-
wachsenen an während eines Zeitraums von vier Stunden. Das Ab-
schreiben von Ziffern ist ein so automatisches Geschehen, stellt so
geringe Anforderungen an das augenblickliche Besinnen und Ent-
schließen, daß Schulze berechtigt ist, es in erster Linie als ein
muskuläres, die Ermüdung als eine muskuläre aufzufassen. Das Er-
gebnis der Schulzeschen Untersuchungen ist: Die muskuläre Leistungs-
fähigkeit fällt unter den Wirkungen normaler Ermüdung erst langsam
und dann immer schneller. Der Abfall scheint gesetzmäßiger Natur
zu sein, wenigstens ließ sich ungefähr konstatieren, daß, während die
Zeit geometrisch zunimmt, die Leistung arithmetisch abnimmt.
Die Überermüdungskurve zeigt einen anderen Verlauf, wie
Schulzes Versuch einer Demonstration derselben offenbart. Eine
Überermüdungskurve läßt sich nur dann gewinnen, wenn dem Haupt-
versuch ein Vorkursus voraufgeschickt wird, dessen Aufgabe es ist,
die Leistungsfähigkeit bis an ihre äußerste Grenze zu steigern, d. h.
bis zu dem Kulminationspunkte, über den hinaus keinerlei Steigerung
möglich ist. Es gilt, die Übungswirkungen auszuschalten, soweit das
irgend möglich ist, denn es hat sich übereinstimmend durch eine
große Zahl verschiedener Versuche nachweisen lassen, daß auch solche
Betätigungen, die hundertfältig im täglichen Leben gefordert und ge-
übt werden, dennoch unter Training eines erheblichen Zuwachses in-
folge der Übung fähig sind, und daß Ruhepausen von bestimmter
Dauer alsbald einen Übungsverlust im Gefolge haben. Somit wird jede
Arbeit auch einfachster, elementarster Art, nach gewissen Zwischen-
räumen, dennoch unter Übungswirkung stehen und mit geringerem
oder größerem Leistungsauftrieb beginnen.
An den Vorübungskursus schloß sich nun der Hauptversuch
während eines ununterbrochenen Zeitraums von sechs Stunden. Er be-
stand im fortlaufenden Addieren im Kopfe ohne Niederschreiben unter
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 317
Kontrolle eines Assistenten; keinerlei Ruhepause, keinerlei Erfrischung
unterbrach die fortlaufende Arbeit. Die Arbeit vollzog sich fortwährend
unter möglichst hoher Anspannung der Kräfte. Offenbar erforderte
sie nicht nur — ja wohl in minderem Grade — psychophysische
Arbeitsanstrengung, sondern auch ein hohes Maß von Selbstüberwindung,
die getragen wurde durch die auf eine bestimmte Aufgabe gerichtete
Absicht. — Das Ergebnis war überraschend, in gewissem Sinne den
sonst in der Ermüdungsliteratur niedergelegten Resultaten und deren
Deutungen völlig entgegengesetzt. Schulze bewältigte insgesamt
rund 36000 Aufgaben, also durchschnittlich in einer Stunde 6000.
In der ersten Stunde fand sich eine Leistung von 6660, in der letzten
eine Gesamtarbeit von 5673 Aufgaben, insgesamt also ein Minus
von 987 oder rund 1000 Aufgaben. Der Abfall der Leistungskurve
vollzog sich anfangs schnell, dann aber langsam. Als Hauptresultat
ist anzumerken: Trotz der sechsstündigen Arbeit ist die Ver-
ringerung der Leistung relativ unbedeutend. »Die Muskel-
ermüdung (und die geistige Ermüdung) bewirken von Anfang an
eine Verminderung der Arbeitskraft und zwar sinkt die Leistung am
Anfang schneller als später. Bei dem Versuch zeigte sich wiederholt,
daß infolge unbeabsichtigter Massage, wie starkes Schlagen gegen den
Oberschenkel, die eine Anregung der Blutzirkulation veranlaßte, eine
Steigerung der Leistung einsetzte, ein deutliches Anzeichen für die
Bedeutung der Muskelermüdung bei dieser Art der Arbeit.«
Also: die nervöse Arbeitskraft zeigte sich bei den Schulzeschen
Versuchen wenig, die muskuläre ganz bedeutend mehr herabgesetzt.
Der Schulzesche Versuch lieferte eine Illustration zu der Wir-
kung einer ungewöhnlichen Willensanspannung auf die Leistungsenergie
— und auf den Nachweis kam es an dieser Stelle zunächst nur an.
Der Wirkung des. Willens auf die Leistungsfähigkeit werden wir
hernach wieder begegnen, wenn wir die Arbeiten der Kraepelinschen
Schule näher würdigen müssen. Hier möge nur u. a. daran erinnert
werden, daß eine langweilige Arbeit, zumal, wenn man ihren Zweck
nicht beurteilen kann, erheblich eher zu geringeren Leistungen führen
kann, daß gegen Schluß einer Arbeit oft noch ein energisches An-
schwellen der Arbeitskraft zu beobachten ist.
Will man zuverlässige Erfahrungen über die Wirkung der Er-
müdung sammeln, dann ist es notwendig, mit aller Sorgfalt den Wir-
kungen des Willens nachzuspüren, da gerade sie geeignet sind, als
oft schwer kontrollierbare subjektive Ursache, die reine Ermüdungs-
wirkung zu überdecken. Die Würdigung kann positiv und auch
negativ geschehen, positiv durch ein Verfahren, das den Willens-
218 A. Abhandlungen.
äußerungen im einzelnen sorgsam nachgeht, das vor allen Dingen
genau die subjektiven Erfahrungen der Versuchspersonen während
der experimentellen Prüfung zu erkunden trachtet — negativ, indem
eine solche Versuchskonstellation von vornherein erstrebt wird, die
mit einem möglichst hohen, am besten maximalen, Einsatz von Willens-
energie zu rechnen vermag — nur dann kann man einigermaßen
darauf vertrauen, daß man einen zuverlässigen Maßstab, ein relativ
einwandfreies Reagens gewinnt. Das wesentlichste Mittel, das zu
erreichen, ist die Anwendung von Stimulation, die Anregung des Ehr-
geizes im gemeinsamen Wettbewerb der Prüfling. Man wird also
mit Maximal-, nicht mit Optimalleistungen operieren können und
dürfen. Man wird zum Vergleich aller einzelnen Ergebnisse der
Muskelleistungen eine Höchstleistung zugrunde legen müssen, nämlich
jeweils diejenige, die unter günstigsten äußeren und inneren Be-
dingungen im Zustande voller geistiger und leiblicher Frische und
voller Bereitschaft und Geneigtheit zu energischer Muskelspannung
gewonnen wurde, und die Abweichungen davon als Maßstab für die
Wirkungen des jeweils aktiv gewesenen Agens im Sinne der Er-
müdung verwerten. Man wird also ausschließlich Wertangaben mit
negativem Vorzeichen erzielen können. Eine Standardleistung kann
nur gewonnen werden mit Hilfe der Durchschnittsrechnung und dann
als Maßstab individueller oder bestimmter Gruppenleistungen angelegt
werden.
Nach diesen allgemeinen Erwägungen, wenden wir uns einigen
speziellen zu! Das Dynamometer kann nur zur Messung momentaner
physischer Leistungen gebraucht werden oder doch nur solcher, die
in längeren oder kürzeren Zeitabschnitten aufeinander folgen. Es hat
zur Messung der Ermüdung nur wenig Verwendung gefunden, mög-
lich, daß der Weilersche Arbeitsschreiber größere Wertschätzung
finden wird. (Bei Weiler oder Verworn wolle man die genaueren
physiologischen Grundlagen nachlesen, die zu einer Beurteilung des
Dynamometers notwendig sind.) Das Dynamometer hat verschiedene
Beurteilung erfahren — ein Beweis dafür, daß die Forscher ver-
schiedendeutige Erfahrungen gemacht haben. Der wesentlichste Ein-
wand, den man der Methode gemacht hat ist, daß nicht möglich sei,
eine bestimmte Muskelgruppe fortdauernd in Anspruch zu nehmen.
Im besonderen beruhen die gegeneinanderstehenden Wertschätzungen
vielfach auf der Verkennung gewisser versuchstechnischer Umstände,
die eine sorgliche Beachtung beanspruchen, wenn man auf überein-
stimmende Ergebnisse rechnen will. Zunächst ist sehr wesentlich, zu
entscheiden, wann der Versuch vorgenommen werden darf, den Zeit-
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 219
punkt zu wählen, der eben nur durch solche Bedingungen beeinflußt
wird, die beabsichtigt sind oder doch bewußt zugelassen werden — doch,
auf diesen Punkt näher einzugehen wird sich hernach noch Gelegen-
heit bieten. Ferner: Die Messungen sind immer ungenau, wenigstens
läßt sich das Leistungsmaximum nur genau bestimmen, wenn mit dem
Dynamometer eine gute Registrierung verbunden ist — wie eine
solche der Arbeitsschreiber aufweist; denn die Zeiger machen, zumal
wo sie Leistungsmaxima anzeigen sollen, hin- und hergehende Be-
wegungen, aus denen das Auge des Experimentators immer nur
schätzungsweise ein leidlich sicheres Maß herausgreifen kann. Ferner:
Die Einlagerung des elliptischen Dynamometers für Zug, besonders
aber die für Druck in die Hand des Prüflings ist nur unter Anwen-
dung von besonderen Vorsichtsmaßregeln möglich, andernfalls ist
entweder ein einwandfreies Angreifen aller Muskeln, die unter normalen
Umständen in Wirksamkeit treten, nicht erreichbar, oder es entstehen
unbequeme Druck- und lästige Schmerzempfindungen, die auf die
Arbeitsleistung unbeabsichtigte und immer störende Nebenwirkungen
ausüben. Man hat versucht, dem Übelstande dadurch vorzubeugen,
daß man z. B. für Schulkinder Apparate von kleineren Dimensionen
anfertigen ließ. Ganz einwandfrei kann man aber nur dann verfahren,
wenn für jeden Prüfling ein Dynamometer benutzt wird, das den
Größen- und Formverhältnissen seiner Hand genau entspricht. Nimmt
man für eine größere Anzahl Versuchspersonen eine größere Anzahl
verschiedener Dynamometer, dann häufen sich offenbar die Beobach-
tungs- und Messungsfehler. Man sieht, daß bei dem Mangel einer
genauen mechanischen Registrierung der Druck- bezw. Zugleistungen
sich sehr wohl Fehler einstellen können, die zu einer verschiedenen
Wertung der Ergebnisse und der Methode (des Apparats) seitens der
Experimentatoren Veranlassung geben können. Die einwandfreiesten
Resultate wird man offenbar dann erzielen, wenn man sich auf eine
Versuchsperson beschränkt, über deren Verhalten und subjektive Er-
fahrungen bei der Handhabung des Apparats man genau Protokoll
führen kann — oder indem man zur Ausführung von Massenunter-
suchungen greift und auf die Wirkungen großer Zahlen seine Hoff-
nungen setzt: Je größer die Anzahl der Beobachtungen, die man häuft,
um so stärker werden Fehlerwirkungen und Fehlerursachen kompen-
siert, um so einwandfreier sind die Resultate. Je einwandfreier die
Resultate, desto größer natürlich ist die Übereinstimmung unter den
Urteilen der Forscher. Selbstredend darf man nicht ohne weiteres
jene subjektiven und diese kollektiven Untersuchungsresultate mit-
einander vergleichen wollen, sonst türmen sich gleich Widersprüche.
220 A. Abhandlungen.
Bei allen Versuchen kann es sich nur um eine einmalige oder doch
um eine sehr beschränkte Anzahl von unmittelbar aufeinanderfolgenden
Messungen handeln. Das Dynamometer soll als Reagens, nicht als
Agens Verwendung finden, und es muß unter allen Umständen ver-
mieden werden, daß die vom Apparat verlangte physische Leistung
selbst ermüdend wirkt und so die eigentlichen Agenswirkungen fälscht.
Manche der eben erhobenen Einwendungen haben auch Geltung
gegenüber der Ergographenmethode. Auch sie hat ganz wider-
sprechende Wertung erfahren. Der Haupteinwand, daß unmöglich sei,
eine bestimmte Muskelgruppe so zu isolieren, daß sie allein die ge-
forderte Arbeit leiste, kehrt mit starker Betonung hier wieder. In
richtiger Einschätzung dieser Wahrheit verzichten manche Forscher
auf eine derartige Konstruktion ihres Apparats; sie halten diejenigen Be-
mühungen, die sich solche Isolierung zur Aufgabe gemacht haben, für
vergeblich und belanglos. (Die übrigen technischen Schwierigkeiten
mögen außer Betrachtung bleiben.) Wesentlichere Fingerzeige für eine
kritische Betrachtung der Ergographenmethode lassen sich meines Er-
achtens aus einer Gegenüberstellung der landläufigen Versuchsergeb-
nisse, wenn man so sagen will, und den davon stark abweichenden
von Tröves herleiten. Es muß auffallen, daß die Untersuchungs-
ergebnisse so wesentlich verschiedener Art sind, sofern Gewichte von
ungleicher Größe bei den Versuchen Anwendung finden. Man wird
dann, wenn man das Ergogranım als Reagenswirkung verwertet, schon
aus versuchstechnischen Gründen bemüht sein, eine relativ hohe
mechanische Arbeit von dem Prüfling zu fordern; denn einerseits hat
man ein starkes Interesse daran, möglichst schnell und einwandfrei
das Resultat zu fixieren, zumal wenn man bestrebt ist, größere Er-
gebnisreihen zu gewinnen, andererseits würde ein länger dauernder
Ergographenversuch die durch das zu beurteilende Agens veranlaßte
Ermüdung ganz überdecken, zum mindesten in solchem Maße fälschen,
daß die berechneten Meterkilogramm nicht als Ausdruck für die
geistige Ermüdung gelten dürften. — Unter der Voraussetzung, daß
die Aufgabe gestellt wird, größere Gewichte zu heben, besteht, zweifel-
los zu Recht, daß keine Willensanspannung das Muskelleistungs-
minus zu kompensieren vermag. Wie aber, wenn etwa mittels eines
Gewichtes von 4!/, kg bis zur Erschöpfung gearbeitet worden ist
und nun nach dem Vorgange Schulzes, eine unmittelbare Fort-
setzung des Versuchs stattfindet, wenn das Gewicht auf 3 kg er-
leichtert worden ist? Jetzt ist die Versuchsperson trotz der vorher
konstatierten totalen Erschöpfung imstande, weiter zu heben und
zwar — was doppelt verwunderlich ist — in »unendlicher Kurve«!
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 221
Ja, man ist nach Tröves imstande, für jede Versuchsperson ein Ge-
wicht zu normieren, mittels dessen die Gewinnung einer unendlichen
Kurve möglich ist. Nun wird man zwar von unendlicher Kurve nicht
in absolutem Sinne reden können, eine unendliche Kurve ist im ab-
soluten Sinne eine solche, die durch keinerlei Ermüdungswirkung be-
einflußt wird, also eine ideale Konstruktion, — es genügt hier die
Konstatierung der Tatsache, daß ein geringeres Gewicht eine ganze
Weile gehoben werden kann, ohne daß aus dem Ergogramm eine Ver-
minderung der Leistung abgelesen werden könnte.!) Offenbar kann die
Annahme einer totalen Erschöpfung nur unter Vorbehalt aufrecht er-
halten werden. Die einzige äußerlich zu konstatierende Veränderung
an der ganzen Versuchsanordnung ist die Herabsetzung des Gewichts
— das Resultat ist total verändert! Offenbar muß die Gewichts-
verringerung eine starke innerorganische Veränderung veranlaßt haben.
Gelingt nun doch dem Willen eine Überkompensierung der Er-
müdung? Werden andere Muskeln zur Entlastung herangezogen?
Die erste Frage kann theoretisch entschieden werden: Bestand eine tat-
sächliche Erschöpfung, dann ist dem Willen für sich allein schlechter-
dings unmöglich, die in den Muskeln aufgehäuften hemmenden
Toxine zu entfernen. Damit wird die zweite Frage in eine bestimmte
Beleuchtung gerückt. Die organischen Bedingungen, besser die physio-
logischen, müssen in beiden Fällen verschiedener Art sein. Zwar ver-
bietet sich wohl die Annahme, daß erheblich verschiedene Muskel-
partien dort und hier in Aktion treten sollten; aber, die erheblich ge-
ringere Last erlaubt ein schnelles Abfließen der bei forzierter Leistung
in den beteiligten Muskeln gehäuften Blutmassen und mit denselben
ein Hinwegfegen der hemmenden Toxine und eine Absättigung der-
selben. Damit ist physiologisch die Empfindung der Erleichterung,
der Erholung möglich. Es kommt ferner hinzu, daß bei dem Heben
großer Gewichte sich Schmerzempfindungen als Begleiterscheinungen
einstellen. Die psychische Interpretation dieser physiologischen Emp-
findungen ist selbstverständlich von großem Einfluß auf die Wirkung
des Willens. (Kontrastierende Empfindungen und Vorstellungen.)
Es wurde weiter oben ausgeführt, daß bei den Ergographen- (und
Dynamometer-) Versuchen mit Maximalleistungen gearbeitet, alle Er-
müdungsmaße infolgedessen in Minuswerten angegeben werden müßten.
1) Kraepelin redet von Selbststeuerung in dem Sinne, daß die Zerfallstoffe
durch ihre lähmenden Wirkungen eine wirkliche Erschöpfung des Kräftevorrats ver-
hindern, die Leistungen natürlich herabsetzen. — Meumann hält für wahrschein-
lich, daß eine Selbststeuerung des motorischen Apparats einsetzt, indem die Stoff-
zufuhr und die Regeneration der Gewebe dem Stoffverbrauch das Gleichgewicht hält.
222 A. Abhandlungen.
Die Trövesschen Versuche zeigen eine andere Möglichkeit, nämlich,
wie man Optimalleistungen verwerten kann. Man müßte im Zu-
stande der geistigen Frische diese optimale Leistungsfähigkeit fest-
stellen und dann sie als Reagens an geistige Leistungen anschließen.
Ein solches Verfahren hat, nach dem Urteile Schulzes, vor allem den
Vorzug, daß es den tatsächlichen Verhältnissen des praktischen Lebens
entspreche. Hier kommt es allerdings nur in besonderen Fällen vor,
daß momentane äußerste Kraftleistungen verlangt werden; am aller-
wenigsten wird man die maximale Kraftleistung zu einem Maßstabe
der Arbeitsfähigkeit machen, denn diese rechnet viel mehr damit, daß
eine geringere Kraftanspannung über einen möglichst großen Zeitraum
hinaus geleistet werde. Beide Voraussetzungen sind aber keineswegs
immer gegeben, sehr oft schließen sie sich aus. Hier kommt es nun
gar nicht darauf an, einen Maßstab für physische Leistungsfähigkeit
zu gewinnen, sondern man will ein Reagens auf geistige Arbeit. Da
aber erheben sich technische Schwierigkeiten, denn wie will man ein-
wandfrei feststellen, ob eine unendliche Kurve tatsächlich geleistet
werde? Genau genommen kann darüber nur eine Erfahrung ent-
scheiden, die sich über einen sehr weiten Zeitraum erstreckt, je kürzer die
Zeit, über die sich die Beobachtung erstreckt, desto geringer ist das
Maß von Wahrscheinlichkeit, mit dem man operieren darf. Über
einen minimalen Zeitraum hinaus aber darf der Ergographenversuch
nicht angestellt werden, wenn er überhaupt auf Wert Anspruch machen
kann. Aus diesem Grunde verbietet sich die Anwendung der Trèves-
schen Methode zur Messung geistiger Ermüdung.
Aber den wichtigen Dienst haben die Untersuchungen der Be-
urteilung der Ergographenmethode geboten: Sie haben unbedingt
sicher erwiesen, daß die (iestaltung des Ergogramms sehr wesentlich
beeinflußt wird durch die Größe der geforderten mechanischen Leistung,
die Höhe der zu bewegenden Kilogramm; sie haben gezeigt, daß
ganz verschieden deutbare Resultate sich herausstellen, wenn man
verschieden große Gewichte bei den Versuchen verwendet, in dem
Maße verschieden, daß entgegengesetzte Schlußfolgerungen unter Um-
ständen möglich sind. —
Bemerkung: Hier sind der Ergographenuntersuchung dankbare
Aufgaben gesetzt. Zunächst müßten umfängliche Untersuchungen an-
gestellt werden, um die Wirkung verschieden großer Gewichte auf
die Gestaltung des Ergogramms zu untersuchen. Es wäre sehr inter-
essant und wertvoll, zu erfahren, wie die Versuchspersonen sich der
sogenannten unendlichen Kurve annähern; das müßte teils mittels
kontinuierlicher, teils sprunghafter Abstufungen erforscht werden. Dabei
Hellwig: Statistisches über den Kinobesuch durch Kinder. 223
müßte möglichst sorgfältig Protokoll geführt werden über die subjek-
tiven Empfindungen der Prüflinge, man hätte dabei Gelegenheit,
etwaigen Suggestibilitätserscheinungen nachzugehen. Die Umtarierung
des zu hebenden Gewichtes müßte teils so geschehen, daß der Prüf-
ling den Vorgang beobachtet, teils unbemerkt. Die Versuche müßten
notwendig durch solche Experimente ergänzt werden, die einer Messung
der Dauer der unendlichen Kurve nachgehen. — Immer aber ist eben
die längere Dauer der experimentellen Erhebung das Haupthindernis
bei der Anwendung der Methode Trèves’ für die Messung der geistigen
Ermüdung. (Forts. folgt.)
5. Statistisches über den Kinobesuch durch Kinder.
Von
Gerichtsassessor Dr. Albert Hellwig (Berlin - Friedenau).
Assistent der Berliner juristischen Fakultät.
Eine besondere Studie über Kind und Kinematograph hat nur-
dann eine Berechtigung, wenn wir von zwei Voraussetzungen aus-
gehen: Einmal nämlich von der Annahme, daß Kinder einen be-
trächtlichen Teil der ständigen Kinobesucher bilden, und zweitens
von der Voraussetzung, daß die spezifischen Einwirkungen, des Kino-
besuchs sich gerade auf die jugendlichen Besucher in eigenartiger-
Weise oder doch in verstärktem Maße wie gegenüber den Erwachsenen
geltend machen; treffen diese beiden Annahmen zu, so ist ohne weiteres.
klar, daß wir vom Standpunkte des Jugendschutzes und der Jugend-
pflege aus an die Kinotheater und ihre Darbietungen ganz besondere-
Anforderungen stellen müssen, wie wir sie in gleicher Art oder doch.
in gleichem Maße nicht stellen könnten, wenn die Kinotheater lediglich.
oder doch fast ausschließlich von Erwachsenen besucht werden würden.
Mit der Frage, ob auch unsere erste Annahme zutreffend ist, wollen
wir uns hier etwas näher beschäftigen.
Wer heutzutage gelegentlich ein Kinotheater besucht, wird unter
Umständen zu der Annahme kommen, daß Jugendliche überhaupt
nicht oder doch nur in ganz verschwindend geringem Maße Kino-
theater besuchen. In den letzten Jahren sind nämlich fast überall
Polizeiverordnungen durchgeführt, nach welchen Jugendliche bis zu
einem bestimmten Alter — meistens 14 oder 16 Jahren — von einer
bestimmten Abendstunde an, beispielsweise nach 8 Uhr oder 9 Uhr
abends, Kinotheater nicht mehr besuchen dürfen. Wenn diese Ver-
ordnung auch in zahlreichen Fällen übertreten wird — natürlich ganz
besonders dort, wo die polizeiliche Kontrolle nicht scharf genug ist,
224 A. Abhandlungen.
oder wo die bei Übertretung festgesetzten Strafen zu geringfügig sind
— so haben diese sogenannten polizeilichen Kinderverbote doch be-
wirkt, daß in den Abendstunden der Besuch von Kinotheatern durch
Jugendliche, über den man mit Recht früher ganz besonders geklagt
hat, im wesentlichen aufgehört hat.
Damit hat aber keineswegs die Häufigkeit des Kinobesuchs durch
Jugendliche im allgemeinen abgenommen, wie man leicht erkennen
kann, wenn man ab und zu die Nachmittagsvorstellungen der Kino-
theater besucht: Dann wird man regelmäßig den bei weitem größten
Teil des Publikums aus Kindern bestehend finden. Es ist auch
allgemein von allen, welche sich mit der Sache beschäftigt haben,
anerkannt, daß Kinder noch immer einen sehr beträchtlichen Teil der
Kinobesucher bilden; trotzdem also durch die mittlerweile erlassenen
Kinderverbote eine gewisse Verschiebung stattgefunden hat, vielleicht
auch sogar eine geringe Verminderung des Kinderbesuchs konstatiert
werden kann, treffen die Ausführungen, welche ich in meinem Buche
über die Schundfilms!) über diese Frage gemacht habe, auch heutigen-
tages noch durchaus zu. Wie beträchtlich der Kinderbesuch auch
heute noch ist, kann man am besten daraus sehen, daß die Kino-
besitzer gegenüber den Versuchen, immer strengere Kinderverbote
durchzuführen, nicht ganz mit Unrecht geltend gemacht haben, es
wäre vielen von ihnen unmöglich zu existieren, wenn ihnen die Ein-
nahmen aus dem Kinderbesuch unterbunden würden.
Wir wollen es uns hier versagen, aus der Literatur und aus den
kinematographischen Fachzeitschriften Belege dafür anzuführen, daß
unsere Ansicht zutreffend ist. Es mag genügen zu konstatieren, daß
über wenige Fragen des verzweigten Kinematographenproblems solche
Einmütigkeit herrscht wie über die Tatsache, daß Kinder häufig die
Kinotheater zu besuchen pflegen. Wir wollen uns darauf beschränken,
einige statistische Angaben mitzuteilen, welche diese allgemeine Emp-
findung an konkreten Beispielen rechtfertigen.
In Berlin wurde im Jahre 1910 konstatiert, daß in einer Klasse
von 47 Mädchen im Alter von 11 Jahren sich bisher von den Kino-
vorstellungen vollkommen ferngehalten haben. . 2 Mädchen
ungefähr 1 bis 5 Vorführungen besucht 4 a
ş 6 bis 10 5 A I3 y
3 11 bis 20 x 5 16 ,
ie 21 bis 30 . 3 11 5
täglich besucht das Kinotheater . . . . 1
y
1) Hellwig, »Die Schundfilms. Ihr Wesen, ihre Gefahren und ihre Be-
kämpfung.« S. 47 ff. Halle a. S., 1911.
Hellwig: Statistisches über den Kinobesuch durch Kinder. 225
Von den 47 Mädchen verblieben 15 Mädchen bis 9 Uhr abends
ohne Begleitung erwachsener Personen im Kino und 22 Mädchen
sogar bis 11 Uhr nachts. 14 Mädchen wohnten den Vorführungen
ununterbrochen 4 Stunden lang bei und 11 Mädchen sogar 5 Stunden,
nämlich von 6 bis 11.1)
Über den Kinobesuch der 1050 Kinder der Westschule zu Jena
im Juni und Juli 1909 gibt uns Götze folgende lehrreiche Daten:
Von 1050 Schülern besuchten die Kinotheater
vom 7. bis 13. Juni . . . . 158 Kinder
vom 14. bis 20. Juni . . . . 90 ,
vom 21. bis 27. Juni . . . . 101 ,
vom 28. Juni bis 4. Juli . . . 70 ,
vom 5. Juli bis 11. Juli . . . 105
N
im ganzen also in 5 Wochen nicht weniger als 524 Kinder.
Diese Zahlen sind zwar an sich schon hoch genug; um sie richtig
einzuschätzen, muß man aber die Erfahrungstatsache berücksichtigen,
daß der Kinobesuch in den Sommermonaten allgemein ganz beträchtlich
nachläßt.
Daß im Winterhalbjahr der Prozentsatz derjenigen Kinder, welche
Kinovorführungen besuchen, noch größer ist, ergibt sich auch aus
weiteren Aufstellungen Götzes. Danach ergab nämlich die Statistik
im ersten Vierteljahr 1910 in sieben aufeinanderfolgenden Wochen:
192, 139, 100, 58, 63, 55 und 61 Kinder, trotzdem zu jener Zeit
durch das Schulamt der Besuch der Vorführungen untersagt war und
von einzelnen Lehrern das Verbot strenge durchgeführt wurde. Die
letzte zahlenmäßige Feststellung, die uns unser Gewährsmann mitteilt,
datiert vom 6. Februar 1911 und ergab, daß in der betreffenden
Woche gut ein Viertel aller Schüler ein Kinotheater besucht hatte,
nämlich 287 Kinder von den 1050 Schülern.
Bei diesen Zahlenangaben ist noch nicht einmal berücksichtigt,
daß mancher Schüler zwei bis dreimal wöchentlich die Kinotheater
besucht hat und daß manche mehrere Stunden sich dort aufgehalten
haben. Vor allem aber muß man wie Götze zutreffend bemerkt, be-
rücksichtigen, daß die Zahlen einen nicht unbedeutenden Aufschlag?)
erfordern — ob nun gerade einen 20 bis 50prozentigen, sei dahin-
') »Pädagogische Rundschau« Wien 1910, 1. Heft.
2) Umgekehrt mag es allerdings wohl auch vorkommen, daß Kinder aus
Renommiersucht gegenüber ihren Kameraden oder, weil sie glauben, ihren Lehrern
damit einen Gefallen zu tun, höhere Zahlen angeben, als sie der Wirklichkeit ent-
sprechen, y
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 15
226 B. Mitteilungen.
gestellt — um alle diejenigen miteinzurechnen, welche aus irgend
einem Grunde bei der Umfrage die Meldung unterlassen haben. !)
Ganz besonders wertvoll ist uns die gleichfalls von Götze mit-
geteilte Tatsache, daß die Kinobesucher sich in ganz besonders starkem
Maße aus den schwachbefähigten Kindern der Hilfsschule rekrutierten:
Während nämlich der Durchschnitt in den Normalklassen nur 8°/,
betrug, erreichte er in den Förderklassen mehr als 26°/,.
In Berlin-Schönberg hat der Magistrat zur Vorbereitung seiner
Vorlage über die Lustbarkeitssteuer im Sommer und Herbst 1911
wertvolle Materialien gesammelt, die weiterhin noch des öfteren benutzt
werden sollen. Eigentliche statistische Daten finden sich allerdings
leider nur ganz vereinzelt. So wird in dem Bericht des Rektors
Seifert vom 30 August 1911 erwähnt, daß von 25 Knaben der ersten
Klasse einer in diesem Jahre 45 mal, ein anderer 30 mal kinemato-
graphischen Vorführungen beigewohnt haben wolle; im Durchschnitt
seien die Knaben etwa zwölfmal im Kino gewesen.?2) Daß diese
Schätzungen mit einer gewissen Vorsicht aufzunehmen sind, ist selbst-
verständlich. (Forts. folgt.)
B. Mitteilungen.
1. Bericht über den IV. Internationalen Kongreß für
Schulhygiene zu Buffalo 1913.
Von A. J. Schreuder, Direktor des medizinisch - pädagogischen Institutes
Klein-Warnsboın, Arnheim (Holland).
»Die Welt kommt zusammen, um das Wohl des Kindes zu besprechen.«
Auf diese und ähnliche Weise kündigten die amerikanischen Zeitungsblätter
den Kongreß an. Es ist von dem Vorbereitungsausschuß eine riesige
Reklame für den Kongreß gemacht worden, und man muß sagen, mit gutem
Erfolg. Als ich Samstag in Buffalo ankam, waren mehrere Hotels schon
ganz besetzt. Am Tage vorher vernahm ich zu Grand Rapids von dem
Superintendenten des Unterrichts, daß er morgens bei zwei Hotels vergebens
telephonisch angefragt habe, ob noch ein Zimmer zu haben sei. Die Zahl
der Kongressisten wird auf zwei- bis dreitausend geschätzt. Die Zahl der
Delegierten allein beträgt fast tausend. Ob dieses dem Sekretär des Kon-
gresses, dem unermüdlichen, systematisch arbeitenden, immer freundlichen
Dr. Thomas A. Storey Recht gibt zu der Behauptung, daß dieser Kon-
1) Götze, »Jugendpsyche und Kinematograph« (»Zeitschrift f. Kinderforschung
mit besonderer Berücksichtigung der pädagog. Pathologie«, Jhg. 16, 1911, S. 416 £.).
?) Aus dem amtlichen handschriftlichen Material des Magistrats za Berlin-
Schöneberg.
1. Bericht über den IV. Internationalen Kongreß für Schulhygiene. 227
greß der interessanteste Gesundheitskongreß sei, der je in den Vereinigten
Staaten abgehalten worden sei, kann ich nicht beurteilen, aber wohl weiß
ich, daß er in keiner Hinsicht hinter den drei vorigen Kongressen, denen
von Nürnberg, London und Paris zurücksteht, Tatsächlich war es ein
amerikanischer Kongreß mit einer Anzahl Ausländer zur Erhöhung des
Festglanzes.
33 ausländische Regierungen nahmen am Kongreß teil. Die deutsche
Regierung wurde vertreten von Prof. Dr. Selter aus Bonn, die öster-
reichische von Hofrat Dr. J. Breitenberg von Lenoburg, die englische
von R. H. Cowley, die französische von Dr. Félix Marcel, Inspektor
des Elementarunterrichtes, die niederländische von Dr. W. F. Unia Steyn
Parv& und von mir, die schwedische von Dr. F. Bager Sjögren, die
russische von Dr. Aderkas.
Nach amerikanischer Sitte fand Samstagabend eine Art Weihe-
versammlung in der Westminster Kirche statt, wo der Vorsitzende des
Kongresses, Dr. Charles W. Eliot, Präsident emeritus der Harvard
University, das Wort führte. Die Kirche war gedrängt voll, zahllose
Menschen standen in den Durchgängen. Ein ehrwürdiger Greis von fast
achtzig Jahren, aber noch voller Elastizität in Haltung und Gebärden, mit
tönender, voller Stimme, und einem immer neue Hoffnung schöpfenden
Idealismus, solch ein Mann war der Vorsitzende dieses Kongresses. Er
sprach über die Bewegung zur Hebung der Schulhygiene als einen Teil
des neuen sozialen Gefühls, das er eine unmittelbare Folge des Christen-
tums nannte. Er machte einen Vergleich zwischen dem Christentum und
den drei großen orientalischen Religionen: dem Buddhismus, dem Moha-
medanismus und der Konfuziuslehre, welche er durch lange Reisen, und
vielfachen, vertraulichen Verkehr mit ihren Bekennern hatte verstehen lernen.
Worin auch die großen Religionen übereinstimmen mögen, nur das Christen-
tum hat als Grundlage Liebe zu Gott und Liebe zum Nächsten. Das
Gleichnis vom Samariter ist nur im Christentum möglich und es ist die
Lehre aus diesem Gleichnis — »gehe und tue desgleichen« —, die uns
hier vereinigte. — Die Veranstaltung solch einer Weiheversammlung ist
meiner Ansicht nach eine sehr gute Gewohnheit; sie rückt die Arbeit der
folgenden Tage in ein höheres Licht und bringt diese spezialisierte Arbeit
in Verbindung mit dem großen Lebensproblem.
Den Sonntagmittag verbrachte ich in der mit dem Kongreß verbundenen
Ausstellung, die zwar noch nicht ganz fertig war, wo ich jedoch jetzt
ruhiger verweilen konnte, als es während der lebhaften Kongreßtage und
bei zahlreichem Besuch möglich sein würde. Der größte Saal von Buffalo
wurde für diese Ausstellung benutzt: das Auditorium am Broadway. Sie
war fast ganz amerikanisch, nur Schweden hatte eine schöne, vollständige
Einsendung, die von den Amerikanern sehr geschätzt wurde; die schwedische
Regierung hat hiermit ihrer Nation einen guten Dienst erwiesen. Aus
Deutschland waren nur Einsendungen da von den Firmen Soennecken,
Schick & Cie. und Zurcher & Furrer. Niederland war vertreten durch eine
Einsendung des Institutes »Klein-Warnsborn«, Pläne, Photographien usw.
enthaltend.
15*
298 B. Mitteilungen.
Wir vermißten hier eine Abteilung, für Methoden und Werkzeuge zu
pädologischer Untersuchung, obgleich Amerika doch auf diesem Gebiet
reichlich versehen ist. Auch die Abteilung Schulmöbel war sehr unzu-
länglich. Besonders reichhaltig war dagegen die Abteilung Schulenbau.
Man stand immer wieder bewundernd still vor den amerikanischen Schul-
palästen, die hier abgebildet waren. Besonders dem Bau der Gänge und
Treppen wird heutzutage in diesen ungeheuren Schulgebäuden große Auf-
merksamkeit gewidmet im Hinblick auf die Feuergefahr; besonders die ver-
hängnisvolle Feuersbrunst vor einigen Jahren in einer Schule in Ohio,
wobei mehr als hundert Kinder umgekommen sind, hat diese Frage in den
Vordergrund gerückt.
Ferner wurde meine Aufmerksamkeit gefesselt durch die große Ein-
sendung des berühmten Institutes für »Eugenics« zu Cold Spring Harbor
bei New-York, das von dem bekannten Dr. Davenport geleitet wird.
Man könnte das Wort Eugenics kurz übersetzen mit: Rassenverbesserung.
Man fand hier zusammengetragen, in Abbildungen, Tabellen und kurzen
Mitteilungen, eine Menge populärer doch wissenschaftlich feststehender
Kenntnisse über allerlei Einflüsse, die dem künftigen Kinde schaden, wie
Alkoholismus, Prostitution, venerische Krankheiten, Wahnsinn, Verstandes-
störungen usw. Die Erblichkeitsgesetze fand man auf anschauliche Weise
erläutert durch Familienstammbäume und durch Tierexperimente. Es hingen
hier schöne Bilder von den fünf großen Männern, die sich auf diesem
Gebiet verdient gemacht haben, darunter einige Daten aus ihrem Leben
und eine kurzgefaßte etwa zehnzeilige Übersicht ihrer Entdeckungen. Es
sind Galton, Darwin, Mendel, Weißmann und mein Landsmann Hugo de
Vries. Ferner hing hier eine vollständige Liste von den Staaten, in denen
augenblicklich künstliche Sterilisation gestattet ist, mit Angabe der Be-
dingungen. Ich greife aus diesem reichhaltigen Material nur einiges heraus.
Unter den vorgeschlagenen Verbesserungsmaßregeln fand ich u. a. Ab-
schaffung der Reglementierung der Prostitution, große Familien für die
sittlich und intellektuell höher Stehenden, größere Kenntnis der Sexual-
hygiene, ein Gesundheitszertifikat für beide Beteiligte als Bedingung zur
Eheschließung. Am meisten bewunderte ich die glänzende Popularisierungs-
methode.
Eine große Anzahl amerikanische Städte und allerlei besondere An-
stalten hatten etwas eingesandt, zuviel natürlich um dabei zu verweilen.
Die Universität von Buffalo schickte eine Anzahl Rückgratverkrümmungen
von Schulkindern — eine merkwürdige Sammlung. Chicago sandte Ab-
bildungen und Angaben über seine zahlreichen Spielparke mit Turnsälen
und Schwimmanstalten. Ein großer Teil der Einsendungen bezog sich
auf Kinderstudium und Kinderschutz. Dafür tut man hier sehr viel.
Auch interessant waren die großen farbigen Abbildungen über die Arbeit
an Immigranten- Kindern von einer Art Bezirkskrankenpflegerin, deren Auf-
gabe es ist, die Kinder in die Schule zu bringen und die Mütter waschen,
kochen, Haushalt führen zu lehren und ihnen etwas praktische Hygiene
beizubringen.
Etwas Neues ist die Abteilung Schriften. Man findet hier zusammen
1. Bericht über den IV. Internationalen Kongreß für Schulhygiene. 2929
Tausende gedruckter Artikel über Schulhygiene und verwandte Gebiete,
aus der ganzen Welt, mit einem kurzen, in englischer Sprache verfaßten
Abriß des Inhaltes. Dr. Dreßler aus Nashville, Tenn. war der Organisator
dieser Abteilung. Ob die hierauf verwendete Arbeit sich lohnt, bezweifle
ich: es ist mehr Bibliothek- als Ausstellungsarbeit.
Über die Ausstellung möchte ich noch einiges bemerken. Die prak-
tischen Amerikaner haben einen Unterschied zwischen der wissenschaft-
lichen und der Handelsabteilung gemacht. Für letztere Abteilung mußte
bezahlt werden, für erstere nicht. Dadurch hat man vermieden, was die
Pariser Ausstellung so einseitig gemacht hat, nämlich daß nur Geschäfts-
leute ausgestellt haben. Weiter war der Zutritt zu der Ausstellung für
das Publikum frei, eine Maßnahme, die einen zahlreichen Besuch förderte.
Tatsächlich lag der propagandistische Teil des Kongresses in dem
Ausstellungsgebäude. Da wurden jeden Mittag gut besuchte Vorlesungen
für das gewöhnliche Publikum gehalten, die so reizvoll wie möglich an-
gekündigt wurden. Hier wurde z. B. auch eine psychologische Klinik ab-
gehalten: jeder Vater und jede Mutter konnte mit ihrem Kinde kommen,
um es psychisch taxieren zu lassen. Hauptsächlich wurden die Binet-Tests
angewendet. Es ging in dieser Klinik sehr lebhaft her und mehrere
Lehrer benutzten diese Gelegenheit, einer schnellen, systematischen psycho-
logischen Untersuchung beizuwohnen. —
Montagmorgen halb elf wurde der Kongreß in der üblichen Weise
eröffnet. Musik vor Anfang des Kongresses, das riesenhafte Konzertgebäude
dreiviertel voll. Buffalo nahm wirklich Teil an diesem Kongreß, das muß
man sagen. Die Einwohner brachten 40000 Dollar dafür zusammen, die
Stadt gab noch 30000 dazu! Alles ging jedoch sehr häuslich her. Der
Vertreter der Regierung der Vereinigten Staaten trug einen einfachen
Lüsteranzug. Der Bürgermeister von Buffalo benutzte die Gelegenheit, um uns
klar zu machen, daß Buffalo eine echte Weltstadt sei. Für eine amerikanische
Stadt ist solch ein Kongreß offenbar an erster Stelle ein Reklamemittel.
Die Vertreter der ausländischen Regierungen hielten in mehr oder weniger
verständlichem Englisch ihre kleinen, offiziellen Reden, mit Ausnahme des
deutschen, italienischen und südamerikanischen Vertreters, welche sich
ihrer Muttersprache bedienten. Die kleine Rede eines der niederländischen
Abgeordneten, der daran erinnerte, daß Buffalo von niederländischen Kolonisten
gegründet wurde und das älteste Haus in der Stadt von einem Holländer
gebaut worden ist, wurde herzlich aufgenommen. Auch der Mexikaner
und der Japaner wurden mit warmem Beifall begrüßt — offenbar spielte
die Politik auch hier eine Rolle, aber eine gute, friedfertige.
Die Organisation des Kongresses war ausgezeichnet, die Programme
waren von Stunde zu Stunde genau angegeben und wurden bis auf die
Minute genau ausgeführt. Die amerikanischen Sektionsvorsitzenden waren
davon durchdrungen, daß ihre Arbeit hauptsächlich daraus bestand, zeitig
anzufangen und zeitig zu endigen. Jede Stunde hatte man zwei oder drei
Vorträge von höchstens einer Viertelstunde, worauf eine Besprechung
folgte. Die nächste Stunde fing das neue Stundenprogramm an. Dieses
gab den auf solch einem großen Kongreß nicht genug zu schätzenden
230 B. Mitteilungen.
Vorteil, daß man gewiß sein konnte, einen Vortrag, den man zu hören
wünschte, zur angegebnen Zeit auch wirklich an der Tagesordnung zu
finden.
Der Kongreß wurde in sechs geräumigen Sälen des Rathauses, die
allgemeinen Sitzungen im Konzertgebäude abgehalten. Es gab drei Sektionen:
die erste umfaßte die Hygiene der Schulgebäude, der Schulmöbel, des
Terrains und des Reinigungsdienstes; die zweite umfaßte alles was sich
auf die verschiedenen Arten von Schulen, den Unterricht und dessen
Methoden, den Lehrplan und den Stundenplan bezieht. In Sektion drei
war alles untergebracht, was die medizinische und hygienische Schulaufsicht
betrifft. Bei jeder Sektion versammelte man sich in zwei Unterabteilungen.
Ferner gab es noch mehrere Versammlungen, die gleichzeitig mit
diesem Kongreß abgehalten wurden, wie die über die Kindergerichte mit nicht
weniger als fünf Sitzungen. Eine Eigentümlichkeit dieses Kongresses war
weiter, daß viele der Unterabteilungen nicht vom Kongreßvorstand geordnet
wurden, sondern Vereinen oder Gruppen von Personen übertragen worden
waren, die sich diesem speziellen Gebiet widmen. So gab es ein soge-
nanntes »Symposium« über Mundhygiene, vorbereitet von der »National
Mouth Hygiene Assoziatiuon«, und über die Schulbeleuchtung von der
>Illuminating Engineering Society«, usw. Diese Dezentralisation in der
Vorbereitung halte ich für eine der Hauptursachen des Gelingens dieses
Kongresses. Auf jedem Gebiet führen dadurch erstklassige Menschen das
Wort, die sich zu beschränken wissen auf dasjenige, was zur Zeit auf
ihrem Gebiet die großen Fragen sind.
In der ersten Sektion, Hygiene der Schulgebäude, sprach in der ersten
Sitzung der Verfasser dieses Berichts. Er gab eine Übersicht über die
hygienischen Verhältnisse in den niederländischen Schulen und hob hervor,
daß in keinem Lande der Welt die Minimalanforderungen für alle Schul-
gebäude im ganzen Lande bis auf die kleinsten Dorfschulen so hoch sind
wie in Niederland. Der Kongreßvorstand hatte darauf bestanden, daß in
dieser Sektion besonders die Hygiene der Dorfschulen in den Vordergrund
gerückt werden sollte, und im Zusammenhang hiermit erregten diese Mit-
teilungen über die niederländischen Schulen großes Interesse, das noch be-
sonders dadurch verstärkt wurde, daß sie gerade einem Bericht einer
Enquete über amerikanische Schulgebäude folgten, woraus hervorging, daß
eine erhebliche Anzahl Schulen hier zu Lande den Minimalanforderungen
in Niederland nicht genügen würde. Es zeigte sich, daß sogar in den
großen Städten die Einrichtung kostbarer Schulgebäude mehrmals nicht
den allerersten Anforderungen der Schulhygiene entspricht, besonders auf
dem Gebiete der Tagesbeleuchtung.
Ein Thema, das großes Interesse erregte, war der Bau der Schulen
im Hinblick auf die Feuergefahr. Architekt Cooper aus Boston hielt einen
Vortrag mit Lichtbildern, worin er die Theorie dieses Teilgebietes ent-
wickelte, und in einer merkwürdigen Reihe von Lichtbildern zeigte, wie
in den letzten zehn Jahren eine fortwährende Vervollkommnung des Schul-
baues in dieser Hinsicht stattgefunden hat, indem immer wieder neue Ver-
besserungen ausgedacht wurden. Jedes Lokal muß man auf wenigstens
2. Die Ausstellung zur vergleichenden Jugendkunde der Geschlechter. 231
zwei voneinander unabhängigen Wegen verlassen können, die Treppen
müssen nicht innerhalb, sondern außerhab der Mauern liegen, ein System
von rauchabschließenden Türen muß wenigstens ein System von Gängen
rauchfrei halten, usw.
In dieser Sektion wurden auch mehrere Vorträge über »open window«
Lokale und über die Einrichtung von Freiluftschulen gehalten. Hier in
der brennenden Sommerhitze werden die Schullokale oft so eingerichtet,
daß man von allen Seiten offene Wände hat und doch das Tageslicht nur
von links einfällt. Das gute Ergebnis solcher »fresh air« und »open
window« Lokale wurde in Vorträgen dargetan, u. a. aus New-York (Dr.
Woodruff) und aus Buffalo (Dr. Barows.) Der Architekt, der Spezialist
für Freiluftschulen zu sein scheint, trägt den gutholländichen Namen Jan
van Pelt, New- York. (Schluß folgt.)
2. Die Ausstellung zur vergleichenden Jugendkunde
der Geschlechter auf dem Kongress des Bundes für
Schulreform in Breslau 1913.
Bericht von A. Lode.
(Schluß.)
DI. Ebenfalls Untersuchungen über den freien Aufsatz von
Schülern beiderlei Geschlechts sind vom Bremer Institut für Jugend-
kunde unter Leitung von Dr. Valentiner ausgeführt worden.
Da das riesenhafte Material noch nicht restlos verarbeitet werden
konnte, begnügte sich die Ausstellung, »den Versuchsplan, ferner eine
Skizze über die Art der Verarbeitung des Aufsatzmaterials vorzulegen, und
an einigen Beispielen zu zeigen, in welcher Weise bei der Bearbeitung
verfahren wird«e. Nach den Angaben des Herrn Dr. Valentiner ist der
wissenschaftliche Zweck der Untersuchung vor allem, charakteristische
Unterschiede der Geschlechter, des Alters und des Milieus, soweit
sie im freien Aufsatz hervortreten, festzustellen sowie zur Lösung der
Frage des »freien Aufsatzes« beizutragen. Dementsprechend waren die
Themen, die den Schülern zur Auswahl gestellt wurden, so gewählt, daß
bei der Bearbeitung die Eigenart von Knaben und Mädchen verschiedenen
Alters deutlich zutage kommen mußte.
Neben den Ausstellungsobjekten, die über das »literarische« Schaffen
der Schüler Aufschluß gaben, nahmen einen breiten Raum ein
IV. a) Psychologisch-statistische Untersuchungen über
Zeichnungen von Volksschulkindern zum Thema »Schlaraffen-
land« von Lehrer P. A. Wagner (Waldenburg i. Schl.);!)
b) ein Versuch über Modellieren und Zeichnen bei Volksschulkindern,
Schwachbefähigten, Blinden und Taubstummen von Dr. W. Matz
(Breslau); ?)
!) Vergl. Zeitschrift für angew. Psychologie. Bd. 8 (1/2). 1913.
2) Vergl. Zeitschrift für angew. Psychologie. Bd. 4 u. 6.
232 B. Mitteilungen.
c) Unterschiede in den Zierleistungen bei Knaben und Mädchen der
Volksschule von G. Fr. Muth (Bensheim); !)
d) Unterschiede in der zeichnerischen Begabung von 8—12 jährigen
Knaben und Mädchen. (Ungarisches Museum für Kinderforschung
[Dir. L. Nagy)].)
e) Kindergartenuntersuchungen über Zeichnungen und Klebearbeiten,
Reproduktionsfähigkeit, sprachliche Auffassungsfähigkeit. (Aus dem
Inst. des Münchener Lehrervereins.)
Es würde zu weit führen, wollte ich über all das reichhaltige Material
hier referieren. Ich kann mich auch deshalb kurz fassen, da über die
Themen IVa und b ausführlich in der Zeitschrift für angew. Psychologie
(Leipzig, Barth) Bericht erstattet worden ist. So sei nur das Aller-
wesentlichste angeführt.
a) Bei den Mädchen überwiegen die primitiven Zeichenweisen (Raum-
losigkeit und Reihenbildung). Die Oberklassenleistungen der Mädchen sind
den Mittelklassenleistungen der Knaben gleichwertig. Besonders in die
Augen fallend sind diese Qualitätsunterschiede bei den Zeichnungen der
Knaben und Mädchen der Hilfsschule. In der Qualität der Ausarbeitungen
der einzelnen Motive stehen ebenfalls die Mädchen zurück. In besonderen
Fällen, wo ein Interesse eines der beiden Geschlechter vorliegt, steigern
sich auch die Leistungen. ' In der freien Erfindung sind die Knaben be-
deutend überlegen; ebenso in der Häufigkeit der gewollten humoristischen
Darstellung (20 : 10). Starke Bewegungen werden ebenfalls ausschließ-
lich von Knaben dargestellt. Reine Mädchenmotive treten 9 Arten auf,
dagegen 16 reine Knabenmotive.
b) Die Untersuchung von Herrn Dr. Matz verfolgte die dreifache
Absicht festzustellen
1. ob den Kindern das Zeichnen oder das Modellieren näher liegt;
2. welchen Einfluß der Mangel eines Sinnesorganes, sowie herabgesetzte
Intelligenz auf die räumliche Ausdrucksweise ausübt;
3. wie sich die Differenzen der Geschlechter äußern.
Der Versuch bestand im wesentlichen darin, daß drei verschiedene
Themen von denselben Kindern sowohl gezeichnet wie modelliert
wurden. Um den Einfluß des Zeichnens auf das Modellieren (und um-
gekehrt) festzustellen, wurde bei verschiedenen Gruppen von Versuchs-
personen die Reihenfolge beider Arbeitsweisen von Thema zu Thema ge-
wechselt.
Die Themen lauteten:
I. »Hört einmal folgende Geschichte: Vater und Mutter sind zu-
sammen spazieren gegangen; sie sind auf einen Berg gestiegen. Da ist
die Mutter müde geworden und hat sich hingesetzt.« (Für jedes Kind
3 Pfd. Ton und eine halbe Stunde Zeit.)
I. »Ihr kennt doch alle irgend eine Kirche? Wer von euch kennt
keine Kirche? Nun, so zeichnet (modelliert einmal in Ton) eine Kirche,
1) Vergl. R. Schulze, Aus der Werkstatt der exper. Psych. u. Päd. 3. Aufl.
Leipzig, R. Voigtländers Verlag, 1913.
2. Die Ausstellung zur vergleichenden Jugendkunde der Geschlechter. 233
mit allem. was dazu gehört! Irgend eine Kirche, versteht ihr, mit allem,
was dazu gehört!« (3 Pfd. Ton, eine halbe Stunde Zeit).
III. »Zeichnet einmal etwas, was ihr gerne einmal haben möchtet!
was ihr euch wünscht!«
Bei den Blinden fiel das Zeichnen weg. Je ein Thema wurde an
einem Nachmittag erledigt. —
Ergebnisse: Die absolut besten Lieferungen im Modellieren und
auch im Zeichnen brachten die taubstummen Knaben, die absolut
schlechtesten die Blinden, besonders die Mädchen. Im ganzen bestätigten
sich die Feststellungen Kerschensteiners über die Unterschiede der
Geschlechter auch für das Modellieren. Besonders bei den Wunschgegen-
ständen treten die Geschlechtsunterschiede recht deutlich hervor. — Die
guten Leistungen der sehenden Taubstummen, wie die schlechten der
Blinden beweisen, daß es beim Modellieren weniger auf das Getast als auf
das Auge ankommt. Das Modellieren fördert sicher die Klarheit und
Richtigkeit der Raumvorstellung nicht nur mehr als Worte, sondern selbst
als das Zeichnen. Modellieren sollte in allen Schulen eingeführt werden,
sowohl als Unterrichtsgegenstand neben dem Zeichnen, sowie auch als
Methode in allen anderen Fächern (Werkunterricht). —
c) Die Untersuchungen von Muth sind anzusehen als eine Fort-
setzung der Kerschensteinerschen Versuche. Es zeigte sich wiederum,
daß »das rhythmische Gefühl bei den Mädchen quantitativ stärker und
früher ausgeprägt ist als bei den Knaben«. Ergab sich aus den Unter-
suchungen Kerschensteiners, daß die rhythmischen Leistungen der
Knaben im 6. Schuljahr relativ stark zurückgingen, so zeigen die Unter-
suchungen Muths eine ähnliche Erscheinung, jedoch schon für das
5. Schuljahr. — Besonders wollte Muth durch seine Ausstellungen »einen
kleinen vorläufigen Beitrag zur Lösung der Frage nach den qualitativen
Unterschieden der Geschlechter lieferne. Abschließende Ergebnisse will
er nicht bieten, da sein Material zu gering sei. — Die untersuchten
Kinder stammten aus einer Koedukationsschule und gehörten dem 1., 3.,
5. und 7. Schuljahr an. »Die Aufgabe lautete: Das ist ein Teller (Schild),
den sollt ihr, so schön ihr könnt, verzieren.«e (Gegeben war den Kindern
a) die Vorzeichnung eines konzentrischen Ringes, als Teller bezeichnet,
b) der Umriß eines Schildes.)
Muth schreibt über seine
Ergebnisse: »Eine qualitative Überlegenheit der Mädchen möchte
ich auf Grund meiner Beobachtungen nicht anerkennen. Vielleicht wird
sich als Resultat dieser und weiterer Untersuchungen ergeben, daß jedes
Geschlecht besondere, in seiner Art aber gleichwertige Leistungen zu ver-
zeichnen hat.« »Auf Grund unseres Massenversuchs und unter Berück-
sichtigung von Einzelbeobachtungen ist über die Zierleistungen der Knaben
und Mädchen dies zu sagen: Die Mädchen zeichnen sich durch geschickte,
feine bis minutiöse Arbeitsweise aus. Auch wissen sie die belebten und
unbelebten Teile einer Fläche gut zueinander abzustimmen. Die Knaben
verhalten sich derb zugreifend, manchmal originell. Nicht selten wird der
234 B. Mitteilungen.
Wert ihrer Arbeiten durch Eigenschaften bestimmt, die außerhalb des
Ornamentalen liegen.«
d) Seminardirektor L. Nagy (Budapest) ließ im ganzen 7 Aufgaben
bearbeiten von Kindern, die eigentlich keinen systematischen Unterricht
gehabt hatten, und bearbeitete wissenschaftlich die 3 Aufgaben: I. Das
Weiden der Gänse, II. Die Schlacht, III. Die Hochzeit; dazu kam später
noch das Thema »Die Husaren«.
Die Ergebnisse waren gut übersichtlich (schematisch) dargestellt, so
daß die Geschlechtsunterschiede deutlich hervortraten. Nach dem Kataloge
sind die Ergebnisse die folgenden:
I. Realistischer Typus.
8 Jahre 9 Jahre 10 Jahre 11 Jahre 12 Jahre Mittelzahl
Knaben 42%, 703% 643%, 54 Yo 66,6%, 59,4%,
Mädchen 20 „ B og Gi 5 4,5 „ 3,4 „ 52 „
II. Ästhetischer Typus.
Knaben 57,8%, 29,6% 35,7% 45,9% 333% 40,5%
Mädchen 80 , 921 „ 94,1 „ 94,2 „ 96,6 „ 94,8 „
III. Mit Komposition.
Kunden 25 % 8% 70% 80% 65 %/, 65 o
Mädchen 42,8 „, 46,8 „ 68,6 „ 54,4 „ 34 „ 50 „
Ein qualitativer Unterschied der Kompositionsfähigkeit ergab sich
durch die Bearbeitung des Themas: »Die Husaren vor der Dorfkirche«:
IV. Ausdruck der Bewegung.
8 Jahre 9 Jahre 10 Jahre 11 Jahre 12 Jahre Mittelzahl
Knaben 333% 50 % 92,8% 818% 75 % 75%,
Mädchen 16,7 „ 15,8 „ 13,4 „ 33,3 „ 46,2 „ 26 „
V. Weiteres interessantes Material hatten ausgestellt:
a) Schularzt Dr. M. Schaefer!) (Berlin), Zur Frage der »Moralbegriffe
Jugendlicher« und
b) Frau Dr. L. Hoesch-Ernst über »Eigene Untersuchungen an
amerikanischen Volkskindern«.
Zu a) Der Versuch, die sittliche Reife der Jugendlichen zu messen
und analog dem Binet-Simonschen »Intelligenzalter« zur Fixierung von
»Moralitätsaltern« zu gelangen, wurde so begonnen, daß über 1000 geistig
normalen Berliner Schülern beiderlei Geschlechts vom 12. bis 18. Lebens-
jahre die Frage vorgelegt wurde: »Warum ist das Stehlen verboten ?«
Die Antworten wurden nach Altersstufen geordnet und nach folgendem
Schema bewertet:
I. Religiös gefärbte Motive.
A. Religiös gefärbter Egoismus.
B. Achtung vor Gottes Gesetz.
1) Vergl auch M. Schaefer, Elemente zur moral-psych. Beurt. usw. (Ztschr.
f. päd. Psych. u. exp. Päd. 14. [1 u. 2] 1913),
2. Die Ausstellung zur vergleichenden Jugendkunde der Geschlechter. 235
I. Nichtreligiös gefärbte Motive.
. Rücksichten auf das eigene Wohl und Wehe (»egoistische Motive«).
. Rücksichten auf die Familie.
. Rücksichten auf die soziale Gemeinschaft, auf den Gesellschafts-
bezw. Staatsorganismus (»sozialethische Motive«).
au
Von den Ergebnissen der Untersuchung sei das folgende hier
mitgeteilt:
Die Kurve »religiös gefärbte Motive« läuft bei Knaben und
Mädchen ziemlich parallel. Interessant ist ein plötzlicher Sturz (bei den
Knaben größer als bei den Mädchen) zwischen 13. und 14. Lebensjahr,
dann der fortgesetzte Abfall bei den Knaben und der Wiederanstieg bei
den Mädchen nach dem 15. Lebensjahre.
Die Kurve »egoistische Motive« zeigt noch geringere Zahlen werte.
Sie läßt erkennen, daß bei den Mädcheu das Selbstgefühl eher eintritt
(»mit dem früheren Pubertätseintritt?«) als bei den Knaben, sich dann aber
kaum merklich ändert.
Die Kurve »Rücksicht auf die Familie« »zeigt ein Überwiegen
(um das 10 fache) des weiblichen Geschlechts, soweit Familienmotive
überhaupt ausschlaggebend sind, namentlich vom 16. Jahre, wo in dem
Mädchen wohl schon die künftige Gattin und Mutter mit erheblich
potenziertem Familiengefühle sich regt«.
»Die Kurve ‚der sozial-ethischen Motive‘ ist im ganzen im
Rbythmus ein Spiegelbild der religiösen Kurve. Bei den Knaben steigt
sie, bei den Mädchen fällt sie (s. o.!). Der Höhepunkt von 68,2 °/,
(bei den Knaben) wird von keiner anderen Kurve erreicht!«
Zu b) Die Untersuchungen der Frau Dr. Hoesch-Ernst fanden statt
in Toronto, Kanada, an mehr als 5000 Knaben und Mädchen der drei
oberen Klassen und sollten zur Feststellung der Ideale der Schulkinder
dienen. Zur Beantwortung wurde von den Lehrerinnen (ohne jede weitere
Bemerkung!) an die Tafel die Frage geschrieben:
»Welches Wesen bewundert ihr am meisten und verehrt ihr am
meisten, dies kann eine Person aus eurem Bekanntenkreis sein oder auch
jemand oder etwas, wovon ihr gehört habt.«
Zur Begründung der Fragestellung führt Frau Dr. Hoesch-Ernst
an: >Ich wählte die Idealfrage, weil ich sie für die beste hielt, die durch-
schnittliche emotionelle Richtung der Kinder festzustellen. Wie wichtig
dies ist, und wie sehr diese die Grundlage für das geistige Leben und
die Entwicklung nicht nur des Kindes, sondern auch des Erwachsenen
werden kann, haben die Psychoanalysen von Prof. Freud (Wien) dargetan.«
»Es zeigte sich nun bei diesen Untersuchungen, daß 33,3 %/, aller
Knaben und 34°/, aller Mädchen ihre Mutter als Ideal angaben; nur
5,8°/, Knaben und 4,3 °/, Mädchen ihren Vater. Beide Eltern zusammen
wählten 14,9 °/, der Knaben und 17,9°/, der Mädchen. Die gesamten
elterlichen Ideale machten also 54 und 55,9 °/, aller Ideale aus. Der
Vater kommt dabei sehr schlecht weg, denn auch da, wo beide Eltern ge-
wählt wurden, schrieben die Kinder meist Mutter und Vater.«
236 B. Mitteilungen.
Aus den übrigen Ergebnissen seien noch die folgenden wiedergegeben:
»In derjenigen Klasse, welche verhältnismäßig die vorgerücktesten
Kinder hat, scheint das Schwanken einzutreten zwischen Wahl des eigenen
und des anderen Geschlechts.« »Die Intelligenteren dieser Stufe scheinen
sich etwas vom Mutterideal ab und den unpersönlichen Idealen zuzuwenden.«
»Das Hauptalter der Freundschaften für das gleiche Geschlecht liegt im
10.—11. Jahre mit rasch abfallender Kurve bei Knaben und Mädchen.«
»Unter den Rubriken, welche sich auf persönlich unbekannte Ideale
beziehen, ist bei den Knaben die Rubrik ‚Historische Ideale‘ entschieden
am größten; bei den Mädchen aber hat das Ideal für »Dichter und Schrift-
steller« die meisten Prozentsätze aufzuweisen. Hier tritt eigentlich der
größte Unterschied zwischen Knaben und Mädchen hervor.«e — »In allen
Altersstufen stehen die Prozentsätze der persönlich unbekannten Ideale
höher bei den Knaben als bei den Mädchen.e — »Wesentlich durchgreifend
sind die bestehenden Unterschiede zwischen Knaben und Mädchen nicht.«
— »Wenn wir von der Rubrik ‚Mutterideal‘ absehen, so ist für beide Ge-
schlechter das eigene Geschlecht vorwiegend Gegenstand der Wahl.«
»Das Hervortretendste an diesen Untersuchungen ist jedenfalls die so
außerordentlich starke Betonung des ‚Mutterideals‘.« —
Über »unmittelbares und mittelbares Gedächtnis im Schul-
kindesalter mit besonderer Berücksichtigung der Geschlechter«
gaben 5 Tafeln Aufschluß, die Dr. phil. Jos. O. Vértes!) (Budapest) aus-
gelegt hatte.
Die Methode seiner Untersuchungen bildete die Ranschburgische
Wortpaarmethode. Das unmittelbare Gedächtnis wurde nach 10 bezw.
15 Sek., das unmittelbare nach 24 Std. geprüft.
Die Ergebnisse der Untersuchung sind diese:
1. »Die Mädchen weisen bei den niedrigeren Umfangswerten (bis
85 °/,) kleinere, bei den höheren (von 85—100 °/,) größere Prozent-
sätze auf als die Knaben im Alter von 6—13 Jahren; von 85 °/, an trifft
die Kurve der Mädchen, welche die guten Umfänge zeigt, mit der der
Knaben nicht zusammen.«
2. »Die Mädchen weisen bei den kürzeren Zeitwerten (1,2—2,0°)
immer einen größeren Prozentsatz auf als die Knaben; die Knaben haben
bei den längeren Zeitwerten einen größeren Prozentsatz als die Mädchen.«
3. »Auch beim mittelbaren Gedächtnis ist der Umfang der Mädchen
größer als der der Knaben (82 °/, : 74,3 °/,); ebenso weisen die Mädchen
bei den kürzeren (besseren) Zeitwerten immer einen größeren Prozentsatz
auf als die Knaben, bei den längeren Zeitwerten ist die Regel nicht so klar.«
Zur Frage der »Beliebtheit der Unterrichtsfächer« ist von
C. Stern eine neue Methode vorgeschlagen worden. Die Ergebnisse einer
Untersuchung — »die infolge des nur wenig umfangreichen Materials
freilich nicht verallgemeinert werden dürfen« — liegen vor und zeigen
ebenfalls deutliche Geschlechtsunterschiede.
1) Vergl. O. Vértes, Das Wortgedächtnis im Schulkindalter. Zeitschr. f.
Psych. Bd. 63. 1912.
2. Die Ausstellung zur vergleichenden Jugendkunde der Geschlechter. 237
Das Neue in der Methode liegt darin, daß neben den Fragen
» Welche Fächer hast du am liebsten und am wenigsten gern?« an erster
Stelle die Fragen »Welche Fächer fallen dir am leichtesten und am
schwersten?« zu beantworten sind.
Es ergab sich nun zunächst, daß »auf je ein unbeliebtes Fach
bei den Mädchen 2,3, bei den Knaben nur 1,5 beliebte Fächer
kommen«. Ferner zeigte sich, daß zwischen Beliebtheitsgrad und
Schwierigkeitsgrad beim Mädchen eine geringere Korrelation besteht,
was besonders aus folgender Zusammenstellung zu erkennen ist:
Ze Mädchen
%
Von allen als »leicht« gen. Fächern sind zugl. »beliebt« 68 46
5 » »„ »lieb« 3 Mn » » leichte 62 37
m » p» »schwer« , 5 »„ » »unbeliebte 66 23
K » n» »unbel.« „, A: » —» »schwer« 71 28
»Daß Fächer, die starke Schwierigkeit bereiten, dennoch ausgesprochen
beliebt sind, begegnete bei 17 °/, Nennungen der Mädchen, dagegen nur
bei 8°/, der Knaben (schweres Fach bei beliebtem Lehrer!).«
Damit hätte ich die wichtigsten Abteilungen der Ausstellung
herausgehoben, die sich im großen und ganzen mit normalen Volks-
schülern beschäftigten.
Material zur vergleichenden Jugendkunde der Geschlechter hatten
außerdem noch Hamburger Hilfsschulen ausgestellt.
I. Zeichnungen: In der Klasse VI—I waren aus dem Gedächtnis
ein Straßenbahnwagen, ein Knabe und ein Mädchen zu zeichnen, ferner
eine Geschichte zu illustrieren. Dabei ergab sich, daß
1. »die Mädchen im allgemeinen farbiger zeichnen als die Knaben;
2. sich die Knaben etwas früher vom rein schematischen Zeichnen frei-
machen ;
3. die Knaben der Oberstufe und Mittelstufe mehr selbstbeobachtete
Einzelheiten einfügen und beim Illustrieren mehr wesentliche Merk-
male bringen;
4. auf der Unterstufe die Arbeiten der Knaben und Mädchen annähernd
gleichwertig sind.«
I. Bei einem Bericht über ein gemeinsames Erlebnis zeigte
sich, >daß die Mädchen verhältnismäßig bedeutend mehr inhaltlich
wertvolle Aufsätze geliefert haben als die Knaben (39,51 — 22,27 %/,)«
II. Was würde ich mit 10 M anfangen?
Knaben Mädchen
7 0 o
Es wollen sparen. > . o 2 2 oa a te cao a “16,13 13,33
Für Kleidung ausgeben. . . 2 . . . . . 6548 85,8
Spielsachen kaufen . . . 2 2 2 220.0. 20 9,16
Kür: Vergnügen. ss ur ar So. A 15,42
Abgeben, verschenken . . . 19,68 20,08
Beim Erfassen des Geldwertes versagen völlig «1,74 10,53
238 B. Mitteilungen.
IV. Einen Geschenkgegenstand für die Eltern fertigen.
Einige Ergebnisse:
Knaben Mädchen
/ 1
Gebrauchsgegenstände fertigten . . . 80,20 57,90
Ziergegenstände fertigten . . . . 19,80 42,10
Gegenseitig beeinflußt arbeiteten . . . 63,54 39,58
Materialgerechte Arbeiten fertigten . . 56,25 75
Gebrauchsfähige Gegenstände. . . . 90,62 89,47
Schmuck durch Farbengebung . . . 30,20 48,68
V. Wiedergabe eines Gebäudes als Aufklebearbeit in
farbigem Papier.
»Die Vergleichung zeigt, daß die Mädchen wesentlich besser gearbeitet
haben als die Knaben, sowohl in der Beobachtung der Größenverhältnisse,
als auch in der Wiedergabe der Einzelheiten und der Farben.« —
Nur erwähnen möchte ich zum Schlusse noch die außerordentlich
reichhaltige Ausstellung »statistischer und experimenteller
Resultate über psychische Geschlechtsunterschiede«, die
von Dr. O. Lipmann-Kleinglienicke zusammengestellt worden war. Zu
deren Studium hätte man allein viele Wochen verwenden können, bot sie
doch gegen 2000 Einzelergebnisse in graphischer Darstellung! —
Alles in allem. Die Ausstellung bot so viel des Interessanten und
Anregenden, daß sicher jeder Besucher — besonders natürlich der psycho-
logisch-pädagogisch interessierte — sie mit Gewinn verlassen haben wird.
Selbstverständlich forderte auch manche Tabelle zur Kritik und Stellung-
nahme heraus, die zum Teil auch schon während der Kongreßverhandlungen
geübt wurde. Wir haben den Bericht ohne kritische Bemerkungen ab-
gefaßt, ohne damit sagen zu wollen, daß wir uns mit allem Gebotenen
einvers anden erklären könnten. Eine kritische Beleuchtung einiger Aus-
stellungsobjekte — verschiedener Methoden und Ergebnisse — soll ge-
legentlich später einmal erfolgen.
3. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen.
Von Ernst Willich.
(Fortsetzung.)
Die primärste Äußerung des Erhaltungstriebes ist der Nahrungs-
trieb. Dieser spielt im Leben der meisten Schwachbegabten, in ihrem
Vorstellen, Fühlen und Wollen, eine ganz hervorragende, häufig sogar
dominierende Rolle. Auch in O.s Bewußtsein steht Essen und Trinken
an erster Stelle. Dabei ist ihm aber, und darin unterscheidet er sich von
den meisten seiner Leidensgenossen, die Qualität dessen, was er ißt,
mindestens ebenso wichtig wie die Quantität. Er ist kein »Fresser«
schlechthin, sondern er hat Anlagen zu einem Gourmand. Er verschlingt
nicht wahllos, was ihm geboten wird, er hält bei besetzter Tafel bestimmte
Auswahl. Was er nicht mag, läßt er auch bei starkem Appetit unberührt.
3. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen. 239
Diese verschiedene Bewertung der einzelnen Speisen ist bei ihm keine
instinktiv unbewußte, sondern sie beruht auf klar differenzierten Vor-
stellungen. ©. unterscheidet und benennt sämtliche Gerichte, die in einer
gut bürgerlichen Familie auf den Tisch kommen, nicht nur die relativ
leicht auseinander zu haltenden Gemüse und Desserts, sondern auch die
sich mehr oder weniger ähnelnden Fleischsorten in ihren vielfältigen
Zubereitungsformen. Rindfleisch, Kalbfleisch, Schweinefleisch, Kotelett,
Beefsteak, Rostbraten usw. sind ihm durchaus sichere und geläufige Be-
griffe. Sobald ihm irgendwo eine fremde Speise begegnet, erregt diese
seine ganze Aufmerksamkeit, und er ruht nicht eher, als bis er ihren
Namen erfahren hat. Speisegänge behält er mit fast absoluter Sicherheit
im Gedächtnis; nur die Aufeinanderfolge der einzelnen Gänge pflegt er
durcheinander zu werfen. Noch nach ein, zwei und drei Jahren vermag
er zu erzählen, was er z. B. auf Reisen da und dort gegessen hat. Und mit
diesen kulinarischen Vorstellungen ist dann meist auch sehr fest der
Name des betreffenden Hotels wie des betreffenden Ortes assoziiert, so daß
sich diese Vorstellungen bei ihm leicht als Reproduktionshilfen benutzen
lassen. Läßt man sich mit O. derart in eine Unterhaltung ein, daß er
allein die Führung behält und daß in ihm die Meinung erweckt wird, als.
würden seine Mitteilungen mit dem allergrößten Interesse aufgenommen,
dann kann man sicher sein, daß O. schon nach wenigen Minuten bei der
Schilderung irgend eines »feinen« Essens angelangt ist. Dabei macht
O.s Darstellungsweise gewöhnlich den Eindruck, als habe das fragliche
Essen in der allerletzten Zeit stattgefunden, während es in Wirklichkeit
Monate zurückliegen kann. Wenn man umgekehrt O. gut unterhalten
will, dann braucht man ihm nur zu erzählen, was einem bei dieser oder-
jener Gelegenheit aufgetragen wurde. Machen Bekannte von ihm Reisen
oder Ausflüge, so interessieren ihn aus deren nachträglichen Berichten.
nur die Mitteilungen über die genossenen Mahlzeiten. Zu O.s wichtigsten:
täglichen Obliegenheiten gehört es, die laufenden Menüs auszukundschaften,
und er pflegt dies in merkwürdig unauffälliger Weise fertig zu bringen.
Aber auch auf die Zubereitungsart der Speisen, auf ihre Einkaufs-
und Bezugsquellen dehnt sich sein Interesse aus, ein Beweis, daß seine
Aufmerksamkeit nicht ganz im Egoistischen stecken bleibt. O. weiß genau
(aus Erfahrung!), daß Gemüse in der Markthalle, Schweinefleisch bei diesem
und Rindfleisch bei jenem Metzger geholt wird, daß Brot und Brötchen
vom Bäcker, Konfekt und Torten vom Konditor, Käse, Wurstwaren usw.
vom Delikatessenhändler stammen, und er würde einen ins Gesicht hinein
auslachen, wenn man etwa Miene machte, in einer Wirtschaft Milch holen
zu wollen. So fest und sicher sitzen alle diese Begriffe und so logisch
sind sie miteinander assoziiert, daß O. eine Verwechslung derselben nicht
nur sofort bemerkt, sondern sie auch mit einem Heiterkeitsausbruch be-
antwortet. ©. ist auch stets darüber orientiert, von welchen Geschäften.
die einzelnen Nahrungsmittel augenblicklich bezogen werden, und wenn
eine Ware gelegentlich einmal Anlaß zur Unzufriedenheit gibt und sich
ein Wechsel des Lieferanten nahelegt, dann ist O. es ganz sicher, der
dies am wenigstens vergißt.
240 B. Mitteilungen.
Aber über diese unmittelbar praktischen Momente hinaus geht sein
Interesse nicht. Woher die Rüben, das Kraut, der Salat in der Markt-
halle hommen, wie Brot gemacht wird usw., kümmert ihn wenig. Er
weiß das eine oder andere wohl auf Grund empfangener Belehrungen,
aber aus sich hat er sicher nie darnach gefragt und würde auch nie
darnach fragen. Selbst wenn ihm gelegentlich früchtetragende Nutzpflanzen
lebend gezeigt werden (Kartoffeln, Gurken, Äpfel usw.), machen diese
kaum einen lebhafteren Eindruck auf ihn als völlig fremde oder kulinarisch
indifferente Gewächse. Birnen oder Kirschen im Korbe der Verkäuferin
ziehen seine Aufmerksamkeit sofort an, Birnen oder Kirschen auf dem
Baume aber reizen ihn kaum. Jene sind Objekte des Begehrens, diese
jedoch in der Regel nur Objekte des — Lernens!
Die starken Lustgefühle, die in Ö.s Bewußtsein mit den Vorstellungen
des Essens verknüpft sind, strahlen aber auch noch aus auf die Vorstellungen
der Gegenstände, die beim Essen gebraucht werden. In der Unterscheidung
und Benennung der Eß- und Tischgeräte kann O. es mit jedem normalen
Mädchen seines Alters aufnehmen. Dem Zimmermädchen beim Tisch-
decken zu helfen, ist eine seiner Lieblingsbeschäftigungen, und allein damit
betraut, würde er nicht das Geringste übersehen oder vergessen. Kommt
er an den für den Alltag gedeckten Tisch, so entdeckt er mit einem Blick
etwaige Lücken in der Tafelgarnitur. Wird zu festlichen Anlässen große
Tafel gedeckt, dann schwelgt er in den kleinen Handreichungen, die er
dabei leisten darf, und der Anblick wie der Gebrauch des feinen Tafel-
geschirrs bereitet ihm sichtliches Vergnügen. Der Sinn für das Vornehme,
Elegante ist bei ihm überhaupt stark entwickelt, ohne jedoch Einfluß auf
sein eigenes Verhalten (Reinlichkeit, Benehmen) zu haben. War er ohne
die Mutter irgendwo zu Gast, so ist es bei seiner Heimkehr das erste,
jener eine formal zwar kindliche, inhaltlich aber oft zum Erstaunen
minutiöse Beschreibung des gesehenen Tafelgeschirres zu geben, ein weiterer
Beweis dafür, daß O.s Aufmerksamkeit nicht ganz am sinnlichen Genusse
klebt, denn ein Mensch, dessen Interesse nur im Essen aufgeht, kümmert
sich nicht um das Aussehen und die Beschaffenheit des Tischgerätes.
Eine nicht minder wichtige Rolle als Essen und Trinken spielt in O.s
Bewußtsein die Kleiderfrage. Nicht nur, daß jedes neue Kleidungsstück
in ihm sehr starke Gefühle der Freude, des Stolzes und kindlicher Eitelkeit
wachruft, die er in harmloser Naivität ungehemmt zur vollen Äußerung
kommen läßt, sondern er besitzt auch relativ viel Sinn für das, was fein
und nicht fein, modern und nicht modern ist. Er weiß genau, das Zylinder-
hut, Stehkragen, Glacöhandschuhe, schwarzer Frack, Lackstiefel usw. den
vornehmen, eleganten Herrn ausmachen und bei welchen Anlässen die
einzelnen Toilettenstücke besonders gebraucht werden (den Zylinderhut
nannte er charakteristischerweise lange Zeit »Begräbnishut«), und dem-
entsprechend passen sich auch seine eigenen diesbezüglichen Wünsche
genau der bestehenden Mode an, wobei er sich jedoch innerhalb gewisser
Grenzen suggestiv leicht beeinflussen läßt. In gewissem Sinne gehört
hierher auch O.s beinahe exzentrische Vorliebe für Stöcke. Bei jeder
Gelegenheit (Weihnachtsfest, Osterfest, Namenstag) pflegt er sich einen
3. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen. 241
Stock zu wünschen, einerlei ob er ein ganzes oder ein halbes Dutzend
Exemplare dieses Gebrauchsgegenstandes im Schranke stehen hat. Ein
Spaziergang ohne einen Stock ist für ihn überhaupt kein Vergnügen; der
Schirm gilt, wenn es sich nicht zufällig um einen »funkelnagelneuen«
handelt, nur als minderwertiger Ersatz. Wenn es auf Reisen geht, möchte
0. immer am liebsten sein ganzes Stocklager in der Schirmtasche mit-
schleppen. Sobald ihm irgendwo in einem Schaufenster oder in der Hand
eines Bekannten eine ihm besonders gefallende Varietät dieses vielgestaltigen
Modeartikels zu Gesichte kommt, quält er solange mit Bitten, bis er ein
Exemplar davon besitzt. Dabei entwickelt er aber entsprechend seiner
kindlichen Anschauungsweise gar nichts von dem, was man sonst den
Kennerblick des Liebhabers zu nennen pflegt. Über den Wert, die Güte,
die Machart der einzelnen Stöcke besitzt er keine oder nur ganz unklare
Vorstellungen. Nach Kinderart fesselt ihn nur der Schein; Stöcke mit
glänzenden Verzierungen (und wenn es bloß Blech ist) stehen bei ihm
oben an. Daneben können gelegentlich auch mal derbe Feldstöcke und
naturwüchsige Bauernknüppel Gegenstände seiner Liebe werden. Diese
auffallend heftige Stockpassion O.s, die sich bei ihm schon sehr früh ge-
zeigt haben soll, mag zum Teil (wie seine noch größere Leidenschaft für
Peitschen, von der weiter unten die Rede sein wird) in einer angeborenen
Neigung ihre Ursache haben, zum Teil aber auch in der leichten und be-
quemen Handhabung dieses Spielzeugs und ganz besonders in dem bei O.
stark ausgeprägten Trieb, es Erwachsenen gleichzutun. Bezeichnend dabei
ist, daß O. mit seinen Stöcken, so sehr sie ihm auch ans Herz gewachsen
sind, doch nichts weniger als liebevoll umzugehen pflegt. Seine Un-
geschicklichkeit verbunden mit einer gewissen Roheit im Anfassen und
Gebrauch der Dinge überhaupt bereitet ihnen allen ein frühzeitiges Ende. .
Mit dem praktischen Interesse an den eigenen Kleidungsstücken
geht Hand in Hand ein mehr theoretisches Interesse gegenüber der
Garderobe fremder Personen. O. sieht an den Personen, mit denen er
zusammenkommt, immer zuerst die Kleidung, und dabei bekundet er eine
beinahe fabelhafte Schärfe des Blicks. Legt sich jemand aus seiner Um-
gebung ein neues Toilettenstück zu, und sei es auch nur eine Krawatte
oder ein Paar Handschuhe, so ist mit Sicherheit darauf zu rechnen, daß O.
dies sofort beim ersten Tragen bemerkt. Ein neuer Hut, mit dem ich
eines Tages vor O. erschien, entlockte diesem den Ausruf: »Das ist
der gleiche Hut, wie bei Herrn K.«, ein Herr, mit dem O. bis dahin
höchstens 2--3mal zusammengetroffen war. Ein andermal kaufte eine
augenblicklich bei O.s Mutter zu Besuch weilende Dame in O.s Gegenwart
in einem Geschäft eine einfache Kinderschürze Ein halbes Jahr darauf
hielt O. sich selbst einige Zeit bei jener Dame besuchsweise auf, und als
diese eines Tages ihrem Jüngsten eine frische Schürze anzog, erkannte O.
diese sofort wieder. Noch merkwürdiger ist sein Scharfblick für die
Toiletten weiblicher Personen. In der kürzesten Zeit ist er über Farbe,
Fasson, Besatz usw. eines Kostüms orientiert. Zur Illustration dieser
Tatsache diene folgender Fall. O. war von einer bekannten Familie zum
Kaffee eingeladen. Während der Visite erschien eine für O. fremde Dame.
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 16
242 B. Mitteilungen.
die sich aber nach wenigen Minuten wieder verabschiedete. Zum nicht
geringen Erstaunen der Hausfrau gab O. nachträglich eine viel detailliertere
Beschreibung des Kostiims jener Dame, als sie von sämtlichen Anwesenden
geliefert werden konnte. Ein andermal machte O. mit 4 befreundeten
Damen, mit denen er aber sonst nur selten zusammen kam, einen Nach-
mittagsausflug. Nach Hause zurückgekehrt beschrieb er seiner Mutter ein-
gehend die Garderobe derselben mit Einschluß der Schuhe, Hüte, Hand-
täschehen, Schirme usw., wobei er, der im Rechnen schon bei der Zahl
4 konfus zu werden pflegt, die 4 Damen, wie eine Nachprüfung bestätigte,
genau auseinander hielt. Wieder ein andermal überraschte er ein Fräulein,
das 6 Jahre früher seine Erzieherin gewesen war und das augenblicklich
bei seiner Mutter zu Besuche weilte, mit Mitteilungen über die von ihr
damals getragenen Toilettenstücke. Ähnliche Beispiele ließen sich noch
viele anführen.
Diese außerordentlich energische Konzentration der O.schen Auf-
merksamkeit auf die Toilettenkünste des schönen Geschlechts hängt
natürlich aufs engste mit seinem lebhaften Interesse für Kleider und für
Äußerlichkeiten überhaupt zusammen. Daneben mag aber noch der Um-
stand wirksam sein, daß O. sich in seiner Familie sehr viel in Damen-
gesellschaft aufhält, wo Toilettenfragen ohne Zweifel ein beliebtes Unter-
haltungsthema bilden. Dafür spricht auch die Tatsache, daß O. verhältnis-
mäßig viele Fachausdrücke kennt und gebraucht. Ob dabei auch feministische
Neigungen im Spiele sind, läßt sich nicht entscheiden. Sexuelle Triebe
spielen jedenfalls keine oder nur eine geringe Rolle. An Nuditäten in
Kunstsammlungen geht O. völlig gleichgültig vorüber. Herrengesellschaft
ist ihm beinahe ebenso wichtig wie Damengesellschaft. (Forts. folgt.)
4. Sprachliche Eigenbildungen meines Sohnes.
Von Frau Hanna Neugebauer-Kostenblut.
(Fortsetzung.
Die Ableitungen gebe ich in chronologischer Reihenfolge wieder:
1; 8 Mecke — Ziege. Er nannte so mehrmals abgebildete und wirkliche
Ziegen, weil ihm »meckmeck« vorgesagt worden war.
1; 8 Dredl = Rädel und Rad. Er gebrauchte das Wort 1/, Jahr lang
täglich, da Räder bei seiner großen Vorliebe für Maschinen bei allem
Bilderansehn, Spielen und Plaudern sehr viel vorkamen. Sicher hat
er dredl von drehen abgeleitet.
1; 8 Nippe = (Schnippe) = Schere gebrauchte er 9 Monate lang. Es
kam von »schnip!« das ich sagte, wenn ich ihm die Nägel schnitt.
1; 8 Reiber (Schreiber) —= Federhalter und Bleistift wurde, ebenso wie
Neider (Schneider) — Messer bis tief ins 3. Jahr hinein, etwa
1/, Jahr lang, ständig gebraucht, obgleich Rafael vor 1; 8 schon mësæ
= Messer gesagt hatte.
1; 9 Kämme = Kamm.
1; 9 Wische = Lappen. Diese beiden Worte hörte ich nur einmal.
[>]
4. Sprachliche Eigenbildungen meines Sohnes. 243
; 10 miezelt. Das Miauen der Katze, die von uns Mickatze und Miexe
genannt wurde, bezeichete Rafael wochenlang mit miezeln.
; 10 hummelt. Die Biene hummelt hörte ich einmal statt »summt«.,
Hummeln hatte Rafael schon gesehn und gehört.
; 10 Gucker = eine beim Bauen mit Würfeln zufällig entstandene
Öffnung, durch die er guckte. Das Wort bestand wochenlang.
; 10 bildern = blättern im Bilderbuche gebrauchte er nur einmal; es
konnte wohl auch ein Versprechen sein.
; 11 tiefen = tief hineingehn oder hineinfahren in etwas, z. B. in hohen
Klee hineingehn, oder mit dem Obstmesser in eine Birne stechen: muß
mal hier tiefen. Es bedeutete aber besonders häufig ein bestimmtes,
oft beobachtetes Hin- und Her- und Hineinfahren einer Stange an der
Lokomobile: Das tieft immer! rief er ganz selig.
; 113/, leitern — auf die Leiter steigen. Ich hörte es nur einmal.
; 118/, Wicke (Zwicke) für die Drahtzange gebrauchte er viele Wochen
lang ständig.
; 0 Haue = Rute. Er fand die Rute beim Kramen in einem Schreib-
tischfach, nachdem er sie lange nicht gesehn und nicht nennen ge-
hört hatte und nannte sie Haue.
; 1/2 Reiber und Schaber nannte er die Feile, als er seine Schuhsohlen
damit bearbeitete.
; 11/, forträdelt — fortgefahren. Iekta- Sch (Elektrische) is forträdelt.
1!/, Zicher. Den Handgriff einer Wasserspülvorrichtung zum Ziehen
nannte er Zicher. »Korkenzieher« kannte er nicht.
; 11/4 Nalle (Knalle) — Peitsche. Es wurde nur einmal gebraucht.
2; 8 erst wieder nannte er so die Schnur einer von ihm ge-
zeichveten Peitsche: ein Stiel und eine — eine Knalle.
; 2 Hopserle — Bohnen, weil er sie zwischen Daumen und Zeigefinger
drückte, bis sie fortsprangen. Es war 2—3 Wochen lang fast täglich
im Gebrauch.
; 2 Vorlick (Vorlieg) = etwas, das vorliegt. Er baute ein Tor, das er
Häusel nannte, legte Bauklötze davor und dahinter und sagte dazu:
Was vorlegen, daß de Maus nich rauskann! Das is ein Vorlick!
: 2 Messerle — Das kleine Lineal, weil er damit mißt.
2 tanze = laß tanzen. Er brachte zum Vater einen kleinen, hölzernen
Kreisel, der eine Frau mit fliegendem Röckchen vorstellt und bat:
Vatel, tanze mal das Menschel!
;2 Back = etwas Gebackenes. Im Garten brachte er seine Schaufel
voll schwarzer Erde und rief schon von weitem: Ich bringe ein
schwarzes Back! Ich bin ein Bäcker !
;21/, Glühtel = glühende Kohlen und Funken. Das Wort bestand
monatelang.
; 21/, glucken = die Lampe füllen. Es ist entstanden aus der wahr-
scheinlich vorgesagten Schallnachahmung beim Eingießen des Petro-
leums: gluck gluck. Es wurde 2—3 Monate lang gebraucht.
2°/, peitschen — mit der Peitsche schlagen. Er hatte es bestimmt
vorher nicht gehört, es ist selbständige Ableitung.
16*
244
2;
Do
DO
D
B. Mitteilungen.
23/, Rumlicke — etwas, das rund herum liegt. An unserm Klavier
ist vorn ein Mozartkopf, umgeben von schwarzen, geschnitzten Ara-
besken, darunter runde, knospenartige, gedrehte Gebilde. Rafael spielte,
er »kaufe« den Mozartkopf, dann »kaufte« er auch so eine Rumlicke.
Ich fragte: »Du meinst, weil das hier so rumliegt?« Ja.
; 3 Bumbum = Teppichklopfer.
; 41), (ge)flügelt. Er hatte ein Tuch tüchtig geschüttelt und rief: Jetz
haben wir aber (ge)flügelt!
; 41/, dreschflügeln —= mit dem Dreschflegel (vorübergehend Dresch-
flügel) dreschen.
; 41/, tunndelt. Die Schraube tunndelt durch, sagte er, als er eine
Schraube einschraubte. Wahrscheinlich, weil sie in das Loch hinein-
ging wie die Eisenbahn in den Tunnel, den er in jenen Tagen auf
Bildern kennen gelernt und für den er sich sehr interessiert hatte.
; 41), Bohrer. Die Emma is ein Bohrer. »Warum?« Weil sie da
drinne (beim Lampenputzen) bohrert.
; 5 Lötner, von »löten« abgeleitet.
5 breiten. Ich wer mich hierhin breiten, d. h. mit ausgebreiteten
Beinen auf die Erde setzen zum Ballrollen.
;5 Grabe. Wir haben eine Grabe gemacht, d.h. im Sande gegraben.
51/, schärft. Er schraubte eine scharfkantige Schraubenmutter fest,
die ihn an die Finger drückte, und sagte: Die kleine Mutter schärft
mich immerfort!
; 61/, Ausdrücker — Zitronenpresse, nur einmal gebraucht.
6 mühlen — die kleine Leier drehn, ebenfalls nur einmal gebraucht.
8 näselst. Als ich ihm die Nase geputzt hatte und dann zum Scherz
noch ein paarmal an seiner Nase hin- und herwischte, sagte er: du
näselst. Den Ausdruck näseln — durch die Nase sprechen kennt
er nicht.
; 9 Pieper nannte er einen Vogel nach seinem Ruf.
9 stöckeln. Er bestrich Steine mit einem Stöckchen und sagte von
den nächsten: jetz muß ich die noch stöckeln.
; 9 festet sich = wird fest. Wenn ich die Schraube anschraube,
da festet sich der Nagel.
; 91), Picksel \ Bei Bildern von Straußen zeigte er auf ihre Schnäbel
schnäbseln f und meinte: Der hat auch ein Picksel (von
picken); der kann auch schnäbseln.
; 91/, Anfaß = Geländer. Warum is denn hier bloß ein Anfaß?
7 Monate lang gebraucht, auch von Werkzeuggriffen, Fahnenstangen usw.
; 91, die Kloppe = der Bettenklopfer.
; 91), abgeschnabelt \ Er spielte, er wäre eine Erdbeeren naschende
weggeschnabelt
Amsel: kab sie abgeschnabelt, hab sie weg-
geschnabelt.
; 91/⁄ Durchlage \ nannte er seine Lage, als er zwischen Vater und
Mittelage Mutter lag. Auf die Frage, warum er das eine
Durchlage nenne, erklärte er: Nu, weil ich hier so runterliege, —
eine Mittelage. Dabei zeigte er mit einer senkrechten Schneide-
4. Sprachliche Eigenbildungen meines Sohnes. 245
bewegung in seiner Richtung herunter. — Es wunderte mich, daß er
»Lage« von »liegen« ableitete; es ist doch ein nicht sehr oft vor-
kommendes Wort; von. ihm hatte ich es noch nie gehört.
2; 10 Zigarrenstecker — Zigarrenspitze.
2; 10 läufig — flüssig. Er wollte mehr Brühe zur Reissuppe haben
und sagte: der Reis soll bissel läufig sein.
2; 10 ausgeplätzelt = zu Plätzchen ausgestochen. Er erzählte vom
Plätzchenteig: ....... da wird er glatt, und dann wird er aus-
geplätzelt.
2; 10!/, verbräundelt = braun geworden, von Blättern gesagt.
2; 10!/, Bauer nannte er sich selbst, als er baute.
2; 101/, näslich nannte er ein kleines Känguruh im zoologischen Garten,
dessen weiches Näschen er gestreichelt hatte.
2; 101), Schnellektrische = Elektrische, weil sie so schnell fährt.
Rafael hat also innerhalb von 16 Monaten — von 1; 8 bis zu
3 Jahren — 59 Ableitungen gebildet. Die Neigung dazu war am stärksten
zwischen 2; 2 und 2; 5. Es sind in diesen 3 Monaten 17 Ableitungen
verzeichnet; ebenso von 2; 9 bis 3; 0 18 Ableitungen, während die Zeit
von 2; 6 bis 2; 9 nur 3 aufweist.
Die ersten Zusammensetzungen erschienen ganz kurz nach den
ersten Ableituugen:
1; 8%/, Briefmann = Briefträger, monatelang gebraucht.
1; 9 aufpacken wollte er ein Portemonnaie.
1; 9 zupackt = zugepackt. Als er den Vater früh nicht im Bett fand,
durchsuchte er das Bett, in der Meinung der Vater wäre zupackt.
1; 9 Putzexähne, seltener =
Zähneputze — Zahnpulver; wochenlang gebraucht.
1; 91/, Lekta-Sch — Elektrische (Bahn). »Elektrische« hatte er uns
sagen hören. Das sch darin wurde ihm zu seinem seit 9 Monaten
gebrauchten sch-Eisenbahn. Die Lekta- Sch war ihm also eine Art
Eisenbahn. Das Wort bestand monatelang.
; 91/, anketten sollte ich mir eine Kette, d. h. ummachen. Das Wort
»anketten«e — an die Kette legen hatte er sicher noch nicht gehört.
1; 10 Feuermann = Schmied. Er hatte den Schmied in der Schmiede
etwa 1/, Stunde lang beobachtet. Einige Tage darauf traf er denselben
Schmied im Arbeitsanzug auf der Straße, erkannte ihn und nannte ihn
spontan Feuermann. Auch diese Bezeichnung bestand monatelang.
1; 101), runterwackelt. Er hatte an einer Steigeleiter gewackelt, bis
ein Karton, der auf der obersten Stufe stand, herunterfiel. Er erzählte
dann, er habe ihn runterwackelt.
; 111), Fraugallemann. Frau Galle in demselben Hause und ihren
Namen kannte er schon lange. Danach nannte er Herrn G. Frau-
gallemann bis nach 2; 5.
; 113/, Bohneschale für eine Bohnenhülse, die er fand.
; 11%/, Menschelmann. Er zeigte mir eine kleine Spielfigur und rief:
ein Menschelmann! »Mein Menschel« hatte ich ihn selbst oft genannt.
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246 B. Mitteilungen.
1; 118/, Affebär. So nannte er mehrmals einen wirklichen und auch
einen abgebildeten Spielbären.
1; 118/, Deckel-Sch. Damit bezeichnete er 5—6 Monate lang in seinem
Bilderbuch eine Lokomotive, die scheinbar einen Deckel auf dem
Schornstein hat.
1; 11%/, Beerenbaum nannte er einen Baum mit roten Beeren im Herbst.
1; 11®/, reinpurzeln. Er ließ sich in seine zum Mittagsschlaf im Garten
ausgebreiteten Decken fallen und nannte das reinpurzeln.
1; 11®/, durchschießen Mit der Verlängerung des Gießkannenrohres
runterkrimmern } wollte er zwischen den Beinen einer Katze
ab(k)nacken durchschießen, einen Apfel vom Baume
runterkrimmern und einen Zweig ab(k)nacken. Wahrscheinlich hatte
er uns schon Obst pflücken sehn, und das Hin- und Herfahren und
leise Rütteln des Obstpflückers an der langen Stange mag ihm wie
»Krimmern« vorgekommen sein.
1; 11%/, Latmise — Salatgemüse, ein Salatblatt.
1; 11®/, schnuren = eine Schnur binden.
abschnuren — abbinden, beide wurden öfters gebraucht.
2; 0 xublasen — ausblasen, einige Male gebraucht.
2; 0 Strickhäkel — Strickzeug.
2; 0 Leierwagen. So nannte er einen von einem Pferde gezognen
Wagen, auf dem eine Leier stand.
rd P
2; t/z en. l Kosenamen, 2—3mal gebraucht.
2; 1 ein Tischdeck machen = den Tisch decken.
2; 11/, auflehnen im Gegensatz zu anlehnen einige Male gebraucht:
Muttel, lehn dich mal an! Mutiel, lehn dich wieder auf!
2; 2 reinspitzen — mit einem spitzen Werkzeug in ein Loch hinein-
fahren: muß mal reinspitzen.
2; 2 Himmelberg. So nannte er einen abgebildeten hohen Felsen.
(Forts. folgt.)
5. Eröffnung des ersten heilpädagogischen Seminars
in Essen.
Schon jahrelang erstrebt die deutsche Hilfsschullehrerschaft eine besondere
Fachausbildung, abschließend mit einer speziellen Prüfung. Mit Unterstützung des
gen Kultusministeriums, der Regierungen zu Düsseldorf, Arnsberg und
ünster, sowie verschiedener Stadtverwaltungen wurde zu diesem Zweck die Er-
richtung eines heilpädagogischen Seminars in Essen beschlossen, die erste
derartige Einrichtung für Deutschland. Nun wurde dasselbe unter überaus zahl-
reicher Beteiligung am 17. November 1913 eröffnet.
Als erster sprach dabei als Vertreter des preußischen Kultusministeriums,
Oberregierungsrat Heuschen-Berlin; er gab der Freude über das Zustandekommen
des Kurses Ausdruck mit der gleichzeitigen Versicherung, daß das preuß. Kultus-
ministerium das Unternehmen in jeder Weise zu fördern suche. Der zweite Redner,
Oberbürgermeister Holle-Essen, wünschte im Namen der Stadt dem Kursus eine
gedeihliche Entwicklung. Nicht minder erfreut, so versicherte Stadtschulrat Dr.
Wehrhahn-Hannover, sei der deutsche Hilfsschulverband über die Eröffnung, sei
doch damit ein lang gehegter Wunsch der deutschen Hilfsschullehrerschaft in Er-
füllung gegangen, sicher zum Segen der Hilfsschulsache und ihrer Bestrebungen.
6. Zeitgeschichtliches. 247
Nun folgten zwei einleitende, fachwissenschaftliche Vorträge. Den
ersten derselben hielt als Vertreter der Pädagogik, Regierungsrat Dr. Schapler-
Arnsberg; er gab einen Überblick über die geschichtliche Entwicklung des Hilfs-
schulwesens, über die Bestrebungen zwecks Ausbildung der Hilfsschullehrer und
besprach des Näheren den Arbeitsplan und die Arbeitsmethoden des besagten heil-
pädagogischen Seminars. Als Vertreter der Medizin und Psychiatrie sprach
Oberarzt Dr. Kleefisch-Essen, hinweisend auf die körperlichen und seelischen
Störungen bei den Hilfsschulkindern, auf die Ursachen des Schwachsinns und die
Gesundheitszustände der Hilfsschulkinder. Auch betonte er, daß hier nicht nur
Vorträge der Dozenten gehalten werden sollen, sondern daß recht viel Nachdruck
gelegt werden würde auf die experimentellen und praktischen Übungen nach Art
der Seminarübungen an Universitäten.
Was die Zahl der Meldungen anbelangt, so beträgt sie zurzeit nahezu 300.
Es können jedoch vorerst nur 100 davon Berücksichtigung finden. Man glaubte,
durch die Übergangsbestimmung, wonach alle vor dem 1. April 1913 an Hilfsschulen
tätigen Lehrer ohne die Hilfsschullehrerprüfung angestellt werden können, würden
manche Gesuche zurückgezogen. Doch es war nicht der Fall.
Wie bekannt wird, soll auch im Osten Deutschlands eine zweite derartige
Institution getroffen werden, nämlich in Stettin.
Worms, Georg Büttner.
6. Zeitgeschichtliches.
Oberregierungsrat Johannes Müller, geboren am 5. Januar 1854, seit 1905
Leiter der Landeserziehungsanstalt für Schwachsinnige und Blinde in Chemnitz-
Altendorf, Mitherausgeber der Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger (ehe-
malige Schrötersche Zeitschrift), ist am 7. November 1913 nach langem qualvollen
Herzleiden gestorben. Im Dezemberheft 1913 der von dem Verstorbenen mit-
Berausgögebenen Zeitschrift widmet ihm Lehrer Gürtler einen warm empfundenen
achruf.
Über die Ergebnisse der Linkskultur in den Berliner Hilfsschulen
sprach Stadtschulinspektor Dr. Dickhoff im Erziehungs- und Fürsorgeverein für
geistig zurückgebliebene Kinder. Nach der »Täglichen Rundschau« (Nr. 543 vom
19. November 1913) erklärte er, daß die Linkskultur in den Hilfsschulen durchaus
versagt habe. Versuche wurden an 2600 Kindern vorgenommen. Beim Turnen,
Handfertigkeitsunterricht, Schreiben und Zeichnen wurde neben der rechten Hand
auch die linke benutzt. Die Erfahrungen beim Handfertigkeits- und Zeichenunter-
richt waren nicht ungünstig. Beim Schreiben entwickelte sich auf Kosten der Rein-
lichkeit und Orthographie eine greuliche Schmiererei; viele Kinder baten, wieder
mit einer Hand schreiben zu dürfen. Von einer gesteigerten Entwicklung war
nichts zu merken. Jedenfalls steht der Nutzen der Linkskultur in keinem Ver-
hältnis zur aufgewendeten Mühe und Arbeit. Dickhoff wie auch Stadtschulrat Dr.
Fischer traten für Aufhebung der Versuche ein. Nach Privatdozent Dr. Stier
liegt die große Bedeutung der Versuche darin, daß auch die Praxis nun gezeigt
habe, daß das Ideal für die Menschen nicht eine doppelseitige, sondern eine tüchtige
einseitige Ausbildung sei. Im frühen Alter wirke die Entwicklung der Beidhändig-
keit hemmend auf die Geistesentwicklung. Bei Erwachsenen schade eine Übung
der linken Hand nichts, könne sogar vorteilhaft wirken.
Das Leipziger Kinderheim Dürrenberg verpflegte vom 5. Mai bis zum
29. September 1913 509 Kinder. Seit der Gründung (1906) wurden insgesamt
1151 Knaben und 1362 Mädchen, also zusammen 2513 Kinder, verpflegt. Die
Kosten werden meistens aus der Armenkasse (1913: für 295 Kinder 14442,90 Mark),
zum Teil aus Stiftungsmitteln (für 153 Kinder 7626,40 Mark) gedeckt. Einige
Kinder (25) bekamen Freistellen, für einige wurden die Kosten durch Wohltäter
gespendet (6), einige Kinder wurden auf Kosten der Angehörigen aufgenommen
(1913: 30). Fast alle Kinder litten an Skrofulose, Luftröhrenkatarrh, Blutarmut.
Lungenschwäche, Herzschwäche usw. Die Kurerfolge waren gut.
248 C. Zeitschriftenschau.
Ein Informationskurs für Jugendfürsorge findet im September 1914
in Bern statt.
Für mindestens je 10000 Schüler in den allgemeinen Bildungsanstalten einen
Schularzt im Hauptamt fordert J. Tews in seinen trefflichen »Grundzügen der
deutschen Schulgesetzgebung« (Leipzig, R. Voigtländer, 1913. IV und 184 Seiten.
Preis 2 Mark). »Aus Mangel an elterlicher Einsicht oder aus Mangel an Mitteln
darf die Heilung körperlicher Defekte oder Krankheiten nicht unterbleiben.« Die
Überwachung der weiblichen Zöglinge soll nach Möglichkeit Schulärztinnen über-
tragen werden, die auch die vorschulpflichtige Jugend mit überwachen könnten.
Die Leipziger Hilfsschullehrer Alfred Wolf und Fritz Püschelmann
haben einen Plan für die Beschaffung von Material aus Hilfsschulen aller Art für
die Sonderausstellung »>Schule und Buchgewerbe« auf der Internationalen Aus-
stellung für Buchgewerbe und Graphik in Leipzig 1914 entworfen (Die Hilfsschule,
VI, 11, November 1913, S. 303—307), dessen Beachtung wir empfehlen. Bei dieser
Gelegenheit sei auch hingewiesen auf den Aufsatz Aloys Fischers über »Päda-
gogische Ausstellungen« (Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, XIV, 7/8, Juli/
August 1913, S. 353—358). Hoffentlich lernt man für alle pädagogischen Aus-
stellungen daraus!
Ein IV. Internationaler Kongreß für Volkserziehung und Volks-
bildung findet vom 26.—29. September 1914 in Leipzig statt. Hauptthema ist
die Erziehung und Bildung der Jugendlichen (12.—20. Lebensjahr). Das General-
sekretariat liegt in den Händen des Lehrers Paul Schlager, Leipzig, Eutritzscher-
straße 19/11.
Eine gründliche Auseinandersetzung mit der Zeitschrift der frühreifen Jugend,
die unter dem Titel »Der Anfang« seit einigen Monaten erscheint, nachdem ihre
Vorläufer nach kurzen »Blütezeiten« wieder in der Versenkung verschwanden, findet
man in Paul Cauers Bericht über die erste studentisch - pädagogische Tagung in
Breslau (6. und 7. Oktober 1913) im »Säemann«, Jg. 1913, Heft 11, November,
S. 481—485. Er gibt auch eine treffliche Charakteristik der erzieherischen Wirk-
samkeit Wynekens, der als verantwortlicher Redakteur des »Anfangs« die neue
»Jugendkultur« propagiert.
Annan
C. Zeitschriftenschau.
Kinderschutz und Jugendfürsorge.
Massnahmen.
Sickinger, Die Bestrebungen für Jugendpflege im deutschen Reich. Schweizerische
Blätter für Schulgesundheitspflege. 11, 3 (März 1913), S. 33—39.
Knappe Charakteristiken der in Betracht kommenden Organisationen nebst
Angaben über ihre Entstehung. Der Verfasser betont, daß es vor allem auf die
hingebende und unermüdliche praktische Erziehungsarbeit an der heranwachsenden
Jugend ankommt.
Marty, E., Das Problem der Jugendpflege. Zeitschrift für Jugenderziehung. IV, 5
(15. November 1913), 8. 125—134.
Es bestehen zwar verschiedene Organisationen der Jugendpflege. Aber gleich-
wohl ist noch nicht für alle gesorgt und in der wünschenswerten Weise gesorgt.
Was über die Jugendpflege in Deutschland und speziell in Preußen gesagt ist, ent-
spricht zwar nicht in allem den Tatsachen. Eine Zusammenfassung der Jugend-
pflege-Organisationen erscheint auch für die Schweiz geraten. »Vielleicht wird
einmal die Fortbildungsschule zum Organ der Jugendpflege werden.«
C. Zeitschriftenschau. 249
Greef, Jugendpflege. Evangelisches Schulblatt. 57, 4 (April 1913), 8. 155—160.
Das Haus muß durch die Jugendlichen mehr für die Jugendpflege interessiert
werden. Der Verflachung des Familiensinns muß vorgebeugt werden. Die Jugend-
pflege muß zu einer mehr persönlichen Sache ausgestaltet werden (Organisation
in kleineren Gruppen). Einrichtung von Vertrauensämtern unter den Jugendlichen,
Zuziehung zu Ausschußsitzungen ist zu erwägen. Der bisher einseitig gepflegten
körperlichen Ertüchtigung ist geistige Jugendpflege gegenüberzustellen. Notwendig
sind geeignete Räumlichkeiten, am besten eigene Jugendheime. Auf die weibliche
Jugendpflege ist mehr Wert zu legen als bisher.
Arens, Alfred, Jugendpflege und Fortbildungsschule. Deutsche Blätter für er-
ziehenden Unterricht. 40, 23 (28. Februar 1913), S. 224—226; 24 (7. März),
S. 233—236; 25 (14. März), S. 244—247; 26 (21. März), S. 256—259.
Der deutsch-nationalen Jugendpflege stehen die größten Schwierigkeiten ent-
gegen. Die Arbeiterjugendbewegung wird kurz beleuchtet. Ihr gegenüber wird (nicht
ohne bedeutende Überschätzung) die Jungdeutschlandbewegung als aus dem deutschen
Idealismus herausgewachsen besprochen. Die Fürsorge der Arbeitgeber für jugend-
liche Arbeiter wird gekennzeichnet. Als die wichtigste Jugendpflegestätte für beide
Geschlechter erscheint die Fortbildungsschule, deren Besuch obligatorisch zu ge-
stalten wäre. Zwar muß sie erst zu einer Jugendpflegestätte umgestaltet werden.
Ihr erzieherisches Ziel muß staatsbürgerliche Erziehung sein. Der körperlichen Er-
tüchtigung muß besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Doch ist die Jugend
vor den Übertreibungen des Sports zu warnen. Für die einzelnen Unterrichtsfächer
finden sich kurze Anweisungen.
Pflege der schulentlassenen weiblichen Jugend. Deutsche Blätter für
erziehenden Unterricht. 40, 41 (4. Juli 1913), S. 413 — 414.
Es werden ganz kurz die Mittel der weiblicben Jugendpflege dargelegt, wie sie
in den staatlichen Einrichtungen gut geheißen werden.
Reichel, E., Können wir auf die obligatorische Mädchenfortbildungsschule ver-
zichten? Neue Bahnen. 24, 8 (Mai 1913), S. 341—347.
Wir können die allgemeine hauswirtschaftliche Mädchenfortbildungsschule mit
angegliederter Berufsbildung nicht entbehren. Sie ist notwendig geworden aus
unserer ganzen Kulturentwicklung heraus.
Troilo, Elvira, Die erziehliche Bedeutung der Haushaltungsschulen. Zeitschrift
für Kinderschutz und Jugendfürsorge. 5, 5 (Mai 1913), S. 129—138.
Übersicht über die Bestrebungen hauswirtschaftlicher Unterweisung in einzelnen
Kulturstaaten, Mitteilung eigener Erfahrungen. Die Mädchen sind für die hauswirt-
schaftliche und hausmütterliche Arbeit gründlich zu schulen.
Plass, Die Arbeitserziehung. Zeitschrift für Krüppelfürsorge. 6, 1 (Februar 1913),
8. 2—21.
Geeignete Beschäftigung beugt am besten der Verwahrlosung vor. Arbeits-
erziehung ist namentlich für die schulentlassene Jugend sehr notwendig. Die Arbeit
gibt Richtlinien aus der Praxis heraus.
Bruckner, Franz, Erziehliche Behandlung der »Wilden« in den Schulen. Eos.
9, 1 (Januar 1913), S. 51—53.
Einige Gedanken zur Behandlung Verwahrloster, wo keine Anstalten für
solche zur Verfügung stehen. Die Unverbesserlichen sollen in »Abstoßungsklassen« (!)
gesammelt werden, in denen eine »Ansteckungsgefahr« ausgeschlossen ist.
250 C. Zeitschriftenschau.
von Arlt, Ilse, Der persönliche Faktor in der Fürsorge. Zeitschrift für Kinder-
schutz und Jugendfürsorge. 5, 8/9 (August/September 1913), S. 219—224.
Die Gründe, die für eine Verwendung fachlich geschulter (besoldeter und
ehrenamtlicher) Kräfte in der Jugendfürsorge sprechen, werden einzeln angeführt
und gewürdigt. Die bisherigen Ausbildungsmöglichkeiten werden besprochen: mit
der Angliederung theoretischen Unterrichts an die praktische Arbeit und der Ein-
übung verschiedener Techniken ist zwar viel geschehen. Anzustreben sind aber be-
sondere Anstalten zur traditionellen Vermittlung von Kenntnissen der Familienarbeit.
von Baltz, Angela, Vorschlag zu einer neuen praktischen Fürsorgeeinrichtung.
Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. 5, 8/9 (August/September 1913),
S. 230—232.
Die Verfasserin will der Fürsorge bedürftige austaltsentlassene Mädchen allein-
stehenden Mädchen oder Frauen zur Obhut anvertrauen. Ehefrauen sollen wegen
zu befürchtender Ausnutzung in der Familie ausgeschlossen sein. Für jedes Kind
bekamen die Hüterinnen Wohnungsgeldzuschuß und Kostbeitrag; wenn sie sich um
die Kostkinder verdient gemacht hätten, sollen sie durch Dekorationen (!) ausgezeichnet
werden. Auch die »Leichtschwachsinnigen« sollen gewissermaßen zur Beobachtung
vorerst solchen Hüterinnen übergeben werden. — Die Vorschläge muten doch etwas
sehr laienhaft an.
Rupprecht, Arzt und Jügendfürsorge. Münch. Med. Wochenschrift. Jg. 60, 44
(4. November 1913), S. 2464—2466.
In der Jugendfürsorge hat auch der Mediziner einen hervorragenden Platz.
Das hat auch der internationale Jugendschutzkongreß in Brüssel bewiesen. Rupprecht
macht dann aus seiner Erfahrung heraus Vorschläge für die Schaffung eines Amtes
als Landesjugendfürsorgearzt zur reihenweisen Besichtigung und Untersuchung [der
Fürsorgezöglinge. Für die Mädchen wäre die Anstellung einer Ärztin (wenigstens
für Bayern) zweckmäßig. So könnten die psychisch anormalen Zöglinge ausge-
sondert werden.
Landsberg, J. F., Jugendpflege und Jugendgericht. Zeitschrift für Jugenderziehung.
IV, 4 (1. November 1913), S. 93—98; 5 (15. November), S. 134—141.
An einem einzelnen Beispiel wird gezeigt, wie das Jugendgericht verfahren
muß, vor allem, wie die rechtlichen Grundlagen für die Schutzaufsicht zu schaffen
sind. Der zweite Teil der Arbeit erörtert dann, wie die »zielsetzende Hilfe« be-
schaffen sein muß und wer sie leisten soll. Ganz besonders wird dabei auf die
wertvollen Dienste, die die Fortbildungsschule leisten kann, hingewiesen.
Janisch, Franz, Das erste Jugendgefängnis im Deutschen Reiche und das Jugend-
gruppensystem in den Gefängnissen Österreichs. Zeitschrift für Kinderschutz
und Jugendfürsorge. 5, 6 (Juni 1913), S. 163—165.
Am 1. August 1912 wurde in Wittlich an der Mosel ein Gefängnis für Jugend-
liche im Alter von 18—21 Jahren eröffnet. Für den Strafvollzug existieren drei
Klassen. In Österreich besteht noch kein Jugendgefängnis. Jugendliche Gefangene
vom 14. bis zum 18. Jahre werden aber in besonderen Jugendgruppen vereinigt, die
zwar innerhalb der allgemeinen Gefängnisse bestehen, aber doch von den erwachsenen
Gefangenen getrennt sind.
Rabich, Franz, Jugendpflege und Gericht. Deutsche Blätter für erziehenden
Unterricht. 40, 38 (13. Juni 1913), S. 376—378; 39 (20. Juni), S. 387—389.
Die Arbeit ergibt einen knappen Überblick über die Jugendlichen, die mit dem
‘Gerichte in Berührung kommen und über die Aufgaben des Gerichts ihnen gegenüber.
C. Zeitschriftenschau. 251
Das Strafmündigkeitsalter. Das proletarische Kind. August 1913.
Die Grundtendenz des im Herbst vom deutschen Reichstag endgültig zu er-
ledigenden neuen Jugendgerichtsgesetzes wird sein: Erziehung statt Bestrafung,
möglichst lange Bewahrung des Kindes vor Strafgesetz, Strafrichter und Strafvoll-
zug. Die beratende Kommission hat sich in betreff des Beginns des Strafmündig-
keitsalters auf das 14. Lebensjahr geeinigt (die Sozialdemokraten forderten das 16.).
Für das proletarische Kind erscheint diese Grenze bedenklich, weil es in dieser Zeit
noch mitten in der Entwicklung stehe und dann auch gerade das Elternhaus zu ver-
lassen pflege.
Rothschild, F., Der Vormundschaftsrichter. Deutsche Elternzeitschrift. 4, 11
(1. August 1913), S. 182—183; 12 (1. September), S. 196—197.
Eine Charakterisierung der Aufgaben des Vormundschaftsrichters, über die
jeder juristische Laie im Interesse der Jugendfürsorge orientiert sein sollte, da es
dem Vormundschaftsrichter nur möglich ist, seine schweren Aufgaben im Zusammen-
wirken mit Laien zu erledigen.
Silbernagel, Alfred, Das Schweizerische Strafgesetzbuch und die Jugendfürsorge.
Schweizerische Blätter für Schulgesundheitspflege und Kinderschutz. 11, 6 (Juni
1913), S. 87—89.
Die Ausführungen betreffen die Delikte gegen die Sittlichkeit und die Familie,
über die im April in Schaffhausen verhandelt wurde, von denen die wichtigsten
neuen Bestimmungen mitgeteilt werden.
Beschluß des Kgl. Kammergerichts, I. Ferien-Zivilsenat. Der Rettungshaus-
Bote. 33, 6 (März 1913), S. 121—123.
Mitteilung im Wortlaut. In der Stellung der Behörden ist insofern eine Ver-
änderung eingetreten, als angeordnet wird, daß die etwa vorhandenen Mittel erst
daraufhin geprüft werden sollen, ob sie der Erziehungsnot wirklich abhelfen können.
Wenn nicht, dann ist Fürsorge-Erziehung geboten.
Bergold, Fr., Zur Prügelstrafe in den Erziehungsanstalten. Der Rettungshaus-
Bote. 33, 6 (März 1913), 8. 123—128.
Auseinandersetzung mit Hammer über die von ihm in Vorschlag gebrachte
Prügelstrafe. Die Erziehungsanstalt kann nach des Verfassers Ansicht die Prügel-
strafe nicht ganz entbehren, wird sie aber, wie er dartut, auf ein Mindestmaß
einschränken.
Guggenheim, Ernst, Das Züchtigungsrecht des Lehrers. Zeitschrift für Kinder-
pflege. 8 (Oktober 1913), S. 252—254.
Die Frage ist heute noch unentschieden.
Crasemann, Edgar, Die Berufsvormundschaft als geeignete Organisationsform
zum Schutze der Menschheit vor den Unsozialen. Der Vortrupp. 2, 8 (16. April
1913), S. 225—237.
Aus seinen Erfahrungen bei der Hamburger Behörde für öffentliche Jugend-
fürsorge heraus kommt der Verfasser zu folgenden Vorschlägen: 1. »Entmündigung
der auf psychopathischer Grundlage gemeingefährlichen Elemente auf Antrag privater
Personen oder auf Antrag der Staatsanwaltschaft, eventuell noch während der Minder-
jährigkeit auf Antrag des Direktors der öffentlichen Jugendfürsorge. 2. Schaffung
einer Berufsvormundschaft auf öffentlicher Grundlage im Anschluß an die Medizinal-
behörde. 3. Bestellung dieses staatlichen Berufsvormundes zum Vormunde über
jene Elemente (unsozialen Grenzzustände), welche damit seiner Aufsicht und Ge-
walt unterstehen, sei es, daß sie interniert sind, sei es, daß sie sich in Freiheit be-
252 D. Literatur.
wegen. 4. Schaffung einer Verwahrungsanstalt, einer Anstalt, die, zwischen Ge-
fängnis und Zuchthaus einerseits und den Irrenanstalten andererseits stehend, dazu
dienen soll, die Unsozialen auf bestimmte Zeit), auf unbestimmte Zeit oder auch
lebenslänglich, auf richterliche Anordnung oder auch auf den berufsvormundschaft-
lichen Spruch der Medizinalbehörde zu verwahren.«< Zu 2 ist zu bemerken, daß
der Berufsvormund bei der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge ein Pädagoge
und als Vertreter ein Jurist ist; für die Medizinalbehörde müßte es ein Psyuhiater
und als Vertreter oder auch Mitarbeiter ein Jurist sein. Die Verwahrungsanstalt
soll neben der schon in Hamburg existierenden Beobachtungsstation bestehen. An
der Schaffung dieser Verwahrungsanstalt ist Crasemann vor allem gelegen.
Klumker, Kinderhandel und uneheliche Kinder. Frankfurter Zeitung. 58, 205
(26. Juli 1913), erstes Morgenblatt.
Die Erscheinungen, die unter der Bezeichnung Kinderhandel zusammengefaßt
werden, sind im wesentlichen bedingt durch die Not der unehelichen Kinder und
ihrer Mütter. »Die Lage des unehelichen Kindes ist im Deutschen Reiche un-
günstiger als in allen anstoßenden Ländern mit Ausnahme Rußlands.« Anzustreben
ist eine bessere Rechtsstellung des unehelichen Kindes, eine Reform der Armen-
pflege für Kinder und vor allem ein Ausbau der Berufsvormundschaft, die bereits
jetzt planmäßig und erfolgreich unter Leitung des Archivs deutscher Berufsvormünder
(Frankfurt a. M., Stiftstraße 30) arbeitet. Klumker sieht die beste Bekämpfung des
Kinderbandels und zugleich einen wesentlichen Fortschritt in der Säuglingsfürsorge
in einer großen Stiftung zum Schutze unehelicher Kinder im Deutschen Reiche.
D. Literatur.
Mutterschaft. Ein Sammelwerk für die Probleme des Weibes als Mutter, Mit
371 Abbildungen, darunter 17 meistens farbigen Tafeln. Herausgegeben in Ver-
bindung mit zweiundfünfzig Mitarbeitern von Adele Schreiber. München,
Albert Langen, 1912. Preis 25 M.
Das Nachstehende soll eine Warnung sein. Das Werk wirkt wie eine Falle,
wie sie mit Absicht nicht listiger hätte gestellt werden können. In Ausstattung und
Preis gibt es sich als ein zu Geschenken geeignetes »Prachtwerk«. Eine Fülle von
vorzüglichen Nachbildungen nach trefflichen Kunstwerken, in denen der Idealismus
des Mannes, angefeuert von dem, was ihn eine edle Mutter, Braut oder Gattin er-
leben lies, Mutterschaft, Mütterlichkeit und Familienleben verherrlicht hat, strömt
Leben und Wärme aus. Sie muß dazu verlocken, das Buch auf den Tisch der
Familie zu legen, in der Hoffnung, daß diese daraus Stärke und Schwungkraft für
die Erreichung ihrer hohen Ziele werde ziehen können.
Tatsächlich aber geht die Herausgeberin auf die Zerstörung des Familien-
sinns aus. Solange in unseren Mädchen und Frauen die Anhänglichkeit an unser
altes deutsches Familienleben und an unsere Häuslichkeit, die der volksfremden
Herausgeberin freilich unbegreiflich bleiben muß, noch so stark ist, kann der Weizen
der Emanzipierten nicht so üppig blühen, als sie wünschen.
Daher haben die Herausgeberin und einige Gesinnungsverwandte!) das ganze
Buch mit dem volksvernichtenden Gifte des falschen Ideals der Frauenemanzipation
durchtränkt, so daß es trotz mancher tüchtigen und lehrreichen Darstellung über
die sozialen Probleme des Frauen- und Kinderschutzes — und trotz solcher Perlen,
1) Ich nenne die Verfasserinnen nicht, weil dies nur ihre Eitelkeit befriedigen
würde, die das Hauptmotiv der meisten Frauenrechtlerinnen ist.
D. Literatur. 253
wie die beiden Aufsätze der Frau Dr. Hedwig Bleuler-Waser über »Er-
ziehung zur Mütterlichkeite und »Das Zwischenland«e und trotz eines liebevoll
mahnenden und warnenden Artikels der guten Schwärmerin Ellen Key — auf
naive Gemüter verwirrend und in die Irre führend wirken muß, Törichte Gering-
schätzung der Kulturleistungen des Mannes, blinder Haß gegen die heutige Ehe und
Familie, deren Schäden in maßloser und unsinniger Weise übertrieben werden,
leidenschaftliches Begehren nach Unabhängigkeit und Betätigung in den Berufen des
Mannes brechen überall durch. Neben wirklich »allzuweiblichen«, nebelhaften
Mädchenpensionats -Schwärmereien über die goldene Zukunft, die durch die fabel-
haft große, nur bisher vom Manne böswillig unterdrückte schöpferische Befähigung
der Frau für Kunst, Wissenschaft, Politik usw. und durch ihren erhabenen Ge-
sinnungsadel geschaffen werden wird;') neben großartigen Redereien über Rassen-
hygiene usw. gehen einher höchst praktische Belehrungen über den Vorteil, den die
Verhütung der Konzeption und die Fruchtabtreibung (!) dem weiblichen Indivi-
duum darbieten, und der sehr weltkluge Hinweis auf die Möglichkeit, mit Hilfe eines
Gebärstreiks von Staat und Gesellschaft alles das zu erpressen, was man
wünscht; ohne Verzicht auf Geschlechtsgenuß notabene!
Die Mutterschaft wird allerdings verherrlicht, aber beileibe nicht die eheliche!
Irgend ein weibliches Tierchen, das so brünstig oder so dumm und nachgiebig war,
sich ohne Nachdenken und gewissenhafte Voraussicht schwängern zu lassen, soll
nicht allein, wie billig, trotz ihres Fehltritts von der Gesamtheit vor dem schlimmsten
bewahrt, sondern gerade wegen dieses Fehltritts geehrt, ja verehrt werden! »Eine
der empörendsten Tatsachen der Geschichte« nennt eine dieser weisen Thebanerinnen
»die Achtung der unehelichen Mutter« und begreift nicht, wieviel vorausschauende
Humanität in dieser Strenge liegt, die als Hemmnis gegen die Entstehung unglück-
licher Wesen wirkt, denen Glück und Segen des Elternhauses nicht zuteil wird,
deren Lebensschicksal nicht allein durch die viel größere Unsicherheit ihrer äußeren
Lebensbedingungen, sondern in der Regel auch durch die von den Eltern ererbte
sittliche Minderwertigkeit in hohem Grade gefährdet ist. Nicht immer ist es
Symptom der von Möbius gekennzeichneten Geistesverfassung, wenn derartige An-
sichten über die uneheliche Mutterschaft verfochten werden, sondern sehr häufig
im Gegenteil Ergebnis der sehr klaren Überlegung, daß Konzeptionsverhütung und
Fruchtabtreibung allein nicht genügen, um für die Emanzipierte die Möglichkeit un-
gestörter sexueller Befriedigung sicherzustellen, daß dazu auch die Salonfähigkeit
der unehelichen Mutter gehört.?)
Ein Kind braucht überdies jede Frau ja auch wohl nach Ansicht der Emanzi-
pierten, um volle Lebenserfahrung zu gewinnen, und ihre leider nicht gänzlich
unterdrückbaren, atavistischen Instinkte der Mütterlichkeit zu befriedigen. Im
brigen aber wird mit uneingeschränktem Beifall das Recht der Frau auf Frucht-
abtreibung proklamiert. »Als freie Persönlichkeit muß die Frau auch Herrin ihres
Körpers sein und einen Keim vernichten dürfen, der zunächst ein unlöslicher Be-
standteil ihres eigenen Körpers ist,« wie die Rechtskommission des Bundes
deutscher Frauenvereine seinerzeit beschlossen hat! »Es geht Niemand
Andern etwas an, ob eine Frau Mutter werden wolle oder nicht.«
1) Als Beispiel nur folgender Satz: »Doch von jenem Wunderland, wo das ge-
heimste Seelenleben der Mutter mit unzählbaren Fasern in ‘das Denken und Sinnen
der wissenschaftlich oder künstlerisch schaffenden Frau hineinspinnt und wo um-
gekehrt der rege Geist die Mutterschaft unendlich reicher und tiefer zu gestalten
vermag, mögen jene erzählen, die aus dem Vollen schöpfen können.« Dieser tief-
sinnige Satz wurde von einer Dozentin an einer Universität geleistet und eröffnet,
wie ihr ganzer Beitrag, die besten Hoffnungen für das Aufblühen der Wissenschaft
und der Hochschulen zu der Zeit, wenn die Frauen erst die Ordinariate innehaben werden.
2) Der Referent kennt natürlich sehr wohl die sozialen und wirtschaftlichen
Verhältnisse, welche oft übermächtig zum außerehelichen Geschlechtsverkehr drängen
und damit auch die uneheliche Mutterschaft verschulden; aber diese Verhält-
nisse müssen eben geändert werden! Nicht Güterwirtschaft sondern
Menschenwirtschaft, wie schon Pettenkofer gelehrt hat.
254 D. Literatur.
Was aus solchen Ansichten spricht, ist die Ausartung des Individualismus bis
zum äußersten, und da wundert sich Frau Schreiber, daß die Rassenhygieniker von
ihr und ihresgleichen nichts wissen wollen!
Die Mutterschaft wird allerdings mit sehr schönen Worten gepriesen; ob es
aber im einzelnen Falle bei der Frau der breiten Volksschichten zu ihr kommen
soll, wird von der Beantwortung der folgenden Frage abhängig gemacht: » Wieviele
Kinder kann eine Frau der arbeitenden Klassen normalerweise innerhalb der ge-
gebenen Zustände gebären, stillen, pflegen, erziehen, versorgen ohne Schaden für
sich!) und die Qualität der Nachkommen!« Was würde wohl aus Staat und Ge-
sellschaft werden, wenn die Männer auch nur soweit Handwerk, Kunst und Wissen-
schaft betreiben, Nahrung für Weib und Kind beschaffen, das Vaterland verteidigen
wollten, als es »ohne Schaden für sie« geschehen kann ?
München. M. von Gruber.
Schulze, Eduard, Deutsches Lesebuch für Hilfsschulen. Mittelstufe und
Oberstufe, 1. Teil. Halle, Hermann Schroedel, 1913. 186 u. 332 Seiten. Preis
1,75 u. 2,60 M.
Dieses Lesebuchwerk erscheint in drei Bänden. Band 1 ist für die Mittel-
stufe bestimmt, Band 2 und 3 für die Oberstufe; Band 2 enthält belletristische
Lesestücke, Band 3 (der bis jetzt noch nicht erschienen ist) ist ein Real-Lesebuch
mit anschaulich ausführlichen Schilderungen aus Geschichte, Erd- und Naturkunde.
Zu diesen Lesebüchern hat der Herausgeber ein Begleitwort geschrieben, in dem er
seine Richtlinien auseinandersetzt, die uns am besten in den Geist der Bücher ein-
führen. Wir führen einige Sätze an. »Von dem Ballast veralteter Stoffe — den
»Ladenhütern«, die manche, auch modern-sein-wollende Hilfsschullesebücher noch
mit sich führen — habe ich das vorliegende Lesebuch vollständig frei gehalten. ...
Den seelenlosen Beschreibungen, diesen von pedantischen Schulmeistern hergestellten
Lesestücken mit ihren Albernheiten und ihrer Poesielosigkeit, habe ich die Auf-
nahme verweigert. ... »Moralinsaure« Stücke sind vollständig vermieden. ... Der
Poesie, der echten Kinderpoesie, welcher Schlichtheit und Naivität eigen ist, habe
ich auch sonst eine bevorzugte Stellung in meinen Büchern eingeräumt, weil gerade
in dem Rhythmus der poetischen Stoffe ein Ansporn liegt, der unsere unsicheren,
langsamen und zögernden Schwächlinge beim Lesen vorwärts treibt. ... Ein belle-
tristisches und realistisches Lesebuch sind zu trennen, damit keines von beiden zu
kurz komme. ... »Eigene Arbeiten des Herausgebers« finden sich in meinem Buche
ebenfalls nicht, weil ich es nicht als besonderes Verdienst betrachte, Lesestücke
selber zu schaffen, wenn nur nötig ist, aus der Fülle klassischer Stücke, die auch
für unsere schwachen Kinder in überreicher Menge dem Kenner zur Verfügung
stehen, das Richtige angemessen auszuwählen. ... Daß auch eine Anzahl Stücke in
Schreibschrift aufgenommen sind, werden diejenigen Kollegen zu würdigen wissen,
die von der Bedeutung der Schreibschrift als Mittel zur Einübung der richtigen
Schreibweise überzeugt sind. ... Ferner sind dem Oberstufen-Bande auch einige
Handschriften-Proben beigegeben, um auch hierin dem späteren praktischen Leben
des Hilfsschulzöglings in etwas vorzuarbeiten.«
Dieses Begleitwort wirkt, wenn man andere Hilfsschullesebücher in der Hand
gehabt hat, förmlich befreiend, und dieses Gefühl wird bestärkt, wenn man die
Lesebücher durchblättert und liest. Unwillkürlich denkt man, Gott sei Dank, daß
endlich einmal auf dem Gebiete der Lesebuchliteratur der Weg ordentlich ausgefegt
und Bahn geschaffen wird für echtes und frisches Leben und für neue Entwick-
lungsmöglichkeiten. Und wie ein kalter Strahl wirkt es, wenn der Erziehungsverein
für schwachbeanlagte Kinder und der Hilfsschulverband des Berliner Lehrervereins
dieses Lesebuch ablehnen, »weil der erste Teil zuviel Schweres bietet, der zweite
Teil vielfach Seichtes (Scharrelmannsche Manier paßt nicht mehr für die Oberstufe),
weil viele Stoffe denselben Gegenstand behandeln (Zersplitterung der Kräfte), weil
Sprachstoffe nicht in ein Lesebuch gehören!« Und, man glaubt es kaum: »weil es
keinen methodischen Fortschritt auf dem Gebiete der Hilfsschul-
lesebuchliteratur bedeutet«. Dafür wird das Fuchssche Lesebuch empfohlen.
1) Vom Referenten gesperrt.
D. Literatur. 255
á
Muß man da nicht an die »pedantischen Schulmeister« denken, von denen Schulze
in seinem Begleitwort spricht!
Aber wir wollen doch einmal ganz sachlich den Geist der beiden Lesebücher
zu erfassen suchen.
gegenüber.
Fuchs I, S. 44.
Am Sonntag.
1. Auf den Sonntag freuen sich alle
Leute. Wir Kinder brauchen am Sonntag
nicht in die Schule zu gehen. In der
Fabrik wird nicht gearbeitet. Viele Läden
sind geschlossen. Nur der Kaufmann und
der Bäcker haben ihre Läden ein paar
Stunden lang geöffnet.
2. Auf der Straße gehen geputzte
Männer und Frauen und Kinder. Sie
gehen in die Kirche. Am Nachmittag
gehen sie spazieren. Viele Leute fahren
mit der elektrischen Bahn, andere fahren
mit der Eisenbahn hinaus aus der Stadt.
Alle sind vergnügt. Am Abend kommen
sie müde nach Hause. Aber sie denken
alle: Wie ist es doch so schön am Sonntag!
Dazu stellen wir am besten ein paar Stücke zum Vergleich
Schulze I, S. 11.
Der Sonntag.
Sonntag morgen. Ei, das ist fein. So
still ist es im Hause und auf der Straße.
Man hört keinen Lärm und kein Geschrei.
Alle Leute sind noch in den Stuben und
lesen die Zeitung und trinken süßen
Kaffee. Heini ist auch schon da. Erst
wollte er nicht aufstehen. Aber da sah
er auf dem Stuhl beim Bett sein neues
blaues Zeug mit den blanken Knöpfen.
Da war er mit einem Satz aus dem Bett.
Fritz Gansberg.
Man vergleiche einmal »Auf den Sonntag freuen sich alle Leute« und »Sonntag-
morgen.
Ei das ist fein«; oder: »Auf der Straße gehen geputzte Männer und
Frauen und Kinder« und »Aber da sah er auf dem Stuhl beim Bett sein neues
blaues Zeug mit den blanken Knöpfen. Da war er mit einem Satz aus dem Bett!«
Nehmen wir noch zwei andere Stücke.
Fuchs II, S. 40.
Der Briefträger.
1. Den Briefträger kennt jedes Kind.
Er hat eine Uniform an und eine Dienst-
mütze mit einem roten Bande auf dem
Kopfe. Aus seiner Ledertasche gucken
Briefe und Postkarten und Zeitungen.
Der Briefträger kommt vom Postamte und
trägt die Postsachen aus. Er geht in
alle Häuser und eilt treppauf und treppab.
2. Vielen Leuten bringt er eine fröh-
liche Nachricht, aber nicht allen. Manch-
mal bringt er einen Trauerbrief. Dann
weinen die Leute, die eine traurige Nach-
richt bekommen haben. In die Fabriken
und zu den Kaufleuten trägt der Brief-
träger die meisten Briefe. Manchmal
bringt er auch Drucksachen, Geld und
Pakete zu den Leuten.
Schulze I, S. 18.
Der Brief.
»Klingling!« rief die blanke Glocke an
der Haustür. Der kleine Hans lief hin
und machte auf. Das hatte er schon ge-
lernt. Da stand ein Mann in buntem
Rock vor ihm und sagte: »Hier, kleiner
Mann, der ist für euch.«e Und er gab
ihm einen Brief mit bunten Marken und
ließ ihn damit stehen. Aber da kam auch
schon die Mutter, und sie hatte nur eben
hingesehen, so rief sie schon: »O, der
kommt von Tante Meta.« Und sie riß
ihn auf und las und lachte und rief: »Sie
kommt, sie kommt, sie will uns besuchen.«
— Das war ein schöner Brief. Und
Hans spielte den ganzen Morgen Brief-
träger. D. Altker.
Auch hier vergleiche man einzelne Stellen: »Den Briefträger kennt jedes Kind.
Er hat eine Uniform an und eine Dienstmütze mit einem roten Bande auf dem
Kopfe« und »Da stand ein Mann in buntem Rock und sagte«; oder: »Vielen Leuten
bringt er eine fröhliche Nachricht, aber nicht allene und »Sie riß ihn auf und
las und lachte und rief: ‚Sie kommt, sie kommt, sie will uns besuchen!‘ Das war
ein schöner Brief.«
Auf weitere Beispiele können wir wohl verzichten. Sie sind typisch für beide
Lesebücher, und angesichts solcher Vergleiche, die man nach Belieben vermehren
kann, solite man eigentlich nicht mehr im Zweifel darüber sein, welchem Lesebuche
der Vorzug zu geben ist.
256 D. Literatur.
Fuchs zerlegt, stellt die Selbverständlichkeiten fest, bläst dem Dinge erst das
Leben aus und reiht dann lebensleere und inhaltlose Sätze zu Stücken aneinander,
hängt an jedes Stück eine Belehrung oder eine Moral an (vor allem in den selbst-
geschriebenen Stücken); Schulze bringt Leben, Situationen, Ereignisse, Poesie und
trifft auf diese Weise den Kern der Sache. Fuchs glaubt die Sache zu erschöpfen,
wenn er sie in nichtssagenden und hohlen Begriffen beschreibt wie: »Ich bin ein
Kind. Ich habe einen Vater und eine Mutter. ... Meine Geschwister sind gut zu
mir. Ich habe meine Geschwister lieb. ... Unser Wohnhaus ist ein großes Haus.
Auf dem Hofe ist ein Seitenflügel und das Quergebäude. Weiter hinten ist der
zweite Hof und noch ein zweites Quergebäude ... usw.;« Schulze sucht die Stücke
so aus, daß die Erscheinungen in ihrem Milieu bleiben, daß sich das Charakteristische
aus dem Leben heraus abhebt, daß sie handeln, sprechen, fühlen, wie es lebensecht
ist. Und das ist doch wohl das Entscheidende. Brauchen wir begriffliche Sektionen,
so haben wir im Unterrichte genug Gelegenheit, es zu tun. Aber das Lesebuch
wollen wir mit solchen Dingen verschonen. Das Kind soll sein Lesebuch lieb ge-
winuen, es soll gern nach ihm greifen, dann muß es aber auch dem Kinde Inhalt
bieten, der das Wesen und die Bedürfnisse der Kinder trifft. Es ist ein großer
Irrtum, wenn man glaubt, durch logische Zergliederungen der Dinge und der Er-
scheinungen die einfachste und klarste Form für die Verhandlung mit dem Kinde
gefunden zu haben. Dieser Irrtum hat meines Erachtens in der ganzen Hilfsschul-
pädagogik schon viel Unheil angerichtet. Um so erfreulicher ist es, daß Schulze
hier ein Lesebuch geschaffen hat, das mit üblicher Art und Weise grund-
sätzlich bricht. Möchten doch auch andere Herausgeber von Schulbüchern für
Hilfsschulen (z. B. Rechenbücher) seine Grundsätze sich zu eigen machen und danach
handeln, Aber es ist tatsächlich bis heute noch kein Genuß, in dieser Literatur
zu lesen, um sich eines Fortschrittes zu erfreuen. Und wenn man noch nichts ,
Gutes und Wertvolles bieten kann, so ist es besser, zu warten, als sich durch
Schreibseligkeit zur Herstellung von wenig fördernden Schulbüchern drängen zu
lassen. Dem Lesebuche von Schulze aber, das, man möchte sagen, dem Hilfsschul-
kinde wieder sein natürliches Recht gibt, wünschen wir große Verbreitung und
vollen Erfolg.
Hamburg. Fr. Rössel.
Fulda, Friedrich Wilhelm, Die Beispielspädagogik im Wandervogel.
Leipzig, Erich Matthes, 1914. 24 Seiten. Preis 65 Pf.
Es ist nicht ganz leicht für einen Außenstehenden, sich von der Deutschen
Wandervogelbewegung ein ganz rechtes Bild zu machen. Vielfach wird sie ja noeh
als etwas aufgefaßt, dem sich der Pädagoge möglichst weit fern halten sollte. Gerade
ihre große pädagogische Bedeutung kann man aus diesem Vortrag kennen lernen.
Fulda charakterisiert die Wandervogel-Bewegung als eine »Freie Erziehungsgemeindez,
deren grundlegendes Prinzip die Pädagogik des Beispiels ist. Man hat auf vielen
Seiten dem Wandervogel nicht etwa zu viel Freiheit, wohl aber — Bevormundung
vorgeworfen. Ohne diese Bevormundung in allerdings richtiger pädagogischer An-
wendung käme die Wandervogel-Bewegung als eine neue Jugendkultur aber kaum
in Betracht. Gegen die revolytionär tuenden, letzten Endes vielleicht aber durchaus
harmlosen Jugendkultur-Auswüchse, wie sie namentlich Herr Doktor Wyneken be-
treibt oder protegiert, wendet sich Fulda in scharfer, aber immer vornehmer Weise.
Und in dieser Ablehnung einer ganz und gar ungesunden (dekadenten) Strömung
innerhalb unserer Jugend oder richtiger innerhalb eines Teiles unserer Großstadt-
jugend sehe ich den beachtenswertesten Zug in dieser Meinungsäußerung aus Wander-
vogel-Kreisen, die weiteste Beachtung verdient. Karl Wilker-Jena.
Berichtigung.
Im vorhergehenden Heft S. 190 Z. 13 v. u. lies »manisch« -depressives statt
»mechanisch« - depressives.
Verantwortliche Schriftleitung für Abhandlungen und Mitteilungen: Dir. J. Trüper,
Sophienhöhe b. Jena; für Zeitgeschichtliches, Zeitschriftenschau und Literatur:
Dr. Karl Wilker, Jena, Weißenburgstraße 27.
Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
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A. Abhandlungen.
1. Die Familie Kallikak.
Eine Studie über die Vererbung des Schwachsinns.
Von
Dr. phil. Henry Herbert Goddard, Director of the Research Laboratory
of the Training School at Vineland, New Jersey, for Feeble-minded Girls and Boys.
Berechtigte deutsche Übersetzung
von
Dr. phil. Karl Wilker-Jena.
(Schluß.)
Die folgende Geschichte bietet die Fortsetzung dieser Zustände
in der folgenden Generation.
Es erschien wünschenswert, den unehelichen Sohn Guß’ zu sehen,
der dem schwachsinnigen Mädchen geboren war, nachdem Guß von
seinem ehelichen Weibe abgeschoben war. Dieses Kind hatte, als es
noch klein war, eine schwere Scharlachfieber - Erkrankung durch-
gemacht, die ihm sein Gehör geraubt hatte. Es war in ein Taub-
stummenheim aufgenommen. Die Mutter hatte es aber wieder heraus-
genommen. Es stellte sich dann heraus, daß dieses Mädchen, die un-
eheliche Mutter von Guß’ taubem Kinde, seinen eigenen Vetter ge-
heiratet hatte. Das Paar wohnte nun mit diesem tauben Jungen und
vier eigenen Kindern im Vorort einer ländlichen Stadt.
Hier angelangt suchte unsere Hilfsarbeiterin zuerst die Schule,
die die Kinder vermutlich besuchten, in der Hoffnung, dort irgend eine
Auskunft über ihren Geisteszustand zu erhalten und auch ihre Schul-
leistungen kennen lernen zu können. Sie fand, daß die Kinder die
Schule so selten besuchten, daß die Lehrerin nur sehr unzulänglich
Auskunft über sie erteilen konnte. Durch beharrliches Nachforschen
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 17
258 A. Abhandlungen.
wurde die Familie endlich in einem Hinterschuppen eines verfallenen
Landhauses entdeckt.
Es war ein bitterkalter Februartag, als unsere Hilfsarbeiterin um
11 Uhr morgens an die Tür pochte. Obgleich sie an den Anblick
von Elend und Verkommenheit gewohnt war, war sie doch kaum auf
das Schauspiel da drinnen vorbereitet. Der Vater, ein starker, ge-
sunder, breitschultriger Mann, saß hilflos in einer Ecke. Die Mutter,
eine noch hübsche Frau, saß in Überresten zerlumpter Gewänder in
einem Stuhl: ein Bild der Verzagtheit. Drei dürftig bekleidete Kinder
mit Schuhen, die kaum mehr zusammenhielten, standen mit matten
Gesichtern und dem unverkennbaren Blick der Schwachsinnigen herun.
Ein anderes Kind, um nichts intelligenter oder besser gekleidet, ver-
suchte, einige schmierige Schüsseln in kaltem Wasser zu waschen.
Der taube Junge war nirgends zu sehen. Auf eindringliches Drängen
hin verließ die: Mutter das Zimmer, um ihn zu holen, denn er lag
noch im Bett. Wenige Augenblicke später kam sie wieder. Der
Junge neben ihr trug einen alten Anzug, der anscheinend sowohl für
die Nacht wie für den Tag diente. Ein Blick genügte, seinen niedrigen
Geisteszustand festzustellen. Die ganze Familie war die leibhaftige
Demonstration für das Unsinnige, das in dem Versuche liegt, aus
einem defekten Stamme tüchtige Bürger zu machen dadurch, daß man
Zwangserziehungsgesetze verfertigt und erzwingt. Hier sah man
Kinder, die die Schule selten besuchten, weil sie selten Schuhe hatten.
Wenn sie aber mal hingingen, hatten sie weder den Willen noch die
Kraft, aus Büchern irgend etwas zu lernen. Selbst der Vater verriet,
trotzdem er stark und kräftig war, in seinem Gesicht nur das geistige
Vermögen eines kleinen Kindes. Die Mutter war in ihrem Schmutz
und in ihren Lumpen auch nur ein kleines Kind. In diesem Hause
voll dreckiger Armut gab es nur einen sicheren Ausblick: es wird
noch mehr schwachsinnige Kinder hervorbringen, um mit ihnen die
Räder menschlichen Fortschreitens zu hemmen.
Die Gesetze unseres Landes erlauben nicht, daß zehnjährige Kinder
heiraten. Warum wollen sie es Menschen erlauben, deren geistige
Beschaffenheit die von zehnjährigen Kindern ist? Diese und ähnliche
Fragen durchwühlten die Gedanken unserer Hilfsarbeiterin, als sie
mühsam über die zugefrorene Straße ihren Weg zum Bahnhof suchte.
Zu Beginn unserer Recherchen erfuhren wir, daß der Vater von
Deborahs Mutter als junger Mann in eine wohlhabende Landgemeinde
gekommen war, wo seine Tochter zur Zeit unserer Untersuchung noch
lebte. Unser Gewährsmann konnte uns nicht sagen, wann er hin-
Goddard- Wilker: Die Familie Kallikak. 259
gekommen war, aber es wurde uns der Name einer Person angegeben,
die es vermutlich wisse. Viele fruchtlose Versuche, diese Person aus-
findig zu machen, wurden angestellt, ehe wir zum Ziel gelangten.
Als sie schließlich entdeckt war, stellte sich heraus, daß es eine ält-
liche hochgebildete Dame war. Seltsam genug stellte sich lange da-
nach heraus, daß sie mit der guten Linie der Familie Kallikak ver-
wandt war. Sie wußte aber gar nichts von der Verwandtschaft, die
zwischen ihr und dem entarteten Zweig bestand. Sie gedachte mit
Freuden alter Zeiten und erinnerte sich gern ihrer Jugendeindrücke.
Sie war in B., einer Stadt am Fuße einer Bergkette, auf deren
Höhe der Großvater von Deborahs Großvater, Martin Kallikak junior,
immer gelebt hatte, aufgewachsen. Als sie noch ein kleines Mädchen
war, war er ein sehr alter Mann gewesen. Sie erinnerte sich, daß
sie als Kind auf eine Spazierfahrt mitgenommen war und die alte
Hütte auf dem Berge gesehen hatte, in der er mit seinen seltsamen
Töchtern »Old Moll«, »Old Sale und Jemima hauste. Die verfallene
Wohnung mit ihren mit Lumpen verstopften Fenstern bot ein Bild,
das sie nie vergessen hatte. In ihrem Gedächtnis schwebten Br-
innerungen an große Skandalszenen, die sich an diese Frauen und
ihre einsame Berghütte knüpften. Der Vater war unter dem Namen
»Old Horror« bekannt, und soweit sie sich seiner erinnerte, war er
immer ungewaschen und betrunken gewesen. Zur Wahlzeit erschien
er regelmäßig in irgend jemands abgelegten Kleidern, bereit um den
Preis eines Trunkes für des Spenders Stimmzettel einzutreten.
Diese Kunde erschien wunderbar und ließ die Wahrscheinlichkeit
einer Defektübertragung durch fünf Generationen hindurch ziemlich
sicher erscheinen. Da aber die fragliche Stadt fern lag und die Wahr-
scheinlichkeit, jemanden zu finden, der imstande war, genaue Aus-
kunft zu geben, äußerst gering schien, wurde viele Monate hindurch
nichts weiter in dieser Richtung unternommen.
Inzwischen waren die Familien von fünfzehn Brüdern und
Schwestern von Deborahs Großvater ausfindig gemacht und die Namen
mehrerer Verwandter ermittelt, die im Gebirge zurückgezogen lebten.
Die Zeit war gekommen.
Als unsere Hilfsarbeiterin im Hause eines abgelegenen Farmers
um Nachtlager bat, wurde sie glücklicherweise aufgenommen. Als
die Wirtin ihr ihr Schlafzimmer zeigte, fragte sie tastend: »Sie haben
eine Zeitlang in B. gelebt?« — »Etwa 65 Jahre« war die angenehme
Antwort. — »So, dann wissen Sie wohl etwas von den meisten alten
Familien da?« — »Es gibt nicht viele alte Einwohner in B., mit
deren Geschichte ich nicht vertraut wäre.« — Dann folgten einige
17*
260 A. Abhandlungen.
vorsichtige Fragen in bezug auf die Familie Kallikak, die in einer
Weise beantwortet wurden, daß unsere Hilfsarbeiterin bald davon
überzeugt war, daß sie an einer zuverlässigen Quelle sei und vorwärts
gehen könne, ohne Zeit auf unnötige Vorsichtsmaßregeln zu ver-
schwenden. In diesem Augenblick ertönte die Glocke zum Abend-
essen. Im Eßzimmer wurde Bekanntschaft mit dem Wirte gemacht.
Als das Mahl vorüber war, wandte das Paar gemeinsam seine Auf-
merksamkeit dem vor ihm ausgebreiteten Problem zu. — »Ja«, begann
der Gastgeber, als er begriffen hatte, was unsere Hilfsarbeiterin wollte,
»wissen Sie auch, daß es das schlimmste Nest im ganzen Lande ist,
in das Sie eindringen wollen? Die Berge da hinter uns sind voll von
solchen Menschen. Ich kann Ihnen sagen, wo jeder von denen lebt«.
Dann wandte er sich an den Tisch und begann eine Karte der am
nächsten Tage einzuschlagenden Wege ins Gebirge zu entwerfen.
Mitten in dieser Arbeit hielt er inne, wie wenn ihm ein Gedanke
gekommen wäre, und sagte dann zögernd: »Sie sehen, es ist für einen
Fremden wie Sie wirklich unmöglich, alle diese Menschen aufzufinden.
Einige von ihnen leben an obskuren fernen Straßen, die Sie kaum
ohne Führer erreichen können. Jetzt ist meine Zeit nicht weiter
kostbar, und wenn Sie mir erlauben, werde ich Ihnen in dieser Eigen-
schaft gerne selbst dienen.c — Es ist unnötig, zu betonen, daß sein
Anerbieten gern angenommen wurde. Wir gelangten so zu dem Er-
gebnis, Daten über nahezu 200 Personen in Deborahs Familiengeschichte
neu einfügen zu können.
Das bedeutete jedoch nur den Anfang des Studiums dieser Familıe
in der Nähe von B. Zahlreiche Besuche in vielen Familien, die
immer vom Hause dieses genialen Ehepaars ausgingen, machten unsere
Hilfsarbeiterin zu einer so wohlbekannten Figur unter diesen Leuten,
daß sie längst die kleine Überraschung, die sie bei ihrem ersten
Auftreien gespürt haben mögen, vergessen haben. »Gehört Ihr zu
unsrer Familie?« wurde sie anfangs oft gefragt. — »Nein, das nicht
grade! Aber weil ich so viele von Ihren Vettern und Basen, Onkeln
und Tanten kenne, dachte ich, wie ich in B. war, ich wollte auch
Sie gern kennen lernen.« Diese Erklärung genügte für gewöhnlich.
Wo sie aber nicht ausreichte, war unsere Hilfsarbeiterin ohne weiteres
in der Lage, den Fragesteller dermaßen mit Angaben über seine
eigenen Verwandten zu überschütten, daß er, noch ehe sie fertig war,
ganz vergessen hatte, ob irgend etwas unbeantwortet geblieben war.
Die Verwandtschaft stand einmal fest. Weitere Auseinandersetzungen
waren unnötig. Unsere Hilfsarbeiterin durfte bei den Leuten ein-
und ausgehen, sie durfte ihre geistigen Fähigkeiten studieren, ihre
Goddard- Wilker: Die Familie Kallikak. 261
Erinnerungen auffrischen, bis endlich die ganze Geschichte er-
zählt war.
Außer den Familienangehörigen wurden hier und da zahlreiche
alte Leute entdeckt, die dem anderweitig erlangten Material neues
hinzufügen konnten. Ein verschmitzter alter Farmer, der gerade vom
Felde hereinhumpelte, erwies sich als besonders wertvoll bei der Be-
stimmung von Martin Kallikak juniors Geisteszustand. Bei ihrem
Bekanntwerden mit ihm hatte unsere Hilfsarbeiterin von ihrem Inter-
esse an der Revolutionszeit gesprochen und ihm gesagt, sie sei zu
ihm gekommen, weil sie gehört habe, daß er so gut in der Geschichte
dieser Gegend bewandert sei. »Ja« sagte er mit verzeihlichem Stolz,
als er sie den Weg, der von den Küchenstufen hinunter in den Garten
ging, führte, »es hat sich hier in den letzten siebzig Jahren nicht
viel ereignet, woran ich nicht aktiv Anteil genommen hätte. Sehen
Sie den Baum da?« Er deutete auf einen schönen Ahorn, der seinen
dichten Schatten über den Weg warf, der zur Scheune führte. »An
dem Tage, als mein Weib und ich vor 60 Jahren hierher kamen,
pflanzten wir diesen Baum. Damals war’s ein kleiner Baum. Und
nun sehen Sie, was draus geworden ist!« Nachdem er noch allerlei
in dieser Weise geschwätzt hatte, stellte unsere Hilfsarbeiterin vor-
sichtig die Frage: »Erinnern Sie sich eines alten Mannes, Martin
Kallikaks, der an der Bergecke da drüben lebte?« — »Tu ich’s?«
antwortete er. »Ich denke doch! Keiner vergißt den. Das ist klar«,
fuhr er fort. »Er war hier nicht ganz richtig (er tippte an seinen
Kopf), aber harmlos und gut. Die ganze Familie war so. »Old Moll«
würde, so einfältig wie sie war, alles für einen Nachbarn getan haben.
Sie kam schließlich elend um: in einer Kaminecke verbrannte sie zu
Tode. Sie war betrunken heimgekommen und setzte sich da nieder.
Ob sie in einem Anfall vornüberfiel, oder ob ihre Kleider Feuer
fingen, das weiß kein Mensch. Sie war ganz knusprig gebrannt, als
man sie fand. Die Trunksucht war das schlimmste an ihnen allen.
Armut war in dieser Hinsicht ihr bester Freund, sonst würden sie
immer betrunken gewesen sein. Der alte Martin konnte nie inne-
halten, solange er noch einen Tropfen hatte. Viele Stunden trieb er
sich in Billy Parsons Halle herum. Billy hatte immer ein Faß Apfel-
wein zur Hand. Er kicherte ordentlich, wenn er den alten Martin
trinken und trinken sah, bis er endlich sein Gleichgewicht verlor und
vornüber purzelte! Aber Horser — der war ein Kerl! Ich sah ihn
mal, nachdem ich gehört hatte, er wolle Jemima heiraten. Ich guckte
ihn an und sagte: »Ja, Ihr seid auch nicht der richtige Schlag, an
solche Heirat zu denken!« Und er antwortete: »Ich vermute, Ihr
262 A. Abhandlungen.
habt recht. Ich tauge nicht viel, aber ich will’s um Jemimas willen
tun.«
Solche Skandalszenen, wie’s da gab, als diese Mädel noch jung
waren! fuhr er fort. Sehen Sie, da war eine ganze Reihe junger
Männer in B. in dieser Zeit — gebildete junge Leute, die aber nicht
auf das, was sie taten, acht gaben. Einer von ihnen mußte später
zahlen, da Jemima ihr Kind zur Stadt brachte, wo man sie zur An-
gabe des Vaters veranlaßte.e Er mußte damals etwas zu ihrer Unter-
stützung beitragen, und sie gab dem Kinde dieses Mannes vollen
Namen. Ich sah ihn eines Tages bald darauf. Er kochte vor Wut.
Aller Trost, den ich ihm geben konnte, waren die Worte: »Ich finde
nur, daß Sie den rechten Lohn bekamen, denn wenn einer mit dem
Einsatz spielt, muß er auch damit rechnen, daß er angeschwärzt wird!«
Nebenbei bemerkt: Wissen Sie, daß der alte Martin einen Halb-
bruder Frederick hatte, einen angesehenen Mann in unserm Lande,
der ungefähr 20 Meilen von hier lebte? Sehen Sie, Martins Mutter
war ein junges Mädchen zur Revolutionszeit, als Martins Vater Soldat
war. Später kehrte er zurück und heiratete eine angesehene Frau.«
»Haben Sie die Mutter des alten Martin mal gesehen?« fragte
unsere Hilfsarbeiterin. — »Nein, sie war zu meiner Zeit schon tot.
Aber ich habe die Leute von ihr erzählen hören. Sie lebte in den
Wäldern nicht weit von hier. Meine Liebe,« fuhr er fort, »es ist
schon lange her, seit ich über diese Leute nachgedacht habe, so lange,
daß ich viele Dinge vergessen habe. Aber mit der Zeit werde ich
mich schon wieder darauf besinnen.«
Zwei Töchter Jemimas lebten in B. Ein Blick auf Figur VA
und B wird ihre verwandtschaftliche Stellung zur übrigen Familie
und die Hauptdaten ihres Lebens erkennen lassen. Es braucht nur
noch wenig hinzugefügt zu werden. Die eine von ihnen wurde früh
in Dienst gegeben und heiratete später einen Flickschuster, dem sie
viele Kinder geboren hat. Es ist unbekannt, ob sie irgendwelche un-
ehelichen Abkömmlinge gehabt hat; wenn sie deren auch keine
hatte, so hat ihre Tochter doch diesen Mangel in jeder Hinsicht wieder
wett gemacht. Die andre Schwester wuchs mit ihrer Mutter in der
Berghütte auf und lebte dort, als ihr Großvater starb. Ihr Mann und
ihre meisten Kinder waren defekt. Nur zwei, deren Väter unbekannt
waren, waren normal. Eins von ihnen, ein ganz geschicktes Mädchen,
unterhält sich und ihre Mutter in durchaus anständiger Weise und
wird von ihren Mitbürgern geachtet. Die Mutter ist groß, mager,
eckig, in vielen Stücken Jemima ähnlich, ausgenommen, daß diese
Goddard- Wilker: Die Familie Kallikak. 263
eben männlicher war. Vielen noch lebenden Einwohnern B.s war
die alte Frau eine wohlbekannte Figur, denn sie kam oft zur Stadt
herunter und brachte Beeren zum Verkauf. Ihre großen Füße steckten
in gewaltigen Hausschuhen, ihre Rockschöße waren durchgestoßen,
ihre scharfen eckigen Gesichtszüge waren tief unter einem Strohhut
verborgen. So angeputzt war sie ein auffallendes Bild, das man nicht
leicht vergessen konnte.
Eine dritte Tochter Jemimas lebte in Brooklyn. Wiederholt
drängte sich die Frage auf: »Was wird aus ihr geworden sein?« Und
das um so mehr wegen der Ungewißheit ihrer Abstammung auf väter-
licher Seite. Vielleicht war der Vater ein normaler Mann? Vielleicht
wird es sich ergeben, daß sie eine normale Frau ist? Das würde die
tötliche Eintönigkeit dieser Linie defekter Menschen unterbrechen.
In einer abgelegenen Besitzung wurde nach einem Wege durch
ein enges Gäßchen die Wohnung dieser Frau gefunden. Es war gegen
10 Uhr morgens. Nachdem man eine dunkle enge Treppe herauf-
gestiegen war, kam man an einen Treppenabsatz, von dem man einen
Blick ins Innere der Wohnung tun konnte. In einem Raum saß eine
junge zerlumpte Frau mit ungekämmten Haaren und geschwärztem
Gesicht, während auf dem Flur zwei schmutzige halbnackte Kinder
herumkollerten. Beim Anblick der Fremden kamen sie alle heran.
Unsere Hilfsarbeiterin bahnte sich, so gut sie konnte, einen Weg
quer durch einen Haufen alten Tauwerks, das im wirren Durchein-
ander im Zimmer herumlag, zu einem Stuhl am offenen Fenster, durch
das man wenigstens einen Hauch frischer Luft erlangen konnte. Am
Fenster wand sich eine häßliche alte Katze im Sonnenschein. Die
Mutter, Jemimas Tochter, war nicht daheim, aber die Frau, die sie
vertrat, war ihre Tochter, und die Kinder waren ihre Enkelkinder.
Der Schwachsinn der Frau machte es möglich, ihr eine Frage nach
der andern vorzulegen, wie man das bei einer normalen Person nicht
hätte tun können. Ihre Antworten warfen eine Fülle von Licht auf
die allgemeine Lebensverderbnis unter solchen Bedingungen. Als die
Mutter schließlich kam, stellte sich heraus, daß ihr Typ etwas von
allen anderen, denen man in dieser Familie bisher begegnete, abwich.
Sie schien eine Verbrecherin oder doch wenigstens zur Entwicklung
in dieser Richtung angelegt zu sein. Unglücklicherweise konnte der
Besuch nicht länger ausgedehnt und auch nicht wiederholt werden,
so daß eine ausreichende Erforschung nicht möglich war.
In der Großstadt ist das Einzelindividuum in dem gewaltigen
Gedränge, das es umgibt, verloren, so daß seine individuellen Hand-
lungen (ausgenommen solche, die es selbst wählt, um sich zu ent-
264 A. Abhandlungen.
decken, oder solche, die irgendwie zu seiner Entdeckung führen können)
der Umwelt unbekannt bleiben. Deshalb bestand wenig Aussicht, von
dieser Seite her Licht in das hier aufgeworfene Problem zu bekommen.
Während der kurzen Unterhaltung gab die ältere Frau unmißverständ-
lich zu verstehen, daß sie inmitten ihrer Verkommenheit doch achtbar
erscheinen wolle — ein ganz charakteristischer Zug des hochstehenden
Moronentyps in dieser Familie. Sie war freundlich und sicher in-
telligenter als ihre Tochter, aber sie zeigte wenig mehr Kraft, Wille
oder Geschick, mit den Aufgaben des Lebens fertig zu werden. Eine
ihrer Töchter war wenige Jahre vorher vom Antlitz der Erde ver-
schwunden — sie hatte ein Baby. Das war alles, was sie wußten.
Sie arbeitete auf Coney Island. Eines Tages kam sie heim, und als
sie am nächsten Morgen wieder wegging, war es das letztemal ge-
wesen, daß sie etwas von ihr gesehen hatten. Ein Bruder des
Mädchens war auf ähnliche Weise verschwunden.
Unsere Hilfsarbeiterin verließ die Wohnung mit der positiven
Gewißheit, daß die Umgebung ohne genaue persönliche Überwachung
wenig ausmache, wenn es sich um Schwachsinnsprobleme handle.
Dank dem Entgegenkommen des Grafschaftsobersten (County
Superintendent) und der klugen Mitarbeit der Lehrerschaft war es
möglich, auf alle Deszendenten Martin Kallikaks, die in Schulen zu
finden waren, die Binet-Tests anzuwenden. Es war das Gesuch ge-
stellt, das zu tun, ohne dabei die besonderen Zwecke, die der Unter-
suchung zugrunde lagen, aufzudecken. Jedes persönliche Element
wurde dadurch ausgeschaltet, daß aus jeder Klasse ein oder zwei gute
Schüler zum Vergleiche der Testergebnisse mit einigen dummen aus-
gewählt wurden. Da die Kinder an den Tests ihre Freude hatten,
blieben nur die sitzen, die nicht aufgerufen waren.
Ein Morgen wurde so in einem Schulhause in steiler felsiger
Gegend zugebracht, die den malerischen Namen Hard Scrabble trug.
Es lag etwa eine Meile entfernt von den Trümmern von Martin
Kallikaks Hütte, und eine Anzahl seiner Deszendenten waren unter
den Schülern dieser Anstalt.
Einer der Enkel »Old Sals« lebte auf einer Farm nahe Cedarhill,
mehrere Meilen bergaufwärts. Dieser Mann, Guß Saunders mit Namen,
sollte der Vater einer großen Familie sein. Unter den ermittelten
Tatsachen fand sich jedoch nichts über ihn, so daß die Folgerung be-
rechtigt dünkte, er sei besser als seine übrigen Brüder ausgefallen.
Es schien jedoch notwendig, dieser Sache auf den Grund zu gehen,
so daß die lange Reise dorthin unternommen wurde.
Goddard- Wilker: Die Familie Kallikak. 265
Auf der Farm angelangt war die Frage nach der Geistesbeschaffen-
heit dieser Familie schnell beantwortet. Bei jedem Schritte zeigten
sich Verwüstung und Trümmer in größerem Umfange. Die Front des
großen Pächterhauses war ganz verfallen. Folgte man einigen Spuren,
so erreichte man die Hintertür. Solch ungewöhnliches Schauspiel wie
ein Besucher zog die Aufmerksamkeit auf sich. Als die Tür sich
öffnete, bot sich unserer Hilfsarbeiterin ein Anblick, an den sie leider
nur zu sehr gewöhnt war. Sie starrte erschrocken auf dieses Bild,
das ihr eine Prozession Imbeziller darzustellen schien. Der große aus-
gemergelte schwankende Mann stemmte sich mit dem Kopfe gegen
einen Baum, während die übrigen warteten und mit starrem stupiden
Staunen dastanden. Schnell erlangte unsere Hilfsarbeiterin ihre Selbst-
beherrschung wieder und sagte freundlich: »Guten Tag, Herr Saunders.
Ich hoffe, Sie fassen meinen Besuch bei Ihnen nicht als ein Ein-
dringen auf. Sehen Sie, ich sah mal nach den Kindern der Nachbar-
schaft, und da war ich traurig, keins von ihren heute in der Cedarhill-
Schule zu finden.« Er dachte nun plötzlich, er habe es mit einer
Schulinspektorin zu tun, und seine Antwort läßt sich im Druck nicht
wiedergeben. Es war ein unzusammenhängender, wirrer, stürmischer
Protest gegen die Schulgesetze im allgemeinen und gegen sein Ge-
schick im besonderen. Dieser Protest war durchsetzt mit konvulsivem
Stöhnen, während seine trüben angeschwollenen Augen von Tränen
überflossen. Unsere Hilfsarbeiterin begann wirklich, für diesen Mann
Mitgefühl zu hegen, obwohl sie wußte, daß er betrunken war, und
daß Trinker leicht zu Tränen gerührt werden. »ỌO, ich bin ganz
traurig Ihretwegen,« sagte sie; >»ist ihre Frau denn tot?« -- »Ja, sie
ist tot« antwortete er mit wilder Gebärde, »sie haben sie mir hier
aus dem Zimmer geholt. Sie sagten, sie würden für sie sorgen, wenn
ich sie mitgehen ließe. Sie können die Ärzte in B. sehen. Die
wissen das ja alles. Die können Ihnen sagen, was sie taten. Sie
holten sie hier weg. Und sie ist nie wiedergekommen, O!« Sein
Seufzen unterdrückend fuhr er fort: »Und jetzt sagen Sie, ich müsse
meine Kinder zur Schule schicken. Und was kann ich tun? Guck
hin!« Er zeigte auf einen Haufen menschlicher Wesen, in dem ein
Mädchen auf den ersten Blick ihre Imbezillität wie einen Schatten
über die ganze Gruppe warf, so daß alle imbezill aussahen. »Sehen
Sie das Mädchen da? Sie bekommt immer Anfälle und keiner kann
was mit ihr anfangen.«e — Ihn unterbrechend bemerkte unsere Hilfs-
arbeiterin: »Aber, Herr Saunders, Sie sollen doch nicht Lasten und
Sorgen von diesem Mädchen haben. Sie könnte es so glücklich und
bequem haben an einem Platze, wo man sich auf solche Fälle ver-
266 A. Abhandlungen.
steht. Sie sollten. ...« Weiter kam unsere Hilfsarbeiterin nicht.
Seine Augen nahmen plötzlich einen wilden verzweifelten Blick an,
und er brach los: »Nein, nein! Sie werden sie hier nie weg be-
kommen. Sie versuchten es mal, aber sie bekamen sie nicht. Sie
nahmen mir mein Weib weg, und sie kam nie wieder. Sie kommt
nicht fort!« Unsere Hilfsarbeiterin hatte sich unbewußt erhoben —
ein Ausdruck ihres Mitgefühls —, sagte, um den Sturm zu besänftigen,
einige freundliche Worte und ging fort, tief in Gedanken versunken
über das, was sie gesehen und gehört.
Wir haben es soweit gebracht, daß wir Babys und kleine Kinder
nicht mehr unversorgt in unseren Straßen umkommen lassen. Aber
wer hat schon daran gedacht, in vernünftiger Weise für die weit
rührenderen kindlichen Männer und kindlichen Frauen zu sorgen, die
vermöge ihrer Geschlechtskraft, die sie nicht zu meistern verstehen,
unser Land mit Elend und Verbrechen überfluten? Solche Gedanken
bewegten unsere Hilfsarbeiterin auf ihrer Heimreise.
In B. angelangt war ihre erste Sorge darauf gerichtet, den Arzt
zu sprechen der Guß’ Weib, als es starb, behandelte. Sie fand ihn
bereit, ihr alles mitzuteilen, was er über die Familie, die er seit je
kannte und behandelte, wußte. »Die Mutter« sagte er, »war eine gut-
herzige beschränkte Seele, die, so gut sie konnte, für die Bedürfnisse
ihrer Familie sorgtee. — Das epileptische Mädchen war, wie er weiter
erzählte, immer eine große Sorge gewesen, und der Arzt selbst hatte,
unterstützt von mehreren hervorragenden Bürgern, die Mühe auf sich
genommen, alle Anordnungen zu treffen, die zu ihrer Aufnahme in
die Epileptiker-Kolonie zu Skillman nötig waren. Der Vater konnte
jedoch nie veranlaßt werden, seine Zustimmung zu erteilen. Die
Mutter war noch ganz jung, als sie ihr elftes Kind unterm Herzen
trug. Infolge eines Unglücksfalls drohte ihr eine Fehlgeburt. Der
Arzt wurde gerufen. Er sah, daß der Fall ernst war und ließ noch
zwei andere Ärzte zur Konsultation zuziehen. Es stellte sich heraus,
daß sogleich eine Operation nötig war, wenn das Leben der Frau ge-
rettet werden sollte. Es gelang, Guß zu überreden, ihre Überführung
ins Hospital zu erlauben. Die Bemühungen der Ärzte waren jedoch
vergebens. Die Frau starb während der Operation.
In einem Vorort von B. lebte der Besitzer der von Guß Saunders
bewirtschafteten Cedarhill-Farm. Er war ein intelligenter Mann und
besaß ein wunderbar ausgestattetes Heim. Er achtete sorgfältig auf
die Bedürfnisse der Familie, nach der sich unsere Hilfsarbeiterin er-
Goddard- Wilker: Die Familie Kallikak. 267
kundigen wollte. »Guß’ Unglück ist es,« so begann er, »daß er das
Trinken nicht lassen kann. Ja, wissen Sie, wenn ich diesem Manne
Lohn auszahle, dann gebraucht er jeden Cent für Rum. Ich habe
ihm schon lange kein Geld mehr ausgezahlt, denn wenn ich’s getan
hätte, dann würde die Stadt sich seiner Kinder haben annehmen
müssen. Ich gab ihm im Geschäft Kredit, und meine Leute versahen
ihn mit dem, was er nötig hatte.«
Diese Bilder aus dem defekten Zweige der Familie Kallikak
mögen genügen, wenn auch unserer Hilfsarbeiterin Gedächtnis und
Notizbuch noch viele ähnliche Beispiele enthält.
Wenden wir uns nun der Beschreibung von Angehörigen des
anderen Familienzweiges zu, so stoßen wir auf zwei Schwierigkeiten.
Zunächst die Frage der Identifizierung. Die bisher beschriebenen
Personen sind entweder tot und haben keinerlei Aufzeichnungen hinter-
lassen, nach denen sie zu identifizieren wären, oder sie werden, soweit
sie noch leben, das von ihnen in diesem Buche entworfene Bild nie
anerkennen.
Das Gegenteil gilt von der guten Familie. Einige von ihnen
werden sich wiedererkennen, aber die Öffentlichkeit darf sie nicht
entdecken. Um das zu gewährleisten, müssen wir davon absehen,
gerade die Tatsachen wiederzugeben, die der Geschichte die inter-
essantesten Striche verleihen würden.
Die zweite Schwierigkeit liegt darin, daß eine Beschreibung der
Tätigkeit einer normalen angesehenen und nützlichen Familie nie so
interessant sein kann wie die seltsamen Erfahrungen aus einer anormalen
Familie.
Deshalb wird der Leser in den folgenden Skizzen nur solche
Tatsachen verzeichnet finden, die das durchaus normale und herkömm-
liche Familienleben intelligenter Bürger eines Gemeinwesens kenn-
zeichnen.
In einem bestimmten Dorfe New Jerseys, das malerisch an einem
Bergkamm liegt, ist der Kirchhof, auf dem Martin Kallikak seniors
und mehrerer seiner unmittelbaren Nachkommen sterbliche Überreste
in Frieden ruhen. Er hatte zu seinen Lebzeiten eine große Vorliebe
dafür, Ländereien zu erwerben. Den meisten seiner Kinder hinter-
ließ er große Farmen. Diese Farmen liegen in der Nähe des vor-
erwähnten Dörfchens. Einige von ihnen sind noch im Besitze seiner
Nachkommen, während andere in fremde Hände übergegangen sind.
268 A. Abhandlungen.
Auf dem Hügel über diesem Dorfe liegt ein leicht gebautes wohl-
gepflegtes Pächterhaus. Es gehörte Amos, einem direkten Abkömm-
ling eines der Kolonialgouverneure New Jerseys mit Elizabeth, einer
Tochter Martin Kallikak seniors. Die Farm ist zurzeit im Besitze der
Witwe von Elizabeths Enkel, der in New York City Prediger gewesen
war. Seit die Familie die Farm in Besitz hat, hat sie immer ihre
Fittige über das Haus gehalten, das, wenn auch umgebaut, noch viel
von dem Aussehn hat, das es zu Amos’ und Elizabeths Zeiten bot.
Der Herd ist noch derselbe geblieben, und auch die Stühle mit den
hohen Lehnen, die Uhr, das Pult, der Porzellanschrank sind die
gleichen. In jedem Sommer kam die Familie wieder zu dem alten
Platz, um sich der Landluft zu freuen und der süßen Weintrauben
und anderer von ihren Vorfahren gepflanzter Früchte.
Auf einem andern Berge, nicht ganz zwei Meilen davon entfernt,
lebt eine Enkelin desselben Amos und seiner Elizabeth. Ihr Vater
war zu seiner Zeit einer der reichsten und angesehensten Bürger in
seiner Gemeinde gewesen. In einem alten Tisch aus dem Nachlaß
seiner Mutter fand sich eine Anzahl wertvoller Papiere, die der
Familie Kallikak gehörten. Eins darunter war der berühmte Kauf-
vertrag Casper Kallikaks aus dem Jahre 17 .., vom Gouverneur der
Kolonie unterzeichnet. Diese Papiere hütet die Tochter mit großem
Stolz. Sie ist eine umsichtige Frau und bewirtschaftet ihre Farm mit
bewundernswertem Geschick. Das prächtige alte Gehöft, das umgebaut
und mit allen modernen Bequemlichkeiten ausgestattet war, war von
ihrer Mutter Vorfahr erbaut. Sie interessierte sich sehr für alle
Familienfragen. Aber sie war zu sehr in geschäftliche Angelegen-
heiten verwickelt, um diesem Gegenstand viel Aufmerksamkeit widmen
zu können. Eine ihrer Töchter, die ihrer Mutter guten Geschmack
geerbt hatte, war jedoch imstande, den »Fehler« der Mutter in dieser
Beziehung wieder gut zu machen. Die junge Frau ist jetzt ver-
heiratet, und ihr ältester Sohn trägt die vereinigten Namen seiner
beiden Vorfahren, des Kolonialgouverneurs und Martin Kallikaks.
Miriam, die älteste Tochter Martin seniors, heiratete einen Zimmer-
mann und Farmer. Obgleich aus guter Familie war er doch aus
irgend einem unbekannten Grunde Martin oder dessen Frau nicht
genehm. Miriam starb im frühen Alter von 36 Jahren, und ihr Gatte
verheiratete sich wieder. In seiner letztwilligen Verfügung erwähnt
Martin seine Enkelkinder von seiten dieser Tochter gar nicht. Sie
sind angesehene Farmer geworden, haben aber nie dieselbe soziale
Stellung wie die anderen Familienangehörigen innegehabt.
Martins dritte Tochter, Susan, heiratete einen Mann aus einer in
Goddard- Wilker: Die Familie Kallikak. 269
der Kolonialgeschichte New Jerseys berühmten Familie, die unter
ihren Angehörigen einen der Begründer der Princeton - University
zählte, während ein Seitenzweig einen Unterzeichner der Unabhängig-
keits-Erklärung lieferte. Einer von Susans Söhnen lebt noch im hohen
Alter von 98 Jahren. Er wohnt in der Stadt, die seinen Familien-
namen trägt, und ist immer als treuer und aufrichtiger Bürger be-
kannt gewesen. Jetzt hat dieser alte Mann seine Geisteskraft ganz
verloren, aber er bewahrt doch noch seine höflichen Umgangsformen
und seine ruhige vornehme Haltung.
In einer zentralen Gegend im nördlichen New Jersey, fern von
der direkten Eisenbahnlinie, liegt eine Stadt, die ihren Namen nach
einer der Familien, verbunden mit dem der früheren Siedlung der
Kolonie, trägt. Diese Familie zeichnete sich in vielen Zweigen sehr
aus, aber es ehrt sie selbst am allermeisten, daß sie einen der
glänzendsten Anwälte der Unabhängigkeitserklärung hervorbrachte,
dessen sich New Jersey rühmen kann. Er stammte mütterlicherseits
von dem ersten Präsidenten der Princeton-Universität und promovierte
an ihr, noch ehe er 16 Jahre alt war. Aus dieser Familie wählte
sich Martin Kallikaks jüngster Sohn, Joseph, sein Weib. Es ist inter-
essant, festzustellen, daß die Abkömmlinge dieses Paares eine be-
merkenswerte Tendenz zur Berufskarriere zeigten. Eine Tochter
heiratete jedoch einen Farmer, und ihre meisten Nachkommen blieben
der ländlichen Scholle treu. Eine andere Tochter heiratete einen an-
gesehenen Kaufmann, und diese Linie hat, nachdem sie sich in der
Stadt ansässig gemacht hatte, Männer hervorgebracht, die sich haupt-
sächlich mit Handelsangelegenheiten befaßten. Alle fünf Söhne aber
studierten Medizin, und obgleich nur einer von ihnen praktischer
Arzt wurde, haben ihre Kinder die Familientradition in dieser Hin-
sicht doch fortgesetzt.
Im Vorort einer anderen Stadt New Jerseys lebt in einem schönen
alten Hause, das er von seiner Mutter erbte, ein Enkel Frederick
Kallikaks, Martins ältesten Sohnes. Er ist ein höflicher Gelehrter aus
der alten Schule. Sein Heim ist besonders anziehend durch die
Gegenwart seiner aus dem Süden stammenden Frau und zweier
reizender Töchter. In seinem Besitz finden sich zahlreiche Gegen-
stände, die seinem Urgroßvater gehörten. Dieser alte Herr bekundete
ein so umsichtiges Interesse, uns über seine Familie Auskunft zu
geben, daß es uns als eine Ehrensache erschien, ihn von dem eigent-
lichen Zweck der Untersuchung, deren Ergebnisse in diesem Buche
niedergelegt sind, in Kenntnis zu setzen. Er schien der Mann zu
sein, der in der ganzen Familie am besten geeignet war, eine Cha-
270 A. Abhandlungen.
rakteranalyse von ihr zu geben. Und das tat er auch bereitwilligst,
soweit es für die Zwecke unserer Untersuchung dienlich war.
Eine Enkelin von Martin Kallikak seniors jüngstem Kinde Abbie
ward vorsichtigerweise über dieselben Dinge unterrichtet. Diese Dame
ist nicht nur eine hochgebildete Frau, sondern auch die Verfasserin
von zwei genealogischen Werken. Sie hat Jahre lang Material zu
einer ähnlichen Studie über die Familie Kallikak gesammelt. Dieses
Material überließ sie großherzig unserer Hilfsarbeiterin zur Benutzung.
Zu diesem Zwecke widmete sie der Ergänzung und Durchsicht der
in diesem Buche gebotenen Stammbäume der normalen Familie
einen ganzen Tag. Kein Preis ist hoch genug für derartige uneigen-
nützige Selbstverleugnung angesichts eines dringenden öffentlichen Be-
dürfnisses. Wir verdanken diesen beiden Personen die meisten An-
gaben, die das Studium des normalen Zweiges dieser Familie ermög-
licht haben.
Die Geschichte vieler charakteristischer Züge Martin Kallikak
seniors selbst hat sich erhalten. Wie in einem andern Kapitel schon
festgestellt war, starb sein Vater, als er ein Bursche von 15 Jahren
war. In seiner letztwilligen Verfügung empfahl der Vater nach Auf-
zählung verschiedener persönlicher Vermächtnisse seinem Weibe, das
Gehöft zu verkaufen, um für die Erziehung seiner Kinder zu sorgen.
Es existiert noch ein seltsames Dokument, in dem sich Martin Kallikak
verpflichtet, nach Erlangung seiner Großjährigkeit jeder seiner noch
minderjährigen drei »Jungfern« Schwestern bei seiner Rückkehr
250 Pfund Sterling auszuzahlen für ihre Verzichterklärung auf das
Gehöft. Das war für einen jungen Mann eine gewaltige Last, aber
er scheint dadurch den Antrieb bekommen zu haben, der ihn später
zu einem reichen und wohlhabenden Farmer machte.
Er schloß sich im April 1776 der Revolutionsarmee an. Zwei
Jahre später wurde er so schwer verwundet, daß er zu weiterem
Dienste nicht fähig war. Er kehrte in die Heimat zurück. Während
dieses Sommers erzwungener Untätigkeit warb er um das Herz einer
jungen Frau aus guter Quäker-Familie und gewann es auch. Ihr
heftiger alter Vater verweigerte jedoch seine Zustimmung. Auf seine
Einwände, die darauf hinausliefen, daß Martin nicht genug weltliche
Güter besitze, soll der junge Mann entgegnet haben: »Keine Ahnung!
Ich werde, noch ehe ich sterbe, mehr Land besitzen, als Ihr je be-
sessen habt.« Und dieses Versprechen hat er wahr gemacht. Daß
der väterliche Widerstand überwunden wurde, geht aus den Trauungs-
registern hervor, die im Januar 1779 den Tag von Martins Ver-
ehelichung mit der Quäkerin angeben.
Goddard - Wilker: Die Familie Kallikak. 271
Die alte Bibel Casper Kallikaks, ein Familienerbstück, befindet
sich im Besitze von Hochwürden Herrn ..... ‚ der von Casper auf
der Linie einer seiner Töchter abstammt. Diese Bibel war 1704 ge-
kauft und befindet sich noch in ausgezeichneten Zustande. Wenn
auch von der Zeit verfleckt, so sind doch ihre Seiten noch unversehrt.
Die vor so langer Zeit aufgezeichnete Familienurkunde ist darin noch
in leserlicher Handschrift zu sehen. Auf einem eingehefteten Blatte
steht ein netter Spruch, in dem Casper den Band seinem ältesten
Sohne vermacht und ihn bittet: »So oft Du in dies Buch hinein-
guckst, erinnere Dich wie Dein Vater daran, daß Eure Stimmen ge-
leitet seien durch die Lehren dieses Buches.« Weiterhin legt er ihm
nahe, in derselben sicheren Weise seinen Weg zu wandeln.
Fünftes Kapitel.
Was muß geschehen?
Niemand, der an der Entwicklung der Zivilisation Interesse hat,
kann die in den bisherigen Kapiteln gebotenen Tatsachen betrachten,
ohne daß sich in ihm die Frage regt: »Warum ist hier noch nichts.
geschehen?« Für unsere Erwägungen wird es besser sein, diese Frage
so zu formulieren: »Warum tun wir nichts bei alledem?« So stehen
wir dem Problem in praktischer Weise gegenüber und stellen gleich
die nächste Frage: »Was können wir tun?« Für die tiefstehenden
Idioten, diese verhaßten unglücklichen Wesen, die wir in unseren
Anstalten sehen können, haben einige die Totenkammer vorgeschlagen.
Aber die Humanität wendet sich standhaft von der Möglichkeit dieser
Methode ab, und es besteht keine Wahrscheinlichkeit, daß sie je
praktisch wird ausgeübt werden.
Aber im Hinblick auf solche Verhältnisse, wie sie auf der defekten
Seite der Familie Kallikak zutage traten, müssen wir uns allmählich
vergegenwärtigen, daß der Idiot nicht unser größtes Problem ist. Er
ist allerdings verhaßt. Es ist schwierig, für ihn zu sorgen. Trotzdem
lebt und existiert er. Er setzt die Rasse nicht in einer Linie ihm
gleicher Kinder fort. Wegen seines sehr tiefstehenden Zustands wird
er nie zum Elter.
Der Typus des Moronen stellt uns vor das größte Problem. Und
wenn wir uns die Frage stellen: »Was soll man mit denen machen?
mit solchen Leuten, die einen großen Prozentsatz auf der schlechten
Seite der Familie Kallikak ausmachen ?«, dann wird uns klar, daß
wir da vor einem ungeheuren Problem stehen.
Der Lebenslauf Martin Kallikak seniors ist eine gewaltige An-
272 A. Abhandlungen.
klage gegen derartige Jugendstreiche, wie er sie begangen. Martin
Kallikak tat, was unseligerweise viele junge Leute vor ihm und nach
ihm auch taten, und wozu noch unseligererweise die Gesellschaft zu
oft nur mit den Augen gezwinkert hat, als handle es sich dabei nur
um einen kleinen Schritt seitab im Einklang mit einem natürlichen
Instinkt — um einen Schritt, der weiter keine ernsten Folgen habe.
Es ist ganz gut möglich, daß Martin Kallikak selbst niemals ernsthaft
über diesen seinen Akt nachgedacht hat; oder man darf doch, falls
er darüber nachdachte, wohl annehmen, daß er in jugendlicher Un-
besonnenheit gehandelt hat, und daß ihm diese seine Handlungsweise
nachher leid getan hat. Und wenn sie ihm leid tat, wird er wahr-
scheinlich gedacht haben, die Sache sei damit gesühnt, da er nie
unter irgend welchen ernsten Folgen zu leiden hatte.
Sogar die Leute seiner Generation, von denen doch viele um die
Umstände gewußt haben mögen, haben wohl nie das Unglück, das da
angerichtet war, erfaßt. Es wurde zweifellos nur deshalb als Sünde
betrachtet, weil es eine Verletzung des Sittengesetzes war. Die wirk-
liche Sünde: die Bevölkerung der Erde um ganze Generationen defekter,
degenerierter Menschen zu vermehren, die seine Sünde wahrscheinlich
tausendmal mehr begehen — sie wurde zweifellos nicht empfunden
und nicht erfaßt. Erst nach sechs Generationen, auf die wir zurück-
zublicken vermochten, ermessen und erkennen wir die durch einen
einzigen gedankenlosen Akt angerichtete Verwüstung.
Jetzt, wo die Tatsachen bekannt sind, muß sich ihre Lehre uns
einprägen, muß uns die Anklage entgegengeschleudert werden, muß
sie wirken auf unsere jungen Männer aus guten Familien, damit sie
nicht für einen einzigen Augenblick auf Abwege zu gehen wagen!
Wir müssen und wollen von den hier gebotenen Tatsachen jeden
nur möglichen Gebrauch machen. Einige Erwartungen werden sich
sicher erfüllen! Das eigentliche Prohlem wird so allerdings nicht ge-
löst werden. Wäre Martin Kallikak auch auf den Pfaden der Tugend
geblieben, so blieb doch noch das namenlose schwachsinnige Mädchen.
Und andere Leute, andere junge Männer, vielleicht nicht aus so guten
Familien wie Martin, vielleicht schwachsinnig wie das Mädchen, waren
desselben Aktes fähig, Und das ohne Martins Gesundheit, so daß
die Rasse möglicherweise noch schlechter, als sie so schon war, aus-
gefallen wäre, weil sie einen schlechteren Vater hatte!
Andere werden den Stammbaum ansehen und sagen: »Die
Schwierigkeit beginnt mit dem namenlosen schwachsinnigen Mädchen.
Wäre für dieses gesorgt gewesen, so wäre das ganze Unheil ver-
mieden.ce Das ist sehr wahr. Wenn der Schwachsinn auch in
Goddard- Wilker: Die Familie Kallikak. 273
wenigstens zwei Generationen aus anderen Quellen in diese Familie
hineingetragen wurde, so waren diese Quellen doch wieder andere
schwachsinnige Personen. Wenn wir schließen: wäre das namenlose
Mädchen in einer Anstalt abgesondert gewesen, dann würde diese
defekte Familie nicht existiert haben, so meinen wir damit natürlich
nicht, daß eine einzige Vorsichtsmaßregel in diesem Falle das Problem
gelöst haben würde. Aber der Ansicht sind wir doch, daß alle solche
Fälle, männlichen wie weiblichen Geschlechts, in Fürsorge genommen
werden müßten, um ihre Fortpflanzung zu verhindern. Im selben
Augenblick, wo wir diesen Gedanken in seiner ganzen Tragweite er-
fassen, erkennen wir, daß wir einem Problem gegenüberstehen, das
zwei große Schwierigkeiten bietet. An erster Stelle steht die Schwierig-
keit, festzustellen, welche Menschen denn eigentlich schwachsinnig
sind. Und an zweiter Stelle steht die Schwierigkeit, für sie, wenn
sie erkannt sind, zu sorgen.
Ein großer Teil von Individuen, die in dieser Studie als schwach-
sinnig aufgeführt wurden, würden als solche von einem ungeübten
Beobachter gar nicht erkannt werden. Sie sind weder Imbezille noch
Idiöten, die schon in ihrem Gesichtsausdruck die Ausdehnung ihres
geistigen Defekts verraten. Es sind Leute, die die Gemeinde geduldet
und mitunterstützt hat, während sie gleichzeitig ihre Fehler und ihre
Unbrauchbarkeit bejammerte. Es sind Leute, die vielmehr das Mit-
leid als den Tadel ihrer Mitmenschen verdienen. Aber keiner von
denen vermutet den wahren Grund ihrer Vergehen, den sorgfältige
psychologische Tests nunmehr im Schwachsinn gefunden haben.
Die zweite Schwierigkeit ist die Fürsorge für diese große Schar
von Menschen. Unter Zugrundelegung der niedrigsten Schätzungen
der Anzahl der Fürsorgebedürftigen sorgen wir in den Vereinigten
Staaten augenblicklich etwa für ein Zehntel der geschätzten Zahl
unserer geistig Defekten. Viele unserer Staaten meinen, sie würden
jetzt hinsichtlich ihrer Fürsorgepflichten für diese Menschen über-
schätzt, so daß es mit großen Schwierigkeiten verknüpft ist, die ge-
setzgebenden Körperschaften zur Bewilligung hinreichender Geldmittel
für die bereits in Anstalten untergebrachten Personen zu veranlassen.
Es ist unmöglich, unsere Ansicht zu verhehlen, daß für zehnmal so
viel Personen bei uns gesorgt werden müßte. Es muß eine andere
Methode ersonnen werden, der dabei erwachsenden Schwierigkeiten
Herr zu werden.
Vor der Erörterung einer anderen Methode möchte ich noch be-
sonders betonen, daß Absonderung und Koloniebildung keineswegs ein
so aussichtsloser Plan ist, wie es denen scheint, die nur auf das da-
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 18
274 A. Abhandlungen.
durch bedingte unmittelbare Anwachsen der Steuern sehen. Wenn
derartige Kolonien in hinreichender Anzahl zur Aufnahme aller aus-
gesprochen Schwachsinnigen in der Gemeinde geschaffen würden,
würden sie bald in großem Umfange die Stelle der jetzt bestehenden
Armenhäuser und Gefängnisse einnehmen und die Zahl der Insassen
unserer Irrenanstalten bedeutend vermindern. Derartige Kolonien
würden vor einem nicht geringen jährlichen Verlust an Besitz und
Menschenleben, der auf das Konto dieser nicht verantwortlich zu
machenden Menschen geschrieben werden muß, schützen. Das würde
allein schon nahezu oder ganz die Kosten für die neue Anlage auf-
wiegen. Außerdem würden sich diese Schwachsinnigen, wenn sie
bereits als Kinder früh genug ausgewählt und sorgfältig erzogen
würden, in ihren Anstalten mehr oder weniger selbst erhalten, so daß
die Unterhaltungskosten für sie ganz bedeutend zurückgehen würden.
Weiter würde bereits in einer einzigen Generation die Zahl von
300 000 (der für die Vereinigten Staaten schätzungsweise angenommenen
Zahl) auf mindestens 100000 und wahrscheinlich noch weiter zurück-
gehen. (Wir fanden erbliche Belastung in 65°, unserer Fälle,
während andere Autoren sie mit 80 °/, angeben.)
Es ist hier nicht der Ort, diese Frage näher zu erörtern oder
Statistiken zum Beweise dieser Behauptungen aufzustellen. Es mag
der Hinweis genügen, daß jede Anstalt im Lande einen bestimmten
Prozentsatz von Insassen hat, die nicht nur ihren eigenen Lebens-
unterhalt verdienen können, sondern auch einige, die ruhig entlassen
werden und sich vollständig selbst unterhalten könnten, bestände nicht
die schreckliche Gefahr, daß sie sich fortpflanzten. Wir haben in
unserer Anstalt nicht nur ein derartiges Individuum, sondern mehrere,
die auf Staatskosten versorgt werden. Diese Gedanken sollten sorg-
fältig überlegt und nachgeprüft werden, ehe man sich auf den Stand-
punkt stellt, daß Absonderung in besonderen Kolonien und Anstalten
unmöglich und für den Staat unklug sei.
Die andere Methode, die zur Lösung des Problems vorgeschlagen
wurde, ist die, diesen Individuen die Fortpflanzungskraft zu nehmen.
Die früher vorgeschlagene Methode war die »Geschlechtlosmachung«,
wie man sich bisweilen ausdrückte, oder die Entfernung der zur Fort-
pflanzung bei Mann und Weib notwendigen Organe. Beim Weibe
war diese Operation die Ovariektomie, beim Manne die Kastration.
Für die Ausführung dieser Methode in großem Maßstabe ergeben
sich zwei Schwierigkeiten von großer praktischer Bedeutung. Die
erste ist der heftige Widerstand gegenüber dieser Praxis auf seiten
der öffentlichen Meinung. Man betrachtet die Operation als eine
Goddard- Wilker: Die Kamilie Kallikak. 275
Verstümmelung des menschlichen Körpers, und deshalb sind viele
Leute aufs heftigste dagegen. Wenn das auch in der ganzen Frage
kein vernünftiger Standpunkt ist, so haben wir praktischen Reformer
doch der Tatsache Rechnung zu tragen, daß die Durchschnittsmenschen
nicht nach Vernunftgründen, sondern nach Empfindung und Gefühl
handeln. Und solange sich menschliche Empfindung und mensch-
liches Gefühl dieser Praxis gegenüber ablehnend verhalten, werden
die allerschönsten Vernunftgründe gar nichts helfen. Man mag immer
und immer wieder darauf hinweisen, daß die Ovariektomie bei mancher
Frau zur Hebung ihres Gesundheitszustandes ausgeführt ist, und daß
die Verbesserung des moralischen Befindens doch ebenso wichtig ist
wie die des physischen — dieses Argument überzeugt nicht im ge-
ringsten, und der Widerstand bleibt nach wie vor bestehen.
In den letzten Jahren haben die Ärzte nun eine andere Methode
entdeckt, die viele Vorteile hat. Sie ist bisweilen auch ungenau als
»Geschlechtlosmachung« bezeichnet. Genauer genommen handelt es
sich um eine Sterilisation, deren wesentliche Eigentümlichkeit darin
besteht, daß sie auf die Geschlechtseigenschaften von Mann oder Weib
keinerlei Wirkung ausübt, sondern nur künstlich die Fortpflanzungs-
fähigkeit nimmt, indem man die betreffende Person unfruchtbar macht.
Die Operation selbst ist beim Manne fast ebenso einfach wie das
Zahnziehen. Bei der Frau ist sie nicht viel schwieriger. Die Erfolge
sind im allgemeinen dauernd und sicher. Es ist dagegen der Ein-
wand erhoben worden, daß wir die Wirkungen dieses Eingriffs auf
die körperliche, geistige und sittliche Natur des Individuums noch
nicht kennen. Demgegenüber hat man erklärt, daß die Wirkungen in
jeder Hinsicht gut seien. Wir müssen jedoch zugeben, daß wir von
den wirklichen Verhältnissen noch nichts wissen. In vielen Fällen
wurde die Operation ausgeführt. Über schlechte Resultate wurde nie
berichtet, während viele gute Resultate zu verzeichnen waren. !)
!) Auch in der Schweiz wurde die Operation ausgeführt. Vergl. Emil Ober-
holzer, Kastration und Sterilisation von Geisteskranken in der Schweiz (Juristisch-
Psychiatrische Grenzfragen, Bd. VII, Heft 1—3, S. 25—144; Halle a. S., Carl
Marhold, 1911). Danach hat sich nichts ergeben, was die Sterilisierung von ge-
wissen geisteskranken Menschen (die Mehrzahl der Fälle betraf »intellektuell oder
moralisch Defekte und Psychopathen, bei denen sich die Wirkung der erblichen
Veranlagung verhältnismäßig sehr stark geltend macht,« S. 135) diskreditieren
könnte. Die Erfahrungen haben vielmehr gezeigt, »daß das Verfahren nicht nur
für Staat und Gesellschaft Bedeutendes leistet, indem u. a. mit der Möglichkeit, den
Kranken nach der Sterilisierung zu entlassen, die hohe Kosten erfordernde Inter-
nierung vermieden werden konnte und — was unvergleichlich höher in Anschlag
zu bringen ist — eine sehr wahrscheinlich gleichfalls minderwertige Nachkommen-
18*
276 A. Abhandlungen.
Ein ernsthafterer Einwand gegen diese Methode leitet sich aus
der Betrachtung der sozialen Konsequenzen ab. Wie wird die Wirkung
auf das Gemeinwesen in bezug auf Ausbreitung von Ausschweifung
und Krankheit sein, wenn man eine Gruppe von Leuten in ihm hat,
die ihren Instinkten nachgeben können, ohne Konsequenzen in Form
von Kindern fürchten zu müssen? Alle Anzeichen deuten darauf hin,
daß die schlimmen Folgen auch hier mehr in der Einbildung als in
der Wirklichkeit bestehen.
Die wahrscheinlich weitaus größere Schwierigkeit, die zu über-
winden wäre, ehe die Praxis der Sterilisation in irgend einer Form
zu allgemeiner Anwendung würde kommen können, wäre die Fest-
stellung der für diese Operation in Betracht kommenden Individuen.
Gegenwärtig haben acht Staaten bei uns Gesetze, die die Geschlechts-
losmachung oder Sterilisation in irgend einer Form gestatten. Aber
in allen diesen Fällen ist die Praxis sorgfältig auf wenige Insassen
verschiedener näher angegebener Institute beschränkt.)
Diese Notwendigkeit ergibt sich aus der Tatsache, daß wir die
genauen Vererbungsgesetze noch nicht kennen. Gerade wie geistige
Eigenschaften von den Eltern auf das Kind übertragen werden, ist
noch nicht sicher bekannt. Es ist deshalb eine schwierige Aufgabe,
vorher zu entscheiden, daß die und die Person mit einem geistigen
Defekt eben diesen Defekt bestimmt auf ihre Nachkommenschaft über-
tragen werde und folgerichtig von der Fortpflanzung ausgeschlossen
sein solle.
Die Mendelsche Regel.
Im Jahre 1866 entdeckte und veröffentlichte ein Österreichischer
Mönch namens Gregor Mendel ein Gesetz der Vererbung bei gewissen
schaft mit Sicherheit verhütet wurde, sondern daß die Sterilisierung gleichzeitig
meist im eigensten Interesse des Individuums selber liegt« (8. 135). Demgegenüber
kommt August Hegar (Beitrag zur Frage der Sterilisierung aus rassehygienischen
Gründen. Münchener Medizinische Wochenschrift, Jg. 60, Nr. 5 vom 4. Februar
1913, 8. 243—247) auf Grund des von ihm untersuchten und durchgesehenen
Materials zu der Ansicht, daß eine wesentliche Reinigung des Volkes und eine Ver-
ringerung der Zahl der Gefängnis- und Irrenanstaltsinsassen durch Sterilisierung
geisteskranker Rechtsbrecher nicht zu erwarten sei. Er findet, daß sich die beste
Gelegenheit zur Sterilisation bei den Zwangszöglingen biete — ein höchst be-
achtenswerter und durch weiteren Ausbau der Vererbungslehre wohl auch durch-
führbar zu machender Vorschlag! K. W.
1) Das erste Sterilisationsgesetz wurde 1907 im Staate Indiana angenommen.
Connecticut nahm 1909 ein gleiches Gesetz an. Vergl. Hans W. Maier, Die
Nordamerikanischen Gesetze gegen die Vererbung von Verbrechen und Geistes-
störung und deren Anwendung. (Juristisch- psychiatrische Grenzfragen, Bd. VIIL,
Heft 1—3, S. 3—24. Halle a. S., Carl Marhold, 1911.) K. W
Goddard-Wilker: Die Familie Kallikak. 277
Pflanzen, 1) das, nachdem es nahezu 40 Jahre lang so gut wie unbe-
kannt geblieben war, 1900 wieder entdeckt und seitdem im Hinblick
auf eine große Zahl von Pflanzen und Tieren geprüft wurde. ?)
Mendel fand, daß bei den Pflanzen gewisse Eigentümlichkeiten
bestanden, die er als »gemeinsame Merkmale« bezeichnete, und die
vom Elter auf die Nachkommen in bestimmter Weise übertragen
wurden. Bei seiner klassischen Untersuchung über die Vermehrung
der gewöhnlichen Gartenerbse fand er, daß eine Eigenschaft wie etwa
die Größe gegenüber der Zwerghaftigkeit in folgender Weise über-
tragen wurde:
Wenn große und kleine Erbsen gekreuzt wurden, fand er in der
ersten Generation nur große Erbsen. Wenn man diese Erbsen aber
wachsen und sich selbst befruchten ließ, erhielt man in der nächsten
Generation große und kleine Erbsen im Verhältnis von 3:1. Die so
erhaltenen Zwergerbsen zeugten rein, das heißt: wenn sie bei Selbst-
befruchtung aufwuchsen, ergaben sie immer nur Zwergerbsen, einerlei,
wieviel Generationen hindurch sie geprüft wurden. Andererseits waren
die großen Erbsen experimentell in zwei Gruppen teilbar: erstens in
die, die immer rein zeugten, in die immer großen Erbsen; und zweitens
in eine Gruppe, die sich in große und kleine Erbsen im gleichen
Verhältnis von 3:1 vermehrte. Von diesen wurde dann derselbe
Zyklus wiederholt. Mendel nannte das Merkmal, das in der ersten
Generation nicht erschien (also die Zwerghaftigkeit) rezessiv, das
andere (also die Größe) dominant. Der rezessive Faktor wird jetzt
ganz allgemein auf das Fehlen eines Merkmals, das wenn vorhanden
den dominierenden Faktor ergeben würde, geschoben. Unter diesem
Gesichtspunkt ist die Zwergenhaftigkeit weiter nichts als das Fehlen
der Größe.
Die Gültigkeit dieses Gesetzes stellte sich für viele Pflanzen und
!) Seine Untersuchungsergebnisse teilte Mendel 1865 und 1869 in Sitzungen
des naturforschenden Vereins zu Brünn mit, in dessen Verhandlungen sie 1866 und
1870 gedruckt erschienen. Eine Neuausgabe unter dem Titel »Versuche über
Pflanzenhybriden. Zwei Abhandlungen von Gregor Mendel« besorgte Erich
von Tschermak (Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, Nr. 121. Dritte
Auflage. Leipzig, Wilhelm Engelmann, 1913). — Mendel wurde 1822 geboren,
wurde 1843 als Novize im Augustinerstift zu Altbrünn eingekleidet, war von 1854
bis 1868 Lehrer der Naturwissenschaftsn' an der k. k. Oberrealschule zu Brünn,
wurde 1868 zum Abte seines Stiftes gewählt, das er bis zu seinem Tode (6. Januar
1884) leitete. K. W.
1) Correns (Münster), von Tschermak (Wien) und de Vries (Amsterdanı)
waren die Wiederentdecker der Mendelschen Regel. Mendels Vorarbeiten wurden
ihnen erst später bekannt. K. W.
278 A. Abhandlungen.
Tiere heraus. Seitdem das Studium der Vererbung beim Menschen
aufkam, erhob sich nun ganz natürlich die Frage: Läßt sich dasselbe
Gesetz auf menschliche Wesen anwenden? Es stellte sich heraus, daß
es sich hinsichtlich vieler Eigenschaften, wie etwa Haarfarbe, Albinis-
mus, Brachydaktylie und anderer Eigentümlichkeiten, anwenden ließ.
Zuletzt dehnte man die Untersuchung auch auf geistige Eigenschaften
aus. Rosanoff hat ganz klar gezeigt, daß das Gesetz im Falle von
Geisteskrankheit anwendbar ist, während Davenport und Weeks
seine Anwendbarkeit im Falle von Epilepsie klar nachwiesen.!)
Unsere eigenen Studien führten uns zu der Überzeugung, daß es
auch für den Schwachsinn Gültigkeit hat. Der Nachweis dafür soll
in einem späteren Werke, auf das wir bereits Bezug nahmen, erbracht
werden. Wir wissen nicht, daß Schwachsinn ein »gemeinsames Merk-
mal« ist. Viele Gründe können zu der Ansicht führen, daß er es
nicht sein kann. Wenn wir aber der Einfachheit halber an dieser
Annahme festhalten, ergeben sich für uns folgende Möglichkeiten:
Wenn zwei schwachsinnige Menschen heiraten, haben wir bei
beiden dasselbe gemeinsame Merkmal, und die ganze Nachkommen-
schaft wird schwachsinnig sein. Wenn diese Nachkommen sich
schwachsinnige Gatten wählen, wird sich dieselbe Erscheinung fort-
setzen. Was wird aber eintreffen, wenn ein schwachsinniges Indivi-
duum einen normalen Gatten wählt? Wenn der Schwachsinn rezessiv
ist, das heißt durch das dominante Merkmal verdeckt wird, dürfen
wir in der ersten Generation aus einer solchen Vereinigung lauter
normale Kinder erwarten. Wenn diese Kinder gleichgeartete, das
heißt von einem normalen und einem defekten Elter stammende, Indi-
viduen heiraten, dann würden die Nachkommen aus dieser Verbindung
normal und defekt sein im Verhältnis von 3:1. Von den normalen
Kindern würde ein Drittel rein zeugen, und wir würden so eine
normale Deszendenzlinie erhalten.
1) Über diese Untersuchungen berichtet auch Ludwig Plate in seiner treff-
lichen » Vererbungslehre« (Leipzig, Wilhelm Engelmann, 1913), auf deren VI. Kapitel
»Vererbung beim Menschen« hier besonders hingewiesen sei. Auf die echten
Geisteskrankheiten wagt er die Mendelsche Analyse noch nicht auszudehnen, »weil
der Ausbruch oft erst im späteren Lebensalter erfolgt und äußere auslösende Reize
eine große Rolle spielen und diese beiden Umstände sowie die Wandelbarkeit der
Symptome eine sichere Beurteilung sehr erschweren« (S. 376). Er verweist dabei
auf Strohmayers Aufsatz »Zur Kritik und Bewertung psychoneurotischer erblicher
Belastung« (Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie, Bd. 5, 1908, S. 478 bis
497), »welcher die Schwierigkeiten der Erblichkeitsforschung auf psychiatrischem
Gebiet hervorhebt«. — Wer die genauen Literaturangaben der im Text genannten
Untersuchungen wünscht, sei auf Plates eben genanntes Werk verwiesen. K. W.
Goddard - Wilker: Die Familie Kallikak. 279
Ohne unsere Ausführungen darüber weiter fortzusetzen, sehen
wir bereits, daß es fraglich ist, ob wir verlangen müßten, daß das
ursprünglich schwachsinnige Individuum sterilisiert hätte werden sollen,
weil es schwachsinnig war. Wir sehen, daß in der ersten Generation
alle seine Kinder normal wären, und daß in der folgenden Generation
ein Viertel von ihnen normal und rein gezeugt wäre. Wir dürfen
jedoch nicht vergessen, daß ein Viertel seiner Enkelkinder schwach-
sinnig sein würde, und daß zwei weitere Viertel die Anlage hätten
schwachsinnige Kinder zu zeugen. Wir dürfen weiter nicht vergessen,
daß es sich hier um Durchschnittsannahmen handelt, und daß zur
vollständigen Ausgestaltung dieser Bilder eine genügend große Zahl
von Nachkommen vorhanden sein müßte, um diesem Durchschnitts-
gesetz vollen Spielraum zu gewähren. Mit anderen Worten: einer
Ehe, die nach der Mendelschen Regel normale und defekte Kinder
im Verhältnis von 3:1 ergeben sollte, kann unter Umständen nur
ein einziges Kind entstammen. Es kann der Fall sein, daß dieses
einzige Kind eins der zu erwartenden schwachsinnigen ist, so daß
dann nur der schwachsinnige Typus fortgepflanzt würde. Man kann
freilich auch annehmen, daß es das normale Kind ist, das eine aus-
gesprochen rein normale Nachkommenschaft zeugen würde Es kann
aber auch eins der Zwischenglieder sein, die wieder das Verhältnis
von 3 normalen : 1 defekten ergeben, so daß die Aussicht besteht,
daß nur eins unter vieren dieser Abstammung eine normale Linie
begründet.
Wenden wir uns nun den Tatsachen zu, wie wir sie bei der
Familie Kallikak haben. Der einzige Nachkomme Martin Kallikak
seniors und des namenlosen schwachsinnigen Mädchens war ein
schwachsinniger Sohn. Er heiratete eine normale Frau und hatte
fünf schwachsinnige und zwei normale Kinder. Das steht mit der
Mendelschen Regel im Einklang. Es sollten eigentlich teils normale,
teils defekte Kinder — halb und halb —, vorhanden gewesen sein,
wenn Kinder genug dagewesen wären, um der Durchschnittsregel die
Möglichkeit zu gewähren, sich geltend zu machen. Nun erhebt sich
hier mit Recht die Frage: hätte Martin junior sterilisiert werden
sollen? Wir würden uns dann vor fünf schwachsinnigen Individuen
und ihrer schrecklichen Nachkommenschaft geschützt haben. Wir
würden aber auch die Gesellschaft zweier normaler Individuen be-
raubt haben, die, wie unsere Untersuchungen weiter zeigen, zwei
normale Menschen heirateten und die ersten Glieder von Reihen
normaler Generationen darstellen.
280 A. Abhandlungen.
Wenn wir diese Familie als ein Ganzes betrachten, haben wir
folgendes Bild:
In 41 Ehen waren beide Eltern schwachsinnig. Sie hatten
222 schwachsinnige Kinder und 2 weitere, die als normal angesehen
wurden. Diese beiden bilden offenbar Ausnahmen von der Regel,
daß zwei schwachsinnige Eltern nur schwachsinnige Kinder haben.
Wir können diese beiden Ausnahmen in verschiedener Weise erklären.
Entweder kann ein Versehen vorliegen bei ihrer Bezeichnung als
»normal« oder auch bei der Bezeichnung ihrer Eltern als »schwach-
sinnig«. Oder es bestand vielleicht ein uneheliches Verhältnis, und
diese beiden Kinder hatten nicht denselben Vater wie die übrigen
Kinder der gleichen Familie. Oder wir wenden uns der Mendelschen
Regel zu und entdecken, daß diese Regel in seltenen Fällen eine der-
artige Kombination der Dinge zuläßt, daß ein normales Kind von
zwei schwachsinnigen Eltern gezeugt wird. Für praktische Zwecke
ist es natürlich vollständig klar, daß es angebracht ist, anzunehmen,
daß zwei schwachsinnige Eltern immer nur schwachsinnige Kinder
haben.
Wir finden weiter, daß in acht Fällen der Vater schwachsinnig
war und die Mutter normal. Von ihnen stammten 10 normale und
10 defekte Kinder.
In 12 Fällen war der Vater normal und die Mutter schwach-
sinnig. Von ihren Kindern waren 7 schwachsinnig und 10 normal.
Beide Fälle stehen im Einklang zu den nach der Mendelschen Regel
zu erwartenden Resultaten.
Wir finden weiter, daß in den Fällen, wo ein Elter schwach-
sinnig und der andere unbestimmt war, nahezu alle Kinder schwach-
sinnig waren. Wir können daraus wohl schließen, daß mit großer
Wahrscheinlichkeit der Elter unbestimmten Geisteszustandes auch
schwachsinnig war.
Wir wollen in dieser Arbeit nicht weiter in diese Materie ein-
dringen, sondern das bis ins Einzelne gehende Studium dieser Familie
vom Mendelschen Standpunkte aus weiterer Betrachtung vorbehalten,
wenn wir die Fülle von Daten, die wir über dreihundert andere
Familien gesammelt haben, näher untersuchen. Es genüge hier, die
Möglichkeit der Anwendung der Mendelschen Regel auf die Erblich-
keit beim Menschen gezeigt zu haben. Daraus folgt die Notwendig-
keit, daß wir genau den geistigen Zustand der Vorfahren jeder Person,
für die wir die Durchführung der Sterilisation vorschlagen wollen,
kennen müssen.
Aus alledem ergibt sich eine Warnung: man betrachte die Sterili-
Goddard-Wilker: Die Familie Kallikak. 281
sation nicht gleich als eine endgültige Lösung dieses Problems. Wir
können und — wie ich allerdings glaube — müssen sie als Hilfs-
mittel gebrauchen, als etwas, was zur Lösung des Problems beitragen
wird, bis wir die vollständig durchgeführte Absonderung durchsetzen
können. Bei ihrer Anwendung müssen wir uns jedoch vergegen-
wärtigen, daß die erste Notwendigkeit das sorgfältige Studium des
ganzen Subjekts ist, damit wir sowohl über die Vererbungsgesetze
mehr erfahren als auch über die letzte Wirkung der Operation.
Schluß und Zusammenfassung.
Die Familie Kallikak bietet ein natürliches Erblichkeits-Experiment.
Ein junger Mann aus guter Familie wird durch zwei verschiedene
Frauen der Ahnherr zweier Linien von Abkömmlingen. Die eine ist
durch durchweg gute, angesehene, normale Bürger mit fast keiner
Ausnahme charakterisiert. Die andere ist charakterisiert durch geistige
Defektheit in allen Generationen. Der Defekt wurde durch den Vater
in der ersten Generation übertragen. In spätere Generationen wurde
durch Heirat aus anderen Familien weitere Defektivität eingetragen.
In der letzten Generation war sie durch die Mutter übertragen, so
daß wir hier alle Übertragungsmöglichkeiten vor uns sehen, die wieder
den völlig erblichen Charakter des Defekts beweisen.
Wir finden auf der guten Seite der Familie hervorragende Leute
in allen Lebensstellungen. Nahezu alle 496 Deszendenten sind Land-
oder Hausbesitzer. Auf der schlechten Seite finden wir Arme, Ver-
brecher, Prostituierte, Trinker, Beispiele aller Formen sozialen Elends,
mit denen die moderne Gesellschaft belastet ist.
Daraus schließen wir, daß der Schwachsinn in weitem Umfange
für diese sozialen Schäden verantwortlich zu machen ist.
Schwachsinn ist vererblich und wird ebenso sicher wie irgend
eine andere Eigenschaft übertragen. Wir können uns mit diesen Zu-
stäinden nicht eher erfolgreich abfinden, als bis wir den Schwach-
sinnigen und seine erbliche Natur erkennen, möglichst frühzeitig er-
kennen, und für ihn sorgen.
Bei Betrachtung der Frage nach den Fürsorgemaßnahmen scheint
die Absonderung durch Koloniebildung im gegenwärtigen Staat unseres
Erachtens das ideale und vollständig ausreichende Verfahren zu sein.
Die Sterilisation kann als Notbehelf gelten, als ein Hilfsmittel, dieses
Problem zu lösen, weil die Zustände so unerträglich geworden sind.
Aber sie darf gegenwärtig nur als ein Notbehelf betrachtet werden
und als etwas Vorläufiges, denn ehe sie in ausgedehnterem Maße
282 A. Abhandlungen.
angewandt werden kann, haben wir noch viel über die Wirkungen
dieser Operation und über die Anwendbarkeit der Vererbungsgesetze
auf den Menschen zu lernen.
2. Die Strafe in der Fürsorgeerziehung.
Von
Oberarzt Dr. Mönkemöller, Hildesheim.
(Schluß.)
Wollen wir den Resultaten dieser Forschungen Rechnung tragen,
wollen wir die Vertreter der Minderwertigkeit, denen die Strafe aus
irgend welchen Gründen schadet, straffrei ausgehen lassen, dann er-
heben sich sofort die Schwierigkeiten, die eine solche Differenzierung
der Behandlung für die Disziplin mit sich bringen muß. Es ist
durchaus unmöglich, gerade die Rädelsführer immer straffrei ausgehen
zu lassen. Denn die Gründe eines solchen Verhaltens sind ja un-
möglich ihren Gefährten auch nur entfernt beizubringen. Ich weiß
es auch aus eigener praktischer Erfahrung, daß der größte Teil des
niederen Erziehermaterials dieser Praxis vollkommen verständnislos
gegenübersteht, und daß selbst alle Kurse und Unterweisungen es
nicht vermögen, bei allen Erziehern das Sühne- und Racheprinzip
in der Wurzel auszurotten.
Nun wird es ja mit dem Fortschreiten der praktischen Über-
tragung der psychiatrischen Forschung in dies Gebiet sicher dahin
kommen, daß ein größerer Teil dieser diffizilen Behandlungsobjekte
nicht der regulären Form der Fürsorgeerziehung überantwortet
wird. Ein — allerdings nur ganz geringer — Prozentsatz wird ihr hoffent-
lich von vornherein ganz vorenthalten werden. Eine schon größere
Menge wird in die Zwischenanstalten für psychopathische Zöglinge
abwandern. Daß das in durchgreifendstem Maßstabe geschieht, dafür
zu sorgen, muß nicht nur das Bestreben der Psychiater, sondern auch
der Pädagogen sein.
Es wird aber noch immer eine genügende Menge zurückbleiben,
die auf eine besondere Berücksichtigung ihres labilen Gemütes be-
rechtigten Anspruch hat.
Will man beiden Interessen dienen, dann bleibt nichts anderes
übrig, als diese Vertreter der Psychopathie in besonderen Ab-
teilungen zusammenzulegen. Für kleinere Anstalten, die nicht
über eine derart ausgedehnte Gliederung verfügen, daß eine solche
Abteilung möglich wäre, ist ihr Verbleib nicht angängig. Sie müssen
in die größeren Anstalten überführt werden. Oder, was noch eher
Mönkemöller: Die Strafe in der Fürsorgeerziehung. 283
anzuempfehlen ist, diese Vertreter der Labilität müßten schon bei der
Aufnahme in die Fürsorgeerziehung so weit psychiatrisch untersucht
werden, daß ihre Überführung in eine Anstalt als selbstverständlich
erscheint, in der auch aus vielen sonstigen Gründen eine derartige
Absonderung möglich ist.
Auch das hat ja natürlich seine schweren Bedenken. Die Kinder
sollen sich nicht nur durch Unterricht und Unterweisung fortbilden,
sie sollen sich auch durch die Macht des Beispiels beeinflussen lassen,
sie sollen sich aneinander abschleifen. Werden hier nur solche Psycho-
pathen zusammengedrängt, dann ist es darum schlecht bestellt.
Was gar aus Ethik und Moral werden soll, wenn nur die unerfreu-
lichsten Seiten des Seelenlebens in unerquicklichster Ausgestaltung und
abschreckender Ausprägung als böses Beispiel vor Augen treten, das
bedarf keiner näheren Ausführung.
Hier wird nicht bei ihnen der Wetteifer im Kampfe um die
Fortbildung geweckt; es fehlt die oft unbewußte Nachahmung ihrer
Mitbewerber in diesem Kampfe. Ein weiterer schwerer Nachteil dieser
Unterbringungsmethode ist der, daß sich dann hier gerade die reiz-
baren und explosiblen Elemente zusammendrängen, so daß die Ge-
legenheiten zu Karambolagen mit der Umgebung sich häufen.
Bei der Reizbarkeit unserer Psychopathen ist das natürlich die
Quelle immer neuer Konflikte.
Fine weitere unerfreuliche Begleiterscheinung dieser Isolierung
ist, daß diese abgesonderten Psychopathen in ein eigentümliches Ver-
hältnis zu den anderen Zöglingen der Anstalt geraten, und daß ihnen
bei dem geringen Wohlwollen der übrigen Zöglinge ihre geistige
Minderwertigkeit in liebloser Weise vorgehalten wird. Diese Fehler
der Isolierung fallen um so schwerer ins Gewicht, als die Vertreter
dieser Formen der Minderwertigkeit auch sonst für die Erziehung
meist einen schweren Ballast darstellen.
Diese Absonderung der psychisch nicht einwands’reien Individuen,
die der Anstaltsdisziplin und der Strafe neutral gegenüberstehen, bleibt
die einzige Methode, durch die man den verschiedenen Gesichtspunkten
gerecht werden kann. Aber sie bleibt auch nur ein dürftiger Not-
behelf, der viele Unbequemlichkeiten und direkte Schädigungen des
Erziehungsmaterials in sich birgt. Seiner Umsetzung in die Praxis
setzt er auch aus äußeren Gründen nicht selten große Schwierigkeiten
entgegen.
Und so kommt man immer wieder auf die Frage zurück, ob man
nicht doch unter allen Umständen versuchen sollte, die Strafe
selbst, wenn man sie theoretisch für zulässig erklärt und sich mit
284 A. Abhandlungen.
ihren praktischen Nachteilen abfindet, ganz aus den Erziehungsmitteln
der Anstalt auszuschalten.
Man kann das um so eher, als man ja hoffen kann, daß die
schlimmsten. Vertreter des Asozialismus, die eben mit der geistigen
Minderwertigkeit in irgend einer Form identisch sind, in ein anderes
Milieu verpflanzt werden. Man kann bei dem, was übrig bleibt,
vielleicht dadurch am meisten die Gegenvorstellungen wecken und
die Strafe sinngemäß ersetzen, indem man aus der psychiatrischen
Praxis das in die pädagogische herüber zu nehmen sucht, was ihrem
psychischen Zustande gerecht wird und doch geeignet ist, die nötigen
Hemmungen gegen weitere Entgleisungen und unliebsame Vorkomm-
nisse zu setzen.
In dieser Richtung hat sich schon in gewisser Beziehung die
Bettruhe, d. h. die gezwungene und länger dauernde, außerordentlich
bewährt. Sie wirkt beruhigend auf das Gemüt ein, sie gibt dem
Täter Gelegenheit zur inneren Einkehr, sie trägt den Charakter des
Medizinischen, ohne als Strafmittel zu gelten. Und doch wird sie von
den gezwungenen Betthütern, vor allem in etwas vorgerücktem Alter,
als eine sehr langweilige und lästige Maßregel empfunden, die im all-
gemeinen durchaus geeignet ist, Respekt einzuflößen und für die Zu-
kunft als Mene Tekel zu gelten. Sie setzt allerdings das Vorhanden-
sein eines ständig überwachten Krankenzimmers voraus, weil
sonst die Bewegungsbeschränkung nicht durchführbar ist. Zu bedenken
ist auch, daß die Bettruhe bei körperlich gesunden Individuen, die
dazu disponiert sind, die Onanie befördert. Weniger kommt dabei
in Betracht, daß eine längere Bettruhe die Arbeitsfähigkeit vorüber-
gehend schwächt.
Als Steigerung dieser medizinisch-pädagogischen Methode kämen
noch für stärkere Erregungszustände länger dauernde Bäder in Be-
tracht. Sie bedingen allerdings ebenfalls eine besonders gute Ein-
richtung des Lazaretts und die Gefahr liegt sehr nahe, daß sie sehr
bald den Charakter der kalten Douche annehmen, die in dem Be-
handlungsarmentarium einer überlebten Psychiatrie eine ziemlich üble
Rolle spielte.
Die Hauptsache bleibt eben immer, daß der Pädagoge das Ziel
erreicht, über die geistige Gestaltung seiner Schutzbefohlenen ins Reine
kommt. Weiß er hierüber Bescheid, kann er in der Seele des Kindes
auch die pathologischen Kapitel lesen, dann muß es seine vornehmste
Aufgabe sein, durch verständnisvolles Eingehen auf ihre Eigenart vor-
zubeugen, es gar nicht zu solchen Entladungen kommen zu lassen
und so der Strafe den Wind aus den Segeln zu nehmen. Das ist
Mönkemöller: Die Strafe in der Fürsorgeerziehung. 285
eine herrliche Aufgabe, die leider nur in der Theorie leichter ist als
in der Praxis und bei dem Erzieher eine gründliche Kenntnis der
Psychopathologie des Kindes, Scharfblick und Geduld voraussetzt.
Noch ein Wort über die gerichtlichen Strafen, die ja auch
zeitlich in die Fürsorgeerziehung hineinragen.
Wie schädlich die Haftstrafen für jugendliche Individuen sind,
darüber sollten eigentlich die Akten geschlossen sein.
Förster!) meinte allerdings: »Manche neuere Kriminalisten be-
trachten es als ein Axiom, daß Schulkinder nicht ins Gefängnis kommen
dürfen. Sie haben gewiß recht, soweit es sich um das bloße Sitzen
und gar um das Zusammensitzen mit erwachsenen Delinquenten handelt.
Ein Jugendarrest jedoch, mit tüchtiger Arbeitstherapie, würde für ge-
wisse Arten von jugendlichen Ausschreitungen durchaus die ent-
sprechende Form der Sühne bleiben und nachhaltige Eindrücke hinter-
lassen. Die neuere Parole für die Behandlung jugendlicher Delin-
quenten: »Erziehung statt Strafe« ist gerade vom pädagogischen
Standpunkt aus zu verwerfen.
Eine erste Sühne ist das Fundament aller weiteren erziehlichen
Beeinflussung. Es sollte also vielmehr heißen: ‚Zuerst Buße, dann
Erziehung‘. «
Damit dürfte Förster im wesentlichen aber allein stehen: »Ge-
bessert wird der junge Sträfling durch den Umgang mit den übrigen
zum Teil sehr verrohten Insassen der Gefängnisse wahrhaftig nicht.
Zwar sollen auch nach Möglichkeit die jugendlichen Gefangenen von
den erwachsenen getrennt werden. Aber in den kleineren Gerichts-
gefängnissen läßt sich das gar nicht durchführen, und sind die halb-
wüchsigen Burschen, mit denen der Neuling im günstigsten Falle zu-
sammengesteckt wird, wirklich ein geeigneter Umgang? Das Schlimmste
ist aber, daß das Kind durch die Inhaftierung die Scheu vor dem
Gefängnis verliert.« (Scholz.?)
Wir dürfen ja wohl erwarten, daß bei dem großen Interesse, das
der Bestrafung der jugendlichen Kriminellen von allen Seiten zu-
gewandt wird, diese Frage in ein neues Stadium eintreten wird. Zum
Teil ist sie ja schon darin eingetreten. Schon jetzt sorgt ja die
Tätigkeit der Jugendgerichtshöfe — soweit solche schon vorhanden
sind — dafür, daß in ganz anderem Maße der Individualität der
Kinder und Jugendlichen ihr Recht wird, daß der psychopathologische
Keim, der so häufig in den Gesetzesbeugungen der Jugendlichen
steckt, nicht unberücksichtigt bleibt und daß auch die Strafe der
1) Förster, l. e S. 701. — *) Scholz. l. oœ 8. 421.
286 A. Abhandlungen.
inneren Veranlagung angepaßt wird. Und der Strafvollzug wird ja
auch wohl noch einmal den eigenartigen Verhältnissen dieses Lebens-
alters soweit angepaßt werden, daß nur besondere Jugendgefängnisse
der Haft der Jugendlichen zur Verfügung stehen und sie ihrer Eigen-
art entsprechend gestalten. Aber damit hat es vorläufig noch gute
Wege, und wie es selbst bei einer noch so hochgespannten Durch-
führung dieses idealen Strafvollzuges möglich sein wird, in den kleineren
Gerichten dieses Ziel zu erreichen, erscheint denn doch sehr fraglich.
Generell hat die Fürsorgeerziehung noch keinen Grund dazu, ihre
Stellung gegenüber dem Strafvollzuge ihrer Schutzbefohlenen zu revi-
dieren. Nach den Erfahrungen, die die Fürsorgeerziehung jetzt ja nur
noch in geringem Maße, um so mehr aber früher, mit den Gefängnis-
strafen ihrer Schutzbefohlenen machte, hat sie ein sehr dringendes Inter-
esse daran, gegen den Strafvollzug sich aus allen Kräften zu sträuben.
Man kann ganz davon absehen, daß die paar Tage Gefängnishaft,
die so häufig abgemacht werden sollen, ehe die Fürsorgeerziehung
einsetzt, gar keinen rechten Zweck haben, sondern nur das Einsetzen
der tatkräftigen Erziehung verzögern.
Wie aber die länger dauernden Freiheitsstrafen auf das jugend-
liche Gemüt einwirken, damit hat gerade die Fürsorgeerziehung die
schlechtesten Erfahrungen gemacht. Ich entsinne mich aus meiner
Tätigkeit als Zwangserziehungsarzt noch sehr gut, wie damals, als die
Haft noch unumschränkter bei den Jugendlichen durchgeführt wurde,
deren Vertreter immer geradezu stigmatisiert wurden. Sie fielen
für die erste Zeit nach der Haft, bis deren ungünstige Wirkungen
sich ausgeglichen hatten, so gut wie ausnahmslos durch ihr scheues,
zurückhaltendes, in sich gekehrtes und verdrossenes Wesen auf, ohne
daß man als Wurzel dieses in sich gekehrten Wesens die Reue hätte
nachweisen können. Im Gegenteil, die ethische Artung ließ bei ihnen
noch mehr zu wünschen übrig, der Verkehr mit den anderen Haft-
genossen hatte in der Regel auf sie abgefärbt, der Erziehung standen
sie verdrossener und widerspenstiger gegenüber und von Gegenmaß-
stellungen gegenüber den begangenen Delikten war recht wenig zu
bemerken.
Man muß sich eben immer wieder daran erinnern, daß in der
Fürsorgeerziehung so viele psychopathologische Individuen das Wort
führen,* und daß gerade die Elemente, die den Haftstrafen verfallen,
in besonderem Maße ihr Kontingent zur Psychopathie stellen.
Daß aber an so vielen Psychopathen, vor allem wenn sie in der
Zeit der Pubertät stehen, die Haft nicht spurlos vorbeigeht, ist eine
bekannte klinische Tatsache. Es braucht nicht einmal zu den aus-
Mönkemöller: Die Strafe in der Fürsorgeerziehung. 287
gesprochenen Haftpsychosen zu kommen. Aber es findet oft in-
folge der Abgeschiedenheit von der Außenwelt eine schärfere Aus-
prägung der krankhaften Veranlagung statt, die eine Hervorkehrung
der unliebenswürdigen Seiten der Krankheit mit sich zieht und eine
Zuspitzung des Asozialismus im Gefolge hat. Wenn diese Vertreter
der Haftstrafe immer gewissermaßen als Kunstprodukte erschienen,
an denen die Fürsorgeerziehung mühevoll die Schädigungen einer ver-
fehlten Strafmethode wieder gut machen mußte, ist das in den meisten
Fällen der ursprünglichen krankhaften Veranlagung zuzuschreiben, auf
die sich die Folgen der akuten Einwirkung des Gefängnismilieus auf-
pfropfte.
Die Durchführung der bedingten Begnadigung und Straf-
aussetzung hat ja sehr wesentlich damit aufgeräumt. Ganz ist
mit diesem Prinzip noch nicht gebrochen. Die Fürsorgeerziehung hat
ein sehr dringendes Interesse daran, daß der Bann des Gefängnisses
gar nicht mehr in ihren Machtbereich hineinragt. Der Grundsatz:
»Erziehung und nicht Strafe« sollte wenigstens für diese Form der
Strafe zu vollstem Rechte bestehen. Ihre Zöglinge geraten zum Teil
sowieso noch früh genug in den Bann der Detention.
Die Betonung des Krankhaften bei diesen Strafkandidaten ist
fraglos ganz besonders geeignet, die Durchführung der Strafaussetzung
zu erwirken. Die Mitarbeit des Psychiaters dürfte gerade in dieser Be-
ziehung eine ganze besondere Bedeutung beanspruchen.
Wenig ist noch vom Verweis zu sagen. Eigentlich fällt er
nicht so sehr in das Gebiet der Strafe, sondern in das der Erziehung.
Seine Bedeutung sollte er ja dadurch gewinnen, daß er in außer-
gewöhnlich feierlicher Weise an einer Stätte erteilt wird, von der eine
besondere Ehrfurcht erweckt werden sollte.
Aber daran fehlt es leider auch noch sehr oft. Der Verweis
wird nur zu oft nüchtern und geschäftsmäßig erteilt. Daß er dann
in seiner Wirkung vollkommen versagen muß, ist selbstverständlich.
Er muß es um so mehr, wenn die Psyche der Empfänger sich nicht
eines vollnormalen Wesens erfreut.
Gewiß haben die Jugendgerichtshöfe etwas ganz anderes daraus
gemacht. Die Väterlichkeit, die ernste Würde, das Wohlwollen, mit
der der Verweis hier an die guten Seiten der Kindesseele appelliert,
haben ihn auf ein ganz anderes Niveau gehoben. Wird er dermal-
einst überall in dieser Weise erteilt, dann mag dieser Strafmaßnahme
eine erhöhte Bedeutung wieder erwachsen.
Es bleibt immer nur das Gegenmotiv, daß es für Kinder unter
allen Umständen schädlich ist, wenn sie vor Gericht gestellt werden,
288 A. Ahhandlungen.
Ld
auch, wenn man alles beseite schafft, was nebenher schädlich ein-
wirken kann. Die Tatsache, daß viele Kinder sich dadurch in den
Mittelpunkt des Interesses gedrängt sehen, daß sie vor Gericht er-
scheinen dürfen, hat gerade für unsere Psychopathen wieder eine be-
sonders unangenehme Nebenbedeutung.
Ist einmal die Fürsorgeerziehung verhängt, dann ist es am besten,
daß ihr Machtbereich nicht gestört wird. Wenn das Gericht durch
einen Verweis erreichen soll, was der Fürsorgeerziehung nicht glückt,
dann wäre es um diese traurig bestellt.
3. Statistisches über dən Kinobesuch durch Kinder.
Von
Gerichtsassessor Dr. Albert Hellwig (Berlin - Friedenau),
Assistent der Berliner juristischen Fakultät.
(Schluß.)
Am 19. Januar 1910 erteilte Stadtschulrat Dr. Kerschensteiner
in München 13 Lehrern und Oberlehrern den Auftrag, gleichzeitig
13 Münchener Kinotheater zu besuchen. Es wurde dabei festgestellt,
daß in diesen 13 Kinos 530 Kinder ohne Begleitung Erwachsener
sowie 100 von Erwachsenen begleitete Kinder gezählt wurden.!)
Schönhuber veranstaltete im Winter 1912/1913 — die nähere
Zeit ist nicht angegeben — Erhebungen über den Kinobesuch an
den Oberklassen (5. bis 8. Klasse) zweier Münchener Schulen.
Von der ersten, im Zentrum der Stadt gelegenen, Schule waren
im Kino:
nie Imal 2—3mal 5—6mal 8—10mal öfter
von 349 Knaben 33 43 67 59 28 119
von 399 Mädchen 56 49 81 77 53 83
Die Knaben waren also durchschnittlich etwa achtmal im Kino,
die Mädchen etwa siebenmal. Verschiedene Knaben gaben zu, schon
40 bis 50 Vorstellungen besucht zu haben.
In der an der Peripherie der Stadt belegenen Schule, in deren
Bezirk sich erst seit gut zwei Monaten ein Kino befand, waren im
Kino gewesen:
nie lmal 2—3mal 5—6mal 8—10mal öfter
von 361 Knaben 38 72 83 79 40 76
von 306 Mädchen 80 45 79 35 17 23
1) Gedruckter Bericht über die Sitzung der Kgl. Lokalschulkommission zu
München vom 6. Oktober 1910, S. 1520, mir von Herrn Stadtschulrat Dr. Kerschen-
steiner übersandt.
Hellwig: Statistisches über den Kinobesuch durch Kinder. 289
Es hatten also die Knaben etwa siebenmal und die Mädchen etwa
viermal im Laufe von kaum einem Vierteljahr das Kinotheater besucht. 1)
Auch wenn man berücksichtigt, daß es sich um eine im Winter
vorgenommene Erhebung handelt, müssen diese Ziffern doch als recht
hoch bezeichnet werden.
Eine Reihe wertvoller Mitteilungen stehen mir über die Verhält-
nisse in der Schweiz zur Verfügung.
Eine Erhebung, die der Präsident der Kreisschulpflege III zu
Zürich unter den Schulpflichtigen seines Kreises veranstaltet hatte,
ergab, daß im vierten Schulquartal 1910/1911 bis zu 90°/, der
Schüler einzelne Kinematographentheater besucht haben, und zwar
84 °/, ohne Begleitung Erwachsener. Dabei waren alle Schulklassen
vertreten, auch die untersten; mindestens 25°/, aller Schüler des
dritten Schulkreises waren ohne Begleitung Erwachsener im Kino,
darunter manche gegen zwanzigmal. In den Schulkreisen II und V,
aus denen ebenfalls unerfreuliche Berichte eingegangen waren, scheinen
ähnliche Verhältnisse zu bestehen. ?)
Die näheren Daten finden sich in dem Bericht des Präsidenten
der Kreisschulpflege III zu Zürich, J. Briner, vom 27. Juni 1911
folgendermaßen zusammengestellt: ®)
Schulhäuser Besucherzahl |Ohne Begleitung Bemerkungen
1. Aegerten 6 Kl. KeineAngaben erhältlich.
2. Amtler A. 23 Kl. | Bis 35%, p. Kl. | 18— 35%, p
3. Amtler B. 12 Kl. 145°, aller Schüler 30°/, aller eäler 142 ohne, 61 mit Begl.
4. Brauersstr. 4Kl. - 16—84°/, p. Kl. | 103 Besuche ohne Begl.
5. Bühl A. 23 Kl. |30—40°, p. Kl. 10-15, p- Kl. _
6. Bühl B. 21 Kl. | Bis 55°, p. Kl. | Bis 35°, p. Kl. _
7. Feldstr. 23 Kl. — ca, 33°/, aller Sch. --
8. Hard 6 Kl. — Bis 25°/⁄ p. Kl. —
9. Hohlstr. 18 Kl. | Bis 90°/, p. Kl.| Bis 60°, p. Kl. mit über 20
Besuchen.
10. Josephstr. 6 KI. | ca. 70°/, p. KL. | ca. 60°/, p. Kl. _
11. Kernstr. 24 Kl. |30—80°;, p. Kl.| Ein großer Teil į Nicht vollständig.
12. Klingenstr. 22 Kl. |Bis 74°, p. Kl.| 8- 55%, p. Kl. —
13. Langstr. 15 Ki. |49°/, aller Schüler! 2—50 p. Kl. | Von 853 Sch. 422 an K.
14. Limmatstr. 17 Kl. — — Keine Angaben erhältlich.
15. Wengistr. 15 Kl. |Bis 75°, p. Kl.| 35°/, aller Sch. —
16. Zurlinden 12 KI. — 2--53°/, p. Kl. [129 Schüler ohne Begl.
1) Schönhuber, »Die Kinematographeutheater. Eine Orientierung und eine
Kritik.« Bayerische Lehrerzeitung 1913. S. 216 f.
2) Gedruckter Auszug aus dem Protokoll der Zentralschulpflege der Stadt
Zürich vom 30. November 1911, mir von dem Herrn Präsidenten der Kreisschul-
pflege III, J. Briner, übersandt.
2) Nur die in der Statistik angeführten Namen der besuchten Kinotheater
habe ich fortgelassen.
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 19
292 A. Abhandlungen.
uosomo?
ouy w 30
Nr. | Anstalt (Schulkreis)
86 | Knaben-Sekundarschule.| Ib j|14—15| 23 — 17 6 | —
1 e J .| Ia y 24 — Ei NIK r 2
2 | Länggasse Ia 55 33 — 29 $ 1
3 z Ic fi 33 5 | 19 4 2
4 | Sulgenb. . I Š 23 2 19 2 -—
5 | Schoßh. . I y 40 5 11 24 2
6 | Kirchfeld Ib 5 36 3 24 9 —
7 j la S 38 — 22 11 5
8| Matte. . . RA E i S 34 — 32 2 1
60 | Knaben-Sekundarschule.| Ic “4 25 — 6 18 1
61 x „ .| le = 26 1 12 13 —
70 | Gymnasium . IVb 7 25 _ 8 16 —
73 n ; lVb s 29 — 17 | 12 —
9 | Sekundarschule Brung .| Ib |13—14| 31 | — | 2 | u | —
10 ’ „ -f| Ia y 33 1 24 8 —
11 | Prog. . A Ia rn 25 2 22 1 —
12 | Lorraine . IIa x 42 2 | 2 | 12 6
13 A e" IIb A 37 9 17 13 2
14 | Obere Stadt. Ib m 39 3 20 12 4
15 | Länggasse Ila Š 36 4 12 14 4
16 | Brumm. . Ila rA 42 4 24 14 1
17 x IIc a 42 8 28 6 —
18 a Ib FR 39 6 19 12 2
19 | Postg.. . - . Ib PA 33 7 20 3 2
20 | Mittlere Stadt . Ib n 40 7 15 15 1
21 | Sulgenb. . IL s 40 7 14 12 2
22 | Schoßh. . m = 39 20 16 3 —
23 | Matte. . . . . . .[I Kn. m 27 3 21 3 —
62 | Knaben-Sekundarschule .| IIc k 30 — 19 11 2
63 = en -| Ie ss 32 — 17 15 —
64 J = ld en 27 1 12 14 —
65 2 Hig J 33 1 15 16 —
24 | Brumm. Arava 12—13| 41 17 19 4 3
261 Ila z 27 — 16 11 —
PN Era ar Seaan ai e O LLD 3 34 6 15 12 1
28 | Knaben-Sekundarschule . | IIIa 5 31 — 10 21 —
29 s 2 .| Ua » | 33 2 27 — —
30 | Brumm. . IIIb 3 43 12 13 8 2
31 x IIb » 39 11 26 3 —
32 5 R: Me ii 42 10 18 12 —
33 | Untere Stadt Ila 3 37 1 23 10 —
34 | Lorraine . . IVb » 39 13 14 7 4
35 | Mittl. Stadt. lIc ir 37 7 22 8 —
n MA TA Ila p 37 5 23 5 1
37 | Matte Mäd. . I 55 44 11 29 2 —
38]. a ER RR | [FR i = 43 17 23 — 3
39 | Knaben-Sekundarschule.| II g | 30 1 |14 | u ı
Hellwig: Statistisches über den Kinobesuch durch Kinder. 293
an 2 | Q ee)
353° 3.287 358
Nr.| Anstalt (Schulkreis) | Klasse | Alter | =5 35 |4 BE 45 iur
TERUEL
8 E 5 5 i
40 | Knaben-Sekundarschule . | INe |12-—13| 29 | _ 19 10 -
41 S M I Dit x 28 2 14 12 _
2| „ x .| c $ 32 16 | 16
43 A 2 IVe |11—12| 33 — 14 19 5
4| „ ii IVg n ur
45 a IVe 35 34 5 19 10 =
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2 A ET, ar 2 | 20 | =
DENE en: ara ra ae g "O8 _ 12 20 2
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52| Lorraine. . . . . .| IVa s 41 | 26 4 6| u
53 | Sulgenb. . ... . . | IV x 40 | 10 | 23 8 |-
54| Länggasse . . . . .| IVe * 44 12 25 1 _
55] Untere Stadt . . . .| IVa r 36 20 13 2 1
56| Sulgenb. . . . . . . ? w 36 5 24 —- 7
Tr E, $ 35. | 14 8 7 1
58| Lorraine. . . . | .| Ib 4 40 ı | 30 9 1
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294 A. Abhandlungen.
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Diese Statistik gibt einen interessanten Einblick in die Häufig-
keit der Besuche von Kinotheatern durch Kinder. Man wird die
Zahlen allerdings nicht ohne weiteres auf unsere Verhältnisse über-
tragen können. Am ehesten werden noch die Mittelstädte eine Par-
allele bieten können. In den Großstädten dürfte bei uns der Prozent-
satz derjenigen Schulkinder, welche noch nie in einem Kinotheater
gewesen sind, geringer sein, dagegen der Prozentsatz derjenigen, die
häufige oder ständige Besucher der Kinotheater sind, bedeutend
größer ausfallen. Außerdem dürfte die Art der Fragestellung durch
den Lehrer, das Verhältnis des Lehrers zu seinen Schülern wenigstens
in einzelnen Fällen fälschend auf das Ergebnis der Umfrage einge-
wirkt haben; wenigstens läßt es sich anders kaum erklären, daß ohne
ersichtlichen Grund in einigen Klassen der Prozentsatz derjenigen
Hellwig: Statistisches über den Kinobesuch durch Kinder. 295
Kinder, welche angeblich noch niemals ein Kinotheater besucht haben,
so auffallend groß ist. Schließlich muß noch darauf hingewiesen
werden, daß es jedenfalls für unser Verhältnis nicht angehen dürfte,
einen Schüler, der »einige Male« im Jahr den Kino besucht, als
häufigen, und einen Schüler, der dies monatlich ein- bis zweimal tut,
als regelmäßigen Kinobesucher zu bezeichnen: Es gibt leider Kinder
genug, die fast ausnahmslos jede Woche einmal oder mehrere Male
das Kinotheater besuchen. Durch diese Ausstellungen soll der Wert
der mühsamen Berner Statistik — der besten, die mir bekannt ist —
keineswegs herabgesetzt werden.
Gleichfalls wertvoll sind die Angaben von Lang!), welcher in
einigen hundert Wiener Schulklassen eine Statistik über den Kino-
besuch hat anlegen lassen — offenbar im Jahre 1912 oder 1911 —
und zu dem Ergebnis gekommen ist, daß 76°/, der Kinder schon im
Kinotheater waren und daß davon 20°/, regelmäßig das Kino be-
suchten. Aus dieser Statistik teilt er uns folgende charakteristische
Beispiele mit:
Regelmäßig | Noch nie die
ins Kino . | Stephanskirche
gehend gesehen
n Schon im
Klasse Schülerzahl Kino gewesen
Knabenvolksschule im XII. Wiener Gemeindebezirk:
A 57 38 12 35
24% 56 35 | 6 | 42
3. 56 47 10 20
4. 55 | 45 9 33
l 52 51 11 3
durchschnittlich 3%, | 175% 48°.,
Knabenvolksschule im X. Wiener Gemeindebezirk:
la, b, c, d, e 208 | © 198 | 70 | 47
2a b,c, d. 177 59 23
3a, b,c. . g B
durchschnittlich | | 965%, | 355% 14%,
Mädchenbürgerschule im X. Wiener Gemeindebezirk:
164 90 | 8 | 75
130 | 108 | 21 23
; 57 | 2 | 1
durchschnittlich | 23% | 9% | 22°,
Eine offizielle Statistik über den Kinobesuch der Volksschüler
in Stavanger ergab im Jahre 1910 folgendes Resultat:
1) Lang. »Das Kinematographentheater und seine Gefahren für die Jugende.
Separatabdruck aus der Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. Jg. IV.
Wien 1912.
296 A. Abhandlungen.
vl on| fn] E | Zeblder | Zablder | y | F
RE PS | oS | y | regelmäßig | regelmäßig fas]
Klasse Ja |Æ, 87| 8 |jede Woche | alle 14 Tage E S
Be 85 55 @ den Kino den Kino 3 2
= Ss g | Besuchenden Besuchenden | S 7
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Zweite. .| 18 | 545 | 456 | 85), 101 38 139 | 25°),
Dritte. .| 24 | 729 | 632 | 867i, 86 44 130 | 17°),
Vierte. .| 17 | 548 | 485 | 887), 115 55 170 | 32%
Fünfte. .| 24 | 750 | 715 | 94%, 139 173 212 | 28
Sechste 12 357 | 344 | 96?/, 124 84 208 | 581),
Siebente |
u. Achte] 15 417 | 417 |100 116 88 204 | 49
Zusammen | 125 | 3852 | 3459 | 895| 767 | s2 Jııse |33,
Hervorzuheben ist noch, daß im ganzen 25 Lehrer — davon
drei in der zweiten Klasse, drei in der dritten, vier in der vierten,
sechs in der fünften, fünf in der sechsten und zwei in der siebenten
und achten — die Erfahrung gemacht hatten, daß die regelmäßigen
Kinobesucher unter ihren Schülern zugleich die größten Tauge-
nichtse waren.!)
In Indianopolis in den Vereinigten Staaten endlich wurde bei
einer von den social workers unter Leitung der juvenile protective
league of the Children’s Aid Association vorgenommenen Untersuchung
von 41 der 45 Kinotheater u. a. folgendes festgestellt: Ungefähr
3500 Kinder unter 14 Jahren waren am Abend anwesend, davon un-
gefähr 1000 nach 9 Uhr abends; die meisten befanden sich in Be-
gleitung ihrer Eltern oder älterer Personen. Trotzdem diese Zahlen
nur auf Schätzungen der einzelnen an der Untersuchung beteiligten
Personen beruhen, ist es doch wahrscheinlich, daß 1000 Kinder unter
14 Jahren wöchentlich einer oder mehreren kinematographischen
Vorführungen beiwohnen.?)
So wenig diese statistischen Zahlen auch Anspruch auf Voll-
ständigkeit oder Allgemeingültigkeit machen können, so geben sie
doch einen ganz guten Einblick in die Anteilnahme Jugendlicher an
den kinematographischen Vorführungen. Zwar stammen diese Ziffern
1) »Kinematografsaken« S. 6f. Der sehr ausführliche amtliche Bericht, den
zu zitieren wir noch wiederholt Gelegenheit haben werden, ist mir von dem Bürger-
meister von Stavanger übersandt worden.
?) Handschriftlicher »Report of an investigation of moving picture shows,
Indianopolis, Indiana, Iune 4, 1910, mir von der »Societe belge de pedotechnie«
übersandt.
Hellwig: Statistisches über den Kinobesuch durch Kinder. 297
fast durchweg aus Zeiten, wo man scharfe polizeiliche Kinderverbote
noch so gut wie gar nicht kannte; doch kann man sie auch heute
noch durchaus berechtigterweise zur Illustrierung des Kinderbesuchs
anführen, da im großen und ganzen insoweit trotz der Kinderverbote
alles beim alten geblieben ist.
Ich würde es allerdings für sehr erwünscht halten, daß in
möglichst großem Umfange statistische Erhebungen über den Kino-
besuch der Jugendlichen veranstaltet würden, um möglichst sichere
Grundlagen zu gewinnen. Wenn auch die bisher vorliegenden Ver-
suche ein vollkommen zutreffendes Bild nicht geben und auch nicht
geben können, so geben sie doch wertvolle Hinweise darauf, wie sich
das endgültige Resultat gestalten wird.
Wenn man in den Schulen durch Lehrer Nachfragen veranstaltet,
so muß man, wie oben bemerkt, mit Fehlerquellen rechnen, da nicht
alle Angaben der Schüler wahrheitsgemäß sein werden. Wenn man,
wie Pakull es getan hat, den Versuch macht, die Häufigkeit des
Kinobesuchs dadurch festzustellen, daß man diejenigen Kinder zu er-
mitteln sucht, welche ihrer Angabe nach 15 bis 20 mal oder 21 bis
25 mal usw. den Kino besucht haben, so muß man überdies mit un-
absichtlichen Überschätzungen oder Unterschätzungen durch die
Kinder rechnen. Deshalb verdient die Götzesche Methode den Vor-
zug. Die Schulstatistik müßte sich selbstverständlich auf Knaben
sowohl als auch auf Mädchen erstrecken, auf Volksschüler und Mittel-
schüler sowohl als auch auf Realschüler und Gymnasiasten. Es wäre
erwünscht, dabei gleichzeitig festzustellen, wie oft jedes einzelne Kind
den Kino besucht, ob in Begleitung der Eltern oder anderer Er-
wachsener oder allein, zu welchen Stunden, ob es regelmäßig das
Kino besucht oder nur gelegentlich, ob es dasselbe Kino ständig auf-
sucht oder ob es bald dieses bald jenes besucht, wie lange es sich
im Kino aufhält, ob es sich dasselbe Bild unmittelbar darauf noch
einmal ansieht oder ob es mit Ablauf des Programms das Kino ver-
läßt, in letzterem Falle, ob es dies von selbst tut oder deshalb, weil
sein Billet abgelaufen ist, welche Bilder besonderen Eindruck ge-
macht haben, ob es insbesondere auch von belehrenden Films etwas
behalten hat, ob es nach dem Kinobesuch, insbesondere nach dem
Anschauen von Dramen, träumt, namentlich ob Angstträume auf-
treten, ob es beim Kinobesuch Augenschmerzen oder Kopfschmerzen
bekommt, ob es im Sommer lieber das Kino besucht als im Freien
spielt, ob es in Spielen das im Film Geschaute nachahmt usw. Schon
diese Andeutungen, die sich leicht vermehren ließen, zeigen, wie un-
298 A. Abhandlungen.
endlich viel durch die Verwendung der statistischen Methode für das
Kinoproblem noch zu erarbeiten ist. !)
Diese Rundfragen in der Schule genügen aber nicht, um ein zu-
treffendes Gesamtbild zu geben. Sie müssen vielmehr soweit als
irgend möglich ergänzt und kontrolliert werden.
Dies kann einmal dadurch geschehen, daß Lehrer und andere
interessierte Personen zu verschiedenen Tageszeiten an verschiedenen
Wochentagen, im Sommer sowohl als im Winter, in der Großstadt
und in kleinen Städten die Kinotheater besuchen und entweder im
Zuschauerraum oder durch Beobachtung des Einganges feststellen,
wieviele Kinder das Kinotheater besuchen. Diese Untersuchung darf
sich nicht auf die schulpflichtige Jugend beschränken; vielmehr ist
es von ganz besonderer Bedeutung auch festzustellen, wie oft Kinder
unter 6 Jahren einerseits, junge Mädchen und Burschen im Alter
von etwa 14 bis zu 18 Jahren andererseits die Kinotheater besuchen.
Dort, wo eine Lustbarkeitssteuer in Form der Billetsteuer ein-
geführt ist, würde es sehr erwünscht sein, wenn die Kinderbillets
durch besondere Farbe gekennzeichnet und besonders gezählt werden
würden. Dann könnte man aus der Zahl der verkauften Kinder-
billets die Zahl der das Kino besuchenden' Kinder ziemlich genau
ermitteln und auch die zweifellos nicht unbedeutenden Summen fest-
stellen, welche durch die Kinder in das Kino getragen werden.
Wenn derartige Statistiken, wie wir sie hier vorgeschlagen haben,
im Osten und Westen, im Norden und Süden in möglichst großem
Umfange durchgeführt werden, so werden wir dadurch nicht nur die
erforderlichen und exakten Grundlagen für die Untersuchung des
Einflusses des Kinotheaters auf unsere Jugend erhalten, sondern
werden auch besser noch als bisher in den Stand gesetzt werden, den
Einfluß, welchen die verschiedene Gestaltung der polizeilichen
Regelung des Kinobesuchs in den einzelnen Teilen Deutschlands hat,
zu erkennen und überzeugender noch, als dies heute möglich ist,
darzutun, daß bestimmte Regelungen zweckmäßig sind, andere da-
gegen ihrer Aufgabe nur in ganz unzureichendem Maße gerecht
werden. Es ist hierdurch auch möglich, festzustellen, ob die Kinder-
———
1) Auch sonst liegt die Kinostatistik noch sehr im argen: Haben wir doch
z. B. selbst über die Zahl der Kinotheater in Deutschland und über ihre Entwick-
lung im Laufe der letzten Jahre nur sehr ungenaue Daten. Vergl. Hellwig, »Die
Entwicklung der Kinotheater, namentlich in Deutschland«. Soziale Kultur 1913,
S. 291/295. Interessante statistische Untersuchungen finden sich in der in den
nächsten Wochen erscheinenden Heidelberger Diss. von Emilie Altenloh über
»Die Soziologie des Kinos«,
Hellwig: Die besonderen Wirkungen der Schundfilms. 299
verbote durch die betreffenden Ortspolizeibehörden in ausreichender
Weise kontrolliert werden oder ob dies möglicherweise ohne jede Schuld
der Ortspolizeibehörde, wie wir später sehen werden, nicht der Fall
ist. Auch hier werden sich zweifellos gewichtige gesetzgeberische
Folgerungen ergeben.
Wenngleich wir also einer weiteren Ausdehnung und besseren
Ausgestaltung der statistischen Methode das Wort reden und von ihr
eine intensive Befruchtung unserer Untersuchungen erhoffen, sind
wir doch keineswegs der Meinung, daß ohne ein derartiges statistisches
Material die Inangriffnahme unseres Problems überhaupt nicht mög-
lich sei. Läßt uns auch die exakte Statistik im wesentlichen noch
im Stich, so können wir doch aus den gegebenen Stichproben und
dem einstimmigen Urteil aller Personen, welche sich aus wissen-
schaftlichem oder praktischem Interesse mit der Kinofrage beschäftigt
haben, nicht minder auch aus den Angaben der Kinobesitzer selbst,
feststellen, daß die Jugendlichen einen großen Prozentsatz der Kino-
besucher ausmachen. Diese Konstatierung genügt aber für unsere
Zwecke, wenngleich es natürlich wünschenswert wäre, diese Tatsache
detaillierter feststellen zu können.
4. Die besonderen Wirkungen der Schundfilms.
Von
Gerichtsassessor Dr. Albert Hellwig (Berlin - Friedenau),
Assistent der Berliner juristischen Fakultät.
Wenn wir die Beeinflussung des Kindes durch kinematographische
Vorführungen untersuchen, so werden wir bald gewahı werden, daß
man verschiedene Kategorien derartiger Einflüsse, die wesentlich von-
einander verschieden sind, unterscheiden muß.
Man muß einmal scharf voneinander trennen diejenigen Ge-
fahren, welche durch den Inhalt der vorgeführten Films entstehen
von denjenigen schädlichen Einflüssen und Gefahrquellen, welche mit
dem Inhalt der vorgeführten Films an sich nichts zu tun haben,
welche also auch dann bestehen würden oder doch jedenfalls bestehen
könnten, wenn das Programm unserer Kinotheater in jeder Beziebung
vollkommen einwandfrei wäre. Da die Hauptgefahrenquelle un-
bestreitbar sich aus dem Inhalte der kinematographischen Vorführungen
ergibt, will ich die aus dieser Gefahrenquelle resultierenden schädlichen
Einflüsse als Hauptwirkungen des Kinobesuchs kennzeichnen. Die-
jenigen Gefahrenquellen dagegen, welche von dem Inhalte der Vor-
führungen unabhängig sind, mögen als Nebenwirkungen des Kino-
besuchs bezeichnet werden.
300 A. Abhandlungen.
Als solche Nebenwirkungen werden insbesondere in Betracht
kommen Gesundheitsschädigung durch das Flimmern der Films und
durch zu häufiges oder zu lange ausgedehntes Betrachten der Films,
Gesundheitsschädigungen durch den längeren Aufenthalt in un-
genügend gelüfteten Räumen der Kinotheater, die Begünstigung von
Sittlichkeitsdelikten an Kindern durch die Dunkelheit des Zuschauer-
raums während der Vorführung sowie endlich der durch die An-
ziehungskraft des Kinematographen gegebene Anreiz zur Bettelei, zur
Begehung von Diebstählen und sonstigen Verfehlungen, um sich das
erforderliche Geld für den Kinobesuch zu verschaffen. Bei den
Hauptwirkungen des Kinobesuchs lassen sich wieder zwei Gruppen
unterscheiden: Einmal nämlich die allgemeinen Wirkungen, welche
durch den Inhalt der kinematographischen Films auf Kinder ausgeübt
werden wie Bestärkung einer gewissen Oberflächlichkeit, Begünstigung
der Unaufmerksamkeit, Verhinderung der Konzentrierung, ästhetische
Verbildung, sowie zweitens die spezifischen Wirkungen der Schund-
films im technischen Sinn.
Diese Einteilung, die man bisher noch nicht gemacht hat, ist
keineswegs eine Spielerei mit Begriffen, sondern, wie wir im Laufe
der Arbeit sehen werden, von wesentlicher Bedeutung für die Er-
kenntnis und die Würdigung der einzeluen Gefahrenquellen und für
die richtige Einschätzung derjenigen Mittel, welche man zur Be-
seitigung der Gefahrenquellen in Vorschlag gebracht hat.
Hier wollen wir uns zunächst mit den besonderen Wirkungen
der Schundfilms befassen, der zweifellos bei weitem größten Gefahren-
quelle. Gelingt es, diese Gefahrenquelle zu beseitigen, so kann für
mich gar kein Zweifel darüber bestehen, daß dann die übrigen Ge-
fahren eine quantité négligeable darstellen, der man außerdem fast
durchweg erfolgreich begegnen kann.!) Deshalb wird es sich recht-
fertigen, wenn wir gerade hier ausführlicher sind als bei den anderen
Teilen der Untersuchung und eine Reihe von Materialien zur Er-
gänzung dessen beibringen, was wir schon in unserem Buche über
die Schundfilms zu dieser Frage ausgeführt haben, und was im
wesentlichen mittlerweile Gemeingut aller Kreise geworden ist, welche
sich mit der Reform des Kinos befaßt haben.
Wenn ich hier und sonst schlechthin von Schundfilms spreche,
so scheide ich die Schundfilms im ästhetischen Sinn durchweg aus,
d. h. diejenigen Films, gegen welche sich Einwendungen nur nach
der Richtung hin erheben lassen, daß durch sie eine Geschmacks-
1) So schon Hellwig, »Die Schundfilms« a. a. O. 8.40 f.
Hellwig: Die besonderen Wirkungen der Schundfilms. 301
verbildung herbeigeführt werden müsse, wie beispielsweise durch
alberne sogenannte humoristische Schlager, durch fade Rührstücke
usw. Ich verkenne keineswegs die Gefahren dieser sogenannten
ästhetischen Schundfilms und werde mich mit ihnen in einem folgenden
Abschnitt auch auseinandersetzen; dagegen bin ich allerdings der
Meinung, daß die Gefährlichkeit der ästhetischen Schundfilms eine
unendlich geringere ist als diejenige der ethischen Schundfilms und
daß es deshalb nicht angängig ist, beide mit gleichem Maße zu messen
und zu ihrer Bekämpfung die gleichen rigorosen Mittel anzuwenden.
Auf diese Fragen werden wir weiter unten noch ausführlicher zu
sprechen kommen; hier lag es mir nur daran, es zu rechtfertigen,
daß ich als Schundfilms schlechtweg lediglich die ethischen Schund-
films bezeichne, und zwar nicht nur bei vorliegender Untersuchung,
sondern auch in meinen sonstigen Veröffentlichungen zur Kinemato-
grapbenfrage.
Nach der positiven Seite hin ist diese Abgrenzung, welche ich
im Anschluß an die Ausführungen in meinem Buche und in meinen
sonstigen einschlägigen Arbeiten gegeben habe, nicht ganz korrekt,
da es richtiger ist, aus denjenigen Films, welche ich bisher als
Schundfilms im ethischen Sinn oder als Schundfilms schlechtweg zu
bezeichnen pflegte, diejenigen Films auszuscheiden, deren Wirkungen
genau genommen nicht nach der ethischen, sondern nach der ge-
sundheitlichen Seite hin höchst bedenklich erscheinen. Hierher
rechne ich diejenigen Films, welche auf Kinder allgemein oder doch
auf nervöse oder sonstwie prädisponierte Kinder gesundheitlich
schädigend wirken können, indem sie Angstzustände, häufige lebhafte
Träume, Schlaflosigkeit usw. bewirken können. Derartige Wirkungen
werden zwar auch durch die Schundfilms im ethischen Sinne garnicht
selten ausgelöst und deshalb war ich in meinem Buche auch berechtigt
von der gesundheitlichen Gefahr der Schundfilms zu sprechen.
Dennoch ist es nicht überflüssig, diese Seite der Sache besonders zu
betrachten, weil es eben auch Films gibt, welche man ohne den Be-
griffen Zwang anzutun, als ethische Schundfilms kaum bezeichnen
kann, die man aber sicherlich als hygienische Schundfilms bezeichnen
kann.!) Diese hygienischen Schundfilms sowie vor allem die ethischen
Schundfilms meine ich also, wenn ich im folgenden von Schundfilms
schlechtweg spreche, während ich die ästhetischen Schundfilms ausscheide.
1) Vergl. Hellwig, »Die gesundheitlichen Gefahren kinematographischer Vor-
führungen vom Standpunkte des Juristen« (»Deutsche Medizinische Wochenschrift«
1913 Nr. 31), sowie Hellwig, »Die maßgebenden Grundsätze der Filmzensur nach
geltendem und künftigem Recht« (»Verwaltungsarchiv« 1913, S. 420, Anm. 15).
302 A. Abhandlungen.
Bei den ethischen Schundfilms habe ich schon in meinem Buche
eine Dreiteilung aufgestellt und dann auch in meinen weiteren Ver-
öffentlichungen diese Dreiteilung zugrunde gelegt. Die Einteilung,
gegen welche von keiner Seite aus ein Einwand erhoben worden ist,
die man vielmehr seitdem vielfach der Hauptsache nach auch in
anderen Arbeiten über die Kinematographenfrage findet, werde ich
auch hier zugrunde legen, da sie mir in der Sache begründet zu sein
scheint. Ich unterschied ethische Schundfilms, welche lediglich eine
allgemeine verrohende Wirkung äußern, Films, welche zu ver-
brecherischer Betätigung anreizen, sowie Films, welche in sexueller
Beziehung schädlich wirken. Der Sache nach halte ich diese Ein-
teilung also durchaus aufrecht, da sie sich als ein brauchbares Hilfs-
mittel bei der Behandlung kinematographenrechtlicher Reformfragen
erwiesen hat. Auch die Ausdrücke sexuelle Schundfilms sowie
kriminelle Schundfilms, welche ich zur Kennzeichnung der beiden
letzten Gruppen geprägt habe, scheinen mir durchaus zutreffend zu
sein. Dagegen möchte ich den Ausdruck »geschmacklose Schund-
films«, welchen ich für die erste Gruppe gebraucht habe, lieber durch
die Bezeichnung verrohende Schundfilms ersetzen. Wenngleich der
Ausdruck »geschmacklose Schundfilms«, soweit mir bekannt geworden
ist, zu irgendwelchen Mißverständnissen nicht Anlaß gegeben hat, so
ist es doch besser, ihn der Gefahr der Mißdeutung halber zu ver-
meiden, da man aus ihm wohl — irrigerweise — vermuten könnte,
daß ich die ästhetisch nicht einwandfreien Films als geschmacklose
Schundfilms bezeichnen will. Da ich die ästhetischen Schundfilms
aber gerade nicht zu den Schundfilms im engeren, technischen Sinn
zähle, und da die Maßnahmen, welche ich gegen die ästhetischen
Schundfilms für angebracht halte, wie wir sehen werden, wesentlich
von denjenigen sich unterscheiden, welche ich gegen die ethischen
Schundfilms, also auch gegen die verrohenden, empfehle, könnte durch
diese Bezeichnung, wenn man nicht gleichzeitig die eingehenden
Darlegungen meines Buches kennt, in welchem ich diesen früher ge-
brauchten Ausdruck »geschmacklose Schundfilms« ausführlich erläutert
habe, eine heillose Verwirrung angerichtet und ich gegen mich selbst
ausgespielt werden. Wenn erfreulicherweise eine solche Verkennung
des Begriffs auch nicht stattgefunden hat,!) so ist es doch besser
1) Es erscheint allerdings nieht ausgeschlossen, daß die ınißverständliche Be-
zeichnung die Stellung des württembergischen Entwurfes eines Gesetzes betreffs
öffentliche Lichtspielvorstellungen gegenüber den ästhetischen Schundfilms mit be-
einflußt hat, da mein Buch und meine kinematographenrechtliche Abhandlung in
dem Entwurf und in den Verhandlungen stark berücksichtigt werden.
Hellwig: Die besonderen Wirkungen der Schundfilms. 303
diese Quelle eines Mißverständnisses zu beseitigen und den Ausdruck
geschmacklose Schundfilms durch den treffenderen verrohende Schund-
films zu ersetzen.
Nach diesen notwendigerweise etwas ausführlicheren Begriffs-
bestimmungen wollen wir uns zur Betrachtung der schädlichen
Wirkungen der Schundfilms auf die kindliche Psyche wenden.
Bei den allgemeinen Ausführungen über diesen Zusammenhang
können wir uns kurz fassen, da die Charakteristik, welche ich schon
in meinem Buche in ziemlich eingehender Weise über diesen Zu-
sammenhang gegeben habe, auch heute noch als durchaus zutreffend
zu bezeichnen ist. Durch eine ganze Reihe von Ärzten, Psychologen,
Pädagogen und anderen Persönlichkeiten, welche über die erforderliche
Sachkenntnis und über eigene Erfahrung verfügen, sind die Grund-
sätze, welche ich in meinem Buche aufgestellt habe, als durchaus
richtig bestätigt worden. Ich habe in meinem Buche darzulegen
versucht, daß den kinematographischen Vorführungen, ganz besonders,
soweit dramatische Schundfilms mit packender Handlung in Betracht
kämen, eine außerordentlich nachhaltige Wirkung zukäme, daß ins-
besondere Kinder dieser Suggestivkraft in besonderem Grade aus-
gesetzt seien, und daß die Intensität der Wirkung der Schundfilms
noch stärker sei als die auch schon außerordentlich hoch zu ver-
anschlagende Wirkung der Schundliteratur. Ich hatte auch damals
schon verschiedene Autoren anführen können, welche sich in gleicher
Richtung hin ausgesprochen hatten. Da ich annehmen kann, daß
diese Frage jetzt als geklärt bezeichnet werden kann, und da die-
jenigen, welche sich aus irgend einem Grunde über das einschlägige
Material näher zu informieren wünschen, in meinen früheren Aus-
führungen die erforderlichen Hinweise finden, will ich mich hier
damit begnügen, aus der neueren Literatur einige bezeichnende
Äußerungen nachzutragen.
In einem Vortrage, welchen Geheimrat Dr. Baginsky in dem
Berliner Verein für Schulgesundheitspflege am 21. Februar 1911 über
Kinotheater und Schule hielt, führte er nach einem Referat u. a. aus,
durch den raschen Wechsel der Bilder werde die Phantasie besonders
erregt, was für die gesundheitliche Seite insofern von Bedeutung
werden könne, als bei den Kindern die psychischen Vorgänge anders
geartet seien als bei den Erwachsenen. Während bei diesen gleich-
sam festgeknüpfte Assoziationen der einzelnen Wahrnehmungen be-
ständen, die aus Übung und Erfahrung gewonnen seien, seien die
Urteilsassoziationen bei den Kindern nur locker gebunden und es
spiele der Gefühlssinn noch immer eine große Rolle. Die Assoziations-
304 A. Abhandlungen.
geschwindigkeit sei bei den Kindern auch nicht die gleiche wie bei
den Erwachsenen, so daß bei Kindern bei dem raschen Wechsel der
Erscheinungen eine gewisse Verwirrung der Assoziation zustande
kommen könne. Dies könne geschehen schon lediglich bei der Wahr-
nehmung an sich, aber noch viel mehr bei der Wertung des Wahr-
genommenen. Es könnten dadurch Vorstellungen geweckt werden,
welche sich von der Realität ganz entfernten, es könne zur fehler-
haften Erregung der Phantasie kommen, und diese so gesteigerte
und fehlerhafte Neigung zum Phantasieren könne auf das ganze
Wesen der Kinder eine ungünstige Wirkung ausüben. Unter den
vorgeführten Bildern seien überdies sehr viele, die an sich schon aus
ethischen Gründen für Kinder nicht geeignet seien und die als
positiv schädlich betrachtet werden müßten, da die Kinder Eindrücke
bekämen, die bis zu einer gewissen Grenze haften blieben und Ge-
müt und Charakter des Kindes unzweifelhaft schlecht beeinflußten. !)
Ein konkreter Fall wurde bei der Schöneberger Untersuchung
festgestellt.
Der Knabe Th. — ein sehr ordentlicher Schüler — machte die
Bekanntschaft eines Kinooperateurs, wodurch ihm der unentgeltliche
Besuch von Kinovorstellungen ermöglicht wurde. Seidem war bei
ihm eine äußerst fremdartige eigenartige Ideenassoziation zu bemerken,
die oftmals die Art der assoziativen Verknüpfung aufeinanderfolgender
Vorstellungen auch der eingehendsten Untersuchung rätselhaft er-
scheinen ließ. In den Kinotheatern ist er eben gewöhnt worden,
völlig zusammenhanglose Dinge ohne Aufhören zu verknüpfen.
Derartige Erscheinungen glaubte der Lehrer Gensch schon bei
mehreren Kindern wahrzunehmen, wenn auch nicht in so hohem
Grade wie bei Th.2)
Bei der dankenswerten Enquete über die Kinematographenfrage,
welche das österreichische Ministerium des Innern im April vorigen
Jahres zur Vorbereitung einer Ministerialverordnung über das
öffentliche Kinematographenrecht veranstaltet hatte, führte Erster
Staatsanwalt Hofrat Dr. Lux aus, daß unbestreitbar durch die Schund-
films ein nachhaltigerer Einfluß ausgeübt werde als durch die
Schundliteratur: »Wenn Sie dieselben mit der Lektüre vergleichen,
so wird es keinem Jugendbildner oder Fachmann zweifelhaft sein,
daß der stärkere Einfluß der Theatervorstellungen, auch in Kino-
1) Baginsky, »Kinotheater und Schule« (»Zeitschrift für Schulgesundheits-
pflege«.. Hamburg und Leipzig 1911. Sonderabdruck S. 1 f.).
2) Bericht des Rektors Lanzke vom 1. September 1911 in dem erwähnten
Schöneberger Material.
Hellwig: Die besonderen Wirkungen der Schundfilms. 305
theatern, sicherlich auf die Unmittelbarkeit und Augenfälligkeit des
Geschehenen zurückzuführen ist. Die Lektüre erfordert einen ge-
danklichen Prozeß, der durch das Anschauen des lebendigen vor-
geführten Bildes im Kinotheater ersetzt wird. Das Beispiel, das
vorgeführt wird, dramatische Handlungen, mitunter der schädlichsten
Art, wirkt viel stärker auf die Phantasie als das, was jemand aus
einem Buche, auch wenn es der sogenannten Schundliteratur an-
gehört, herauszulesen vermag. Denn da gehört schon eine gewisse
Bildung dazu, die nicht jeder hat. Aber der Durchschnittsmensch
auch mit minderer Bildung, gerade der, der zurückgeblieben ist,
vermag durch das Auge und durch die Sinne aufzufassen. Er hört
zum Teile auch das gesprochene Wort und dazu regt die Musik,
welche die Vorstellungen gewöhnlich begleitet, die Phantasie nicht
wenig an. Nebst diesem Momente der äußeren Einwirkung ist das
Moment der Gemeinsamkeit des Genusses nicht zu unterschätzen.
Das ist dem Lesenden verschlossen. Das Beispiel der Nachbarschaft,
die Massensuggestion, wie wir sie nennen, wirkt eben da auch mit.«!)
Auf derselben Konferenz bestätigte Bürgerschullehrer Tluchor
meine Auffassung, daß es psychologisch vollkommen verkehrt sei,
anzunehmen, daß durch die etwaige Sühne, welche ein in einem
kriminellen Schundfilm vorgeführtes Verbrechen finde, der schädliche
Einfluß paralysiert werden: »Nein, jedes vorgeführte Verbrechen rückt
mit einer Macht von Vorstellungen in das Bewußtsein ein und wird
reproduziert, und diese Reproduktion der Vorstellungen ist es, welche
Handlungen auslöst, die Phantasie beeinflußt und bewirkt, daß
unsere Kinder, statt die Spielplätze und Schulwerkstätten aufzusuchen,
ins Kinotheater gehen und dort eine Flut von Vorstellungen ge-
nießen, die in ihr Bewußtsein eingeführt werden und sie neur-
asthenisch machen.« 2)
Universitätsprofessor von Lange in Tübingen erklärt die große
Beliebtheit, deren sich die kriminellen Schundfilms erfreuen, mit
Recht aus einem, auch dem gebildeten Menschen eigenen Bedürfnis
sich aufzuregen, Abenteuer zu erleben oder doch mindestens die
dramatischen Seiten des Daseins kennen zu lernen. Darauf beruhe
es auch, daß in der dramatischen Kunst das Verbrechen von jeher
eine große Rolle gespielt habe. Mit Recht weist von Lange aber
darauf hin — ich hatte dies auch schon hervorgehoben —, daß es
!) »Stenographisches Protokoll der Enquete über das Kinematographenwesen«.
Wien am 1, 17. und 18. April (Wien 1912), S. 63.
?) A. a. O. 8. 14.
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. x 20
306 A. Abhandlungen.
etwas wesentlich anderes sei, ob uns Shakespeare in seinem Richard III.
oder Lessing in seiner Emilia Galotti das Verbrechen schildere, es
uns mit strenger psychologischer Begründung mit dem Reize der
künstlerischen Illusion vorführe oder ob es uns im Kinematographen
in der Form der Naturphotographie entgegentrete: »Im ersteren Falle
erleben wir eine ästhetische Erhebung, eine Gemütsbefreiung, im
letzteren werden wir in die gemeine Welt des Verbrechens herab-
gezogen. « 1)
Schließlich sei es noch gestattet, einige Ausführungen des Tübinger
Psychiaters Professor Gaupp wiederzugeben, welcher sich mit dieser
Seite der Frage am eingehendsten beschäftigt hat. Er führt zutreffend
aus, daß auch psychologische Momente es erklärlich machten, daß das
Kino zum Volkstheater unserer Zeit geworden sei: Die Auffassung
der Außenwelt mit dem Auge sei müheloser als die mit dem Ohre,
das Sehen falle uns leichter als das Zuhören; dazu komme, daß uns
alles, was uns leiblich vor Augen trete, gemütlich weit leichter und
tiefer packe als das, was wir lesen und uns nun erst mittels der
Phantasie vorstellen müssen. Die Wirkung der gefühlserregenden
Vorgänge im dramatischen Film werde verstärkt durch die zeitliche
Konzentration der Vorgänge: »Was uns der Detektiv- und Schund-
roman in einem dicken Bande an Sensationen schafft, das stellt uns
der Kino in 10—15 Minuten konzentriert vor Augen. Die psycho-
logische Wirkung wird dadurch eine ganz andere. Beim Lesen
können wir nach Belieben Halt machen, am Gelesenen Kritik üben,
uns von dem Druck durch Nachdenken innerlich freimachen, das
gruselige Zeug verdauen; beim Kino wird die gemütliche Erregung
durch die rasche Folge der leibhaftig vor Augen geführten Bilder
gehäuft und verstärkt; zum Nachdenken und Sich-befreien bleibt keine
Zeit; es kommt nicht zum seelischen Ausgleich. Die schaurigen und
grotesken Dramen erschüttern das Nervensystem bis zur Qual, aber
sie geben dem Zuschauer nicht die Mittel, mit denen er sich sonst
der Angriffe auf sein Nervensystem erwehrt: er kommt nicht zur
ruhigen Überlegung und geistigen Verarbeitung, zur nüchternen
Kritik. Der unmöglichste Unsinn regt uns im Kino auf, wir werden
gewissermaßen vergewaltigt, betäubt durch die Hochflut des Schauer-
lichen, dessen psychologische Dürftigkeit wir erst hinterher allmählich
ganz übersehen. Der erwachsene und kritische Zuschauer schüttelt
dann ja wohl auch wie ein nasser Pudel das greuliche Zeug von sich
1) Lange, »Der Kinematograph vom ethischen und ästhetischen Standpunkte
(100. Flugschrift des Dürerbundes zur Ausdruckskultur), S. 27.
Hellwig: Die besonderen Wirkungen der Schundfilms. 307
ab; im Kinde und im urteilsschwachen Menschen aber wirkt es weiter.
Dazu kommt ja noch die bekannte psychologische Tatsache, daß nur
wenige Menschen beim Hören oder Lesen aufregender Vorkommnisse
so viel Phantasie haben, um sich das Geschilderte wirklich plastisch
vor Augen zu stellen. Das Kino stellt aber alles gewissermaßen leib-
haftig vor Augen, und zwar unter den psychologisch günstigsten Be-
dingungen für eine tiefe und oft nachhaltige Suggestivwirkung: der
verdunkelte Raum, das eintönige Geräusch, die Aufdringlichkeit der
Schlag auf Schlag einander folgenden Szenen schläfern in der emp-
fänglichen Seele jede Kritik ein, und so wird gar nicht selten der In-
halt des Dramas zur verhängnisvollen Suggestion für die willenlos
hingegebene jugendliche Seele. Wir wissen, daß alle Suggestionen
tiefer haften, wenn die Kritik schläft. Starke Gefühlserregung schläfert
sie ein. Daß aber die Dramen des Kinematographen Gefühle und
Leidenschaften der Ungebildeten in ihren Grundtiefen aufrütteln, da-
für sorgt eine geschäftskundige Industrie mit schlauer Berechnung
und großer Findigkeit.«!)
Wenn wir nunmehr zu den einzelnen Gruppen der ethischen
und hygienischen Schundfilms übergehen, so können wir uns bezüg-
lich der verrohenden Schundfilms kurz fassen. Es ist selbstverständ-
lich, daß die Vorführung von rohen Szenen, von Tierquälereien usw.
verrohend wirken muß, wie auch allgemein anerkannt wird.
Nur beispielsweise sei es gestattet, kurz ein Verwaltungsstreit-
verfahren zu erwähnen, welches im Jahre 1911 vor dem Bezirksaus-
schuß I zu Berlin geschwebt hat, in welchem Zensurverbote des
Polizeipräsidenten angefochten wurden. Es handelte sich um vier ver-
schiedene Films, welche teils völlig, teils für Kinder, verboten worden
waren. Die Gutachten über diese Films durch Geheimen Medizinal-
rat Dr. Baginsky, Universitätsprofessor Dr. Ziehen sowie Stabsarzt
1) @aupp, »Der Kinematograph vom medizinischen und psychologischen Stand-
punkte (100. Flugschrift des Dürerbundes zur Ausdruckskultur), S. 3f., 9. — Sehr
wichtig sind für diese Frage auch die sehr interessanten Bemerkungen von
Dr. Ponzo, „Di alcune osservazioni psicologiche fatte durante rappresentazioni
ceinematografiche« (»Atti della R. Accademia delle scienze di Torino« Bd. 46, 1911)
über Illusionen und Halluzinationen im Anschluß an kinematographische Vor-
führungen. (Vergl. darüber auch meinen Aufsatz in der »Zeitschrift f. pädagogische
Psychologie« 1914, Heft 1, S. 37—40, über »Illusionen und Halluzinationen bei
kinematographischen Vorführungen«.) Ponzo denkt ebenso wie Tannenbaum
»Kino und Theater« aus psychologischen Gründen sehr skeptisch über die ange-
strebte, bisher aber nur sehr unvollkommen erreichte Verbindung des Kinemato-
graphen mit einem Grammophon. Ich schließe mich ihrer Auffassung an und gebe
die in meinem Buche nebenbei geäußerte Ansicht auf.
20*
308 A. Abhandlungen.
Dr. Eckert habe ich wörtlich schon an anderer Stelle veröffentlicht.)
An dieser Stelle möchte ich nur das Urteil des Bezirksausschusses,
durch welches die Klage bezüglich des Films »Hahnenkampf« zurück-
gewiesen worden ist, im Wesentlichen wiedergeben, da es, soweit
mir bekannt ist, das einzige Urteil eines Verwaltungsgerichts ist,
welches sich mit der uns hier interessierenden Frage der verrohenden
Schundfilms beschäftigt.
Die Klage auf Freigabe des Films, welcher nicht nur für Vor-
führung vor Kindern, sondern auch für die Vorführung vor Er-
wachsenen verboten worden war, wurde abgewiesen.
Die Klägerin hatte Aufhebung des völligen Verbotes des Films
»Hahnenkampf« verlangt, da die Darstellung ein natürlicher Vorgang
sei, wie er sich alltäglich auf dem Hühnerhofe abspiele; verrohend
könne eine solche Darstellung nur wirken, wenn dabei Tiere durch
Menschenhand getötet oder gequält würden: Ein natürlicher Kampf
zweier Vögel, der z. B. auf dem Lande zu den täglichen Vorkomm-
nissen gehöre, könne nie eine verrohende Wirkung hervorrufen.
Der Beklagte, der Polizeipräsident zu Berlin, hatte Klageabweisung
beantragt und ausgeführt, daß der Hahnenkampf nach unserem Emp-
finden verrohend sei, weungleich das Bild einen Vorgang darstelle,
wie er in südlichen Ländern zur Belustigung der Zuschauer auf-
geführt werde. Es handle sich nicht um tägliche gewöhnliche Vor-
gänge eines Hühnerhofes.
Auf Grund der Beweisaufnahme — führte das Urteil aus — sei
zu erkennen gewesen, wie geschehen. Nach eigenem Augenschein
sei der Bezirksausschuß in Übereinstimmung mit den Gutachten der
Sachverständigen zu der Überzeugung gelangt, daß die Vorführung
schwere sittliche Gefahren herbeizuführen geeignet sei. Die fürchter-
lichen letzten Zuckungen des verendenden Hahnes, die einzelnen
Kampfszenen, die Verbissenheit der beiden Tiere, das durch Menschen-
hand sichtbar veranlaßte Anspornen der Tiere, sei ein Bild abscheu-
lichster Roheit, das ganz allgemein, auch für Erwachsene, entsittlichend
und verrohend wirken müsse. Der Einwand des Klägers, daß solche
Szenen täglich auf jedem Hühnerhofe vorkämen, bedürfe hiernach
keiner weiteren Widerlegung. Nur das künstliche Zusammenhetzen
der Tiere durch Menschenhand veranlasse den widerlichen, mit dem
’ Vorgl. Hellwig, »Die Schädlichkeit von Schundfilms für die kindliche
Psyche« in der »Ärztlichen- Sachverständigen Zeitung«, Berlin 1911, Nr. 22, Ab-
schnitt III. Ich hatte auf Grund einer Notiz in den kinematographischen Fachzeit-
schriften dieses Verwaltungsstreitverfahren schon in meinem Buche S. 56 f. kurz
erwähnt.
Hellwig: Die besonderen Wirkungen der Schundfilms. 309
Tode des einen Hahnes endenden Kampf. »Es ist ein auf der
Hand liegender großer Unterschied, ob ein ähnlicher in der Natur
möglicherweise sich abspielender Kampf — der sich meistens ohne
Zuschauer abspielt — ohne menschliche Veranlassung, oder wie hier
auf künstliches Betreiben durch Menschenhand zur Belustigung vor
einem großen Kreise von Menschen vorgeführt wird.«e Das Verbot
sei daher gerechtfertigt.!)
Bei einer im Februar und März1913 von dem Bremischen Lehrerinnen-
verein dankenswerterweise veranstalteten Untersuchung der Kinos in
Bremen, die wir wiederholt noch benutzen werden, sah eine Lehrerin
einen Film, in welchem ein Knabe einer Fliege die Flügel abriß und
dann zwischen ihr und einer sie verfolgenden Spinne einen Wettlauf
veranstaltete, an dem sich zuletzt auch die leblosen Dinge beteiligten.
Wie die Berichterstatterin bemerkt, begleiteten die Kinder das Flügel-
ausreißen mit so interessierten Bemerkungen, daß sie es zu Hause
sicherlich auch versucht haben. 2)
Erwähnt mag noch werden, daß meine Auffassung, daß auch
wissenschaftliche Films unter Umständen als verrohend wenigstens
für Kinder in Betracht kommen könnten, nicht nur der Praxis des
Berliner Polizeipräsidiums entspricht, sondern auch in der Literatur
vertreten wird. Auf die Absicht, welche der Fabrikant mit der Her-
stellung und der Kinobesitzer mit der Vorführung derartiger Films
verfolgt, kommt es nicht an, sondern nur auf die Wirkung, welche
sie auf die Zuschauer auszuüben geeignet sind. ë)
Daß auch die sexuellen Schundfilms sehr gefährlich sind, nament-
lich auch für Halberwachsene, und daß die Charakteristik, welche ich
von ihnen in meinem Buche gegeben hatte,*) zutrifft, wird allgemein
angenommen, und mit Recht. Jeder, der selbst einmal unzüchtige
Films gesehen hat — ich selbst habe solche im Zensurbüro in Stock-
holm sowie auf dem Berliner Polizeipräsidium gesehen — weiß, in
wie raffinierter Weise in ihnen alles auf die Sinnlichkeit berechnet
ist, und kann sich ausmalen, wie solche sexuellen Schundfilms auf
Halbwüchsige wirken müssen. Begünstigt wird die Wirkung noch
durch die Dunkelheit des Kinos und die Gemeinschaftlichkeit des
»Genusses«. Früher kam es nicht selten vor, daß ganz krasse sexuelle
1) Das Urteil — AI Nr. 70/1910 — des Bezirksausschusses Abt. I zu Berlin
ist mir aus den Akten des Berliner Polizeipräsidiums bekannt geworden.
?) »Die Bremer Lehrerinnen und die Kinogefahr« (»Die Lehrerin«). Jahrg. 30,
8. 156.
°) Vergl. dazu Hellwig, »Die Grundsätze der Filmzensurs, a. a. O., S. 437 f.
*) Hellwig, »Die Schundfilms«, a. a. O., S. 30 ff.
310 A. Abhandlungen.
Schundfilms in aller Öffentlichkeit vorgeführt wurden, und mir sind
eine ganze Reihe von Urteilen bekannt, durch welche die Kinobesitzer
wegen Vorführung derartiger unzüchtiger Films bestraft worden sind. !)
Daß auch heute selbst die krassesten sexuellen Schundflilms noch
keinesweg verschwunden sind — in meinem Buche habe ich die Be-
deutung der sexuellen Schundfilms wohl zu gering eingeschätzt —
kann man aus gewissen Annoncen und Beschreibungen der Fachblätter
entnehmen, in welchen mit oft zynischer Offenheit auf den Sinnen-
kitzel hingewiesen wird, welcher von der Vorführung der Films zu
erwarten ist. Man wird bei den Films zweifellos über das Unzüchtige
im Sinne unseres Strafgesetzes weit hinausgehen und auch alle die-
jenigen Films, die man lediglich als pikant bezeichnen kann, zum
wenigsten der Jugend fernzuhalten trachten müssen, denn zweifellos
können auch sie unendlichen Schaden anrichten. Man kann in dieser
Beziehung kaum rigoros genug sein und kann auch getrost scharf
vorgehen, da irgendwelche Interessen der Kunst oder Wissenschaft,
wie sie bei einem Einschreiten gegen die sexuelle Schundliteratur
sehr wohl in Frage kommen können, nicht in Betracht kommen.
Richtig ist es, wenn Sohnrey ausführt: »Das Zusammentreffen
von lüsternen Unterhaltungsstoffen und dem dunklen Raum mit einem
großen Teile lüsterner Menschen machen das heutige Kinematographen-
theater zu einer künstlich gehegten und gepflegten Brutstätte, von
der aus das Laster seinen Anfang nimmt. Wollte man versuchen,
das Volk in irgend einer Weise, die Kinder z. B. in der Schule, die
Älteren in der Fortbildungsschule, dahin aufzuklären, wie schädlich,
wie vergiftend die Vorstellungen auf unentwickelte Gemüter wirken
müssen, man würde wohl kaum irgend einen Erfolg erzielen.«?)
Bei der Schöneberger Untersuchung erklärte der Lehrer Gensch
die oft gezeigten sexuellen Schundfilms für besonders gefährlich. Dem
Kinde werde fortwährend der Gedanke in bildlicher Ausführung ein-
geprägt: Der außereheliche Verkehr der Geschlechter sei das Reiz-
vollste im Leben. Der betrogene Teil verdiene nichts als Gelächter.
Der Ehebrecher sei ein Held. »Daß die Kinder Verständnis für
solche Vorgänge besitzen, das sagen dem Beobachter die Blicke, die
sich die Mädchen unter verständnisvollem Kichern manchmal unter
Windungen des Körpers zuwerfen, das sagt das oft zu hörende
1) Vergl. Hellwig, »Die Anwendbarkeit der $$ 184, 41 StGB auf Vor-
führungen unzüchtiger kinematographischer Films«. »Zeitschrift für die gesamte
Strafrechtswissenschaft«, 35, S. 469/81, sowie zur Ergänzung meinen im »Volkswart«
erscheinenden Artikel über »Vorführungen unzüchtiger kinematographischer Filme«,
®) »Das dunkle Kinematographentheater« (»Volksbildung«) 1912, S. 64.
Hellwig: Die besonderen Wirkungen der Schundfilms. 311
‚Schade‘ der Knaben, wenn ein Paar hinter der Tür in unzweideutiger
Absicht verschwindet.« !)
Auch, was Dr. med. Ike Spier über die sexuellen Gefahren
des Kinos ausführt, kann man Wort für Wort unterschreiben: »Man
braucht ja nur die Unmenge halbwüchsiger Jünglinge und Mädchen
zu beobachten, wenn sie mit leuchtenden Augen und erhitztem Blut
aus dem verderblichen Schlund des Kinos in die Asphalt- und Bogen-
lampenatmosphäre der Straße hinausströmen.«
»Ihre Phantasie hat reichen Stoff bekommen. Noch stehen vor
ihrem geistigen Auge die eleganten Damen und Herren der Gesell-
schaft, die da oben ihre Liebes- und Lebensaffäre in Claurenscher
Weise produzierten; heiße Küsse auf leuchtende Nacken, brünstige
Umarmungen hinterm Gebüsch im Palmengarten der Milliardärsvilla,
verstohlene Einladungen zur Untreue, und Blicketausch von ihm und
ihr, Billetdoux, Spieltisch und Diner, betrogene Ehegatten und ver-
führte anständige Mädchen, wieder aufgetauchte Ballhausheldinnen
und Kokettengrößen, Verstoßene, Verführte und indische Bajaderen,
kurz, eine reichhaltige Musterkarte sexueller Variationen.«
»Wieviele Mädchen mögen nach einer oder mehreren Kinovor-
führungen der Verführung anheimgefallen sein, wo vielleicht ein
junger Bursche sich stolz als ein Donjuan fühlen mochte und doch
im Kino seinen erfolgreichsten Kuppler hatte. Wieviele junge Männer
mögen sich im Kino bis zur Hochspannung gereizt haben und dann
der Prostitution mit ihren Gefahren eine leichte Beute geworden sein!«
»Man braucht sich die Zahl der Ehebrüche, die solche kinemato-
graphischen Vorführungen verursacht haben, nicht vorzustellen, die
Seitensprünge von Mann und Frau, die sich in kleinen Verhältnissen
plötzlich am farbenreichen Leben der Kinoplutokratie und -gesell-
schaft berauschten, unzufrieden mit ihrem Dasein eben ein ‚Corriger
la vie‘ in irgend einer üblen Weise vorgenommen haben.« ?)
Lange macht mit Recht darauf aufmerksam, daß erotische Szenen
sich immer mehr in sonst anständige Films eindrängen. Man scheine
zu glauben, daß nur an den Haaren herbeigezogene Anzüglichkeiten
einer Handlung die richtige Würze, den richtigen Pfeffer, zu geben
vermöchten. 3)
Wir kommen nunmehr zu den kriminellen Schundfilms, welche
1) Bericht des Rektors Lanzke vom 1. September 1911 in dem amtlichen
Schöneberger Material.
3) Ike Spier, »Die sexuellen Gefahren des Kinos« (»Neue Generation« 1912,
8. 192—198).
3) Lange, a. a. 0. 8. 22.
312 A. Abhandlungen.
eine ganz besondere Bedeutung beanspruchen dürfen, da sie nicht
nur außerordentlich oft vorkommen, sondern auch in ganz besonderem
Maße auf die Jugend schädlich einwirken.
Ich habe schon in meinem Buche dargelegt, daß und weshalb
die kriminellen Schundfilms auf leicht Beeinflußbare — und hierzu
gehören ja vor allem gerade die Jugendlichen — suggestiv wirken
müssen, und zwar in hohem Maße; ich machte andererseits aber auch
darauf aufmerksam, wie außerordentlich schwer es sei, in einem
konkreten Falle den Nachweis eines ursächlichen Zusammenhangs
zwischen Schundfilms und einem bestimmten Verbrechen zu er-
bringen.!) Meine weiteren Untersuchungen, welche ich über diese
Frage in so umfangreicher Weise vorgenommen habe, wie dies bisher
auch noch nicht annähernd geschehen ist, von denen ich bisher nur
einen kleinen Teil veröffentlicht habe,2) haben mir immer mehr die
Überzeugung beigebracht, daß es außerordentlich schwierig ist, einen
solchen Kausalzusammenhang im Einzelfall nachzuweisen, und daß die
in den Zeitungen und Fachzeitschriften berichteten Fälle, wenn man
Gelegenheit hat, ihnen nachzugehen, im allgemeinen als beweiskräftig
nicht angesehen werden können, ja daß man selbst Angaben von
Jugendrichtern, Staatsanwälten, Psychiatern und anderen Sachver-
ständigen nicht selten mit großer Vorsicht entgegenkommen muß. Ich
stehe also dem Tatsachenmaterial, das man über angebliche Be-
ziehungen zwischen Schundfilms und Verbrechen beigebracht hat, im
allgemeinen mit großer Skepsis gegenüber, und ich habe meine guten
Gründe dazu. Mir sind auf meine Umfrage Hunderte von Antworten
von Jugendrichtern, Staatsanwälten, Polizeibeamten zugegangen, durch
die meine Überzeugung nur gefestigt worden ist; ganz besonders
1) Vergl. Hellwig, »Die Schundfilmse, a. a. O., S.64ff. Auch Lehrer Gensch
kam in seinem schon mehrfach erwähnten Bericht zu der Auffassuug, daß der
direkte Beweis einer Schädigung eines Kindes durch den Kinobesuch kaum ge-
lingen dürfte. Die kinematographische Schädigung trete meist in Verbindung mit
geistigen oder gesundheitlichen Angriffen anderen Ursprungs auf. Der kinemato-
graphische Einfluß auf die nervöse Tätigkeit des Menschen gehöre ferner zu den
Beeinträchtigungen derselben, die, allmählich und langsam, als unkontrollierbar im
Menschen wirkten.
?) Vergl. Hellwig, »Schundfilms als Verbrechensanreiz« in der »Zeitschrift
für Jugenderziehung und Kinderfürsorge« Bd. 3, S. 309—313 und 345—348; »Kine-
matograph und Verbrechen« in der »Monatsschrift für Kriminalpsychologie und
Strafrechtsreform« Bd. 9, S. 711—714; »Schundfilms als Verbrechensanreiz. Eine
Untersuchung auf Grund österreichischen Materials« (»Österreichische Rundschau«
1914, S. 45/54), sowie besonders »Die Beziehungen zwischen Schundliteratur, Schund-
films und Verbrechen« in dem »Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik«
Bd. 51, S. 1—32.
Hellwig: Die besonderen Wirkungen der Schundfilms. 313
haben dazu auch einige Prozesse beigetragen, in welchen angeblich
ein Zusammenhang zwischen Schundfilms und Verbrechen konstatiert
worden sein sollte. Als ich die Akten aber durcharbeitete, fand ich
— ich muß sagen, zu meiner Enttäuschung — bisher immer noch,
daß günstigstenfalls eine gewisse Möglichkeit eines derartigen Zu-
sammenhangs bestehe, mitunter nicht einmal dies. Einen derartigen
Fall habe ich in meiner Abhandlung über die Schädlichkeit der
Schundfilms für die kindliche Psyche dargestellt, t) andere werde ich
demnächst in dem »Gerichtssaal«, der »Ärztlichen Sachverständigen-
Zeitung« sowie in dem »Pitaval der Gegenwart« veröffentlichen.
Insbesondere möchte ich darauf hinweisen, daß auch der Reutlinger
Fall, welchen Gaupp?) als treffenden Beleg erwähnt, und den er
auch mir gegenüber brieflich als beweiskräftig bezeichnete, dies keines-
wegs ist. Ich bedaure nichts mehr, als daß es so außerordentlich
schwer, wenn nicht gar unmöglich ist, den exakten Nachweis der
ungünstigen Einwirkungen der kriminellen Schundfilms zu erbringen.
Man wird es mir wohl glauben, daß ich nur ungern, durch meine
eingehenderen Untersuchungen dazu gezwungen, zu dieser Überzeugung
gelangt bin und nicht etwa leichtfertig, nur aus einem gewissen un-
berechtigten Skeptizismus diese Ansicht vertrete. Ich muß es daher
mit Entschiedenheit zurückweisen, wenn Lange mir aus dieser
Stellungnahme einen Vorwurf zu machen scheint: Meines Erachtens
schaden diejenigen, welche nicht genügend beweiskräftige Fälle als
ausreichende Beweise ausgeben, der guten Sache viel mehr als ich,
welcher die Mängel in der Beweisführung offen aufdeckt. Aber, wenn
es auch wahr wäre, daß dem Kampf gegen die Schundfilms, welcher
mir doch wahrlich auch am Herzen liegt, durch meine skeptische
Beurteilung der beweisenden Fälle Schaden zugefügt würde, so könnte
ich meine Überzeugung doch nicht ändern und würde auch nicht
aufhören, diese Überzeugung öffentlich kundzutun, denn sonst würde
ich unredlich handeln. Daß meine Kritik schädlich wirkt, kann ich
aber schon deshalb nicht annehmen, weil ich gleichzeitig immer her-
vorhebe, daß ich trotzdem aus allgemeinen psychologischen Erwägungen
fest davon überzeugt bin, daß ein Kausalzusammenhang zwischen
Schundliteratur und Schundfilms besteht, und daß dieser Zusammen-
hang für mich ais erwiesen feststehen würde auch dann, wenn es
nicht in einem einzigen Fall gelingen sollte, ihn exakt nachzuweisen.°)
1) Hellwig, »Die Schädlichkeit der Schundfilms für die kindliche Psyche«
in der »Ärztlichen Sachverständigenzeitung« 1911, Nr. 11.
?) Gaupp, a. a. O. 8.11.
* Lange, »Die Kunst des Kinematographen« (»Die Grenzboten«, 1914, S. 511 f.).
314 A. Abhandlungen.
In letzter Zeit sind übrigens verschiedene Stimmen laut geworden,
welche dieselbe Auffassung vertreten, wie ich sie schon seit Jahren
vertreten habe. So stimmen Medizinalrat Professor Dr. Näcke!),
Dr. Gruhle?) sowie Professor Dr. Hübner?) mir vollkommen bei,
und Staatsanwalt Dr. Haldy kommt bei der aktenmäßigen Schilde-
rung des Falles Rücker, bei welchem er die Anklage vertreten
hatte, zu der Ansicht, daß nicht das geringste dafür erbracht
sei, daß der jugendliche Raubmörder unter dem Einflusse der
Schundliteratur oder der Schundfilms sein Verbrechen begangen habe,
wie einer der ärztlichen Sachverständigen angenommen habe.*) Auch
sonst kommen erfreulicherweise derartige vorsichtige Stimmen immer
mehr zu Wort. Vielfach allerdings wird immer noch nicht die ge-
nügende Sorgfalt auf den exakten Nachweis verwendet. Manche der
Fälle, welche in der Literatur der letzten Jahre beigebracht sind,
scheinen auch beweiskräftig zu sein, soweit man dies sagen kann,
ohne imstande zu sein, das Material nachzuprüfen. Darüber aber,
daß ein kausaler Zusammenhang zwischen der Kriminalität der
Jugendlichen und den Schundfilms existiert, herrscht bei allen Sach-
kennern volle Übereinstimmung. 5)
Nur einen einzigen derjenigen Fälle, deren Akten ich bisher
durchgearbeitet habe, möchte ich hier skizzieren, wenn auch in aller
Kürze: Der Fall ist deshalb besonders interessant, weil bei keinem
einzigen der anderen Fälle eine kausale Beziehung zwischen Schund-
film und Verbrechen so wahrscheinlich ist wie hier. Es ist dies der
sogenannte Borbecker Knabenmord. $)
1) Näcke, »Verbrechen und Jugendlektüre« (»Archiv f. Kriminalanthropologie«
Bd. 45, S. 167 ff.) und »Gefahren der Kinos«, (ebendort Bd. 52, S. 197).
2) Gruhle, »Die Ursachen der jugendlichen Verwahrlosung und Kriminalität.
Studien zur Frage: Milieu oder Anlage.« Berlin 1912. S. 109.
3) Hübner, »Lehrbuch der forensischen Psychiatrie.«e Bonn 1914. 8. 153.
4) Haldy, »Ein jugendl. Raubmördar« (»Archiv f. Kriminalanth.« Bd. 52, S. 182).
5) So heißt es in dem Bericht des Rektors Seifert vom 30. August 1911:
Wenn auch die Zensur die schlimmsten Teile streiche, so bleibe doch noch genug
Schädliches übrig. >Je reicher die Vorgänge an Affekten sind, je mehr die Nerven
zur Aufregung angepeitscht werden, desto größer ist der Beifall, desto größer auch
das Verlangen der Kinder nach dem Kino. Es muß jedem denkenden Menschen
verständlich sein, daß hierdurch — besonders bei fortgesetztem Besuch der Auf-
führungen — der kindlichen Seele ein Schaden zugefügt wird, der bei weitem
größer ist als der schädigende Einfluß der Schundliteratur (Zerfahrenheit des Geistes,
Verseuchung der kindlichen Phantasie, unmoralische Befruchtung der Willensimpulse,
Geschmacklosigkeit im Empfinden usw.).«
®) Der Fall wird auch von Meyer »Schundliteratur und Schundfilm« (»Archiv
für Kriminalanthropologie«) Bd. 53, S. 176 ganz kurz erwähnt. Dort finden sich auch
einige weitere Materialien.
Hellwig: Die besonderen Wirkungen der Schundfilms. 315
Es handelt sich bei diesem Falle darum, daß ein 16 jähriger
Bauernbursche den 41!/, jährigen Sohn seiner Dienstherrschaft ohne
sichtbaren Grund ermordet hat. In eingehender Weise wurde in der
Voruntersuchung festzustellen versucht, welches das mutmaßliche
Motiv gewesen sein könne, das den Täter zur Begehung der Tat
veranlaßt hatte. Insbesondere wurden eingehende Erörterungen nach
der Seite hin gepflogen, ob es sich hier um einen Akt des Sadismus
handeln könne. Alles aber, was festgestellt werden konnte, sprach
gegen eine derartige Annahme. Es ergab sich, daß der Täter niemals
irgendwelche Rohheitsakte begangen hatte, daß er insbesondere Tiere
nicht gequält hatte und zu den Kindern seiner verschiedenen Dienst-
herrschaften immer außerordentlich nett und liebenswürdig gewesen
war, so daß diese sehr an ihm hingen. Dies traf auch bei dem von
ihm später ermordeten Söhnchen seiner letzten Dienstherrschaft zu.
Da der Angeklagte von seinem Dienstherrn gut behandelt worden
war, wie er selbst zugab, und, wie auch durch die sonstigen Ermitt-
lungen festgestellt, zu Klagen nicht den geringsten Anlaß hatte, war
auch Rachsucht als Motiv ausgeschlossen. Die psychiatrische Unter-
suchung des Angeklagten ergab nichts dafür, daß er geistig nicht zu-
rechnungsfähig sei.
Der Angeklagte selbst, der ernstliche Reue über seine Tat nicht
zeigte, gab von Anfang an an, er wisse selbst nicht, wie er zu der
Tat gekommen sei. Auch die sonstigen Ermittlungen hatten, wie
schon erwähnt, zu einem greifbaren Resultat nicht geführt.
Durch einen glücklichen Zufall war infolge der Bekundung eines
Zeugen von Anfang an die Aufmerksamkeit der Staatsanwaltschaft und
des Untersuchungsrichters darauf gelenkt worden, daß der Angeklagte
ein eifriger Kinobesucher war. Wenn auch die Ermittlungen über
das Verbrechensmotiv sich zunächst nach anderer Richtung hin er-
streckten, insbesondere aufzuklären versucht wurde, ob es sich nicht
um eine sadistische Handlung handeln könne, so wurde doch dankens-
werterweise auch die auf den Kinematographen hindeutende Spur
mit einer mir von anderen Fällen her nicht bekannten Energie auf-
genommen.
Es ergab sich, daß der Angeklagte, der übrigens sonst im all-
gemeinen ein ziemlich zurückgezogenes Leben führt, insbesondere im
Trinken außerordentlich mäßig war und auch in sexueller Beziehung
sich nicht all zu sehr gehen ließ, regelmäßig jede Woche einmal,
manchmal auch mehrere Male ein Kinematographentheater besuchte.
Insbesondere konnte festgestellt ‘werden, daß der Angeklagte in den
der Mordtat unmittelbar vorhergehenden Tagen einen Film gesehen
316 A. Abhandlungen.
hatte, in welchem in anschaulicher Weise ein Überfall von Weißen
durch Indianer geschildert wurde und in welchem Situationen vor-
kamen, die in manchen Einzelheiten eine auffallende Ähnlichkeit mit
den Umständen zeigten, welche bei der Tat des Angeklagten gegeben
waren, sowie daß er gleichfalls in diesen Tagen auch die kinemato-
graphische Wiedergabe des bekannten Märchens vom kleinen Däum-
ling gesehen hatte.
Es gelang, die beiden in Betracht kommenden Films zu be-
schlagnahmen und durch ihre Vorführung in Gegenwart des An-
geklagten und der die Untersuchung führenden Personen eine gewisse
Grundlage für eine Beurteilung der Frage zu schaffen, ob es denkbar
und wahrscheinlich sei, daß ihre Vorführung auf den Angeklagten
einen gewissen suggestiven Einfluß ausgeübt habe. Der Unter-
suchungsrichter hielt es sowohl nach dem Inhalt der beiden Films,
als auch nach dem Benehmen des Angeklagten während ihrer Vor-
führung sowie auf Grund der Bekundungen eines Zeugen, mit welchem
der Angeklagte häufig Kinotheater besuchte und insbesondere auch
jene beiden Films unmittelbar vor der Mordtat sich angeschaut hatte,
für außerordentlich wahrscheinlich, daß diese beiden Films auf den
Angeklagten einen derartig suggestiven Eindruck gemacht hatten, daß
er, unbewußt unter ihrem Einflusse stehend, ohne jedes sonstige Motiv
den von ihm sonst gern gesehenen kleinen Knaben seines Dienst-
herrn, als er sich an dem fraglichen Nachmittag mit ihm allein auf
dem Heuboden befand, niederstieß. Ohne hier in der Lage zu sein,
durch kritische Wiedergabe des ganzen Sachverhaltes meine Auf-
fassung näher begründen zu können, möchte ich erklären, daß auch
ich in diesem Falle einen Beleg dafür sehe, daß in der Tat der An-
blick von Films mit stark aufregenden kriminellen Begebenheiten auf
prädisponierte Individuen derartig nachhaltig einwirken kann, daß sie,
ohne sich dessen bewußt zu sein, durch sie veranlaßt werden, eine
Straftat zu begehen, die sie sonst nicht verübt haben würden.
Von dem Schwurgericht zu Essen wurde der Angeklagte, unter
Verneinung der Schuldfrage wegen Mordes, des Totschlages am
20. Januar 1913 für schuldig erklärt und ihm mildernde Umstände
versagt. Das (Gericht verurteilte ihn daraufhin zu einer Zuchthaus-
strafe von 10 Jahren. Über die Strafzumessung ist in den Gründen
des Urteils ausgeführt, daß die in ihrer Ausführung fürchterliche Tat
schwerste Sühne fordert und daß nur die Rücksicht auf die geistige
Minderwertigkeit des Angeklagten, auf seine Gemütserregung zur Zeit
der Tat und endlich auch sein noch jugendliches Alter die erkannte
Strafe als ausreichend und angemessen erscheinen lasse. Durch den
Hellwig: Die besonderen Wirkungen der Schundfilms. 317
Hinweis auf die Gemütserregung zur Zeit der Tat hat sich auch der
Schwurgerichtshof die Auffassung zu eigen gemacht, daß sich der
Angeklagte zur Zeit der Tat infolge der vorher von ihm gesehenen
kriminellen Schundfilms in einem aufgeregten Zustande befunden
habe, da sonst in der Verhandlung keinerlei Momente aufgetaucht waren,
die auf eine Gemütserregung aus anderen Gründen hätten schließen
lassen.
Auf weitere Einzelheiten kann ich hier nicht eingehen, da ich dann
den mir zur Verfügung stehenden Raum weit überschreiten müßte.
Insbesondere muß ich es mir versagen, mein umfangreiches noch nicht
veröffentlichtes Material, welches ich auf Grund meiner Umfrage er-
halten habe, hier auch nur teilweise wiederzugeben, da diese Wieder-
gabe allein schon den mir zur Verfügung stehenden Raum überschreiten
würde. Besonders bedauere ich auch, daß es mir aus denselben Gründen
nicht möglich ist, weitere Fälle, in welchen ich auf Grund der Akten
kritisch geprüft habe, ob die Möglichkeit eines kausalen Zusammenhangs
so groß ist, daß man davon sprechen kann, der Zusammenhang sei in
diesem Falle erwiesen, hier darzustellen. Eine eingehende Darstellung
würde zuviel Platz wegnehmen und eine kurze Wiedergabe würde
wiederum ihren Zweck nicht erfüllen. Ich halte es deshalb für besser,
den Leser durch Wiedergabe von Exzerpten aus der übrigen Literatur
in den Stand zu setzen, sich über den Stand der Frage zu orientieren
und sich sodann, wenn er Neigung dazu hat, durch die Lektüre
meines Buches sowie der erwähnten weiteren Aufsätze davon zu
überzeugen, ob meine eben gegebene allgemeine Charakteristik zu-
treffend ist oder nicht.!)
In vortrefflicher Weise legt Götze dar, daß die Schundfilms
nicht nur das Vorstellungs- und Gefühlsleben des Kindes beeintlußten,
sondern dadurch auch das Willensleben, da im Willensvorgang neben
der Veranlagung den Vorstellungen und Gefühlen die allergrößte
Bedeutung zukomme: »Wenn dem so ist, so dürfen wir den sen-
sationellen und sentimentalen Darstellungen nicht geringen Einfluß
auf das Wollen des Kindes zuschreiben. Ferner dürfte feststehen,
daß das gute Beispiel ein wertvoller Faktor in der Willensbildung
1) Eine allgemeine Konstatierung des Verbrechensanreizes findet sich in dem
mir von dem Präsidenten Briner übersandten gedruckten »Auszug aus dem Proto-
kolle der Zentralschulpflege der Stadt Zürich vom 30. November 1911« unter Bezug-
nahme auf die Erfahrungen der Lehrerschaft, der Polizei, des Kinderfürsorgeamtes:
»Die Untersuchung zeigt in den meisten Fällen, daß die Fehlbaren häufige Kine-
matographentheaterbesucher sind, die in diesen Theatern ihre Vorbilder gefunden
haben.«
318 A. Abhandlungen.
ist, aber ebenso unzweifelhaft, daß schlechte Ideen und schlechte
Handlungen, auch im Bilde, suggestiv wirken und das Schlechte an-
regen. Die Suggestion wird um so stärker sein, je geringer die
Eigenkraft dagegen wirkt. Die kriminellen Darstellungen bieten
Handlungen von Bösewichtern und Gaunern, Einbrechern, Kinder-
räubern usw. in Menge... Man wendet ein, die Begebenheiten, Ehe-
bruchsszenen usw. würden durch die Sühnen am Schlusse der Dar-
stellung abgeschwächt. Aber es ist doch so, daß für den Zuschauer
alles, was er an Roheit und Unsittlichkeit innerlich mit durchlebt,
»einen seelischen Präzedenzfall« bedeutet, der im gegebenen Moment
ähnliche Handlungen auslöst. Das Anschauen führt vor allem bei
disponierten Individuen leicht zu Taten oder beeinflußt den Charakter
in schlechter Weise. Dies wird bei Jugendlichen und moralisch un-
ausgereiften Erwachsenen desto mehr richtunggebend für ihre Charakter-
bildung sein, je weniger ihr häusliches Milieu die Wirkung der
moralischen Infektion paralysiert.«!)
Nach demselben Gewährsmann haben die Verhandlungen vor
dem Jenenser Schöffengericht mehr als einmal den Zusammenhang
zwischen Diebstahl und Kino aufgedeckt. Aus seiner Praxis führt
Götze noch folgende Belege an, die jedenfalls so, wie sie berichtet
werden, als beweiskräftig kaum angesehen werden dürften:
»Vor zwei Jahren hatte ich einen Jungen, K., der bei der Um-
frage nach dem Kinobesuch stets unter den regelmäßigen Besuchern
war. Um die gleiche Zeit stahl der erst neunjährige Junge einem
bei seinen Eltern wohnenden Herrn 3,71 M.«
>In einem anderen Falle stahl der dreizehnjährige Schüler B. in
den Papierläden eifrig Postkarten, um sie zu verkaufen. Er war ein
fleißiger Besucher des Kinematographen.«
»Ein elfjähriger Knabe, K., besuchte den der elterlichen Wohnung
gegenüberliegenden Kino fast täglich, meist umsonst, da er öfters
Wege besorgte. Der streng erzogene Junge zeigte seit langem Symp-
tome innerer Erregung. Nachts sprach er oft von den tags vorher
gesehenen Verbrechergeschichten, und sein Wesen war wie um-
gewandelt. Trotz Ermahnung der Eltern trieb es ihn immer wieder
vor die weiße Wand. Am 14. Juni drang derselbe Junge in die in
gleichem Stockwerke liegende Wohnung des elterlichen Nachbars ein
und stahl an einem Tage erst 2, dann 4 und endlich auf viermal im
ganzen 88 M, die er in Gesellschaft mit zwei Kumpanen innerhalb
drei Tagen bis auf 5 M durch Ankauf von allerlei Eßwaren, Spiel-
1) Götze, a.a. 0. S. 422, 423.
Hellwig: Die besonderen Wirkungen der Schundfilms. 319
waren, durch Kinematographenbesuch, allerhand Auto- und Bahn-
fahrten usw. aufbrauchte Der Vater versicherte mir bei einer
Rücksprache fest, daß der Kinematograph den Jungen verrückt
gemacht habe.« !)
Nicht recht beweiskräftig scheint mir auch folgender Fall zu
sein, welchen »Der Türmer« mitteilt:
Wir haben jetzt wieder zwei Knaben in unserem Erziehungs-
heim Kinderschutz, die mehrfach größere und kleinere Fahrten unter-
nommen haben. Der eine, ein zwölfjähriger, nahm seinem Vater,
einem Grünkramhändler, 165 M, equipierte sich und reiste dann nach
Gumbinnen und Königsberg. Hier mietete er sich eine möblierte
Stube, machte Ausflüge, besuchte Theater und Zirkus, bis er ergriffen
wurde. »Dann holte mich mein Vater,« schreibt er in seinem Bericht,
»der hat mir mit dem Stock gezeigt, was es heißt, nach Königsberg
zu fahren. Ich bin ausgerückt, weil es mir zu Hause nicht gefiel,
und weil mir das Fahren im Zuge gefiel. Ich las immer den
Detektivroman Nat Pinkerton und dachte, ich müßte es auch so
machen. Ich war immer im Kinematograph, der hat mich auch
verdreht gemacht.« ?)
Lang schildeıt folgende beiden forensischen Fälle, ohne seine
Quelle anzugeben, vermutlich auf Grund von Zeitungsberichten:
»Zwei halbwüchsige Burschen (18 Jahre) überfallen um Mitter-
nacht in einer Villa in der Nähe Prags ein Ehepaar, um es zu be-
rauben. Und hierzu folgendes aus dem Verhör: »... Die "Leute
hätten von einem reichen Mann erzählt, der darinnen allein mit
seiner Frau hause und der viel, viel Geld habe. Da habe er sich
gedacht, daß sich hier etwas machen ließe. Hätte er doch wieder-
holt ähnliches im Kinematographen gesehen und in der Zeitung ge-
lesen. Die Geschichte von den beiden mutigen Burschen, die im
Schnellzuge den Leutnant und später den Briefträger M. auf dem
Bergstein überfallen hätten, wären seine Vorbilder geworden. ..« (auch
diese durch das Kino angeregt, worauf gleich eingehender zurück-
zukommen sein wird). Die Fortsetzung erzählt sein Komplice:
2... Am 30. November um 10 Uhr abends sei er im Kino in
der Holleschowitzer Belcredistraße mit seinem Freunde zusammen-
gekommen. Der habe ihm erzählt, er wisse von etwas, das sich so
ähnlich einrichten lasse wie das Stück von den großen Banditen,
das sie soeben gesehen hätten....« Es folgt die Erzählung der
1) Götze, a. a. 0.
2) Der Türmer XI. Nr. 3. S. 364 f.
320 A. Abhandlungen.
Verabredung und der Anschaffung der Einbruchswerkzeuge. >»... Dann
verabschiedete man sich, S. ging noch zu einer Vorstellung ins
Kinotheater, um dort seine kriminalistischen Studien noch zu ver-
vollständigen. . .«
Ein zweiter Fall: »Am Allerheiligentage überfielen zwei junge
Burschen im Wiener Schnellzuge knapp hinter Wysotschan einen
Leutnant. Die Täter, die erst anläßlich eines späteren Verbrechens
(Überfall auf einen Briefträger in einer eigens hierfür gemieteten
Wohnung) festgenommen wurden, führten an, ‚daß sie durch das
Kinotheater bei der Vorstellung des Stückes ‚Räuber überfallen im
Singaporer Expreßzug einen Reisenden‘ auf den Gedanken gekommen
seien, ein ähnliches Stückchen zu versuchen‘.
Der Verteidiger Dr. B. fragt: Waren jede Woche im Kine-
matographentheater, das Sie besuchten, Verbrechervorstellungen zu
sehen ?
Angeklagter: Mindestens eine.
Verteidiger: Was reizte Sie, den Helden der Verbrecherromane
nachzustreben, die Sie lasen?
Angeklagter: Mir imponierte deren Schlauheit, deren Entschlossen-
heit und deren Mut.«!)
Sellmann erwähnt auf Grund einer Zeitungsnotiz folgenden Fall:
»Der wiederholte leidenschaftliche Besuch des Kinematographen-
theaters hat nach seinem eigenen Geständnis den jugendlichen
Dienstknecht Wilhelm Fleck aus Göttingen zum Straßenraub ver-
leitet. Der siebzehnjährige Bursche stand unter der Anklage des
vierfachen schweren Straßenraubes vor den Geschworenen in Kassel.
In später Abendstunde pflegte er alleingehenden Damen mitten in
der Stadt die Handtaschen zu rauben. Fleck war auf der Domäne
Wilhelmshöhe in Stellung und führte sich dort tadellos. Bei seiner
Vernehmung gab der Angeklagte nur an, er habe einmal in einem
Kinematographentheater gesehen, wie ein Räuber einer Dame eine
Handtasche fortriß, darauf flüchtete, ein Schutzmann hinter ihm her-
sprang und beide sich in die Beute teilten usw. Dieses Bild habe
ihn dazu verführt, einen gleichartigen Straßenraub auszuführen. Tat-
sache ist, daß Fleck die Straßenraube stets nach Besuch des Kine-
matographen auf dem Heimwege ausgeführt hat. Er wurde zu einer
Gesamtstrafe von drei Jahren Gefängnis verurteilt.<« ?)
1) Lang, a. a. O. S. 13 f.
?) Sellmann, »Der Kinematograph als Volkserzieher?« 2. Aufl. Langensalza,
Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1913. S. 25. Ich habe den Fall mittler-
weile aktenmäßig nachprüfen können. Seine Beweiskraft ist nicht groß.
Hellwig: Die besonderen Wirkungen der Schundfilms. 321
De Ryckere berichtet von zwei sechszehnjährigen Burschen
namens Joseph Counet und Michel Orban, welche im Juli 1912 vor
dem Tribunal correctionel von Verviers erschienen. Sie stammten
aus achtbaren Familien in Spa und waren, durch die Lektüre von
krimineller Schundliteratur und den Besuch von Kinotheatern wirr
gemacht, aus dem Elternhause entflohen, wie in der Voruntersuchung
festgestellt wurde. Sie hatten sich mit Revolvern und mit Dolch-
messern bewaffnet, hatten dann unter falschem Namen ein Fahrrad
gemietet und es sofort für wenig Geld wieder verkauft. In der
Waldung von Francorchamps hatten sie schließlich einen Radfahrer
aus Verviers unter Todesdrohungen gezwungen, ihnen seine Barschaft
herauszugeben. Am nächsten Morgen gelang es sie festzunehmen.
In der Hauptverhandlung machten die Verteidiger die Schundliteratur
und Schundfilms für die Verbrechen der beiden Angeklagten, die zu
vier Monaten Gefängnis bezw. verschiedenen Geldbußen verurteilt
wurden, verantwortlich. !)
Drei Fälle aus der Schweiz teilt uns auf Grund von Zeitungs-
berichten Pfarrer Wild?) mit:
Vier Bürschehen im Alter von 15 und 16 Jahren waren am
2. April 1912 vor die Appellationskammer des Obergerichtes (Zürich)
vorgeladen ; sie waren angeklagt einer Reihe von Einbruchsdiebstählen.
Zwei der Burschen stammten aus Rußland, ein anderer aus Österreich
und der vierte und älteste war ein Zürcher. Einer der Russen war
geflohen. Die jungen Burschen, die nicht etwa eine schlechte Er-
ziehung genossen hatten, kamen in schlechte Gesellschaft; anstatt zu
arbeiten, schlenderten sie umher und gingen mit Vorliebe in die
Schaustellungen der Kinematographen, wo Szenen aus dem Leben
eines Räuberhauptmanns aufgeführt wurden. Sie wollten offen-
bar auch so »berühmt« werden und zogen dann nachts mit Brech-
zeug versehen herum, um da und dort einzubrechen; sie nahmen
alles mit, was ihnen gerade in die Hände fiel, Krawatten, Brieftaschen,
Füllfederhalter, Rauchservice, am liebsten bares Geld. Als sie dann
am 20. November, abends 8 Uhr, daran waren, die Korridortür zu
einer Wohnung zu erbrechen, in welcher, wie sie wußten, ziemlich
viel Geld aufbewahrt war, wurden sie verscheucht, und man konnte
dann die Einbrecher ausfindig machen. Die drei anwesenden An-
1) De Ryckere, »Lettre Belgique« (»Archives d'anthropologie criminelle«
1912, S. 942 f.).
?) Wild, »Die Bekämpfung des Kinematographenunwesens« (Separatabdruck
aus dem Schweizerischen Jahrbuch für Jugendfürsorge über das Jahr 1912). Zürich
1913. 8. 63f.
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 21
322 A. Abhandlungen.
geklagten wurden mit einem Monat bezw. sechs Wochen Gefängnis
bestraft.
In der Sitzung des Schwurgerichts zu Bern vom 14. Okt. 1912
hatten sich zwei junge Burschen wegen verschiedenen strafbaren
Handlungen zu verantworten, Alfred Luginbühl, geb. 1894, von
Oberthal, Bäckergeselle, und Albert Riesen, geb. 1894, von Ober-
balm, Gipser, beide in Untersuchungshaft. Ersterer ist angeklagt
des Brandstiftungsversuchs, des Diebstahls und des Betruges und
letzterer des Betruges und des Betrugsversuchs. Die beiden An-
geklagten trieben sich vor ihrer Verhaftung beschäftigungs- und
mittellos in der Stadt herum. Sie sprachen einzeln oder gemeinsam
bei verschiedenen Personen vor mit der Angabe, Luginbühl hätte das
Geld, mit welchem er für seinen Vater eine Anschaffung machen
sollte, verloren. So gelang es ihnen, einigen Personen Geld abzu-
locken.
Sonntag, den 28. April, im Verlaufe des Nachmittags, begab sich
Luginbühl in den Keller des väterlichen Hauses auf dem Breiten-
rainplatz. Daselbst zündete er einen Haufen Papier an, welches
neben einem hölzernen Kellergitter am Boden aufgeschichtet war.
Nach dieser Brandlegung entfernte er sich eiligst. Sein Verschwinden
wurde aber von zwei Mädchen bemerkt, und diese begaben sich,
nichts Gutes ahnend, in den Keller. Einige hölzerne Gegenstände
waren bereits angebrannt. Daß das Gebäude nicht in Flammen auf-
ging, ist einem glücklichen Zufall zuzuschreiben.
Luginbühl ist der Sohn rechtschaffener Eltern, denen er schon
viel Verdruß bereitet hat. Er wird als leichtsinniger Bursche ge-
schildert, der sein Geld in Kinematographen und für Schundromane,
wie Nick Carter, ausgab.
In Genf endlich verhaftete die Polizei am 2. August 1912 zwei
Burschen im Alter von 12 und 15 Jahren aus Eaux-Vives, die sich
nach dem Titel eines bekannten Kinematographenstückes mit anderen
Kameraden Bande »Zigomar« nannten und seit einiger Zeit eine Reihe
von Diebstählen ausführten. Ihr Versammlungsort war ein Keller;
sie hatten dort in einer Aushöhlung auch die entwendeten Sachen auf-
gestapelt.
»Zigomar«, »ein Kampf auf Leben und Tod zwischem dem be-
rüchtigten Verbrecherkönig von Paris und dem berühmtesten Detektiv
Martial«, ist ein Kinematographendrama der allerschlimmsten Art, die
Ausgeburt einer verderbten und ausschweifenden Phantasie. Der
»Held« Zigomar triumphiert schließlich über alle Gerechtigkeit. Der
Film wurde anstandslos in verschiedenen Schweizer Städten vorgeführt.
Hellwig: Die besonderen Wirkungen der Schundfilms. 323
Scheurmann, Direktor der Zwangserziehungsanstalt in Aarburg
in der Schweiz, behauptet in seinem Jahresbericht für das Jahr 1910,
daß bei 10°/, der Insassen der Kinematograph eine verhängnisvolle
Rolle gespielt habe!) und bei den Untersuchungen über die Kinemato-
graphenfrage, die in der norwegischen Stadt Stavanger veranstaltet
wurden, stellte man fest, daß nicht weniger als 46 Volksschullehrer
Erfahrungen über die Verleitung durch den Kinematographen zu
Diebereien gemacht hatten; auch wurde konstatiert, daß ein großer
Teil der Zöglinge der Zwangserziehungsanstalten sowie der Schul-
heime durch den Besuch der Kinematographentheater auf den un-
rechten Weg gekommen sei.?)
Bei der österreichischen Enquöte führte Oberlandesgerichtsrat
Dr. Warhanek u.a. folgendes aus: »Es ist eine Tatsache, daß fast
kein Verhandlungstag des Wiener Jugendsenates vergeht, ohne daß
nicht ein- oder mehrmals von irgend einer Seite das Wort Kinemato-
graphentheater fällt. Es ist das gewiß kein Zufall, und es wird das selbst-
verständlich auch nicht von uns Mitgliedern des Senates provoziert, aber
soviel ist sicher, daß nicht nur ich, sondern auch meine Mitarbeiter im
Senate bei mancher Gelegenheit schon immer auf dieses Wort als auf das
erlösende Wort warten, wenn es sich darum handelt, die Handlungs-
weise eines Jugendlichen, die unaufklärbar schien, aufzuklären. .... Ich
will hier nur einen Fall anführen, der sich erst unlängst zugetragen hat, und
der bei dem Senat ein gewisses Mitleid mit den Beteiligten hervorrufen
mußte. Es handelt sich um einen gewerblichen Gehilfen, welcher
gewöhnlich seine freien Stunden in Gesellschaft eines im selben Be-
triebe beschäftigten Lehrjungen zu verbringen pflegte. Der Betrieb
war eine Buchbinderei. Diese beiden begaben sich einmal nach
12 Uhr nachts nach Einbruch eines Parterrefensters in die Werk-
stätte, wo sie dann mit ziemlich unzulänglichen Instrumenten die
eiserne Kasse ihres Meisters bearbeiteten. Sie wurden von drei
Sicherheitswachleuten, die in der Nähe waren, arretiert. Es waren
bisher ganz unbescholtene Personen, die allerdings mit ihrer Lage
nicht ganz zufrieden waren, die aber sonst keinen Grund hatten, sich
an fremdem Gut zu vergreifen. Es war gehr schwer, das Motiv der
Tat aufzuklären. Das ging erst aus dem abenteuerlichen Plan her-
vor, den sie später verraten haben. Sie wollten nämlich mit einem
bestimmten Schiff nach Amerika fahren und wollten sich dazu das
—
1) Jahresbericht der Zwangserziehungsanstalt Aarburg für das Jahr 1910.«
Zofingen 1911. 8.5.
?) »Kinematografsaken«, a. a. O., 8. 4, 8.
21*
324 A. Abhandlungen.
Reisegeld verschaffen. Sie haben gewußt, daß in der Kasse 13000
Kronen sind, und damit wollten sie über das große Wasser. Es ist
herausgekommen, daß sie an dem betreffenden Abend zwei Kinemato-
graphenvorstellungen besucht hatten. Ich weiß nicht, ob das damals
nur ausnahmsweise geschehen ist und ich kann auch nicht bestimmt
behaupten, ob sie gerade durch diese Vorstellung dazu bewogen
worden sind, allein die Vermutung liegt nahe, und das Merkwürdige
ist, daß in diesem Falle wie in vielen anderen Fällen ein Geständnis
der betreffenden, daß sie durch die kinematographische Vorstellung
zu ihren strafbaren Handlungen verleitet worden sind, meistens nicht
zu erreichen ist. Ich führe das darauf zurück, daß den betreffenden
jugendlichen Personen der Einfluß, der auf diese Weise auf sie aus-
geübt wurde, nicht einmal selbst zum Bewußtsein gekommen ist, daß
es sich da aber doch um eine sehr gefährliche Suggestivwirkung
solcher Vorstellungen handelt.« 1)
Mit diesen vorsichtigen Ausführungen von Oberlandesgerichtsrat
Dr. Warhanek möchte ich die Zitate aus der neuen Literatur über
die kriminellen Schundfilms beenden. Bevor ich kurz noch die Ge-
fahren der hygienischen Schundfilms behandle, möchte ich eine Ent-
scheidung des Bezirksausschusses I zu Berlin vom 6. Dezember 1912
in Sachen Eclair gegen den Polizeipräsidenten (I. A. Nr. 151/12)
wiedergeben, weil derartige Urteile, welche einen Einblick in die
Schundfilmfabrikation geben und die Stellungnahme unserer Ver-
waltungsgerichte gegenüber den kriminellen Schundfilms erkennen
lassen, bisher noch kaum veröffentlicht worden sind, so interessant
sie auch für jeden sind, der sich mit der Frage der Bekämpfung der
Schundfilms befaßt. 2)
Durch Verfügung vom 27. Juni 1912 verbot der Polizeipräsident
die öffentliche Vorführung des Films »Tom Buttlers geheimnisvolle
Abenteuer«.
Der Inhalt des Films ist folgender:
Über die Mauer eines am Meere gelegenen Zuchthauses schleichen
sich zwei unheimliche Gestalten; sie sind eben auf einem Felsblock
angelangt, als ein Schuß aus der Festung den einen der Ausbrecher
niederstreckt, während der andere in den Fluten verschwindet.
Einige Wochen später taucht ein unheimlicher Mensch in einer
Weltstadt auf.
1) »Stenographisches Protokolle, a. a. O. S. 66f.
?) Eine ganze Reihe weiterer Entscheidungen der Verwaltungsgerichte über
Filmzensurverbote werde ich in allernächster Zeit im »Volkswart« veröffentlichen.
Hellwig: Die besonderen Wirkungen der Schundfilms. 3935
Die Schauspielerin Miß Hampton erhält einen Drohbrief: »Er-
innerst Du Dich an Deinen Mann, den Du ins Zuchthaus brachtest?
Es schlägt die Stunde der Vergeltung.«
Miß Hampton ist sehr beunruhigt, vergißt den Zwischenfall aber
über ihrer Tätigkeit im Theater.
Da wird ihr ein Blumenstrauß überreicht, in welcher abermals
eine unheimliche Drohung sich findet: »Er vergißt Dich nie, er naht.«
In der Pause macht sie zufällig die Bekanntschaft des alten
Barons von Norville, der kein anderer als der verkleidete Tom Buttler
ist. Bald darauf verbreitet sich im Theater das Gerücht, auf Miß
Hampton sei ein Attentat verübt worden. Man fand sie bewußtlos in
ihrem Garderobenraum mit einem Strick um den Hals. »Ein dunkles
Geheimnis« steht auf der weißen Leinewand über diese Vorgänge
zu lesen.
Quälende Angst bemächtigt sich der Schauspielerin, unheimliche
Ahnungen verdüstern ihr Leben. Nach einiger Zeit findet sie wieder
in einem Blumenstrauß die Drohung: »Du sollst mir nicht ein zweites
Mal entschlüpfen.«
Unheimliche Bilder stören ihren nächtlichen Schlummer; überall
glaubt sie den Verfolger hinter sich, wie von schwerem Alpdruck
gepeinigt erhebt sie sich von ihrem Lager und von aufregenden
Angsterscheinungen gequält stürzt sie sich aus dem Fenster ihres
Schlafzimmers. Das Bild zeigt die Schauspielerin verwundet; sie
wird in das nahe Haus eines Bildhauers gebracht, wo sich bald darauf
ein ausländischer Kunstliebhaber — wiederum Tom Buttler in Ver-
kleidung — mit einer Dame einfinde. Unbemerkt weiß er das
Krankenzimmer der Schauspielerin ausfindig zu machen. Beim Fort-
gehen läßt er absichtlich seinen Stock stehen, um Anlaß zur baldigen
Wiederkehr zu haben. Kaum ist er wieder eingetreten, so brechen
durch das Glasdach des Ateliers zwei an der Fassade beschäftigte
Maurer hindurch. Da sie schwer verletzt sind, werden Tragbahren
herbeigeholt, um sie fortzubringen. Seltsamerweise wird statt des
einen Arbeiters Miß Hampton fortgetragen. Als man das Verschwinden
der Dame bemerkt, wird die Verfolgung des frenden Kunstliebhabers
und seiner Begleiterin aufgenommen.
Hinter einem Baume des Parkes wechseln diese ihre Kleider
und verwandeln sich in reisende Engländer, die kein Wort der auf
sie mit Fragen eindringenden Polizisten verstehen. Irgendwo aber
scheint Miß Hampton wieder aufgefunden worden zu sein; wenigstens
ist sie jetzt wieder in der Obhut ihrer Freunde. Da will ihr der ihr
besonders ergebene Journalist Villars einen Blumenstrauß schicken.
326 A. Abhandlungen.
Dies ermitteln die Späher Tom Buttlers. Der Verbrecher selbst hält
sich als alter Bettler verkleidet auf dem Wege auf, den die Über-
bringerin der Blumen gehen muß. Er stellt ihr ein Bein, so daß sie
hinfällt und den Blumenstrauß fallen läßt, den eine Helferin Tom
Buttlers sogleich mit einem Betäubungsmittel bestreut. Die Schau-
spielerin fällt sogleich in einen tiefen Schlaf. Tom Buttler mit seinem
Komplicen dringt bei ihr ein und verschleppt sie abermals. Das
»immer unheimlicher gewordene« Geheimnis beginnt sich zu lüften.
Durch die Angabe der Blumenhändlerin wird der getreue Journalist
auf die Spur der Verbrecher geführt. Als Detektiv weiß er sich
unkenntlich zu machen und entdeckt den Schlupfwinkel der sauberen
Gesellschaft. Eine Kaschemme ist ihr Versammlungsort. Unter dem
beweglichen Buffet dieser Kneipe führt eine Treppe in die Tiefe.
Hierhin hatte Tom Buttler sein Opfer gebracht, um es in einer Nische
lebendig einmauern zu lassen: »Diesmal entschlüpfst Du mir nicht!«
ruft er ihr triumphierend zu. Gefesselt wird sie in die Nische ge-
stellt und man sieht, wie die Männer Stein um Stein auf das Grab
der Lebenden aufsetzen.
Als der letzte Stein aufgesetzt werden soll, dringt Villars mit
Polizisten ein. Die Verbrecher fliehen durch eine Hintertür; erst
nach längerem Suchen erkennt man aus dem Wimmern der lebendig
Begrabenen ihren Aufenthaltsort. Die Mauer wird eingerissen und
die Arme befreit. Kein Mensch kümmert sich um einen in seinem
Blute liegenden Polizisten, der von den Einbrechern niedergeschossen
worden ist.
Der Kaschemmenwirt verrät den Aufenthalt der Verbrecher, die
sich in dem Foyer der »Folies Bergöres« befinden, wo es gelingt,
ein Weib zu verhaften, während Tom Buttler an einer besonderen
Vorrichtung vor den Augen seiner Verfolger sich in die Höhe zu
ziehen und abermals in Sicherheit zu bringen weiß.
Die verhaftete Frau verweigert jede Aussage. Da begeht Tom
Buttler »eine Unvorsichtigkeit« und dringt als Bettler verkleidet in
das Gerichtsgebäude ein. Der findige Villars aber entlarvt ihn und
führt seine Verhaftung herbei.
In der Gerichtsverhandlung schildert Tom Buttler, wie ihn seine
einstige Frau, Miß Hampton, wegen einer verbrecherischen Tat an-
gezeigt und ins Zuchthaus gebracht habe. Nach seiner Flucht aus
dem Zuchthause habe er sie unaufhörlich mit seiner Rache verfolgt.
Dabei erscheint im Hintergrunde das Bild, wie er als Baron Norville
verkleidet im Theater sie mittelst eines Strickes zu erdrosseln ver-
sucht habe. Während den Gerichtshof noch sein sehr anmaßendes
Hellwig: Die besonderen Wirkungen der Schundfilms. 327
Betragen in Erstaunen versetzt, schwingt sich Tom Buttler auf die
Fensterbrüstung und stürzt sich in den Hof hinab, wo er in der
Schlußszene zerschmettert liegt. Der letzte Titel verkündet: »Ge-
rechtigkeite«.
Die Klägerin meinte, das Verbot sei nicht gerechtfertigt. Der
Film zeige lediglich, wie weit die Leidenschaft und die Rache einen
Menschen führen könne, die einzelnen Handlungen fänden ihre
psychologische Erklärung und seien durch das meisterhafte Spiel der
Schauspieler auf eine Höhe gehoben, die der Darstellung eine hohe
künstlerische Bedeutung verleihe. Schließlich fände das Verbrechen
auch seine Sühne. Die Darstellung sei geeignet, eine sittliche Wirkung
auf die Zuschauer auszuüben, eine Tatsache, welche geeignet sei, die
Nachahmung der strafbaren Handlung auszuschließen. Es sei zu be-
rücksichtigen, daß die ganz entfernte Möglichkeit, verbrecherische
Entschlüsse wachzurufen, nicht geeignet sei, ein Verbot zu recht-
fertigen; eine stets unmittelbare Gefahr für das Publikum sei er-
forderlich.
Der Polizeipräsident hielt das Verbot für begründet. Der Film
enthalte eine Reihe von Verbrechen in abschreckenden Bildern, auch
die Schilderung der Seelenqualen der Verfolgten und ihr Selbstmord-
versuch könnten auf die Zuschauer verderblich wirken. Es liege
eine Häufung von Scheußlichkeiten vor, bei denen weder von einer
psychologischen Begründung noch von hoher künstlerischer Bedeutung
die Rede sein könne. Auch daß die Verbrechen ihre Sühne fänden
sei belanglos; im Gegenteil wirke das Auftreten des Verbrechers mit
seinem unbestreitbaren guten Spiel als eine Verherrlichung des Ver-
brechens und als eine Heldentat im Sinne des Verbrecher- und
Apachenkultus.
Das Gericht schloß sich dieser Auffassung an und wies die
Klage zurück.
Zur Begründung wurde folgendes ausgeführt:
»Es muß der Ansicht des Beklagten beigetreten werden, daß die
Vorführung des Films durchaus geeignet ist, zur Nachahmung der
vorgeführten strafbaren Handlungen anzureizen. Wenn auch schließ-
lich der Verbrecher nach seiner großen Anzahl mit Erfolg betriebener
Schandtaten sich aus dem Fenster stürzt und dabei verunglückt, so
ist dies nicht die Folge einer ausgleichenden Gerechtigkeit: Das ganze
Stück stellt sich mehr oder minder als eine Verherrlichung der ver-
brecherischen Gewandtheit des Tom Buttler dar, ohne daß von einer
sittlichen Sühne die Rede sein kann. Die Handlungen des Ver-
brechers sind, bis zu seinem letzten Atemzuge, wo er entweder ent-
328 A. Abhandlungen.
fliehen oder sich selbst umbringen will, ein Triumph des Apachen
und eine Verhöhnung der Behörden, die überall das Nachsehen haben.
Aber auch durch die abstoßenden Szenen, die Ausführung der Mord-
versuche, die Darstellung der qualvollen Ängste der Verfolgten und
die letzte Steigerung aller Gräuel, die Einmauerung der Verfolgten,
wobei Stein auf Stein recht anschaulich zu dem Verbrechen gehäuft
wird, dann ein Revolvergefecht zwischen den entdeckten Verbrechern
und der Polizei stattfindet und sich zu Tode getroffen ein Polizist
im Vordergrunde in Qualen wälzt, sind geeignet, die Nerven und die
Gesundheit der Zuschauer ungünstig zu beinflussen.«
»Es bedarf kaum der Ausführung, daß die sich immer wieder-
holenden Vorführungen solcher Szenen in breitester Öffentlichkeit zu
einer die öffentlichen Interessen berührenden Verschlechterung des
sittlichen Denkens und Fühlens führen müssen (Entscheidungen des
Oberverwaltungsgerichts vom 2. Mai 1892). Erwägt man endlich, daß
es nicht angängig ist, einzelne Szenen im vorliegenden Film wegen
ihrer technischen Vollendung freizugeben, da der verbrecherische Ge-
danke den ganzen Film in allen Teilen durchzieht, und daß die Auf-
führung unterschiedslos vor beliebigem Publikum beabsichtigt wird, so
rechtfertigt sich die vom Beklagten angewandte Maßnahme durchaus.«
Auf die gesundheitlichen Gefahren durch Vorführung von hygie-
nischen Schundfilms hatte ich zwar auch schon in meinem Buch
hingewiesen;!) doch hatte ich diesem Punkte, da mir damals noch
nicht genügendes Material zur Verfügung stand, nicht die volle Be-
deutung beigemessen, auf die er Anspruch machen kann. Mittler-
weile habe ich in meiner Abhandlung über die Schädlichkeit von
Schundfilms für die kindliche Psyche weiteres recht interessantes
Material über die hygienischen Schundfilms beigebracht. Ich will
auch hier wieder mich damit begnügen, auf meine früheren ein-
schlägigen Veröffentlichungen zu verweisen und hier lediglich aus der
sonstigen Literatur das zusammenzustellen, durch das meine früheren
Erörterungen ergänzt und bestätigt werden.
In Zürich wurde von der Schulbehörde konstatiert, daß die
sonderbaren und tollen Vorführungen der Kinematographentheater in
der Phantasie der Kinder weitergesponnen werden und in weit-
gehendem Maße den Schlaf stören. ?)
Dr. Lang hat bei seiner Umfrage in Wiener Schulklassen sehr
häufig zu hören bekommen: »Wenn etwas Grauliches kommt, dann
1) Hellwig, »Die Schundfilms«, a. a. O.
?) »Auszug aus dem Protokoll der Zentralschulpflege«, a. a. O.
Hellwig: Die besonderen Wirkungen der Schundfilms. 329
fürchte ich mich« oder »Ich kann dann nicht schlafen, weil ich das
immer sehe«, »Schön und aufregend, man kann nicht schlafen darauf«
usw.!) Baginsky macht darauf aufmerksam, daß die Überreizung der
Phantasie zweifellos zu Schlaflosigkeit führen könne und daß dies,
wie vielfach beobachtet werden könne, auch tatsächlich geschehe;
Appetit und Verdauung könnten auch in Mitleidenschaft gezogen
werden.2) Nach Götze wird die Phantasie durch die Sensations-
dramen ebenso wie durch die Sherlock Holmes-Literatur in falsche
Bahnen gelenkt, »dabei sind diese Eindrücke so stark, daß sie die
überhitzte Phantasie nachts nicht zur Ruhe kommen lassen; Fieber-
vorstellungen und aufregende Träume stellen sich ein, Angstzustände
stören den nächtlichen Schlaf und wirken zerstörend auf das zarte
Nervensystem ein. Zur Abspannung gesellt sich Appetitlosigkeit,
so daß die Kinder in ihrer ganzen Verfassung herunterkommen ...
Wiederholt kamen Mütter zu mir, die ich wegen ihrer Jungen be-
nachrichtigt hatte, und klagten, daß ihre Kinder nachts unrubig
schliefen, im Schlafe aufführen und von Mördern und Räubern phanta-
sierten und Angst vor dem Messer äußerten. Die Erlebnisse im Kino
wirkten nach.« 3)
Bei der Untersuchung in Stavanger wurde gleichfalls festgestellt,
daß zahlreiche Kinder ihren eigenen Angaben nach an Schlaflosigkeit
leiden oder Angstträume haben, wenn sie im Kino unheimlichen Vor-
führungen beigewohnt haben; eines blieb noch den nächsten Tag krank
und mußte das Bett hüten. Vierzehn Kinder mußten sich übergeben,
nachdem sie aufregende Schundfilms angesehen hatten.t)
Auch die Bremer Lehrerinnen konnten feststellen, daß die schreck-
haften und aufregenden Bilder manche Kinder bis in den Schlaf ver-
folgen.) Eine Lehrerin teilte in ihrem Bericht folgende Beobachtungen
mit: »Eine Schülerin meiner Klasse verschlechterte sich auffallend in
ihren Leistungen. Das Kind kam mir sehr nervös vor, ich bemerkte
manchmal veitstanzähnliches Gesichterschneiden und fortwährende Un-
ruhe in der ganzen Körperhaltung. Bei der geringsten Ermahnung
gebärdete sie sich förmlich hysterisch. Die übrigen Mädchen erzählten
mir, daß dieses Kind (kaum zwölf Jahre alt) viel mit Knaben unter-
wegs sei, auch abends noch. Als ich dann mit dem Vater Rück-
sprache nahm, gestand er ein, daß seine Frau die Kinder nicht nur
1) Lang, a. a. O. 8.12.
2) Baginsky, a. a 0. 8.2.
3) Götze, a. a. O. S. 418f.
1) »Kinematografsaken«, a. a. O. S. 8.
5) »Die Bremer Lehrerinnen und die Kinogefahr«, a. a. O. S. 154.
330 A. Abhandlungen.
Sonntags, sondern auch häufig in der Woche zum Kino schickte, um
sie los zu sein. Er erzählte mir, seine Tochter könne oft gar nicht
einschlafen, oder sie stehe nachts im Schlafe auf, gehe umher und
wache ganz erschrocken auf, wenn man sie anrede. Am Tage habe
sie dann immer Kopfschmerzen. Die kleine Schwester von fünf Jahren,
die auch manchmal mitgehe, könne darnach überhaupt nicht schlafen
und weine halbe Nächte lang über all das Schreckliche und Rührende,
das sie im Kino gesehen habe.
Ich beschwor natürlich den Mann, seiner Frau eindringlich vor-
zustellen, wie schwer die Gesundheit der Kinder geschädigt würde,
wenn sie nicht vom Kinobesuch abließen. Er versprach es mir und
scheint auch Wort gehalten zu haben. Das Mädchen ist jetzt viel
wohler und kommt auch regelmäßig zur Schule, seit sie das Kino
meidet.
Neulich Montags erhielt ich von einer gut begabten Schülerin
solch verworrene und dumme Antworten, wie ich es gar nicht von
ihr gewohnt war. Als ich sie daraufhin näher beobachtete, fiel es
mir auf, daß sie sehr elend und angegriffen aussah. Auf mein Be-
fragen erklärte sie, heftige Kopfschmerzen zu haben. Und dann kam
es heraus, daß sie am Sonntag im Kino gewesen sei und sich darnach
so schlecht befunden habe, daß ihr zu Hause schon gesagt wäre, sie
dürfe nicht wieder zum Kino.«!)
Gaupp sagt: »Wir Nervenärzte wissen, wie verhängnisvoll, ja
geradezu entscheidend für die Nervengesundheit des jungen Menschen
ein stark affektvolles Ereignis werden kann. Kinder, Mädchen und
Frauen kommen häufig zu uns mit ernsten und qualvollen nervösen
Erkrankungen, die auf einen heftigen Schreck, auf ein angstvolles
Erlebnis zurückgeführt werden müssen. Es kann keinem Zweifel
unterliegen, daß die Seelenverfassung des phantasieerregten Kindes,
das im verdunkelten Raum des Kino in fieberhafter Erregung alle
Schrecken des Dramas miterlebt, einer tiefen und nachhaltigen Schädigung
besonders leicht zugänglich ist. Deshalb fort mit dem Schundfilm, fort
mit den ordinären Verzerrungen des wirklichen Lebens, das ja schon
genug Leid und Kummer mit sich bringt.« 2)
Bei der Untersuchung der Kinematographenfrage in Hamburg
durch die Lehrerschaft im Jahre 1907 wurde festgestellt, daß bei der
Vorführung eines höchst aufregenden widerlichen Schundfilms, in
welchem durch vermummte Verbrecher ein zweifacher Mord verübt
1) »Die Bremer Lehrerinnen und die Kinogefahr«, a. a. O. S. 163.
®) Gaupp, a. a. O. S.11.
Hellwig: Die besonderen Wirkungen der Schundfilms. 331
wurde, ein im Zuschauerraum befindliches Kind einen durchdringenden
Schrei ausstie® und dann in Ohnmacht fiel. Ein bei dieser Unter-
suchung erstatteter Bericht sagt über die gesundheitlichen Gefahren,
die durch Schundfilms drohen: »Außer Augenschmerzen, Übelkeit und
Erbrechen werden genannt: Träume von Mord, Einbruch und brennen-
dem Schiff... Ich halte eine Verrohung dieser Jungen durch die
lebenden Photographien für sehr wahrscheinlich. Die großen Mädchen
fühlen sich meistens abgestoßen von jedem grausigen Ereignis« Von
der »Rache des Indianers« sagte ein Mädchen: »Es war so grausig,
daß ich nicht hinsehen mochte«, ... »war mir unheimlich, machte
mich ängstlich.« Zum »Kampf zwischen Schmugglern und Soldatene:
»Bei solchen Bildern zitterte ich am ganzen Körper.« Alle anderen
Berichte lauten ähnlich. !)
Auch Professor Brunner, der literarische Beirat des Berliner
Polizeipräsidiums, erwähnt gelegentlich, daß er es mit angesehen habe,
wie drei- bis vierjährige Kinder im dunklen Raum vor grausigen
Szenen Angstzustände bekamen und laut schreiend hinausgetragen
werden mußten.)
Professor der Psychiatrie Dr. Gadelius von dem Karolinischen
Institut in Stockholm und Oberarzt des dortigen Hospitals macht nicht
nur auf die große Suggestivkraft der kinematographischen Vorführungen
aufmerksam, sondern weist auch mit Nachdruck auf die gesundheit-
lichen Gefahren hin, welche bei einigermaßen reizbaren. Kindern ent-
stehen können. Nervöse Kinder können durch derartige Schundfilms
direkt einen Nervenchock bekommen, aus welchem abnorme, längere
Zeit bleibende Furcht und Empfindlichkeit sich entwickelt. Er beruft
sich dafür auf die Erfahrung in einigen derartigen Fällen. Die Hysterie,
welche im Kindesalter gar nicht so selten vorkomme, könne durch
derartige Vorführungen zweifellos verbreitet werden, und eine an der
Sache interessierte und gut unterrichtete Dame habe ihm auch mit-
geteilt, daß hysterische Konvulsionen bei Kindern unmittelbar nach
dem Kinobesuch wiederholt beobachtet worden seien. 8)
Bürgerschuldirektori.R..Kopetzky bemerkte beiderösterreichischen
1) Dannmeyer, »Bericht der Kommission für lebende Photographien«. Ham-
burg 1907. Als Manuskript gedruckt von der »Gesellschaft der Freunde des vater-
ländischen Schul- und Erziehungswesens zu Hamburge. S. 20, 27.
2) Brunner, »Der Kinematograph von heute — eine Volksgefahr«. Berlin
1913. 8. 19.
3) Das Gutachten ist abgedruckt bei Marie Louise Gagner, »Barn och bio-
grafföreställningar« (Stockholm 1908), S. 17 sowie im Bihang till Riksdag prot. Stock-
holm 1911. 1. Saml. 1 Afd. 105. Häft. (Nr. 160.) 8.16.
332 A. Abhandlungen.
Enquete, er habe über die physiologischen Wirkungen kinemato-
graphischer Vorstellungen seine eigene Erfahrung. Wenn z. B. eine
komische Szene gespielt werde, bei welcher ein rascher Personen-
wechsel stattfinde, Balken hinunterfielen usw., so habe er oft die Be-
obachtung gemacht, daß Kinder sich die Augen zuhielten und ängst-
lich würden, weil sie glaubten, daß sie von diesen herabfallenden
Dingen getroffen würden. Wenn z. B. ein fahrender Zug aus einem
verdunkelten Raume herauskomme, so drängen diese Bilder auf das
Kind so schnell ein, daß es in Angst gerate. Das passierte mitunter
sogar auch Erwachsenen. Wenn beispielsweise ein Schiff auf be-
wegter See gezeigt werde, so scheine die ganze Oberfläche des Meeres
in schaukelnder Bewegung zu sein, so daß man glaube, man müsse
die Seekrankheit bekommen. !)
Endlich hat Dr. Villinger, Dozent der Nervenheilkunde in Basel,
in einem im Jahre 1911 auf Ersuchen der dortigen Schulbehörden
erstatteten Gutachten u. a. ausgeführt, daß viele kinematographische
Vorführungen wegen der schädigenden Einwirkung auf Psyche und
Nervensystem für schulpflichtige Kinder absolut nicht passend seien. ?)
Wenngleich eingehendere systematische Untersuchungen über die
Frage des schädlichen Einflusses von Schundfilms auf Jugendliche
durch Nervenärzte und Kinderärzte fehlen — was sehr bedauerlich
ist —, so werden doch die beigebrachten Materialien,3) die durch das,
was ich in früheren Arbeiten über die gleiche Frage schon ausgeführt
habe, ergänzt werden, doch genügen, um darzutun, daß nicht nur die
ethischen Schundfilms für Kinder außerordentlich gefährlich sind,
sondern auch die hygienischen.
5. Der Vorstellungstypus.
Von
Dr. N. Braunshausen, Professor am Gymnasium in Luxemburg.
Im Vorstellungsleben eines jeden Menschen herrschen bestimmte
Formen vor, da die Empfindungen der einzelnen Sinnesgebiete mit
1) 8.115.
3 Sanitätsrat Dr. Laquer erwähnt und billigt dies Gutachten in seinem Auf-
satz »Über die Schädlichkeit kinematographischer Veranstaltungen für die Psyche
des Kindesalters« in der »Ärztlichen Sachverständigen-Zeitung« 1911. Nr. 11. Sonder-
abdruck 8. 8.
3) Weitere einschlägige Materialien finden sich in meinem in der »Ärztlichen
Sachverständigen - Zeitung« 1914 erscheinenden Aufsatz »Über die schädliche
Suggestivkraft kinematographischer Vorführungen«.
Braunshausen: Der Vorstellungstypus. 333
ungleicher Stärke auf dasselbe einwirken. Es gibt Menschen, deren
Vorstellungen mit Vorliebe dem Gesichtssinn entlehnt sind, andere,
deren Seelenleben mehr von Einwirkungen des Gehörssinns beherrscht
wird, andere, die mehr unter dem Einfluß irgend eines anderen Sinnes
stehen, und endlich solche, bei denen eine Mischung dieser Formen eintritt.
Obschon nun die Sinnesempfindungen möglicherweise den Aus-
gangspunkt der Verschiedenheit in den Vorstellungsformen bilden, so
scheint es doch nicht angebracht, diese Formen mit Ufer, und neuer-
dings mit Feuchtwanger, Sinnestypen zu nennen. Denn es ist zum
wenigsten denkbar, daß die größere funktionelle Tüchtigkeit einer
Seite des Vorstellungslebens bei gleicher funktioneller Tüchtigkeit
aller Sinnesorgane bestehen kann. Es handelt sich aber hier vor
allem um eine Eigentümlichkeit der Vorstellungstätigkeit. Der Aus-
druck: Anschauungstypen deckt sich mit dem vorigen; wird er aber
in erweitertem Sinne genommen, so ist er nicht ganz eindeutig.
Auffassungstypen nennt Netschajeff die genannten Formen.
Dieser Ausdruck bleibt aber besser für jene Verschiedenheiten vor-
behalten, die Binet bei der Betrachtung und Beschreibung von äußeren
Gegenständen aufgestellt hat, und die eher mit dem allgemeineren
Phänomen der Apperzeption zusammenhängen, so daß Meumann mit
Recht den Namen Apperzeptionstypen für sie in Anschlag bringt.
Im Anschluß an eine Untersuchung Ribots redet man auch von
Denktypen, womit aber nicht ganz dasselbe bezeichnet werden kann,
da es sich bei Ribot um die Verschiedenheit bei der Bildung von
Begriffen handelt, und nicht um Besonderheiten der Vorstellung.
So bleibt nur die Bezeichnung: Vorstellungstypen übrig, die
das geschilderte Phänomen am passendsten benennt und die zugleich
in der letzten Zeit durch die Arbeiten Fränkls, Meumanns und Pfeiffers
zu allgemeinerer Anwendung gelangt ist. Wir werden uns diesem
Sprachgebrauch anschließen. Da aber das Gedächtnis in einer ge-
wissen Beziehung mit der Summe der Vorstellungen identisch ist,
könnte auch der früher mehr gebräuchliche Ausdruck Gedächtnistypen
ohne sonderlichen Übelstand beibehalten werden.
Die Geschichte der Auffindung und des Studiums der Vor-
stellungstypen ist ein klassisches Beispiel dafür, wie wenig die alte
Methode der Introspektion in Psychologie und Pädagogik geeignet
war, Licht auf die Natur und die Betätigungsweise des Seelenlebens
zu werfen. Jahrhunderte lang hatten scharfsinnige, zum Teil sogar
spitzfindige Philosophen über die dunklen Rätsel ihres eigenen
Innern gegrübelt: »Häupter in Hieroglyphenmützen, Häupter in
Turban und schwarzem Barett, Perückenhäupter und tausend andre,
334 A. Abhandlungen.
arme, schwitzende Menschenhäupter« hatten ihren Blick von den
Sternen des Himmels zu den Geheimnissen ihrer eignen Tiefe ge-
worfen, und sie hatten nicht einmal die eine, so nahe liegende Tat-
sache entdeckt, daß die Vorstellungen der Menschen und darum
auch ihre Erinnerungskraft, nach bestimmten Formen differenziert
sind. Es bedurfte klinischer und experimenteller Beobachtung um
diesen, für das gesamte Geistesleben des einzelnen so wichtigen Be-
fund ans Licht zu rücken.
Erst im Jahre 1883 wurde die Frage durch eine klinische Er-
fahrung Charcots aufgeworfen. Es handelte sich um einen gebildeten
Kaufmann, der an der Spitze ausgedehnter Unternehmungen stand,
bedeutende Korrespondenzen zu führen hatte, mehrerer Sprachen
mächtig war und seine gesamte Tätigkeit mit Hilfe visueller Bilder
bewerkstelligte. Da wurde er infolge von Überanstrengung krank,
und mit einem Mal waren alle seine visuellen Erinnerungen wie aus-
gelöscht, er konnte weder rechnen noch in fremden Sprachen reden,
er hatte das Gedächtnis für Straßen und Plätze verloren, ja er konnte
sich nicht mehr das Gesicht seiner Frau und seiner Kinder vorstellen.
Nach und nach gewöhnte er sich, akustische Vorstellungen an Stalle
der visuellen zu erwerben, was zwar teilweise gelang, ohne ihm aber
die allseitige und spielende geistige Tätigkeit früherer Tage wieder zu
ermöglichen.
Diese Feststellung eines visuellen und eines akustischen Vor-
stellungstypus verursachte eine Sammlung ähnlicher Fälle. Ballet und
Queyrat brachten eine Reihe interessanter Beispiele.
So berichtete der Arzt Wigan von einem Maler, der so stark
visuell veranlagt war, daß es ihm genügte, eine halbe Stunde lang
ein Modell zu betrachten, um es später in allen Einzelheiten aus dem
Gedächtnis nachzeichnen zu können. Claude Lorrain und Doré be-
saßen ebenso einen ausgesprochenen visuellen Vorstellungstypus. Bei
H. Makart bezog sich diese Veranlagung hauptsächlich auf die Farben.
Ein wunderbares visuelles Gedächtnis besitzen auch die meisten
Schachspieler, unter denen es manche gibt, die mehrere Spiele zu-
gleich, mit geschlossenen Augen, führen können. Binet hat diese eigen-
tümlichen Veranlagungen in einer eingehenden Untersuchung studiert.
Für den akustischen Typus wird vor allem der Fall Mozarts
angeführt, der in der Sixtinischen Kapelle das achtstimmige Miserere
Allegris, dessen Vervielfältigung vom Papste verboten worden war,
nach zweimaligem Anhören so genau sich einprägte, daß er es fehler-
los nachschreiben konnte.
Beide Typen treten in ihrem Gegensatz klar zutage in einer Be-
Braunshausen: Der Vorstellungstypus. 335
obachtung von Legouvé und Scribe. »Wenn ich eine Bühnenszene
schreibe«, sagt Legouvé zu Scribe, »so höre ich; Sie hingegen sehen.
Bei jeder Redensart, die ich zu Papier bringe, höre ich die Stimme
der Person an mein Ohr schlagen; bei Ihnen bewegen sich die Schau-
spieler vor Ihren Augen; ich bin Hörer, Sie Zuschauer«. »Nichts ist
richtiger«, entgegnet Scribe, »wissen Sie, wo ich mich befinde, wenn
ich ein Stück schreibe? Mitten im Parterre«.!)
Auf einen dritten Typus wurde zuerst von Stricker aufmerksam
gemacht. Dieser beobachtete bei sich ein inneres Mitsprechen, auch
bei völliger Unbeweglichkeit der Zunge, wenn er eine sprachliche
Form durch sein Bewußtsein gehen ließ. Dieser Typus, zu dem sich
auch Dodge bekannte, wurde der motorische genannt.
Eine überraschende Beleuchtung erfuhren die so aufgestellten
Typen durch die experimentelle Untersuchung der beiden Rechen-
künstler Diamandi und Inaudi. Am bekanntesten sind die Arbeiten,
die Binet und Meumann über ihre merkwürdigen Fähigkeiten ge-
schrieben haben. Wir halten uns aber an die letzte wissenschaftliche
Untersuchung der beiden, die im Jahre 1907 in der belgischen Ge-
sellschaft für Neurologie von Frl. Dr. Joteyko vorgenommen wurde,
und welche die vorigen Arbeiten bestätigt.
Inaudi, in seiner Jugend ein piemontesischer Hirte, hat keine
weitere Bildung genossen, sondern weist nur ein phänomenales Ge-
dächtnis für Ziffern auf. Er macht im Kopf Multiplikationen und
Divisionen von mehrziffrigen Zahlen, zieht die Quadratwurzel und
Kubikwurzel aus neunziffrigen Zahlen, und am Schluß einer solchen
Sitzung, in welcher er durchschnittlich mit 300 Ziffern gerechnet hat,
gibt er aus dem Gedächtnis alle aufgegebenen und aufgefundenen
Zahlen der Reihe nach wieder. Dabei blickt er selbst nie auf die
Tafel, der Impresario spricht ihm nur die Zahlen vor, und Inandi
faßt dieselben akustisch auf.
Perikles Diamandi, ein vielseitig gebildeter Grieche aus wohl-
habender Familie, zeigt eine nicht minder erstaunliche Fertigkeit,
Ziffern und Zahlen seinem Gedächtnis einzuprägen. Er bringt Kunst-
stücke fertig, wie das Ausziehen der Kubikwurzel, durch einfaches
Kopfrechnen, aus einer Zahl von 15 Ziffern. Dabei bedient er sich
fast ausschließlich visueller Vorstellungen.
Die Unterschiede in der Art des Behaltens bei beiden Rechen-
künstlern traten besonders deutlich hervor, wenn sie ein Quadrat mit
25 Ziffern auswendig zu lernen hatten. Diamandi brauchte dafür 180",
1) Nach Queyrat zitiert von Pfeiffer, Über Vorstellungstypen. S. 16.
336 A. Abhandlungen.
Inaudi nur 45“. Um aber ein gleiches Quadrat nach absteigenden
Kolonnen kennen zu lernen, brauchte Diamandi 35“, Inaudi 60“. Um
die Ziffern in umgekehrter Ordnung zu behalten, brauchte Diamandi
36“, Inaudi 96“. Sollten sie in einer durch parallele Linien ange-
deuteten, unregelmäßigen Reihenfolge hergesagt werden, so brauchte
Diamandi 53“, Inaudi 168°.)
Diamandi liest eben seine Ziffern, wie von einem Bilde, ab, und
hierbei kann er fast beliebig die Reihenfolge ändern, während Inaudi
an die einmal eingeprägte akustische Reihenfolge gebunden ist.
Trotzdem sind beide Typen nicht rein visuell und rein akustisch,
wie man anfangs vermutet hatte, sondern das motorische Element
tritt bei beiden hinzu, so daß man Diamandi als visuell- motorisch
und Inaudi als akustisch-motorisch bezeichnen kann. Freilich kommt
dem Motorischen nur eine untergeordnete Bedeutung zu.
Merkwürdig ist, daß eine Schwester Diamandis, die Joteyko
ebenfalls in Brüssel untersuchte, genau denselben visuellen Typus
aufweist wie ihr Bruder. Sie besitzt dabei die Gabe kolorierten
Sehens, sobald es sich um Ziffern und Buchstaben handelt, was ihr
das Behalten wesentlich erleichtert. Diese zwangsmäßigen Farben-
erscheinungen sind von Frl. Kipiani eingehend untersucht worden. ?)
In einer Studie über dieselbe Urania Diamandi berichtet P. Menze-
rath von einem blinden Rechenkünstler Fleury, der wahrscheinlich
auf Grund von taktilen Vorstellungen seine Leistungen ausführt, in
Verbindung mit motorischen und akustischen Elementen. Weiter
gibt Menzerath Kunde von einem »intellektuellen« Typus, der seine
Rechenoperationen mit sehr großer Geschwindigkeit ausführt, ohne
ein besonders starkes Gedächtnis für Ziffern zu haben und der wahr-
scheinlich ohne Vorstellungsbilder operiert. 3)
Neuerdings hat die Untersuchung des Dr. Rückle durch
G. E. Müller weiteres, interessantes Material zutage gefördert. Für
die Erlernung von 20 Ziffern braucht Rückle 17 Sekunden, für die
Erlernung von 60 Ziffern 97,5 Sekunden, für 102 Ziffern 236 Sekunden
und für 204 Ziffern 18,9 Minuten. Er übertrifft also an Leistungs-
fähigkeit seine beiden berühmten Vorgänger. Nach den neuesten Be-
richten Müllers ist seine Fähigkeit durch längere Übung inzwischen
noch gewachsen, in einzelnen Leistungen um das Doppelte. Dabei hat
er neben seinem hervorragenden Gedächtnis auch auf anderen Ge-
bieten hohe intellektuelle Leistungen aufzuweisen. Er bedient sich
1) Joteyko, Revue psychologique II. p. 16.
2) Revue psychologique III. p. 329.
3 P. Menzerath, A propos des calculateurs prodiges.
Braunshausen: Der Vorstellungstypus. 337
seiner großen mathematischen Kenntnisse als Hilfen für das Behalten.
Sein Vorstellungstypus ist in erster Linie visuell, aber gelegentlich
bedient er sich auch akustisch - motorischer Einprägungsweise.
Es stellte sich aber bald die Notwendigkeit ein, die Auffassung
von drei besonderen Vorstellungstypen zu erweitern und zu vervoll-
ständigen. Zunächst mußte unterschieden werden zwischen einem
Worttypus und einem Sachtypus. Denn es war denkbar — und
der Beweis wurde bald durch das Experiment erbracht — daß jemand
für die Auffassung der Gegenstände einem anderen Typus angehörte
als für die Erfassung der Sprachformen. Die meisten Menschen sind
in der Tat visuell in bezug auf die Vorstellung von Sachen und
akustisch-motorisch in bezug auf die Vorstellung von Sprachformen.
In der Oberklasse des Luxemburger Gymnasiums ließen wir
22 Schüler je 5 Minuten lang Namen von Gegenständen aufschreiben,
die durch Vorstellungen aus den verschiedenen Sinnesgebieten im
Gedächtnis waren. Es wurden dabei insgesamt 322 visuelle Vor-
stellungen, 226 akustische, 233 taktil-kinästhetische (auf den Hautsinn
im allgemeinen bezogen), 258 gustative und 227 olfaktorische gezählt.
Wenn hier von Fehlerquellen gesprochen werden kann, so ist es
höchstens die, daß viele Erinnerungen der anderen Sinnesgebiete
sicher noch mit Hilfe von visuellen Vorstellungen reproduziert worden
sind, so daß die Überlegenheit des visuellen Typus für Sachvor-
stellungen noch deutlicher geworden wäre.
Bei denselben Versuchspersonen hatten 12 hauptsächlich akustische
Vorstellungen, 7 motorische bezw. akustisch - motorische und nur
2 visuelle Vorstellungen beim Anhören von sinnlosen Silben. Dieses
Überwiegen des akustisch-motorischen Typus bei Sprachvorstellungen
erklärt sich leicht aus der gewöhnlichen Art der Erwerbung unserer
Sprachformen.
Die Sachtypen selbst aber sollen, wie Meumann verlangt, dahin
ergänzt werden, daß nicht nur die 3 gebräuchlichen Typen angenommen
werden, sondern daß jeder Art von Sinneswahrnehmung ein eigner
Typus entspreche. Den ursprünglichen Sachtypen kann in der Tat
der Vorwurf gemacht werden, daß sie zufällig, auf rein empirische
Weise, gewonnen worden sind. Bei systematischer Einteilung können
die anderen Sinnesgebiete nicht vernachlässigt werden. Meumann
berichtet selbst von Individuen, die nach ihrer Aussage dem gusta-
tiven oder olfaktorischen Typus angehören.) Es ist auch bekannt,
1) Meumann, Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik.
1. Aufl. I. Bd. S. 442.
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 22
+
338 A. Abhandlungen.
daß bei Emile Zola die Geruchsempfindungen eine sehr große Rolle
gespielt haben. Dr. Toulouse schreibt darüber in seiner medizinisch-
psychologischen Untersuchung: »M. Zola évoque facilement les odeurs
et beaucoup mieux que les couleurs ou toute autre sensation passée.
Pour lui, chaque objet a son odeur propre: chaque femme, certaines
villes comme Marseille ou Paris et même certaines rues, le marché
des petits centres urbains, chaque saison, etc. L’automne par exemple
lui paraît caractéristique avec son odeur de champignons et de feuilles
mouillées. « !)
Solche Fälle sind aber selten, und die Bedeutung der Erforschung
des sachlichen Vorstellungstypus darf nicht übertrieben werden. Als
wir 5 Serien von Wörtern, deren sachliche Vorstellung den ver-
schiedenen Sinnesgebieten in gleicher Zahl entlehnt waren, einer
Klasse vorführten und zugleich die Vorstellung niederschreiben ließen,
die durch sie erweckt wurde, betrug die Summe der visuellen Vor-
stellungen 234, die der akustischen 62, der kinästhetischen 71, der
gustativen 59, der olfaktorischen 63. In unserem Vorstellungsleben
herrscht im allgemeinen das visuelle Element so vor, daß auch Dinge,
die vorzugsweise durch einen anderen Sinn in unsere Erfahrung
übergegangen sind, doch hauptsächlich oder ausschließlich visuelle
Erinnerungen zurücklassen. Wenn wir noch hinzunehmen, daß das
Auftreten von olfaktorischen und anderen Vorstellungen in der Regel
sich nur dann einstellt, wenn der betreffende Gegenstand dem ent-
sprechenden Sinnesgebiet angehört, daß also die 63 olfaktorischen
Vorstellungen des obigen Versuches sich fast nur auf Gegenstände
beziehen, die geeignet sind, starke Geruchsempfindungen hervorzu-
rufen, so ergibt sich eine Abhängigkeit des Sachtypus vom Objekt bei
einer gleichzeitigen, ziemlich allgemeinen Überlegenheit des visuellen
Typus derart, daß für eine angeborene oder erworbene individuelle
Eigentümlichkeit wenig Raum bleibt, und daß in den meisten Fällen
eine eigene Untersuchung über den Sachtypus sich erübrigen kann.
Nur für genaue differenzielle Diagnostik und etwa für auftretende
besondere Fälle wird sie zu empfehlen sein.
Anders verhält es sich mit dem Vorstellungstypus für Wörter
und Zahlen. Diese sprachlichen Gebilde können offenbar visuell,
akustisch oder motorisch aufgenommen und behalten werden, und es
bedeutet für den Unterricht wie für das Gedächtnis einen wesent-
lichen Unterschied, ob der eine oder der andere dieser Typen vor-
zugsweise bei dem Lernenden ausgeprägt ist. Daher kommt es für
1) Dr. Toulouse, Emile Zola. p. 206.
Braunshausen: Der Vorstellungstypus. 339
die Schule darauf an, in erster Linie den Worttypus der Schüler
festzustellen.
Als Methoden zur Auffindung des Sachtypus kommen vor-
nehmlich in Betracht:
1. Die sogenannte Kraepelinsche Methode, die unabhängig
von Kraepelin auch von Binet angewandt wurde; sie besteht darin,
die Versuchspersonen eine bestimmte Zeit lang, etwa 5 Minuten, die
Wörter aufschreiben zu lassen, die ihnen zuerst in den Sinn kommen.
Es steht zu erwarten, daß ein Visueller mehr optische Vorstellungen
haben wird, wie auch von den anderen Typen eine größere Anzahl
Wörter geliefert werden muß, die ihrer besonderen Veranlagung ent-
sprechen.
Die Methode kann auch dahin abgeändert werden, daß jeder Art
von Vorstellungen aus den 5 Sinnesgebieten eine bestimmte Zeit ge-
währt und dann die Summe der einzelnen Gruppen aufgestellt wird.
Wir können aber die Methode der Aufschreibung aus dem Ge-
dächtnis, wie Pfeiffer sie nennt, trotzdem er sie vor allen anderen
empfiehlt, nach unserer eigenen Erfahrung nicht als eine einwand-
freie bezeichnen.
Bei allzuvielen Wörtern, die von den Versuchspersonen unter den
Gruppen der niederen Sinnesempfindungen angeführt werden, ist der
Zweifel berechtigt, daß sie auf Grund einer visuellen oder akustischen
Vorstellung reproduziert worden sind. Das wird zur Gewißheit, wenn
man beim Verhör über die von ähnlichen Wörtern hervorgerufenen
Bewußtseinserscheinungen erfährt, daß sie vielfach visuelle Vor-
stellungen waren.
Auch Feuchtwanger hat bei seinen Versuchen über Vorstellungs-
typen!) gefunden, daß die Resultate der Kraepelinschen Methode
nicht übereinstimmten. Es ist ja auch erklärlich, daß ein visueller
Sachdenker nach optischen Vorstellungen jene Wörter reproduziert,
mit denen für ihn nebenbei auch gustative oder olfaktorische Vor-
stellungen verknüpft waren.
2. Nicht mehr Vertrauen verdient die Methode der behaltenen
Glieder, obschon sie von Netschajeff und Lobsien den ersten Arbeiten
über Vorstellungstypen zugrunde gelegt wurde. Da es sich hier
eigentlich um die Wiedergabe von Wörtern handelt, so hindert nichts
den Wortakustiker, die Wörter für visuelle Vorstellungen akustisch
sich einzuprägen und so den Anschein zu erwecken, daß er visuell
veranlagt sei. So prägte sich z. B. Zola bei den Versuchen des
1) Zeitschrift für Psychologie. 58. Bd.
22*
340 A. Abhandlungen.
Dr. Toulouse die Bezeichnungen für Gegenstände akustisch-motorisch
ein, und ein Rückschluß auf den Vorstellungstypus war hierdurch
nicht gerechtfertigt. Wir haben trotzdem bei eigenen Versuchen
gefunden, daß die Resultate dieser Methode, wenigstens wenn man
die Durchschnittszahlen für alle Versuchspersonen nimmt, ziemlich
auffällig mit den Resultaten der Verhörsmethode übereinstimmen und
für eine größere Anzahl der Versuchspersonen sogar auch im einzelnen.
3. Die Assoziationsmethode kann in zweifacher Form auf-
treten: mit gebundener und freier Reproduktion. Im ersten Fall
werden Reizworte dargeboten mit der Aufforderung, die Reaktions-
worte einem bestimmten Sinnesgebiet zu entnehmen. Hier muß die
Schnelligkeit der Reaktion, verglichen mit der Schnelligkeit bei anderen
Gruppen, den Wertmesser abgeben für die Einordnung in einen be-
stimmten Vorstellungstypus.. Die Verzögerung einer Antwort kann
aber von so vielen anderen Faktoren abhängig sein, daß eine ein-
deutige Zuordnung der Bewußtseinsformen auf Grund dieser Werte
kaum angänglich erscheint.
Bessere Resultate ermöglicht die freie Assoziation. Werden der
Versuchsperson Reizworte zugerufen mit der Aufgabe, das erste sich
einstellende Wort zu assoziieren, so ist es wahrscheinlich, daß bei
visueller Auffassung des Reizwortes, infolge der Kontiguität, auch mit
einer visuell erfaßten Vorstellung geantwortet wird. Die Prüfung der
Reaktionswörter also auf ihren Sinnescharakter hin erlaubt einen
Schluß auf die habituelle Vorstellungsform. Bei unseren oben-
erwähnten Versuchen konnten wir uns überzeugen, daß die Aussage
im darauffolgenden Verhör in der Regel mit der Art des Assoziations-
wortes übereinstimmt.
4. Bei Kindern ist man darauf angewiesen, sich mit dieser Asso-
ziationsmethode zu befriedigen. Bei Erwachsenen aber kann sie in
ihrer Wirkung gesteigert werden, indem man die Aussage über das
innere Erlebnis hinzunimmt. Die Verhörmethode geht auf ein
Experiment Ribots zur Auffindung des Denktypus zurück und ist von
Stetson und Lay bestimmter für den vorliegenden Zweck zugeschnitten
und verbessert worden. Sie kann übrigens als ein Spezialfall der
sogenannten Würzburger Methode der experimentellen Introspektion
betrachtet werden. Feuchtwanger, der sie zuletzt angewandt hat, und
der sie für die geeignetste aller Methoden zur Auffindung des Vor-
stellungstypus überhaupt erklärt, stellte seinen Versuchspersonen die
Aufgabe, nach Anhören des Reizwortes alle Empfindungen, Vor-
stellungen und Bewußtseinsphänomene im allgemeinen anzugeben, die
das Reizwort bei ihnen hervorgerufen hatte. Auf Grund der Ant-
Braunshausen: Der Vorstellungstypus. 341
worten wurde Worttypus und Sachtypus festgestellt. So fand Feucht-
wanger bei einer Versuchsperson 70,4 °/, visuelle Vorstellungen, keine
akustischen, 5 °/, taktil-motorische, 7,9 °/, Bewußtseinslagen des inneren
Sprechens und 16,7%, Wortbewußtseinslagen.!) Die Versuchsperson
gehörte also vorzugsweise dem visuellen Typus an.
Mit derselben Methode fanden wir bei einer Versuchsperson auf
25 dargebotene Reizwörter 5 visuelle, keine akustischen, 12 taktil-
kinästhetische, 4 gustative und 3 olfaktorische Vorstellungen. Bei
Ziffern und sinnlosen Silben hatte dieselbe Versuchsperson ausschließ-
lich motorische Vorstellungen. Sie gehört also dem taktil-motorischen
Typus an. Eine andere wies 17 visuelle, 1 akustische, 2 taktil-kin-
ästhetische, 2 gustative und 2 olfaktorische Vorstellungen auf. Bei
Ziffern und sinnlosen Silben gab sie nur visuelle Bilder an. Sie ge-
hört also zum visuellen Sach- und Worttypus. Wir schließen uns
nach unseren Erfahrungen dem Urteil von Feuchtwanger an, der die
Verhörmethode als die beste von allen bisher üblichen erklärt. Auch
Segal, der eine vielfach berechtigte Kritik an den bisherigen Methoden
ausübt, wendet mit Vorliebe die Selbstbeobachtungsmethode an. Natür-
lich muß eine gewisse Einübung der Versuchspersonen vorausgehen,
die sie für die Selbstbeobachtung befähigt.
Die Auffindung der Sprachtypen scheint uns für die Schule
größere Wichtigkeit zu haben als diejenige der Sachtypen. Daher
verdienen die Methoden zur Erforschung der ersteren eingehendere
Beachtung.
1. Zunächst müssen aber alle Methoden ausgeschlossen werden,
die durch die Art der Darbietung den sprachlichen Typus feststellen
wollen.
Dahin gehören zunächst alle Formen der Rechtschreibever-
suche, die von Lay zuerst angewandt und von Itschner, Fuchs und
Haggenmüller, Lobsien u. a. nachgeprüft worden sind. So wichtig diese
Versuche für die Art sind, in welcher das sprachliche Lernmaterial
dem Kinde dargeboten werden soll, so wenig vermögen sie, mit Aus-
nahme der Fälle, wo sie störende Hemmungen einschalten, über den
inneren Sprachtypus der Schule Kunde zu geben. Der visuelle Wort-
denker wird nämlich, auch wenn ihm die Reize akustisch dargeboten
werden, dieselben innerlich in visuelle umwandeln und so nach seinem
eigenen Typus Formen behalten, die ihm äußerlich durch einen anderen
Sinn vorgeführt wurden. So hatte Zola die Gewohnheit, die Sprach-
1) Feuchtwanger, Versuche über Vorstellungstypen. Zeitschr. für Psych.
58. Bd. 8. 169.
342 A. Abhandlungen.
formen visuell zu erfassen, aber akustisch zu behalten. Diese An-
bequemung des ursprünglichen Typus an die verschiedenen Arten der
äußeren Darbietung kann nicht selten sein, da sie eine biologische
Notwendigkeit ist, und so darf die Art der Darbietung nicht als Prüf-
stein für den sprachlichen Vorstellungstypus verwandt werden.
Zwar fanden Frankfurther und Thiele, die zuerst nach anderen
Methoden den Vorstellungstypus ihrer Versuchspersonen aufgestellt
hatten, daß sie am besten behielten, und daß auch die Sicherheit der
Reproduktion am größten war, wenn die Darbietungsweise ihrem
Typus entsprach. So wiesen 4 Versuchspersonen folgende Durch-
schnittssumme des Behaltenen auf:
Versuchsperson Deere E earo
Th. (Akustiker) . . . . 53,6 34,4
Fr. (Akustiker) . . . . 36 22,3
F. (Gemischt) . . . . 35,7 40,1
B. (indifferent) . . . . 29,5 28,1 1)
Jedoch dieses Verhältnis muß nicht notwendig eintreten, wie der
Fall von Zola zeigt, und darum sind die mit dieser Methode ge-
wonnenen Resultate nicht einwandfrei.
Das gleiche gilt für die Erlernungsmethode, wie sie Fränkl
angewandt hat. Auch sie rechnet nicht mit dem Umstande, daß jeder
Vorstellungstypus die irgendwie gearteten äußeren Sprachreize in
seine eigene innere Sprache umsetzt, so daß alle einfachen Gedächtnis-
methoden zwar die Kraft des Einprägungsvermögens, nicht aber die
Art dieses Einprägens aufzeigen.
Demselben Fehler verfällt die sogenannte Rekonstruktions-
methode, nach welcher Münsterberg und Bigham ihre Versuchs-
personen die dargebotenen Reize nicht sprachlich wiedergeben, sondern
wirklich nachbilden ließen. Das ändert nichts daran, daß die Farben
und Ziffern, die einmal gezeigt und ein andermal in ihren Be-
nennungen vorgesprochen wurden, immer gemäß dem eigenen Sprach-
typus in reinen Sprachformen behalten werden konnten. Übrigens
macht man mit Recht gegen diese Methode geltend, daß die konkrete
sachliche Art der Darbietung aus objektiven Gründen bessere Resul-
tate bewirken muß als die rein sprachliche Vorführung.
2. Als brauchbar dagegen erweist sich die Gedächtnismethode,
wenn sie mit störenden oder fördernden Nebenreizen ver-
1) Frankfurther und Thiele, Über den Zusammenhang zwischen Vor-
stellungstypus und sensorischer Lernweise. S. 113.
Braunshausen: Der Vorstellungstypus. 343
bunden wird, sei es daß die Prüfung sich auf mittelbares oder auf
unmittelbares Behalten erstreckt.
Als störende Nebenreize gebraucht man z. B. die Schläge eines
Metronoms, die gleichzeitig mit dem dargebotenen Reiz erklingen,
und durch die besonders der reine Akustiker gestört wird, so daß
seine Leistung geringer ausfällt als beim Lernen ohne solche Neben-
reize. Läßt man die Versuchsperson einen bestimmten Laut mit den
Schlägen des Metronoms mitsprechen, bei gleichzeitiger Darbietung
von Sprachformen, so wird dadurch das innere Sprechen behindert,
und der reine Motoriker wird sich auf diese Weise verraten. Muß
die Versuchsperson nicht einen einzelnen Laut wiederholen, sondern
etwa das Alphabet laut mitsprechen, so kann man an der ver-
minderten Leistung den akustisch-motorischen Typus erkennen. Als
optische Störungen, die direkt den visuellen Typus aufdecken sollen,
verwandte Meumann Figuren auf einer rotierenden Trommel, die mit
den Augen verfolgt wurden, während Sprachformen akustisch dar-
geboten wurden.
Fördernde Reize für den Akustiker sind die rhythmischen Dar-
bietungen, für den Visuellen die gruppenweise oder andersartige
räumliche Anordnung. Hier wird mit Vorliebe das 16stellige oder
25 stellige Quadrat verwandt, mit dessen Hilfe schon der Typus der
Rechenkünstler Diamandi und Inaudi festgestellt worden ist, und das
durcb die Zeitmessung beim Lernen nach veränderter räumlicher An-
ordnung den Sprachtypus aufzufinden erlaubt.
3. Mit Erfolg kann auch, wenigstens bei Erwachsenen, die
Methode der Selbstaussage verwertet werden. Zumal bei einiger
Übung vermag sie, wie für den Sachtypus, so auch für den Wort-
typus entscheidende Anhaltspunkte zu bieten. Eine wertvolle objek-
tive Ergänzung derselben bilden gelegentliche Beobachtungen, die
schon im gewöhnlichen Leben der Schule nicht unbemerkt bleiben.
Visuelle Typen verwechseln gern | mit b oder n mit m, u mit n,
während akustische Typen eher b mit p, v und f, d und t ver-
tauschen. So kann schon beim gewöhnlichen Schulbetrieb, in be-
sonders ausgeprägten Fällen, ein Schluß auf den Wortvorstellungs-
typus gezogen werden.
Wir haben bei der Beurteilung der Methoden vor allem ihre
Brauchbarkeit für die Schule und die Zuverlässigkeit ihrer Angaben
für praktische Zwecke im Auge, denn wenn wir uns auf den Stand-
punkt der Erforschung psychischer Phänomene stellen, den G. E. Müller
in seiner zusammenfassenden Arbeit über die Gedächtnistätigkeit ein-
nimmt, so würden manche Zweifel fallen; für psychologische Zwecke
344 A. Abhandlungen.
können alle genannten Methoden brauchbare Ergebnisse, direkt oder
indirekt, liefern.
Welches sind nun die Resultate, die sich für die Pflege des Ge-
dächtnisses und demgemäß für die experimentelle Pädagogik aus den
angestellten Untersuchungen ergeben?
Es bedarf wohl keines Beweises, daß der Vorstellungstypus einen
fördernden oder hemmenden Einfluß auf das Gedächtnis ausüben
muß. Ohne zu glauben, daß die Art der Darbietung allein, wenn sie
dem Vorstellungstypus entsprechend ist, für das Behalten entscheidend
ist, so müssen wir doch zugeben, daß jedem ausgesprochenen Typus
eine größere Leichtigkeit geboten wird, wenn das Lernmaterial für
seine eigene Art zubereitet an ihn herantritt. Sicher behält jeder
Typus am besten die Vorstellungen, die nach seiner gewöhnlichen
psychischen Betätigungsweise gebildet sind, und daher muß die Schule,
wenn sie die bestmöglichen Leistungen erzielen will, dem Vorstellungs-
typus der Schüler ihre Beachtung schenken. Mit folgenden Tat-
sachen, die sich aus den bisherigen Versuchen ergaben,
muß hierbei hauptsächlich gerechnet werden:
1. Sämtliche Forscher stimmen darin überein, daß die reinen
Typen selten sind, und daß die Klassen in der Regel Vertreter der
verschiedenen Typen aufweisen. Netschajeff fand unter 700 Schülern
von Kadettenhäusern, die im Alter von 11 bis 19 Jahren standen,
nur 11 °/,, die einem reinen Typus angehörten, nämlich 5 °/, Visuelle,
4°/, Motorische und 2°/, Akustiker, 32°), gehörten zum visuell-
motorischen, 5°/, zum motorisch-akustischen, 2°/, zum visuell-akusti-
schen Typus, im ganzen bevorzugten 49°/, zwei Formen von Vor-
stellung, 40°/, rechneten zu dem gemischten oder unbestimmten
Typus.)
Lay fand in einem Seminarkursus von 29 Schülern 18 Seher auf
sachlichem und 11 Seher auf sprachlichem Gebiet, während nur 9
auf beiden Gebieten visuell waren. Unter 18 Hörern auf sprach-
lichem und 11 auf sachlichem Gebiet waren nur 10 sachliche und
sprachliche Hörer zugleich.?2) Das Verhältnis ändert sich natürlich
bei den einzelnen Klassen, aber ähnliche Mischungen wird man in
der Mehrzahl der Fälle antreffen.
2. Ein ziemlich allgemeiner Unterschied besteht zwischen
Wort- und Sachdenken. Meumann hebt hervor,®) daß die
meisten Menschen, Kinder sowohl wie Erwachsene, visuelle Sach-
1) Netschajeff, Über Memorieren. S. 16.
?) Lay, Experimentelle Didaktik. S. 385.
3) Exp. Pädagogik I. 1. Aufl. S. 491.
Braunshausen: Der Vorstellungstypus. 345
denker und akustisch-motorische Wortdenker sind. Wir haben bei
22 Versuchspersonen unserer Oberklasse 15 überwiegend visuelle
Typen gefunden in bezug auf Sachvorstellungen und nur zwei aus-
gesprochene taktil-kinästhetische Typen. Die beiden letzteren waren
übrigens auch sprachlich rein motorisch oder motorisch - akustisch.
Dagegen waren auf sprachlichem Gebiet, wenn wir die Resultate bei
sinnlosen Silben und Ziffern zusammennehmen, ca. 17 zum motori-
schen oder akustisch-motorischen Typus gehörig.
3. Damit hängt es vielleicht zusammen, daß Ziehen bei Kindern
von 8—14 Jahren ein Vorwiegen des visuellen Typus fand.
Kinder in niedrigerem Alter müssen sogar noch stärker diesen Typus
ausgeprägt haben. Denn in den ersten Jahren ist das Kind vor allem
Sachdenker, und es erobert sich die Kenntnis der Außenwelt haupt-
sächlich mit Hilfe des Gesichtssinnes. Dem widerspricht es nicht,
daß Hawkins die akustische Darbietung für jüngere Schüler günstiger
fand als die optische.!) Denn hier handelte es sich um sprachliche
Formen, und diese werden vom Kinde akustisch-motorisch erworben;
erst der Unterricht der Schule fügt hier das visuelle Element hinzu
und bewirkt vielleicht, wenigstens durch die früheren grammatischen
Methoden, in extremen Fällen, eine visuelle Sprachbeherrschung, ganz
auf Kosten der eigentlichen Sprachfertigkeit.
4. Es ist begreiflich, daß bestimmte Typen die Grundlage für
bestimmte geistige Fertigkeiten bilden. So hat Lobsien die
Korrelation zwischen Zahlengedächtnis und Rechenleistung untersucht
und gefunden, daß optisches Zahlengedächtnis und schriftliche Rechen-
leistung in keiner Korrelation stehen, während ein optisches Zahlen-
gedächtnis für Kopfrechnen eher hinderlich ist. Dagegen ist ein
akustisches Zahlengedächtnis sehr günstig für Kopfrechnen und dem-
entsprechend auch für schriftliches Rechnen, da beide Arten des
Rechnens in der Regel zusammengehen. ?)
5. Auf einen eigentümlichen kombinatorischen Faktor bei
Vorstellungstypen hat Meumann aufmerksam gemacht.®) Er führt das
Beispiel einer Versuchsperson an, die sachlich zum visuellen und
sprachlich zum akustischen Typus gehört. Beide Typen sind gut ent-
wickelt, sind aber antagonistisch, insofern der Übergang aus dem
!) Zitiert nach Schoeneberger, Psychologie und Pädagogik .des Gedächt-
nisses. S. 69.
2?) Lobsien, Zeitschr. für pädagogische Psychologie und experimentelle Päda-
gogik XII. S. 58.
23) Meumann, Zeitschr. für pädagogische Psychologie und experimentelle
Pädagogik XII. S. 115.
346 A. Abhandlungen.
einen Gebiet in das andere oder die Kombination beider besonders
schwierig ist, während die Verbindung mit anderen Vorstellungs-
gebieten leicht hergestellt werden kann. Wahrscheinlich bestehen
andere derartige Kombinationen, denen nachzuforschen einem weiteren
Studium überlassen bleiben muß. Die geschilderte Kombination ist
aber darum hervorhebenswert, weil die meisten Menschen den ge-
nannten Vorstellungstypen anzugehören scheinen.
6. Mit Ausnahme von seltenen, besonders charakteristischen
Fällen sind alle Vorstellungstypen veränderlich. Der vorwiegend
visuelle Sachvorstellungstypus der Kinder wird durch die Schule
etwas zurückgedrängt, um vielfach einem Wortvorstellungstypus Platz
zu machen. Und innerhalb dieses Typus wird die mehr akustisch-
motorische Auffassungsform durch eine optische in vielen Fällen er-
setz. Auch bei einzelnen sind die mannigfaltigsten Veränderungen
in der herrschenden Vorstellungsweise wahrzunehmen.
Alle diese Erscheinungen finden wohl ihre Erklärung darin,
daß in der Regel der Mensch angeborene Dispositionen für die ver-
schiedenen Vorstellungstypen aufweist. Natürlich können einzelne
Veranlagungen stärker ausgeprägt sein. Je nach der Richtung, in
welcher sich dann die folgende Übung geltend macht, werden die
angeborenen Dispositionen stärker entwickelt. Ja, es kann sogar
durch Übung eine weniger mächtige Veranlagung zu einer domi-
nierenden Stellung gebracht werden. Nur gegen überwiegend ein-
seitige Veranlagung wird auch die größte Kraftanstrengung einer
gegensätzlichen Übung nicht viel vermögen. Es ist im Grunde das-
selbe Problem, das über den beiderseitigen Einfluß von Vererbung
und Erziehung der Soziologie als Fragestellung aufgegeben wird.
Welches sind nun die praktischen Schlußfolgerungen, die
sich für die Schule aus dem Studium der Vorstellungstypen er-
geben? Sie betreffen zunächst den Lehrer selbst, dann den Schüler:
1. Wenn der Lehrer nicht ins Blaue hinein unterrichten will,
wird es notwendig sein, daß er sich über seinen eigenen Vorstellungs-
typus Rechenschaft gebe. Je nachdem er visuell oder akustisch ver-
anlagt ist, wird er bestimmte Erlernungsweisen vorziehen. Er wird
z. B. durch lautes Aufsagen oder wenigstens inneres Mitsprechen oder
aber durch inneres Schauen der Wortbilder am erfolgreichsten lernen
und, bei der menschlichen Sucht zu verallgemeinern, seine eigene
Lernweise als die vorteilhafteste auch seinen Schülern anraten. So
können diese auf Irrwege geführt werden, die für ihre Erfolge ver-
hängnisvoll werden können. Ein Lehrer aber, der seinen Vorstellungs-
typus festgestellt hat, wird diesem Rechnung tragen, wenn er Rat
Braunshausen: Der Voerstellungstypus. 347
erteilt, wird auch Verständnis haben für manche Mißerfolge und
Eigenarten der Schüler. Viele pädagogische Mißgriffe können ver-
mieden werden, wenn der Lehrer vorerst das Inventar seiner psychi-
schen Veranlagung aufgestellt hat.
2. Die Feststellung des Vorstellungstypus beim Schüler wird
ebenfalls unumgänglich notwendig sein. So wie in modernen Schulen
anthropometrisch der äußere Mensch beim Eintritt einer genauen
Messung unterworfen wird, so sollte auch ein geistiges Signalement
desselben, nach den exaktesten Methoden, ausgearbeitet werden, das
die Grundlage für die Beurteilung und die Behandlung des künftigen
Schülers werden müßte. Wenn kein Rassepferd auf den Markt ge-
bracht wird ohne Stammbaum, und wenn die zur Ausbildung be-
stimmten Exemplare eine individuelle Behandlung auf Grund vorher-
gehender exakter Untersuchung erfahren, so muß auch die Schule
einen genauen körperlichen und psychischen Tatbestand aller einzelnen
aufnehmen, die ihrer Erziehung anvertraut werden. Denn mehr wie
je wird ja heute die Forderung erhoben, daß der einzelne individuell
zu behandeln sei. Keine individuelle Erziehung ist aber möglich
ohne genaue Kenntnis der ursprünglichen Veranlagung. Und hier
bildet offenbar der Vorstellungstypus ein grundlegendes Element.
Darum kann eine Prüfung dieses Typus, die ohne großen Zeitverlust
vorgenommen und während der folgenden Jahre wiederholt werden
kann, nicht eindringlich genug gefordert werden.
3. Aber nicht nur für den Unterricht kann die Aufweisung des
Vorstellungstypus von Bedeutung werden, sondern auch für die Frage
nach dem späteren Beruf. Pedersen stellte in Kopenhagen neben
dem Vorstellungstypus seiner Schüler auch die Durchschnittszensur
des ganzen Jahres für die einzelnen Fächer auf und fand dabei, daß
diese Durchschnittszensur auf einer Skala, die von 18 zu 0 herab-
steigt, folgende war: 1)
bei Visuellen bei Akustischen
Orthographie. . . . . 127 11,2
Geschichte . . . . . 12,6 15,0
Geographie . . . . . 13,6 13,8
Naturgeschichte. . . . 14,6 15,5
Zeichnen . . . .. . 131 11,9
Schreiben . . . 12,9 12,3
Trotz der ganz geringen Abstände zeigen die Zahlen, daß die
Begabung für gewisse Fächer, und mithin die Befähigung für be-
1) Pedersen, Experimentelle Untersuchungen der visuellen und akustischen
Erinnerungsbilder. 8. 13.
348 A. Abhandlungen.
stimmte Berufe, mit bestimmten Vorstellungstypen verknüpft zu
sein scheint. Die Schule hätte Unrecht, sich diese Möglichkeit nütz-
licher Direktiven fürs Leben, deren Sicherheit noch durch geeignete
Methoden gehoben werden kann, nicht zunutze zu machen.
4. Die genauere Unterscheidung zwischen Wort- und Sachdenkern
macht ferner auf eine Klippe aufmerksam, welcher die Schule ehedem
nicht genügend entgangen ist. Sie hat vielfach die Schüler zu ein-
fachen Wortwissern herangebildet.
Das klassische Gymnasium, mit seiner fast ausschließlichen Pflege
der Sprachformen, barg schon in seiner Natur die Gefahr, den Geist
vom sachlichen Erfassen der Dinge fernzuhalten und die Kenntnis
von Sprachformen an die Stelle zu setzen. Gewiß wollte auch das
Gymnasium seine Sprachformen immer an direkte oder indirekte An-
schauung der Dinge anknüpfen, aber es war unausbleiblicb — und
das gilt, mutatis mutandis auch für die Volksschule, — daß bei der
steigenden Belastung der Schule und bei dem steigenden Tempo des
Unterrichts minder begabte oder besonders dazu veranlagte Schüler
sich mit dem Erwerb der Sprachform begnügten, ohne zu einer an-
schaulichen Vorstellung des Gegenstandes zu gelangen. Wenn dann
noch Gebilde fremder Kulturen, die der eigenen Erfahrung fern lagen,
das Objekt des Studiums bildeten, ohne daß genügendes Anschauungs-
material vorhanden war, so wurde die Gefahr des einfachen Wort-
wissens weiter gesteigert.
Ein nennenswerter Faktor in der Ausschaltung der sachlichen
Anschauung ist ohne Zweifel auch das stürmische Frage- und Ant-
wortspiel, zu dem mißverstandene Anregungen der Herbartschen Päda-
gogik drängten, und mit dem strebsame Pädagogen vor den Augen
einer gestrengen Inspektion oder vor sich selbst glänzen konnten.
Das Befriedigende der äußeren Schaustellung hat hier lange über die
innere Hohlheit hinweggetäuscht. Man bedachte nicht, daß die Dressur
der Schüler zu möglichst rascher Antwort, besonders bei Gegenständen,
die Nachdenken erfordern würden, eine einseitige Bevorzugung des
akustisch-motorischen Elementes auf Kosten der begleitenden inneren,
sachlichen Anschauung bilden mußte. Solange es freilich Inspektoren
gibt, die den Stand einer Klasse nach der Geschwindigkeit beurteilen,
mit welcher Lehrer und Schüler sich den Fangball der Frage und
Antwort gegenseitig zuwerfen, solange wird auch die Gefahr des
Wortwissens in der Schule nicht beseitigt werden.
Dieses einseitige Wortwissen ist aber noch darum so verderblich,
weil es einen Hauptgrund für mannigfache Formen einer verminderten
oder fehlenden Ehrlichkeit in unserm öffentlichen Leben bildet. Wer
Braunshausen: Der Vorstellungstypus. 349
schon in der Schule angeleitet worden ist — und hier liegt vielleicht
die ärgste Versündigung, welche die Schule, die Volksschule sowohl
wie die Höhere Schule, an der Jugend begangen hat — wer schon
in der Schule angeleitet wurde, die Äußerungen großer Geister, ohne
Rücksicht auf inneres Erleben ihrer Gedankengänge, sich gedächtnis-
mäßig anzueignen, der wird vor allem die sprachliche Form seiner
Erinnerung einverleiben, und da er, wenigstens durch den früheren
Schulbetrieb des Aufsatzes, gezwungen wurde, sich mit fremden Fetzen
zu schmücken, obschon seine persönliche Erfahrung für die Erfassung
des Gedankens noch nicht reif war, so wird sich bei ihm eine Spal-
tung zwischen innerem Erleben und Ausdruck einstellen, eine Spal-
tung, die zur Entfremdung führen kann, derart, daß inneres Erleben
und äußeres Sprechen eigene Wege gehen, daß der Mund Dinge
redet, die das Gegenteil von dem bilden, was aus dem eigenen Vor-
stellungsleben organisch herauswachsen würde Wenn wir manchmal
es physisch schmerzhaft empfinden, wie eine hohle und unwahre Be-
redsamkeit bei der Behandlung höchster Fragen im öffentlichen Leben
sich breit macht, so müssen wir den Stein der Anklage vor allem auf
die Schule werfen, die durch schuldige Begünstigung des Wortwissens
einen verhängnisvollen Zwiespalt in den jungen Geistern gefördert
hat. Glücklicherweise bahnt sich hier eine Änderung an. Wir sehen
wie allerorts im parlamentarischen Leben die sachliche Beredsamkeit
an Stelle der Phrase zu treten beginnt, und der Rückschlag auf die
Schule wird unausbleiblich sein. Die moderne Pädagogik, sogar ohne
so weit zu gehen wie Berthold Otto, erstrebt es beim Aufsatzunter-
richt als Ideal, daß das Wort nur mehr der Ausdruck eigener innerer
Anschauung sei. Sie hat eingesehen, daß Wortwissen und Sachwissen
unter keiner Bedingung getrennte Wege einschlagen dürfen, und
wenn die Schule dieser Überzeugung gemäß handelt, wird sie eine
und zwar eine ganz gefährliche Quelle des öffentlichen Zwiespaltes
zwischen Denken und Reden verstopft haben.
5. Eine didaktisch wichtige Folgerung ergibt sich endlich aus
unseren bisherigen Kenntnissen über Vorstellungstypen. Eine normale
Klasse zeigt jedesmal eine Mischung der verschiedensten Arten dieser
Typen. Der Unterricht muß also so eingerichtet sein, daß er allen
Vorstellungsweisen gerecht wird. Es ist dies eine Tatsache, die
von gewissen Verfechtern der direkten Methode beim Erlernen der
Fremdsprachen übersehen wurde, sonst würden sie nicht einer aus-
schließlich akustisch-motorischen Erlernungsweise das Wort geredet
haben. Neben der sachlichen Darbietung der Gegenstände ist es not-
wendig, die Sprachformen visuell, akustisch und motorisch, durch
350 A. Abhandlungen.
Lesen, Sprechen und Schreiben vorzuführen, um jeden Typus die
ihm bequemste Auffassungsweise zu ermöglichen.
Auf der anderen Seite ist es vorteilhaft, wie schon der bekannte
Charcotsche Fall zeigt, daß soweit wie möglich bei jedem die ver-
schiedenen Auffassungsweisen ausgebildet werden. Gerade wenn ein
bestimmter Vorstellungstypus durch Veranlagung vorherrschen würde,
wäre es notwendig, durch Übung auch die anderen auszubilden, weil
das Leben weniger die einseitig entwickelten Leistungen eines einzigen
Vorstellungstypus als die harmonische Verschmelzung aller fordert.
Einzelne Untersuchungen haben zudem gezeigt, daß gerade die Schüler
mit gemischtem Typus die besten Leistungen in der Schule aufweisen.
Man geht wohl nicht irre, wenn man annimmt, daß außergewöhnliche
Entwicklung eines besonderen Vorstellungstypus auf Kosten der
anderen eine Art pathologischer Wucherung darstellt, deren Nutzen
nur für bestimmte, außerordentliche Betätigungsweisen ersichtlich ist.
Im übrigen ist es vorteilhaft, daß der Unterricht allen Vor-
stellungstypen Rechnung trage, einmal um allen das Erlernen zu er-
leichtern, dann aber besonders, um etwaige Einseitigkeiten durch
passende Übung zu heben und eine harmonische Ausbildung des ge-
samten Vorstellungslebens beim einzelnen zu erzielen.
So hat uns die genauere Kenntnis der Vorstellungstypen zu
einer klareren Einsicht in die Forderungen der individuellen und der
allgemeinen Pädagogik geführt und Lehren gezeitigt, welche die Auf-
gabe der Schule in mehr als einem Punkt erleichtern oder fördern.
6. Die experimentelle Ermüdungsforschung.
Von
Marx Lobsien, Kiel.
(Fortsetzung.)
Es darf nicht unerwähnt bleiben, daß die Ergographenunter-
suchungen sehr stark Suggestivwirkungen unterworfen sind.
Ein Nachteil bleibt bei der Methode auch dann bestehen, wenn
es gelingt, die physiologische Leistungsfähigkeit schnell und einwand-
frei zu bestimmen. Sie stellt ein ziemlich rohes, vielbestimmbares
Verfahren dar, das zu einigermaßen genaueren Schwankungen der
geistigen Leistungsfähigkeit nicht in Beziehung gesetzt werden kann.
Das hindert nicht, festzustellen, daß große geistige Ermüdung und
starke Herabsetzung der physischen Arbeitsfähigkeit gar wohl nach-
gewiesen werden können; aber es gelingt eben nur der Nachweis,
daß sie im großen und ganzen bestehen, nicht einwandfrei möglich
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 351
sind feinere Unterscheidungen, wie sie von der Praxis gewünscht
werden.
Der Federergograph, dessen noch im Interesse der Vollständigkeit
Erwähnung geschehen möge, hat nur geringe Anwendung gefunden;
die Bedenken, die oben dem Federdynamometer gegenüber erhoben
wurden, treffen auch hier zu.
Einige Bemerkungen mögen noch der Fußhantel- und der Schnell-
schreibemethode gewidmet werden, die beide bis heute nur ganz be-
schränkte Erprobung erfahren haben.
Die Fußhantelmethode leistet nicht nur von vornherein Verzicht
auf den Versuch einer Isolierung gewisser Muskelpartien, sondern
fordert bewußt die Inanspruchnahme einer möglichst großen Arbeits-
basis, um desto energischer eine vermehrte Kenotoxinbildung zu er-
zielen. Will man den Fußbantelversuch als Reagens verwerten, dann
muß er ebenfalls in relativ kurzem Zeitabstande ein deutliches Resultat
ermöglichen. Das Endziel ist die totale Erschöpfung, d. h. die Un-
möglichkeit, noch weitere Bewegungen auszuführen. Dieser Zeitpunkt
wird früher erreicht, wenn größere Hantelgewichte gewählt werden
(2 bezw. 3 kg). Aber — ein Umstand, den Weichardt, soweit ich
sehe, nicht beachtet hat — man täuscht sich, wie bei dem Ergo-
graphenversuch, wenn man annimmt, daß dann, wenn unmöglich ge-
worden ist, weitere Bewegungen mit dieser Belastung auszuführen,
völlige Erschöpfung, die gleichbedeutend ist mit der Unmöglichkeit,
überhaupt weitere auszuführen, eingetreten ist. Man kann sich sehr
schnell überzeugen, daß das keineswegs der Fall ist, wenn man ver-
sucht, mit geringerer Belastung die Hantelübungen fortzusetzen. Es
gelingt! Nur für diese Belastung ist Erschöpfung nachweisbar. Zwar
eine »unendliche Kurve« im Sinne Trèves kann man hier nicht er-
reichen. Das erklärt sich unschwer aus der Tatsache, daß der Arm,
zumal in gestreckter Lage, ein erhebliches Eigengewicht besitzt.
Wenn man in der Gewichtsreduzierung auch auf Null herabgeht, so
erreicht man dennoch niemals die günstigen Verhältnisse, die bei dem
Ergographenversuche vorhanden sind. Man gewinnt, im Vergleich zu
jenen, stark abgekürzte, aber trotzdem stark verlängerte Kurven. Auch
hier fehlen eingehende experimentelle Untersuchungen, die besonders
auch auf eventuell suggestiv zu deutende Umstände sorglich acht
geben müßten. Zur Deutung der Erscheinungen möge erlaubt sein,
auf das oben ausgeführte hinzuweisen. Daneben aber tritt hier ein
Neues auf, das jedem Turner, der etwa Übungen im Armstrecken
längere Zeit ausgeführt hat, bekannt ist: Ein Komplex von Empfin-
dungen und Gefühlen, der zwar Begleiterscheinung der einseitigen,
352 A. Abhandlungen.
anstrengenden Bewegungen ist, aber keineswegs ohne weiteres als Er-
müdungssymptom gedeutet werden kann, die sich immer mehr
steigernde Schmerzempfindlichkeit. Sie tritt hier, wohl weil ein
weit größerer Muskelapparat in Aktion gesetzt wird, deutlicher zutage
als das bei den Ergographenversuchen der Fall ist, doch spielt sie
auch bei den Bewegungen des Zeigefingers eine bedeutsame Rolle.
Die heftige Schmerzempfindung ist es, die in erster Linie hemmend
den Willensimpulsen entgegentritt. Sie steigert sich mit vermehrter
Muskelanstrengung; sie vermindert sich bei geringerer Einspannung
infolge kleinerer Gewichte. Die Verminderung bewirkt notwendig
eine Kontrastwirkung. Ich erinnere z. B. an die geläufige Erfahrung,
daß man den Schmerz zu verbeißen sucht, daß man bei heftigem
Schmerze die Haare rauft, sich selbst verletzt u. ä. Geringere Schmerz-
intensitäten lassen sich durch höhere verdecken, vergessen machen.
Bei unserem Versuch tritt eine entschiedene Verminderung und infolge-
dessen ein Verdecken der voraufgegangenen unangenehmen Empfin-
dungen ein. Natürlich aber ist diese psychische Erscheinung nicht
ursächlicher Art, sondern nur eine Nebenwirkung. Physiologisch
muß die Ursache gesucht werden in einer schnellen Erholung, in
einem schnellen Fortschaffen der aufgestauten Ermüdungsstoffe.
Auch bei der Anwendung der Fußhantelmethode besteht die
Möglichkeit, daß infolge Anwendung verschieden großer Gewichte
schwer vereinbare Resultate sich ergeben. Die Verwendung eines
einheitlichen Gewichts würde wieder vielen Individuen Gewalt antun,
anderen nicht genug Arbeitsgelegenheit bieten, jedenfalls zu manchen
Fehlerquellen Veranlassung geben. (Allerdings hat die Methode
Weichardts, worauf wir hernach noch zurückkommen, ausgezeichnete
physiologische Kontrollmittel in der Anwendung bestimmt dosierter
Mengen Antitoxin und durch die Bestimmung der während der Er-
müdung gebildeten Mengen Reintoxin durch Absättigung -- sofern
sich das praktisch handlich und doch einwandfrei wird ermöglichen
lassen.)
Ein großer Vorzug der Fußhantelmethode besteht darin, daß sie
leicht bei größeren Schülergruppen und ohne sonderliche Störung des
Unterrichtsbetriebes ausführbar ist — ein wesentlicher Nachteil, daß
auch sie nicht zu subtileren Ermüdungswirkungen in einwandfreier
Weise in Beziehung gesetzt werden kann. Man darf annehmen, daß,
wie mittels des Ergographen, auch geistige Ermüdung nachgewiesen
werden kann, aber es fehlt die Möglichkeit einer einwandfreien
feineren Anpassung, die Methode ist zu roh, es fehlt eine deutliche
zuverlässige Proportionalität. Meumanns Bedenken gegenüber der
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 353
Ergographenmethode sind auch hier stichhaltig, nämlich, daß die ganze
(oft sehr schwer kontrollierbare) Disposition des Prüflings, seine geistige
Frische, seine Arbeitswilligkeit, seine Lust und Unlust, Übung, Ge-
wöhnung auf die Leistungskurve zu stark bestimmend einwirken, als
daß sie ein reinlicher Ausdruck geistiger Ermüdung sein könnte.
3. Zur Kritik der Schwellenmethoden.
Hier stehen sich die Meinungen der Forscher noch schärfer
gegenüber als bei der Beurteilung der Ergographenuntersuchungen
der Fall ist. Sie haben sich in zwei Heerlager gespalten und harte
Worte sind gefallen. So äußerte Kraepelin in dem Archiv für die
gesamte Psychologie, daß die Schlüsse, die man aus den Ästhesiometer-
messungen bezüglich der geistigen Ermüdung ziehe, vollständig in der
Luft stehen. Thaddeus Bolton, der im Kraepelinschen Laboratorium
Untersuchungen anstellte über die Beziehungen zwischen Ermüdung,
Raumsinn der Haut und Muskelleistung, kommt zu dem Resultat:
Das Griesbachsche Ästhesiometer ist für feinere Raumschwellen-
untersuchungen ungeeignet. Irgendwelche gesetzmäßigen Beziehungen
haben sich nicht aufweisen lassen. Die Raumschwelle ist als Maßstab
für geistige Ermüdung unverwendbar.
Die Möglichkeit, das Ästhesiometer für feinere Messungen ver-
änderter Leistungsfähigkeit verwenden zu können, haben übrigens be-
sonnene Freunde der ästhesiometrischen Methode von vornherein nicht
behauptet, sie sind erheblich bescheidener gewesen in richtiger, sach-
licher Erwägung der natürlichen Grenzen des Verfahrens. Schon
Wagner äußerte: Selbstverständlich kann nicht an eine direkte Pro-
portionalität zwischen Ästhesiometerdistanzen und Ermüdungszunahmen
gedacht werden; man kann zunächst nur sagen, große ästhesiometrische
Distanzen lassen auf große, mäßige auf mäßige Ermüdung schließen. —
Als die wichtigsten Vertreter der Ästhesiometermethode mögen genannt
werden: Blazök, Bonoff, Griesbach, Leuba, Noikow, Sakaki,
Schuyten, Vannod, Wagner, als deren Gegner: Bolton, Germann,
Gineff, Kraepelin, Meumann, Ritter.
Die Kardinalfrage, die zwischen den Parteien zur Verhandlung
steht, ist folgende: Kann die Raumschwelle als Maß für die geistige
Leistungsfähigkeit Verwendung finden, ist die Variabilität der ästhesio-
metrischen Distanzen als eindeutig durch geistige Ermüdung bedingt
anzusehen? Die Frage kann nur durch das Experiment entschieden
werden. Da aber begegnet das Merkwürdige: Obwohl die Forscher
das gleiche Hilfsmittel benutzten, obwohl sie mit aller Umsicht und
Sorgfalt zu Werke gingen, boten sich ihnen dennoch Resultate, die
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 23
354 A. Abhandlungen.
einer ganz verschiedenen Deutung zugänglich waren; man konnte sich
nicht einigen. Lag das begründet in verschiedenen versuchstechni-
schen Bedingungen, die keine übereinstimmende Würdigung oder
mangelhafte Beachtung erfuhren? Lag das etwa darin begründet, daß
diese Forscher sich auf ein geringes Material an Prüflingen be-
schränkten, jene Durchschnittsberechnungen auf Grund umfänglicher
Heranziehung von Versuchspersonen gewannen? So ständen sich in-
dividuelle Erfahrungen und Massenbeobachtungen gegenüber und es
liegt nahe, daß man zu widersprechenden Resultaten gelangen würde.
Lag das endlich etwa daran, daß die Forscher, ihrer individuellen
Eigenart entsprechend, sich verschieden zu den gefundenen Ergeb-
nissen stellten? Jemand hat vorausschauend gemeint, die heute vor-
liegenden Untersuchungsergebnisse und deren Deutung durch die Ex-
perimentatoren werde dereinst eine Überarbeitung erfahren in der
Absicht, psychologische Studien über die Autoren anzustellen.
Bevor wir in das Für und Wider der gegnerischen Kontroverse
einen Blick tun, möge erlaubt sein, den Ausspruch eines so besonnenen
Forschers wie Prof. Meumann hierher zu stellen: Es ist ganz un-
zweifelhaft, daß tatsächlich die Ermüdung die Raumschwelle vergrößert;
im einzelnen aber machen sich Einflüsse bemerkbar, die nicht mit
der Ermüdung zusammenhängen, die eine eindeutige Bestimmung der
Raumschwelle unmöglich machen.
Die Gegner der @riesbachschen Methode begründen ihren ab-
lehnenden Standpunkt damit, daß ihnen trotz größter Sorgfalt nicht
gelingen wollte, übereinstimmende Beziehungen zwischen den Folgen
geistiger Anstrengung und den die Unterschiede der Hautsensibilität
aufweisenden variablen Spitzenabständen zu gewinnen. Solange nicht
gelingt, deutliche speziellere Beziehungen zwischen hüben und drüben
aufzuweisen, ist selbstverständlich höchst bedenklich, die Ästhesiometer-
maße als Kennzeichen geistiger Ermüdung zu werten, geschweige
mittels der Methode feineren Ermüdungskoeffizienten nachzugehen.
(Forts. folgt.)
7. Problematische Naturen überhaupt und im weiteren
solche schon in jugendlichem Alter.
Eine psychologische Studie über Erfahrungs- und Erziehungsprobleme.
Von
Dr. Boodstein - Elberfeld.
(Fortsetzung.)
Beginnen wir mit demjenigen, der die Goethesche Kennzeichnung da-
durch zu einem geflügelten Worte gestempelt und volkstümlich gemacht
Boodstein: Problematische Naturen usw. 355
hat, daß er sich ihrer gewissermaßen als Geburtshelferin und Taufpatin
bedient hat, als er seinen ersten größeren und wohl auch berühmtesten
Roman in die Welt schickte, mit Friedrich Spielhagen. Zitiert wird
der Spruch von einer der männlichen Hauptgestalten des Romans, dem
Baron von Oldenburg, als er sich seinem Besucher Dr. Oswald Stein gegen-
über, dem Haupthelden des Buchs, in seinem eigenen Wesen und Führen
verständlich machen will. Er bezeichnet sich dort selbst als problematische
Natur; und die Leser, sowie im weiteren wir könnten nun an der Hand
des Romans die Merkmale des erwähnten Begriffs an ihm entwickeln, wenn
nicht schon der Titel darauf hinwiese, daß mehrere Exemplare der
Gattung im Roman vorkommen und geschildert werden sollten und dem-
nach zu den aus Oldenburg’s Auftreten zu abstrahierenden Eigenheiten noch
weitere Vertreter der Gattung zu zählen wären. Für eine psychologische
Studie hätte indes eine solche Darlegung weniger Zweck, weil es sich
ja um Personen handelt, die durch einen Dichter erst ihre Gestaltung
erhalten haben und deshalb nach Goetheschem Vorbild Wahrheit und Dichtung
vereinigen dürften. Inwieweit diese Gestaltung oder besser gesagt, da es
sich ja um mehrere Personen handelt, diese Gestaltungen einen realen
Untergrund haben, ergibt sich aus Angaben, welche der Dichter in der
Geschichte seines Erstlingswerks (man vergleiche die von Karl Emil
Franzos herausgegebenen »Selbstbiographischen Aufsätze« [Verlag von
Adolf Titze-Leipzig] von S. 33 an) darüber macht, und deren eine ziemlich
an die Spitze gestellt ist und dahin lautet: »Eines wahren Dichters Erst-
lingswerk wird immer eine Beichte sein.«e Zur Begründung verweist er
dann auf Goethes Werther und Schillers Karl Moor und fügt hinzu:
»wenn der Held des Stücks sich nieht mein Spiegelbild nennen dürfe, so
‚weise er doch mit dem Erzähler eine ausgeprägte Familienähnlichkeit
auf; und schildert dann in einem anderen Problematikus, in Bruno,
seine Jugend, denn in einem Romane könne er doch nicht auch sogar
»Knaben- und Jünglingsjahre zeichnen«. So mußte Bruno aushelfen. Weiter
gesellten sich hinzu, sagt er dann, »die Gestalten derjenigen meiner Freunde,
denen ich den stärksten Einfluß auf meine Entwicklung zusprechen mußte«.
Wer im einzelnen darunter gemeint sei, käme für uns nicht so sehr in Betracht.
Aufschlüsse indes über ihn selbst bietet ein etwas älterer Landsmann von ihm,
Ludwig Ziemßen, in einer bei S. Schottländer-Breslau (Nr XXVI der »Deutschen
Bücherei«) erschienenen Skizze, und zwar namentlich aus jener Zeit, in
welcher Spielhagen studierte und herauszufinden suchte, welcher der
verschiedenen Sättel, in denen er zu reiten versuchte, seiner Begabung
und Neigung am besten entspräche. Es dauerte lange, ehe er das Gefühl
gewann, er wolle »sich den Erziehern des Menschengeschlechts zu-
gesellen; nur werde er zunächst mit einem Menschen und zwar einem
recht jugendlichen beginnen.« So wurde er Lehrer in einem adligen
Hause, wie Oswald Stein, wo er, stehend auf dem Boden proble-
matischer Naturen vieles erlebte, edler Frauen Huld und Gunst erfuhr —
und sich doch erheblich von vielen Mitgliedern jener Kreise, die Schopen-
hauer »Fabrikware der Natur« nennt, unterschied. Lassen wir es also immer-
hin, dieses Erstlingswerk als eine Beichte anzusehen, so müssen wir uns
23*
356 A. Abhandlungen.
doch an anderen, weniger durch dichterische Inspiration verklärten oder
verzerrten Beispielen konkretere Unterlagen für eine Prüfung der
Goetheschen Erfahrung zu verschaffen suchen, zumal Spielhagen, der aller-
dings in seiner Jugend allerlei Versuche an sich gemacht und erst mit
etwa 30 Jahren ganz sicheren Boden unter den Füßen gewonnen hatte,
dem zweiten Goetheschen Merkmal nicht mehr entsprach und später kaum
inneren Widerstreit, der allen Lebensgenuß verzehrte, erfuhr. (Er lebte ja
noch vor kurzem und ist ein hochbetagter, aber charakterfester und
aufrechter Greis mit einem Namen von bestem Klang und größtem An-
sehen geblieben) Ihn selbst können wir also nicht als vollgültiges Bei-
spiel für die Wahrheit der Goetheschen Beobachtung anziehen. Daß seine —
nach eigenem Bekenntnis aus dem Leben entlehnten Modelle aber Lebens-
wahrheit enthalten, dürfte jeder bestätigen können, der in den geschilderten
Kreisen verkehrt und besonders die Zeit in den vierziger Jahren des
verflossenen Jahrhunderts noch miterlebt hat; jene Zeit, die be-
sonders Mittel-Europa und darin das Heimatland von Spielhagen in so
heftige Mitleidenschaft gezogen hatte, daß sie noch mindestens ein bis zwei
Jahrzehnte nachzitterte, bis andere Anschauungen sich durchgerungen
hatten. —
Wollen wir demnach den Gestalten seines Romans nur psychologische
Wahrscheinliehkeit zusprechen, so werden wir doch nicht umhin können,
zuzugestehen und solches durch unwiderlegliche Zeugnisse zu beweisen
versuchen, daß es neben Persönlichkeiten, die zeitlebens unter dem Banne
problematischen Naturells standen, infolge dessen Schiffbruch litten und
vielleicht ganz untergingen, es auch solche gibt und gab, die während
gewisser Lebensabschnitte durch periodisches Versagen der Einsicht,
des Willens, der Kraft in schwere Krisen gerieten, die sie der Frucht
ihres Schaffens, des Genusses ihres Lebens beraubten, wenn solches auch
nur vielleicht für eine enger bemessene Zeit gälte. Wenn sie dann aber sich
wieder auf sich selbst besannen und mitder wiedererlangten Einsicht ihre
Schwäche, Halt- und Willenlosigkeit überwanden, dann ist nicht nur ein
Gewachsensein ihrer Lage und im weiteren ein besseres Genügen an ihrem
Wirken, sondern tiberhaupt ein günstiger Ausgang und innere Befriedigung
für sie oft zu verzeichnen gewesen. Im Spielhagenschen Roman kann
man dergleichen streng genommen nur von einem der Modelle, dem oben-
genannten Baron Oldenburg, annehmen. Nach seiner langen Sturm- und
Drangperiode läuft er — nicht erst als Greis auf gerettetem Kahn — in
den Hafen lange ersehnten und doch auch lange verschmähten Glückes ein;
während die zwei oder drei — wenn man den jungen Bruno mitrechnet
— anderen Problematiker zwar nicht mit Unehren — denn ihr Streben
war kein unedles gewesen — aber doch ohne Früchte und ohne Lebens-
genuß zugrunde gehen: Oswald Stein und sein Lehrer Professor Berger auf der
Barikade für ihre Menschenrechts- und Freiheitsidee kämpfend und sterbend,
beide dort wie Leute, denen der Tod lieber war wie das Leben und damit
ihr halbverfehltes Daseinsloos nach Goethescher Auffassung klaglos, aber
unbefriedigt erfüllend. — Warum Spielhagen diese letzteren einen — im
gewissen Sinne tragischen Ausgang nehmen ließ, ist aus ihrer Charakteristik
Boodstein: Problematische Naturen usw. 357
sowohl wie auch infolge einer Reihe besonderer Umstände zu ersehen, in
welche sie sich gestellt hatten; also ebenso aus ihrer ganzen seelischen
Anlage zu erkennen, wie auch aus den Verhältnissen. unter deren Druck und
sonstigem Einfluß sie sich hatten entwickeln, hatten Eigenschaften aufprägen
lassen müssen, welche wie ein unzureichendes Wirken an ihrem Platze so
auch einen Mangel an innerer Befriedigung verschuldeten. Möge fürs erste
hier diese kurze Andeutung ihrer vom Dichter gezeichneten Merkmale,
die sie zu Problematikern stempelte, genügen; später werden wir ähnliches
an konkreteren Beispielen als allgemeinere Kennzeichen der Gattung
nachzuweisen versuchen und damit hoffentlich ergänzen, was in der
Goetheschen Erklärung uns zu fehlen scheint, aber einen Schlüssel für ihre
Mißerfolge darbietet. Zu ihrer Charakteristik sei sofort folgendes festgestellt:
Der richtige Problematiker ist in der Regel ein Wesen, körperlich wie
geistig gut ausgestattet. Bei allen vier Persönlichkeiten des Romans
trifft solches durchaus zu: zwei von ihnen sind ausgesprochen schöne
Menschen; die andern beiden sind vielleicht nicht sehön zu nennen, aber
elastisch, körperlich gewandt, von einem Auftreten, das rasch die
Augen aller auf sie hinlenkt und damit durchaus gutes von ihnen erwarten
läßt. Jeder von ihnen trägt an sich ein geradezu aristokratisches Gepräge.
So erklärt sich von vornherein die von ihnen geübte Anziehungskraft.
Jedenfalls sind sie also keine Alltags- oder Dutzendmenschen; das
Horazische »monstrari digito et dicier: hic est« ist ihnen gewissermaßen
auf die Stirn geschrieben. Manchmal mögen sie auch so gestaltet sein,
daß man ihnen die französische beauté du diable zuschreibt. Diesem
Äußeren entspricht auch ihr geistiges Gepräge. Dummköpfe sind sie
nie; was sie reden, ist nicht leerer Schall; banales Geschwätz, haus-
backene Betrachtungen, das Wiederholen des von Anderen Gesagten ist
nicht ihre Weise; oft üben sie scharfe Kritik, ja freuen sie sich ihres
exzentrischen Urteils — kurz sie gehen andere Wege als Andere
gehen, selbst auf die Gefahr hin, auf Dornen zu treten und sich darauf
auch selbst zu verletzen. Die Rätsel, die sie durch ihr Wesen, ihre schnelle
Wandelbarkeit, ja die plötzlich sich hervorkehrende Willkür den Beobachtenden
aufgeben, erscheinen oft unlösbar und schwer zu verbinden mit dem sonst
von ihnen gemachten Eindruck überlegender und aufs Gute gerichteter
Sinnesart. Dummheiten und eigentlich schlechte Streiche begehen sie nicht,
wohl aber Verkehrtheiten oder das Gegenteil von dem, was hätte erwartet
werden können, Unbotmäßigkeiten, ja schroffes Ablehnen der ihnen an-
gebotenen Unterstützung, und Abwendung von dem, was sie früher an-
gezogen hatte. Alle Tage weht bei ihnen ein anderer Wind, nichts er-
scheint an ihnen beständig als eine gewisse Launenhaftigkeit, die sich vor
sich selbst damit zu rechtfertigen sucht, daß auch einmal etwas anderes
am Platze sei. — Zu diesen reinpersönlichen Willkürakten können sie
ja den Antrieb auch von anderer Seite her empfangen haben, vielleicht
ohne solches selbst zu ahnen, geschweige denn zu wissen. Daß dergleichen
bei Oswald Stein zutrifft, erfahren wir nach und nach aus dem Roman:
er ist ein Kind der Liebe und Sohn eines Adligen, aber legalisiert durch
einen Sprachlehrer, der sich seiner Mutter aus Edelmut angenommen hat
358 A. Abhandlungen.
und das Geheimnis zwar treu behütet, aber in seinem Pflegesohn den
Geist der Abneigung und des Widerspruchs gegen diejenigen
groß gezogen hat, die gewisse überkommene Vorzüge ihrer Geburt zur
selbstsüchtigen Ausnutzung Anderer verwerten. — Wieder andere Ver-
hältnisse walten bei den anderen Problematikern ob, ohne daß ich sie
hier im einzelnen darlege — wer sich dafür interessiert, der lese außer
dem obenerwähnten Selbstzeugnis des Verfassers, die literarischen Essays
von Gustav Karpeles oder von Ludwig Ziemßen. — Eins aber ergibt sich
bei ihnen allen: sie erscheinen sich selbst bald als Opfer ihrer Begabung,
bald als Opfer der sie umgebenden Verhältnisse, bald als die der
allgemeinen Weltanschauung, die das ihnen vorschwebende Ideal
nicht anerkenne und fördere, und es ihnen auf diese Weise völlig ver-
leide. So wird die geringste Abweichung von der ihnen vorschwebenden
Entwicklung, der kleinste Flecken auf dem Schilde oder Bilde ihres Ideals
Veranlassung ihrer Verneinung desselben und läßt sie höchstens noch im
Sinne unbedingter Ironie betrachten. Jede Schuld aber rächt sich auf
Erden, und aus dem Schuldbewußtsein erstehen dann nicht Taten und
Worte der Liebe, nicht Freude am Besserwerden und überhaupt am Guten
und Wahren, sondern Früchte besten Falles der Gleiehgültigkeit, schlimmeren
Falles der Verachtung, schlimmsten Falles der Bekämpfung des Be-
stehenden und damit wiederum oft genug auch ihrer Selbstvernichtung.
Denn wer nicht den Glauben oder wenigstens die Hoffnung sich bewahrt
auf die schließliche Selbstbefreiung der Menschheit unter Berück-
sichtigung der Zeichen der Zeit; wer sich nicht der Erfüllung der
übernommenen Pflicht entschlossen widmen, sich durch sorgsames wissen-
schaftliches Streben und Arbeiten vorwärts bringen will, wäre solches auch
nur um wenigstens eine oder einige Stufen höher zu erreichen — der gerät
schließlich unter die Räder der vorwärtsdringenden Welt und wird wenn
nicht zermalmt, so doch wenigstens erfüllt von dem Bewußtsein absoluten
Nichtverstandenseins und deshalb eines Wirkens, welches brauchbarer
Früchte entbehrt. Möge hierfür das Modell des Professor Berger genügen.
Er erläutert solches in seinem Vortrag über das verschleierte Bild zu Sais.
»Als der nach dem Anblick der Wahrheit sich sehnende Jüngling den
Schleier abzieht, was sieht er da: Nichts.« Er legt also den von
Schiller verwerteten Gedanken, daß wer »zu der Wahrheit geht durch
Sehuld, ein nimmermehr erfreuliches Weh« erfährt, dahin aus, daß es
überhaupt keine Wahrheit gebe. Angesichts dessen erklärt sich, daß
ihm der Tod lieber ist als das Leben. (Auf die Nebenpersonen des
Romans einzugehen, hat hier keinen Zweck; zwar geschildert sind unter
ihnen — gewissermaßen als Gegengewichte — einige ganz vernünftige
Naturen; doch kommen sie für uns hier nicht in Betracht.)
(Forts. folgt.)
1. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen. 359
B. Mitteilungen.
1. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen.
Von Ernst Willich.
(Fortsetzung.)
Vom Kleiderinteresse zum Interesse für Wohnungseinrichtungen
ist nur ein kleiner Schritt. Auch dieses ist bei O. (natürlich immer im
Vergleich mit seinen allgemeinen Geistesfähigkeiten) recht stark ausgebildet.
Er hat nicht nur die Einrichtungen der 12—15 Zimmer seiner elterlichen
Wohnung genau im Kopf, wobei er sämtliche Möbel richtig benennt,
sondern auch beim Betreten fremder Wohnungen prägt sich ihm deren
Ausstattung außerordentlich rasch und genau ein. Nach wenigen Blicken
ist er über die in einem Zimmer vorhandenen Möbel und Gegenstände
orientiert. Er weiß dann, daß der betreffende Raum einen Tisch, Stühle,
ein Sopha, ein Vertikow, ein Bufett, ein Klavier, einen Ofen, einen
Kronleuchter, Teppiche, Tierfelle, Bilder, Spiegel usw. enthält. Seinen
(allerdings kindlich gehaltenen) Beschreibungen dieser Gegenstände liegt
stets der Vergleich mit den entsprechenden Inventarstücken seines
elterlichen Heims zugrunde Die wichtigste Rolle spielen dabei die
Farben, wie überhaupt alles Glänzende und Sinnenfällige seine Aufmerk-
samkeit in besonderem Maße erregt. »Goldne« Bilderrahmen oder »goldne«
Leuchter u. dergl. sind für ihn der Inbegriff höchster Eleganz und Vor-
nehmheit. Überhaupt sieht er an Äußerlichkeiten, Nebensächlichkeiten und
Kleinlichkeiten entschieden mehr als der durchschnittliche Normalmensch.
Den wenigsten Personen kommt z. B. die Farbe der Tapeten von Zimmern
zum Bewußtsein, in denen sie sich nur vorübergehend aufhalten. ©. ist
darüber fast immer orientiert. Sein Gehirn arbeitet gleichsam wie eine
photographische Platte, die das Wesentliche und das Unwesentliche, das
Bedeutende und das Unbedeutende alles mit derselben mechanischen
Genauigkeit und Treue aufnimmt und bewahrt. Das Fehlen eines durch
aktive Konzentration bedingten Blickpunktes im Bewußtsein hat offenbar
zur Folge, daß sämtliche in das Blickfeld fallenden Empfindungen und
Wahrnehmungen einen relativ hohen Deutlichkeitsgrad erlangen. Daraus
erklärt sich wohl auch die Fixigkeit, mit der O. verlegte Gegenstände
des täglichen Gebrauchs herbeizuschaffen pflegt. Wenn ein Schlüssel, eine
Schere, ein Messer oder dergl. fehlt, so kann man sicher sein, daß O. sie
>hat liegen sehen«.
Selbst Dingen gegenüber, die äußerlich große Ähnlichkeit besitzen,
versagt sein unterscheidender Scharfblick nicht. Verfasser vermißte ein-
mal einen gedruckten Museumsführer. OÖ. suchte ihn in kürzester Zeit
aus einem Haufen aufgestapelter Bücher heraus, obwohl er das Titelblatt
nicht lesen konnte und das Buch in seiner äußeren Aufmachung auch
keine in die Augen fallenden Kennzeichen aufwies. O. hatte das Buch
nur bei gelegentlichen Museumsbesuchen in der Hand des Verfassers ge-
sehen und die dabei gewonnenen »oberflächlichen« Eindrücke genügten
360 B. Mitteilungen.
ihm, um es aus 50—60 anderen zum Teil ganz ähnlichen Büchern und
Broschüren herauszufinden. Gelegentlich der Aufführung einer neuen
Oper brachte die Mutter das Textbuch derselben nach Hause. Wenige
Tage darauf begegnete O. auf dem Spaziergang einem ihm fremden Herrn,
der sich gehend in ein Buch vertiefte. Sofort erkannte O., daß es das
Textbuch der neuen Oper war. In gleicher Weise kennt und unter-
scheidet er — lediglich nach dem äußeren Aussehen! — die 5—6
Zeitungen, die täglich bezw. wöchentlich ins Haus kommen, sowie die
Briefumschläge der Geschäfte, die die regelmäßigen Lieferanten des Hauses
sind. Ebenso sind ihm die Handschriften der meisten Personen bekannt,
mit denen seine Mutter in dauerndem brieflichen Verkehr steht. Von
85 Notenscheiben, die O. in Verbindung mit einer Drehorgel besitzt,
konnte er, wie durch Versuche festgestellt wurde, 62 genau bestimmen,
obwohl ihm die Schrift der aufgedruckten Titel völlig fremd war. Bei
einem bestimmten Anlaß stellte es sich heraus, daß O. am Sekretär
seiner Mutter von dem O. sonst prinzipiell ferngehalten wurde, durchaus
Bescheid wußte. Völlig selbständig und ohne besonderes Zaudern holte
er aus einer Büchse, die in einer in einer bestimmten Schublade unter-
gebrachten Kassette eingeschlossen war, Geld heraus, wobei er zwei ver-
schiedene Schlüssel benutzen mußte, die mit etwa 20 anderen in einem
Schlüsselkörbchen lagen. Alle die dazu nötigen Kenntnisse hatte er sich
nur durch gelegentliche zufällige Wahrnehmungen erworben. Einen be-
sonders anschaulichen Beweis für die scharfe Beobachtungsgabe O.s gibt
eine von ihm herrührende, allerdings sehr primitive und rein schematisch
gehaltene zeichnerische Darstellung eines Straßenbahnwagens, in der
folgende Teile bezw. Gegenstände angedeutet sind: Räder mit Speichen,
der innere Wagenraum mit abgetrenntem Vorder- und Hinterflur, die
Bänke, an den Rückenlehnen derselben die Messiuggriffe zum Festhalten,
Fenster, Gardinen, die Lichter im Wagen, die Signallaternen vorn und
hinten am Wagen, die Steuerung mit Fahrer und Bremsrad, der Billet-
schaffner mit Ledertasche, Knipser, Fahrkarte und 10 Pfennigstück, die
Wagennummer. Mehr kann man von einem normalen Jungen kaum er-
warten, und sicher hätte O. noch eine ganze Reihe weiterer Beobachtungen
graphisch fixiert, wenn die Zeichnung dazu Raum geboten hätte. Aller-
dings ist der elektrische Wagen auch eine extra hochbetonte Vorstelluug
in O.s Bewußtsein, denn als nächster Genuß nach dem Essen und Trinken
kommt bei ihm das Fahren, Fahren mit der Kutsche, der Elektrischen,
dem Automobil, der Eisenbahn, dem Schiff.
An und für sich liegt in dieser Freude am Fahren natürlich nichts
Außergewöhnliches, denn welches Kind (und O. ist seinem gesamten
Geisteszustande nach noch Kind) fände nicht am Fahren Vergnügen. Und
auch die Tatsache, daß ihm das Fahren um so mehr Spaß macht, je
intensiver das Vehikel erschüttert wird und je lauter es rasselt und
dröhnt, fällt nicht aus der naiven Empfindungsweise des normalen Kindes
heraus. Außergewöhnlich ist aber die Leidenschaftlichkeit und Stärke der
Affekte, die sich in O.s Bewußtsein mit der. Vorstellung des Fahrens
verknüpfen. Eine in Aussicht stehende Wagenfahrt vermag ihn in ek-
1. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen. 361
statische Aufregung zu versetzen. Es ist, wie wenn seine Gemütswelt
von einem Orkan aufgewühlt würde, seine an sich schon sehr labilen
Vorstellungen wirbeln wie Blätter im Wind durcheinander, und auch
körperlich pflegt sich die mächtige Gemütsbewegung in zitternden,
zappelnden und strampelnden Bewegungen zu entladen.!) Und etwas
Schrecklicheres als etwa der Ausschluß von einer Wagenfahrt könnte O.
kaum begegnen. Ähnlich verhält es sich mit dem Fahren per Auto, per
Eisenbahn und per Schiff.
Charakteristischerweise hat O. aber noch kein Karussell bestiegen.
Ebenso entschieden wendet er sich von den Gebirgsbahnen, Schleifenbahnen,
Wasserrutschbahnen, Rodelbahnen usw. ab, die auf Jahrmärkten und in
Vergnügungsetablissements die bekannten Volksbelustigungen bilden. Auch
auf einen Rodelschlitten in natura würde er sich, falls er dazu Gelegenheit
bekäme, sehr wahrscheinlich nicht oder erst nach langem systematischen
Üben setzen. Der Grund dafür liegt in seiner körperlichen Ungeschicklich-
keit und der damit verbundenen Ängstlichkeit, die bei ihm beide patho-
logischen Charakter haben.
Entsprechend den starken Lustgefühlen, die bei O. mit dem Erlebnis
des Fahrens verbunden sind, spielen auch die damit zusammenhängenden
Sachvorstellungen in seinem Bewußtsein eine große Rolle. Die Unter-
scheidung und Benennung der verschiedenen Wagenarten (Kutsche, Taxa-
meter, Coupé, Landauer, Break) sind ihm vollständig geläufig. Dabei tritt
auch auf diesem Gebiete seine starke Betonung einerseits des Äußerlichen
und andererseits des Vornehmen und Feinen deutlich zu Tage. Unsaubere
und alte Lohnfuhrwerke erregen sein entschiedenes Mißfallen. Die Farbe
der Wagenpolsterung ist ihm ganz besonders wichtig. Außergewöhnliche
Merkmale des Wagenanstriches, des Pferdegeschirres, der Ausrüstung des
Kutschers entgehen ihm niemals. Herrschaftskutscher sind für ihn der
Inbegriff der Vornehmheit und Eleganz. Dabei richtet er seine Auf-
merksamkeit nicht nur auf die Wagen an sich, sondern auch auf die
Insassen und namentlich auf die Bedienung, namentlich wenn diese
livriert ist. Wagen und Kutscher, mit denen er einmal gefahren ist, behält
er lange im Gedächtnis, auch wenn es sich nur um kurze Taxameter-
fahrten handelte. Die Gefährte einer nahe an seiner Wohnung gelegenen
Haltestelle sind ihm im einzelnen so genau bekannt, daß ihm jede nicht
ganz unbedeutende Veränderung derselben durch Reparatur u. dergl. sofort
auffällt. Auf die Genauigkeit des Vorstellungsbildes, das O. von einem
Straßenbahnwagen besitzt, wurde bereits hingewiesen. Die von ihm für
gewöhnlich benützten Straßenbahnlinien kennt er alle nach der Signalfarbe
und Nummer. (Nummern vermag er zu lesen, Schilder mit Aufschriften
jedoch nicht.) In fremden Städten richtet sich seine Aufmerksamkeit
hauptsächlich auf die Fahrzeuge, wobei er fortgesetzt Vergleiche zieht
mit den entsprechenden Vehikeln seiner Vaterstadt.
1) Es muß jedoch bemerkt werden, daß bei O. die höchsten Lustaffekte stets
diesen stürmischen Charakter annehmen, auch wenn sie einem anderen Vorstellungs-
gebiet als demjenigen des Fahrens entspringen.
362 B. Mitteilungen.
Das gleiche Interesse schenkt er den Eisenbahnen. Blitzzug, DZug,
Eilzug, Personenzug (Bummelzug), gewöhnliche Wagen, »gepolstertee
Wagen, Durchgangswagen sind ihm geläufige Worte, denen jedoch (von
den 3 letzteren abgesehen) klare Begriffe fehlen. Jedenfalls ist ihm die
fahrplanmäßige Bedeutung der Numerierung der Wagenabteile und Bahn-
steige, der Bezeichnung der Abfahrtszeiten usw. völlig fremd. Ihn in-
teressiert nur, was unmittelbar in die Augen fällt (Einrichtung der Wagen)
oder was sich unmittelbar erleben läßt (schnelles Fahren der Schnellzüge);
was darüber hinausliegt, kümmert ihn nicht. Besonders am Herzen liegen
ihm die Lokomotiven. Aber auch hier fesselt und beschäftigt ihn nur die
äußere Erscheinung. Das Feuer, der Schornstein, die Räder, das Dampfen
und Fauchen und ganz besonders der Heizer und Lokomotivführer. Fragen
nach dem Grund oder Zweck der einzelnen Einrichtungen liegen ihm
fern. Er »weiß« zwar, daß der Dampf die Maschine treibt und daß
Dampf aus Wasser durch Feuer entsteht, aber dieses Wissen ist einerseits
recht verbaler Natur und andrerseits tot, tot insofern, als er es spontan
nie verwende. Am meisten fesselt ihn die Lokomotive, wenn ihre Be-
mannung zufällig mit Essen und Trinken beschäftigt ist. Befinden sich
zwei Lokomotiven an einem Zuge, so ist das für O. ein besonders wichtiges
Ereignis, namentlich dann, wenn er selbst mit dem betreffenden Zuge
fahren darf. Er kommt sich dabei extra fein und vornehm vor. Hier
tritt auch der Einfluß eines lebhaften Sachinteresses auf die Bildung von
Zahlvorstellungen anschaulich zu Tage. Mit dem Ausdruck freudigster
Überraschung rief er einmal beim Anblick eines schweren Güterzuges
aus: »Herr Y., drei Lokomotiven!« In ähnlicher Weise stellte er ein
andermal ohne Aufforderung die Zahl der Pferde eines Viergespannes
fest. Das Bedeutsame dieser Vorgänge lag einmal in der Spontaneität,
mit der hier die Zählakte erfolgten, und sodann in der absoluten Sicher-
heit der Verwendung der Zahlbegriffe 3 und 4, die ihm im Rechen-
unterricht bereits Schwierigkeit zu machen pflegen. Hier mag auch noch
folgender Vorfall eingestreut werden. Auf einem Spaziergang erblickte
O. ein von zwei Pferden gezogenes Gefährt (sogenannten Rennwagen).
Dabei waren die Pferde nicht neben- sondern hintereinander gespannt.
Dies erregte O.s Aufmerksamkeit und Staunen in ganz besonderem Maße.
Allen er war nicht imstande anzugeben, worin das Eigenartige dieses
Gefährtes bestand. (Forts. folgt.)
2. Sprachliche Eigenbildungen meines Sohnes.
Von Frau Hanna Neugebauer- Kostenblut.
(Schluß.)
2; 2 Maschinenmann. Als er die Nähmaschine abstaubte, kam er
glückstrahlend gelaufen: Ich bin der Maschinenmann. Das Wort
wurde längere Zeit gebraucht, bis es sich um 2; 7 spezialisierte in
Schlosser, Heizer, Lokomotivführer usw.
2; 2 Riütschenmann. als er die Ritsche (— Fußbank) umhertrug.
2;
[S]
[SS]
wow
2. Sprachliche Eigenbildungen meines Sohnes. 363
2 Nickelmann = Karnickel-(Kaninchen-) mann. So nannte er
einen Mann, der 2 Hasen ins Haus brachte.
;2 Schneidemesser — Diamant zum Glasschneiden.
2 Mäuselbuch — Schmeils Zoologie. Das Wort ist noch heut (2; 8)
im Gebrauch.
; 2 Feuertag — Tag, an dem Feuer gemacht wird. »Feiertag«, das er
gehört hat, aber noch nicht verstand, klingt stark an.
; 2!/, Betelsbuch nannte er einmal ein kleines Buch in Gebetbuchformat.
; 214 Pflaumenmann nannte er sich, als er spielte, daß er Pflaumen
vom Gardinenmuster abpflückte.
; 21/, Vatelradler. Er machte sich Manschetten um und sagte voll Stolz:
Ich bin der Vatelradler. Das Manschettenummachen war ihm beim
Vater besonders aufgefallen, wenn dieser sich zum Wegradeln rüstete.
; 21/, Stallmann nannte er einen abgebildeten Kuhhirten.
21), Eisenschuh — Hufeisen. Rafael hatte dem Beschlagen eines
Pferdes zugesehn und sagte, als das Pferd fortgeführt wurde: Das
hat einen Eisenschuh.
; 2%/, Rosentanz. So nannte er einige Male ein Kreisspiel, das an-
fängt: Ringel Ringel Rosenkranz. Ich glaube nicht, daß es ungenaues
Hören oder Sprechen war — zumal er nie t für k sagte und auch
das r von Anfang an sprechen konnte — ich glaube vielmehr, daß
ihm dabei das Tanzartige des Spieles vorschwebte,
; 28/, Tüntenschreiber — Federhalter mit Feder, nur einmal gebraucht.
3 anbroschen. Wie hann man das anbroschen? fragte er bei
einem Gürtelschloß.
3 Bettkopf = Kopfkissen.
31/, Kochlappen — Topflappen.
31/, Löchelmacher,
Krümelmacher. Wir hatten ihn beim Essen Kleckselmacher
genannt, danach bildete er die beiden genannten Worte an ver-
schiednen Tagen, als er Löcher in ein Papier und Kuchenkrümel aufs
Sofa machte.
; 31/, beölt. Schlosser hat sich beölt, sagte er von sich in der Rolle
des Schlossers.
; 4 zangen, Muttel, was kann ich noch xangen? fragte er z. B.
abzangen, ı als er etwas suchte, das er erfolgreich mit der Zange
umzangen, | bearbeiten konnte. Alle 3 Worte kamen häufig vor.
4 einweibelt. Als ich eine Lampe abstaubte und die Lampenglocke
fast ganz vom Staubtuch eingewickelt war, sagte er: die Lampe is
einweibelt. »Weibel« hatte ich ihn und dann er sich selbst genannt,
wenn ich ihn nach dem Baden bis über den Kopf ins Badetuch einwickelte.
4 Lichtmacher —= die elektrische Taschenlampe.
4 Eisschuh = Schlittschuh.
; 41/, Schraubermann,
Ölermann. Beide Namen gab er sich, als er schraubte und
ölte. — Ebenso:
Löchermann, Kaisermann, Krappelmann, Essermann.
364 B. Mitteilungen.
2;
41/, Streifenmaschine
Zähnel- 5
Stichel- 7 So nannte er landwirtschaftliche und andre
En L x Maschinen, die er zufällig sah, jenachdem,
Flügel- á was ihm daran auffiel.
Naf- Pr
Kratxz- a
; 41), Topmaschine
Klö- „ Er selbst stellte eine Maschine vor, der er
Kock- „ je nach seiner Tätigkeit und den Geräuschen,
Tsch- „ die er dabei hervorbrachte, einen dieser
Deik- „ Namen gab. Von der letzten sagte er:
Schab- ., Das is eine Blackelmaschine; die blackelt
Hops- ., immer; blackel, blackel, blackel.
Blackel-.,
; 41), bebürsten — abbürsten, ausbürsten.
41/, Schraubenbieger. \ Er spielte mit der Stimmgabel und be-
Dingsöler. \ handelte sie als Werkzeug, das erst »Schrauben
biegen« und dann den Klavierleuchter »ölen« mußte. Dabei erhielt
die Stimmgabel die obigen Namen.
; 41), Notelmann. Ich bin ein Notelmann, sagte er gleich nach
dem Erwachen. »Warum?« fragte ich. Weil ich immer (K) notel
mache. Wahrscheinlich hatte er geträumt, daß er etwas knotete.
; 41), aufkleben sagte er als Gegensatz zu »zukleben«.
; 41), Klappbuch. Er brachte ein Buch: »das is ein Klappbuch«
»Warum?« Weil es immer so klappet. Dabei klappte er es rasch
auf und zu.
; 41/, Nassermann. Die Emma is ein Nassermann. »Warum
denn?« Weil sie nassert. »Was nassert sie denn?« Den Eimer.
; 5 Bumsengerle nannte er sich, als er sich vom Kopfende des
Divans lang auf den Divan fallen ließ; der Vater hatte ihn schon oft
»Schwebeengerle« genannt, wenn er ihn hoch über sich hielt.
; 5 Hopskönig } So bezeichnete er Bauklötze, die er durch und über
Königsoldat
5 Brückenhaus N
Mauerbrilck nannte er zwei seiner Bauten.
wv
ein gebantes Tor springen ließ.
2; 5 Windmaschine nannte er die Schaukel, während er schaukelte und
2
I.
jedesmal den Lufthauch spürte.
5 KRotmaschine hieß eine landwirtschaftliche Maschine, an der ein
Teil grell rot war.
; 5 Liegticktack } Er fand eine kleine Sprungfeder, von der er glaubte,
Stehticklack f sie gehöre zu einer Weckeruhr. Seine Phantasie
ergänzte alle übrigen Teile der Uhr; er legte die Feder auf einen
Stuhl und nannte sie Liegticktack. Dann flüsterte er noch etwas,
wovon ich nur das Wort Siehticktack verstand.
2;
2;
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[07
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[>]
2. Sprachliche Eigenbildungen meines Sohnes. 365
5 Männerwagen: Einen vorüberfahrenden Wagen, auf dem mehrere
Männer saßen, nannte er Männerwagen.
5 Löcherschießer: Als er mit einer eisernen Vorhangstange auf die
Wand losging und sagte: Ich schieße! rief ich: »Nein, schieß nicht
Löcher in die Wand!« Da sagte er: »Da bin ich ein Löcherschießer.«
; 51), Fabrikmann und
Fabrikmannschrauber war er selbst im Spiel.
; 51/, rausgetanzt: Er tanzte zwischen den auf der Erde verstreuten
Bauklötzen herum, ohne auf sie zu treten, geriet schließlich aus ihrem
Bereich heraus und rief: Ich hab rausgetanzt !
; 51/3 gerührdelt: Ich hatte manchmal, wenn ich eine für ihn zu fest
sitzende Schraube lockerte, gesagt: »Sie rührt sich schon.«e Danach
bildete er: sie kommt schon gerührdelt.
; 51/, Geschraube: Er hatte, wie sehr oft, die Fußbank zerschraubt
und saß nun auf der Erde, umgeben von Fußbankteilen, Werkzeug
und Schrauben. Schließlich stand er auf und sagte: jetz geh ich
aus dem ganzen Geschraube raus.
; 51/3 Gefädel = mehrere hin- und hergehende Fäden an der Näh-
maschine.
; 51, Johannisbaum. So nannte er wiederholt eine farbige Katalog-
darstellung von dicht nebeneinander senkrecht herabhängenden Christ-
baumketten aus Kugeln. Jedenfalls erinnerte sie ihn an Johannisbeeren,
die er seit etwa 6 Monaten nicht mehr gesehn, aber in der Verbindung
»Johannisbeersaft« nennen gehört hatte.
; 51/, Vorsetzel | So hießen Bauklötze beim Bauen, je nach der Auf-
Vorlehnen | gabe, die Rafael ihnen zuerteiltee Doch wurden
Vorsteller f nicht alle Wörter bei demselben Spiel, sondern an
Zumacher | verschiedenen Tagen gebraucht, das eine und andre
auch mehrmals.
; 51, Verrannt: Hab mich verranni. »Wieso?« Weil ich so sehr
gehopst hab. Ich weiß aber nicht recht, was er damit sagen wollte.
; 51/, Reingesteckel: Er steckte immerfort je 2 Wäscheklammern in-
einander, gab sie mir und sagte: hier haste ein Reingesteckel —
hier haste noch ein Reingesteckel usw.
; 51/, Wassersprung: Beim Bauen hatte er den Brückenbogen über
ein aufrecht stehendes Klötzchen gehängt und nannte das einen
Wassersprung. »Warum?« Weil das hier so runterspringt. Dabei
zeigte er auf den einen senkrechten Brückenteil. Vielleicht hat das
Wort »Springbrunnen«, das er immer und dauernd, auch nach 1 Jahr
noch, Springsprung aussprach, hineingespielt.
; 51/, Tututbläschen. So nannte er in Schmeils Zoologie das Bild i
eines Trompetentierchens, dessen Namen ich ihm auf sein Verlangen
einige Wochen vorher genannt hatte. Tutut heißt seit fast 11/, Jahren
jedes Blasinstrument.
; 6 Schokoladenspuck: Nachdem er Schokolade gegessen hatte, spuckte
er in den Eimer und verkündete dann strahlend: Ich hab einen
Schokoladenspuck gemacht!
366 B. Mitteilungen.
2;
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[Ss]
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LS
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[Ss]
~
dD
; 7 Knautschmaschine
61/, Glasmann Er äußerte sich sehr ausführlich über seinen
Glasfabrikmann | möglichen künftigen Beruf und dachte sich
Blechmann unter anderm aus, daß er als Glasmann
Braunermann Fensterscheiben, als Blechmann Löffel, als
Löchelmann Braunermann braune Tapete usw. machen
Riemenmann werde.
; 61/, Tabletistoich: Auf einem japanischen Tablett sind Reiher ab-
gebildet. Rafael zeigte auf einen und fragte: Is das ein Tabletten-
stoich (= storch).
nannte er seine Beine, die er in ver-
Schiebe- » schiedener Weise arbeiten ließ.
Loch-
; 7 Vateraffe: Der Väter hatte zu ihm gesagt: »Du bist ein kleiner
Affe.« Nach einer Weile sagte Rafael: Ich bin ein Affe. Das is
(auf den Vater zeigend) mein Vateraffe.
; 7 Glühtstück: Als eine große, glühende Kohle aus dem Ofen fiel,
rief er: O, ein @lühtstück!
; 7 Saftelbeeren \ Bei einem seiner in dieser Zeit sehr häufigen
Apfelbeeren f Phantasiespiele verkaufte er uns als Kaufmann
Apfelbeeren und Saftelbeeren.
; 71), Glockenturm \ Rafael hatte einen sogenannten Wartburg-
Glockenturmblume f leuchter auseinandergeschraubt und die
Teile dann anders als vorher zusammengesetzt. Er nannte das neue
Gebilde mit großer Freude Glockenturm — das Wort kannte er noch
nicht — und Glockenturmblume.
; 71/, bewassert. Der Stock soll bewassert sein! rief er und tauchte
ihn in einen Eimer mit Wasser.
; 71), Schwanzkrebs — Bild eines Ichneumons.
; 7%, Schmiedmann nannte er sich beim Zerschrauben der
Schraubenmann und Fußbank.
Brettermann
8 Gewickel: Er fing an, Schnuren um Gartenmöbel und Bäume zu
wickeln wie sehr oft: Jetz wer ich wieder ein Gewickel machen.
; 8 Klumpenstücke: Die großen Zähne am Mühlrad in der Windmühle
nannte er Klumpenstücke — Erdklumpenstücke nich: — Holz-
klumpenstücke.
; 8 Augenstern. Bei einem Bilde der Sonne mit Strahlen und einem
Gesicht fragte er: was is denn das für ein Augenstern?
; 8 Kopfkuß: Er küßte den Vater auf den Kopf: Ich hab dir einen
Kopfkuß gegeben.
; 9 Kriechtier. Er kroch auf allen Vieren durch den Sand und rief:
Muttel, sieh mal, was das für ein Kriechtier is!
9 Raffelstorch \ Er spielte mit dem Vater, er sei ein Storch: Ich
Vatelstorch j bin der Raffelstorch, du bist der Vatelstorch.
Vatel, setz dich zu mir aufs Dach.
; 91, Wurzeltierchen. Von abgebildeten Seetieren mit vielen Fang-
armen meinte er: Das sind Wurzeltierchen — fügte aber gleich
hinzu: vielleicht nich.
2. Sprachliche Eigenbildungen meines Sohnes. 367
2; 91/), Lichtmachertierchen. Ich hatte ihm einen Leuchtkäfer gezeigt
und ihm davon erzählt. Nach ein paar Tagen kroch er durchs
Zimmer und sagte: Ich bin ein Lichtmachertierchen. Hier kommt’s
Licht raus (am Bauche) bissel Licht.
2; 91/, Bierlokomotive. Im Spiel hieß so seine Eisenbahn, die mir
Bier brachte.
2; 91/, Stachelpferd. Dieses Tier leistete sich seine Phantasie: Ich
hab ein Siachelpferd, mit einen ganz großen Mund. Das Nilpferd
und vielleicht das Seepferdchen werden wohl dabei Paten gestanden haben.
2: 91), Tante Grete Weißblum
Tante Rotrose, und noch eine ganx grüne, heißt Grünrose.
Von diesen 3 Phantasietanten erzählte er, sie hätten ihn besucht.
Er blickte dabei auf verschiedene Blumensträuße, die im Zimmer
standen. Logierbesuch von mehreren Tanten war vorangegangen.
2; 10 Eisbeeren. Die (weißen Johannisbeeren) sehen aus wie Eis. Da
heißen sie Eisbeeren.
Die folgenden 3 Bezeichnungen entstanden beim Ansehen von
Schmeils Lehrbuch der Botanik. Meist gab die Form des eineu oder
andern vergrößert abgebildeten Pflanzenteils den Anlaß zu der betreffenden
Wortbildung. Für diejenigen Leser, die das Buch besitzen, gebe ich zur
Orientierung jedesmal die Seitenzahl und Zahl des Einzelbildes an. Alle
Zusammensetzungen sind von 2; 10.
S. 392 Schneckenpilx. Er erklärte dazu: Der is so rumgerolli, so
zusammgeringelt.
S. 352 (6) Stielkurz.
(4) Schneckenringel.
Die nun folgenden 8 Zusammensetzungen sind aus Schmeils Zoologie.
Affenbuch so nannte er das Buch, weil auch Affen
Schwarzeaffenbuch } darin sind.
(4c) Breithörn.
S. 354 (4) Rosenmotte.
S. 16 Klatschdeckel.
Blumendeckel.
S. 135 Kugelblume.
S. 478 (2) Hutringer.
Pickbleistift nannte er einen Bleistift, mit dem ich ihm
zum Scherz auf die Hand getippt hatte.
2; 10 Quietschkatze nannte er sich selbst, als er vergnügt quietschte.
2; 10 Riechnase (ich hab eine), weil ich damit riechen kann.
2; 10 Dringesteckel. Als kleine Dringesteckel bezeichnete er die
einzelnen Röschen des Blumenkohls.
10 Fixierkasten war im Spiel eine Plattenschachtel, mit der er spielte,
daß er Photographien machte.
2; 10 Fewerblume nannte er eine gelbrot geflammte Kressenblüte.
2; 101/, eine Walxeneisenbahn stellte eine Ackerwalze vor.
2; 101/, Steinsuppe und
Steintee kochte er im Spiel aus Steinen.
368 B. Mitteilungen.
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wo
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[7
; 101), Pflaumenfische
; 101), Lauftier. Von seinem Spielzeughahn sagte er: Der Hahn
heißt eigentlich Lauftier.
; 101/, halbstück. Er hielt den Handspiegel so vor sich, daß er nur
den Unterkörper und die Füße sah und sagte: Jetz is der Rafjel
halbstück.
nahm er vom Muster der Bettdecke ab und
pie p a verkaufte sie mir. a u K
; 101, Scherenschnäpper. So nannte er das en
nebenstehende Randmuster an der Zimmerwand. Aero
; 101), Christbaumsperling ( )
Schlüsselfalter
Schlüsselfalterklavier
Den ersten Namen gab er ganz sinnlos
einem Schlüsselbart, die beiden andern dem | l
Loch im Schlüssel. Í
; 101/, Bananencreme, eine Phantasiespeise.
; 101/, Schneepferde nannte er schwarze Phantasiepferde. Daß er gerade
schwarze Pferde so nannte, war wohl Schelmerei, zu der er sehr neigt.
; 101/, Schimmelbäume = Birken.
; 101/, Kaffeemütze. Als er zum ersten Mal einen gehäkelten Kaffee-
wärmer in Gebrauch sah, rief er erfreut: Das is wohl eine Kaffee-
mütze!?
10!/, Blaukirschen. Blaue Bausteine verkaufte er als Blaukirschen.
101/3 Raufzieher — Teppichstaubsauger.
101/, Tomatenblumen — große, rote Begonien.
101/, Schokoladenpilze — braune Steinpilze.
11 Rotstraße. Beim Eisenbahnspielen sagte er mir: du mußt auf
der Rotstraße aussteigen, wo die Kressen sind. Dabei sah er auf
blühende rote Kressen.
; 11 Eierpickchen nannte er ein kleines weißes hölzernes Küchlein,
dessen Körper wie ein Ei aussieht.
11 Brüthähnchen sagte er von demselben Hühnchen.
11 Grabmaschine = Pflug, obgleich er das Wort schon lange kennt.
11!/, Wasserknopf = eine Ohrenqualle in Schmeils Zoologie.
111/ Schnellbahn Ringsherum und Ringsherumgleisbahn nannte
er seine Eisenbahn.
; 111/, Jesusfrau nannte er Maria auf einem Madonnenbilde.
; 111), Bierauto und
Bierleseautomobil nannte er ein Buch, von dem er spielte, es
sei ein Bierkasten vom Bierautomobil.
; 111), Wasserrutschleuchtbahn nannte er einen Leuchter, mit dem er
spielte; er hatte kurz vorher die Wasserrutschbahn in der Breslauer
Ausstellung gesehn.
An Zusammensetzungen bildete Rafael in reichlich 15 Monaten
-— von 1; 83/, bis 2; 8 — 196. Die Neigung dazu war fortwährend
ungefähr gleich stark und besteht noch jetzt, mit 3 Jahren, fort.
2. Sprachliche Eigenbildungen meines Sohnes. 369
Schließlich möchte ich noch eine Reihe von Wörtern anführen,
die gewissermaßen einen Übergang von den Eigenbildungen zu den
konventionellen Wörtern bilden, insofern, als der Wortlaut der kon-
ventionellen Sprache entnommen ist, während die Wortbedeutung,
die Rafael ihm unterlegt, mehr seinem Eigenen zugehört. Ich möchte
diese Wörter ungewollte Vergleiche nennen. Naturgemäß fallen sie
in eine Zeit, in der der Wortschatz des Kindes noch verhältnismäßig
gering ist: von 1; 91/, bis 2; 2®/,.
1; 91/, plumpen: So bezeichnete er das Ziehen des Schmiedes am Blasebalg.
1: 101/, Zopfen = Euter. Das Tagebuch sagt: »Ich hatte ihm bei
einem kleinen Mädchen den Zopf gezeigt und zum ersten Mal benannt.
Einige Tage darauf kam er im Pfarrgarten von einer Betrachtung des
daneben eingefriedigten Jungviehs zurückgelaufen zu mir und erzählte,
die Muh hätten Zopfen. Ich dachte natürlich, er meinte die
Schwänze, heut aber stellte sich bei dem Bilde eines Säuleins heraus,
daß er mit Zopfen das Euter meinte.« Der Ausdruck besteht noch
heut, mit 3 Jahren, obgleich er vorübergehend um 2; 4 einer Be-
lehrung gewichen war. Rafael plauderte 2; 91/, von Phantasiekühen
höchst naturwidrig: Meine Kühe legen Eier; die haben und keine
Zopfen und keine Milch. Jetzt eben fragte ich ihn: »Was haben
die Kühe am Bauche?« und er antwortete nach kurzem Besinnen:
Zopfen. 3; 4 überlegte er früh um 5, ob die Schweizer und Mägde
im Dorf schon mit dem Melken der Kühe fertig sein würden und
meinte zweifelnd: Sie müssen doch an allen Zöpfeln xöpfeln!
1; 101/, Marke — Pflaster. Ein Heftpflaster, das ich ihm aufgeklebt
hatte, nannte er beharrlich tagelang (Brief—) Marke.
1; 11 Feuerspriütze — Sprengwagen. Die Feuerspritze kannte er
von einem Bilde Als er zum ersten Mal in eine Stadt kam und
einen Sprengwagen sah, nannte er ihn Feuerspritze.
1; 11 weiße Feuerspritze = Milchwagen der Molkerei.
1; 11 schwarze Molkerei — eine vom Rauch geschwärzte Fabrik.
Molkerei nannte er bei seinen Besuchen in Städten alles, was einen
hohen Schornstein hatte, weil er einen solchen bis dahin nur an der
Molkerei in seinem Heimatsort kennen und sehr schätzen gelernt hatte.
1; 11 auf (ge-) blüht = sichtbar geworden. Einmal hatte er beobachtet,
wie die Abendsonne hinter Wolken verschwand und betrübt gesagt:
Geht Sonne weg! Als sie wieder sichtbar wurde, rief er voll Freude:
Sonne aufblüht!
1; 11 abpflücken = herunternehmen. Er wollte Photographien vom
Tisch abflücken.
1; 111/, Brücke. So nannte er das Balkengerüst über der Tenne einer
Feldscheune.
1; 118/, Stiel = Deichsel eines Wagens, einmal gebraucht.
2;0 Rechen — sein Speiseschieber; er nannte ihn oft so.
21/, Deichsel = ein sehr langer Tiegelstiel.
21/, Federn. Die Haare auf dem Arm einer Tante nannte er Federn.
21/, sonnig fand er das Feuer im Ofen.
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 24
370 B. Mitteilungen.
21/, Feuer singt sagte er, als der Wind im hellbrennenden Ofenfeuer sauste.
21/, Badewanne nannte er längliche Aschenbecher in der Eisenbahn.
Der Vergleich war sehr treffend.
2; 1 Spinnwebe. Er bekam zum ersten Mal zufällig ein seidenes Haar-
netz in die Hände und mochte es wohl in seinem Innern Spinnwebe
nennen, denn als er es aufmerksam befühlt und besehen hatte, stellte
er fest: Is keine Pinnwebe.
2; 1 Schaukel — Riegel. Den Riegel eines messingenen Ofentürchens,
den er auf der innern Seite auf- und abgehn sah, nannte er Schaukel.
; 1 Schaukel = Tintenlöscher.
; 1 Deichsel — Geländer, ein glattes, rundes Flurtreppengeländer.
1 Stange — Seitengewehr eines Soldaten.
1!/, Sieb nannte er ihrer Form wegen die elektrischen Lampen aus
geripptem Glase in der elektrischen Bahn.
2; 1!1/, Saft. Der Großvater hatte von der kalten Luft Tröpfchen im
Bart. Rafael meinte: bissel Saft.
2; 11/, sehmutziger Dampf; so nannte er den bläulichen Benzindampf,
der einem Auto entquoll.
2; 11), hören mit dem Händel — fühlen. Als ich Klavier spielte,
stellte er sich dicht an die Seitenwand des Klaviers, legte die Hand
daran und rief: Da is ein Bumbum drinne! Raffel hörts mit’'n
Händel! Er fühlte die Erschütterung.
2; 1), Uhr singt = schlägt.
singen nannte er auch das Vorlesen oder Sagen von Gedichten,
das Erklären von Bildern; unzählige Male am Tage bat er: Muttel,
sing mal das!
2; 1!/, Reis: mehrere angeschwollene Insektenstiche auf seinem Rücken,
die er nur fühlen, nicht sehen konnte, nannte er so: das is Reis.
; 11/, Pinsel = Lampendocht, weil es unten ausgefranst ist.
11), glucken = füllen. Glucken hieß schon lange: die Lampe füllen.
Nun gebrauchte er es scherzhaft beim Essen: das Bauchel is noch
nich voll — und gleich darauf mit schelmischem Lachen: Ich muß
mir noch glucken !
2; 21/, Flügel = Mantelaufschlag. Er wollte mir Knöpfe an den Flügel,
d. h. an den breiten, dreieckigen Aufschlag meines Mantels nähen.
2; 28, Beine = Wurzeln. Die starken, bloßliegenden Wurzeln einer
alten, unterhöhlten Akazie nannte er ihre Beine.
; 23/, blenden — leuchten. Er gebrauchte es wiederholt von der
Sonne, dem Mond und der Laterne,
D
Bericht über den IV. Internationalen Kongreß für-
Schulhygiene zu Buffalo 1913.
Von A. J. Schreuder, Direktor des medizinisch -pädagogischen Institutes
Klein-Warnsborn, Arnheim (Holland).
(Schluß.)
Die zweite Sektion war besonders interessant. Amerika macht auf
dem Gebiete der Unterrichtshygiene Riesenfortschritte.e Dieser Kongreß.
3
3. Bericht über den IV. Internationalen Kongreß für Schulhygiene. 371
lehrt uns, daß man in Europa fortan gut daran tun wird, besonders auch
die einschlägige amerikanische Literatur zu Rate zu ziehen. Männer wie
Stanley Hall und William Burnham, beide von Clark University,
Worcester, Mac Millan, Direktor des Institutes für Child Study and
Educational Research zu Chicago, Dr. Goddard von Vineland, N. J. (um
nicht mehr zu nennen), sind Männer von besonderer Bedeutung. Burnham,
der in Amerika am meisten für »mental hygiene« getan hat, redete zwei-
mal, zuerst über die Grundzüge der geistigen Hygiene, dann über die An-
wendung derselben in der Schule. Er betonte besonders die normale
reaction of feelings«, die große Bedeutung des Gefühls- und Gemütslebens
für die geistige Gesundheit, eine mehr oder weniger rhythmische Abwechslung
von Arbeit und Ruhe und die Bildung guter Gewohnheiten im Handeln
und Denken, die das geistige Leben des Kindes regulieren. Von nieder-
ländischer Seite wurde in der Debatte hingewiesen auf die große, in der
Schule zu viel verkannte Bedeutung der Fröhlichkeit für die geistige
Hygiene (oder richtiger der Abwechslung zwischen angestrengter Arbeit und
Fröhlichkeit).
Die »mental hygiene« -Sitzungen waren immer übervoll. Der »conflict
between culture and nature« steht hier im Mittelpunkt des Interesses.
Das Ermüdungsproblem ist hier in den Hintergrund geraten. Wir hörten
hierüber einen Vortrag von Dr. Wilcox, einem der bekanntesten ameri-
kanischen Homöopathen, über die schädlichen Wirkungen schriftlicher
Examina. Dies war eine der angeregtesten Sitzungen, und viele Schul-
männer (auch der von früheren Kongressen her bekannte praktische,
nüchterne Engländer Dr. Kerr) hoben hervor, daß an den ungünstigen
Folgen nur die falsche Art zu examinieren schuld sei. Doch war man
allgemein der Meinung, daß das Gefühlselement (Furcht, Konkurrenz, Eitel-
keit) soviel wie möglich ausgeschaltet werden müßte.
Ein anderer Vortrag, der zu lebhaften Besprechungen Anlaß gab, war
der über den Zusammenhang zwischen Menstruation und Schularbeit
(Dr. Arnold, Yale University, New Haven, Conn.). Der Referent kam zu
dem Schluß, daß im allgemeinen die Menstruation bei gesunden und gut
erzogenen Mädchen keinen ungünstigen Einfluß auf die Schularbeit ausübt.
Daß hier weit auseinander gehende Meinungen sich geltend machen konnten,
ist klar, und am meisten fiel mir dabei der Freimut auf, mit welchem die
amerikanischen Frauen dieses Thema öffentlich behandelten. Rednerinnen,
die die Notwendigkeit größerer Kenntnis der Menstruationspsychologie und
milderer Behandlung der Mädchen während dieser Zeit hervorhoben, fanden
ebensoviel Beifall als diejenigen, die eine Abhärtungsmethode verteidigten.
Die Sitzung über Sexualhygiene und Sexualaufklärung war wie ge-
wöhnlich gedrängt voll, so daß man sogar die Versammlung in das Konzert-
gebäude verlegen mußte.
Dr. Elliot präsidierte in dieser Sitzung. Er erwähnte den großen
Umschwung in den Anschauungen auf diesem Gebiet. Nachdem einige
Vorträge zugunsten der Sexualaufklärung und deren Methoden gehalten
worden waren, wobei manche Redner besonders die Gelegenheiten betonten,
welche der botanische und zoologische Unterricht zur Mitteilung konkreter
24*
372 B. Mitteilungen.
Kenntnis des Fortpflanzungsprozesses biete, ergriff Pater Tierney S. I.
das Wort, der eine ganz andere Richtung vertrat. Auch er erklärte sich
für eine gemäßigte Aufklärung, aber ausschließlich in der Familie. Er
warnte entschieden vor besonderem Unterricht über Sexualfragen. Ab-
lenkung der Gedanken aus dieser Richtung gibt mehr Sicherheit, als wenn
die Gedanken auf diese Gegenstände gerichtet werden, sowohl bei Kindern
als bei Erwachsenen. »Das Wissen ist keine sittliche Kraft«, sagte der
Redner. »Christus und nicht die Hygiene kann die Welt retten. Charakter-
bildung und religiöse Erziehung sind die schützenden Kräfte, nicht das
Wissen. «
Die oft heftigen Debatten wurden von dem hervorragenden, greisen
Präsidenten Elliot in bewundernswürdiger Weise geleitet. Man ging zur
bestimmten Zeit auseinander unter dem Eindruck der tiefen Wahrheit in
beiden Auffassungen. Die großen Gefahren, welche mit zu weit gehenden
Besprechungen sexueller Fragen verbunden sind, wurden von allen
Debattierenden zugegeben. Es fiel mir dabei wieder auf, wie schon öfters,
daß die Familie in Amerika in pädagogischen Fragen wenig mitspricht.
Man bekommt den Eindruck, als ob die Schule alles tun muß. Ich hörte
auch sonst in Amerika fortwährend die Klage, daß die Kraft des Familien-
lebens stark im Abnehmen begriffen sei.
* *
*
Während ich meine Kongreßnotizen durchblätterte, um aus der Viel-
heit des Stoffes noch einiges auszuwählen, was die Leser dieser Zeitschrift
interessieren könnte, drängte sich mir wieder stark der Eindruck der
Vielseitigkeit dieses Kongresses und zugleich der wissenschaftlichen Dis-
ziplin, die dort herrschte, auf. Ich meine das fast gänzliche Fehlen von
Vorträgen, welche interessanter für den Redner als für die Zuhörer sind,
und von solchen, die persönliche Meinung anstatt Erfahrungen und Tat-
sachen bieten. Auch auf wissenschaftlichem Terrain gibt es in Amerika
noch viel unbenutzten Raum. Auch die gewaltigen Summen, welche zu
Unterrichtszwecken und zu wissenschaftlichen Untersuchungen zur Ver-
fügung standen, übten auf diesen Kongreß einen starken Einfluß aus durch
die großartige Anlage manches Experimentes wie auch zahlreicher MaB-
nahmen, welche einer gesunden Jugend zugute kommen werden. Dies
alles jedoch nicht so sehr zum Vorteile des einzelnen Kindes, wie es heute
in Europa der Fall ist, sondern — massiger gedacht — alles als Bruchteil
der großen Bewegung zur Rassenverbesserung. Auch bei technischen Aus-
einandersetzungen bildete dies stets den Grundgedanken. Wenn man die
amerikanische Wissenschaft durch eine einzige Tendenz zutreffend charakte-
risieren müßte, so würde ich keine bessere wissen, als das kühne Trachten
nach einer Neuerschaffung der Menschheit. Alle großen Fragen wurden
von diesem Standpunkt aus beleuchtet. Das wissenschaftliche Interesse
an der Versorgung und Erziehung Schwachsinniger, z. B. wie anderer
geistig und körperlich Minderwertiger, ist gegenwärtig nicht vor allem
pädagogischer oder psychologischer Natur, wie dies noch vor kurzem der
Fall war und bei uns tatsächlich noch ist, sondern ist in Amerika vorwiegend
biologischer Art. Ja, die ganze Erziehung auch Normaler — wir hörten
3. Bericht über den IV. Internationalen Kongreß für Schulhygiene. 373
dies wiederholt und unter allseitigem Beifall aussprechen — wird immer
mehr auf biologischer Grundlage aufgebaut. Nicht das Kind, sondern das
Leben, das Zellenleben der Menschheit ist das Objekt der Erziehung.
Sexuelle Hygiene, Verköstigung in der Schule, Bekämpfung der Kinder-
arbeit, genügender Schlaf, Bekämpfung der Tuberkulose, Geschlechts-
erkrankungen bei Kindern, die Mental-Hygiene, all dies kam auf Rassen-.
verbesserung heraus.
, Zu den interessantesten Sektionsversammlungen zähle ich an erster
Stelle die Sitzung. welche speziell den Untersuchungen mit der Binet-
Methode gewidmet war. Sie wird in Amerika vielfach angewandt; der Mittel-
punkt zur Verbreitung der Kenntnis und der Praxis der Binet-Methoden
ist das psychologische Laboratorium des Dr. Goddard in Vineland, N. J.
In allen Erziehungsanstalten ist wenigstens einer in der Binet-Methode
bewandert, und von jedem Kinde findet man neben dem Alter in Jahren
auch das »mental age« angegeben, d. h. mit welchem normalen Lebensjahre
die intellektuelle Stufe des Kindes übereinstimmt.
In allen Städten, wo ein pädologisches Laboratorium in das Schul-
system eingegliedert ist, wurde von jedem Schulkinde mittelst dieser
Methode die intellektuelle Entwicklungsstufe bestimmt, ebenso wie man
auch die Schwere, die Länge und andere Körpermaße angibt. Diese
Sitzung war fortwährend gedrängt voll, wohl der beste Beweis für das
große Interesse, welches diese Methode in Amerika erregt. Es wurde
sowohl dafür, wie dagegen geredet. Dr. Kuhlmann, Direktor der Staats-
schule für Schwachsinnige in Faribault in Minnesota, hob die Bedeutung
der Binet-Tests für die Gradschätzung Schwachsinniger hervor. Frl. Dr.
Grace Fernald von der staatlichen Normalschule in Los Angelos, Cal.
hatte in der Skala schlimme Fehler und Lücken bei der Anwendung auf
verbrecherische Kinder entdeckt. Dr. Morse aus Columbia, Süd-Carolina
hatte mit Hilfe der Binet-Tests einen Vergleich zwischen weißen und
farbigen Kindern gezogen und bei letzteren einen großen Rückstand des
Intellektes konstatiert. Der Verfasser dieses Berichts referierte über nieder-
ländische Erfahrungen und Untersuchungen auf diesem Gebiet.
Bei der Besprechung der ärztlichen Beaufsichtigung der Schulen
wurde auch hier die wichtige Frage aufgeworfen, ob der Schularzt alle
seine Zeit dem Schuldienst widmen solle, oder ob es vorzuziehen sei,
Schulärzte nebenamtlich anzustellen, so daß jeder eine kleine Anzahl
Schulen zur Beaufsichtigung erhalten würde. In Amerika neigt man sich
für die großen Städte mehr und mehr dem »full time system« zu, welches
in Albany, N. Y. in idealer Weise geregelt zu sein scheint. Dr. Mc Cord
teilte hierüber einiges mit. Dr. Stephani-Mannheim redete in dieser
Sektion über städtische und staatliche Schulärzteorganisation, Dr. Cacace,
Neapel, erstattete Bericht über den Dienst der Schulärzte in Italien, während
über den heutigen Stand der Schulhygiene in England Dr. R. H. Crowley,
Whitehall, einen Vortrag hielt.
Ein Zwischenfall ereignete sich bei der Sitzung, in welcher Dr.
Meißenbach, Arzt am deutschen Krankenhause in Buffalo, Bericht er-
Stattete über seine Untersuchungen über die Entstehung der Kinderlähmung.
374 B. Mitteilungen.
Er glaubt die Ursache in den Eiern einer Fliege gefunden zu haben, und
demonstrierte seine Untersuchungen an einigen Tieren, welche er mit Eiern
und Larven infiziert hatte. Diese Versammlung wurde in einem Lokal
der Höheren Bürgerschule abgehalten. Kurz bevor der Vortrag beendet
war, kam der Direktor, Dr. Vogt, sehr erregt herein und sprach seine
Entrüstung darüber aus, daß diese kranken Tiere in eine Schule gebracht
worden wären, wo sich in einigen Tagen Hunderte von Kindern auf-
halten müßten. Der Vortrag wäre hier ohne seine Einwilligung gehalten
worden, und er forderte den dort anwesenden Chef des Gesundheitsdienstes
auf, die ganze Schule sofort Jesinfizieren zu lassen, was denn auch ge-
schehen ist.
Ein anderer Vortrag handelte von dem Kampf gegen die gewöhnliche
Fliege und ihre Verwandten als einem der eingreifendsten Mittel zur Ver-
hütung von Ansteckung, und von dem Auteil, den die Kinder hieran haben
können.
Die Fürsorge für Schwachsinnige unterschied sich von der in Deutsch-
‘ land und Holland durch zweierlei. Soweit es Schulen betrifft, sind wir
weiter vorgeschritten. In Amerika gibt es nur mit den gewöhnlichen
Schulen verbundene Klassen, und die Mitteilungen über die Einrichtung der
deutschen und holländischen Schulen und hauptsächlich des holländischen
Systems der Staatssubvention erregten großes Interesse und forderten ver-
schiedene Fragen nach Detailangaben heraus. Dr. Borchardt aus Char-
fottenburg sprach in dieser Sektion von dem deutschen Hilfsschulwesen,
Verfasser von dem niederländischen. In betreff der Anstaltversorgung ist.
man aber in Amerika viel weiter vorgeschritten. Sie ist vorzüglich ge-
regelt und hat sich entschieden entwickelt in der Richtung zum »lifelong
care«e. Von einer speziellen Erziehung nervös veranlagter Kinder ist in
Amerika noch nicht die Rede. Auf dem Kongreß bot man nicht mehr
als einen Bericht über psychopathische Schulkliniken.
Am Freitag Morgen hielt Prof. Stanley Hall in der Abteilung
»Schulhygiene, welche sich auf die Familie und die Gesellschaft bezieht«
einen Vortrag über die Hygiene des Geschlechtslebens vor den Pubertäts-
jahren. Der große Saal war bis auf den letzten Platz besetzt und viele
Menschen konnten des Vorrechtes, diesen gefeierten und doch so einfachen
Redner zu hören, nicht teilhaftig werden. Er erklärte große Familien in
einfachen Lebensverhältnissen und mit guter geistiger Atmosphäre als die
beste Umgebung für eine normale und gesunde Entwicklung des kindlichen
Geschlechtslebens. Einfache Aufklärung hielt er für notwendig. Kindliche
Verliebtheiten sind natürliche Entwicklungserscheinungen. Eltern und Er-
zieher müssen dies wissen, sie müssen diese Äußerungen der Kinder ver-
stehen und ja kein Verbrechen darin sehen, sie aber liebevoll überwachen.
Er fand es ganz falsch für die normale Entwicklung des Geschlechts-
lebens, daß der Unterricht in Amerika fast vollständig von Frauen erteilt
werde; sowohl für Knaben wie für Mädchen ist ein gemischtes Unterrichts-
personal am besten. Es ist auffallend (und es trat auch bei dieser Sitzung
wieder hervor), daß die amerikanischen Lehrerinnen dies selber auch
einsehen, wenigstens nicht Stellung dagegen nehmen.
4. Alkoholforschungsinstitute. 375
Allgemeine Sitzungen wurden außer der Eröffnungssitzung nur 3
abgehalten. Eine, echt amerikanisch, war nur der Hygiene des Mundes
gewidmet und dem Publikum ohne weiteres zugänglich. Es war eigent-
lich ein großes Propagandameeting für die Pflege des Mundes. In der
zweiten Sitzung führten die beiden beliebtesten Männer des Kongresses
das Wort, nämlich Dr. Elliot der »grand old man of the U. S.« und
Sir James Grant aus Ottawa »the grand old man of Canada«. Auch diese
Sitzung war eigentlich wieder ein schönes Propagandameeting. Ersterer
legte den Eltern ans Herz, doch den geschlechtlichen Entwicklungsgang
ihrer Kinder mehr zu beobachten und durch zweckmäßige Erziehung richtig
zu leiten. Der zweite Redner führte uns auch wieder zur Familie zurück:
er sprach über die Bedeutung einer zweckmäßigen Ernährung für das
Leben des Kindes. Die Mutter kann durch zweckmäßige Diät ein Gegen-
gewicht gegen die geistige Überernährung, zu der die Schule neigt, bieten.
In der dritten allgemeinen Sitzung sprach Prof. Stanley Hall auch wieder
von der Ernährung, nämlich von der Hygiene des Appetits. Auf Grund
mancher Untersuchungen der Faktoren, welche die Speichelausscheidung
beeinflussen, machte er die Schlußfolgerung, daß man heiteren Sinnes bei
Tische sitzen soll, und daß es für die Verdauung nichts Besseres gebe als
ein angenehmes Tischgespräch — eine Lehre für jene Familien, wo die
Kinder bei Tisch fortwährend gescholten und zurechtgewiesen werden.
In dieser letzten Sitzung wurde ferner beschlossen, daß der nächste
Kongreß in zwei Jahren in Brüssel abgehalten und die Ausstellung
wissenschaftlicher Schriften, welche verschiedene Teile der Schulhygiene
behandeln, permanent gestaltet werden solle.
Ferner wurde eine Resolution angenommen, durch die die Regierung der
Vereinigten Staaten aufgefordert wurde, dem Beispiele Italiens zu folgen,
und einige alte Kriegsschiffe zu Seeluftschulen und Seekrankenhäusern für
tuberkulöse Kinder zur Verfügung zu stellen.
4. Alkoholforschungsinstitute.
Immer mehr stellt sich als unabweisbare Tatsache heraus, daß es im Kampfe
mit dem Erzfeind alles Kultur- und Menschenlebens, dem Alkohol, noch eine Menge
ungelöster Fragen gibt, daß hier noch viele Probleme der Erforschung harren, eine
Fülle von wissenschaftlichen Arbeiten bietend für Mediziner, Psychologen, Soziologen
und Statistiker. In der richtigen Erkenntnis dieser Tatsachen haben ärztlich-wissen-
schaftliche Kreise, unterstützt durch die Geschäftsstelle des deutschen Vereins gegen
den Mißbrauch geistiger Getränke in Berlin ein Thema angeschnitten, das von nicht
zu unterschätzender Bedeutung sein dürfte für unsere Volkskraft, für unsere Volks-
gesundheit, — es ist die Frage der »Alkoholforschungsinstitute«. Schon
ist eine Denkschrift ausgearbeitet. Ein Aufruf, der von fast 100 der angesehensten
Ärzte und Professoren Deutschlands, Österreichs und der Schweiz unterzeichnet ist,
wird demnächst der Öffentlichkeit unterbreitet werden.
In Nr. 9/10 der »Mäßigkeitsblätter«e 1913 nimmt das Verwaltungsausschuß-
mitglied des »Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke«, Sanitäts-
rat Dr. B. Laquer- Wiesbaden, zu dem Thema Stellung, seine Ansichten und Pläne
äußernd. Es sollte ein solches Institut selbständig sein, enthaltend Abteilungen
für Physiologie, Pathologie, Psychologie, Soziologie und Statistik. Als empfehlens-
wert dürfte erscheinen der Anschluß einer klinischen Abteilung für Alkohol-
kranke. Unbedingt notwendig wird aber sein ein Laboratorium für Tierexperimente.
376 B. Mitteilungen.
Was die mae des Ortes anbelangt, so dürften in Frage kommen: Berlin, Hemburg,
Bremen, Halie, Breslau, Königsberg, München, Leipzig, Köln, Dresden, Frankfurt a. M.
Als Grund hierfür wird angegeben, »weil in diesen Zentren zahlreiche wissen-
schaftliche Kräfte mit ihren Hilfsmitteln, Bibliotheken usw. in gegenseitiger Beein-
flussung zu wirken imstande sind, und weil das Alkoholelend der Großstädte (leider)
besonders geeignete Verhältnisse (Erkrankungen, Zusammenbruch und Degeneration
von Familien, Verbrechen usw.) zum Studium darbietet.e Gefordert wird weiter:
»das Institut soll die Tatsachen unabhängig und rein finden und darstellen, die alten
Forschungsergebnisse auf ihre Zuverlässigkeit prüfen, neue hinzufügen, nur im
Dienste der Verhütung und Bekämpfung einer Volkskrankheit.« Was schließlich
die Deckungsfrage, den Kostenpunkt anbelangt, so sind dafür in Aussicht
genommen:
1. der Staat, welcher die Trunksucht als Volkskrankheit zu bekämpfen und in
Krankenhäusern, Irrenanstalten, Gefängnissen usw. der Opfer und Nachkommen
der Trunksucht mit riesiger geldlicher Belastung sich anzunehmen hat; F
die Gemeinden, mit den gleichen pflichtgemäßen Interessen;
die Organe der Arbeiterversicherung (gesetzliche Pflicht der vorbeugenden
Fürsorge; für die Krankenkassen vom 1. Januar 1914 neu eingeführt);
Wohlfahrtseinrichtungen und Antialkoholorganisationen;
Menschenfreunde als Stifter (Kaiser Wilhelm-Gesellschaft Berlin).
Möchte der Gedanke sich bald verwirklichen, möchte er bald in die Tat um-
gesetzt werden zum Nutzen und Segen unseres deutschen Volkes.
Worms. Georg Büttner.
ge ww
5. Preisausschreiben.
Die Psychologische Gesellschaft zu Berlin hat beschlossen, eine
Preisaufgabe zu stellen. Als Thema ist gewählt: »Beziehungen zwischen
der intellektuellen und moralischen Entwicklung Jugendlicher.« Der
Umfang der Arbeit soll 14 Bogen nicht überschreiten. Sollten jedoch die Unter-
suchungstahellen besonders umfangreich werden, so ist ein Überschreiten dieser
Grenze zulässig. Die Arbeiten müssen bis zum 1. Juni 1915 abgeliefert sein; die
Ablieferung hat stattzufinden bei dem Vorsitzenden der Psychologischen Gesellschaft,
Herrn Sanitätsrat Dr. Albert Moll, Berlin W. 15, Kurfürstendamm 45. Um
die Anonymität zu wahren, sollen die Arbeiten an der Spitze ein Stichwort tragen.
Dieses Stichwort soll mit der genauen Adresse des Bearbeiters in einem versiegelten
Kuvert der Arbeit beigefügt sein. Die Arbeiten müssen mit Schreibmaschine ge-
schrieben sein. Der ausgesetzte Pıeis beträgt 750 M; eine Verteilung der Summe
auf mehrere Arbeiten ist zulässig. Preisrichter sind die Herren Professor Dr. Meu-
mann in Hamburg, Sanitätsrat Dr. Albert Moll in Berlin und Professor Dr.
William Stern in Breslau. Die Preisverteilung findet nach Mehrheitsbeschluß
statt, doch steht in besonderen Fällen jedem Preisrichter ein Vetorecht zu. Die
Psychologische Gesellschaft hat das Recht, die Arbeit oder die Arbeiten, denen ein
Preis zuerkannt ist, in ihr Eigentum übergehen zu lassen und in ihren Gesellschafts-
schriften zu publizieren.
Unter Jugendlichen sind nicht nur junge Leute von etwa 14 bis 18 oder
20 Jahren, d. h. solche jenseits des eigentlichen Kindesalters, zu verstehen; es ist
vielmehr das eigentliche Kindheitsalter eingeschlossen. Es ist auch statthaft, bei
sonst fehlendem Untersuchungsmaterial die Untersuchungen ausschließlich beı Kindern
bis zu 14 Jahren vorzunehmen. Immerhin wäre es wünschenswert, daß auch die
der eigentlichen Kindheit folgenden Jahre berücksichtigt werden.
Was die Methoden der Untersuchung betrifft, so werden bestimmte Vor-
schriften über die Wahl der Methode nicht gemacht. Um den Grad der intellektuellen
Entwicklung festzustellen, sei auf folgendes hingewiesen: Es wird sich empfehlen,
verschiedene Methoden anzuwenden, besonders sich nicht auf die Prüfung einer
einzigen intellektuellen Fähigkeit, z. B. die Kombinationsmethode oder die Ebbing-
haussche Ergänzungsmethode zu beschränken, weil sonst die Gefahr vorliegt, daß
die Prüfung der intellektuellen Entwicklung einseitig wird.
6. Zeitgeschichtliches. 377
Auch die Prüfung der moralischen Entwicklung soll nach möglichst mannig-
faltigen Methoden erfolgen. Wünschenswert ist es, sich nicht nur auf die Beant-
wortung von Fragen zu stützen, die dem Kinde vorgelegt werden, obwohl die Frage-
methode berücksichtigt werden kann. Es ist zu empfehlen, wenn möglich auch
Beobachtungen über die objektive Handlungsweise des Jugendlichen und über das
gesamte Benehmen der Kinder bei der Prüfung zu sammeln und zu verarbeiten;
doch muß es dem Bearbeiter überlassen bleiben, nach den zur Verfügung stehenden
Untersuchungsmöglichkeiten die Methoden zu bestimmen. Im ganzen hat die
Prüfung der moralischen Entwicklung sich möglichst zu erstrecken auf die sittlichen
Gefühlsreaktionen, die sittlichen Urteile (die sittliche Einsicht), das sittliche Wollen
und wenn möglich das sittliche Handeln des Jugendlichen.
Selbstverständlich ist eine Untersuchung normaler Jugendlicher erwünscht;
es sind höchstens zu Vergleichszwecken Befunde von abnormen und kriminellen
Jugendlichen anzureihen.
6. Zeitgeschichtliches.
Gegen die Warnung vor der Anwendung der psychanalytischen
Methode auf Kinder und Jugendliche (diese Zeitschrift, XIX, 3, S. 184) wendet
sich eine »Verwahrung gegen irrtümliche Beurteilung der Jugend - Psychanalyse«,
die außer von Bovet, Claparede, Flournoy, Pfister von verschiedenen Schweizer
Lehrern und Pfarrern und von Ernst Linde-Gotha als einzigem reichsdeutschen
Pädagogen unterzeichnet ist. Vor dilettantischer Kinderanalyse warnt man zwar,
betont aber, daß die Pädagogik ein starkes Interesse an der Ausbildung der wissen-
schaftlichen Pädanalyse habe; in der Psychanalyse sei nicht nur die Untersuchung
und Aufdeckung der Sexualität zu sehen. »Wir sind überzeugt, daß auch diejenigen
Kräfte des unbewußten Seelenlebens zu erkennen sind, die den Menschen seiner
höchsten Bestimmung zuführen. Somit wird die Psychanalyse ganz besonders auch
bewußt zu machen haben, welche unbewußten Hemmungen zu beseitigen, und
welche persönlichen Lebensaufgaben zu erfüllen sind. In wissenschaftlicher Hin-
sicht soll die Pädanalyse denjenigen Interpretationen den Vorzug geben, die den
Normen der Induktion entsprechen.«
Eine internationale Städte- Ausstellung mit besonderer Berücksichtigung der
Schule und ihrer Einrichtungen soll vom 1. Mai bis 1. November 1914 in
Lyon stattfinden.
Anläßlich des 60jährigen Regierungsjubiläums des Kaisers wurde am 19. Okt.
1913 in Hlonbetin bei Prag ein neues Fürsorgeheim für Schwachsinnige
errichtet.
Neue Schulzahnkliniken erhielten Potsdam und Zehlendorf-Berlin.
Ein Einführungs-Hilfsschulkursus findet vom 26. April bis 18. Mai
1914 in Bonn statt. Anfragen an Rektor Lessenich, Bonn, Beethovenstraße 3.
Der deutsche Verein für Schulgesundheitspflege hält seine Jahres-
versammlung vom 3.—5. Juni 1914 in Stuttgart ab. Auf dem Programm stehen
u. a. Vorträge über Fraktur oder Antiqua im Anfangsunterricht und über die ge-
sundheitliche und pädagogische Bedeutung der Schulstrafen. In der gleichzeitig
tagenden 6. Versammlung der Schulärzte Deutschlands wird über den
Schularzt an Fortbildungsschulen und über den schulärztlichen Dienst an höheren
Knaben- und Mädchenschulen referiert.
Der Verband deutscher Lehrervereinigungen für Schulgesund-
heitspflege tagt Pfingsten 1914 in Kiel. Hinausschiebung des Schulaufnahme-
alters und Hygiene im Lehrplan der Schulen und Lehrerbildungsanstalten sind die
Verhandlungsthemata.
Stiftungen, Geschenke usw.: der Stadt Cöln ein Kapital von 1090000 M.,
dessen Zinsen kranken und schwachen Frauen, Jungfrauen und Kindern zu Heil-
kuren, zum Aufeuthalt in Walderholungsstätten, Ferienkolonien usw. zugute kommen
sollen; der Stadt Berlin 5 Millionen Mark zur Anlegung und Unterhaltung einer
Waldschule für gesunde und vor allem nicht erblich belastete Knaben, in deren
378 B. Mitteilungen.
Unterricht das Hauptgewicht auf neue Sprachen und Naturwissenschaften gelegt
wird, und zu deren Ergänzung umfangreiche Wanderungen gemacht werden sollen;
der Stadt Charlottenburg eine Million Mark für arme skrofulöse oder
schwächliche Kinder evangelischer Konfession zu Solbadekuren (die Stadt plant
die Errichtung einer eigenen Anstalt in der Nähe eines Solbades); dem freiwilligen
Erziehungsbeirat für schulentlassene Waisen in Berlin wurden zum Bau eines
Mädchenerholungsheimes vom Kaiser 10000 Mark geschenkt; der Stadt Saal-
feld 40000 Mark für ein Kinderheim.
Eine Warnung vor der Coeducation erläßt auf Grund seiner langjährigen
Erfahrungen in den Vereinigten Staaten von Amerika Charles L. Henning
(Denver, Colo.) in der »Deutschen Schule«, XVIII, 12 (Dez. 1913), S. 774—782.
Sie gipfelt in folgendem Satz: »Will man also in Deutschland auf eine Degenerierung
der Jugend hinarbeiten, nun gut, dann gebe man ihr Coeducation, der Rest wird
sich dann von selbst einstellen.«
Einen Aufruf »zum Kampf gegen das Schundkino, den schändlichen Jugend-
verderber, zum Kampf für das gute Kino, den trefflichen Helfer in Unterricht und
Jugendpflege« verfaßte Professor Dr. Sellmann (Hagen i. W.) unter der Überschrift
»Kinematograph und Jugendpflege«.
Unter dem Titel »Die Jugend- und Kinder-Lese-Halle« gibt General-
sekretär Pastor lic. Bohn-Plötzensee bei Berlin zwanglose Blätter heraus, deren
erstes über Kinderlesehallen in Hannover und Berlin berichtet.
Ein erfreuliches Bild gibt der Sechste Jahresbericht der Arbeitslehrkolonie
und Beobachtungsanstalt »>Steinmühle« Obererlenbach für das Rechnungs-
jahr 1912—13, der uns von der Geschäftsstelle Frankfurt a. M, Stiftstraße 30, zu-
ging. Bisher waren 146 Zöglinge in der Anstalt untergebracht, von denen nach
Entlassung von 120 am 1. Oktober 1913 noch 26 in ihr verblieben.
Erfreuliche Erfolge in der Volksaufklärung erzielte die prov. sächsische
Wander-Wohlfahrt- Ausstellung, deren Bericht soeben erschienen ist (Nordhausen,
Hohekreuzstraße 15). In 39 Ausstellungen wurden bis Dezember 1913 rund
110000 Besucher gezählt. Eigenartig ist der Kampf der Ausstellung gegen die
Schundliteratur: 4—5 Schundschriften werden gegen ein Heft der »Deutschen
Jugendbücherei« eingetauscht. Auf diese Weise wurden bisher 23000 Schundhefte
vernichtet. Die Leitung der Ausstellung liegt in der Hand des Lehrers Gustav
Temme-Nordhausen am Harz.
Der katholische Lehrerverband des Deutschen Reiches wird zu seiner Jahres-
versammlung in Essen Ostern 1914 eine Ausstellung für Jugendpflege ver-
anstalten, die den ganzen Mai und Juni über währen soll.
Die Satzungen der Robert-Rißmann-Stiftung und die Aufforderung zur
erstmaligen Bewerbung um den Ehrensold aus dieser Stiftung (Zinsen von 3000 M.)
sind im Januarheft 1914 (X VIII, 1) der »Deutschen Schule« veröffentlicht. Die
Aufforderung erscheint gleichzeitig auch in der »Pädagogischen Zeitung«.
Der geschäftsführende Ausschuß des Bundes Deutscher Tuubstummenlehrer
veranstaltet ein Preisausschreiben zur Erlangung von Schriften für
schulentlassene Taubstumme, die ihren Stoff aus dem Gebiete der vater-
ländischen Geschichte oder der deutschen Heldensage entlehnen. Zur Verteilung
gelangen fünf Preise in Höhe von zusammen 300 Mark. Umfang: 5 Druckbogen
in Kleinoktav mindestens (es können mehrere Arbeiten in einem Bändchen zu
diesem Umfange vereint werden). Einsendefrist: 1. August 1914. Näheres darüber
in den »Blättern für Taubstummenbildunge, XXVII, 3 (1. Februar 1914), S. 34.
Die Verordnung des Großh. Badischen Ministeriums des Kultus und des Unter-
richts, die Schulärzte an den Volksschulen betreffend, vom 29. Oktober
1913, ist in der »Zeitschrift für Schulgesundheitspflege«, 27, 1 (Januar 1914), S. 85
bis 95, im Wortlaut mitgeteilt. Besonders beachtenswert ist die Anweisung für die
arztliche Untersuchung der Schulkinder und der Personalbogen.
In der Sitzung des ärztlichen Vereins in Frankfurt vom 1. Dezember 1913
erstattete von Mettenheimer den Bericht der Kommission zur Erforschung
der Kinderlähmung in Frankfurt a.M. im Jahre 1913 (vergl. Münch. Med.
C. Zeitschriftenschau. 379
Wochenschrift, Jg. 61, 4, 27. Januar 1914, S. 212—213). In 38 gemeldeten Fällen
stand die Krankheit sicher fest. Hauptsächlich wurde das 2. und 3. Lebensjahr
betroffen, zeitlich war der Höhepunkt der September. Das engbewohnte Zentrum
der Stadt blieb ganz verschont, so daß es nicht absolut ausgeschlossen erscheint,
daß Haustiere mit der Kinderlähmung in Beziehung zu bringen sind.
Ein Verzeichnis der an allen großen öffentlichen Bibliotheken
Deutschlands vorhandenen Zeitschriften, daß etwa 16000 Titel umfassen
soll, wird von der Auskunftsstelle der deutschen Bibliotheken in Berlin herausgegeben.
Es wird von der Kgl. Bibliothek in Berlin zum Preise von 6 Mark bei Bestellung
bis zum 15. Februar (danach 10 Mark) zu beziehen sein. Der Umfang wird nahezu
300 Seiten betragen.
Das Archiv deutscher Berufsvormünder e. V. zu Frankfurt am Main
(Stiftstraße 30) versendet einen Bericht, der über Zweck und Aufgaben orientiert,
ferner über Veröffentlichungen, Satzungen, Mitglieder, die. Auskunftstätigkeit im Ge-
schäftsjahr 1912/13 und über die geplanten Vierteljahrshefte über die Entwicklung
der Fürsorge für Kinder und Jugendliche. Außerdem enthält der Bericht zwei
Karten über die Rechtsstellung des unehelichen Kindes in Europa und im deutschen
Reiche vor dem 1. Januar 1900.
Die Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung, Berlin NW 52,
Lüneburger Straße 21, hat ihren Katalog »Bücher für Volksbüchereien« in 15. Aus-
gabe unter dem Titel »Deutsche Volksbücherei« neu herausgegeben. Der 98 Seiten
umfassende Katalog wird umsonst abgegeben. Im Kampf gegen die Schundliteratur
wird er gute Dienste tun, da die für die Jugend geeigneten Bücher besonders ge-
kennzeichnet sind.
Zwei Fröbelbücher gingen uns von H. Bahlsens Keks-Fabrik in Hannover
zu. Sie enthalten Anleitungen zu Papp- und Klebearbeiten, zusammengestellt von
einer Lehrerin (Friedlene Otto), die aus den leeren Keks-Packungen ohne viel Mühe
herzustellen sind. Für Lehrer und Lehrerinnen an Hilfsschulen, auf der Unter-
stufe, in Kindergärten usw. bringen die nett ausgestatteten Bücher, die die Firma
auf Verlangen kostenlos übersendet, manche Anregung.
Unter dem Titel »Das freie Zeichnen und Formen des Kindes« er-
schien im Verlage von Johann Ambrosius Barth in Leipzig eine Sammlung von
Abhandlungen aus der Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische
Sammelforschung. Der Band wurde mit Unterstützung des Magistrats der Stadt
Breslau von Hermann Grosser f und William Stern herausgegeben. Der Preis be-
trägt bei einem Umfang von VI und 260 Seiten nebst 56 Tafeln 10 Mark.
C. Zeitschriftenschau.
Kinderschutz und Jugendfürsorge.
Erfolge.
Klumker, Armenpflege und Kinderfürsorge im letzten Jahrhundert in Deutschland.
Zeitschrift für das Armenwesen. 1913, Heft 1.
Die Arbeit gibt einen sehr schönen Überblick. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts
war innerhalb der öffentlichen Armenpflege sehr viel Platz für die Kinderfürsorge.
Später trat ein Rückschlag ein, wenn auch immer noch innerhalb der Armenpflege
Kinderfürsorge getrieben wird. Durch das unvollständige Versorgen der Kinder
durch die öffentliche Armenpflege ist zum Teil das Auftreten neuer Fürsorgemaß-
nahmen wie der Zwangserziehung zu erklären. r
Muggiani-Griffini, Gemma, Einiges über Entstehung und Verbreitung der
»Case dei bambini«e. Der Säemann. 1913, 9 (30. September), S. 401—409.
Einige lose Notizen aus dem Werdegang der Kinderheime der Maria Montessori.
\
380 C. Zeitschriftenschau.
Hunold, A., Meine abstinente Schule »Jugend«. Deutscher Guttempler. 22, 6
(14. März 1913), S. 84—86.
Anschauliche Schilderung der Arbeit in einer Organisation, die vor 6 Jahren
neben der Elementarschule hergehend in Berge-Borbeck bei Essen ins Leben gerufen
wurde. Der Abstinenzverein, um den es sich dabei handelt, zählt heute 245 Kinder
und 400 Schulentlassene. -— Der Verfasser appelliert zum Schluß in warmen
Worten an die Lehrer, da er bisher noch keinen Kollegen zu der schweren Jugend-
Pflegearbeit. bei dem das eigene Beispiel nahezu alles wirkt, zu gewinnen vermochte.
Paulsen, Rudolf, Beispiele eines freien Schülergerichts. Pädagogischer Anzeiger
für Rußland. 5, 8 (28. August 1913), S. 449—453.
Nach Paulsen bietet Berhold Ottos Hauslehrerschule seit 1908 solche Beispiele,
die man also nicht erst aus Amerika herüberzuholen brauche. Er macht einige Be-
merkungen über die Schülergerichte im allgemeinen, gibt einen Auszug aus einem
früheren Protokoll und berichtet über die jetzige Verfassung. Wenn er meint, daß
noch kein Besucher sich dem »ganz gewaltigen Eindruck des Schülergerichts« an der
Hauslehrerschule habe entziehen können, so befindet er sich doch wohl im Irrtum.
Der Wert dieser Institution gerade an der Hauslehrerschule ist z. B. erst kürzlich
(Deutsche Schule, Jg. 17, 8, August 1913, S. 470) von Wilker sehr stark angezweifelt.
Ziegler, C., Strafe und Erziehung. Die pädagogische Praxis. 1, 3 (Dezember
1912), S. 166—169.
Kurzer Bericht über die wesentlichsten Ergebnisse des 3. deutschen Jugend-
gerichtstages 1912 in Frankfurt a. M., bei dem in besonders erfreulicher Weise das
immer tiefere Eindringen des Erziehungsgedankens in das Jugendstrafrecht zum
Ausdruck kam.
Ziegler, C., Zur Kriminalpädagogik. Deutsche Blätter für erziehenden Unterricht.
40, 30 (18. April 1913), S. 296—299.
Kurzer Rückblick über die bisherige Entwicklung und Bericht über die Referate
auf dem dritten deutschen Jugendgerichtstag in Frankfurt a. M. (Oktober 1912).
Katscher, L., Das »Foundling Hospitale in London. Zeitschrift für Jugend-
erziehung. IV, 4 (1. November 1913), S. 104—108.
Es wurde 1741 durch Kapitän Thomas Coram ins Leben gerufen, aber zu-
nächst nicht nach seinem Willen geleitet. Es entwickelte sich dann aber doch zu
einem geordneten Institut, das nunmehr ganz verlassene Kinder unter nicht gerade
leichten Bedingungen aufnimmt (vollkommene Verzichtleistung der Mütter auf ihr
Kind). Bis zum vierten Lebensjahre werden die Kinder auf dem Lande aufgezogen,
von da ab in dem Hospital in London, das die Knaben bis zum 14., die Mädchen
bis izum 16. Jahre behält. Durchschnittlich werden 500 Kinder beherbergt. Die
Erziehungserfolge werden sehr gelobt.
Müller, P. G., Die Wirkung der Fürsorge auf die schulpflichtigen Kinder. Der
Säemann. 1913, 6 (24. Juni), S. 253—256.
Mit der Ausbreitung der Fürsorgemaßnahmen muß, falls ihr Zweck erreicht
wird, die Zahl der Schüler und Schülerinnen, die das Ziel der Schule erreichen
größer werden. In den Hamburger Volksschulen erreichten 1902 von 100 Kindern
rund 59 das Ziel, 1912 rund 64. Diese Besserung ist vor allem auf die Fürsorge-
maßnahmen zurückzuführen. Müller meint, daß bei der umfassendsten und in-
tensivsten Fürsorge annähernd 25 °/, der Schulkinder das Ziel doch nicht erreichen
werden, weil sich ja nicht alle hemmenden Momente durch Fürsorgemaßnahmen
beheben lassen (wie Begabungsmangel, häufige Umschulung u. ä.).
C. Zeitschriftenschau. 381
Die Jugendpflege in den Berliner Pflichtfortbildungsschulen. Deutsche
Blätter für erziehenden Unterricht. 40, 34 (16. Mai 1913), S. 338—339.
Einige Zahlen und Notizen nach einem Bericht der »Vossischen Zeitunge. Sie
lassen erkennen, daß man mit den zur Verfügung stehenden Mitteln ganz gute Er-
gebnisse erzielt hat.
Schmidt, Willy, Der Wert freiwilliger Bestrebungen zur Tüchtigmachung der
Jugend für die Charakterbildung. Deutsche Blätter für erziehenden Unterricht,
40, 39 (20. Juni 1913), S. 381—384; 40 (27. Juni), S. 393—396; 41 (4. Juli),
S. 405—408.
Den freiwilligen Bestrebungen zur Ertüchtigung der Jugend wohnt ein großer
Wert für die Charakterbildung inne, wie das im einzelnen und für verschiedene
Organisationen deutlich gezeigt wird.
Foerster, Ernst, Jugendpflege und Gartenbau. Der Säemann. 1913, 8 (26. August),
8. 345—348.
Die Erfahrung mit der Gartenarbeit der Pfadfinderinnen in Hamburg lehrt,
daß es ratsam ist, schon bearbeitetes Land für die Gartenanlagen zu erwerben und
jedem Kinde seinen eigenen kleinen Garten zuzuerteilen. Im allgemeinen wurde in
Hamburg regelmäßig Mittwochs von 5—7 Uhr gearbeitet. Durchschnittlich kamen
40—50 Mädchen zum Gartenbau.
Foerster, Ernst, Gesundheit und Gartenbau. Der Arzt als Erzieher. 9, 8
1913), 8. 97—98.
Im wesentlichen mit der vorhergehenden Arbeit übereinstimmend.
Lion, Alexander, Die Pfadfinder- und Wehrkraftbewegung und ihre Ursachen.
Der Arzt als Erzieher. 9, 1913, 8, S. 69—78.
Der Begründer der deutschen Pfadfinderbewegung berichtet über diesen Zweig
der Jugendpflege und vor allem über die Momente, die ihn dazu führten, die Pfad-
finderbewegung in Deutschland durchzusetzen.
Gerlach-Wintzer, Elisabeth, Die Pfadfinderinnenbewegung. Der Arzt als Er-
zieher. 9, 6, 1913, S. 78—80.
Vorwiegend Bericht über die Pfadfinderinnenbewegung in München.
Lux, Joseph Aug., Gut Pfad! Der Säemann. 1913, 10 (7. November), S. 460
bis 464.
Eine Würdigung der Pfadfinderbewegung, zum Teil wohl eine mächtige Über-
schätzung der »Gentlemen des Herzens«.
Ein Streifzug durch die Wiener Jugendschutzvereine. Zeitschrift für
Kinderschutz und Jugendfürsorge. V, 1 (Januar 1913), S. 1—8; 2 (Februar),
S. 40—46; 3 (März), S. 72—79.
In einer Reihe von Skizzen wird die tägliche Arbeit der Wiener Kinderschutz-
vereine im engeren Sinne und der verwandten Bestrebungen beleuchtet. Es be-
richten Helene v. Gunesch über den Pestalozziverein; Marie Eder über den katholi-
schen Fürsorgeverein für Frauen, Mädchen und Kinder; M. v. Wettstein über den
Krüppelfürsorgeverein »Leopoldineum«; Robert Truxa über die österreichische
Mädchen- und Kinderschutzliga; Mina Boscovitz über Wiener Stillkassen; E. Teuber
über das Erdberger Jugendheim; Br. Pius über das Calasantinum (Lehrlingsfürsorge);
Rosa Wien über die Auskunftsstelle für Wohlfahrtseinrichtungen; Eduard Prinz
Liechtenstein über den charitativen Verein »Kinderschutzstationen«.
Forcher, Hugo, Ein Kataster der Anstalten und Einrichtungen für Kinderschutz
und Jugendfürsorge in Wien, Nieder- und Oberösterreich, Salzburg und Steier-
382 C. Zeitschriftenschau.
mark. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. V, 10 (Oktober 1913),
S. 277—281.
Nach mancherlei Schwierigkeiten gelang es, in dem Kataster ein wertvolles
Nachschlagewerk für Pflegschaftsrichter, Berufsvormünder und alle in der Jugend-
fürsorge tätigen Organe zu schaffen.
Gold, Josef, Zur Entwicklung und Organisation der städtischen Berufsvormund-
schaft in Wien. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. 5, 6 (Juni
1913), 8. 157—163.
Am 1. Juni 1911 begann die städtische Berufsvormundschaft in Wien, zunächst
nur für die unehelichen Kinder der Armenpflege. Am 6. September 1912 wurde
sie auf alle unehelichen Kinder ausgedehnt. Die Einrichtungen werden besprochen.
Klumker, Chr. J., Die Berufsvormundschaft als Organisationsform des Kinder-
schutzes. Die Grenzboten. 1913, Heft 6.
Der Aufsatz gibt einen Überblick über die Entwicklung der Berufsvormund-
schaft, zu deren Ausbau in Deutschland Taube in Leipzig wesentlich beitrug. >So
entsteht die organisierte Vormundschaft, die Berufsvormundschaft als notwendige
Fortbildung der älteren Vormundschaftsform und als Mittelpunkt für den modernen
Ausbau unserer Kinder- und Jugendfürsorge öffentlicher und privater Art.«
Büchsel, Organisation der Familienpflege. Der Monatsbote aus dem Stephansstift.
34, 3 (März 1913), S. 39—41.
Es wird die Organisation der Famlienpflege in der Provinz Westfalen kurz
beschrieben. Der evangel. kirchliche Erziehungsverein dieser Provinz hat zurzeit
etwa 1350 Kinder in Familienpflege untergebracht. Bemerkenswert ist, daß alle
Kinder eine Aufnahmeanstalt zu passieren haben. Die Lohnguthaben der Pfleg-
linge werden von einer Zentrale verwaltet.
Dumont, P., Das Gesetz vom 1. Dezember 1912 über die Armenpolizei und die
Enthaltungs- und Arbeitsanstalten und seine Bedeutung für Kinder- und Frauen-
schutz. Monatsblatt des Kant.-Bernischen Vereins für Kinder- und Frauenschutz.
15. August 1913, S. 3—7; 15. September, S. 9—11.
Allgemeine Betrachtungen, Hervorhebung der Hauptpunkte des materiellen
Inhalts des Gesetzes.
Erfurth, Rheinisch -westfälischer Jugendschutz. Der Rettungshaus-Bote. 33, 6
(März 1913), S. 128—129.
Am 8. Januar 1913 erfolgte in Elberfeld ein Zusammenschluß des rheinisch-
westfälischen Jugendschutzes. Auskunft erteilt das Büro: Richter Landsberg, Lennep
(Rheinland).
Die Deutsche Landeskommission für Kinderschutz und Jugendfürsorge
in Böhmen. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugenfürsorge. 5, 4 (April 1913),
S. 104—111.
Ausführlicher Bericht über die Entstehungsgeschichte und die Wirksamkeit.
Verbunden ist hier die private mit der öffentlichen Wohltätigkeit. Es sind ganz
erfreuliche Erfolge zu verzeichnen. Gewünscht wird eine gesetzliche Regelung der
Jugendfürsorge für Böhmen.
Kuhn-Kelly, Über die Tätigkeit der amtlichen Jugendschutzkommission der Stadt
St. Gallen. Zeitschrift für Jugenderziehung und Jugendfürsorge. 3, 14 (1. April
1913), S. 417—419; 15 (15. April), S. 442—445.
Im Kanton St. Gallen bestehen 32 Jugendschutzkommissionen, die nach des
Verfassers Ansicht nicht den Charakter eines eigentlichen Strafgerichts tragen sollen.
D. Literatur. 383
Die Pflichten der Jugendschutzkommissionen sind angegeben iu einigen Artikeln
des Einführungsgesetzes zum Zivilgesetzbuch, die mitgeteilt werden. Der Tätigkeit
der seit Juni 1912 bestehenden Jugendschutzkommissionen der Stadt St. Gallen ist
der Hauptteil der Arbeit gewidmet. Er bringt einige Beispiele aus der Arbeit.
D. Literatur.
Deutsche Blindenanstalten in Wort und Bild. Hoerausg. von Immanuel
Matthies, Direktor der Königl. preußischen Blindenanstalt in Berlin -Steglitz.
Halle a. S.. Carl Marhoid, 1913. XII u. 459 S. 426 Abb. Preis 14 M.
Das Werk ist als 5. Abteilung des eigenartigen Sammelwerkes »Die Anstalts-
fürsorge für körperlich, geistig, sittlich und wirtschaftlich Schwache im Deutschen
Reiche in Wort und Bild« erschienen. Der Herausgeber hat sich zur Einfügung
der Blindenanstalten in diese Sammlung deswegen für berechtigt gehalten, weil die
Blinden ohne Zweifel zu den wirtschaftlich Schwachen gerechnet werden müssen.
Das Buch enthält Nachrichten über alle Blindenanstalten, sowie über fast alle
Blindenheime und sonstigen Fürsorgeeinrichtungen des Deutschen Reiches.
Großes Interesse hat das Werk zunächst für den Fachmann. An der Hand des-
selben kann er im Geiste eine Reise durch die mannigfaltigen Anstalten unter-
nehmen, ihre Baulichkeiten, Eirrichtungen und besonderen Eigentümlichkeiten kennen
lernen. Die in fast allen Artikeln enthaltenen Mitteilungen über die Entstehung der
Anstalten sind von großem geschichtlichen Interesse, da sie zeigen, wie die meisten
Anstalten auf Anregung einzelner großer Männer aus kleinen Anfängen und unter
den größten Schwierigkeiten sich entwickelt haben. Die Angaben über Baulichkeiten
und Einrichtungen können den Fachmännern bei Neubauten ratend zur Seite stehen,
um so mehr als den meisten Abschnitten Abbildungen und Lagepläne beigegeben
sind. Den jüngeren Kollegen kann das Werk bei der Einarbeitung in die Blinden-
pflege des Deutschen Reiches ein guter und zuverlässiger Führer sein.
Ebenso wird jeder, besonders der sozial-politisch interessierte Laie das Buch
mit Gewinn lesen, da es ihm Aufschluß gibt, wie ausgedehnt, weitverzweigt und
mannigfaltig die Blindenpflege im Deutschen Reiche ist, und wie weit staatliche und
kommunale Behörden, sowie aufopferungsfreudige Privatpersonen am Werke für die
Blinden beteiligt sind. Schließlich sei auch den in Frage kommenden Behörden das
Werk zur Anschaffung warm empfohlen.
Das Werk ergänzt in außerordentlich wertvoller Weise sowohl das »Enzy-
klopädische Handbuch des Blindenwesens« von A. Mell, als auch den vom Schulrat
Matthies verfaßten Aufsatz über das Blindenwesen in dem zur Weltausstellung
=: Louis 1904 erschienenen Werke von Lexis »Das Unterrichtswesen im Deutschen
iche«.
So hat der Herausgeber, der das Werk den Mitgliedern des vom 21.-—-24. Juli
1913 stattgehabten Kongresses in liebenswürdiger Weise gewidmet und verehrt hat,
nicht nur eine empfindliche Lücke ausgefüllt, sondern sich gleichzeitig ein neues
Verdienst um die Förderung des Blindenwesens erworben.
Hamburg. Blindenlehrer P. Grasemann.
Marholds Bücherei, zur Anregung und Förderung für unsere Jugend, heraus-
gegeben von E. Schulze, Halle a. S. und O. Kampe, Hamburg. Heft 1:
Robinson, bearbeitet von Otto Kampe. Preis 0,60 M.
Diese Bücherei, deren 1. Heft mit dem Robinson erschienen ist, ist vor allem
für Hilfsschulen bestimmt. Man könnte wohl die Frage aufwerfen: Ist es nötig, daß
angesichts der vielen Sammlungen guter Jugendschriften noch eine neue Ausgabe
veranstaltet wird? Man muß diese Frage bejahen, denn es ist tatsächlich sehr schwer,
aus den vorhandenen Sammlungen für Hilfsschüler brauchbare Lesestoffe zu finden.
Eine lange Kommissionsarbeit im Hamburger Hilfsschulverein zeigte dies eindring-
lich. So kann man es denn mit Freuden begrüßen, daß eine Reihe von Heften
herausgegeben werden soll, die für den Leseunterricht in Hilfsschulen zugeschnitten
384 D. Literatur.
sind. Das vorliegende Heft eröffnet die Reihe in glücklicher Weise. Den Robinson-
stoff möchte man für Hilfsschulen als unentbehrlich bezeichnen. Die Gestaltung ist
frisch und lebendig, vermeidet Plattheiten und trifft in feiner Art die Sprache, die
Hilfsschülern verständlich ist. Robinson kommt ohne Hilfsmittel auf die Insel, und
nun erleben die Kinder alle seine Überlegungen und Arbeiten mit, wie er die
Wohnung einrichtet, wie er sich kleidet, wie er für Essen und Trinken sorgen
muß usw. Gansberg sagt in seinem Buche »Demokratische Pädagogik« S. 82: »Die
Darstellung fremder und vergangener Ereignisse ist ein vorzügliches Mittel, die Ver-
hältnisse der Heimat tiefer und klarer zu erfassen. Die so auf Umwegen geweckten
Erinnerungen werden die Kinder in freier Unterhaltung, in freien Niederschriften
und Zeichnungen und freiem körperlichen Gestalten zum Ausdruck bringen. Diese
produktive Betätigung wird ihren Blick für die Erscheinungen der Umwelt schärfen
und sie zu immer sorgfältigerer Betrachtung der Heimat veranlassen.< Diese Wahr-
heit kann man im Unterricht immer wieder erleben, und der Robinsonstoff ist ein
solcher Umweg, von dem aus man die Welt des Kindes und die Heimat vertiefend,
vergleichend, ergänzend und erklärend betrachten kann.
Wir wünschen dem Unternehmen einen glücklichen Fortgang.
Hamburg. Fr. Rössel.
Schlesinger, Eugen, Schwachbegabte Kinder. Ihre körperliche und geistige
Entwicklung während und nach dem Schulalter und die Fürsorge für dieselben.
Mit 100 Schülergeschichten und 65 Abbildungen. Stuttgart, Ferdinand Enke,
1913. 131 Seiten. Preis 5 M.
Wer sich über das Tatsächliche unterrichten will, was man mit dem Worte
»schwachbegabt« an pathologischen Erscheinungen zusammenfaßt, der wird in dieser
fleißigen Arbeit ein reichliches Material finden. Die Feststellungen sind nach folgenden
Gesichtspunkten gemacht: Skizzierung und Einteilung des Beobachtungsmaterials —
Ätiologie — körperliche Entwicklung — Sinnesorgane und Sprache — Intelligenz-
defekt, pädagogisch und psychologisch betrachtet — Charakter — Berufsleben —
Fürsorgemaßnahmen während und nach der Schulzeit — Schülergeschichten, Epi-
krisen und Ergebnisse. Der Verfasser hat eine wertvolle statistische Unterlage ge-
schaffen für alle Maßnahmen, die eine solide Begründung aus Bedürfnissen heraus
verlangen. Die Schrift ist eine Ergänzung einer Abhandlung aus dem Jahr 1907,
betitelt: »Schwachbegabte Schulkinder.« Beides sind Sonderabdrucke aus dem »Archiv
für Kinderheilkunde«.
Meltzer, Leitfaden der Schwachsinnigen- und Blödenpflege. Halle a. S.,
Carl Marhold, 1914. Preis 1,40 M.
Das Büchlein, handlich gebunden, 100 Seiten stark, ist als Anweisung zur
Pflege vor allem auch für den Selbstunterricht des Personals geschrieben. — Es
ist »dem Andenken des großen Freundes der Kranken und Beladenen«, F. v. Bodel-
schwingh (gest. 2. April 1910) gewidmet. Neben den allgemeinen Dienstpflichten
wird eingehend die Pflege der Schwach- und Blödsinnigen in gesunden und kranken
Tagen erörtert, u. a. die Hygiene der Räume, der Reinlichkeit, der Ernährung, des
Selbstschutzes, ferner das Verhalten bei chronischen, akuten und infektiösen Er-
krankungen, bei Sterben und Tod. Ein Schlußkapitel handelt dann noch von der
Pflege des Geistes; — alles in treffender und klarer Weise! — Der Verfasser, durch
ähnliche Arbeiten schon bekannt, bewährt sich auch hier als ein gründlicher Kenner
der Verhältnisse, als warmer Freund der Schwachsinnigen und vorbildlicher An-
staltsarzt. Nicht nur Kenntnisse und Fertigkeiten, sondern immer wieder auch ge-
wissenhaftes Pflichtgefühl sucht er dem Pflegepersonal für ihre schwierige Berufs-
arbeit mitzugeben. — Das Büchlein ist gut und billig. Möge es nun auch recht
zahlreich seinen Weg finden in die vielen kleinen und großen Schwachsinnigen-
anstalten besonders auch in die der charitativen Wohltätigkeit, wo es sicherlich
einem dringenden Bedürfnisse zum Wohle der Pfleglinge und Zöglinge abhelfen kann.
Essen-Huttrop. Oberarzt Dr. Kleefisch.
Verantwortliche Schriftleitung für Abhandlungen und Mitteilungen: Dir. J. Trüper,
Sophienhöhe b. Jena; für Zeitgeschichtliches, Zeitschriftenschau und Literatur:
Dr. Karl Wilker, Jena, Weißenburgstraße 27.
Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
Baar N
teen
Zum 80. Geburtstage
des Geh. San.-Rates Dr. O. Berkhan.
Von
M. Kirmsse, Anstaltslehrer in Idstein i. T.
Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt,
so sind es achtzig Jahre, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es
Mühe und Arbeit gewesen. Diese Worte des Psalmisten passen voll
und ganz auf den zurückgelegten Lebenslauf des Seniors der deutschen
Schwachsinnigenbehandlung, allerdings mit dem einen Unterschiede,
daß Dr. Berkhan, der am 19. März 1914 sein achtzigstes Lebensjahr
vollendet, noch viele Jahre dieses Tages sich erfreuen möge. Wohl
haben auch bei ihm die Beschwerden des Alters sich eingestellt; allein
sein Geist nimmt noch mit lebendigem Interesse teil an den Fort-
schritten unseres Faches, und sein Herz schlägt immer noch warm
für alles Gute und Schöne.
So darf denn auch unsere Zeitschrift, die dem Jubilar so manchen
wertvollen Beitrag zu verdanken hatte, an seinem Ehrentage unter
den Gratulanten nicht fehlen.
Dr. Oswald Berkhan wurde zu Blankenburg a. Harz geboren,
wo sein Vater als Gymnasialoberlehrer wirkte. Seine medizinischen
Studien absolvierte er in Göttingen, Prag, Wien und Würzburg. An
letzterer Universität promovierte er 1856 nicht nur zum Dr. med.,
sondern er empfing hier auch die nachhaltigsten Anregungen zu seiner
späteren Wirksamkeit auf dem Gebiete der Schwachsinnigenfürsorge.
Lenkte der erblindete Professor K. F. v. Markus sein Interesse auf
die Psychiatrie, so begeisterte der damals in Würzburg lebende und
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 25
386 A. Abhandlungen.
berühmte Patholog R. Virchow durch seine Kretinenforschungen auch
ihn für diese Wissenschaft. Von 1858—1859 arbeitete Dr. Berkhan
praktisch an der Privatanstalt für Geisteskranke des Dr. Erlenmeyer
in Bendorf a. Rh., der auch eine Erziehungsanstalt für jugendliche
Geistesschwache angegliedert war. Im Jahre 1860 siedelte er dann
nach Braunschweig über, wo er heute noch lebt.
Neben seiner Wirksamkeit als Irrenarzt des St. Alexii-Pflegehauses
— das 1865 nach Königslutter verlegt wurde — und gesuchter Haus-
arzt, wendete Dr. Berkhan schon frühzeitig sein Augenmerk den un-
versorgten schwachsinnigen, epileptischen und stotternden Kindern zu.
Im Verein mit der nachmaligen Ehrenbürgerin der Stadt Braun-
schweig, Fräulein L. Löbbecke, und dem heute noch lebenden
Pastor a. D. G. Stutzer!) errichtete Dr. Berkhan 1868 die Anstalt
für Schwachsinnige zu Neuerkerode bei Sickte. Diese entwickelte sich
vorzüglich und zählt heute an die 500 Zöglinge und Pfleglinge.
Weiter darf Dr. Berkhan auch als der Bahnbrecher der Hilfs-
schule in Braunschweig gelten, deren Ausbau er in Gemeinschaft des
gerade in diesen Tagen in den Ruhestand tretenden Schulinspektors
H. Kielhorn eifrig gefördert hat. Der Schule, die am 1. Mai 1881
ins Leben trat, ist er 30 Jahre lang ein treuberatender Schularzt ge-
wesen, bis ihn 1912 seine Gesundheit zwang, das Amt auf jüngere
Schultern zu legen.
Kaum war die Hilfsschule in eine hoffnungsvolle Blütezeit ein-
getreten, so widmete Dr. Berkhan seine Fürsorge den stammelnden
und stotternden Schülern der Volksschule und wurde so der Begründer
der Sprachheilkurse in den öffentlichen Schulen. ?)
Damit nicht genug, suchte er nach weiterem Neulande auf dem
Gebiete der Humanität, denn nun galt es, für die jugendlichen Epi-
leptischen ein Erziehungs- und Bildungsinstitut zu schaffen. Wieder
war es das edle Fräulein Löbbecke, in deren Gemeinschaft
Dr. Berkhan einen Fonds zu sammeln begann. Nach langjähriger,
eifriger Propagandaarbeit konnte auch dieses wohltätige Asyl am
2. Mai 1908 eingeweiht werden, an dem der unermüdliche Greis
noch heute als Direktor amtiert.
Neben seiner reichen, praktischen Arbeit, ist Dr. Berkhan alle-
zeit auch wissenschaftlich und schriftstellerisch in hervorragender
1) Vergl.: In Deutschland und Brasilien. Lebenserinnerungen von G. Stutzer.
Braunschweig, Wollermann, 1913.
2) Vergl. Anschütz, Die Fünfundzwanzigjahr-Feier des Sprachheilunterrichts
usw. Zeitschr. f. Kinderforschung. XIV. Jahrg. 1909. S. 114 f.
Zum 80. Geburtstage des Geh. San.-Rates Dr. O. Berkhan. 387
Weise tätig gewesen. Zwar in Buchform sind von ihm nur drei
Schriften erschienen, zunächst das in zwei Auflagen erschienene und
von den Fachmännern einstimmig anerkannte Buch: »Über den ange-
borenen und früh erworbenen Schwachsinn.«!) Zehn Jahre vorher hatte
er einen Leitfaden: »Über Störungen der Sprache und der Schrift-
sprache« ?2) herausgegeben, der gleichfalls eine günstige Aufnahme ge-
funden hat und seit langem vergriffen ist. Von den »Beiträgen zur
Geschichte der Psychiatrie« ist leider nur ein Heft®) erschienen.
Die zahlreichen und in vielen, namentlich psychiatrischen und
heilpädagogischen, Zeitschriften verstreuten Studien und Abhandlungen
historischen, anthropologischen, statistischen, spezialpädagogischen,
medizinischen und psychiatrischen Inhalts hier aufzuzählen, ist leider
nicht möglich.) Alle im Vordergrunde des Interesses stehenden je-
weiligen Fragen hat Dr. Berkhan mit echter, deutscher Gründlichkeit
bearbeitet und zur Klärung und Reife gebracht — die von ihm be-
gründeten Anstalten und Institute sind des genugsam Zeuge. Ehe
sie ins Leben treten konnten, mußte erst manche wissenschaftliche
und manche populäre Abhandlung veröffentlicht und nicht wenige,
mit Tatsachen reich belegte Eingaben an die maßgebenden Behörden
geleitet werden.
Neben den speziellen, rein ärztlichen Untersuchungen finden wir
in den Aufsätzen namentlich auch viele historische Themata behandelt,
da er der geschichtlichen Aufhellung der Schwachsinnigenbehandlung
und den ihr verwandten Gebieten stets großes Interesse entgegen-
gebracht hat.
Über ein halbes Jahrhundert steht nun der verehrte Senior der
deutschen Schwachsinnigenfürsorge im Dienste sozialer Arbeit. Möge
— dies ist unser sehnlicher Wunsch — sein hoffentlich noch lange
währender Lebensabend licht und freudenreich sich gestalten, wie
sein Tagewerk fruchtbar und erfolgreich war!
1) Braunschweig 1899 u. 1904.
?) Berlin 1889.
2) Neuwied 1863.
4) Interessenten seien hier auf die in der »Eos« 1914, Heft 1 erschienene,
eingehende Charakteristik des Lebens und Wirkens des Dr. Berkhan nebst Biblio-
graphie seiner Schriften verwiesen.
25*
388 A. Abhandlungen.
1. Junge Galgenvögel.
Von
Charles E. B. Russell, M. A.
Chief Inspector of Reformatories and Industrial Schools.
Berechtigte Übersetzung von Dr. jur. Karl Struve.
(Fortsetzung.)
V. Buckel.
Wenn wir die Erscheinung der jungen Leute betrachten, welehe
in steigendem Maße die Gefängnisse des Landes bevölkern und in
vielen Fällen schließlich Gewohnheitsverbrecher werden, so müssen
wir staunen, daß so wenige derer, die durch körperliche Mißbildung
von den üblichen Pfaden des gewerblichen Lebens ausgeschlossen
werden, auf das Niveau des Verbrechers hinabsinken. Es gibt aller-
dings einbeinige, einarmige und buckelige Verbrecher, aber ihre Zahl
ist verhältnismäßig klein. Und dabei sind doch die Aussichten für
jemanden, der in den ärmeren Vierteln einer Großstadt mit einer so be-
dauernswerten Entstellung wie einem Buckel zur Welt kommt, wirklich
kläglich. Ihm ist, von seltenen Ausnahmen abgesehen, der Maurer-
und Tischlerberuf verschlossen; ebensowenig steht ihm das geschäftige
Leben des Webereiarbeiters oder das oft gefährliche Handwerk des
Rollfuhrknechtes oder etwa das ruhige Gewerbe des Barbiers oder
Ladenbedienten offen. Vielmehr ist der Buckel ein widerwärtiger
Anblick, und wenige Ladeninhaber würden die Verwendung eines
buckeligen Gehilfen mit dem Gedeihen ihres Geschäftes für vereinbar
halten. So bleiben das Uhrmacher-, Schuhmacher- und Schneider-
gewerbe als die Berufe übrig, die diesen Unglücklichen noch am
ehesten offenstehen. Die Kinder nicht so fürsorglicher Eltern ver-
legen sich gewöhnlich aufs Hausieren, weil sie wissen, daß gerade
ihr Zustand mitunter das Mitleid der Vorübergehenden erweckt und
sie zu einem Kauf veranlaßt, den sie mit einem stämmig gebauten
Menschen nicht abschließen würden.
Buckel war, wie schon der Name sagt, mit einem solchen Kreuz
behaftet. Seine Eltern lebten in einem der ärmsten Teile Manchesters,
namens Engel-Au, und in einer Straße, welche selbst die Bewohner
der alles andere als engelgleichen Nachbarschaft als »rauh« betrachteten,
und in welcher Fremde aus einer höheren Gesellschaftsschicht alles
andere als willkommen waren. Sowohl die Straße wie ihre Bewohner
waren sehr viel sich selbst überlassen, und das Laster gedieh dort in
vielerlei häßlicher Gestalt, wie von einer Menschengruppe, die lediglich
von der Ausbeutung anderer Klassen lebte und für ehrliche Arbeit
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 389
meistens nur Spott und Hohn übrig hatte, nicht anders erwartet
werden konnte. Zahlreich waren die Orgien von Roheit und Sinn-
lichkeit, die dort nächtlich stattfanden, und es ist nicht wenig wunder-
bar, daß eine ganze Anzahl der in der Straße geborenen Kinder zu
guten Männern und Frauen herangewachsen ist. In dieser Umgebung
war Buckel, anstatt das ihm gebührende Mitleid zu finden, von früher
Jugend an die Zielscheibe des Spottes der anderen Kinder aus der
Nachbarschaft; denn seine Eltern waren zwei von der schlimmsten
Sorte und gewährten ihm keinen Schutz.
Ein Mann, der ihn im Laufe der Zeit genau kennen gelernt und
mir alle Unterlagen hinsichtlich seiner Laufbahn geliefert hat, hatte
den kleinen mißgestalteten Kerl gesehen und Mitleid mit ihm gefühlt;
so machte er sich auf die Nachricht hin, daß Buckel sich bei einem
Schaukelunfall verletzt habe, eines Abends auf den Weg, um ihn zu
besuchen. Nach seiner Ankunft vor der kümmerlichen Behausung,
die nur aus zwei übereinander gelegenen Räumen bestand, klopfte er
wiederholt an, öffnete in Ermangelung einer Antwort schließlich selbst
die Tür und trat ein. Es war spät, gegen zehn Uhr abends, und
alles in Finsternis gehüllt. »Bist du da, Sam?« rief er, und von oben
kam eine schwache Antwort: »Hier hinauf, Herr!« Mit Hilfe eines
Zündholzes fand der Besucher seinen Weg auf einer steilen, gebrech-
lichen, leiterähnlichen und geländerlosen Treppe empor zu einer kleinen,
etwa neun Fuß langen und acht Fuß breiten Höhle. »Wo bist du,
Sam?« fragte er. »Im Bett, Herr« kam die Antwort, und bei ge-
nauerem Zusehen im Lichte eines anderen Streichholzes sah er eine
Karikatur von Bett mit buchstäblich schwarzen Wolldecken. Darauf
lag Sam, mit einer Binde über seiner Stirn, nur mit einem Hemd be-
kleidet, ohne irgendwelche sonstige Bedeckung ausgestreckt. In der
Wölbung zwischen den Knien und dem Kinn des Jungen lag
schlummernd ein wohl drei Monate altes, größtenteils nacktes Kind.
Es war ein trauriger, ein schrecklicher Anblick, ganz besonders auch
deswegen entsetzlich, weil Sam sich gar nicht bewußt war, daß dabei
irgend etwas nicht in Ordnung sei. Als der Vater später zur Rechen-
schaft gezogen wurde, um diese Vernachlässigung zu erklären, brachte
er vor, daß alles die Folge der Trunksucht der Mutter sei, und zeigte
einen Fleck an der Wand, der davon herrührte, daß sie am Tage
vorher mit seinem Mittagessen nach ihm geworfen hatte. Die Mutter
ihrerseits schob alle Schuld auf den Mann. Später kam es ans Licht,
daß ehelicher Zwist an der Tagesordnung war; denn einige Jahre
hernach wählten beide Teile andere Lebensgefährten, selbstverständlich
ohne sich vorher an das Scheidungsgericht zu wenden. Dies war
390 A. Abhandlungen.
Buckels »Heim«, ein Hohn auf das Wort, das angeblich soviel für
jeden Engländer bedeutet, und dies war die Weise, in welcher der
kleine zwölfjährige buckelige Bursche sein Leben hinbrachte. Auch
nicht eine Spur von sittlicher Erziehung wurde ihm zuteil, und er
litt unbewußt an völligem Mangel elterlicher Liebe. Kein Wünder,
daß seine Zukunft soviel Elend und Bosheit in sich schloß.
Mit vierzehn Jahren erlangte Sam oder Buckel, wie er gewöhn-
lich genannt wurde, Beschäftigung als Laufbursche eines Krämers in
der Nähe seines Heims und blieb bei dieser Arbeit, bis er nach einem
oder zwei Jahren zu alt für diese Stellung wurde, in der er wöchent-
lich nur fünf bis sechs Schilling als Lohn erhielt. Nunmehr setzten
mit einem Male die ernsten Wirrsale seines Lebens ein. Eine besser
bezahlte Stelle als seine frühere ausfindig zu machen, war ihm nicht
möglich, und nach einigen Wochen begannen seine Eltern, ihm in
äußerst kräftiger Sprache vorzuhalten, daß er sich schämen solle, den
übrigen Familiengliedern das Brot vom Munde wegzunehmen, und
weiter, daß er ausziehen und sich selbst durchschlagen müsse, wenn
er nicht alsbald Arbeit erhalte. Er war trotz seiner rauhen Kindheit
ein empfindlicher Junge und fühlte die Härte dieser Worte und die
Bitterkeit seiner Stellung so tief, daß er beschloß, davonzugehen und
irgendwie sein eigenes Auskommen zu suchen, auf keinen Fall aber
noch länger jemandem zur Last zu fallen. So verließ er eines Morgens
sein Heim zum letztenmal, und nach einem jammervoll und unglück-
lich verlaufenen Tage brach die Nacht über ihn herein, während er
noch ohne Geld und Arbeit war. Er schlief diese und die folgende
Nacht »rauh«, wie der Ausdruck lautet, unter einem Eisenbahn-
gewölbe. Danach schien ihm das Glück ein wenig zu lächeln: denn
er ließ sich von einem einarmigen und einbeinigen Bettler, einem
gemeinen Kerl, der darauf spekulierte, daß Buckels Häßlichkeit das
Mitleid der Vorübergehenden noch mehr auf seine eigenen Gebrechen
lenken würde, als Gehilfe anwerben und verdiente genug, um sich
durchzuschlagen. Aber Buckel konnte diesen alten Schurken nicht
ausstehen. Nach einigen weiteren Elendstagen befolgte er den Rat
einiger entarteter, zuchtloser Burschen, die er in dem gewöhnlichen
Logierhaus, wohin er von dem alten Krüppel mitgenommen war,
kennen gelernt hatte, und stahl.
Dies Logierhaus verdient eine flüchtige Beschreibung. Es ist an-
geblich bei den Gliedern der Landstreicher-Brüderschaft weit und
breit im Lande bekannt und beherbergt allnächtlich für einen Preis
von drei Pence einige drei- bis vierhundert Männer und Jünglinge
von siebzigjährigen Greisen herunter bis zu sechzehnjährigen Knaben;
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 391
von letzteren freilich suchen glücklicherweise nur wenige dort ihr
Obdach. Es ist ein großes Gebäude, liegt unmittelbar hinter einer der
Hauptverkehrslinien Manchesters und ist in dem üblichen Stil dieser
Plätze eingerichtet. Das heißt: Die Küche ist ein großer kahler Raum
mit zinkbekleideten Tischen rings an den Seitenwänden und Bänken
davor. Sie enthält einen riesigen Kamin mit einem Feuer, das gleich-
mäßig im Winter wie im Sommer brennt, da die Gäste ihr Mahl
daran kochen. Im Obergeschoß ist eine Reihe von Schlafsälen, die
teils zwölf, teils zwanzig, teils auch dreißig oder vierzig oder noch
mehr Betten enthalten. Die Bettstellen sind den in Krankenhäusern
benutzten ähnlich und keineswegs unbequem. Sie sind in einem Ab-
stand von wenigen Fuß an beiden Längsseiten der Räume aufgestellt,
und jede mögliche Vorsichtsmaßregel ist gegen Ungeziefer getroffen.
Es muß anerkannt werden, daß Ungeziefer häufiger in das Haus durch
Besucher eingeschleppt wird, als daß es infolge Vernachlässigung der
Räume aufkommt; denn es gibt Männer, die allen normalen Reinlich-
keitsbegriffen so entfremdet sind, daß sie ihre Kleider und Körper die
Behausung der ekelhaftesten Geschöpfe werden lassen. Das Bettzeug
ist, wenn auch knapp, so doch leidlich rein; aber die gesundheitliche
Einrichtung der Räume läßt viel zu wünschen übrig. Rauchen ist
aus ganz selbstverständlichen Gründen streng verboten, und eine Eigen-
tümlichkeit dieses und der meisten gewöhnlichen Logierhäuser besteht
darin, daß, sobald ein Mann nach oben geht, die Tür unten sofort hinter
ihm verschlossen wird und er, abgesehen von einem ganz bestimmten
Grund, in derselben Nacht nicht wieder nach unten kommen kann.
Das Hauptinteresse des Platzes liegt in der bunten Zusammen-
würfelung der Gäste. Der Landstreicher, der die Stadt passiert, und
der Bettler, welcher sie zu seiner ständigen Heimat gemacht hat, der
ehrliche, augenblicklich stellungslose Arbeiter, der irgendwie dahin
gewiesen ist, und der Dieb — alle hausen da beieinander. Sind sie
einander fremd, so messen sie sich mit mißtrauischen Blicken, aber
fragen mit der im Logierhaus geübten eigenartigen Rücksicht einander
selten nach ihrem Gewerbe; denn jeder argwöhnt, daß das Geheimnis,
in das er seine eigene Lebensweise zu hüllen trachtet, ebensosehr der
Wunsch seines Logisgenossen sein mag. Eines guten Abends breitet
jemand vielleicht Waren aus, die neu und augenscheinlich von einigem
Wert sind und die er zu lächerlich niedrigen Preisen zum Kauf aus-
bietet, z. B. Stiefel, Halstücher, Hemden. Obwohl keine Frage ge-
stellt wird, weiß jeder Anwesende sehr wohl, daß solche Güter nicht
auf ehrliche Weise erworben sind, sondern das Ergebnis eines erfolg-
reichen Beutezuges auf Läden darstellen.
392 A. Abhandlungen.
Zu den eindrucksvollsten Szenen in solch einem Hause gehören
die — je nach Art der beherbergten Gäste häufigen oder seltenen —
nächtlichen Besuche der Polizeibeamten, die nachforschen, ob jemand,
nach dem sie fahnden, dort Herberge genommen hat. Gewöhnlich
kommen zwei Mann zu diesem Geschäft, mitunter in Uniform, mit-
unter nicht. Mit vergaügtem Lächeln werfen sie zunächst einen
Blick in die Küche und überschauen die Leute, die an den Tischen
herum noch aufsitzen. Die meisten von ihnen erscheinen mehr oder
weniger betroffen und schuldbewußt. Eine Ausnahme machen nur
die wenigen Leute, die völlig einwandsfreien, wenn auch kümmerlichen
Beschäftigungen nachgehen, und die paar wirklichen Arbeiter, die in
dem Logierhaus ihr Heim aufschlagen. Wenn die Beamten die von
ihnen Gesuchten nicht sehen, pflegen sie ihre Schritte nach oben zu
lenken und die Runde durch die Schlafsäle zu machen, wobei sie das
Licht ihrer Laternen auf das Gesicht der Schläfer fallen lassen. Ab
und zu erwacht einer und fragt mit verdrießlicher Miene nach ihrem
Begehr; andere schauen blöde drein, wenden sich ab und beginnen
brummend wieder zu schlafen, während eine ganze Zahl friedlich im
Schlafe verharrt. Zuletzt haben die Polizisten vielleicht das Glück,
daß ihr Licht auf das Antlitz eines von ihnen gesuchten Burschen
fällt. Ein derbes Schütteln und »Steh auf, Jack, wir brauchen dich«
machen es dem Missetäter zuerst klar, daß der lange Arm des Ge-
setzes, höchst wahrscheinlich infolge der Verräterei eines vermeint-
lichen Freundes, ihn in einem Augenblicke erreicht hat, wo er sich
völlig sicher wähnte. »Steh auf und zieh dich an,e — und wortlos
greift der schläfrige Jack nach seiner Hose, holt seine Jacke und
Weste unter seinem Kissen hervor und folgt niedergeschlagen den
Beamten die Treppe hinunter nach draußen. Nach wenigen Minuten
ist der Schlafsaal wieder still, und am nächsten Morgen spricht es
sich als eine Sache von geringem Belang herum, daß »Jack in der
letzten Nacht eingebuchtet wurde«. Eine Verhaftung unter solchen
Umständen bleibt jedoch in der Erinnerung aller, die ihr zum ersten
Male beiwohnen, lebendig.
In der großen Küche herrscht eine muntere Ungezwungenheit,
die Herbergsgäste bereiten sich selbst ihr Abendessen und zeigen, daß
ihre Wanderungen jedenfalls ihren Appetit geschärft haben. Große
Fleischstücke mit zwei oder drei Spiegeleiern, große Schellfische,
seltsame, in Töpfen zusammengekochte Gemengsel, dazu den unver-
meidlichen Teekrug — denn geistige Getränke dürfen nicht mit-
gebracht werden — kann man an jedem Abend sehen. Wer mit dem
Anblick und den Leuten vertraut ist, wird durch ihre Bereitwilligkeit,
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 393
das Abendessen mit irgendeinem armen Wicht, der sich keines hat
leisten können, zu teilen, sowie durch die fast regelmäßig der Katze
~ oder den Kätzchen bewiesene Freundlichkeit sehr angenehm berührt.
Leute, die nur einen oder zwei Kupfer in der Tasche haben, pflegen
nicht selten einen halben Penny ihres kleinen Besitztums zu opfern,
um für eine Katze Milch zu kaufen, und die meisten scheinen an
dem Spiel mit Schoßtieren Vergnügen zu finden. Natürlich gibt es
Ausnahmen — gewöhnlich grausame, rohe Burschen, die keine Teil-
nahme und kein Herz für Tiere haben und fast Gelegenheit suchen,
um ihnen Leid zuzufügen. Aber diese Leute werden allemal ver-
achtet und in keineswegs milden Ausdrücken von ihren Herbergs-
genossen zurechtgewiesen.
Bei der allgemeinen Unterhaltung herrscht eine heitere Mitteil-
samkeit vor. Wie man der Polizei entwischt ist, was für Erfahrungen
man in den verschiedenen Gefängnissen gemacht und was man auf
Reisen in fremden Ländern erlebt hat — es ist wunderbar, wie weit
viele dieser Gesellen herumgekommen sind —, wird frischweg erzählt,
und vor allem werden die Gewinnaussichten bei bevorstehenden Pferde-
rennen mit großer Lebhaftigkeit erörtert. Nichts ist erstaunlicher als
das wirklich wunderbare Gedächtnis, das manche dieser Leute besitzen;
denn sie bringen es fertig, ohne das geringste Stocken die Stamm-
bäume bestimmter Pferde sowie Namen und Daten der von ihnen ge-
wonnenen Rennen herunterzuschnurren. Es ist ein trauriger Gedanke,
daß so viel wirkliche Fähigkeit keine bessere Anwendung gefunden
hat. Die gewöhnliche Sprechweise ist, wie zugestanden werden muß,
roh. Kein Name scheint heilig; kein Gegenstand ist zu schmutzig, um
als Unterhaltungsstoff zu dienen, und nur zu häufig wird Lustigkeit
durch Wiedergabe äußerst unflätiger und gemeiner Erzählungen erweckt.
Aber wenn auch äußere Freundlichkeit die vorherrschende Tonart
ist, so kommt es bei diesen Leuten, die keine Selbstbeherrschung
und keine Zügelung ihrer Leidenschaften kennen, vor, daß Erregung
im Nu entfacht wird und eine Prügelei ausbricht, bevor man über-
haupt versuchen kann, die Wut der Streitenden zu dämpfen. Ein
wildes Handgemenge ist keine ungewöhnliche Begebenheit.
Von den Burschen unter zwanzig, die das Haus regelmäßig be-
suchen, sind wenige etwas anderes als Diebe, und man kann sich gut
vorstellen, daß die Umgebung in ®iner solchen Stätte alle ehrlichen
Absichten, die ein Junge vielleicht hat, wenn er zum erstenmal
seinen Weg dahin findet, von Grund aus zerstört. Tatsächlich hat
jemand, der die jungen Stammgäste gerade dieses Logierhauses sehr °
gut kennt, gesagt, daß seines Wissens niemals ein junger Mann nach
394 A. Abhandlungen.
nur vierzehntägigem Aufenthalt dortselbst sich später zu harter, regel-
mäßiger Arbeit herbeigelassen hat. Es kann keinem Zweifel unter-
liegen, daß für einen Jüngling der Aufenthalt in einem gewöhnlichen “
Logierhaus niedriger Sorte der einfachste und geradeste Weg zu einem
völlig wertlosen Leben bedeutet.
An einen Platz dieser Art war Buckel verwiesen, und zwar mit
dem bereits erwähnten Ergebnis, daß er gleich den anderen Burschen,
die dort ein Heim suchten, schnell ein Dieb wurde.
Es dauerte nicht lange, da wurde er bei einem kindisch ange-
stellten Versuch, in einen kleinen Laden einzubrechen, ertappt. Die
Folge war ein Monat Gefängnis, ein Urteil, das nicht ein bißchen
Gutes wirkte; denn lange vor Ablauf eines Jahres war er schon
wieder zweimal verurteilt und wurde mittlerweile von seinen so-
genannten Freunden als ein Bursche betrachtet, der auf krummen
Wegen fortzukommen gedachte. Manchester wurde bald ein un-
angenehmer Aufenthalt für ihn; denn er war schon zu gut bekannt.
Daher machte er im folgenden Sommer einen Zug durch die be-
nachbarten Seestädte, wobei er mittels des Verhökerns von Salz oder
anderer geringwertiger Waren, die er zum Verkauf in Kommission
erhalten konnte, oder mittels Zeitungshandels sich seinen Unterhalt
zusammenscharrte und mehr als einmal wegen Landstreicherei und
kleiner Diebereien verurteilt wurde. Diese Lebensweise setzte er
eine beträchtliche Zeit fort und durchstreifte einen großen Teil Eng-
lands dabei: ein bis zwei Monate träger, zügelloser, mit Diebstählen
ausgefüllter Freiheit im Wechsel mit einigen Monaten Gefängnis.
Schließlich kam er bei einem Besuch in Manchester, zu dem ihn eine
Art Heimweh, wie man sie bei Landstreichern mitunter findet, ver-
anlaßt hatte, wieder einmal dem Manne, der sich seiner als kleinen
Jungen angenommen hatte, in den Weg.
Seiner Erscheinung nach war er diesmal ein mürrischer, unter-
setzter Bursche mit finsterem Blick; er sah auch ohne seinen Buckel
abstoßend aus; denn seine Lebensweise stand deutlich in seinem Ge-
sicht geschrieben. Seine Entstellung machte es selbst für den jüngsten
Neuling im Geheimpolizeidienst so leicht, ihn zu erkennen, daß er
mit seinen 22 Jahren schon achtzehn Gefängnisstrafen erlitten hatte,
einschließlich einer solchen von zwölf Monaten für einen Einbruch.
Er hatte vielfach seitens verschiedener Vereine und Personen, die
sich für ihn interessiert hatten, Hilfe erfahren; aber niemals war
dauernde Besserung erzielt. Man hätte sich also gut auf den Stand-
punkt stellen können, daß nachgerade die weitere Entwicklung seines
Falles sich selbst überlassen bleiben mußte, weil es viele andere weit
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 395
Würdigere und ebenso Hilfsbedürftige gäbe. Mein Freund gehört
jedoch zu jenen unverständig weichherzigen Leuten, welche den
Verein zur Organisierung der Wohltätigkeit und andere gescheite und
vernünftige Menschenfreunde zur Verzweiflung bringen. So lauschte
er auch geduldig allen Beteuerungen Buckels, zu welchem Riesen-
erfolg er es im Leben bringen werde, wenn ihm nur ein recht guter
Beginn im Straßenhandel ermöglicht würde, und er unterlag der Ver-
suchung, seinem Glauben an die guten Absichten des finster blicken-
den Burschen durch die Tat Ausdruck zu verleihen. Ein paar Wochen
vergingen ohne Nachricht von dem Ergebnis: Dann kam ein großer
blauer Brief, auf dessen Vorderseite nur eine Nummer und ein un-
bekannter Name standen mit einer darunter befindlichen langen ge-
druckten Bekanntmachung über den Briefverkehr mit Gefangenen
sowie mit einer Warnung, daß Briefe, die Rotwelsch enthielten, unter-
drückt werden würden. Nach Darlegung seiner Gründe für die An-
nahme eines Decknamens benachrichtigte Buckel meinen Freund, daß
er bald wieder wegen absichtlichen Herumlungerns festgenommen,
aber ohne Strafe davongekommen sei. Er fuhr fort:
Ich verbüße jetzt eine Strafe von drei Monaten wegen eines Ponys und
eines Wagens, die, wie sie sagten, vom Markt gestohlen waren, Ich bin der
Tat beschuldigt; aber ich glaube, der Richter gab mir hauptsächlich auf meinen
Leumund hin Gefängnis; denn es lag nicht genug Beweis gegen mich vor. Aber
wenn Gott auch langsam macht, so wird er sie doch sicherlich bestrafen, wie
sie es verdienen. lch tue mein Bestes, um meinen Mut aufrecht zu erhalten;
denn jedesmal, wenn ich an mein unglückliches Los denke, kostet es mich alle
meine Zeit, den Gedanken aus meinem Sinn zu vertreiben. Unsegen zu stiften,
scheint mein Wahlspruch im Leben zu sein, da es für mich keinen Weg gibt,
meinen verlorenen guten Ruf wiederzuerlangen.
Der Empfänger des Briefes glaubte natürlich nicht an Buckels
Unschuld; er merkte, daß er eine Lehre erhalten und sein Geld ver-
schwendet hatte. Daher setzte er, als Buckel nach seiner Entlassung
wieder erschien, seine ernsteste und strengste Miene auf und sagte in
einem Tone, der schroff genug war, um selbst in das Herz eines aus-
gemachten Bösewichts Schrecken zu jagen: »Es nützt alles garnichts,
Sam. Ich habe dir mehr als genug geholfen und denke nicht daran,
noch mehr Geld an dich wegzuwerfen. Du willst dich ja einmal
nicht von deinen nichtsnutzigen Kumpanen trennen und wirst tot-
sicher bald wieder im Gefängnis sein.e Aber Buckel, anstatt, wie
sich’s gebührte, stumm und vernichtet, führte beredt aus, daß er
niemals in seinem Leben eine wirkliche Gelegenheit zum Fortkommen
gehabt, daß er seit seinem letzten Besuch sein Bestes getan habe. An
dem Diebstahl, für den er gebüßt habe, sei er wirklich unschuldig,
396 A. Abhandlungen.
und wenn er nur noch einen einzigen neuen Versuch machen dürfe,
werde er sicherlich auf den rechten Weg und nie wieder ins Ge-
fängnis kommen. Es schien ihm wirklich so aufrichtig und ernst mit
seinen Besserungsgelübden zu sein, daß der Widerstand fallen ge-
lassen und beschlossen wurde, noch einmal die Probe mit ihm zu
machen, aber unter der unzweideutigen Bedingung, daß er sich von
Manchester fern hielte.
Er wurde zuerst nach einem Gasthaus auf dem Lande geschickt,
wo er kleine Gelegenheitsarbeiten verrichtete, ein Pony und Wägel-
chen zu besorgen hatte und am Schanktisch half. Er fand nur ein
Ding schwierig:
»Das Aufstehen frühmorgens wird mir schwer«, schrieb er, »aber ich
werde mich schon bald daran gewöhnen; denn diesmal will ich auf mich acht
haben und auf dem graden Wege bleiben und meinen Bekannten zeigen, daß
ich mich wahrhaftigen Gotts bessern kann«.
Der Anflug von Stolz in diesem Brief war ein gutes Zeichen,
und sein Wohltäter schöpfte wirklich Hoffnung, als er drei Monate
später wieder schrieb:
Ich halte mich von Ungelegenheiten fern, da ich sehe, daß dies der beste
Plan ist; denn Freiheit ist süß, und ich gedenke, mit Gottes Hülfe bis zu meinem
Tode auszuharren. Herr, ich habe auf einem Gut in der hiesigen Gegend, neun
Meilen von dem Gasthaus entfernt, Arbeit gefunden, und ich mag die Arbeit
sehr gern, obwohl es hier herum einsam ist. Ich bin es so ganz zufrieden;
denn das wird mich von meinen Genossen fernhalten. Das Gut, auf dem ich
arbeite, ist hübsch und groß. Mein Werk besteht in der Wartung der Pferde,
Kühe und Schweine; es ist nicht so hart, aber das frühe Aufstehen am Morgen
lastet auf mir. (Immer noch! Aber der anhaltende Kampf gereichte ihm zur
Ehre und zeigte, daß er noch ein gewisses Maß von Willensstärke hatte.) Ich
werde mich daran gewöhnen müssen. Ich habe mit zwei Pferden pflügen ge-
lernt, und mein Herr sagt, daß ich Fortschritte machen werde, wenn ich bei-
bleibe. Ich möchte die Landwirtschaft erlernen, da sie eine nette und gesunde
Arbeit ist. Kürzlich hatten wir nichts als Schnee hier; vielleicht könnten Sie
mir den Gefallen tun, mir ein Paar billige Holzschuhe von Größe fünf zu be-
sorgen, da in dieser Gegend keine Holzschuhe getragen werden und mein rechter
Schuh vorne aufgebrochen ist und der Fuß heraussieht. Ich hatte sehr viel mit
meiner Brust zu tun; wenn ich krank werden sollte, dann gnade mir Gott! Wenn
Sie mir ein Paar kaufen können und Nachricht geben, was sie kosten, will ich
mir das Geld von meinem Herrn geben lassen und übersenden. Dies ist meine
erste Woche auf dem Gut, und mein Lohn ist nur fünf Schilling wöchentlich
nebst Unterhalt. Dafür habe ich aber zu arbeiten; wenn ich nicht arbeiten
würde, so würde ich bestimmt verhungern.
Diese zusagende Beschäftigung erreichte ihr Ende, als die Kartoffeln
besorgt waren. Danach walzte er durch eine Strecke von neunzig
Meilen nach einer Seestadt, wo es ihm eine Zeitlang wirklich recht
schlecht ging. Hätten sich nicht einige Wohlgesinnte ins Mittel ge-
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 397
legt, so würde er schnell seinen Weg nach Manchester zurückgefunden
haben. Er konnte nämlich keine Arbeit finden und fristete ein
kümmerliches Dasein durch den Verkauf von Zeitungen. Dennoch
waren seine Briefe stets heiter, und er grollte niemals über die langen
Stunden, die er bei schlechtem und stürmischem Wetter im Freien
zubringen mußte, um die kleine Summe zu verdienen, die ihn allein
noch von völligem Elend trennte.
Ein ehrliches Leben ist besser als ein unehrliches. Ich bin jeden Morgen
um sechs (diesmal keine Klage) draußen, um Morgenzeitungen zu verkaufen, und
sie sind in dieser Woche ganz gut gegangen. ... Ich habe jetzt herausgefunden,
daß Ehrlichkeit die beste Politik ist, und die Freiheit bedeutet ein gutes Stück
für einen Mann wie mich, der weiß, was es heißt, für sie zu arbeiten.
Bald nachdem er sich dieser Arbeit zugewandt hatte, erhielt er
eine Vorladung wegen Verkehrsbehinderung und wurde mit zehneinhalb
Schilling bestraft; es wurden ihm jedoch Teilzahlungen gestattet und
so der Rückschlag eines Gefängnisbesuches erspart. Um diese Zeit
schrieb er:
Ich möchte gerne eine Ihrer Photographien haben. Ich würde sie in die
sorgfältigste Obhut nehmen als ein heiliges Andenken. Herr, Sie dürfen keinen
Augenblick denken, daß ich wieder ausschlagen will; denn ich habe mit meinen
wilden Zügen abgeschlossen, da ich finde, daß dies der beste Plan ist.
Schließlich, im Frühling, war das Glück ihm günstig. Er wandte
sich an die Straßenbahnbehörde des Orts und war hocherfreut, von
ihr Beschäftigung zu erhalten. Von Zeit zu Zeit schrieb er fröhlich
über seinen Erfolg und seine Zukunftsaussichten und schien in dem
Besitz seiner neugewonnenen Unabhängigkeit und Selbstachtung
wunderbar glücklich zu sein. Aber er hatte vergessen, daß an einem
sommerlichen Erholungsplatz die Verkehrsgelegenheiten aller Art in
den Herbst- und Wintermonaten in weitem Umfange eingeschränkt
werden, und als der Oktober mit seiner unvermeidlichen Personal-
verringerung herankam, war es ein harter Schlag für ihn, daß er als
einer der ersten gehen mußte. Obwohl er einen Teil seines mühsam
erworbenen Lohnes zum Ankauf von Geschenken verwandt hatte, die
er mit freigebiger Dankbarkeit und viel Zaghaftigkeit an seine Freunde
und Helfer sandte, so hatte er doch eine kleine Summe in der Penny-
Bank zurückgelegt und lebte einige Wochen von seinen Ersparnissen,
noch voll Hoffnung, daß er bald eine Stellung für die Winterszeit
finden werde. Als aber Tage und Wochen dahingingen, ohne daß
jemand geneigt schien, ihm Arbeit zu geben, sank sein Mut, und
düster schrieb er von seinen kümmerlichen Aussichten. Nachdem er
seinen letzten Schilling von der Bank genommen hatte, griff er auf
sein altes Zeitungsgewerbe zurück in der Hoffnung, daß dies ihn
398 A. Abhandlungen.
wieder einmal in den Stand setzen werde, seinen Unterhalt zu be-
streiten. Aber der Platz war so leer und das Wetter so schlecht, daß
er nur vier Schilling in einer Woche verdiente. Außerdem erkannte
ihn in jenen Tagen ein dort auf Urlaub weilender Geheimpolizist aus
Manchester und verständigte die Polizei davon, daß er oft im Ge-
fängnis gewesen war. Der arme Buckel wurde nun völlig einge-
schüchtert und dachte eine Zeitlang, daß ihm nichts anderes übrig
bliebe, als die Stadt zu verlassen und in einer anderen Gegend einen
neuen Versuch zu machen. Bald ließ er sich jedoch unschwer davon
überzeugen, daß er, solange er das Gesetz halte, die Hüter des Ge-
setzes nicht zu fürchten brauche. Immerhin aber fand sich keine
Arbeit, und schließlich machte Buckel sich mit dem Gedanken ver-
traut, nach einer anderen Stadt überzusiedeln. Er schrieb darüber:
Da drüben in Z. wird ein elektrischer Straßenbahndienst eingerichtet, und
ich will mein Glück versuchen, bevor es zu spät ist. Denn ich muß doch aus-
ziehen, wenn meine Wochenmiete um ist, da ich als Arbeitsloser nicht erwarten
kann, daß meine Wirtin mich länger behält. Da ich kein Geld habe, bin ich
mit meinem Witz zu Ende und entschlossen, mich auf den Weg nach Z. zu
machen; denn auch der Zeitungshandel geht schlecht, und es würde sich nicht
lohnen, deswegen hier zu bleiben. Alles geht schlecht, gleichgültig, wohin man
geht. Ich will nicht in die Nähe von Manchester kommen, wenn ich es irgend
vermeiden kann; denn es mag vielleicht meinen Sturz bedeuten, wenn ich wieder
meinen alten Kumpanen begegne. Ich denke, ich habe Aussichten, wenn ich
nach Z. gehe, da der Direktor mir für den Fall, daß ich Arbeit bekomme, ein
gutes Zeugnis versprochen hat, wenn sie bei ihm hier anfragen. Ein guter
Marsch von vierzig Meilen wird mir nicht schaden; das Fahren kann ich mir
nicht leisten. Meine besten Grüße, und mögen Sie glücklich leben bis zum Tode.
Von einem Dankbaren.
Aber einige Wochen später kam wieder ein Brief aus seinem
früheren Aufenthaltsort und meldete:
Ich bin wieder in Y. gelandet, da ich kein Glück hatte, als ich nach Z.
kam, wo ich bei meinen Versuchen, Arbeit zu erhalten, manche mühselige lange
Meile zurückgelegt habe.
Die nächsten Nachrichten besagten, daß ihn eine schwere Er-
kältung befallen hatte, und verschiedene Briefe waren aus dem Werk-
haushospital datiert. Fern davon, entmutigt zu sein, war er voll Zu-
kunftshoffnung, da er erwartete, nach seiner Genesung wieder bei der
Straßenbahngesellschaft eintreten zu können und sich durch einen
zweiten Sommerdienst das Recht auf Winterbeschäftigung zu erwerben.
Es war für ihn eine bittere Enttäuschung, als bei seiner Entlassung
aus dem Krankenhaus ihm die versprochene Arbeit versagt wurde
unter der Begründung, daß er körperlich für sie nicht geeignet sei.
Er hatte keine andere Wahl, als seinen Zeitungsverkauf wieder auf-
zunehmen. Nachgerade aber war er so wohl bekannt und hatte eine
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 399
so zahlreiche regelmäßige Kundschaft gewonnen, daß er imstande war,
allabendlich gegen zwei Schilling zu verdienen. Dazu kam noch ein
Schilling täglich für Fege- und Reinmachearbeit an einem Vergnügungs-
ort, die er zwischen sechs und zehn Uhr morgens besorgte. Sein
letzter Brief, Ende August geschrieben, berichtete noch von weiterer
Besserung seiner Verhältnisse. Er lautete:
Ich habe jetzt das Vergnügen, Ihnen zu schreiben in der Hoffnung, daß
es Ihnen so gut geht wie mir, während ich diesen Brief abschicke. Ich komme
jetzt sehr nett vorwärts und hatte am letzten Sonnabend die Freude, mich neu
einkleiden zu können. Ich gab 25 Schilling für einen Maßanzug, bezahlte
10'/, Schilling für ein Paar braune Stiefel und kann sagen, daß ich einen Rest
von 1 Pfund und 17'/, Schilling bei mir habe. Ich bin noch bei dem Zeitungs-
geschäft und verkaufe die Zeitungen bei einem festen Wochenlohn von 6 Schilling
und Kommission. Während der Saison kann ich durchschnittlich 18 Schilling bis zu
einem Pfund verdienen. Sie sehen also, Herr, daß ich mein Bestes tue, um mein
Versprechen zu halten. Zugleich mit diesem Brief sende ich eine Ansicht von
Y. ab — »Glas mit Vorsicht« —, und hoffe, daß Sie daran Gefallen finden;
denn es ist eine Ansicht in großem Format. Wenn Sie mal einen Ausflug
hierher machen, werden Sie mich vor dem Grand Hötel finden, wo ich mit
meinen Zeitungen von 3 Uhr nachmittags bis 8 Uhr abends stehe. Ich dachte,
zur Zeit des November-Handikap nach Manchester zu kommen, nicht wegen der
Rennen, sondern um Sie zu besuchen und Ihnen zu zeigen, daß ich mich ver-
ändert habe, seit Sie mich vor drei Jahren zuletzt vor Augen sahen. Auch
sehne ich mich danach, meine alte Heimatstadt einmal wiederzusehen, doch nur,
wenn ich Ihre Erlaubnis dazu habe. Denn ich beabsichtige nicht, gegen Ihren
Wunsch zu kommen, da ich nie vergessen kann, was Sie — Gott segne Sie! —
für mich getan haben, auch wenn ich hundert Jahre alt werde. Es ist mir oft
wie ein Stachel, wenn ich an mein vergangencs Leben denke. Wenn Sie mich
nieht gerettet hätten, — ach! davon weiß Gott allein, ich nicht; ich ging ganz
meinen eigenen Weg, bis ich an jenem unvergeßlichen Abend zu Ihnen kam.
Die erwähnte Ansicht war mit prächtigem roten Plüsch einge-
rahmt und wurde natürlich von dem Empfänger sehr wertgeschätzt.
Der angeregte Besuch in Manchester ist bis zum nächsten Jahr auf-
geschoben.
Diese kleine Geschichte ist, so hoffe ich, nicht ohne besonderes
Interesse; denn sie zeigt, daß das allen Menschen innewohnende
Gute schließlich doch einmal zum Vorschein kommt, wenn nur die
Gelegenheit dazu geboten wird. Ein Mann, der zu nichts Besserem
bestimmt scheint, als das Land von einem Ende zum andern zu durch-
wandern, von ungesetzlichen Mitteln zu leben und beständig Gast des
Gefängnisses zu sein, läßt sich vielleicht doch einmal für ein ordent-
liches Leben gewinnen und wird ein ebenso ruhiger und ehrenwerter
Bürger wie viele, deren Lebensverhältnisse glücklicher gewesen sind
und denen sich die Versuchung nie mit zwingender Gewalt genähert
hat. Solche Gewalt üben aber Hunger und Elend aus, wenn sie einen
400 A. Abhandlungen.
Jüngling oder Mann, der keine Freunde und Verwandte hat, kein
Heim kennt und keinen Platz in den Reihen des Arbeiterheeres ein-
nehmen kann, verführen, eine Gesellschaft zu bestehlen, die in des
Lebens Unrast und Getümmel an ihnen vorüberzieht. Ich habe keinen
jungen Mann kennen gelernt, der — nach den mir von meinem Freund
gezeigten Briefen zu urteilen — die ihm gewährte Hilfe mehr ge-
würdigt hat als Buckel. Er ist völlig frei von der Untugend fast aller
alten Sünder, daß sie ständig um weitere Hilfe bitten, wenn sie ein-
mal auf die Beine gebracht sind. Obwohl er stets nur eine niedrige
Stellung im Leben ausfüllen wird, zeigt er doch eine bemerkenswerte
Entschlossenheit, anständig und ehrlich zu leben. Soweit sich über-
sehen läßt, stellt seine Laufbahn seit seinem Fortgang aus Manchester
eine völlige Rechtfertigung des Verfahrens dar, ehemalige Gefangene,
wo immer es nur möglich ist, in eine ganz neue Umgebung zu ver-
setzen. Denn die alte Methode, einem Jüngling zu helfen, während
er noch mit seinen früheren Kumpanen in Verkehr steht, würde in
seinem Falle, wie in vielen anderen, mit einem völligen Fehlschlage
geendet haben.
VI. Der verschlagene Pete.
Es ist eine schwierige Aufgabe, den Charakter von Jünglingen
umzumodeln, die durch den Einfluß ihrer Umgebung zu Feinden der
Gesellschaft geworden sind und diese auszubeuten versuchen. Eine
weit härtere Aufgabe ist es, etwas zur Besserung von Burschen zu
tun, die verbrecherische Neigungen gezeigt haben. Und doch er-
scheint die Arbeit an diesen als ein Kinderspiel gegenüber der Be-
einflussung solcher Individuen, die außer dieser gewöhnlichen Un-
begabtheit für ein ehrliches Leben mit überragenden Eigenschaften
für das Gegenteil ausgestattet sind. Die jungen Diebe, welche Kühn-
heit mit Schlauheit verbinden, welche sich glückseliger Unkenntnis
von Gewissenslasten erfreuen und, von ihrer Geriebenheit lebend, den
Weg der Sünde weit bequemer und vergnüglicher finden als den
rauhen Pfad tugendhafter Plackerei — diese Leute machen, wenigstens
soweit meine Erfahrung reicht, alle Versuche sittlicher Einwirkung zu
schanden. Sie können lediglich dadurch in Zucht gehalten werden,
daß sie bei den seltenen Gelegenheiten, wo sie dem Gesetz eine
Handhabe bieten, Strafen erhalten, die schwer genug sind, um Ehr-
lichkeit zur besten Politik zu machen.
Pete, der seinen Spitznamen »der Verschlagene« redlich verdient
hat, ist einer dieser schwierigen Jungen. Seine Erscheinung läßt auf
den ersten Blick den Gedanken an Arglist nicht aufkommen; denn
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 401
Pete hat eine gute Gestalt, ein helles Gesicht, lockiges Haar, aber
seine Augen — Augen, die einem niemals gerade ins Gesicht blicken
— verraten ihn. Er ist beliebt bei anderen Burschen, da er einen
Vorrat lustiger Schnurren hat, ständig ein Lächeln zeigt und stets zu
einem Scherz bereit ist; außerdem gewinnt er ihre Bewunderung
durch eine Fertigkeit, die ich später beschreiben werde. So wie er
ist, verbringt er sein Leben ohne Pein und Reue, und gerade in seiner
Zufriedenheit liegt das Hoffnungslose seines Charakters.
Ich sah ihn zum erstenmal vor etwa vier Jahren, während er
eine seiner — trotz aller Verschlagenheit hübsch zahlreichen — Strafen
für Verbrechen verbüßte. Er versprach damals, er wolle, wenn ihm
nur bei seiner Entlassung eine Gelegenheit gegeben werde, sich zur
Ordnung bequemen und das Herumstrolchen und Stehlen aufgeben.
Ich sagte, wenn es ihm mit seinem Verlangen nach Arbeit Ernst
wäre, möge er mich aufsuchen, und bald nach erlangter Freiheit stellte
er sich ein. Er kam früh am Abend, nett angezogen, peinlich sauber,
mit wohlgebürstetem Haar und blank geputzten Stiefeln und machte
alles in allem keinen unvorteilhaften Eindruck. Ich erhielt an jenem
Abend den Besuch verschiedener anderer Jünglinge, und unter ihnen
kam, zwei Stunden später als Pete, einer, der sich Terence O’Neill
nannte. Terence war von oben bis unten schmutzig, aber seine Hände
und sein Gesicht waren besonders schwarz; er trug weder Kragen
noch Halstuch, und seine Holzschuhe waren äußerst abgenutzt. Er
suchte um Arbeit nach, beschrieb sich als völlig verarmt, wonach er
auch aussah, und erbat und erhielt den Preis für ein Nachtquartier
und ein Frühstück.
Doch kehren wir zu Pete zurück. Abend für Abend sprach er
vor, stets um dieselbe Zeit und stets sauber und nett. Es ist nicht
leicht für einen Burschen, der ohne Geld aus dem Gefängnis heraus-
kommt, während der ersten paar Wochen vorwärtszukommen, wenn
nicht sein Lohn außergewöhnlich hoch ist, und ich gewährte ihm
daher bereitwillig manche der kleinen Vorteile, um die er nachsuchte,
da ich keinen Grund hatte, zu bezweifeln, daß er regelmäßig arbeitete.
Aber nach kurzer Zeit kam mir plötzlich der Gedanke, daß es doch
ein merkwürdiges Zusammentreffen sei, daß Terence, der seine erste
Vorstellung an demselben Abend wie Pete gemacht hatte, für seine
ferneren Besuche stets dieselben Abende wählte und dem Pete stets
innerhalb des gleichen Zeitraumes folgte, und nachdem dieser Ge-
dankengang einmal eingesetzt hatte, begann mir eine schreckliche
Möglichkeit aufzudämmern. Konnte es angehen, daß ich, der sich
seiner Erfahrung und seines Scharfblicks rühmte, erfolgreich hinters
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 26
402 A. Abhandlungen.
Licht geführt war, und daß Pete der Fleißige und Terence der Arbeits-
lose eine und dieselbe Person waren. Denn es war nicht unwahr-
scheinlich, daß Pete, obwohl er nach meiner bestimmten Kenntnis die
Arbeit begonnen hatte, doch ihre nähere Bekanntschaft zu unangenehm
fand, und wieder einmal von seiner Verschmitztheit lebte. Als er am
folgenden Abend vorsprach, nahm ich sein genaues Signalement und
bemerkte eine Narbe auf seiner rechten Backe und ein eigenartiges
Tätowierungsmal auf einem Handgelenk. Ich fragte ihn, ob er noch
in Arbeit wäre; er bejahte dies und versicherte, daß er die Arbeit
schätze, und daß ich nach einigen Tagen mit ihm nicht weiter be-
helligt werden würde, da er völlig auf eigenen Füßen stehen und
keinen weiteren Beistand benötigen werde. Dann fragte ich beiläufig,
ob er zufällig einen Burschen O’Neill kenne, und er antwortete auf
der Stelle, daß er niemals auch nur den Namen gehört habe. Ich
schloß das Gespräch damit, daß ich ihm sagte, ich könne wirklich
nicht einsehen, daß er noch Hilfe nötig habe, und entließ ihn in
ziemlich trostloser Verfassung. Gegen neun Uhr kam O'Neil,
schmutziger als gewöhnlich und mit einer an Kläglichkeit alle früheren
übertreffenden Erzählung von Not und Entbehrung nach vergeblichen
Wanderungen auf Arbeitssuche. Ich fragte ihn, ob ich ihn nicht schon
an diesem Abend gesehen hätte, und als ich darauf die unvermeid-
liche verneinende Antwort bekam, fragte ich weiter, ob er zufällig
einen Burschen namens Pete kenne. »Nein«, kam es ganz glatt heraus,
»ich kenne niemanden dieses Namens, Herr«. Ich sagte ihm, er irre
sich wohl, trat dann nahe herzu und sah unter dem Schmutz auf
seinem Gesicht Petes Narbe, auf seinem Handgelenk Petes tätowierte
Dame und in einer seiner Taschen das von Pete getragene Halstuch.
Daraufhin fühlte ich mich berechtigt, ihn in ganz mildem Tone zu
fragen, ob er jemals von so einem Ding wie Wahrheit gehört habe.
Für einen Augenblick sah er mir voll ins Gesicht, als er sagte:
»Worauf wollen Sie hinaus?« Ich sagte ihm, daß er Pete wäre und
daß ich ihn schon um sieben gesehen hätte, wobei ich gleichzeitig
seine Narbe berührte und auf seine Tätowierung zeigte. Er errötete
leicht unter seinem Schmutz und blieb dabei, daß er nichts von Pete
wisse, und daß sein wirklicher Name O’Neill sei, obwohl es jetzt völlig
sicher war, daß beide ein und dieselbe Person darstellten. Durch
weitere Fragen brachte ich heraus, daß er nur an einem Tag gearbeitet
hatte und sich vor seinen Genossen mit dem Erfolg brüstete, mit dem
er sein doppeltes Spiel durchführte.
Dies war die letzte Nacht, in der ich O’Neill sah; aber Pete-
erschien noch eine kurze Zeit lang regelmäßig, obwohl ich es natür-
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 403
lich ablehnte, irgend etwas für ihn zu tun. Er hielt mir vor, daß
ohne weitere Hilfe für ihn nur das Gefängnis übrig bliebe, daß es ihm
nicht einfallen würde, auf den Straßen herumzuirren, und daß er
etwas ausüben werde. Tatsächlich führte er seine Drohung aus und
war bald wieder im Gefängnis.
Ich hatte Pete monatelang nicht gesehen, da gelangte an mich
vor einigen Wochen von Behörden, an deren Urteilsfähigkeit ich nicht
zweifeln konnte, ein Brief, der einen jungen Moritz Daly der Hilfe
empfahl. Ich sandte nach Daly, der unverzüglich erschien und er-
zählte, daß er aus einem Gefängnis in Mittelengland nach Verbüßung
seiner dreizehnten Strafe entlassen sei und für den Morgen Arbeit
habe, vorausgesetzt, daß er ein Paar Holzschuhe beschaffen könne.
Der Junge schien in völlig tauglicher Verfassung, im Vollbesitz seiner
Kraft und geeignet für harte körperliche Arbeit jeder Art. Es fiel
mir auf, daß seine Züge mir sehr bekannt vorkamen, und ich fragte
ihn, ob er mich schon einmal gesehen habe. Unverzüglich erhielt ich
die Antwort, daß seine Augen mich niemals erblickt hätten und, wie
er hoffe, es nie wieder tun würden, da er in dauernder Beschäftigung
stehen werde. Als ich ihn mir genauer anschaute, wurde ich inne,
daß hier wieder einmal Pete der Verschlagene alias Terence O’Neill
vor mir stand. Ich erhob mich von meinem Stuhl, ging bedächtig
auf ihn zu und untersuchte seine Backe, warf gleichzeitig auch einen
Blick auf sein Handgelenk. Natürlich waren die Narbe und das
Tätowierungsmal da. »O«, sagte ich, »du bist nicht Daly, du bist
Pete, du bist O’Neill. Was in aller Welt bringt dich jetzt wieder her?
Ich wundere mich, daß du die Unverfrorenheit hast, mir unter die
Augen zu kommen.« Einige Augenblicke beteuerte er, daß er Daly
und niemand sonst wäre; aber schließlich erklärte er, daß Daly sein
richtiger Name sei, daß er mich aber auch schon als O’Neill und
Pete aufgesucht habe. Dies war natürlich genug, und er ging ohne
die verlangte Hilfe, ging ohne die Absicht, Arbeit zu finden, und,
soweit ich sehen konnte, ohne irgendwelches Empfinden dafür, daß
der von ihm eingeschlagene Weg irgendwie schlecht oder tadelns-
wert sei.
Pete gehört zu einem Schlage kleiner Verbrecher, für den es
wenig Hoffnung gibt. Es ist unwahrscheinlich, daß er jemals ein
ganz besonders schweres Verbrechen begehen wird, aber Verschlagen-
heit ist ihm angeboren, und da sie ihn von Zeit zu Zeit zum Erfolg
führt, wird er sich kaum jemals zu schwerer Arbeit herbeilassen. Er
würde in einer Kolonie gut getan haben, wenn man ihn hätte zwingen
können, dort zu bleiben; denn er ist stark und kräftig genug und
26*
404 A. Abhandlungen.
würde wahrscheinlich keine Gelegenheit zur Betätigung seiner Arglist
gefunden haben. Er würde auch einen guten Soldaten abgeben, wenn
nicht der Gedanke an die lange Zeit regelmäßiger Übungen mit seiner
Vorstellung von einem angenehmen Leben unvereinbar wäre. Pete
diente tatsächlich in der Miliz, und zwar in mehr als einem Regiment;
aber ob er einer einzelnen Übung beiwohnte oder nicht, machte ihm
nichts aus, und meines Wissens ist er niemals wegen Nichtgestellung
verhaftet worden. In die Linie, sagte er, würde er niemals eintreten.
»Zu viel Drill, zu viel Disziplin, äußerte er, und er würde niemals
die Zeit, für die er sich einschreiben lassen müßte, hindurch aushalten
Ganz gleich, wie die Beschäftigung, die sich ihm darbot, beschaffen
sein mochte — wenn sie eine Dienstleistung von längerer, bestimmter
Dauer in sich schloß, sah er sie allemal schief an. Seinem Berufe
nach ist er ein Bergarbeiter, und ab und zu pflegt er einige Wochen
in einer Grube zu arbeiten, mitunter in Manchester oder Ashton, mit-
unter weiter weg in Barnsley oder Wigan. Seine Körperkraft würde
ihm stets Arbeit sichern, wenn er wirklich welche haben wollte, aber
an dem Verlangen danach fehlt es vollständig, und der Gedanke an
ein ruhiges, regelmäßiges Leben ist ihm äußerst verhaßt. Beständige
Abwechselung, Freiheit von aller Beschränkung, Gelegenheiten, sich
unter Haufen seinesgleichen zu mischen, mit völliger Freiheit zu tun,
was ihm beliebt — diese Dinge bilden für ihn den Inbegriff eines
idealen Lebens, und in der Hauptsache findet er, was er wünscht.
Es mag sein, daß sein Hang zum Wandern in gewissem Grade
von seinen Eltern ererbt ist. Sein Vater war ein berufsmäßiger
Boxer, der mit einigen erwählten Genossen und einem Zelt das Land
durchzog, und dessen Box-Salon eine Reihe von Jahren hindurch zu
den bekanntesten Veranstaltungen auf den Jahrmärkten weit und breit
im Lande gehörte. Pete selbst war ein gewandter Boxer, und sein
Erfolg auf diesem Gebiet brachte ihm ein, was er wahrscheinlich
höher als alles andere schätzte, nämlich den Beifall seiner Kumpanen.
Unglücklicherweise hatte seine Fertigkeit im Boxen in hohem Maße
seine Ansichten über die Notwendigkeit stetiger Arbeit beeinflußt.
Denn er sagte, er könne stets nach einer fremden Stadt gehen und
binnen drei bis vier Stunden irgendjemanden, etwa einen kleinen
Schlachter, ausfindig machen, die sich für ein paar Schillinge auf
einen Wettkampf einlassen und ihm so die Fortsetzung seines trägen,
heiter-gemächlichen Lebens ermöglichen würde. Ich erinnere sehr
wohl, wie er mir bei einer Gelegenheit — es war kurz nach der
ÖO’Neill-Episode — eine wehleidige Geschichte von großem Elend auf-
tischte, in deren Verlauf er erzählte, wie er vor zwei Abenden für
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 405
einen geringen Einsatz mit einem gewissen »Nobbly Bob« gefochten
habe und infolge seiner Niederlage jetzt ganz auf dem Trockenen sei.
Mein Schicksal hat mich zum Zeugen vieler solcher Zweikämpfe ge-
macht, und ich weiß sehr wohl, daß gewöhnlich eine kleine Sammlung
für den Verlierer veranstaltet oder ihm wenigstens irgendeine kleine
Zuwendung gemacht wird. Überdies würden viele der »Sportsleute«
unter den Zuschauern solcher Wettkämpfe sehr bereitwillig ihre Hand
dazu bieten, einem der Wettbewerber die Schrecken des Elends zu
ersparen. Ich wandte mich daher zu Pete und fragte: »Schön, aber
wie stand’s mit der Sammlung für den Verlierer?« Pete errötete
leicht, über seine Lippen huschte ein Lächeln, und er antwortete:
»Ich sehe, es nützt doch nichts; darum will ich lieber gehen.« »Ja«,
sagte ich, »auch mir scheint das besser«, und er verschwand, freilich
nur, um mir spät abends auf meinem Heimwege aufzulauern und mich
zu bestürmen, daß >nur noch dies letzte Mal« für sein Nachtquartier
Rat geschafft werden möge. Ein endgültiges »Nein« wurde mit philo-
sophischem Gleichmut aufgenommen; mit einem Achselzucken, beide
Hände in den Hosentaschen und eine Tingeltangel-Melodie pfeifend,
trollte er sich hinweg.
An und für sich mag die Geschicklichkeit im Boxen dem Pete
als Vorzug angerechnet werden. Denn die Tatsache, daß ein junger
Bursche den Vorrat körperlicher Energie hat, der notwendig ist, um
sich hinzustellen und verschiedene hartumstrittene Runden mit einem
an Größe und Gewicht möglicherweise überlegenen Gegner auszu-
fechten, spricht entschieden zu seinen Gunsten. Wenn es eine Eigen-
schaft gibt, die der heutigen Verbrecherjugend ganz besonders fehlt,
so ist es Mut oder Schneid. Als Ganzes genommen, besteht sie
aus ausnehmend furchtsamen und feigen Burschen, die selten Mut
an den Tag legen außer bei den Gelegenheiten, wenn sie, mit vielen
ihresgleichen zusammengerottet, einem ıohen und wüsten Treiben
frönen. Der durchschnittliche Straßenlümmel ist für sich allein ein
ganz zahmes Glied der menschlichen Gesellschaft.
Solch eine Leibesübung wie das Boxen dient dazu, körperlichen
Mut zu entwickeln, der, wie ich fürchte, nicht nur unter Verbrechern,
sondern auch unter gewöhnlichen jungen Burschen gegenwärtig immer
mehr abhanden kommt. Es ist nicht nur überraschend, sondern auch
bedauerlich, daß nur sehr wenige Burschen es über sich gewinnen,
selbst die Handschuhe anzulegen, obwohl fast alle mit Vergnügen
anderen Kämpfern zuschauen. Ihr Interesse wird jedoch nur wach-
gehalten, wenn es sich um ernstes Boxen handelt und die Kämpfer
sich augenscheinlich Schmerzen zufügen. Wenn die Sache mit Fein-
406 A. Abhandlungen.
heit und Gewandtheit ohne Grausamkeit vor sich geht, machen sie
sich bald davon. Daß dies so ist, ist ein Zeichen des Verfalls.
Ein weiterer Grund, der das Boxen als einen Zeitvertreib für
rauhe Burschen empfiehlt, liegt darin, daß es gewöhnlich mit pein-
licher Ehrlichkeit und Beobachtung der alten und genau festgelegten
Kampfregeln gehandhabt wird. Bei mehr als einer Gelegenheit habe
ich hartnäckig umstrittenen Kämpfen zugeschaut, die mit den leichtesten
Handschuhen und in einem Raum ausgefochten wurden, in dem damals
solche Wettkämpfe keineswegs selten waren. Ich habe von einem Raum
gesprochen, aber es war eher ein kleiner Schuppen, zu dem abgelegene
Pfade führten. Zutritt war keineswegs leicht zu erlangen und bildete
einen Vorzug, den nur gute Empfehlung sichern konnte. Der un-
gedielte Fußboden umschloß einen Ring von der üblichen Größe; an
einem Ende war eine Art kleiner Tribüne roh aufgezimmert, auf der
die Gönner der verschiedenen Kämpfer saßen. Erstere waren meistens
Leute von falstaffschem Körpermaß und auffallend ländlicher Er-
scheinung, trugen ihre steifen Hüte ein klein wenig schief auf dem
Kopf und waren mit schweren goldenen Uhrketten und Ringen ge-
schmückt. Sie schienen einen unerschöpflichen Vorrat großer und
schwerer Zigarren zu besitzen. Die Zuschauer standen an zwei anderen
Seiten des Ringes, während an dem freien Ende hinter den Seilen
eine Öffnung nach einem der mit dem Haus verbundenen Räume
führte. Innerhalb des Ringes standen die Trainer, mit Handtüchern
über ihrem Arm, zu jeder von den Boxern gewünschten Hilfeleistung
bereit. In zwei gegenüberliegenden Ecken standen zwei niedrige
Hocker mit je einem Eimer voll Wasser und einem Schwamm zur
Seite. Sobald die Fechter, bis zu den Lenden entblößt und nur mit
Hosen und Schuhen bekleidet, in den Ring traten und Stellung gegen-
einander einnahmen, erging die Aufforderung, alle Zigarren, Pfeifen
und Zigaretten ausgehen zu lassen, damit keine Rauchschwaden durch
den Ring ziehen und irgendwie den freien Ausblick der Boxer beein-
trächtigen könnten. Ebenso wurde Schweigen geboten, und lautes
»Sch, sche ertönte rings in dem Schuppen. Dann ging der Kampf
vor sich, während lautlose Stille bis zum Ende jeder Runde herrschte,
bis die Boxer sich zu ihren Hockern zurückzogen und, rücklings
in voller Länge ausgestreckt, mit den Armen auf den Seilen in der
Ecke ruhend, mit dem Schwamm benetzt und von den Handtüchern der
Trainer umfächelt wurden. Ich habe niemals einem vornehmer ge-
führten Kampf beigewohnt, und obwohl die Zuschauer sämtlich rauhe
Gesellen waren, deren Sprache ziemlich finster und widerwärtig an-
zuhören war, schienen sie alle miteinander genau zu wissen, was recht
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 407
und billig war, und schienen ängstlich darauf bedacht zu sein, daß die
Kämpfe nicht durch den leisesten Verdacht unehrlichen Spiels beein-
trächtigt würden.
Im Zusammenhang mit dem Boxen möchte ich ein sehr un-
angenehmes Abenteuer berichten. Ich war zufällig in einem gewöhn-
lichen Logierhaus und plauderte freundlich mit den Bewohnern, als
ein großer, muskulöser Mann in sehr zufriedener und fröhlicher
Stimmung eintrat. Ich war ihm völlig fremd, aber er blickte unver-
wandt auf mich und behauptete plötzlich, daß er mich vor einigen
Jahren in einem gewissen Box-Klub getroffen und mit mir geboxt
habe; er schlug jetzt einen weiteren Kampf vor. Da ich nur ein
mittelgroßer Mann bin, er aber über sechs Fuß hoch war, beeilte ich
mich, zu erklären, daß dies wirklich nicht nötig wäre, und daß ich
außerdem keine Handschuhe bei mir hätte. »Zum Henker mit den
Handschuhen!« rief er, »Wir können’s auch ohne sie«. Ich begann
mich entschieden ungemütlich zu fühlen und überlegte, wie ich mit
Anstand fortkommen könnte. Bevor ich mich jedoch rühren konnte,
hatte der Mann sich erhoben und mir einen Schlag gegen die Brust
versetzt. Er wurde darauf von andern Männern festgehalten, blieb
aber ganz freundlich, und als ich ihm sagte, daß ich in der nächsten
Woche vielleicht mit Handschuhen wiederkommen werde, beruhigte
er sich, und ich ging fort. Ich habe ihn niemals seither gesehen und
habe auch kein Verlangen danach. Einen Meister der »edien Kunste
zu treffen, der glaubt, man wünsche mit ihm zu kämpfen, und »Nein«
nicht als Ablehnung gelten lassen will, ist nicht gerade das angenehmste
Erlebnis für jemanden, der niemals sehr vertraut mit den Handschuhen
war und seit langem selbst das bißchen Übung aufgegeben hat.
(Forts. folgt.)
2. Die experimentelle Ermüdungsforschung.
Von
Marx Lobsien, Kiel.
(Fortsetzung.)
Thaddeus Bolton war der erste, der einen — gleich sehr
energischen — Vorstoß gegen die Griesbachsche Methode machte,
die sich sehr schnell einen großen Freundeskreis erwarb. Es wird
sich empfehlen, zunächst einen Augenblick bei seinen Einwendungen
und den Beurteilungen stehen zu bleiben, die sie erfahren haben.
Ich will nur die wesentlichsten Punkte herausgreifen und verweise
im übrigen auf die Abhandlung von Abelson im internationalen
408 A. Abhandlungen.
Archiv für Schulhygiene, in der er besonders eingeht auf »Griesbach,
seine Gegner und seine Freunde«, zu denen auch er gehört, ob-
gleich er zugeben muß, daß noch keineswegs entschieden sei, ob eine
direkte Proportionalität zwischen Ermüdung und Raumschwelle der
Haut bestehe.
Bolton führte regelmäßig an einer Reihe aufeinanderfolgender
Tage je vor und nach einer ermüdenden Arbeit sorgfältige Be-
stimmungen der Raumschwelle aus. Als Ermüdungsarbeit (Agens)
wählte er fortlaufendes Addieren einstelliger Zahlen. Die Arbeitsdauer
wechselte zwischen !/, bis 2 Stunden. Zum Vergleiche wurden solche
Versuchstage eingeschoben, an denen anstelle der Arbeit Ruhe oder
ein Spaziergang gesetzt wurde. Die Untersuchungen wurden an der
Glabella vorgenommen. Das Ästhesiometer war genau nach den An-
gaben Griesbachs angefertigt worden; nur wurden an die Spitzen
zwei kleine senkrecht abgebogene Plättchen angeschraubt, die je eine
Durchbohrung enthielten. In den Löchern spielten zwei kleine 5 mm
lange, genau passende Metallstäbchen, die an ihrem unteren Ende eine
. feine Elfenbeinspitze, am entgegengesetzten je ein kleines Gewicht
trugen. Mit den Spitzen dieser Stäbe wurden die Raumstrecken auf
der Haut abgegrenzt. Bei dem Aufsetzen konnten die Stäbchen frei
in ihren Löchern gleiten; sie übten mithin immer nur mit ihrem
Eigengewicht, das im ganzen 5 g betrug, einen Druck auf die Haut
aus. Bei genauester und ausgedehntester Prüfung der Beziehungen
zwischen Raumschwelle und Ermüdungsgrad stellte sich in insgesamt
drei Versuchsreihen folgendes heraus: In der ersten Versuchsreihe
war ein solcher Zusammenhang andeutungsweise, in der zweiten kaum,
in der letzten durchaus gar nicht erkennbar, obgleich die Ermüdungs-
grade sehr beträchlich waren. »Jedenfalls läßt sich sagen«, so schließt
Bolton, »daß die Beeinflussung der Raumschwelle durch die geistige
Ermüdung, wenn es überhaupt eine solche gibt, eine äußerst gering-
fügige und unsichere sein muß. Somit ist jede Möglichkeit ausge-
schlossen, die Raumschwelle in Massenuntersuchungen als Maß der
Ermüdung zu benutzen.e — Die Untersuchungen Boltons wurden nur
an einer Versuchsperson ausgeführt. (Das geht unzweifelhaft aus dem
Texte hervor, obgleich keine bestimmte Angabe dafür vorhanden ist.)
Die methodische und technische Seite, dazu die Berechnungs-
weise haben durch Griesbach, Noikow u.a. harte Angriffe er-
fahren, zum großen Teile mit Recht. Ein Hauptmangel nach Seite
der Versuchstechnik ist der, daß Bolton nur mit einem Prüf-
ling experimentierte und die Ergebnisse in ihrer Bedeutung ver-
allgemeinerte. Die individuellen Unterschiede sind aber so durch-
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 409
greifender Art und andererseits die Nivellierungen infolge der Durch-
schnittsrechnung so stark, daß nicht erlaubt werden kann, diese Er-
gebnisse zum Wertmesser jener und umgekehrt zu machen, auch
nicht- bei denkbar sorgfältigstter Durchführung der individuellen
Untersuchungsreihen. Man muß immer mit der Möglichkeit rechnen,
daß dann, wenn man sich auf einen Prüfling oder eine geringe Anzahl
Versuchspersonen beschränkt, solche dominieren, bei denen eben die
geforderten Beziehungen undeutlich, kaum oder überhaupt nicht zur
Ausprägung gelangen.
Der zweite Hauptfehler der Boltonschen Methode ist der, daß
sie der Übung sehr großen Spielraum läßt und trotzdem ihre Wir-
kungen unbeachtet läßt. Seine Versuche sind Laboratoriumsversuche,
die Versuchsperson überhaupt im Experimentieren geschult: Somit
kann nicht ausbleiben, daß durch fortgesetzte Inanspruchnahme der
mehr oder minder gleichartigen psychophysischen Betätigung ein
steigendes Maß von Übung sich bemerkbar macht. Eine ganze Reihe
von Untersuchungen haben dargetan, daß ein solcher, zwar individuell
verschiedener, Übungszuwachs in bedeutendem Umfange sich nach-
weisen läßt. Er äußert sich darin, daß immer kleinere Zirkelabstände
als zwei deutlich aufgefaßt werden. Die Wirkung der Übung ist in
der Tat imstande, diejenige der Ermüdung zu überdecken, mindestens
zu fälschen. (Eine eingehende Untersuchung dieser Übungswirkungen
ist mir nicht bekannt; sicherlich wäre sie für die Beurteilung der
ästhesiometrischen Methode von sehr großem Werte) Daß bei den
Boltonschen Untersuchungen die Übung eine große, umdeutende
Rolle gespielt haben muß, kann man unschwer aus den Ergebnissen
der oben genannten drei Untersuchungsreihen herauslesen, wenn man
die charakteristischen Wendungen beachtet: 1. Reihe: die Beziehung
ist andeutungsweise erkennbar; 2. Reihe: sie ist kaum erkennbar;
3. Reihe: sie tritt gar nicht hervor.
Die rechnerische Seite der Boltonschen Versuche hat Noikow
einer Kritik unterworfen; er nennt die Berechnungsweise mangelhaft
und begründet das so: »Bolton addiert die Ästhesiometerzahlen, ohne
darauf Rücksicht zu nehmen, daß die verschiedenen Zahlen auch eine
verschiedene Bedeutung haben können (Erholung, Überanstrengung
usw.) Da er außerdem für seine Berechnungen Zahlen verwendet,
die nicht dieselbe Sache bezeichnen, so ist es leicht zu verstehen, daß
das Zusammenwerfen derselben ein völlig unrichtiges Bild über die
Beziehung zwischen Ermüdung und Hautsensibilität gibt. ... Wir
dürfen die Zahlen, welche Ermüdung, Erholung, Abspannung, Über-
anstrengung bezeichnen, nicht miteinander verwechseln.«
410 A. Abhandlungen.
Prof. Noikow hat in seiner Arbeit über » Ästhesiometrische Er-
müdungsmessungen« sich dadurch ein besonderes Verdienst um die
Würdigung der Ästhesiometermethode erworben, daß er der Frage
ernstlich nachging, welche Ermüdungszustände bewirken nicht eine
Vergrößerung, sondern eine Verminderung der Raumschwelle. Da-
durch ward die Methode in physiologischer Hinsicht vertieft, die
Deutung der Messungsresultate erleichtert, vor Fehlschlüssen bewahrt
und der Wert der ästhesiometrischen Methode für die praktische Schul-
hygiene erhöht. Er liefert damit einen ungemein wertvollen Beitrag
zur Kritik der Raumschwellenmethode.
Die Methode entsprach genau der von Griesbach angewandten.
Die Versuche wurden so lange fortgesetzt, bis aus den erhaltenen
Zahlen eine Konstanz in den Beziehungen nachgewiesen werden konnte.
Sie wurden mit einzelnen Personen und mit Gruppen von 2 bis 5
ausgeführt, die Beobachtungen wurden an Schülern und Schülerinnen
in den Schulen, an Studenten und Studentinnen im pädagogischen
Universitätslaboratorium zu Sofia angestellt. Die Ermüdungsarbeit
dauerte 15 bis 30 Minuten und war der gewöhnlichen iii a
möglichst angepaßt.
Bisher waren zwei Umstände bekannt, unter denen bei gesunden
Prüflingen nach Ermüdungsarbeiten eine Verminderung der Raum-
schwelle sich nachweisen läßt: 1. beim Rückgang der Ermüdung;
2. bei anormalen Individuen. Dazu unterscheidet Noikow noch
weitere drei. Zunächst ist dann eine Verminderung der Raumschwelle
zu konstatieren, wenn die geforderte Arbeit nicht einen Zuwachs an
Ermüdung, sondern eine Erholung für die Versuchsperson darstellt,
also dann, wenn der Prüfling von einer schwereren zu einer leichteren
Arbeit übergeht. In allen ästhesiometrischen Arbeiten, die bisher er-
schienen sind, ist dieser Tatsache Erwähnung geschehen, wenigstens
soweit sie sich mit dem Ermüdungswert der einzelnen Unterrichts-
fächer beschäftigten. — Neben den eben genannten Fällen, gelang
Noikow dann noch die sehr wertvolle Entdeckung, daß auch nach
Überanstrengung Verminderung der Raumschwelle sich einstellt.
»Die Verminderung ist dabei sehr bedeutend, es kommt zu einer aus-
geprägten Hyperästhesie, zu Irradiationen, anhaltenden Nachempfin-
dungen und gelegentlich zu schmerzhaften Empfindungen — entgegen
der Meinung von Frl. Dr. Joteyko, welche annimmt, geringe Ermüdung
sei mit Hyperästhesie, große mit Anästhesie verbunden, aber in voller
Übereinstimmung mit den Erfahrungen Binets, der allerdings des
objektiven Merkmals der Übermüdung der verminderten Raumschwelle
keiner Erwähnung tut, sondern sich mit dem subjektiven Standpunkte
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 411
begnügt.ce — Endlich ist noch darauf aufmerksam zu machen, daß
Schlesinger als Ergebnis seiner ästhesiometrischen Untersuchungen
an schwachbefähigten Kindern feststellte, daß nur wenige eine Er-
höhung, die meisten eine Konstanz und viele eine Erniedrigung der
Schwellenwerte zeigen. Diese Untersuchungen bedürfen noch um-
fänglicher Nachprüfung.
Es möge erlaubt sein, durch einige Bemerkungen die Technik
der Ästhesiometerversuche nach ihrer Schwierigkeit anzudeuten. Zu-
nächst steht zur Frage, welche Art Distanzen man bei der Bestim-
mung der Schwelle als beste wählen müsse. Weber wandte dis-
kontinuierliche Distanzen an, ein etwas umständlicheres Verfahren,
Lichtenberg empfahl zuerst die Methode der Minimaländerungen,
d.h. man müsse von einer möglichst kleinen oder einer größeren
Distanz aus vor-, bezw. rückwärtsschreiten, bis die Zweiheit der Be-
rührungspunkte unzweifelhaft erkannt sei. Vierordt wandte zuerst
die Methode der richtigen und falschen Fälle an, d. h. er konstatierte
die jeweiligen Anzahlen der richtigen und falschen Angaben und be-
rechnete daraus das Mitte. Henri empfiehlt eine Verbindung der
Methode der Minimaländerungen mit derjenigen der alternierenden
Distanzen. Binet entscheidet sich auf Grund seiner äußerst gewissen-
haften Untersuchungen für die ausschließliche Benutzung der Methode
mit verschiedenen, wechselnden Zirkelabständen; er verwirft die Be-
nutzung des Griesbachschen Tasterzirkels und entscheidet sich für
den Gleitzirkel; er lehnt die Anwendung von Vexierversuchen ab, da
sie zu sehr Suggestivwirkungen zu begünstigen vermöchten. Schuyten
endlich wählt in seiner vorzüglichen Arbeit die Methode der Minimal-
änderungen und zwar schlägt er den Weg ein von großen Distanzen
rückwärtsschreitend und mißt mittels »schuifpasser«!) auf einer mit
großer mathematischer Genauigkeit bestimmten Hautstelle über beiden
Jochbeinen und hält die Schwelle für gefunden, wenn mindestens
zweimal dieselbe Antwort gegeben wird. Er berechnete aus den An-
gaben links und rechts das Mittel. — Stoßen schon diese technischen
Momente auf nicht geringe Schwierigkeit und auf verschiedene Emp-
fehlungen je nach den Erfahrungen der Forscher, so nicht weniger,
die Umstände, unter denen die Messungen überhaupt ausgeführt
werden dürfen, zu erkunden. Hier bedurfte es vielfältiger Erfahrungen
und ein vorschnelles Experimentieren und Schlüsseziehen mußte zu
mancherlei Mißverständnissen und Kontroversen führen. Ich erwähne
folgendes: 1. Daß die Sensibilität an den verschiedenen Stellen der Haut
1) Weil der Daumen bequemer vor- als rückwärts bewegt werden kann.
412 A. Abhandlungen.
von ungleicher Feinheit ist, wurde bereits oben erwähnt. 2. Es ist
nicht gleichgültig, ob man die Zirkelspitzen in der Längs- oder in
der Querachse des Körpers, oder gar willkürlich zwischen beiden
wechselnd auf die Haut setzt, denn die Schwellenabstände sind in der
Körperlängsachse größer als in transversaler Richtung. 3. Sorgsam
muß ins Auge gefaßt werden, daß die Feinheit des Hautgefühls um-
gekehrt proportional ist der Größe der Schwelle. 4. Es ist keineswegs
gleichgültig, ob man die Zirkelspitzen gleichzeitig oder sukzessiv auf-
setzt; bei sukzessiver Berührung gewinnt man kleinere Schwellen-
werte, und man muß mithin sorgsam darauf bedacht nehmen, entweder
eine simultane Berührung, oder eine sukzessive, mit genauer Messung
der Zeitintervalle, zu ermöglichen. 5. Nach den Untersuchungen
Vierordts sind die Raumschwellen der Haut um so kleiner, je be-
weglicher die Hautstelle ist, an der die ästhesiometrische Messung vor-
genommen wird. 6. Die individuellen Unterschiede sind teils sehr
bedeutend. 7. Auch zeigt sich die Größe des Drucks, mit dem der
Zirkel aufgesetzt wird, auf die Größe der Raumschwelle von be-
deutendem Einfluß; man hat sich deshalb bemüht, Ästhesiometer so zu
konstruieren, daß der Druck konstant blieb (zumeist nicht über 5 g).
8. Die Übung ist von großem Einfluß auf die Hautempfindlichkeit,
sie verkleinert die Schwelle 9. Nach den Beobachtungen Volkmars
werden symmetrisch gelagerte Punkte der Haut in bestimmtem Sinne
beeinflußt, Beobachtungen die auch durch die Messungen Schuytens
Bestätigung erfahren haben. 10. Auch die Temperatur der Haut ist
auf die Feinheit der ästhesiometrischen Messungen von Einfluß; die
Minimalabstände sind größer, wenn Wärmepunkte in die Berührung
mit einbezogen werden, als wenn Kältepunkte berührt werden (Gold-
scheider-Dessoir). 11. Daß die Suggestion bei den ästhesiometrischen
Messungen eine große Rolle spielt, wurde bereits zum Ausdruck ge-
bracht. 12. Die Hautsensibilität des Kindes ist im allgemeinen größer
als die Erwachsener, desgleichen die der Blinden als der Vollsinnigen.
13. Daß Krankheit und der Genuß gewisser Gifte (Alkohol) die
Schwellenwerte beeinflußt, ist wiederholt nachgewiesen worden.
14. Durch Erwärmen steigert sich die Hautempfindlichkeit, unter dem
Einfluß der Kälte verringert sie sich. 15. Wenn die Hautempfindlich-
keit an einer Hautstelle abnimmt, scheint sie auf der symmetrisch ge-
lagerten zu steigen; der Unterschied ist aber gering und die Tat-
sache nicht von großer Wahrscheinlichkeit.
Ich habe diese Punkte angemerkt in der Absicht, zu zeigen, wie
vieler Überlegungen es bedarf, um zu unbedenklichen Voraussetzungen
für eine sichere ästhesiometrische Messung zu gelangen; es häufen
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 413
sich viel mehr Schwierigkeiten, als der, äußerlich betrachtet, technisch
einfache Versuch den Unbefangenen ahnen läßt. Sie zeigen zugleich,
wie leicht möglich ist, zu kontrastierenden Resultaten zu gelangen,
wenn man diese oder jene Schwierigkeit übersieht — sie mahnen
insonderheit zu größter Vorsicht in der Beurteilung und Wertung
ästhesiometrischer Arbeiten — um so mehr als viele von ihnen keine
genaueren Angaben enthalten und eine sorgsame Prüfung der Ver-
suchsumstände unmöglich machen.
Wir können nunmehr das Urteil über den Wert der ästhesio-
metrischen Methode so zusammenfassen: Es kann keinem Zweifel
unterliegen, daß die geistige Ermüdung die Schwelle der
Hautempfindlichkeit zu beeinflussen vermag. Wir kehren
damit zu dem eingangs verzeichneten Urteil Meumanns und Wagners
zurück, das durch Binet und viele andere Forscher ebenfalls ge-
wonnen wurde. Aber es spielen zu viele Nebenumstände mit,
die sich schwer oder gar nicht eliminieren lassen. Man kann
sich daher nicht, wie Binet vorsichtig urteilt, auf sie allein stützen,
und es ist unmöglich, genauere Beziehungen zwischen Raumsinn der
Haut und geistiger Ermüdung aufzudecken. Besonders erweisen sich
Übung und Suggestion als störende Nebenwirkungen, die die Schwelle
merklich beeinflussen und die reinen Ermüdungswirkungen zu fälschen
geeignet sind. Binet mag ferner Recht haben, wenn er darauf auf-
merksam macht, daß sich nicht entscheiden lasse, ob tatsächlich die
Sensibilität der Haut oder die Aufmerksamkeit infolge der Ermüdung
eine Herabsetzung erfährt. Endlich lassen sich nicht schnell größere
Beobachtungsreihen sammeln. Zum Schluß möge noch bemerkt werden,
daß Schuyten auf Grund seiner sehr umfänglichen und zuverlässigen
Untersuchungen auch der festen Überzeugung geworden ist, daß das
Ästhesiometer ein brauchbarer Apparat ist, die geistige Ermüdung
festzustellen — doch geht auch er auf feinere Beziehungen nicht ein.
— Untersuchungen, die die Suggestiv- und Übungswirkungen nicht
grundsätzlich auszuschalten vermögen, können keine einwandfreien
Ergebnisse liefern.
Die übrigen Schwellenmethoden erheischen nur wenige kritische
Bemerkungen. Die Untersuchungen der Hör- und Sehschärfe
unter dem Gesichtspunkte ihrer Beeinflussung durch die Ermüdung
liegen nur in geringem Umfange vor und harren umfänglicher
Nachprüfung. Den Schwellenwert schwacher Gehör- und Seh-
reize zum Zweck der Ermüdungsmessungen empfahlen schon Meu-
mann und Gineff, jedoch meines Wissens ohne selbst praktische
Versuche anzustellen. Baur ist der erste, dem der Nachweis gelang,
414 A. Abhandlungen.
daß allerdings die Hörschärfe unter dem Einfluß der Ermüdung ab-
nahm, das leise Tik-Tak der Uhr wurde in größerer Nähe vernommen
als im Zustande geistiger Frische. Er gibt aber selbst die technischen
Schwierigkeiten seiner Untersuchungen zu, die zur Hauptsache in tag-
täglichen Hörschwankungen bestehen, die von Katarrhen, Verstop-
fungen der Eustachischen Röhre, auch von Ohrschmutzpfropfen, die
im äußeren Gehörgang steckten, bedingt werden. Daneben wird wohl
auch oft mit größeren Schwierigkeiten verbunden sein, die für solche
Versuche erforderliche Ruhe zu ermöglichen.
Baur hat die Ermüdungsmessungen am Auge nach zwei verschie-
denen Methoden angestellt. In seinen Ermüdungsmessungen in
neuem Licht wies er den Einfluß der Ermüdung auf die Pupillen-
reaktionen nach, sie wurden zitterig und ein prompter Schluß der
Pupillen war bei starker Ermüdung überhaupt nicht mehr möglich,
desgleichen war Sehfeldeinschränkung deutlich erkennbar. Trotz dieser
unzweifelhaften Nachweise, war aber die Methode nicht empfehlens-
wert. Die Veränderungen an der Pupille waren zumeist nicht meßbar,
oder wenn sie meßbar waren, so doch in so geringem Umfange, daß
die Ausschläge am Pupillometer kaum erkennbar waren. Auch die Ein-
schränkungen des Sehfeldes empfehlen sich aus methodischen Gründen
nicht zur Messung der Ermüdung; denn einerseits stellen sie an die
Intelligenz der Versuchspersonen Anforderungen, die keineswegs überall
erfüllt werden, andererseits ist aber die ganze Versuchsanordnung
recht kompliziert.
Diese Schwierigkeiten bestehen bei der Messung der Akkomo-
dationsfähigkeit des Auges zur Prüfung der geistigen Leistungsfähig-
keit nicht. Der zur Verwendung gelangende Apparat ist sehr ein-
fach, man kann ihn mit geringer Mühe selbst anfertigen und braucht
nicht zu befürchten, daß er den Anforderungen nicht genüge. Zwar
erfordert er auch einige Übung seitens der Prüflinge, aber sie läßt
sich schnell erledigen, wie ich aus wiederholter Erfahrung bestätigen
kann. Dazu erfordert der Versuch geringe Zeit, so daß man, zumal
wenn mehrere gleichgebaute Apparate in Benutzung genommen werden,
in relativ kurzer Zeit ein größeres Beobachtungsmaterial sammeln
kann. Ein weiterer Vorzug der Methode ist, daß die Markierung der
Akkomodationsbreite mit großer Deutlichkeit ohne umständliche sub-
jektive Erwägungen möglich ist, daß also subjektive Fehldeutungen,
die oft unkontrollierbar und die bedenklichsten Feinde einwandfreier
Ermüdungsmessungen sind, nahezu unmöglich sind, sofern man Sorge
trägt, daß die Einstellung des Auges auf die zu lösende Aufgabe ruhig
und ungestört von statten geht. — Aber die Bedenken, die man er-
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 415
heben muß, sind ähnlicher Art, wie die, welche der Ästhesiometer-
methode gegenüber geäußert wurden. Es kann keinem Zweifel unter-
liegen, daß die Ermüdung sich in einer Herabsetzung der Akkommo-
dationsfähigkeit des Auges äußert. Meine Nachprüfungen haben das
durchaus bestätigt; auch Lorentz ist mit Baur der Ansicht, daß die
Übersättigung des Körpers mit Ermüdungsstoffen (Kenotoxin) imstande
ist, die Augennerven ihre Stabilität verlieren zu lassen und ihre Tätig-
keit zu einer unsicheren, flüchtigen, geschwächten zu gestalten und
den Akkommodationsmuskel in seiner Kontraktionsfähigkeit zu hemmen.
Aber es fehlt der Nachweis, daß im einzelnen feinere Beziehungen
bestehen zwischen der Leistungsfähigkeit und deren Variationen und
den Schwankungen in der Größe der Akkommodationsbreite. Es ge-
lingt mit großer Deutlichkeit der Nachweis von Tagesschwankungen
mit Kulminationspunkten z. B. um zwölf und um vier Uhr, aber die
Feststellung feinerer Beziehung muß weiteren Prüfungen vorbehalten
werden. Zu dem Zweck empfiehlt sich eine Kombination der Baur-
schen mit der Kraepelinschen Addiermethode.
Werfen wir nun einen Blick auf die beiden Schwellenmethoden,
die mit der Hautsensibilitätsmessung sich nahe berühren, die Messung
der Druck- und Schmerzempfindlichkeit. Sie müssen eine sorg-
same Beachtung erfahren, wenn man bei der Ästhesiometermessung
nicht in arge Fehler verfallen will. Bei der Tasterzirkelmethode fand
ein Druck Verwendung, der fünf Gramm nicht überstieg. Erfährt der
Druck erhebliche Steigerung, dann löst er Schmerzempfindungen aus.
Sowohl die Druck- wie die Algesiometermethode haben keine größere
Verwendung gefunden, wegen mancherlei versuchstechnischer Schwierig-
keiten, die sich ihnen entgegenstellen. In den Ergebnissen finden wir
stark auseinandergehende Schlußfolgerungen. Während Vannod,
Swift und Vaschide übereinstimmend feststellten, daß unter dem
Einfluß der Ermüdung eine Erhöhung der Schmerzempfindlichkeit sich
bemerkbar machte, kam Binet zu genau entgegengesetztem Resultat,
er fand, daß Ermüdung die Schmerzempfindlichkeit herabsetze. Bereits
bei der Beurteilung der sich widerstreitenden Meinungen hinsichtlich
der Verwendbarkeit der ästhesiometrischen Messungen zu einer Be-
urteilung des Ermüdungsgrades, erkannten wir, daß es verfrüht ist,
wollte man schließen, eine Methode, die trotz sorgsamer Anwendung
zu konträren Resultaten führe, könne keinen Wert beanspruchen; so
werden wir auch hier, bevor ein abschließendes Urteil gefällt wird,
den Umständen prüfend nachgehen müssen, die geeignet erscheinen,
so entgegengesetzte Schlußfolgerungen zu veranlassen. Es sind die-
selben, wie oben. Auch hier muß sorgsam beachtet werden, daß die
416 A. Abhandlungen.
individuellen Differenzen groß sind, größer noch als bei den Schwellen-
unterschieden der Hautempfindlichkeit. Das gilt in erster Linie von
der Verschiedenheit der Schmerzempfindlichkeit. Es ist bei der Be-
nutzung dieser Methoden noch um ein gut Stück bedenklicher, einer-
seits individuelle Forschungsresultate untereinander, andererseits sie
gegen Durchschnittsergebnisse auszuspielen, in der Absicht zu ent-
scheiden, wo die Wahrheit sei. Als weitere Bedenken kommen hinzu
die Übungs- und die Suggestionserscheinungen. Vielfach wird eine
Inanspruchnahme einer abgegrenzten Hautpartie nach einer anfäng-
lichen Empfindlichkeitssteigerung zur Anästhesie führen, ganz unge-
rechnet den Umstand, daß sich die Radien die Empfindungskreise ge-
rade bei der Schmerzempfindlichkeit mit steigender Übung verlängern.
— Daß es keineswegs gleichgültig ist, ob man die Untersuchungs-
ergebnisse an dieser und jener Hautstelle vergleicht, möge nur er-
wähnt werden.
Ganz besonders bedenklich ist aber bei den Algesiometerversuchen
die sehr gesteigerte Möglichkeit fälschender Suggestivwirkungen.
Ich erachte sie bei Schulkindern so groß, daß sie allein schon ausreichen,
die Methode überhaupt in Frage zu stellen. Wir werden uns mit
dem Resultat dieser Untersuchungen bescheiden müssen: Gewiß ist
auch die Schmerzempfindlichkeit und das Vermögen der Unter-
scheidung von Druckintensitäten den Wirkungen der Ermüdung unter-
worfen, methodische Schwierigkeiten aber machen zunächst unmöglich,
zu entscheiden, in welchem Sinne diese Wirkungen ausfallen. Sicher
sind sie individuell und unter suggestiver Beeinflussung stark variabel.
Die Raum- und Zeitschätzmethode hat bisher nur vereinzelt
Verwendung gefunden. Sie ergeben, daß die Ermüdung auf die Zeit-
schätzung von deutlichem Einfluß ist und zwar, daß Überschätzungen
eines der Beurteilung gebotenen Zeitraumes und zunehmende Ermüdung
in gerader Proportion stehen. Im übrigen müssen aber Nachprüfungen
abgewartet werden. — Offner macht der Methode den Vorwurf: »Bei
der notorischen Unsicherheit der Kinder und vieler Erwachsener im
Zeitschätzen scheint die auf eine einmalige Darbietung des Schätzungs-
objekts verlangte Schätzung ein recht wenig verläßliches Ermüdungs-
maß zu geben.«e Dazu folgende?Bemerkung: Die Beeinflussung der
Zeitintervallschätzung in dem Sinne, daß mit zunehmender Abnahme
der Leistungsfähigkeit und damit der Arbeitsgewißheit eine Über-
schätzung der verflossenen Zeit einhergeht, entspricht der landläufigen
Erfahrung. Die Unsicherheit in der Zeitschätzung ist zwar im all-
gemeinen zuzugeben, es kommt aber darauf an, festzustellen, ob in
den ungenauen Angaben dennoch eine gewisse Regelmäßigkeit auf-
Lehm: Gedanken zu dem Sprechunterricht usw. 417
findbar ist, infolge der, wie bei den andern Schwellenmethoden, zu-
nächst die Möglichkeit besteht, überhaupt verminderte Leistungsfähig-
keit nachzuweisen. Gewisse Gesetzmäßigkeiten scheinen in der Tat
nachweisbar zu sein (vergl. meine Arbeit: Über Schätzung kurzer
Zeiträume durch Schulkinder. Zeitschr. f. Psych., Bd. 50).!)
- (Forts. folgt.)
3. Gedanken zu dem Sprechunterricht auf der Vor-
bezw. Unterstufe der Hilfsschule.
Von
Kurt Lehm, Dresden.
Wenn Eltern Kinder der Hilfsschule zuführen müssen, so fällt
dieser Schritt meist schwer. Den Kindern: Sie müssen von ihren bis-
herigen Lehrern und Kameraden weg und gelten nun als solche, die in
die Dummenschule gehen. Den Eltern: Sie sind in ihren Hoffnungen
hart getroffen. — Beide aber suchen sich vor Eintritt ins Hilfsschulhaus
ein Bild zu machen: Wie mag es in der Hilfsschule überhaupt sein?
Nun öffnet sich die Tür zum Zimmer der Vorstufe. Beklommenen
Herzens treten Mutter und Kind ein. Die Blicke schweifen über die
kleine Schar, durchmessen des Zimmers Raum, haften oft endlich am
Lehrmittelschrank, der meist offen steht, da bald dies bald jenes ge-
braucht wird.
Die Mutter macht dem Kinde Mut: »Da, sieh einmal, die schönen
Sachen !«
Die Mutter macht sich selber Mut: »Ach, hier ist es wohl wie
in der Spielschule?« — Es wird ihr leichter, die Arbeit scheint in
der Hilfsschule anders zu sein.
Und der Lehrer, an den die Frage gerichtet war, setzt erläuternd
hinzu: »Es wird aber nicht nur gespielt, es wird auch dabei gelernt:
denken, sprechen, rechnen usw. «
»Sprechen kann mein Junge schon«, erwidert die Mutter.
»Spricht er denn so wie Ihre andern Kinder, die doch ganz ge-
sund sind?« fragt der Lehrer.
Da kommt der Mutter ein plötzliches Erkennen: Nein, so spricht
er nicht! —
1) U. a.: 1. Längere Zeitintervalle werden bei unmittelbarer Schätzung ge-
nauer gewertet als kürzere. 2. Die Abgrenzung der Intervalle durch Hör- oder
Gesichtsreize beeinflußt die Schätzungsgenauigkeit. 3. Läßt man das Zeitintervall
vom Prüfling so schätzen, daß er genötigt wird es nachzubilden, dann findet
fast ausnahmslos eine Unterschätzung des Intervalls statt, dabei werden durchgehends
die kürzeren Zeiten genauer geschätzt als die längeren.
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 27
418 A. Abhandlungen.
Ein Kind spricht ganz wenig, ein andres unvollständige Sätze,
ein drittes schwatzt viel, aber es ist »nichts Richtiges«, ein viertes
spricht schlecht, es bringt die Wörter nicht richtig heraus, ein fünftes
spricht gar nicht, es ist hörstumm usw.
Jedes Kind soll nun der sprachlichen Minderwertigkeit entsprechend
behandelt werden. Es fragt sich nun, wie kann der Sprechunterricht
auf den Hörstummen, den Stammiler, den Stotterer, den Agrammatiker,
den Schweiger, den Schwätzer heilsame Wirkung ausüben?
Die Hörstummheit wird in Band VIII des Enzyklopäd. Handbuchs
der Pädagogik, herausgegeben von W. Rein, 2. Auflage, Langensalza,
Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1908, S. 795 von H. Gutz-
mann wie folgt geschildert: »Wenn ein Kind von 5 oder 6 Jahren
noch nichts oder nur wenig spricht, dabei aber intelligent ist und
alles zu ihm Gesprochene versteht, so daß an seinem Hörvermögen
nicht zu zweifeln ist, so nennt man diese Art von Stummheit Hör-
stummheit. Die Ursachen der Hörstummheit sind in ihren eigent-
lichen psychischen Elementen nicht klar, jedoch läßt sich ohne weiteres
nachweisen, daß eine gewisse hereditäre Belastung in einer ganzen
Anzahl von Fällen vorhanden ist.«
Diese Ausführungen befassen sich nur mit dem normalen Kinde
und in dem Falle schon ist es nicht leicht, die rechte Behandlung
zu finden. Komplizierter wird das Krankheitsbild noch, wenn Schwach-
sinn mit der Hörstummheit verbunden ist, und mit diesen Fällen nur
dürfen wir in der Hilfsschule rechnen. Ob nun funktionelle Störungen
vorliegen, ob der sprachliche Tiefstand nur Ausdruck der geistigen
Minderwertigkeit ist, das zu wissen, wäre uns gewiß recht lieb, an
der Arbeit aber, die nun einzusetzen hat, nimmt und fördert uns das
Erkennen nichts. Zwei Erfahrungen müssen uns bei der Arbeit leiten:
Auch im geistig Minderwertigen schafft und wirkt noch die Natur,
aber langsam nur kann sie den rudimentären Organismus ausbessern,
ausbauen. Die schaffende Arbeit der Natur für körperliche und
geistige Entfaltung des Kindes können wir unterstützen, nicht aber
durch Besseres ersetzen. Und so gibt sich für die Arbeit eine
doppelte Richtlinie: Dränge nicht mit Ungestüm auf das pathologische
Kind ein, gehe Schritt um Schritt mit der von der Natur gewollten
und gezeigten Entwicklung. Halte den goldnen Mittelweg ein zwischen .
Abwarten und Vorwärtsgehen. Unterlasse also auch nicht, auf das
Kind einzuwirken, denn wie schon gesagt, ohne Unterstützung kann
die Natur den Ausbau nicht vollbringen.
Die hörstummen Kinder der Hilfsschule sind meist sehr schüchtern
und unzugänglich. Hier heißt es, eine psychische Eigenart zu-
Lehm: Gedanken zu dem Sprechunterricht usw. 419
nächst anzuerkennen und das ablehnende und sperrige Wesen zunächst
sich selbst zu überlassen, bis es sich nach einiger Zeit an die Vor-
gänge im Schulzimmer gewöhnt hat. Und beginnt das Kind erst,
den andern Kindern bei Spiel und Arbeit zuzusehen, dann ist schon
ein großes Stück gewonnen, es wird zugänglich. Wenn die Kinder
die Puppe haben, den Reifen oder sonst ein andres Spielzeug, dann
erwacht seine Teilnahme. So überwindet das Kind sich selbst nach
und nach und findet auch einmal den Mut, ein Stück Plastilin anzu-
fassen, ein Spielzeug zu berühren.
So gibt sich der Übergang zum Spiel und zum Sprechen. Da
und dort enthuscht den stummen Lippen ein Laut, artikuliert oder
unartikuliert. Das werden die ersten Bausteine für das Sprachgebäude,
das sich das Kind erbauen sol. Wird das hörstumme Kind, das
sich im ersten Sprechstadium befindet, durch einen ihm besonders
angepaßten Artikulationsunterricht unterstützt, so kann ihm geholfen
werden im Laufe der Zeit.
Der Stammler und der Stotterer sind in ihrer Rigenart allgemein
bekannt, so daß ich mir in diesem Zusammenhang eine eingehende
Schilderung ihres Sprachübels ersparen kann. Für die Heilung des
Stammelns ist nach meiner Erfahrung ein individueller Artikulations-
unterricht wiederum unerläßliche Bedingung.
Der Agrammatiker, der Schwätzer, der Schweiger finden Förderung
im allgemeinen Sprechunterricht. Der Schweiger geht nach und nach
aus sich heraus, so wie sich seine Begriffsarmut hebt. Der Agram-
matiker gelangt zu geregelterem Sprechen, je mehr er an konkreten
Dingen lernt, die Beziehungen herzustellen, und des Schwätzers ge-
dankenarmem Wortschwall wird in bestimmtem Tun und durch scharfe
Heranziehung der Gedanken auf Tatsachen ein Damm entgegengesetzt.
Nicht jede Hilfsschule aber kann sich den Aufwand gesonderter
Sprachheilstunden leisten. Vor- und Unterstufe sind noch an vielen
deutschen Hilfsschulen eins. Da muß ein Sprechunterricht erteilt
werden, der Sprachheilunterricht in dem Sinne von Artiku-
lationsunterricht und zugleich Sprachheilunterricht in dem
Sinne von Begriffe, von geistigem Inhalt vermittelndem
Unterricht ist. Auch in gut ausgebauten Hilfsschulen muß der
Sprechunterricht trotz der Sonderstunden für Stotterer und Stammler
diesen Charakter tragen, er darf auch im Hinblick auf eine all-
gemeine Ausbildung im Sprechen die Sonderkranken nicht
vernachlässigen.
Hilfsschulkinder haben meist wenig Zutrauen zur eigenen Kraft.
Das beobachtet man besonders bei den Kindern, die aus der Normalen-
27*
420 A. Abhandlungen.
schule in die Vor- oder Unterstufe der Hilfsschule eintreten. Die
Kinder merken zu lassen, daß in ihnen eine Kraft wohnt, ist für
mich im ersten wie im weiteren Unterricht oberster Leitsatz.
Um nun einen solchen ersten Erfolg zu erzielen, das heißt also,
das Kind zu einem ersten ermutigenden Schritt in der sprachlichen
Entfaltung zu führen, stehen uns zunächst nur unscheinbare Hilfs-
mittel zur Verfügung. In den Vorübungen zum Sprechen in meiner
bei Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza jetzt
erscheinenden Stoffsammlung zum Sprechunterricht auf der Vor- bezw.
Unterstufe der Hilfsschule habe ich solche Hilfen angegeben. Sie
machen sich den Nachahmungstrieb der Schüler zunutze und sind
insofern eine wesentliche Unterstützung in unserm Bemühen die
Hilfsschulkinder sprachlich zu fördern, als Hilfsschulkindern eine Be-
tätigung an sich zunächst schon Freude bereitet und auch Übungen
mit Kiefer und Zunge eine Art Lebensgefühl bei Vorschülern aus-
lösen. Um so besser gelingen die Übungen, wenn sich ein Erleben
damit verbinden läßt. Wir üben nicht nur Zunge herausstrecken und
zurückziehen, wir üben das Lecken, ein vorgehaltenes Stück Zucker
bringt die Zunge sicher aus dem Munde heraus. An der Unter-,
an der Oberlippe hängt ein Krümchen, hole es mit der Zunge herein.
Solche und andere »Inhaltsangaben« für die einzelnen Übungen helfen
unsern Kindern über die Ungelenkigkeit der Sprechorgane hinweg
und ermüden nicht so leicht, als wenn die Übungen nur als solche
vorgenommen werden.
Es ist aber nicht ratsam, bei den Vorübungen zu lange stehen
zu bleiben, im Laufe der Zeit gelingt manches, was zu Anfang un-
möglich scheint, sich aber auch wirklich von vornherein nicht er- .
reichen läßt. Ich schreite möglichst bald zu den ersten Lauten.
Korrekte Artikulation suche ich zunächst nur annähernd zu er-
zielen. Sie gelingt meist nicht recht und Mißerfolge heben die Sprech-
lust nicht. Wohl aber gibt es ein gutes Mittel, die ersten Selbstlaut-
übungen vorzubereiten. Das Mittel habe ich meinem Jüngsten, er
war damals 1; 6 alt, abgelauscht. Er »sang« in diesem Alter schon
sehr gern, allerdings nur Lieder in Lauten, ohne Worte. Er sang
meist auf einem Ton. Der Text klang bald wie a, bald wie o. Minuten-
lang dauerte der Gesang, und dabei marschierte der Sänger durch
Küche, Vorsaal, Wohnzimmer usw. Auch die Hände und Arme waren
tätig, es wurde zum Singen »geturnt«.
Dieser Lust an Tönen und an Betätigung gebe ich in der Vorstufe
gleich in den ersten Schultagen ihr Recht. Und das singt und schallt
und klatscht und trampelt, daß es eine Lust ist für die Kinder. Da
Lehm: Gedanken zu dem Sprechunterricht usw. 421
strahlen die Gesichter und die Verzagtesten tun mit. Eine Fessel
ist gelöst.
Manche sind auch dabei, die »richtig« singen können. Sie ver-
suchen sich im Einzelgesang.
Aus den Gesangsstudien werden Sprechstudien. Ich löse den
ersten Selbstlaut, a, heraus und suche eine möglichst gute Wiedergabe
zu erzielen, gehe aber bald weiter und bilde folgende Gruppen.
a) Gruppe der Selbstlaute: a_e_i_o_u.
b) Gruppe der Umlaute: ä_ö_ü.
c) Gruppe der Doppellaute: oi__ai _au.
Die Übungen kehren täglich wieder, und die Mängel in der
Artikulation und Atmung weichen nach und nach. Jeder Zwang ist
schädlich. Zwar sind die Gruppen nicht leicht zu merken, bilden
aber eine vorzügliche Übung in der Unterscheidung ähnlicher Laut-
klinger und regulieren die Atmung in günstiger Weise, so daß be-
sondere Atemübungen sich meist erübrigen.
Von den Lautklingern gehe ich nun in die Konkreta hinein unter
Mithilfe eines Mitlautes als Anlaut.
Es ist nicht Nebensache, welchen Plan man der Aufeinanderfolge
der Mitlaute zugrunde legt. In mehrjähriger Erprobung hat sich mir
der Lautlehrgang nach der Methode von Prof. Engel-Dresden als
praktisch erwiesen. Ihm ist auch die Lautfolge der Selbst-, Um- und
Doppellaute entnommen. Nur eine kleine Änderung habe ich bewirkt,
indem ich die in der Lautschule von Professor Engel geforderte
Lautreiheä_ö_ü_oi_ai__au in zwei Gruppen ä_ö_ü—oi_a_au
zerlegte. Die Lautreihe ä bis au war für Vorschüler zu schwer. Die
Aufeinanderfolge der Mitlaute gestaltet sich wie folgt:
I. Ein Mitlaut als Anlaut.
a) Zungenruhende Mitlaute: b-p-f-w-m-h.
b) Zungenbewegende Mitlaute: d-t-1-n-r-g-k-qu-x-
j-s-z-sch.
II. Mehrere Mitlaute als Anlaut.
bl-br-dr-fl-fr-gl-gn-gr-kl-kn-kr-pf-pl-pr-ps-sp-
st-tr-schl- schm - schn - schr - schw - spl - spr - str - pfl - pfr.
Über die Methode von Professor Engel und ihre Verwendbarkeit
in der Hilfsschule habe ich ausführlich geschrieben in der Zeitschrift
für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns
(Bd. V, 1912, 3/5, S. 375—391). Ich verweise darauf und wiederhole
hier nur, daß die Methode Engel von Hilfsschülern nicht voll erfaßt
werden kann, daß sie aber in ihren Grundübungen dem Sprechunter-
richt in der Hilfsschule eine wesentliche Förderung gewährt.
422 A. Abhandlungen.
Eine Stunde des Sprechunterrichts verläuft nun wie folgt:
a) Der neue Laut.
b) Die zugehörige Grundübung.
c) Der neue Gegenstand, die neue Tätigkeit usw. und das
neue Wort.
d) Sätze vom neuen Gegenstand usw. mit dem neuen Wort.
Es sei angenommen, das b sei der neue Laut. Das b wird einzeln
versucht, dann mit den Lautklingern in Verbindung gebracht und
somit in drei Gruppen geübt.
1. ba-be-bi-bo-bu.
2. bä-bö-bü.
3. boi- bai- bau.
Daran schließt sich nun eine Betrachtung und Besprechung eines
Gegenstandes, einer Tätigkeit z. B. Bad, baden, Besen, Bett usw.
Die Grundübungen, die sprechtechnischen Vorübungen halte ich
für durchaus notwendig. In erster Linie kommen sie den Stamnlern,
Stotterern, dann auch den Hörstummen zugute. Letzteren wird nach
meiner Erfahrung an einer Silbe eher einmal ein Erfolg als an einem
ganzen Wort. Damit ist aber nicht gemeint, daß sie vom Wort und
Satzsprechen auszuschließen seien, im Gegenteil. Dem Agrammatiker
und Schwätzer werden die Vorübungen zu Ruhepunkten, da gibt es
kein Hasten. Und den Schweiger ermuntern sie, da es sich nicht um
Wissen handelt.
Die Grundübungen, überhaupt die technischen Übungen sind
nicht der Hauptteil einer Sprechstunde, sie nehmen zu Jahresanfang
etwa zehn bis fünfzehn Minuten in Anspruch, im Laufe des Jahres
kann aber die dafür benötigte Zeit mehr und mehr vermindert werden.
Dabei können die Übungen doch Einzelübungen bleiben und somit
ihre sprachheilende Wirkung auch im allgemeinen Sprechunterricht
haben. Der Hauptteil der Stunde wird dazu verwendet, das Kind
geistig zu fördern, ihm Gelegenheit zu geben, seine eigene Kraft zu
vermehren. Wie kann sich die Stoffauswahl gestalten?
Der erste Grundsatz dürfte sein: Nimm solche Stoffe, die im
Erfahrungsbereich der Schüler liegen. Was jenseit der Möglichkeit
ihrer Erfahrung liegt, wird im günstigsten Falle sprechtechnischer Stoff.
Mit dem Worte Erfahrungsmöglichkeit tut sich freilich ein weites,
weites Gebiet auf. Wenn man mit der »Möglichkeit« rechnet, kann
man alles heranziehen, was etwa einmal an das Kind herantreten
könnte. Doch in diesem Zusammenhange wird der Begriff kaum so
ausgedeutet werden. Was in des Vorschülers engerem Erfahrungs-
kreise liegt, das soll Stoff für den ersten Sprechunterricht sein. Und
Lehm: Gedanken zu dem Sprechunterricht usw. 423
dieser Erfahrungskreis läßt sich etwa in folgende kleinere Kreise
zerlegen:
1. Kreis: Daheim.
2. „ : In der Schule.
3. „ : Zeit und Zahl.
4. „ : Umgangs- und Sprachformen.
5 : Draußen: Straße, Wetter, Elbe usw.
6. „ : Menschen: Namen und Berufe.
T. „ : Spiel und Spielzeug.
8. „ : Unser Körper.
9. „ : Im Laden: Nahrung und Kleidung.
10. ,„ : Tiere.
1l. „ : Pflanzen.
12. „ : Tätigkeiten.
13. : Eigenschaften.
Auf diese kleinen Kreise wird die Aufmerksamkeit der Schüler
immer und immer wieder gelenkt. Nach der Grundübung heißt es:
Heute reden wir von zu Hause, ein andermal: Heute passen wir auf,
was die Leute tun, an einem dritten Tag: Heute sehen wir unsern
Körper an usw. So ist in jeder Stunde der Blick der Kinder auf ein
bestimmtes Stoffgebiet gerichtet, und sie wissen auch schon, um welche
Sprechschwierigkeit es sich handelt. Die Grundübung liegt noch fühl-
bar in den Sprechmuskeln und löst sich leicht wieder beim Nennen
der Dinge.
Jedoch soll es sich nicht nur um das Benennen der Dinge handeln,
nicht nur um ein Vor- und Nachsprechen, nicht um ein Abrichten
nach Art der Papageidressur. Der Sprechunterricht soll, wie schon
oben erwähnt wurde, Kraft wecken und stärken. Und das kann er
am besten, indem er eine Kraftzentrale ausnutzt, der sich das Kind
sehr bald anschließt, es ist das Spiel.
Die der Vorstufe zuzuführenden Kinder können gewöhnlich nicht
spielen. Aber lernen sollen sie es. In diesem Sinne ist die Vorstufe
Spielschule. Und wohl ihr, wenn ihr die Bezeichnung mit vollem
Rechte zuerteilt werden kann. Fassen wir Spiel im Sinne Fröbels,
Inneres äußerlich darzustellen, so versagen die Vorschüler zu Anfang
ganz und gar. Ihr Spiel besteht zunächst in Nachahmung. Wir
müssen daher den umgekehrten Weg gehen, müssen bei den Vor-
schülern ein Innenleben wecken durch Äußeres, und so läßt sich in
ihnen die schöpferische Kraft anregen, die Phantasie.
Wir sprechen z. B. von der Kreide. Auf dem Tisch liegen eckige
und runde, weiße und bunte, große und kleine Kreidestückchen. Die
424 A. Abhandlungen.
Kinder wählen aus nach den Unterscheidungsmerkmalen. Schließlich
heißt es: Kann man mit Kreidestückchen auch spielen! Nein, sagen
die Kinder. O ja, sagt der Lehrer. Da sind zwei runde Kreide-
stückchen. Ich lege sie hintereinander. Das ist eine Dampfwalze.
O ja, sagen die Kinder und freuen sich, das ist eine Dampfwalze.
Jedes fährt mit einer Dampfwalze um den Tisch. — Ob man auch
mit eckigen Kreidestückchen spielen kann? Die Kinder stutzen. Ich
beginne, einige Stückchen in ihrer Längsrichtung aneinanderzureihen
und langsam zu schieben. Das wird ein Zug, rufen die Kinder.
Da sind rote, blaue, weiße, grüne, gelbe Wagen vorhanden. Wir
vergleichen damit den Zug, der in einer Spielzeugschachtel liegt.
Wir holen ihn heraus. Da sehen die Wagen auch so aus, rot und
weiß usw. So lernen die Kinder dann auch zu Hause spielen. Da
wird der Stuhl zum Fuhrwerk usw.
Sehr vorteihaft ist es, wenn die zu behandelnden Gegenstände
nicht nur der Belehrung und dem Spiel, sondern auch der Beschäftigung
dienen können. Mit der Kreide können nach dem Spiel z. B. Mal-
und Schreibübungen vorgenommen werden. Dann bildet das Spiel
einen geeigneten Übergang zu nützlicher Betätigung. Und das ist
für die Vorschüler sehr wünschenswert. Diese nützliche Betätigung
braucht aber nicht nur im Dienste der Schule zu stehen. Es gibt
so mancherlei häusliche und sonstige äußere Beschäftigungen, die vom
Spiel aus angebahnt und in der Schule geübt werden können: ein
gefülltes Gefäß tragen, einen Gegenstand putzen u. dergl. Lassen sich
an einen Gegenstand die drei Tätigkeiten anknüpfen: belehren, spielen,
beschäftigen, dann ist er nach meiner Erfahrung besonders gut ge-
eignet für den Sprechunterricht auf der Vorstufe.
Belehrung könnte auch unter den Begriff Beschäftigung gefaßt
werden, da sie auch die Tätigkeit der Sinne und Glieder in Anspruch
nimmt, somit den Bewegungstrieb erstarken läßt. Und es ist gut so,
wenn die Belehrung mit einem recht großen Kreisabschnitt in das
Beschäftigungsgebiet sich eingrenzt und damit dem Kind als einem
handelnden Wesen den Vorrang gibt vor dem nur zu unterrichtenden
bezw. abzurichtenden Wesen.
In Rücksicht auf diesen Grundsatz sind auch die Konzentrations-
kreise ausgewählt worden, der Stoff soll für das Kind möglichst
lebendig sein.
Nun ergibt sich allerdings, wenn man den einzelnen Lauten und
Lautgruppen folgt, wie sie oben angegeben wurden, eine reiche, ja
überreiche Stoffülle, und es fragt sich, kann das Kind das alles
behalten ?
Lehm: Gedanken zu dem Sprechunterricht usw. 425
Damit kommen wir in das Gebiet des Gedächtnisses. Da bin ich der
Meinung, es muß nicht alles behalten werden. Wenn der Stoff
es aber vermag, die Kinder zu weiterem Nachdenken oder überhaupt
Beschäftigen damit anzuregen, dann ist er auch wert drangenommen
zu werden. Das muß man von Fall zu Fall entscheiden. Ist aber
Interesse für einen Stoff vorhanden, so wird gewöhnlich auch der
Gedächtnisaufnahme keine Schwierigkeit erwachsen. So kann meines
Erachtens eine gewisse Stoffülle nichts schaden. Sie bringt Anregung
und kommt verschiedenen Interessen der Kinder entgegen.
Zum Schluß sei noch die Frage erörtert: Kann der Sprechunterricht
auch gemüt- und charakterbildend wirken?
Gemüt- und Charakterbildung und Sprechunterricht haben an-
scheinend zunächst nichts miteinander zu tun. Und solange der
Sprechunterricht nur der phonetischen Seite der Sprache gerecht werden
will, braucht auch ein einendes Band nicht vorhanden zu sein. So-
bald aber der Sprechunterricht dem höchsten Ziele der Hilfsschul-
arbeit dienen will; Charakter- und Gemütbildung der Hilfsschüler zu
fördern, muß er auch in dieser Beziehung schon Wege anbahnen. Von
Lachen und Freude, von Dank und Undank, von Furcht und Mut,
von Schmerz und Weinen, von Ärger und Unlust und andern Gemüts-
ereignissen muß auch im Sprechunterricht die Rede sein. Und nicht
nur Worte sollen da geredet werden, die Gemütserregungen sollen an
Erlebnissen, soweit es sich schickt und zuträglich ist, geweckt und
gestärkt werden. Lassen sich Erlebnisse in der Schule und auf
Unterrichtsgängen nicht ermöglichen, so muß man freilich zu Er-
innerungsbildern greifen, aber Witterungsverhältnisse, elementare Er-
eignisse, Familienfeste, Unfälle, Krankheit, Taufe, Hochzeit und Tod,
Finden und Verlieren usw. stehen auch im Gedächtnis unsrer Schwachen
in den hervortretendsten Erscheinungen fest. Und die psychische
Gesamtveranlagung der Kinder wird uns dabei immer klarer. — Der
Charakterbildung dienen in Gemeinsamkeit mit eben erwähnten Maß-
nahmen Märchen und andre Geschichten, die an geeigneten Stellen
in entsprechender inhaltlicher und sprachlicher Vereinfachung geboten
werden.
So erwachsen dem Sprechunterricht auf der Vor- bezw. Unter-
stufe der Hilfsschule eine Reihe schwieriger Aufgaben. Wir müssen
aber alles daransetzen, um ihn so praktisch wie möglich zu gestalten,
damit er grüner Zweig sei an des Lebens goldenem Baum.
426 A. Abhandlungen.
4. Problematische Naturen überhaupt und im weiteren
solche schon in jugendlichem Alter.
Eine psychologische Studie über Erfahrungs- und Erziehungsprobleme.
Von
Dr. Boodstein - Elberfeld.
(Fortsetzung.)
Wenden wir deshalb unsere Aufmerksamkeit lieber auf Persönlichkeiten,
deren Lebensinhalt nicht erdichtet oder psychologisch konstruiert
vor uns steht, sondern lebensgeschichtlich verbürgt ist, zu Personen,
die ihren Daseinskampf zwar oft mit rasch wechselndem Glück, aber nach
ihrer Meinung folgerichtig durchzuführen versucht, dabei manches Gute,
Große, Wahre gewollt und erstrebt, aber doch nach gelegentlichen Siegen
schließlich sieglos oder wenigstens unbefriedigt ihre Ziele haben aufgeben
müssen, weil sie, wie Goethe einmal in einem Brief an Nees von Esenbeck
es ausdrückt, »nicht den gebahnten Weg hatten verfolgen mögen, sondern
sich ihre Abweglein suchten, als ob das Leben ein Spaziergehen
wäre, während die Chausseen doch dazu da seien, um wirklich
vom Flecke zu kommen«e. Besonders überzeugend werden in dieser
Hinsicht solche wirken, die vermöge ihrer natürlichen Kräfte und Gaben
sich an Großes wagten und auch Gutes und Schönes erhoffen ließen —
und schließlich doch erfuhren, daß mit des Geschickes Mächten kein ewiger
Bund zu flechten sei, vielleicht gar einen tragischen Ausgang nahmen,
der das »nemo ante mortem beatus« auch an ihnen erfüllte. Vertreter
der schönen Künste, der Technik, der Aristokratie der mensch-
lichen Gesellschaft, kurz solche, die auf der Menschheit Höhen
zu stehen berufen schienen, dürften in dieser Hinsicht besonders überzeugend
wirken. Nur darf man hierbei nicht so engherzig sein, unter diese Signatur
alle einzubegreifen, welche zeitweilig ihrer Nöte nicht Herren werden
konnten, sondern ihnen unterlagen. Denn dann wären nicht allzuviele
davon auszunehmen, weil auch viele Wohlbegabte fast zeitlebens nicht
Kinder des Glücks sind, scheinbar nicht auf einen grünen Zweig kommen,
sondern, wie sich Goethe anderwärts einmal ausdrückt, sich mit sich, ihren
Umständen, ihrer Zeit »herumwürgen« müssen, weil sie der Richtung
ihres Strebens treu bleiben wollen und so mit Aufbietung des letzten
Restes ihrer Kraft ihr Ziel im Auge behalten haben, selbst wenn sie es
nicht ganz erreichten. Ihnen die Palme des Überwinders vorzuenthalten,
wäre eine grelle Unbilligkeit; jedenfalls gehören sie nicht zu den Proble-
matischen, denn ultra posse nemo obligatur. —
Halten wir indes vorläufig zurück auf weiteren allgemeineren Merk-
malen, denn diese dürften auch uns nicht besser gelingen wie seinerzeit Goethe,
d. h. sie dürften im wesentlichen negativ ausfallen; greifen wir vielmehr
zu Beispielen als deren erstes ich Heinrich von Kleist anführe.
Bekannt dürfte sein, daß er am 21. November 1811 seiner Freundin und
sich selbst — wie es heißt im Irrsinn — den Tod gab, zuletzt getragen
von dem Gedanken, daß »die Hölle ihm seine halben Talente geschenkt
Boodstein: Problematische Naturen usw. 427
hätte — denn der Himmel schenkte den Menschen entweder ein ganzes
oder gar keins«. Er schloß damit — allerdings in überaus trauriger und
für sein Vaterland schwerst bedrohlicher Zeit — ein Wirken ab, dem
man — und ursprünglich auch er selbst — mit den besten Hoffnungen
hatte entgegensehen können. Aber die Hoffnungen erschienen je länger
je mehr als trügerisch, und so sah er vor sich ein ruhmloses, sorgenvolles
Leben ohne Liebe, in Siechtum und Not, weil, wie sein letztes Lied be-
kundet, »das Verderben mit entbundenen Wogen kommt auf alles, was
besteht, herangezogene. Drum »lege er die Leier tränend aus den
Händene. Wer seinen Lebens- und Entwicklungsgang verfolgt — ich
verweise in dieser Hinsicht auf einige unten bezeichnete Aufsätze!) —
der findet allerdings, daß Zweifel und Kämpfe, Siechtum des Leibes, un-
gerechter Kaltsinn der Zeitgenossen, Zusammenbruch des Vaterlands und
gemeine Not um das liebe Brot sich vereinigt hatten, um ein erschütterndes
Bild hervorzubringen. Und trotz des oben erwähnten Eigen - Urteils über
seine Begabung, dieses angebliche Höllenvermächtnis, schuf er eine An-
zahl von Werken, die in ihrer Form und Wirkung tatsächlich bis an
die Höhen menschlichen Schaffens hinanreichen, und jedenfalls zeigen, daß
nicht der Mangel an Einbildungs- und Gestaltungskraft überhaupt es ihm
erschwerte, den idealen Gehalt seiner Stoffe in unanfechtbarer Form ins
Licht zu stellen, sondern sein Mangel an innerer und äußerer Ruhe, der
ihn nicht dazu kommen ließ, ein oft von ihm selbst als noch unfertig er-
kanntes Bild fertig zu stellen, ehe er ein neues beginnt. Von der Gewalt
der auf ihn eindringenden Stoffe und reger Gedanken läßt er sich fortreißen,
wagt sich stets an gewaltig große Aufgaben und arbeitet mit Begeisterung an
ihnen — bis ein neuer Stoff ihn von dem noch nicht ganz durchgearbeiteten
abzieht. — So bleibt manches Werk, wie z. B. Robert Guiscard, ein Torso,
und entbehrt, wie fast alle anderen, der glättenden und vollendenden letzten
Hand. Seine Schau- und Trauerspiele (Familie Schroffenstein, das Kätchen von
Heilbronn, Prinz Friedrich von Homburg, die Hermannsschlacht) haben
ganz gewiß wunderbar ergreifende Stellen, zeigen einen eigenartigen und
höchst persönlichen Stil, knappste und doch durchaus greifbare Darstellung
der Handlung; vieles darin zeigt großen Wurf; riesenhafte Anlage; sprach-
liche Wendungen, die die ganze Tonleiter der Empfindung packend wieder-
geben — und doch fast keins von ihnen vermochte wirklich durchzudringen,
voll zu erwärmen und innerlich zu erschüttern, wie es ein rechtes Drama
tun soll. — Und das alles infolge der mancherlei Schwächen, Ungleichheiten,
Folgewidrigkeiten, die ihm anhaften. Vielleicht ist noch das Lustspiel
»der zerbrochene Krug« das am folgerichtigsten durchgeführte seiner
‚dramatischen Werke, wenn auch zuzugeben ist, daß auch die anderen
fortschreitende Handlung zeigen. — Seine Novellen erzählen zwar
1) Heinrich von Treitschke, Historische und politische Aufsätze. Bänd I.
‚Charakteristik von H. v. Kleist. — Heinrich Kurz, Kleist's gesammelte Werke.
Einleitung zu Band I. derselben. -- Ludwig Tieck, Auswahl aus H. v. Kleist’s
Schriften. — Wilhelm Herzog, Kleist als Künstler. — W. von Polenz, Heinrich
von Kleist.
428 ` A. Abhandlungen.
gewandt, aber insofern sehr einförmig, als sie, auch da wo ein Dialog an-
gebracht wäre, sich meist indirekter Rede bedienen. Wollte man auf Kleist
die vom Ästhetiker Friedrich Vischer vorgeschlagen Klassifikation »Genie,
Talent, partielles Genie« anwenden, so könnte man auf seine Begabung
nur das Prädikat 38 anwenden, weil neben seiner Erfinder- und Ausdeutergabe,
seiner verschiedenen Behandlungsweise dramatischer und epischer Stoffe
und der demgemäß sorgsamen Auseinanderhaltung der Kunstformen,
die ihn als denkenden und bewußten Künstler erweisen, doch so
manche geschichtliche, psychologische und ethische Unmöglichkeiten mit
unterlaufen, und vieles geradezu Phantastische, Unwahrscheinliche, Gewalt-
same, Ungeregelte vorkommt, was die volle Wirkung auch des Großgedachten
beeinträchtigt. — So erklärt sich sein oben erwähntes wegwerfendes Urteil über
sich selbst, vermöge dessen er kurz vor seinem Ende noch an seine Schwester
schreibt: »Das Leben hat doch immer nichts Erhabeneres als
dieses, daß man es erhaben wegwerfen kann!« Man versteht solches
Verzagtsein fast nicht, wenn man in der Hermannsschlacht die Worte Hermann
des Cheruskers liest: »Und laßt im Hain der stillen Eichen Wodan für
das Geschenk des Sieges uns danken! Uns bleibt der Rhein noch schleunig
zu ereilen, Damit vorerst der Römer keiner Von der Germania heil’gem
Grund entschlüpfe! Und dann — nach Rom selbst mutig aufzubrechen.
Wir oder unsere Enkel, liebe Brüder! Denn eh doch, seh’ ich ein, er-
schwingt der Kreis der Welt Vor dieser Mordsbrut keine Ruhe, Als bis
das Raubnest ganz zerstört Und nichts als eine schwarze Fahne Von seinem
öden Trümmerhaufen weht!« Sind das nicht die Worte eines Sehers,
dem sich fast am Vorabend der Befreiung des Vaterlands vom
Napoleonischen Joch die Zukunft seines Volks offenbarte? Und doch
wurde gerade er fahnenflüchtig, als die Vorbereitung zur Befreiung ihren
Anfang nahm! Mußte er nicht damals die Zeichen der Zeit erkennen
und zu ihrer Erfüllung mitwirken? Warum wartete er schwächlich darauf,
daß ihm erst von oben eine Botschaft zuteil werde — uneingedenk des
alten Spruchs: »hilf dir selbst, so hilft dir Gott?« Freilich am Ende der
»Familie Schroffenstein« legt er seinem dramatischen Helden die Worte in
den Mund: »Gott der Gerechtigkeit, sprich deutlich mit dem Menschen,
daß er weiß, auch was er soll!« Sein — durch die unerfreulichen und
verwirrten Zeitverhältnisse, durch eigene Not und diejenige seiner unheilbar
kranken Freundin — durchaus verstörtes Gemüt hatte ihm völlig ver-
zweifelnde Gedanken eingegeben, so daß er sich und der Freundin den
Tod gab, bevor er als begeisterter Seher seinem schwerst bedrückten Volke
den Weg zur Erhebung, Rettung, Befreiung hätte zeigen können! — Daß
der Goethesche Spruch angesichts dieser Umstände wie auf Kleist gemünzt
erscheint, kann doch gewiß nicht geleugnet werden, wenn wir auch nicht
wissen, ob es wirklich der Fall war. —
Noch einem anderen dramatischen Dichter aus dem ersten Drittel des
vorigen Jahrhunderts muß ich die Bezeichnung einer problematischen Natur
zuerkennen, weil auch seine Begabung eine unverkennbar höchst bedeutende
war und trotz seines frühen Todes — er starb im Alter von 35 Jahren
am 12, September 1836 — Proben eines gewaltigen Könnens und Wollens
Boodstein: Problematische Naturen usw. 429
abgelegt hatte, und er gleichwohl, ein Opfer persönlicher, aber auch
der Zeitverhältnisse ruhe- und ruhmlos, ja fast verachtet und elend
zugrunde ging, weil auch in ihm der innere Widerstreit bewirkte, daß
sich sein Leben ohne Genuß verzehrte, zumal er weder irgend
einer Lage gewachsen schien, noch trotzalledem sich selbst zu genügen ver-
mochte. Ich meine Christian Dietrich Grabbe, welcher neben anderem
mit Kleist auch das äußere Merkmal gemein hat, daß auch er eine Hermanns-
schlacht verfaßte, die freilich einen wesentlich anderen Typus hat als die
Kleistsche und deshalb sich unmittelbar mit dieser nicht vergleichen läßt.
Dem Bilde, welches Johannes Scherr in seinen »Dämonen« (Leipzig, Verlag
von Otto Wigand, 1871) unter dem Titel: »Ein deutscher Dichter« von
Grabbe entwirft, setzt er als Stichwort ein Zitat aus Grabbes »Herzog
Theodor von Gothland« voran: »Wer würfelte aus Löwenszähnen und
Eselsohren ihn zusammen?« Auch hier dient die Feststellung der Halb-
heit seines Naturells als Erklärung und Grund für den inneren Wider-
streit, unter welchem Grabbe zugrunde ging. Scherr leitet seine Charakte-
ristik mit der Bemerkung ein, daß »wenn in der ersten Hälfte der dreißiger
Jahre des vorigen Jahrhunderts ein Fremder in die Residenz des Däumling-
staates Lippe-Detmold kam und dort auf der Straße eine Figur herumwandeln
sah, welche geradeswegs aus den barocken Märchenbüchern des Kallot-
Hoffmann (E. T. A. Hoffmann, Verfasser des »Kater Murre usw.) entsprungen
zu sein schien, und dann fragte, wer denn der Mann sei? in einem aus
Respekt und Mitleid oder Verachtung wunderlich gemischtem Tone die
Antwort erhielt: »Das ist unser Genie?« »»Euer Genie.«« »Nun ja, der
Herr Auditeur Grabbe, welcher berühmt ist, weil er Komödienbücher trauriger
und lustiger Sorte verfertigt hat.« Der Fremde mochte dann wohl zu sich
sagen: das ist also der Dichter des Gothland, der Hohenstaufen und des
Hannibal, und mochte hochverwundert der die Straße hinabschwankenden
Erscheinung nachsehen. Absonderlich genug war sie. Der Körper wie
horizontal in zwei Teile geschnitten: die obere Hälfte Himmelsfeuer, die
untere Erdenkot; die ganze Gestalt eine so schlotterige Disharmonie,
daß man bei ihrem Anblick sich versucht fühlte, wie ein Schuljunge den
Horaz zu zitieren: disjecti membra poötae. Dann gibt er eine Beschreibung
der äußeren Erscheinung, die jedem treffend erscheint, der in einer Literatur-
geschichte etwa ein Bild des Mannes, zumal seiner Schädelbildung und
Stirnwölbung gesehen hatte. Wer aber außerdem noch die erste Gesamt-
ausgabe seiner Werke und die Einleitung dazu von Rudolph Gottschall,
welche viele Daten und Umstände seines Lebens und Schaffens kennzeichnet,
gelesen hat, der muß empfinden, daß diesem Äußern auch das ganze Trieb-
werk seines Seins und Schaffens und endlich seines Verkommens — kurz
seiner ganzen inneren Gestaltung, Verfassung und Führung durchaus ent-
sprach. Grabbe, der, wie schon gesagt, nicht ganz 35 Jahre alt wurde
und, wie er selbst meinte, an seiner unvollendeten Hermannsschlacht starb
oder ihr zu unterliegen glaubte, hat ja — wie aus den schon erwähnten
Dramentiteln zu ersehen ist — gewiß Großes sich als Ziel gesetzt, und
in vielen Stücken Stellen und Szenen gedichtet, Charaktere gezeichnet und
in seiner Ausdrucksweise viel Schlagkräftiges, ja Erhabenes in Worten und
430 A. Abhandlungen.
Wendungen hervorgebracht, die man genial nennen kann. Wie Gottschall
hinzufügt, spitzt sich bei ihm Stoff und Form, Dialog und Situation epi-
grammatisch zu und legt in seinen Dramen, bis in seine letzten, die
Muskeln der Tragödie, nicht bloß das Skelett derselben bloß. Immerhin
seien — zumal diese letzterschienenen (Hannibal, die Hermannsschlacht)
gedichtete Ruinen d. h. solche, welche die Vollendung nicht ertragen
würden, also Ruinen bleiben müssen; denn sie tragen den Stempel der
zerrütteten Dichterkraft, zerrüttet durch den Dichter selbst, welcher
der Verbitterung, dem Trotz und dem Hohn, die den Menschen erfüllten,
in Spott und Grimassen, unter Verschmähung des Reizes und Schwunges
dichterischer Einkleidung, früh, dann allzuoft, zuletzt ausschließlich gerade-
zu abstoßenden Ausdruck verlieh. — Sieht man aber seinen Lebens-
lauf durch, so kann man, obwohl er in einem Zuchthause aufgewachsen war,
das er gelegentlich an seiner Entartung schuld sein ließ, nicht sagen, daß
seine elterlichen Verhältnisse dazu Anlaß geboten hätten, es sei denn,
daß die Eltern, stolz auf das begabte einzige Kind, vielleicht allzu nachsichtig
ihm gegenüber gewesen sein dürften. Schon mit 16 Jahren regte sich
die dichterische Ader in ihm und kam in Schulaufsätzen und ähnlichem
zur Geltung; im gleichen Alter aber fing er auch schon an, dem Saufteufel
zu dienen und blieb ihm leider bis ans Lebensende treu. Ihm verdankte
er schließlich die Rückenmarkschwindsucht, an welcher er starb. Wissen-
schaftliche und berufliche Studien spielten neben diesem furchtbaren Hange
eine Nebenrolle; seine dichterische Veranlagung hatte ihm aber doch den
Weg für eine Beamtenstellung geöffnet, die er schnöde vernachlässigte und
endlich auch aufgeben mußte. Die letztjährigen Episoden in Frankfurt a. M.
und in Düsseldorf schlugen dem Fasse seiner Selbstachtung schließlich den
Boden aus, bis er, abgelumpt und todesmatt, wieder in Detmold landete,
um da — zwar im Hause seiner Frau — aber in den Armen seiner Mutter
erlöst zu werden. Hatte er schon 1820 bei seiner Abreise nach Leipzig,
wo er die Rechte studieren wollte, den Embryo seines »Herzogs von
Gothland« mitgenommen, schon als junger Student ein Bild inneren
Zwiespalts (Scherrs Schilderung S. 224.: linkisch und hochfahrend;
schüchtern und aufbrausend; verschlossen und überschäumend; weich und
starrsinnig; phlegmatisch und quecksilbern) bewahrte er diesen Widerstreit
bis ans Ende, nur daß die erwähnten Gegensätze sich von Stufe zu Stufe
vergröberten und den Verkehr mit ihm unleidlich machten. So starb er ver-
einsamt, wenig gewürdigt, früh vergessen, fast verachtet, obwohl die Größe
seiner Stoffe und die Art, wie er sie zu behandeln verstand und in einer
Reihe von Stellen in eigenartiger und großgedachter Weise wirklich aus-
führte, hoher Anerkennung wert gewesen wäre. Wer gedenkt ihrer jetzt
noch? Man höre nur die Titel der Hauptwerke: Don Juan und Faust;
eine Tragödie in 4 Akten; Die Hohenstaufen, ein Cyklus von Tragödien,
davon gedruckt: Kaiser Friedrich Barbarossa; Kaiser Heinrich der Sechste;
Napoleon oder die Hundert Tage, ein Drama; Hannibal. Eine Tragödie;
Die Hermannsschlacht, ein Drama; Scherz, Satire, Ironie und
tiefere Bedeutung, ein Lustspiel in drei Aufzügen; Marius und Sulla
eine Tragödie; Szene aus Alexander der Große und aus »Jesus« eine
Boodstein: Problematische Naturen usw. 431
kleine Szene auf Golgatha. — Kommt nun Scherr, der ja Grabbe auch zu
den Daemonen zählt, d. h. zu den unberechenbaren, allerlei Einfällen
und Einflüssen zugängigen Persönlichkeiten — zu dem Schluß - Ergebnis,
daß seine Vaterlandslosigkeit — denn Lippe-Detmold ist höchstens ein
Vaterländchen — sein Verderben mitverschuldet habe, und daß die 1870
erfolgte Einigung der deutschen Stämme auch tür den Dichter Grabbe
eine Auferstehung und ein Nationalgefühl herbeigeführt haben würde, so
wollen wir solches bei einem Naturell wie dem Grabbes dahin gestellt
sein lassen; möglich ist es freilich, daß günstigere Zeiten einen günstigeren
Einfluß ausgeübt haben würden, sicher erscheint es aber nicht; haben doch
die oben erwähnten großen und gewaltigen Stoffe, die er sich zur Be-
handlung erkor, nicht vermocht, sein inneres Empfinden soweit zu adeln,
daß es sich auch nach außen hin in würdigerer Form bewegte; denn
was vom Leben eines Volkes gilt, das allerdings sich nach Jahrhunderten
mißt, und das sich in seiner Zeit behaupten muß, um nicht für immer
aus der Geschichte auszuscheiden; das gilt auch vom Leben des einzelnen
Menschen: er muß imstande sein, sich gelegentlich auch vom tiefen
Falle zu erheben und dann sich weiter zu behaupten, selbst wenn er tief
gedemütigt sein sollte. Andernfalls geht er rettungslos zugrunde, wenn
ihm auch die reichsten Anlagen zu Gebote ständen. —
Verlassen wir die Dramatiker und gehen wir auf Schriftsteller oder
Künstler der verschiedensten Gattungen ein. — In der Tat, es fehlt auch
auf keinem aller dieser Gebiete an solchen Wohlbegabten, die gerade wegen
der konkurrierenden Bestrebungen, die sie nicht zur Ruhe kommen lassen,
nicht finden können, auf welcher Seite ihre Hauptkraft liegt und ihr am
meisten schöpferischen Erfolg versprechendes Vermögen sich würde be-
tätigen können. Würden wir ja aber auch nicht überall se bedauerliche
Erscheinungen zu buchen haben, wie bei den beiden eben Geschilderten,
so dürfte auch ibr Wirken weder ihnen selbst, noch der Gemeinschaft,
innerhalb deren sie Aufgaben zu erfüllen hätteu, befriedigend erscheinen
können und deshalb im wesentlichen verfehlt sein und keinerlei Lebens-
genuß eintragen, also problematisch sein. — Die sogenannten verkommenen
Genies und recht viele, die tragisch enden sind mindestens teilweise hier-
her zu rechnen. —
Genannt sei hier zuerst Friedrich Nietzsche, als eine Persönlichkeit
aus dem letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts, dessen Charakter
allerdings von der Parteien Haß oder Gunst getragen mannigfaltig gedeutet
wird, über dessen gewaltige, fast epochemachende Begabung aber keinerlei
Zweifel besteht. Aus der überaus reichhaltigen Literatur über ihn will
ich nur drei Urteile anführen, die den eigenartigen Denker zum Verständnis
zu bringen suchen: das eine von Möller van den Bruck in seinem Werke
Die Deutschen«, der ihn den ersten Denker nennt, weil er »das Leben
nicht nur aus dem Denken, sondern das Denken durch das Leben zu
meistern suchte« und aus »seinem Leiden nicht nur seine Leidenschaft,
sondern aus seinem Leiden auch seine gewaltige Tiefe« erklärt. Das
andere stammt aus einer feinsinnigen Studie von Dr. Erich Eckertz:
»N. als Künstler« weil er sowohl in der Form, wie in dem Kern seines
432 A. Abhandlungen.
Werkes sich als Künstler offenbare, zumal seine dichterische Bild-
kraft ans Visionäre grenzt, mit scherzender Leichtigkeit zu
tanzen versteht, so daß seine Klangkraft mit der Musik wetteifert —
und sodann Werte von den Jahrtausenden loslöst, sie in ein dichterisches
Jenseits treibt, wo er dann neue Werte ersinnt und mit der Phantasie
des Musikers zusammenfügt, so daß er ihn schließlich als einen »Geistes-
undSeelenrerwandten Hamlets« bezeichnet. Als dritten will ich dann Friedrich
Paulsen nennen, der in einem Aufsatz »Zum Nietzsche-Kultus« sich,
in Übereinstimmung mit dem Philosophen Ferdinand Toennies und dem
Theologen J. Kaftan, im Tone der Warnung zumal an die jugendlichen
Leser der Werke wendet und ihnen zuruft: »Nietzsche leidet an
intellektuellem Anarchismuse. Mit den genannten beiden, die nicht
ohne persönliche Sympathie mit dem Menschen und Denker N. sind, spricht
er es aus: Lest und genießt, ihr jungen Menschen, aber gedenkt des
Spruches des alten sizilianischen Weisen: »bleibt nüchtern und vergeßt
nicht der Kritike. »Ihr habt es mit einem Schriftsteller zu tun, der selber
an sich keine Kritik übt und jedem Einfall rücksichtslos nachgibt, ihn mit
der Phantasie vor sich hertreibt und übertreibt, freilich um ihn zuletzt
wieder wegzuwerfen; einem Schriftsteller, dem Witz und Pathos, Klarheit
und Tiefsinn, plastische Gewalt und Kraft der Sprache in gleichem Maße
zu Gebote stehn. Lest, aber laßt euch nicht berauschen!«
Auf weitere Zitate und den Hinweis auf das tieftraurige Schicksal N.s
sei hier verzichtet, dagegen hingewiesen auf einen anderen Schriftsteller,
der über einen Zeitraum aus den letzten Jahrzehnten des XVII. Jahr-
hunderts, also den Vorbereitungs-, Schreckens- und Glanzjahren der ersten
französischen Revolution, Schilderungen verfaßte, die au Naturwahrheit und
Anschaulichkeit ihres gleichen suchen (einen Verfasser haben, der, obwohl
akademisch gebildet, sich höchstens als genialer Vagabund bezeichnen
läßt), aber nicht überschätzt werden, wenn man sie und seine Selbst-
biographie sittengesehiehtlich neben Goethes Dichtung und Wahrheit stellt.
Die Bedeutung der Schrift, die lange Zeit, wie ihr Verfasser selbst (der
schließlich in den 20er Jahren des verflossenen Jahrhunderts in Kreuznach
in mißlichsten Verhältnissen starb) völlig verschollen war, ergibt sich
daraus, daß sie — deren Neudruck in den 50er Jahren schon einmal er-
folgte, ohne aber Eindruck zu machen — vor kurzem neu in Stuttgart
erschien und in kürzester Frist sechs Auflagen erlebte. Ihr Verfasser,
der Magister Friedrich C. Lauckhard, geboren 1758 als Sohn eines
luth. Pfarrers in der Pfalz, wurde durch den Vater in der Gelehrsamkeit,
im Trinken von seiner Tante, in der Gemeinheit vom Knecht
und der Magd des Hauses unterrichtet, bis er mit sechzehn Jahren die
Universität Gießen bezog. Wie er es dort trieb — als ÖOrdensbruder,
Renommist, Pereatbringer usw. — beschreibt er selbst mit naiver Ungeniert-
heit, Das hätte aber sittengeschichtlich nicht zuviel zu bedeuten. Be-
Geutsamer aber sind seine Schilderungen des Schulwesens in Deutschland;
des Professoren-, Universitäts-, Studenten-, Philister-, Fürsten- und Volks-
lebens, und der kirchlichen Zustände, besonders wichtig seine Darstellung
des Feldzugs in der Champagne, mit der er sich der Goetheschen
Boodstein: Problematische Naturen usw. 433
»Campagne in Frankreich« an die Seite stellt, und endlich seine »Er-
fahrungen und Bemerkungen eines preußischen Emissärs in der
französischen Republik 1793—1795«; denn aus allem ersieht man, daß er,
trotz seines scheußlich wüsten Lebens, seine Studien nicht vernachlässigte;
konnte er doch in Halle am Pädagogium unterrichten, sich zum Magister
promovieren lassen, an der Universität Vorlesungen halten — bis er,
nachdem sich Bewerbungen um Pfarrstellen zerschlagen — in der Ver-
legenheit wegen einer kleinen Schuld sich anwerben ließ und als dreißig-
jähriger Mann Musketier im von Thaddenschen Regimente wurde,
in welcher Eigenschaft er 1792 den Feldzug gegen Frankreich mitmachte.
Und nun geht die Tragödie fabelhaften Leichtsinns, der Verführung und
der Verzweifelung unaufhaltsam ihren Weg. Er desertiert, gerät unter
die Sansculotten und entgeht mit knapper Not dem Fallbeil, bis er nach
den mannigfachsten Abenteuern nach Deutschland zurückkehrt, und nach
längerem, elenden Dasein, wie schon gesagt, in Kreuznach stirbt,
Gewiß läßt sich auf ihn auch der schon angedeutete Goethesche Ausspruch
anwenden; es ist traurig anzusehen, wie ein außerordentlicher Mensch
sich gar oft mit sich selbst, seinen Umständen, seiner Zeit herumwürgt,
ohne auf einen grünen Zweig zu kommen; Lauckhardt kam aber
nicht nur nicht auf einen grünen Zweig, sondern verkam vollständig, weil
er zu feige war, gegen die vielfachen Widersprüche in sich auch
nur den Kampf zu beginnen, geschweige denn sich in solchem zu
behaupten, obwohl ihm die Einsicht für die Notwendigkeit desselben
nicht fehlte, was aus einzelnen Taisachen (z. B. der Flucht vor einer
Heirat, die ihm eine einträgliche Pfarre hätte verschaffen können) und
anderem deutlich hervorgeht. Liefern die bisherigen — in Wahrheit ab-
stoßenden — Beispiele in gewissem Sinne den Nachweis, daß ein Teil der
Schuld in dem Fehlschlagen nicht unberechtigter Hoffnungen, wie auch in
ungünstigen persönlichen und Zeitverhältnissen; der grössere Teil aber in
der Willens- und Geistesrichtung und in dem vorzeitigen Sichselbst-
aufgeben der drei Männer lag; so treten bei anderen Naturen wieder so
wunderliche und doch so mächtige Einflüsse in so überwiegender Weise
in den Vordergrund, daß es oft genug geradezu Wunder nimmt, wenn jene
— nach lange dauerndem Schwanken und Schweben — sich schließlich doch
noch einigermaßen wieder zurecht finden und wenn auch nicht immer gerade
mit hohen Ehren so doch einigermaßen behaupten, so doch schließlich
nicht allen Boden unter den Füßen verlieren. Für manche freilich können
solche Einflüsse zu unrettbarem Verhängnis werden. An krassen Beispielen
solcher Art fehlt es nicht nur im Leben Einzelner nicht, sondern be-
sonders auch nicht in der Geschichte ganzer Völker und der Lebenssumme
derjenigen, die durch Erbschaft oder auf anderem Wege zur Leitung
der Geschicke der Völker berufen waren; denn das Horazische »quid-
quid delirant reges, plectuntur Achivi« wiederholt sich recht häufig, und
nicht nur im Altertum und in gewissen Perioden des Cäsarenwahnsinns,
sondern gelegentlich bis in unser Zeitalter hinein. Ja, mit Wehmut muß
man des Falles einzelner Herrscher gedenken, die, bestens begabt und
zunächst in bester Absicht geleitet, aber fast von der Schulbank weg
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 28
434 A. Abhandlungen.
zur Regierung berufen wurden und durch ungeheuerlichen Machtdünkel,
getragen von dem Bewußtsein ihres Rechtes der Erstgeburt, geneigt waren
sich über das Recht Anderer hinwegzusetzen und mancherlei zu tun, was
sich mit der auch für sie verbindlichen Pflicht Aller gegen Alle und damit
auch ihrer eigenen Pflicht nicht vertragen will; und nach und nach um
so tiefer und tiefer sinken, bis sie vielleicht gar im Irrsinn ein Ende mit
Schrecken nehmen. Wer wollte hier Richter sein? wer aber auch mit
Hamlet ausrufen: O welch ein edler Geist ist hier zerstört? Daß es auch
hier sich um problematische Naturen gehandelt habe, dürfte nicht be-
stritten werden können, gleichgültig, ob wir hier bald eigensüchtigen
Ratgebern, bald den schwierigen Verhältnissen auf dem Herrschersitze
ziemlich jedes Volks, weiter krankhafter Körperanlage oder irgend anderen
Umständen die Hauptschuld beimessen müssen. Immerhin dürfen wir
selbst Könige nicht von der Lebenspflicht entbinden, auch sorgsam zu-
zusehen, daß wer steht, nicht falle. —
Wie demnach das Stehen auf der Menschheit Höhen seine
großen Gefahren hat und oft sehr viel mehr Selbstüberwindung, ja Selbst-
verleugnung fordert, als das Schwimmen inmitten einer großen Menge
Gleichberechtigter, denen gegenüber es erlaubt erscheint, sich der Ellbogen-
freiheit zu bedienen; so bedingt erst recht auch die Zugehörigkeit zur
Klasse der sogenannten Unterdrückten, Rechtlosen und Enterbten,
die naturgemäß sich aus solcher Lage in die Höhe zu arbeiten und sich
dann über Wasser zu halten streben, nicht nur Klugheit und Ausdauer
im Führen des Kampfes ums Dasein, sondern oft anch eine durch nichts
zu erschütternde Festigkeit des Willens, Eigenschaften, die viel mehr zu
bewundern sind als das erklärliche Bemühen, sich im Besitz des von den
Vätern Ererbten nach Möglichkeit zu behaupten. Denn gerade das, was
oben Klugheit und Ausdauer genannt worden ist, entspringt meist
der Fähigkeit, sich der Lage des Augenblicks, der Stimmung und
Laune der Mitstrebenden oder der Bewilligenden und Wählenden
anzupassen; nötigenfalls fünfe gerade sein zu lassen, schwarz für weiß
und weiß für schwarz auszugeben; gestattet also gelegentlich etwas Heuchelei,
ähnlich derjenigen, für welche das Wort geprägt ist: »Die Politik verdirbt
den Charakter« oder »die Worte sind dazu da, die Gedanken zu verbergen«.
Daß es unter Leuten dieser Art natürlich oft »künstliche Problematiker«
geben muß, ist sicher; sie verdecken eben ihre wahre Natur durch an-
genommenen Schein und rechtfertigen allenfalls sich gegen Gewissens-
bedenken mit den Spruch vulgus vult decipie. Solche absichtliche
Vieldeutigkeit und Wandelbarkeit des Ideals und der Richtung brauchte
uns hier nicht zu beschäftigen, weil etwas so Gesuchtes und Gemachtes
der Natur der Seele widerstrebt und auch keine Krankheit derselben ist,
also streng genommen weder in das Gebiet der eigentlichen Psychologie,
noch der Psychopathologie gehört. Immerhin macht ihr Vorkommen
im Leben uns verständlich, weshalb ‚zumal der Dramatiker und der
Tragöde sich gern auch solcher Charaktere bedient, die, weil krankhaft,
unverständlich und deshalb unerklärlich, ja oft geradezu häßlich erscheinen,
doch künstlerisch wirken können, indem sie Furcht und Mitleid und
Boodstein: Problematische Naturen usw. 435
Schrecken erwecken und damit die Katharsis, diese Reinigung der Seele
von Affekten und Leidenschaften zustande bringen und nicht nur er-
schütternde, sondern heilende, ja in gewissem Sinne heiligende Ausdrucks-
mittel sind, — also den Menschen nicht niederdrücken, nicht persönlich
schmerzen, vielleicht sogar der Besonnenheit berauben, sondern ihn erheben
und der Hoheit des sittlichen Willens bewußt machen, so daß er selbst
beim Ruine des äußeren Lebens nicht die Herrschaft über sich selbst
zu verlieren braucht, sondern selbst auf dem Grabe seines Daseins und
seiner Habe die Hoffnungsfahne aufzupflanzen vermag. Umstände dieser
Art machen uns verständlich, weshalb nicht bloß Ästhetiker (z. B. Rötscher,
Kuno Fischer und andere) sich gern mit dem Begriff des Dämonischen
in Beziehung auf die dramatische Poesie beschäftigen; sondern daß
auch Psychiater die Analyse entsprechender Persönlichkeiten versuchen.
Ein mich sehr ansprechendes Werk hat Prof. Dr. W. Weygandt neuer-
dings im Verlage von Leopold Voß- Hamburg unter dem Titel: Abnorme
Charaktere in der dramatischen Literatur herausgegeben. Be-
sprochen werden darin Persönlichkeiten, die von Shakespeare, Goethe,
Ibsen und Gerhart Hauptmann anschaubar ausgestaltet und im Zu-
sammenhang mit gewissen Vorgängen sei es als Helden oder als Opfer
vorgeführt werden, aber samt und sonders von der Durchschnittsnorm der
anderen Menschen abweichen und deshalb ziemlich ausnahmslos auch als
problematische Naturen bezeichnet werden können. Während aber die von
den beiden älteren Dichtern gezeichneten Persönlichkeiten schon recht oft
auch mit Bezug auf die in ihnen sich abspielenden seelischen Zustände
und die sich hieraus ergebenden Vorgänge erörtert und zu deuten ver-
sucht worden sind; so stellen uns die beiden jüngeren Dramatiker vor
gewisse Probleme zwar nicht ausschließlich unserer Zeit, aber doch
solche, die sich modernen Anschauungen anpassen und für allerlei Lebens-
fragen Lösungen versuchen, die je nachdem bald zu kräftigem Für, aber
auch zu lebhaftem Widerspruch Anlaß geben. Kann auch ihnen allen
eine nach Weygandt großartig »detaillierte, sublim und mikrologisch aus-
geführte Behandlung« der Themata nicht abgesprochen, ihnen also tat-
sächliche Lebenswahrheit zugesprochen werden, so läßt sich doch schon
daraus, daß ein Psychiater sie seiner Diagnose unterzieht, schließen,
daß ihr Auftreten und Handeln von ihm als auf krankhaften Vorstellungen
beruhend angesehen wird, einerseits also dem logisch Urteilenden und
Schließenden als unerwartet und rätselhaft erscheinen muß, andererseits
aber auch erklärt, weshalb ihr Ausgang teils Furcht und Schrecken, ja
sogar Entsetzen, teils auch wieder Mitleid, Mitgefühl erregt, und dadurch
die oben gekennzeichnete tragische Wirkung, die Katharsis erzielt, wenn
auch selbstredend in recht verschiedenem Grade, weil nicht jeder der be-
sprochenen Dichter in jedem Stücke im vollen Sinne des Wortes ein
Herzenskundiger und Deuter für seine Hörer oder Leser sein kann, zumal
diese je nachdem bald sich auf ärztlichen oder juristischen oder anderweitig
geschäftlichen, bald wieder auf allgemein menschlichen, religiösen oder
parteipolitischen Standpunkt zu stellen geneigt sein werden und demnach
urteilen.
28*
436 A. Abhandlungen.
Wenn ich, obwohl ich zugestehe, daß alle vorgeführten Beispiele er-
heblich wichtige psychologische Merkmale darbieten und damit auch
mein wissenschaftliches Interesse erregen, mich dennoch, wie ich schon
bei den Figuren des Spielhagenschen Romans getan, der Bezugnahme auf
diese dichterisch gezeichneten oder erfundenen Personen hier enthalte,
ohne deren Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit in Zweifel oder Abrede
zu stellen, so geschieht solches auch hier aus demselben Grunde; ich
vermag nicht festzustellen was Wahrheit, was Dichtung sei und halte
künstlich konstruierte Charaktere an dieser Stelle für nicht vollgültige
Anders als bei den auf der Menschheit Höhen sich bewegenden
Persönlichkeiten stehen die Verhältnisse bei solchen, die aus Sphären
stammen und durch sie beeinflußt werden, die als von vornherein unge-
ordnet, befleckt, verwerflich oder mindestens als gefährdet angesehen werden
können; selbst dann wenn jene darauf ausgehen, sich aus ihnen heraus-
zuarbeiten. Denn bei ihnen hat, was ein theologisch zu denken Gewöhnter
vielleicht Erbsünde zu nennen geneigt wäre, sich oft schon so stark
akklimatisiert, daß ein Reinigungs- und Befreiungsprozeß von Anschauungen,
Denk- und Willensformen sich nicht so leicht bewerkstelligen läßt und,
wenn man es mit Abkratzen versuchen wollte, nicht ganz schmerzlose
Wunden gäbe: naturam expellas furca, tamen usque recurret. Bezeichnend
sind in dieser Hinsicht manche Bekenntnisse von Geretteten oder Sichselbst-
rettenwollenden: Der Pfahl im Fleisch macht sich doch hin und
wieder bemerklich und stört die Selbsterkenntnis und im weiteren das
Sichemporarbeiten: Wollen hat jeder wohl, aber das Vollbringen fehlt ihm
gelegentlich, und so bleibt er sich selbst aber auch anderen ein Rätsel.
Perioden dieser Art sind freilich keinem Sterblichen ganz erspart, und
gesündere Konstitutionen, zumal wenn sie in der Wahl ihrer Eltern vor-
sichtig gewesen sind, helfen sich darüber hinweg und finden schließlich
doch, wenn auch nicht ohne wiederholte Resignation und vielleicht auch
nur in Form ein Glück im Winkel, etwas inneren und auch äußeren Frieden,
ohne sich im Kampfe ums Dasein selbst ganz zu zerreiben. Aber wer
aus ganz unreinen Lebensverhältnissen seinen Ausgang nimmt und sich
zeitlebens mit ihren Folgezuständen belastet sieht, oder wer durch eigene
Schuld in solche hineingerät und unter der Sorge stehen muß, daß dieselben
bis ins dritte und vierte Glied sich fühlbar machen werden; wer endlich
unter persönlichen und auch sachlichen Übelständen leidet und den Druck
beider noch durch eigene Schuld vermehrt hat, der greift oft nicht ein-
mal nach dem Strohhalm, sondern läßt sich treiben, ohne nur an Wider-
stand zu denken, geschweige denn solchen zu versuchen, von einer Schuld
zur anderen, ohne von vornherein eine Mephistonatur gewesen zu sein,
und sinkt von Stufe zu Stufe Es läßt sich verstehen, was ein Abb&
Mullois in seinem bekannten Buche: »Das Elend zu Paris« berichtet.
Er wurde einst in die Höhle eines Lumpensammlers gerufen, der in seiner
Familie eben ein furchtbares Drama, das seiner Frau und Tochter das
Leben gekostet hat, erlebt hatte. Stumpf, gleichgültig, lebensmüde sitzt
er mit seinem Enkelkinde da; taub bleibt er gegen alle Ratschläge, die
Boodstein: Problematische Naturen usw. 437
Stätte der Unzucht, des Mordes, des Schmutzes zu verlassen, verweigert
alle Nahrung und bittet nur darum, auch ihm und dem Kinde den Tod
zu geben. Da erinnert ihn der Abb& an Gott und erhält die Antwort:
»wie sollte man inmitten der Schrecken und des Schmutzes aller Art an
Gott denken können?« An diese Antwort anknüpfend nötigt der Geistliche
die beiden in ihrer Trostlosigkeit Betäubten den schrecklichen Schauplatz
zu verlassen, nimmt sie in sein Haus, bringt sie nach und nach den
tröstenden Einwirkungen der göttlichen Erbarmung näher, bis von beiden
die dumpfe Verzweiflung weicht. Ein mitleidiger Tod befreit bald darauf
den Alten von seinen furchtbaren Erinnerungen. Der Knabe aber bleibt
sein Gehilfe, und wirkt dann jahrelang als Mitglied jener inneren Mission,
die zu retten sucht, was in den Pariser Lasterhöhlen scheinbar auf immer
verloren war. — So brauchen also auch solche unreinsten Lebens-
verhältnisse noch nicht unrettbar und unheilbar zum Verderben zu führen;
sobald sie nur in ihrer Unhaltbarkeit erkannt worden sind, können sie
für den in sie Geratenen Prüfsteine des Wollens und Wirkens
werden und den Charakter läutern und stählen in einer Weise, die jeden
Rückfall in sie dauernd ausschließt. So wird auch psychologisch erklärlich,
wie aus einem Saulus ein Paulus, aus einer großen Sünderin eine nicht
nur büßende, sondern auch andere rettende Magdalena, aus dem Schächer
am Kreuz ein Geretteter, dem das Paradies verheißen wird, sich zu ent-
wickeln vermag. Weiter wird aber daraus auch psychologisch erklärlich,
wie oft genug geistig Angeregtere, lebhafter Empfindende, Eindrücken
von außen leichter Zugängliche durch unreine Verhältnisse schneller
und verderblicher beeinflußt werden können als minder bewegliche Naturen,
bei denen das Beharrungsbedürfnis und das Beharrungsvermögen jeder
Veränderung stärkeren Widerstand entgegen stellt, weil ihre Auf-
nahmefähigkeit eine geringere ist und den Einwirkungen von außen und
innen sich länger verschließt als das bei jenen der Fall ist.
Die drei vorangeschickten Beispiele tun solches dar; alle drei über-
ragten ihre Zeitgenossen vermöge gewisser Seelenkräfte um ein Erhebliches:
ihr Denk- und Einbildungsvermögen bestimmte auch ihr Handeln und
Schaffen; da dieses aber von dem Empfinden und Wollen der anderen
erheblich abstach, so ergaben sich zunächst Konflikte nach außen hin,
die ebenso von dort her Widersprüche entfesselten und natürlich ihr
Wirken in gewissem Sinne lahmlegten und es zu einem verfehlten
machten, aber im weiteren auch zu innerem Widerstreit den Anlaß gaben,
weil solcher nie ausbleibt, sobald der Glaube an sich selbst erschüttert
wird und zwar durch die Erfahrung, daß unser Denken Andere nicht
überzeugt, unser Same keine Frucht trägt. — So kann es denn ge-
schehen, daß gerade reiehe Geister, Propheten, in ihrer Zeit, in ihrem
Vaterlande nichts gelten und deshalb untergehen und sinken, weil sie
sich nicht wollen beschränken lassen und sich dem Gebote des Lebens
nicht fügen, daß ein Teil ihrer Gaben ruhen müsse, damit für die wirklich
fruchtbaren Triebe Saft und Kraft erhalten bleibe, wie ja auch der
Gärtner seine Bäume beschneidet, damit die kräftigeren Zweige nicht auch
verkümmern.
438 A. Abhandlungen.
Denn das gerade ist es, was ich als Erklärung zu einem Teile des
Goetheschen Erfahrungssatzes hinzufügen möchte, warum den Proble-
matischen keine Lage genüge und warum sie keiner Lage gewachsen
seien: sie wollen eben keinen Teil ihrer Gaben ruhen lassen und des-
halb reicht ihre Kraft nicht für die Aufgaben aus, denen ihre gesammelte
(also nicht durch Nebenziele zersplitterte) Kraft allenfalls würde gerecht
werden können. — Wenn sie dann schließlich von dem Ergebnis ihrer
Arbeit keine rechte Befriedigung erfahren, weil sie durch die In-Angriff-
nahme stets neuer Seiten und neuer Aufgaben (ver harmonischem Ab-
schluß der früheren) weder der Freude über Gelungenes noch der nötigen
Ruhe zu neuer Leistung teilhaft werden; so wird ihnen das Wesen ihrer
hauptsächlichen Kraft immer fremder, immer weniger bewußt — und
schließlich werfen sie ohne wirklichen Treffer die Büchse ins Korn, werden.
verkannt und fühlen sich verkannt, zumal sie selbst nicht verkennen
können, daß ihre Kraft nicht zureichte, um etwas Eigenstes, etwas
Höchstes zustande zu bringen. So gehört also zur Signatur der proble-
matischen Naturen neben den beiden von Goethe bezeichneten End-
merkmalen das Vorhandensein einer mehrseitigen Begabung und
das Gefühl einer solchen; aber gleichzeitig ein Kämpfen dieser
mehreren Seiten miteinander um den Vorrang: ein Kämpfen, welches
ohne endgültige Entscheidung und endgültigen Sieg zugunsten der einen
oder anderen bleiben muß, und demnach einen Zustand der schließlichen Er-
schlaffung, ja Erschöpfung aller produktiven Kräfte herbeiführen muß, und
so das Leben ohne reelle Werte und ohne wahren Genuß verzehrt.
Einseitige oder von vornherein überwiegende Begabung in einer einzigen
Richtung bringt sich (falls sich nicht etwa materielle, vielleicht sogar
körperliche Hemmnisse in den Weg stellen, die ihre Entwicklung von
vornherein beeinträchtigen oder ganz unmöglich machen) leichter zur
Geltung; sie mag ja auch ihre Grenzen haben, wie alle menschlichen
Kräfte, und demnach nicht immer zur Erreichung höehster Stufen aus-
reichen; sie läßt aber auch über sich keine Zweifel entstehen, sondern
wirkt durch den in ihr liegenden Betätigungstrieb, der sichtbare Arbeit
liefert und natürlich nach Maßgabe des Quantum und Quale ihrer
Kraft auch befriedigt. Eigentliche Probleme stellt einseitige Begabung
demnach nicht auf — und, ob sie nur für die Nähe arbeitet oder weiter
strebt und schweift, ihr Ziel bleibt erkennbar und ohne große Umwege
erreichbar, selbst wenn einzelne Wünsche noch weiter gehen sollten und
zu früh ein »Halt!« erführen. Hier gibt es also tiefer gehende, die
innerste Empfindung und den hochstrebenden Geist erschütternde Konflikte
und Katastrophen nicht, und, wenn auch kleinere Daseins- und Glücks-
fragen nicht ausgeschlossen bleiben, das Gleichgewicht der Seele
wird doch einigermaßen gewahrt und deshalb die Tragik vermieden, die
sich oft an dem Schicksale genial begabter und angelegter Naturen
wahrnehmen läßt, und Strafen, weil sie den Olymp stürmen wollen, in den
Orkus geschleudert oder dem Prometheus gleich an den Felsen gefesselt
zu werden, fern gehalten. Bei den Einseitigbegabten ist also die Be-
zeichung »problematische Naturen« meist unangebıacht, deun bei ihnen
Boodstein: Problematische Naturen usw. 439
liegt in der Regel wie das Gestern so auch das Heute offen; und wenn
auch bei ihnen Temperaments-Entgleisungen und Gemütserschütterungen
gelegentlich Rätsel zu raten aufgeben, oder wenn sie nicht gerade vor
Aufgaben gestellt werden, denen ihr Denken, Können und vielleicht auch
ihr Wollen schlechterdings nicht entspricht, so daß man von ihnen sagen
könnte: »sie stellen sich an wie Bären zum Orgel oder Laute spielen«,
dann dürften sie schon ihren Mann stellen, vielleicht nicht immer mit
gleichem Geschick und Erfolg, wie diejenigen, denen etwa die Grazien
Patendienste geleistet hätten, aber doch schlicht und recht und ohue Um-
schweife. Für sie gilt eben nicht das schon angezogene Kleistsche Wort,
daß. »die Hölle nur halbe Talente verleihe«; denn der Himmel hatte
ihnen ein ganzes, wenn auch nur ein kleines mit auf den Weg gegeben
— und damit können sie Haus halten, vorausgesetzt daß das Haus nach
ihrer Größe eingerichtet und ausgestattet wird. Deshalb sagt bei Spiel-
hagen (L S. 296) der Feldmesser Albert Timm — eine höchstens nach
der moralischen Seite hin als problematisch zu bezeichnende Figur
— zu Oswald Stein einmal: »Wir mittelmäßigen Kinder der Natur fjihlen
uns in unserer Haut zehntausendmal wohler als Ihr geistreiche Menschen.«
— Mehrseitige Anlagen wiederum, sobald ihre Träger sich ihrer be-
wußt geworden sind, zeitigen den Trieb sich zu betätigen; denn was man
zu können glaubt, das übt man auch gern aus; und dieser Betätigungs-
trieb, diese Liebhaberei, wie man ihn auch nennt, ist etwas ebenso
Natürliches wie der Selbsterhaltungstrieb, die Selbstliebe. Weil nun
aber deren mehrere vorhanden sind, welche sich womöglich gleichzeitig
zur Geltung bringen wollen, so erscheint der Keim zu Konflikten ziemlich
früh gegeben, denn mit dem Erwachen des Bewußtseins überhaupt
ist noch lange nicht sofort zugleich Klarheit über den Grad des Könnens,
die Stärke der einzelnen Anlage und — was nicht minder wichtig ist —
über die Gunst oder Ungunst der begleitenden oder der den Erfolg
bedingenden Umstände eingetreten. Sieht man doch schon beim Kinde,
und zwar schon in frühen Lebensjahreu einen gewissen Zwiespalt der be-
züglichen Empfindungen und Triebe, und demnach das Vorwalten eines
Lust- oder Unlustgefühls sobald ihm seitens seiner Erzieher oder Pfleger
etwas verweigert oder zugemutet wird, was ihm — wie man sagt —
gegen die Haare geht, weil ihm die Erkenntnis noch völlig fehlt über
das, was ihm gut, nützlich oder schädlich sei. Und auch dem Erziehenden
oder Pflegenden, selbst wenn es ihm an eigenen Erfahrungen, durchaus
nicht fehlen sollte, ist oft die ausreichende Einsicht über die Bedeutsam-
keit der einzelnen seelischen Kräfte und Triebe seines Pfleglings mehr
oder weniger versagt, wenn er auch sich ein Urteil über das Ob und Wie
und über die obwaltenden Verhältnisse zutrauen sollte; kann er doch eben
nur aus gewissen Merkmalen auf das Überwiegen des Einen oder Anderen
schließen und läßt sich oft genug auch durch eigene Wünsche, durch
zufällige Außerlichkeiten, durch gelegentliche Kundgebungen oder
Anwandelungen des Pfleglings bestimmen und leiten. Ja, diese Unsicherheit
hält oft bei beiden Teilen recht lange an, bisweilen solange, daß der
Pflegling schon selbständig in eine Schaffenssphäre eingetreten ist, ehe
440 A. Abhandlungen.
er selbst erkennt, daß diese für ihn doch nicht ganz diejenige war, die seiner
Neigung und Kraft voll entspreche, zu seinem Frieden und zu seinem
Glücke diene. Ob dann noch eine Umkehr möglich sein, ein Neuanfangen
einer andern Bahn lohnen, oder ein Verzicht auf eine volle Befriedigung
geboten sein werde — wer vermag solches zu entscheiden? wer hat den
Mut, sich dafür zu entschließen und sich an der Erreichung eines minder
großen Zieles genügen zu lassen? —
Daß aus solchen Lebenslagen resignierte, gebeugte, halbfertige,
gebrochene Existenzen hervorgehen können; freilich aber auch solche,
die, wie Björnson einmal sagt, »um der großen Ziele willen kleine Vorteile
und Ziele zu entbehren bereit sind und, weil sie ein Gedanke stark
macht, leiden, warten und viel ertragen, sich über Hohn, Verleumdung, Bos-
heit hinwegsetzen können«? Wer aber solcher Selbstüberwindung nicht
fähig ist, und in unserer Zeit ist dergleichen nicht leicht, weil sie auf
der einen Seite den Einzelnen aufwachsen läßt in schrankenloser Un-
gebundenheit, und auf der anderen doch verlangt, daß er sich, auch
nach hartem Kampfe, einfüge in die handelnde große Gemeinschaft
des Ganzen, dem er angehört, und dort nach besten Kräften seine
Pflicht tue ——- der muß unter Umständeu draußen stehen bleiben, verkannt,
vielleicht gar mißachtet; ungenießbar, unbrauchbar, weil er nicht be-
fehlen und nicht gehorchen kann. Unmöglich ist es dann bei ihm nicht,
daß er überhaupt die sittliche Richtung verliert, nach und nach ver-
kommt — kurz ein solcher wird, dessen Leben man als ein verfehltes
bezeichnen wird, obwohl es auch hätte Nutzen für Alle schaffen können, wenn
er den Eigenwillen dem auf Größeres gerichteten Willen der Gesamt-
heit untergeordnet hätte. Die drei eingangs erwähnten, jedenfalls besonders
begabten Persönlichkeiten gingen im wesentlichen daran zugrunde, daß sie
die großen Ziele um gewisser persönlicher kleiner Ziele willen nicht mit
fördern halfen, obwohl sie dazu an ihrem Teil wohl imstande gewesen
wären, und sich gerade zu ihrer Zeit der Mitausführung des gewaltigen
Gedankens der Vaterlandsbefreiung von fremdem Joche eigenwillig
oder infolge sittlichen Verfalls begaben. Bei anderen wieder findet tat-
sächlich nach längerem Schwanken ein gesunderes Besinnen auf sich
selbst statt und demgemäß ein Einlenken in geordnetere Bahnen. Beidem
mag nicht immer Willens- und Charakterschwäche; nicht geistige Abhängig-
keit oder Wandelbarkeit zugrunde liegen. Bisweilen spielen einander wider-
strebende Beispiele und Einflüsse eine bedeutsame Rolle, zumal in Fragen,
die, wie religiöse und politische, ebenso entgegengesetzte Auffassungen
und Überzeugungen vertragen, wie auch abhängig sind und sein können
von zu erwartenden Vor- oder Nachteilen. So schwankt manches Charakter-
bild in der Geschichte, je nachdem es von der Parteien Haß oder Gunst
gezeichnet wird. Wenn man vom Kurfürsten Moritz von Sachsen
(Lebenszeit zwischen der Jahren 1521 und 1553) reden hört als von
dem Verräter und zugleich Retter des Protestantismus, so erscheint solches
als unlösbarer Widerspruch. Sieht man dagegen die Umstände seiner per-
sönlichen Entwicklung, sodann aber der Entwicklung der Welt-
begebenheiten in dem Reformationszeitalter etwas genauer an, so erklärt
Boodstein: Problematische Naturen usw. 441
sich das alles: Äußerlich katholisch erzogen, weil der schwache und
auch etwas genußsüchtige Vater der Ketzerei abhold war; dagegen von
der Mutter, die der Reformation zuneigte, in ihrem Sinne beeinflußt; später
unter dem Einfluß seines Oheims Georg, des Veranstalters der bekannten
Disputation zwischen Luther und Eck und grundsätzlichen wie überzeugten
Gegners des Luthertums stehend; wieder später nach Wittenberg gebracht,
wo er mit Luther in persönliche, aber durchaus nicht angenehme Berührung
kam, weil dieser, damals ein alter, kranker, reizbarer Mann, dem feurigen
Jüngling, einem Zeugen des damaligen Ringens der Fürsten zwischen
religiöser Überzeugung und der Rücksicht auf materielle Vorteile, weder
persönlich sympathisch noch geneigt war; noch später befreundet mit
Philipp dem Landgrafen von Hessen, mit dessen Tochter er sich gegen
den Willen seiner Eltern verlobte. Was Wunder, daß Moritz dieser seiner
Jugend und Entwicklungszeit eine große religiöse Gleichgültigkeit verdankte,
die noch vertieft wurde durch den Gegensatz seines Hauses, des der
Albertiner, gegenüber den Ernestinern, welchen damals die Kurwürde
gehörte, und die Schutzherren der Reformierten waren. So konnte es
kommen, daß Moritz im Interesse seiner Hausmacht und umgamt von der
Politik Karls des V. und des Kanzlers Granvella, überdies davon überzeugt,
daß der Schmalkaldener Bund dem Kaiser nicht gewachsen sei, mehr und
mehr vom protestantischen Bunde abrückte, der Entscheidung neutral zu-
zuschauen trachtete und so ein Bild des Hin- und Herschwankens, des
Preisgebens der Gewissensfreiheit und des Suchens lediglich nach realem
Vorteil darstellte, was ihm den oben bezeichneten Namen eines Verräters
und des Judas von Meißen einbrachte. Er war ja damals noch jung
und durchschaute noch die Habsburgische Politik, deren Ränkespiel und
bedenkliche Mittel nicht. Nach und nach, binnen weniger Jahre, lernte
er aber die skrupellose Staatskunst durch eigenen Schaden kennen, mehr-
fach selbst betroger, und als er sich sogar dazu hatte brauchen lassen,
seinen Schwiegervater Philipp in die Hand des Kaisers zu locken, der
diesen dann jahrelang gefangen hielt, und damit — um dynastischer Interessen
willen — sein Wort gebrochen hatte — da wandte Moritz die vom Kaiser
gelernte Kunst auch gegen diesen an und seine jetzt entgegengesetzte
Stellungnahme, seine Verfolgung des Kaisers, die fast zu dessen Gefangen-
nahme geführt hätte, der Passauer Vertrag und noch dies und jenes andere
haben zur Aufhebung des Interims und der Duldung des Protestantismus
geführt. Hätte er länger gelebt, so hätte — aller Wahrscheinlichkeit nach
— die Sache der Reformation in Deutschland noch eine erheblich günstigere
Wendung erfahren. Leider starb er an seinen in der Schlacht bei Sievers-
hausen (Juli 1552) erhaltenen Wunden nicht älter als zweiunddreißigjährig.
Wie ein Geschichtsschreiber über ihn urteilt, hat »sder Retter des Protestan-
tismus die frühere Schuld des Verräters getilgt«. Verdient nun auch
Moritz die Bezeichnung als »problematische Natur«? Sieht man ledig-
lich sein Schwanken an; seine Unterordnung der Gewissenspflichten unter
die Sorge um seinen Vorteil; seine gelegentliche Untreue und Undank
gegenüber denjenigen, die sich auf ihn verließen; kurz den Schein des
Fehlens jedes sittlichen Kerns — neben ganz gewiß hervorragenden
442 A. Abhandlungen.
Gaben des Verstandes — so könnte man auch bei ihm von tatsächlich
unlösbaren Charakterproblemen sprechen, und die Urteile seiner Zeit-
genossen (z. B. Luthers, der auf ihn den Spruch: Ein Meißner ein Gleisner
anwendete, und Melanchthons, der auf seinen Tod ein Lied verfaßt hat,
dessen letzte Strophe besagt: »Jedweder Mensch dem Glase gleicht, Sie
brechen beide gar so leicht; Doch wer in Christo Jesu stirbt Un-
sterblich Leben sich erwirbt«)!) lauten demnach außerordentlich
widersprechend. Denkt man dagegen an die Kunst der Diplomatie, deren
Worte dazu dienen, die gehegten Gedanken zu verbergen; an die Jesuiten-
maxime, daß »der Zweck das Mittel heilige;« endlich an die Theorie
gewisser Rechtsvertreter: »si fecisti nega« — so will allerdings nur die
erste Hälfte des Worts des Heilands (Matth. 10, V. 16) »seid klug wie
die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben« auf ihn passen;
aber die Verhältnisse jener Zeiten waren so außerordentlich verfängliche
und so überaus gefährliche; es ließ sich durchaus nicht voraussehen, daß
der deutsche Kaiser einmal gegen seine eignen Landstände zu Felde ziehn
und sie zu vernichten suchen werde. Da hieß es also List gegen List ge-
brauchen, und zur Geltung zu bringen, daß »Untreue den eigenen Herren
schlägt«. Darum mag der Anfang des Liedes von Melanchthon unseren
Unmut ausgleichen: »Es hänget aller Menschen Loos An einem dünnen
Fädlein bloß, Und darum geht gar oft zu Grund, Was eben noch gar üppig
stund«, und uns auf ihn anwenden lassen die Überzeugung, daß wenn
Moritz eine problematische Natur wurde, die unsäglich problematischen
Zustände jener Zeit der Glaubens- und Sittenkämpfe die Schuld daran
trugen. —
Und nicht nur materielle und sittliche Notlagen zeitigt gelegentlich
die Mehrseitigkeit der Begabung; auch unmittelbare Verlegenheiten be-
reitet sie hinsichtlich der Berufswahl, des leiblichen und geistigen
Arbeitsgebiets, wenn die Begabung im einzelnen nach keiner Richtung
hin eine so ausgesprochene ist, daß sie für beides sich in ganz engbemessenen
Grenzen bewegt und bestenfalls nur untergeordnete Leistungen in Aussicht
stellt. Treten dann Standes- und Familienvorurteile hinzu, die nieht jede
Art von Arbeit oder Betätigung für kastenmäßig erlaubt, kastengemäß
gelten lassen wollen; verwehrt Name und Rang der Eltern oder Ahnen
die Zugehörigkeit zu irgend einer Berufsart, z. B. zum Handwerk; hindern
vielleicht körperliche oder geistige Mängel oder Gebrechen die Ausübung
einer Tätigkeit, zu-welcher vielleicht eine Neigung sich herausstellt — dann
können innere Konflikte das Gleichgewicht der Seele in Frage stellen,
vielleicht sogar vernichten; oft genug ohne unmittelbare Schuld desjenigen,
der die leidigen Folgen zu tragen hat, während er selbst vielleicht als
1) Daß Moritz von Sachsen nicht nur in christlicher Ergebung gestorben
sei, sondern in den zwei Tagen seines Sterbelagers das vom Standpunkt eines Christen
nicht immer gutzuheißende Ausnutzen der Umstände zu Zwecken der Hebung seiner
eigenen Machtverhältnisse, seine Gleichgültigkeit in Religions- und in Gewissensfragen
bereut habe, soll durch verläßliche Zeugnisse erwiesen sein.
Boodstein: Problematische Naturen usw. 443
Alleinstehender, Unabhängiger sich ergebungsvoll mit denselben schließ-
lich abgefunden hätte.
So kann manches Hergebrachte, Überkommene, Ererbte der Grund
sein für einen Zwitterzustand der Seele, der da bewirkt, daß wir uns
nicht genügen lassen an der Lage, die wir uns selbst zu schaffen ver-
möchten; sondern uns bemühen in eine andere vermeintlich bessere zu ge-
langen, der wir nicht gewachsen sind. So kann es der Anlaß werden
zu einem Zwiespalt in unserm Urteil über uns selbst, welches uns von
unserer Selbstliebe diktiert wird, aber auch im Urteil über die Schwierig-
keiten unserer Lage, die wir nicht leugnen und deren wir nicht Herren
werden können, und die zu behaupten wir uns doch quälen; so kann es
der Anlaß werden zu einer uns überwältigenden Verzagtheit, ja Verzweifelung,
die uns den Glauben raubt an uns selbst, ja an Gottes und der Natur
Gerechtigkeit und Folgerichtigkeit, weil sie uns zu predigen scheint das
»Weh dir, daß du ein Enkel bist«, denn »es erben sich Gesetz und Rechte
wie eine ew’ge Krankheit forte.
Aber auch abgesehen von diesen Zuständen, deren Ungleichheit dem
Mindergutbedachten gewiß das Herz beschweren kann, ihn vielleicht sogar
nicht nur mit Neid, sondern mit Haß gegen die Angeblich - Bevorzugten
erfüllt (man denke an die vielfältigen sozialen Umwälzungen schon in ganz
alten Zeiten, die Empörungen, Arbeits-Einstellungen und was sich an
Einzelereignissen, zum Teil sogar Greueltaten, aus diesen ergaben) und
man wird verstehen, weshalb die Scheinbar-Unterdrückten sich mit
Groll und Unlust erfüllen, und sich sogar vor Aufgaben zurückziehen, die
sie hätten bewältigen können. Ihnen hilft keine Philosophie über die
allgemeine Unzulänglichkeit menschlichen Könnens und Verstehens hinweg,
und viele von ihnen verwandeln das Axiom von Ralph Waldo Emerson:
die eigentliche Tragödie der Natur scheint der Unterschied der Be-
gabung zu sein! dahin, daß sie den Unterschied für die Tragödie halten
und sagen: er ist die Tragödie unseres Lebens, er macht unser Leben
zu einer Tragödie, wie ja Heinrich v. Kleist unumwunden aussprach. —
Freilich scheinen manche Formen und Ordnungen unserer Lernzeit
fürs Leben solcher Auffassung recht zu geben. Ohne den Nachweis
eines gewissen Wissens und Könnens, ohne das Bestehen gewisser Prüfungen
werden uns gewisse Berechtigunger nicht zugesprochen und damit der
Eintritt in eine zusagende Arbeits- und Berufssphäre versagt, die Erlangung
eines vorteilhaften Rechtes oder Anspruchs verwehrt. Ja, schon während
der vorgeschriebenen Schulzeit wird von Jahr zu Jahr Gericht darüber ge-
halten, ob der Einzelne fähig und würdig sei, einer höheren Klassenstufe
sich zuzugesellen — und dieses Gericht wird ein solches, daß bisweilen
ihm von der ganzen Familie mit Furcht und Zittern entgegen gesehen
wird — und welches schließlich doch allen Mühen, Wünschen und Hoff-
nungen ein jähes Ende bereitet.!) Ja, wenn man in unserer Zeit manche
1) Daß hinterher (oft genug auf grausam erscheinenden Umwegen) doch das
infolge versagten Berechtigungsscheines verschlossene und durch inneren Trieb
gewiesene Befähigungsfach erreichbar wurde, beweisen viele Beispiele.
444 A. Abhandlungen.
Blätter liest, welche über Schülerselbstmorde nicht nur berichten, sondern
womöglich der Lerngelegenheit allein die Schuld daran zuschreiben, wie
oft wird von dem in höheren Schulen als unbedingt nötig Geforderten
später. nicht der leiseste Gebrauch gemacht, Latein, Griechisch, Mathematik,
so kann selbst in dem ganz und gar nicht befangenen Beurteiler ein Be-
denken darüber entstehen, ob die bestehenden Einrichtungen nicht doch
wirklich derartig verfehlte seien, daß im allerdings einzelnen Falle nur
die Flucht aus dem Leben als letztes Mittel dagegen erschiene! Denn ob
andere Verhältnisse rein persönlicher Art einen solchen Zusammenbruch
hervorgerufen haben, bleibt oft ebenso ganz außer Betracht, wie ob nicht
eine günstigere Lösung in anderer Weise die Katastrophe doch hätte ver-
hüten können. Aber jedenfalls lassen sich post festum Fragen dieser Art
nicht generell beantworten, zumal unser Thema darnach gar nicht an-
getan ist, über solche Einzelfälle zu Gericht zu sitzen, weil die Trieb-
federn zu Verzweifelungstaten oft selbst den Nächstinteressierten, den
Eltern, Lehrenden, Lerngenossen vollständig verborgen blieben, also dies-
seits der Aufklärung durchaus entbehrten. Wir bestreiten deshalb mit
bestem Gewissen, daß die Schuld unserer Einrichtungen Katastrophen
solcher Art mit irgend welcher Notwendigkeit herbeiführe; schieben auch
den häuslichen Verhältnissen durchaus nicht allgemein irgend etwas
in die Schuhe, wenn wir zugeben, daß diese, wie alle menschlichen Ein-
richtungen, gelegentlich zu bedenklichen Gemütszuständen den Anlaß
bieten mögen; endlich stellen wir auch fest, daß (trotz der schnellen Ver-
breitung jedes Einzelfalles durch die oft sensationslüsternen Zeitungen)
Fälle bezeichneter Art durchaus nicht so häufig vorkommen, wie es bis-
weilen scheint, weil Dutzende von Blättern nacheinander entsprechende
Mordsgeschichten, oft mit veränderter Einkleidung erzählen; denn die Statistik
widerlegt solche Annahme. Oft genug wirkt Vielerlei zusammen, um
einen solchen Akt herbeizuführen; manchmal geradezu ein Verlegenheits-
oder Verwegenheitsstreich eines sowieso Verlorenen, den dieser bei ge-
sunden Verstande gewiß gern unterlassen hätte; vorbei war aber vor-
bei: — Es geht hiermit ebenso wie mit den vielen Klagen über stetig
zunehmende Verwilderung und Verrohung unserer Jugend, für welche
auch gelegentlich die Schule verantwortlich gemacht wird, ohne daß solches
sich irgendwie greifbar nachweisen ließe. Daß aber die Entwicklung des
ganzen modernen Lebens mit seiner übertriebenen Öffentlichkeit über alle
möglichen Vorkommnisse und Meinungen sehr unerwünschte Anregungen,
Ratschläge, Beispiele gewähren und Unerfahrene zur Nachahmung bewegen
kann, wenn nicht sofort hemmende Erwägungen die Begehung der gewiesenen
Wege widerraten, ergibt sich schon aus der psychologischen Lehre von
der Reproduktion von Vorstellungen usw., die oft eine fast zwingende
Gewalt ausüben und die vernünftigste abstrakte Lehre überwinden. Solches
kann jeder an sich selbst erfahren. Modegewohnheiten, Torheiten,
Krankheiten, ja geistige und Gefühlsepidemien liefern den Beweis,
daß Unbegreifliches, ja fast Undenkbares und Unerklärliches große Massen
plötzlich erfassen und eine Zeitlang gefangenhalten könne, ohne daß sich
ein vernünftiger Grund dafür anführen ließe, so daß das ganze Gebahren
Boodstein: Problematische Naturen usw. 445
ganz widersinnig erscheint. Wenn z. B. reiche Frauen von Dieb-
stahlssucht (Kleptomanie); sonst zartbesaitete Personen plötzlich
oder dauernd von grausamsten Instinkten befallen wurden;
wenn Vergiftungsmanien in Angehörigen, Freunden und Wohltätern
sich Opfer aussuchen — wer erklärt das, wer vermag da das seelische Rätsel
zu lösen, was solche unbestrittenen Tatsachen glaubhaft macht? Und
doch kommt nicht bloß dergleichen vor; sondern auch Rätsel anderer
Art machen uns hinsichtlich der Seelenverfassung Einzelner —
und zwar in der Regel anscheinend Hochbegabter — zu schaffen, wenn
geistige Überanstrengung, übermäßige Pflege des Selbstgefühls, Verwendung
starker Reizmittel kurz und gut, das, was psychiatrische Autoritäten Über-
kultur nennen, physische Erkrankungen zumal des Nerven-
systems hervorbringen, die die natürlichen Grundlagen des Daseins
untergraben, ja den Einzelnen abhängig machen, schwach und haltlos gegen-
über gewissen, sonst durchaus entbehrlichen Hilfen und Bedürfnissen, und
ihm so die Früchte rauben, die ihm sonst hätten beschieden sein müssen.
Liegt doch manchen dieser Fälle auch eine gewisse eigene Schuld
zugrunde; so bewirken Verwandtes auch manchmal schwere Verhäng-
nisse von außen her, welche nicht nur die Gesundheit stören, sondern
auch die Schaffenskraft lähmen, vorzeitig altern lassen — und oft ein
Gefühl des Überdrusses, sogar des Überdrusses am Leben erzeugen und —
statt früher berechtigte Hoffnungen zu erfüllen — ein jähes Ende oft mit
Schrecken herbeiführen. In letzterwähnter Hinsicht schwebt mir z. B.
einer der ersten unserer mundartlichen Schriftsteller des vorigen Jahr-
hunderts vor, dessen Organismus zerüttet wurde durch unverdiente, aber
mehrfach grausam gestaltete, langjährige Festungshaft; bis er täglich ge-
fährlichster Reizmittel bedurfte, um nur etwas weiter schaffen zu können
— und dann auf dem Höhepunkt seines Ansehens und nach längerem Siech-
tum starb. Bin ich auch weit davon entfernt, ihn eine problematische
Natur nennen zu wollen; so wollte ich mir doch sein Beispiel für die
unheilvollen Wirkungen solcher Schicksale nicht entgehen lassen. — Man
nennt unsere Zeit eine unter dem Banne nervösen Siechtums stehende
— und wer das Überhasten nicht nur in der Arbeit, im Kampfe um
Erwerb, im Genießen und Auskosten der schwersten sinnlichen Lockungen;
sondern auch in der Befriedigung des persönlichen Ehrgeizes, der Regungen
des Hasses und Neides zu beobachten Gelegenheit hat, der kann gar nicht
in Zweifel darüber sein, daß sich solches leiblich und geistig und auch im
ganzen Charakter strafen muß, zumal wenn für die Erreichung solcher
Zwecke jedes — selbst das unheiligste — Mittel geheiligt erscheint, und
solche Ziele schon in frühester Jugend als erstrebenswert angesehen
werden. — (Forts. folgt.)
446 B. Mitteilungen.
B. Mitteilungen.
1. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen.
Von Ernst Willich.
(Fortsetzung.)
Noch mehr als für Wagen, Eisenbahnen u. dergl. interessiert sich
O. für Schiffe. Dieses Schiffsinteresse nimmt bei ihm mitunter direkt
leidenschaftlichen Charakter an. Stundenlang kann O. in seiner elterlichen
Wohnung am Fenster oder auf dem Balkon liegen und das Abfahren,
Anlegen und Manöverieren der Rheindampfer verfolgen, ohne dabei den
Blick auch nur einen Moment abzuwenden. Und dieses Schauspiel, das
sich im Sommer tagtäglich wiederholt, ermüdet ihn nicht im geringsten,
im Gegenteil, es zieht ihn von Jahr zu Jahr mächtiger in seinen Bann.
Namentlich wenn beim Beginn der Schiffahrts-Saison die Personendampfer
der Reihe nach ihre Winterhäfen verlassen und ihre regelmäßigen Fahrten
wieder aufnehmen, lodert O.s Schiffsinteresse mächtig auf. Mit größerem
Jubel kann die Jugend eines Landortes einrückende Soldaten nicht emp-
fangen, als O. im Frühjahr die ersten Dampfboote begrüßt. Und dann liegt
er Tag für Tag auf der Lauer, um ja nicht die Auffahrt eines seiner
schwimmenden Freunde zu versäumen, und in jedem Augenblick ist er
genau orientiert, welche Schiffe den Fahrdienst bereits angetreten haben
und welche noch ausstehen. Erscheint aber gar ein neues Boot, so weiß
er sich vor freudiger Aufregung kaum zu fassen. Dann tanzt er vor
Vergnügen und rennt hurra-schreiend durchs ganze Haus, um sämtliche
Hausbewohner von dieser eminent wichtigen Neuigkeit in Kenntnis zu
setzen. Und noch tage- und wochenlang nachher ist es bei der Begrüßung
von Verwandten und Bekannten sein erstes, diesen das ungeheuer wichtige
Ereignis der Indienststellung eines neuen Dampfers mitzuteilen. Wie außer-
ordentlich stark dieses Interesse O.s an den Schiffen ist, dafür nur zwei
Beispiele. ©. ist ein recht fauler Spaziergänger. Vor allen Dingen
scheut er diejenigen Wege, von denen aus eine Rückfahrt mit der Straßen-
bahn nicht möglich ist, oder die unbequem und schmutzig sind. Trotz-
dem würde er im Winter jeden Tag zu den ziemlich abseits liegenden
und zum Teil nur schlecht zugänglichen Winterhäfen laufen, nur um dort
die Schiffe im Winterschlaf betrachten zu können. Im Frühjahr 1911
wurden aus Anlaß eines Kaiserbesuches in bezug auf die Ausschmückung
der Stadt und namentlich der Rheinufer ganz ungeheure Vorbereitungen
getroffen, die die Aufmerksamkeit der Bevölkerung tagelang in Atem
hielten. Aber obwohl es hier genug zu sehen und zu bewundern gab
und obwohl jeder Tag neue Überraschungen brachte, kümmerte sich O.
doch nicht im geringsten darum. Sein Sinnen und Denken war ganz
ausschließlich bei den Schiffen, die bei dieser Gelegenheit in besonders
hoher Zahl an den Anlegestellen und vor Anker lagen und ebenfalls
Galaschmuck anlegten. Selbst die Dekoration seines elterlichen Hauses
ließ ihn gleichgültig.
1. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen. 447
Aber mit der bloßen Augenfreude ist O. s Interesse an den Schiffen
durchaus nicht erschöpft. 32 Dampfboote besitzt die Köln - Düsseldorfer
Rheinschiffahrtsgesellschaft; daneben verkehren noch Schiffe der Nieder-
ländischen Gesellschaft und eine große Anzahl von Lokalbooten auf dem
Rhein, und alle diese Boote kennt und unterscheidet O. mit fast unfehl-
barer Sicherheit nach ihrem Namen, obwohl sich die einzelnen Schiffs-
typen vielfach sehr ähnlich sehen und obwohl O. die an den Radkasten
angebrachten Namenschilder nicht zu lesen vermag.!) Und er kennt die
Schiffe nicht nur in der Nähe sondern auch auf Entfernungen, die weit
über das gewöhnliche Maß des deutlichen Gesichtskreises hinausgehen.
Selbst in der Dämmerung oder im leichten Nebel stellt er den Namen
der ihm bekannten Schiffe fest, wenn er nur einen ungefähren Eindruck
von ihrem Habitus erhält. Sogar auf sehr verkleinerten photographischen
Aufnahmen (Ansichtspostkarten), bei denen kein Mensch an bestimmte
Boote denkt, erkennt er die Schiffe, einerlei ob sie sich von der Bug-,
Heck- oder Backbordseite zeigen. In einzelnen Fällen nannte er sogar
schon den Namen von Schiffen, von denen er nur die Spitzen der Maste
und Schornsteine zu Gesicht bekam. Besonders bezeichnend in dieser
Hinsicht ist folgendes Beispiel. Gelegentlich eines Spazierganges auf der
Rheinpromenade zeigte ©. plötzlich mit lebhaften Gesten auf ein dicht an
der Kaimauer liegendes Dampfboot, von dem aber nur die Maste und
der obere Teil des allerdings in eigenartigem Orange angestrichenen
Schornsteins sichtbar war, und bemerkte dabei: »Das ist ein neues Schiff,
die Cecilie.« Verfasser verwunderte sich, da ihm ein Schiff, solchen
Namens unbekannt war, und trat näher heran, um die Sache zu prüfen,
und — es stimmte. Es war ein Lokalboot von einer benachbarten Stadt,
das zufällig eine Fahrt nach X gemacht hatte. Bei weiterer Nachforschung
stellte sich heraus, daß das Schiff, als es am Vormittag den Rhein hin-
unter gefahren war, O.s Aufmerksamkeit erregt hatte, und daß dieser sich
von seiner Mutter den Namen desselben hatte sagen lassen, und jetzt
hatte er das einmal gesehene Schiff am Schornstein sofort wieder erkannt.
Wie und woran O. die Schiffe kennt, konnte bis jetzt trotz aller
Bemühungen um die Lösung dieses Rätsels nicht sicher festgestellt werden.
Er selbst ist nicht imstande, darüber Aufklärung zu geben, und psycho-
1) Genau genommen kennt O. nicht alle Schiffe gleich sicher, weii er auch
nicht allen Schiffen gleich starkes Interesse entgegenbringt. Letzteres richtet sich
vielmehr nach der äußerlichen Ansehnlichkeit der Boote und nach dem Maß, in
dem sie für die praktische Benützung in Betracht kommen. Am meisten am
Herzen liegen O. die stolzen und schmucken Dampfer der Köln- Düsseldorfer
Gesellschaft, auf denen er auch gewöhnlich seine Rheintouren macht. Diese kennt
er buchstäblich alle mit absoluter Sicherheit. Etwas geringer ist sein Interesse für
die äußerlich weniger imponierenden, dafür aber um so häufiger benutzten 10—15
Lokalboote, die er aber auch noch alle dem Namen nach im Kopfe hat. Am
wenigstens interessant und darum auch am wenigsten bekannt sind ihm die etwas
düster aussehenden und von ihm fast nie benutzten »Niederländer«e. Gar nicht in
Betracht kommen die Güterschiffe, Schleppdampfer und Schleppkähne.
448 B. Mitteilungen.
logische Experimente lassen sich mit Schiffen als Anschauungsobjekten
aus begreiflichen Gründen nicht ausführen. Am nächsten liegt natürlich
die Vermutung, daß ©. die Schiffe nach dem äußerlichen Totaleindruck
ihrer Namensschilder sowie nach ihren besonderen Verzierungen nament-
lich am Radkasten und am Bugspriet unterscheidet. Allein dem steht
entgegen, daß O. den Namen der Schiffe auch dann festzustellen vermag,
wenn er die angegebenen Merkmale nicht sehen kann, z. B. in der Abend-
dämmerung oder bei großer Entfernung der Schiffe oder wenn die frag-
lichen Teile verdeckt sind. Auch die Farbe der Schiffe kann für ihn nicht
das entscheidende Merkmal sein, da sie alle (wenigstens die 32 Köln-
Düsseldorfer) sowohl im ganzen als auch in ihren Teilen gleichförmig an-
gestrichen sind. Jedenfalls erkennt O. die Schiffe an ihrem Gesamt-
Habitus (Zahl und Anordnung der Kamine, der Maste und der einzelnen
Decke und in Verbindung damit wohl auch koloristische Nüancen), der
sich seinem Gedächtnis mit der Schärfe und Sicherheit eines photo-
graphischen Prozesses einprägt, sowie an einer Reihe unbedeutender Äußer-
lichkeiten, auf die der normale Beschauer kaum acht gibt. Für diese
Annahme spricht besonders die Tatsache, daß O. im Frühjahr, wenn die
Schiffe wieder auf der Bildfläche erscheinen, sofort jede Änderung wahr-
nimmt, die sie im Laufe des Winters in ihrer äußeren Ausstattung und
Einrichtung erfahren haben. Da heißt es dann: Die »Elsa« hat eine
neue »Dreh« (Steuerrad) gekriegt, der »Kaiser Wilhelm« hat jetzt auch
vorn ein Sonnendach, bei der »Undine« ist am Radkasten etwas Rotes,
bei der »Elberfeld«e haben sie auch den Anker frisch angestrichen usw.
Aber auch von O.s Schiffsinteresse gilt, was schon in bezug auf
sein Eisenbahn- und Lokomotivinteresse gesagt wurde: es bleibt durchaus
am Äußerlichen haften. Über Wesen und Zweck der einzelnen Schiffs-
einrichtungen macht er sich keinerlei Gedanken; er fragt nicht weshalb
und wozu. Ebensowenig äußerte er je einmal den Wunsch, etwas über
die örtliche und zeitliche Seite des Schiffsverkehres zu erfahren. Sein
Interesse reicht nur soweit, als er die Schiffe ankommen, im Hafen liegen
und abfahren sieht. Woher die Schiffe kommen und wohin sie gehen,
ist ihm ziemlich gleichgültig. Wenn er heute darüber einiges weiß, so
weiß er es nur, weil es ihm gegen seinen Willen beigebracht wurde.
Noch weniger kam er von selbst dahinter, daß die Schiffe bei ihrer Ab-
fahrt und Ankunft eine bestimmte Zeit einhalten, daß einzelne Schiffe
(Expreßschiffe) ganz bestimmte Fahrten machen, daß andere Schiffe regel-
mäßig miteinander abwechseln u. ä. m.
Dagegen trat die Bedeutung des Interesses als gedächtnissteigerndes
Moment wiederholt eklatant zutage. So z. B. bemerkte O. einmal, als er
nach mehrwöchiger Ferienabwesenheit nach X. zurückkehrte, bei der Ein-
fahrt über die Rheinbrücke vom Eisenbahnwagen aus auf dem Strom ein
neues Lokalboot, das sofort seine ganze Aufmerksamkeit auf sich lenkte.
»Ein neues Schiff! Wie heißt es?« kam es hastig und erregt über seine
Lippen. Nun war der Name (Hochstaden) für O. völlig neu, und er mußte
ihm mehrmals wiederholt werden. Aber nun saß er auch, und zu Hause
angekommen, war es sein erstes und wichtigstes, den Seinigen von dem
1. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen. 449
neuen Schiff zu erzählen. Mit derselben Schnelligkeit und Sicherheit
prägte er sich andern Tages den Namen des ebenfalls neu eingestellten
Zwillingsschiffes des vorigen (Hardefurt) ein. Und obwohl beide Boote
sich äußerlich auf ein Haar gleichen, verwechselte O. sie doch niemals
miteinander, auch dann nicht, als ein oder zwei Jahre später noch die
ganz ähnlich gebauten »Klingedank«, »Wallraves und »Aducht« hinzu-
kamen. Diese Leistung im Unterscheiden ganz ähnlicher Gegenstände
und im Behalten von (sicher nicht ganz leichten) Namen auf Grund eines
vorhandenen starken Sachinteresses erhält ihre volle Beleuchtung erst durch
die Gegenüberstellung anderer Tatsachen, z. B. der, daß O. Schneeglöck-
chen und Krokus, die beiden ersten Frühlingsblumen, nur mit vieler Mühe
und auf Grund zahlloser Wiederholungen richtig unterscheiden und be-
nennen lernte.
Schließlich sei noch bemerkt, daß sich O.s leidenschaftliches Schiffs-
interesse erst spät entwickelte. Bis zu seinem 10. Lebensjahre hatte er
Schiffe nur ausnahmsweise zu Gesicht bekommen. Erst zu diesem Zeit-
punkt siedelte seine Familie nach X. am Rhein über, und auch da wäre
ihm jedenfalls die Schiffsleidenschaft fremd geblieben, wenn er durch die
Lage seiner elterlichen Wohnung den Schiffsverkehr nicht tagtäglich vor
Augen gehabt hätte.
Bezeichnend ist ferner, daß O.s Interesse an Fahrzeugen und Ver-
kehrsmitteln Luftballons, Luftschiffe und Flugmaschinen, die er in X. alle
zu sehen Gelegenheit hatte und noch hat, fast ganz ausschließt. Ebenso
sah er gelegentlich einmal auf das an sich äußerst anziehende Schauspiel
der ameisenartig durcheinander laufenden Förderkarren einer Braunkohlen-
grube völlig teilnahmlos hinunter. Der Grund liegt vielleicht darin,
daß die Vorstellung einer Luftreise in O. direkt unheimliche, die Vor-
stellung der Förderkarren, die keine Vehikel zu Spazierfalrten sind, aber
gar keine oder völlig indifferente Gefühle auslöst, und wo bei O. praktische
Beziehungen fehlen, da kommt es auch zu keinem theoretischen Interesse.
Vielleicht aber auch waren bezw. sind ihm diese Fahrzeuge noch nicht
bekannt und vertraut genug.
Große Vorliebe besitzt O. ferner für Musik. So heftig wie die Freude
am Fahren oder am Essen kommt diese allerdings nicht zur Äußerung.
Immerhin horcht O. sofort gespannt auf, sobald sich musikalische Klänge
vernehmen lassen. Der Besuch einer Oper gehört für ihn zu den höchsten
Vergnügen, was allerdings nicht ausschließlich auf Rechnung seines Musik-
interesses gesetzt werden darf. Konzerte würde er am liebsten jeden Tag
besuchen. Im Vergnügungsparke, wo der normale Junge vor lauter Sehen
das Hören zu vergessen pflegt, kümmert sich O. nur um die Musikkapellen.
Besondere Empfänglichkeit zeigt er für die Darbietungen der Straßen-
musikanten. Weniger Geschmack findet er an der häuslichen Klavier-
musik. Von seiner eigenen musikalischen Betätigung als Drehorgelspieler
wird weiter unten noch die Rede sein. Im allgemeinen faßt er leichte
und geläufige Melodien rasch und sicher auf. Die gebräuchlichsten Volks-
lieder, Märsche, Walzer, namentlich aber Gassenhauer sind ihm alle bekannt.
Selbst singen kann er jedoch nicht ein einziges Lied. Einerseits fehlt ihm
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 29
450 B. Mitteilungen.
dazu die Stimme und andrerseits kennt und behält er keine Texte. Für gute
und feine Musik hat er keinen Sinn. Je flotter das Tempo und je stärker
der Spektakel, desto größer das Vergnügen. Kapellen mit Blechmusik und
möglichst vielen Schlag- und Lärminstrumenten ziehen ihn am stärksten
an. Trommel, Pauke und Zinndeckel sind seine Lieblingsinstrumente.
Sehr bezeichnend für O.s Musikinteresse ist ferner die Tatsache, daß er
die Musik auch »sehen« muß. Gegenüber den Orgelmännern auf der
Gasse ist das noch am ehesten verständlich; diesen pflegt er solange
mit den Augen zu folgen, bis sie hinter einer Straßenecke verschwunden
sind. Aber auch ein Konzert bereitet ihm nur dann wirkliches Ver-
gnügen, wenn er die Musikanten sehen kann. Dabei ist ihm der Kapell-
meister die wichtigste und interessanteste Person. Sobald dieser den
Taktstock in die Hand genommen hat, sind O.s Blicke wie hypnotisch
auf ihn gerichtet. Selbst in der Oper teilt sich seine Aufmerksamkeit
zwischen den Vorgängen auf der Bühne und dem Taktstock des Dirigenten.
Ja es ist zweifelhaft, ob ihn jene oder dieser mehr interessieren. Wie
genau O. den Dirigenten beobachtet, zeigt die Tatsache, daß er einmal
beim ersten Taktschlag eines ihm bekannten Kapellmeisters im Tone
größter Überraschung die Bemerkung machte: Herr B. hat einen neuen
Taktstock !
Ein weiterer charakteristischer Zug in O.s geistigem Habitus ist
seine stark hervortretende Neugierde. Man kann die Neugierde als eine
niedere, minderwertige Form des Interesses definieren. Während wir mit
dem Begriff Interesse die Vorstellung einer vertieften, ruhig beobachtenden
Hingabe an bestimmte Sachen verbinden, denken wir bei der Neugierde
hauptsächlich an ein oberflächliches Flattern der Aufmerksamkeit von
Gegenstand zu Gegenstand, geleitet von dem mehr oder minder bewußten
Verlangen nach Unterhaltung durch den bunten Wechsel lebhafter Sinnes-
eindrücke. Ihre psychologische Ursache hat die Neugierde einerseits in
der leichten Erregbarkeit und Ablenkbarkeit der Aufmerksamkeit durch
periphere Reize und andrerseits in der geringen assoziativen Verflochten-
heit der im Bewußtsein vorhandenen Vorstellungsmassen, beides Momente,
die einen wesentlichen Grundzug des kindlichen Seelenlebens ausmachen.
O.s Neugierde erstreckt sich auf alles, was um ihn her vorgeht,
namentlich aber auf das Außergewöhnliche und Sensationellee Im Mittel-
punkt seiner Neugierde steht der Mensch. Wenn man O. in verkehrs-
reichen Straßen vor ein Schaufenster stellt, so kehrt er diesem unfehlbar
den Rücken zu und starrt mit dem Ausdruck der höchsten Neugierde
auf den Passantenstrom, einerlei ob in dem Schaufenster ein Spielwaren-
paradies aufgebaut ist oder ob aus ihm die appetitlichen Erzeugnisse eines
Konditors, eines Metzgers oder dergleichen locken. Vielleicht ist es auch
nur das Lebende und Bewegliche, was ihn dort anzieht, und das Tote,
Unbewegliche, Gleichförmige, was ihn hier langweilt. Wie sehr O. sich
dafür interessiert, was seine Nebenmenschen essen und trinken, wie sie
sich kleiden, wie sie wohnen, wie sie fahren usw., wurde bereits aus-
geführt. Nicht minder wichtig ist ihm aber auch das, was sie arbeiten,
tun und treiben, und vor allen Dingen, was sie reden.
1. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen. 451
Daß Straßenaufläufe O.s Aufmerksamkeit in besonders starkem Maß
erregen und seine Seele mit brennender Neugierde erfüllen, dürfte nach
dem bisher Gesagten kaum wundernehmen. Merkwürdig ist aber die
Sicherheit des Instinktes, mit der er die Ursachen solcher Straßenszenen
zu erraten pflegt. Recht oft überrascht er in solchen Fällen seine Be-
gleitung mit der Behauptung »Pferd gefallen« oder »Wagen kaput« oder
»Betrunkener Manne, ehe diese selbst vom Vorgefallenen eine Ahnung
hat. Vermutlich stützt sich O. bei diesen scheinbar scharfsinnigen Kombi-
nationen einerseits auf Beobachtungen, die wegen ihrer Nebensächlichkeit
und Unscheinbarkeit der nur auf die Hauptsache gerichteten Aufmerksam-
keit normaler Zuschauer für gewöhnlich entgehen, und andrerseits auf mehr
oder weniger deutliche, zufällige Äußerungen aus dem Zuschauerkreise.
Die treibende Kraft aber ist jedenfalls die von der brennendsten Neugierde
getragenen Frage: »Was ist los?«
Ferner interessiert sich O. besonders stark für die Hantierungen von
Arbeitsleuten. Kommen Handwerker ins Haus, so weicht er, falls ihn
nicht Schüchternheit daran hindert, keinen Augenblick von deren Seite.
Sieht er auf der Straße städtische Angestellte Arbeiten ausführen, etwa
Kanäle reinigen, Schienen reparieren, elektrische Leitungen ausbessern und
dergl., so bleibt er unwillkürlich stehen. Besonderes Vergnügen bereitet
ihm das Zuschauen beim Auf- und Abladen von Straßenfuhrwerken, von
Eisenbahrwagen, von Schiffen usw. Bei alledem handelt es sich aber
doch nur um ein müßiges, oberflächliches, mehr oder weniger gedanken-
loses Gaffen. Über die rein empirischen und meist auch bloß gewohn-
heitsmäßig gestellten Fragen: Was ist das? Was tun die? Was ist in den
Kisten? Wer bekommt die Fässer? geht seine Neugierde selten hinaus,
und auf Fragen, die ein tieferes Nachdenken über Ursache, Zweck, Be-
deutung anregen sollen, gibt er meist keine oder höchst oberflächliche und
gedankenlose Antworten. Ihn interessieren vorwiegend die Arbeiter und
ihre Hantierungen an sich, nicht aber Sinn und Zweck der Arbeit. Die
Manipulationen eines Straßenkehrers, Laternenputzers verfolgt er mit der-
selben Aufmerksamkeit und Teilnahme wie etwa einen interessanten Vor-
gang an einem Baugerüste Im Gegenteil, das erstere liegt ihm näher
als das letztere. Deswegen kommt es nicht selten vor, daß er gerade da
gelangweilt fortläuft, wo andere Leute interessiert stehen bleiben. Z. B.
für die gefährliche Lage, in der Dachdecker mitunter ihrem Berufe nach-
gehen, hat O. kein Verständnis und darum auch kein Interesse. Ebenso
waren ihm die vielen und vielerlei anziehenden Schauspiele, die der Bau
einer großen Rheinbrücke bot, im großen ganzen gleichgültig. Dagegen
alles, was in seine praktische Betätigung fällt, übt eine mächtige An-
ziehungskraft auf ihn aus. Drehorgelmänner, hackende und schaufelnde
Erdarbeiter, mit Lumpen und Schrubber hantierende Schiffsmatrosen,
Kohlenträger, badende oder sich waschende Männer und, zuletzt aber nicht
als letztes, Personen, die im Freien ihre Mahlzeit einnehmen, das sind
für ihn die interessantesten Straßenerscheinungen. Im letzten Falle
regnet es dann eine Menge Fragen: Was ißt der Mann? Hat er auch
Fleisch? Bekommt er auch Gemüse? Wer hat ihm das Essen gebracht?
29*
452 B. Mitteilungen.
Wer hat es gekocht? Hat die Frau schon gegessen? Bekommen die
Kinder auch zu essen? Müssen die Kinder in die Schule gehen? Spült
die Mutter das Geschirr? Wo wohnen die Leute? Usw.
Eine besondere Stellung unter den für O. interessanten Straßenvor-
gängen nehmen Beerdigungen ein. Von den angeführten sinnlichen
Genüssen (Essen, Fahren) abgesehen, gibt es nichts, was O.s Aufmerk-
samkeit mächtiger anzieht und sein Gemüt tiefer erregt, als ein Leichen-
zug. Sobald er einen solchen erblickt, ist sein Bewußtsein von dieser
Vorstellung in einem Nu so völlig in Beschlag genommen, daß alles
andere für ihn verschwindet. Wie hypnotisiert starrt er auf das vorüber-
ziehende Schauspiel; ganz unwillkürlich bleibt er stehen, unbekümmert
um Ort und Umgebung, selbst die im großstädtischen Verkehre nötige
Vorsicht auf der Straße, die bei ihm für gewöhnlich an Ängstlichkeit
grenzt, pflegt er in einem solchen Momente außer acht zu lassen. Und
auf alles richtet sich seine Aufmerksamkeit, auf die vorausschreitenden
Geistlichen, auf die dem Sarge folgenden Leidtragenden, auf die Schar
der Teilnehmer, auf die den Zug beschließenden und häufig trauer-
geschmückten Droschken, ganz besonders aber auf den Leichenwagen und
den Sarg. All’ das mustert er mit der ihm eigenen Beobachtungsschärfe,
aber auch vom Standpunkte seines naiven Kleinlichkeitsinteresses. Im
Anschluß daran drängen sich Dutzende von Fragen über seine Lippen und
noch stundenlang nachher behalten diese Vorstellungen in seinem Bewußt-
sein die Oberhand. Bei Beerdigungsfeierlichkeiten auf dem Friedhofe hat
man Mühe und Not, ihn in den hinteren Zuschauerreihen zurückzuhalten.
Unbewacht würde er sich mitten durch die Teilnehmer zum Grabe vor-
drängen, um da wie geistesabwesend auf den Sarg hinunterzustarren. Für
gewöhnlich genügt der Anblick eines im Zylinderhut (»Begräbnishut!«)
über die Straße gehenden Herrn, der Anblick eines einen Trauerkranz
tragenden Dienstmädchens, die Beobachtung, daß an irgend einem Hause
die Fensterläden geschlossen sind (in X. das Zeichen eines Trauerfalles),
die Ankunft einer schwarzumränderten Postsendung, die gesprächsweise
Erwähnung eines Todesfalles, um O.s Neugierde in hellen Flammen
auflodern zu lassen und eine endlose Kette von Fragen auszulösen.
Unter dem, was er nach einer 10 wöchigen Schweizerreise zu er-
zählen wußte, befand sich an erster Stelle die Mitteilung, daß in
Zürich vor einem Hause ein Trauerwagen gestanden habe Und als
er 2 Jahre später wieder nach Zürich kam, fiel ihm in der betreffen-
den Straße der Leichenwagen sofort wieder ein. Beim Besuche einer
Anstalt erfuhr er zufällig, daß tags zuvor ein Zögling gestorben war.
Während eines an den Besuch sich anschließenden 3—4 stündigen Mar-
sches, bei dem ein Zögling der Anstalt als Führer diente, hielt er sich
ohne Unterbrechung an diesen und redete von nichts anderem als von der
bevorstehenden Beerdigung. Gelegentlich eines Spazierganges durch seine
Vaterstadt machte er im Blick auf ein bestimmtes Haus die Bemerkung,
daß da ein Kind gestorben sei. Nachträgliche Erkundigungen ergaben,
daß dies tatsächlich der Fall war, aber — vor ca. 6 Jahren. Während
eines Sommeraufenthalts in F. war in einer Nachbargemeinde ein alter
1. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen. 453
Mann gestorben. Da dieser in F. beerdigt werden sollte, stieg O.s Neu-
gierde aufs höchste. Aber keiner der Tischgenossen konnte ihm auf seine
vielen Fragen die erwünschten Antworten geben. Da machte sich O., der
sonst fremden Personen gegenüber sehr zurückhaltend und auch im sprach-
lichen Verkehr recht ungewandt und ungeschickt ist, bei der nächsten
Gelegenheit an eine ihm nur dem Ansehen nach bekannte Nachbarsfrau
und fragte aus ihr alles heraus, was er über den Todesfall im einzelnen
wissen wollte. So siegte hier die Macht der Neugierde über die Affekte
der Menschenscheu und Schüchternheit. In ähnlicher Weise ist der an
sich gehfaule Junge mit jedem noch so langen Spaziergange einverstanden,
wenn dieser in die Nähe eines Friedhofs führt, also die Möglichkeit der
Begegnung mit einer Beerdigung bietet. Nächst dem Besuch von Konzerten
mit Restaurationsbetrieb ist ihm der Gang nach einem Friedhof das liebste
Vergnügen. Dabei interessieren ihn aber nur die event. gerade statt-
findenden Beerdigungsfeierlichkeiten, während ihm Leichensteine, Grab-
denkmäler usw. völlig gleichgültig sind. In fröhlicher Gesellschaft wurde
einmal das Lied vom Dr. Eisenbart gesungen mit dem Vers: »Zu Pots-
dam trepanierte ich den Koch des großen Friederich; ich schlug ihm mit
dem Beil vor’n Kopf, gestorben ist der arme Tropf.« Sofort nach Schluß
des Liedes stellte O. an den Verfasser in höchster Erregung die Frage:
»Wer ist gestorben?«
Der Grund für die auffallende und außerordentlich leidenschaftliche
Anteilnahme O.s an allem, was mit Todesfällen zusammenhängt, ist wohl
darin zu suchen, daß O. selbst in seinem 11. Lebensjahr seinen Vater
verlor und daß sich die Eindrücke, die er bei diesem Erlebnis empfing,
seinem Bewußtsein mit besonderer Stärke und Wucht einprägten. Dafür
spricht auch die Tatsache, daß O., obwohl er damals der offiziellen Be-
erdigungsfeier ferngehalten worden war, heute doch behauptet, an ihr teil-
genommen zu haben, bezw. so von diesem Ereignis zu sprechen pflegt,
als ob er persönlich dabei gewesen wäre Dazu mag noch das Gefühl
der Unheimlichkeit kommen, das sich bei ihm mit der Vorstellung über
das Schicksal der im Sarge eingeschlossenen Toten verbindet. Dieses
Schicksal scheint ihm etwas ganz Unfaßbares, Rätselhaftes zu sein. Wohl
»weiß« er, daß die Verstorbenen in den Himmel kommen, das hindert
ihn aber nicht, hundertmal zu fragen: »Kann der Tote nicht mehr heraus?
Kann er nicht mehr essen? Weint er jetzt?« und ähnliches mehr. Daher
auch die beinahe hypnotische Anziehungskraft, die speziell der Sarg auf
seine Aufmerksamkeit ausübt.
Aber nicht nur auf das, was die Leute tun, auch auf das, was sie
reden, richtet sich O.s Neugierde in hohem Maße. So scharf wie sein
Auge in bezug auf das Tun und Treiben seiner Nebenmenschen ist, so
scharf ist sein Ohr gegenüber ihren Äußerungen und Unterhaltungen.
O.s »lange Ohren« sind in seiner Familie berüchtigt. Dabei macht er
durchaus nicht immer den Eindruck des Lauschers und Aufpassers. Fremde
pflegen ihm dies gar nicht zuzutrauen. Mag er bei Tisch noch so emsig
mit Essen beschäftigt sein, von der geführten Tischunterhaltung entgeht
ihm kein Wort. Ist Besuch auwesend, so setzt er sich mäuschenstill an
454 B. Mitteilungen.
seinen Platz und spitzt die Ohren. Genau so verhält es sich bei Familien-
unterhaltungen, die für ihn eine besondere Ohrenweide sind, nur daß er
hier (in seiner Weise) versucht, sich aktiv am Gespräch zu beteiligen.
Darf er jemand auf geschäftlichen Gängen begleiten, so horcht er gespannt
auf die mit den Verkäufern gepflogenen Unterhandlungen, wobei ihn be-
sonders die Zahlen (Preise) interessieren, obwohl er sehr unsichere Zahlen-
vorstellungen und gar kein Geldverständnis besitzt. Trifft Verfasser in
Begleitung O.s mit Bekannten zusammen, oder läßt er sich mit Fremden
in ein Gespräch ein, oder unterhält er sich in Museen, im Zoologischen
Garten oder sonstwo mit Aufsichtsbeamten und dergl., so läßt O. kein
Auge von diesen und mit ausnahmsloser Regelmäßigkeit pflegt er die auf-
gefangenen Brocken zu Hause zu erzählen. In O.s Gegenwart etwas zu
tun oder zu sprechen, ohne daß er seiner Mutter davon Bericht erstattete,
ist absolut ausgeschlossen. Die allerflüchtigsten Straßenbegegnungen, ja
selbst das Angeredetwerden durch wegeunkundige Fremde werden der
Mutter als wichtige Erlebnisse mitgeteilt.!) Mit derselben Neugierde ver-
folgt O. die Unterhaltung dritter Personen. In Straßen- und Eisenbahn-
wagen, im Theater, in Restaurants und dergl. hat man Mühe, ihn vom
ungenierten Hinhorchen auf die Unterhaltungen anderer abzuhalten. Fängt
neben ihm eine Gesellschaft zu lachen an, so lacht er mit, als ob er zur
Partie gehörte. Selbst auf der Straße schnappt er Bruchstücke von Unter-
haltungen Vorübergehender auf. Nur als absichtlicher Horcher an der
Tür wurde er noch nicht ertappt; dafür ist er zu naiv und harmlos.
Der praktische Effekt von O.s Aufhorcherei ist indes ein sehr ver-
schiedener. Dem sachlichen Zusammenhang einer von Erwachsenen ge-
führten Unterhaltung vermag O. meist nicht zu folgen, einmal weil es
sich dabei vielfach um Stoffe und Gedanken handelt, die über seinen
geistigen Gesichtskreis hinausfallen, und zum andern weil auch die Form
der Unterhaltung seine Fassungskraft übersteigt. Namentlich fehlt es ihm
am richtigen Verständnis aller in bildlichem oder abgeleitetem Sinn ge-
brauchten Ausdrücke, denen er nicht selten falsche (meist buchstäbliche)
Bedeutung unterschiebt. Mit um so unfehlbarerer Sicherheit schnappt er
dagegen diejenigen Äußerungen und Bemerkungen auf, die seinem Vor-
stellungs- und Interessekreis entsprechen, und daran knüpft er dann seine
Kombinationen oder Mutmaßungen. Sehr häufig trifft er damit auch das
Richtige und man hat recht oft Ursache, sich über seine in dieser Be-
ziehung zutage tretende »instinktive« Schlauheit zu wundern. Nicht
selten passiert es ihm aber auch, daß er etwas direkt Falsches rät, was
in den meisten Fällen Anlaß gibt zu heiteren Intermezzos, hin und wieder
aber auch zu unliebsamen Mißverständnissen. (Forts. folgt.)
1) Diese geschwätzige Mitteilsamkeit ist ohne Zweifel zum Teil die Folge einer
allzu nachgiebigen Erziehungsweise. Mit den nichtssagenden Erzählungen findet O.
bei der Mutter aufmerksamstes Gehör. Anstatt ihm gegebenenfalls die Unwichtig-
keit und Gleichgültigkeit des Inhalts seiner Mitteilungen sofort zum Bewußtsein zu
bringen, wird er durch vorgetäuschtes Interessiertsein direkt zu solch faden Schwät-
zereien ermuntert.
2. Unbewußte Lehrplankritik einer früheren Hilfsschülerin. 455
2. Unbewußte Lehrplankritik einer früheren
Hilfsschülerin.
Von Hugo Schmidt, Hilfsschullehrer in Bremen.
Vor einiger Zeit kam mir die folgende Äußerung einer 15 jährigen
früheren Hilfsschülerin zu Gehör: »Einen vier Seiten langen Brief soll
ich lesen? Wenn ich ihn selbst lesen muß, verstehe ich ihn doch nicht.
Ja, wenn mir jemand den Brief vorliest, dann höre ich gern zu.«
Das Mädchen ist aus der ersten Klasse der Hilfsschule entlassen
worden und hat zu den besten Schülern der Klasse gehört. Zwar ist der
Intelligenzdefekt des Kindes nicht schwer festzustellen, aber trotzdem muß
das Mädchen den leichteren Schwachsinnsfällen zugerechnet werden.
Die obige Äußerung scheint mit dieser Tatsache nicht recht im Ein-
klang zu stehen. Dennoch bin ich der Überzeugung, daß das Urteil des
Kindes wohl begründet ist. Ich komme zu dieser Annahme, weil ich
früher als Leiter einer Arbeitslehrkolonie häufig Gelegenheit hatte, ein
erstaunlich geringes Leseverständnis bei früheren Hilfsschülern festzustellen.
Wohlgemerkt, Lese- und nicht Sprachverständnis! Die betreffenden Zög-
linge konnten eine Stunde und länger einem einfachen Vortrage zuhören
und später Rechenschaft abgeben, aber trotz einer verhältnismäßig guten
Lesefertigkeit vermochten sie den Inhalt einer schriftlichen Darstellung
nicht kontinuierlich in sich aufzunehmen und zu verstehen.
Wie ist diese auffällige Erscheinung psychologisch zu erklären?
Diese Schwachsinnigen, man darf wohl sagen die meisten bildungs-
fähigen Schwachsinnigen, bedürfen eines weit erheblicheren Bruchteiles
ihrer geistigen Kraft für die mechanische Lesefertigkeit (Perzeption der
graphischen Zeichen, Verknüpfung der entsprechenden Laute, bezw. die
Wiedererkennung der Wort- und Klangbilder, meistens auch die Erregung
der sprachmotorischen Bahnen) als der Normale. Es bleibt ihnen also
prozentual weniger geistige Kraft zur inhaltlichen Verarbeitung verfüg-
bar. Auf diese Weise gesellt sich zu dem absoluten Nachteil noch ein
relativer. Berücksichtigen wir außerdem noch die Lücken im Vorstellungs-
material, die mangelhafte, oft unrichtige Gedankenverknüpfung und die
fast durchweg herabgesetzte Aufmerksamkeitsfähigkeit, so dürfte uns das
schwache Leseinteresse verständlich werden.
Ziehen die Hilfsschullehrpläine die Konsequenzen aus diesen Er-
scheinungen? Steht dieser Erfolg unseres Leseunterrichts auch nur einiger-
maßen im Verhältnis zu der ungeheuren Stundenzahl im Laufe der 8 Schul-
jahre? Könnte die kostbare Zeit nicht zum Teil weit, weit vorteilhafter
für Anschauungs-, Zeichen- und Werkunterricht verwendet werden?
Möchten diese Fragen dazu beitragen, daß die Hilfsschullehrpläne bald
durch zielbewußte und kräftige Hände aus dem Fahrwasser der Normal-
schulpläne gesteuert und ihnen Wege gewiesen werden, die der Eigenart
unserer Schwachsinnigen wirklich entsprechen.
456 B. Mitteilungen.
3. Die Selbstmorde Jugendlicher in Preußen 1912.
Den Medizinalstatistischen Nachrichten, im Auftrage des Herrn Ministers des
Innern herausgegeben vom Königlich Preußischen Statistischen Landesamte (Jahrg. V,
1913/14, Heft 3, S. 429—446), entnehmen wir die folgenden Zahlen.
Im ganzen verübten 8723 Personen Selbstmord, und zwar 6604 Männer und
2119 Frauen. Auf 100000 Lebende kamen 32,52 männliche, 10,20 weibliche Selbst-
mörder (überhaupt 21,24 gegen 20,79 im Jahre 1911). Unter 15 Jahre alt waren
96 männliche und 16 weibliche Selbstmörder. Drei Kinder (2 Knaben und 1 Mädchen)
waren noch nicht zehn Jahre alt. Von 100000 Lebenden der betreffenden Alters-
klassen endeten in Preußen durch Selbstmord
im Alter von 1908 1909 1910 1911 1912
10—15 Jahren 0,7 1,7 22 2,0 2,5
15—20 ,„ 15,0 16,9 16,6 17,2 19,4
20-25 „. 26,2 27,3 26,8 25,3 28,4
m. w. m. w. m. w. m. ë w. m w.
10—15 „ 11 03 2,1 0,6 33 12 3,3 0,7 43 0,7
15—20 „ 19,5 104 20,8 13,0 20,6 12,5 22,1 12,2 24,9 139
20—25 .„ 38,4 14,0 40,0 14,8 387 15,0 37,7 13,1 412 15,8
Die höchste Selbstmordziffer für Knaben hatte 1912 der Landespolizeibezirk
Berlin aufzuweisen.
Rund der vierte Teil aller Selbstmorde in Preußen wird unzweifelhaft durch
Geisteskrankheit verursacht. Die Ursachen, die Jugendliche zum Selbstmord ver-
anlaßten, gehen aus folgender Übersicht hervor:
Selbstmorde unter 10 10—15 15—20 20—25
überhaupt Jahren Jahre Jahre Jahre
m. w. m. w. m. w. m. w. m w.
Lebensüberdruß im all-
gemeinen. . . . 406 93 — — 1 — 27 8 29 15
Körperliche Leiden . 666 192 — — I a1 18 5 32 15
Nervenkrankheit . . 255 186 — — 2 1 11 3 18 10
Geisteskrankheit . . 1380 727 1 — 9 2 79 39 92 53
Geistesschwäche . . 47 27 — — — — 1 2 3 —
Alkoholismus . . . 610 25 — — — — 4 — 4 1
Leidenschaften . . 231 151 — — 3 — 36 56 111 55
Laster, Ausschweifung,
liederliches Leben. 48 6 — — 1 — 12 5 5 —
Trauer und Kummer 835 161 — 1 — 31 7 8&2 19
Reue und Scham, Ge-
„ wissensbisse. . . 526 110 1-36 3 70 43 124 25
Arger und Streit. . 136 42 _ — 8 3 4 19 25 9
Andere Beweggründe 47 9 — 1 3 2 10 1 18 1
Zusammen bekannte
Beweggründe . . 5187 1729 2. -I 66 12 345 188 543 203
Unbek. Beweggründe 1417 390 — — 28 3 161 90 191 82
Jedenfalls lassen die Zahlen erkennen, daß es nicht angeht, alle Selbst-
morde der Schule zur Last zu legen — ein Bestreben, das neuerdings wieder mehr
in den Vordergrund getreten ist. Ganz klar wird man in der ganzen Angelegenheit
aber erst dann sehen, wenn auch die hereditären Verhältnisse, vielleicht auch sogar
Rassefaktoren (die Angabe über die Konfession sind weniger bedeutungsvoll) mit in
der Statistik berücksichtigt werden.
Jena. Karl Wilker.
4. Zeitgeschichtliches.
Ein IV. Breslauer Hilfsschulkursus zur ersten Einführung in die Hilfs-
schularbeit wie auch zur Fortbildung und Vertiefung auf den verschiedenen Gebieten
der Heilpädagogik findet vom 30. April bis zum 20. Mai 1914 statt. Der Arbeits-
C. Zeitschriftenschau. 457
plan entspricht den Anforderungen der neuen Prüfungsordnung für Hilfsschullehrer.
Neben den Vorträgen finden systematische Vorführungen in Breslauer Hilfsschulen,
in einem Stotterer- und Stammlerkursus und in Fortbildungsklassen für schwach-
befähigte Knaben und Mädchen statt. Genaue Arbeits- und Stundenpläne werden
im März veröffentlicht und den Teilnehmern zugestellt. Auswärtige Teilnehmer
zahlen einen Beitrag von 50 Mark. Anmeldungen bis zum 1. April an die Schul-
verwaltung der Stadt Breslau, Gartenstraße 3.
Die Jahresversammlung des Deutschen Vereins enthaltsamer
Lehrer findet mit der Deutschen Lehrerversammlung Pfingsten 1914 in Kiel statt.
Den Festvortrag hält Professor Niebergall-Heidelberg. Anfragen usw. an den
Schriftführer: Lehrer F. Meinssen, Hamburg 30, Meldorferstraße 4.
Eine Unterschriftensammlung zu einer Eingabe an den Reichstag zwecks
Schaffung eines Kinderschutzgesetzes (insbesondere zur Bekämpfung des Kinder-
handels) wurde von der früheren Stuttgarter Polizeiassistentin Schwester Henriette
Arendt (Stuttgart, Kelterstraße 49) vorgeschlagen.
Dem Deutschen Reichstag ist der Entwurf eines Gesetzes gegen die
»Gefährdung der Jugend durch Zurschaustellung von Schriften, Abbildungen und
Darstellungen« zugegangen, nach dem in der Gewerbeordnung folgender $ 43a ein-
zufügen ist: »Schriften, Abbildungen oder Darstellungen dürfen in Schaufenstern, in
Auslagen innerhalb der Verkaufsräume oder an öffentlichen Orten nicht derart zur
Schau gestellt werden, daß die Zurschaustellung geeignet ist, Ärgernis wegen sittlicher
Gefährdung der Jugend zu geben. Mit Haft oder Geldstrafe bis zu 300 Mark wird
bestraft. wer diesen Bestimmungen zuwiderhandelt.< (Februar 1914.)
In Belgien dürfen nach einer kürzlich erlassenen amtlichen Verfügung post-
lagernde Sendungen an Jugendliche nur ausgeliefert werden, wenn diese —
soweit sie als Knaben unter 17, als Mädchen unter 18 Jahren alt sind — ein amtlich
beglaubigtes Formular mit der Unterschrift des Vaters oder dessen Stellvertreters
mit der Erlaubnis dazu vorweisen können. Als Versuch, den Austausch von Liebes-
briefen, den Erwerb unsittlicher Schriften usw. auf diese Weise zu beschränken,
ist diese Verfügung gewiß beachtenswert.
Die Säuglingssterblichkeit in Deutschland ist im Jahre 1912 gegen-
über 1911 um 23°/, zurückgegangen (275571 Kinder gegen 359522). Es betrug
auf 100 Lebendgeborene berechnet die Sterblichkeit von Kindern des 1. Lebens-
jahres: 1912 14,7; 1911 19,2; 1910 16,2; 1909 17,0; 1908 17,8; 1902 18,3.
Stiftungen, Geschenke usw.: zur Errichtung eines Säuglingsheims
in Jena 45000 Mark.
In einem längeren Aufsatz »Im Kampf um die Jugend« (Säemann, 1914,
Heft 2 vom 20. Februar 1914, S. 41—55) setzt sich Paul Cauer noch einmal mit
Wyneken auseinander (vergl. diese Zeitschrift, XIX, 4, S. 248). Er kommt dabei
zu dem Ergebnis: »Das Verdienst, eine uralte, aber heute mehr als je dringende
Frage scharf gestellt zu haben, mag dem Verfasser von ‚Schule und Jugendkultur‘
unverkürzt bleiben, wenn er selber auch zu ihrer Lösung nichts Greifbares bei-
getragen hat.«
Aura
C. Zeitschriftenschau.
Kinderschutz und Jugendfürsorge.
Erfolge.
Bünzli, B., und Bernet, St., St. Gallische Jugendfürsorge. Jahresberichte 1911
und 1912. Zeitschrift für Jugenderziehung und Jugendfürsorge. 3, 19 (15. Juni
1913), 8. 561—572; 20 (1. Juli), S. 594—603.
Hervorgehoben sei aus dem Bericht, der reich an interessanten Einzelheiten
458 C. Zeitschriftenschau.
ist, daß die Gesetzgebung in Jugendfürsorge und Kinderschutz in den letzten Jahren
sehr erfreuliche Fortschritte gemacht hat.
Bünzli, B., St. Gallische Jugendfürsorge. Zeitschrift für Jugenderziehung und
Jugendfürsorge. 3, 18 (1. Juni 1913), S. 534—539.
Bericht der Kommission für Ferienversorgung bedürftiger Schulkinder 1909
bis 1913. Die Ferienversorgung auf dem Lande bildet eine notwendige und wert-
volle Ergänzung zu den Ferienkolonien.
Presler, O., Konferenz über »Berufsberatung und Berufsvermittlunge. Deutsche
Elternzeitschrift. 4, 8 (1. Mai 1913), S. 128—129.
Kurzer Bericht über die im Februar abgehaltene Konferenz. Ein Ausschuß
wird die Förderung der Berufsberatung tatkräftig in die Hand nehmen.
Lederer, Max, Der I. Internationale Jugendfürsorgekongreß in Brüssel. Zeitschrift
für Kinderschutz und Jugendfürsorge. 5, 8/9 (August/September 1913), S. 245—248.
Bericht über den im Juli abgehaltenen Kongreß.
Lederer, Max, Der II. Österreichische Kinderschutzkongreß in Salzburg (4.—6. Sep-
tember 1913). Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. V, 10 (Oktober
1913), 8. 285—295; 11 (November), S. 316—324.
Ausführlicher Kongreßbericht (vergl. diese Zeitschrift, XIX, 2, S. 113—117).
Mataja, Victor, Der Kinderschutzkongreß in Salzburg. Zeitschrift für Kinder-
schutz und Jugendfürsorge. 5, 8/9 (August/September 1913), S. 217—219.
Kurze Angaben über die Vorgeschichte und Hinweise auf Verhandlungs-
gegenstände.
Silbernagel, Alfred, Internationale Jugendfürsorge am Brüsseler Kinderschutz-
kongreß. Zeitschrift für Jugenderziehung. IV, 3 (15. Oktober 1913), S. 64—74.
Auf dem Brüsseler Kongreß waren 43 Regierungen vertreten (die deutsche
nicht). Die Schaffung eines internationalen Amtes für Kinderschutz wurde be-
schlossen. Aus dem Entwurf des Schweizerischen Bundesrats werden einzelne Be-
stimmungen hervorgehoben. Die Zentralstelle soll in Belgien eingerichtet werden.
Die Forderungen der Schweiz hinsichtlich der Organisation sollen Berücksichtigung
finden. In Deutschland hätte man es lieber gesehen, wenn die Zentralstelle in der
Schweiz geschaffen wäre. — Die Arbeit enthält alles Wissenswerte über die
Organisation.
8zidon, K. G., Die Verhandlungen des Ersten Ungarischen Kongresses für Kinder-
forschung. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie. 14, 4 (April 1913), S. 222
bis 227.
Bericht über die Verhandlungen.
Assmus, Walter, Moderne Volksbildungsarbeit. Neue Bahnen. XXV, 4. (Januar
1914), S. 188—191.
An der Hand der letzten Jahresberichte wird über die Volksbildungsarbeit
einiger großer Organisationen (Gesellschaft zur Verbreitung von Volksbildung, Rhein-
Mainischer Verband für Volksbildung, Hamburger Volksheim) berichtet.
Bayer, Maximilian, Der Deutsche Pfadfinderbund. Deutsche Blätter für er-
ziehenden Unterricht. XLI, 20 (6. Februar 1914), S. 193—195; 21 (13. Februar),
S. 205—206.
Aus dem Handbuch für Jugendpflege. — Darstellung der Entstehung, des
Programms, der Organisation usw. Literaturangaben.
Treuthardt, Marie, Die Kinderfürsorge der Amtsvormundschaft. Monatsblatt
des Kant.-Bernischen Vereins für Kinder- und Frauenschutz. 6, (15. Januar 1914),
S. 25—28; 7, (15. Februar), S. 29—30.
C. Zeitschriftenschau. 459
Als Amtsvormundschaft wird aufgefaßt »die berufsmäßige und amtliche Wahr-
nehmung der Interessen der außerehelichen Kinder. In der Schweiz besteht sie
seit etwa 10 Jahren (in Zürich seit 1908). Die außereheliche Geburtenziffer ist in
der Schweiz sehr niedrig: 1911 nur 4,6°, (in den Städten 9,6°/,, auf dem Lande
nur 3,2°/,). Günstiger sind die Verhältnisse nur noch in den Niederlanden mit
2,5°/, und in England mit 4°/,.
Silbernagel, Alfred, Kinder- und Frauenschutz im schweizerischen Strafgesetz-
buche. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. V, 12 (Dezember 1913),
S. 345—347.
Kurze Darstellung der in Betracht kommenden Gesetzesabschnitte.
Matter, Karl, Die Schweizerische Wandervogelbewegung. Zeitschrift für Jugend-
erziehung und Jugendfürsorge. IV, 9 (15. Januar 1914), S. 245—253.
Die Arbeit will eine Idee vom Wesen und der Bedeutung der Schweizerischen
Wandervogelbewegung geben, sowie eine Übersicht über die äußere Entwicklung.
Lederer, Max, Jugendfürsorge in Kanada. Zeitschrift für Kinderschutz und
Jugendfürsorge. V, 12 (Dezember 1913), 8. 349—350.
Referat über einen Bericht des Jugendrichters Billiarde von Winnipeg. Das
Jugendgerichtssystem mit der Schutzaufsicht hat sich vorzüglich bewährt. Von 500
in einem Jahre behandelten Fällen bewiesen sich nur 17 Knaben als unlenkbar und
des Aufenthalts in einer Industrial School bedürftig. 300 Kinder bewährten sich so
gut, daß sie aus der Schutzaufsicht entlassen werden konnten.
May, Armand v., Die Methode Montessori. Zeitschrift für Jugenderziehung und
Jugendfürsorge. 3, 15 (15. April 1913), S. 432—436.
Diese neue Methode der römischen Case dei bambini hat viel Anklang ge-
funden. Sie wird beschrieben auf Grund eines Besuches in einem solchen Kinder-
heim. Hauptprinzip ist Selbstentwicklung des Kindes. Der Verfasser hält die neue
Methode geeignet für Kinder bis zu 7, 8 Jahren, und zwar einerlei welcher Natio-
nalität. Für die späteren Lebensalter kann die Methode kaum in Betracht kommen,
wenn die Begründerin auch! dieser Ansicht (»allzu optimistische Illusion«) huldigt.
Wilker, Karl, Maria Montessori und ihre Erziehungsmethode. Die Deutsche
Schule. XVII, 11 (November 1913), 8. 697—703.
Die Methode der Maria Montessori ist hervorgegangen aus der Heilpädagogik
(Itard, Séguin). Die damit erzielten Erfolge beruhen auf richtiger Verwertung kinder-
psychologischer und allgemein-psychologischer Forschungsergebnisse. Lernen läßt
sich aus der Methode besonders für die Kindergärten, die sehr reformbedürftig sind.
Vor bloßer Nachahmung muß aber gewarnt werden. Eine Anwendung der Methode
auf ältere als etwa 8jährige Kinder scheint nicht durchführbar.
Saffiotti, F. Umberto, Montessoris pädagogischer Versuch der »Case dei bambini«
in der Kindergartenbewegung. Zeitschrift für pädagogische Psychologie. 15, 1
(Januar 1914), S. 9—16.
Der Verfasser sieht in der Methode nichts originelles. Sie ist nur ein Syste-
matisierungsversuch auf dem empirischen Boden einiger allgemeiner Prinzipien der
experimentellen Psychologie und verschiedener Strömungen der modernen Pädagogik
sowie auf Grund des didaktischen Materials Seguins, Bournevilles, Fröbels, das auch
in anderen Schulen und Instituten bereits gebraucht wurde. Die Case dei bambini
seien zu Laboratorien der experimentellen Pädagogik geworden, denen jeder wissen-
schaftliche und psychologische Zweck fehle. Maria Montessori hat nur das Verdienst,
die neuen Tendenzen der Pädagogik angewandt und verbreitet zu haben. Die Case
460 D. Literatur.
dei bambini mögen ihren sozialen Charakter beibehalten, als Unterrichtsanstalten
entbehren sie jedes speziellen Interesses. Der Verfasser sieht in dem System eine
nützliche Reaktion auf den pädagogischen Apriorismus. — Man wünscht öfter ein
tieferes Eingehen auf die Methode der Montessori, weniger die bloße Kritik.
D. Literatur.
H. von Hug-Hellmuth, Aus dem Seelenleben des Kindes. Eine psycho-
analytische Studie. 15. Heft aus den Schriften zur angewandten Seelenkunde.
Herausgegeben von Prof. Dr. Sigm. Freud. Leipzig u. Wien, Franz Deuticke,
1913. 170 Seiten. Preis 5 M.
Den Lesern dieser Zeitschrift werden die Theorien Freuds nicht unbekannt
sein. Sie werden mehr oder weniger seine Schriften selbst kennen, zum wenigsten
aber die Diskussionen darüber verfolgt haben. Es ist ohne Zweifel, daß sich Freud
um den Fortschritt der generellen und differentiellen Psychologie verdient gemacht
hat. Er ist es gewesen, der wiederum anfing, das Unbewußte im seelischen Leben
zu betonen und zu verfolgen, die Vorgänge in den Tiefen unserer Seele planvoll zu
analysieren. Dadurch kam er zu Ergebnissen, die das psychologische Erkennen
ganz wesentlich bereichert haben, die so manche seelische Erscheinung, besonders
anormale, von anderm Standpunkte aus beurteilen ließen. Auch dem Kinderpsycho-
logen bestätigte Freud Erkenntnisse durch seine Psychoanalyse.
Seine Urteile über die versteckten frühen Symptome kindlicher Sexualität
decken sich mit denen, die uns A. Moll, wohl einer der besten Kenner dieser seeli-
schen Erscheinung, bietet. Ebenso fand Karl Groos’ Theorie, daß sıch alle seelischen
Erscheinungen und Betätigungen in feinsten Anlagen schon in der frühesten Kind-
heit erkennen und aufwärts in ihrer Entwicklung verfolgen lassen, durch Freudsche
Untersuchungen neue Begründung. Seine Aufklärungen über Kinderselbstmorde
sind interessante Beiträge zu diesem Kapitel der Kinderseelenkunde, wenn man auch
nicht allem zustimmen kann. Tatsache ist, daß die Psychoanalyse dem Psychiater
und vorsichtigen, praktischen Arzte für sein Heilungsverfahren Hilfe bringt. Laien
jeder Art sollten aber davon absteben, diese Methode anzuwenden. Leider zeigt die
jüngste Literatur, daß sich gerade Nichtfachmänner auf dem Gebiet der Psycho-
analyse betätigen und ihre Anwendung in die Pädagogik hineintragen. Freud selbst
will mit ihr als »angewandter Seelenkunde« die wichtigsten Gebiete der Kultur-
praxis beeinflussen. Es ist ausgeschlossen, daß wir hier im Rahmen einer Be-
sprechung weiter darauf eingehen könren. Hervorgehoben sei nur, daß der Kern-
punkt der Psychoanalyse ist, dem gesamten seelischen Leben das Sexuelle als das
Ursächliche unterzuschieben — den Sexualgedanken, die Sexualgefühle überwertig
zu betonen, als Ausgangspunkte aller seelischen Erscheinungen und Betätigungen zu
betrachten. ')
Uns liegt ein Buch von Dr. H. von Hug-Hellmuth vor, worin versucht
wird, die Psychoanalyse aufs Seelenleben des Kindes in der frühesten Kindheit, ja
sogar auf den Embryo (S. 2) anzuwenden. Daß sich Dr. H. v. H.-H. erst auf
S. 119 als Vertreter des weiblichen Geschlechts zu erkennen gibt, verwundert uns.
Es liegt ihr daran, die Literatur übers Seelenleben des Kindes dahin zu bereichern,
daß sie in ihrer Arbeit die sexuelle Seite der in der Literatur vorliegenden Kinder-
beobachtungen beleuchten und deuten will. Sie glaubt, daß nur rein konventionelle
Rücksichten — falsche Scham — die bekannten Kinderpsychologen Preyer, C. u.
W.Stern u.a. abgehalten haben, über sexuelle Erscheinungen im Seelenleben der beob-
achteten Kinder zu berichten. Die Möglichkeit, daß sie nichts berichten, weil nichts
1) Wir verweisen auch auf den berechtigten Protest, den Prof. Dr. W. Stern
in der Zeitschrift für angewandte Psychologie Bd. VIII, Heft 1 u. 2 gegen die Aus-
wüchse der Psychoanalyse erhebt.
D. Literatur. 461
darzustellen war, nimmt sie von ihrem Standpunkt aus gar nicht an. Daß die
offenkundige Sexualität in dem frühen Kindesalter gar nicht existiert, verneint sie
als Vertreterin der Psychoanalyse. Sie fängt nun an, normale Erscheinungen umzu-
deuteln, überall Sexuelles zu wittern, und konstruiert sich eine Kindersexualität bis
zum 1. Lebenstage zurück. Damit treffen wir den Kernpunkt der verfehlten Arbeit.
Verfasserin macht mit ihrer Arbeitsleistung wieder einen Rückschritt in die Zeit,
wo es noch keine wissenschaftliche Kindespsychologie gab. Sie konstruiert sich ein
Bild der kindlichen Seele von sich aus, worin die Theorie vom herrschenden Sexuellen
obenan steht. Nun werden die vorhandenen Beobachtungen der Forscher alle unter
diesem Gesichtswinkel betrachtet und umgedeutet. Schon von diesem ‚unwissen-
schaftlichen Standpunkte aus, ist über die ganze Arbeit eigentlich nicht zu reden.
Da aber in gebildeten Elternkreisen, in pädagogischen Zeitschriften über die
Psychoanalyse als angewandte Seelenkunde schon begeistert gesprochen und ge-
schrieben wird, wollen wir der fehlerhaften Grundlage der Arbeit nachgehen.
Obwohl Verfasserin betont, daß in der ihr vorliegenden Literatur übers Kind
Beobachtungen über Sexualität nicht ausgeführt seien, deutet sie doch aus dem
vorliegenden Material kühn psychoanalytisch heraus, was sie will — oft die haar-
sträubendsten Perversitäten. Denn daß die »deutlichen« Zeichen der Sexualität in
den vorliegenden Beobachtungen zu erkennen seien, kann man nur behaupten, wenn
man eben überall Sexuelles wittert und finden will. Verfasserin scheint sich gar
nicht bewußt zu sein, wie vorsichtig man überhaupt an fremden Beobachtungen mit
dem Deuten sein muß. Es gibt so viele Momente, die z. B. dem Laien entgehen;
er vermag sie beim Beobachten gar nicht wahrzunehmen, erkennt nicht ihre Be-
ziehungen zum Vorgang; darum läßt er sie in der Beschreibung weg. Der psycho-
logisch geschulte Beobachter arbeitet ganz anders, drückt sich auch sprachlich fach-
mäß und sachlicher aus als der Laie. So würden z. B. Scupins manchen sprach-
ichen Ausdruck vermieden haben, wenn sie geahnt hätten, wie er gedeutet wird.
(»Leidenschaft, diabolische Gier, grausames Leuchten der Augen« u.a. m.) Endlich
ist es Tatsache, daß auch dann, wenn alle Nebenumstände genau beschrieben sind,
ganz objektiv, ohne irgendwelche persönliche Note, dargestellt werden, der Beob-
achtende des Vorganges schließlich aus der ganzen Konstellation der verschiedensten
Momente oft zu einem ganz anderen Urteil kommt, als es der Leser kann; denn
Nebenerscheinungen müssen augenblicklich psychologisch bewertet und verwendet
werden. Kurz, es ist also höchst gewagt, so vorzugehen, wie die Verfasserin.
Endlich sagt sie: »Ich bediene mich vorzüglich des Materials, das die Arbeiten
von Preyer, Shinn, Scupin, Sully u. a. in reichstem Ausmaße enthalten; ja,
ich benutze es mit Vorsatz, um dem Vorwurfe zu begegnen, in diesen Blättern
seien nur solche seelische Entwicklungsgänge angeführt, die der speziellen Veran-
lagung einzelner, von der Norm abweichenden Kinder entsprechen.« Hier liegt der
Hauptfehler. Die Freudschen Anschauungen sind überhaupt aus den Krankheits-
geschichten Neurotischer gewonnen; es sind meist Kinder mit allgemeiner
psychopathischer Konstitution. Diese Fälle werden zum Beweise der Richtigkeit
herangezogen und allgemein kühn aufs normale Kind übertragen.
Doch genug! Ein kleiner Streifzug durch das Buch soll dem Leser kurz
skizzieren, wie man psychoanalytisch deutet: Alles soll normal sein!
Haut- und Muskelerotik, die natürlich beim Säugling wie beim Erwachsenen
vorhanden ist, zeigt die ursprünglichste Form asdal Empfindens. Auto-
sadistisch handelt der eintägige Säugling, der sich kratzt. Sado-Masochismus,
besonders aber Auto-Sado-Masochismus wird überall konstruiert. Wenn ein
Kind widerstrebt, trotzt, so ist das Autosadismus u. ä. m. Ein Baby saugt an den
Fingern aus sexuellen Gründen, führt alles zum Munde und wird, da dies alles
sexueller Natur ist, später ein Kußfeinschmecker werden. (!).
Daß bei neurotischen Kindern Fingerlutschen und Onanie zusammenfällt, weil
beide auf krankhafter Bahn liegen, aber nicht voneinander abhängen (A. Moll!),
wird verallgemeinert, so daß Fingerlutschen Ersatzonanie ist. Daß die Kinder, die
die Verfasserin anführt, nicht gesund sind, zeigen ihre Ausführungen über diese
Erscheinung.
Säuglingsonanie ist eine allgemeine Tatsache (!?).
Kinder, die wohl alle aus harmlosen Beweggründen glücklich sind, wenn sie
462 D. Literatur.
die beengende Kleidung von sich haben, zeigen, unterstützt von der Erogenität des
Auges, Anfänge des Exhibitionismus und Narzißmus. (Wehe ihr Luftbader!)
Die einfachsten Nachahmungen werden so gedeutet (S. 10 usw.).
Daß sich Kinder mit Spielen im Wasser erfreuen, ist zurückzuführen auf
Urethralerotik (S. 21—29).
Die Lallmonologe unserer Säuglinge sind durch sexuelle Gefühle motiviert —
Autoerotismus. Ja, ständiges Lallen von Lippenlauten ist Autosadismus. Bei
ihrem Neffen war das Lallen vom 7.—13. Monat eine unvermeidlich wiederholte
Abwehrreaktion gegen Abstellung onanistischer Akte. Daß ein neunjähriger Knabe
einem elffährigen Mädchen (der Verfasserin!) den Reiz, den er beim Singen im
Gaumen habe, vergleicht mit den Lustgefühlen »beim Spielen da unten«, ist nicht
normal — niemals! Und warum erfreut sich das Kind am Rhythmus? Es ist eine
sexuelle Note, das geht aus der Tatsache hervor, daß gewisse rhythmische Bewegungen
zum Orgasmus führen (Unglaublich!!) (S. 119 ff.).
Daß mit Laufen, Stehüben, Kriechen, Klettern sexuelle Gefühle verbunden
seien, zeigt Verfasserin 8. 49. Unbewußte Onanie!
Daß weiter Knaben (S. 99 ff.) vorwiegend gern mit langen und großen Gegen-
ständen spielen, z. B. Peitschen usw., hat sexuelle Note. Ebenso wie im Werfen,
Schleudern, worin sich auch das Symbol der Erektion zeigt, sieht Verfasserin im
Träumen von langen spitzen Gegenständen eine Symbolisierung des Membrums!
»Viel und weit zu spucken, ‚wie ein Mann‘, ist der Ehrgeiz aller Buben und
ist natürlich als unbewußte Verschiebung einer sexuellen Leistung anzusehen (!).«
Endlich noch eins zum Schlusse:
In den Augen der meisten Kinder ist Symmetrie ein besonderer Vorzug —
besonders die paarige Anordnung. Diese Tatsache dürfte mit ihren Wurzeln bis in
die Säuglingszeit zurückreichen, wo sich dem Kinde in den beiden Brüsten die
Paarigkeit zuerst lustvoll aufdrängte. Und das Spielen der Kinder mit knetbarer
Masse, das Formen von Kugeln usw., was solche Freude bereitet, muß natürlich
sexuellen Hintergrund haben. Darum führt Verfasserin die Freude darauf zurück,
daß sich die Kinder bei diesem Spielen am harmlosesten in den koprophilen Ge-
lüsten ausleben könnten (S. 153f.).
Dies die Blütenlesen! Wir stellen fest, daß jeder, der Kinder kennt und z. B.
wie wir!) jahrelang ein normales Kind eingehend beobachtet hat und sein Seelen-
leben studierte, all diese abnormen Erscheinungen nicht sehen kann. Außerdem
lassen sich fast alle Deutungen anders ausführen. Unsere Auslegungen würden
Rücksicht nehmen auf die Entwicklungsgesetze der Einübung, der Rhythmik, des
Spieles, der Triebe, der angeborenen seelischen Fähigkeiten der Aufmerksamkeit usw.
Ein Auseinandersetzen mit der Verfasserin halten wir für aussichtslos, da sie von
ihrem Standpunkte aus unfähig ist, unbefangen zu deuten. Die psychologisch-päda-
gogischen Tatsachen, die das Buch enthält, entstammen den Arbeiten bekannter
Kinderpsychologen, auf die nach unsrer Ansicht sicherer hingewiesen werden konnte.
Ganz abgesehen davon, daß Verfasserin in der Kinderpsychologie zurückschreitet,
ist die Arbeit für die Wissenschaft nach der Art ihrer Abfassung wertlos. Laien
aber möchten wir warnen, sich damit zu befassen, da sie dadurch zu den größten
Unklarheiten und Mißverständnissen verführt würden. Außerdem ist für sie das
Lesen außerordentlich erschwert durch die Fremdwörter, die sich nach »wissen-
schaftlichem Brauche« und wohl besonders aus »konventiorellen Rücksichten« an-
gehäuft finden.
Meißen i. Sa. Kurt Walther Dix.
Meyer, Toni, Aus einer Kinderstube. Tagebuchblätter einer Mutter. Leipzig,
B. G. Teubner, 1914. 156 S. Preis 2 M. geb. 2,50 M.
Ich habe schon lange nichts gelesen, was mich so entzückt hat, wie dieses
Buch: Natur, Vernunft und Liebe im Bunde, in harmonischem Zusammenklang. Ein
Hauch weht uns an aus jener Paradieseswelt, die aus dem Schoße einer edlen
1!) K. W. Dix, Körperliche und geistige Entwicklung eines Kindes. Heft 1, 2,
3, 4, 5. Leipzig, E. Wunderlich.
D. Literatur. 463
Frau hervorzusprießen, unter ihrer klugen, weichen Hand emporzublühen vermag.
Familie, du unerschöpflicher Born von Glück, du Mutterboden aller Kultur, dein
Loblied klingt aus jeder Zeile für den, der Ohren hat zu hören.
Man bedauert nur eins: daß nur drei Kinder des Vorzuges einer solchen Mutter,
solcher Eltern teilhaftig werden durften. Etwas weniger Komfort, ein etwas rauheres
und windigeres Klima bei einer größeren Zahl von Geschwistern, hätte sie nicht
geschädigt, nur derber und elastischer gemacht. Und die Nation kann nie genug
von einer so guten Sorte bekommen! Wer kann von diesen kleinen Menschen mit
ihren reinen Herzen, mit ihrem redlichen Willen lesen, ohne diese edlen jungen
Pflanzen mit inniger Rührung zu lieben!
Das Buch wird auch für viele Pädagogen sehr lehrreich sein, obwohl es kaum
Neues zur Kinderpsychologie und Erziehungslehre beiträgt. Diese an sich so reiz-
vollen, wirklichen Erlebnisse aus der Kinderstube müssen mehr als irgend welche
theoretische Auseinandersetzungen überzeugen: von der überwältigenden Macht der
ererbten Anlagen — welcher Instinkt für das Gute schon in diesen Knirpsen
von 2 und 3 Jahren! —; von der Leichtigkeit der Erziehung dort, wo Erzieher und
Zögling sich durchs gemeinsame Blut verstehen, bevor noch ein Wort gesprochen
ist; von der grundsätzlichen Überlegenheit der Familie über jede andere Erziehungs-
organisation ebenso für die Entwicklung der Persönlichkeit, wie für die eines opfer-
bereiten Gemeinschaftssinns! Welche großartige Aufgabe für die Frau! Besonders
beherzigenswert erscheint mir alles das, was über die angeborene freudige Neigung
des gutgeratenen Kindes erzählt wird, sich ein- und unterzuordnen, sich nützlich
zu machen, zu dienen, zum Vorteil des Ganzen oder der Nächsten zu entsagen, sich
selbst zu beherrschen; und über die Wohltat, die man dem Kinde erweist, wenn
man aus seinen Schmerzen nicht altzuviel Wesens macht, wenn man, wenn’s not
tut, fest bleibt und die Wildschößlinge stutzt, damit die Edelsprosse desto kräftiger
wachsen. Die Albernheit der Psychoanalyse und die Ehrerbietung vor jedem ver-
schlagenen F—z der Seele können nur Schaden anrichten.
Auch das, was über die Sehnsucht nach und über die Freude an nützlicher
Arbeit bei den Kindern gesagt wird, sollte uns zu denken geben. Der ohne
Zweck und ohne das höhere Ziel der Erstarkung für das Vaterland, der um seiner
selbst willen getriebene Sport ist auch nur ein Förderer unseres Luxus und unserer
individualistischen Depravation. Einige Wochen strammer Mithilfe bei der Ernte-
arbeit und ähnlichem nützlichen landwirtschaftlichen Werk würden unseren Jungen
körperlich ebenso gut bekommen wie ein wochenlanger zielloser Bummel durch
alle Welt und würden ihnen zugleich die Seelennahrung gewähren, sich nützlich
gemacht zu haben.
Der Hygieniker kann nicht schließen, ohne auch der Hygiene dieser Kinder-
stube uneingeschränktes Lob zu spenden.
München. M. von Gruber.
Rein, Wilhelm, Pädagogik in systematischer Darstellung. 3 Bände.
II. Auflage. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann). Bd. I: X u.
218 S. Preis 3.40 M. Bd. II: VII u. 348 S. Preis 5,80 M. Bd. II: VIII u.
361 S. Preis 6,20 M.
Der I. Band vorliegender Pädagogik enthält eine breite Einleitung, welche das
System zum wirklichen Leben und dessen Faktoren in Beziehung setzt. Es folgt
dann eine Darstellung der Entwicklung der Erziehungswissenschaft, des Verhält-
nisses der Theorie zur Praxis, der Individual- und Sozialpädagogik, das Verhältnis
zu den Grund- und Hilfswissenschaften, zur Theologie, Philosophie und Politik. So
recht in seinem Elemente ist Rein in dem Abschnitte: Grundlegung. Hier ist
eingehend die Frage der Gewinnung und Verwirklichung des Erziehungszieles dar-
gestellt. — Im II. Band handelt es sich um die praktische Erziehung im Haus, in
den verschiedensten Anstalten, den öffentlichen Schulen in den verschiedensten
Formen. Daran schließt sich: Schulverwaltung, Schulverfassung, Ausstattung, Schul-
leitung, Lehrerbildung. — Der III. Band bringt Darstellungen über: Unterrichtsziel,
Lehrplantheorie, Lehrverfahren (Formalstufen) und spezielle Didaktik (Führung, Zucht).
Rein ist die historische und philosophische Betrachtungsweise zu eigen und
als besonderer Kristallisationspunkt dient ihm die wissenschaftliche Pädagogik Her-
`
464 D. Literatur. '
barts. Rein fußt bewußt auf den wissenschaftlichen Anschauungen früherer Jahr-
zehnte. In seinen Anmerkungen verweist er zwar auf die neueren Erscheinungen, aber
ihm erscheinen sie meistens nicht als neuartig. in vielem erblickt er nur »Mode«.
Auch in der II. Auflage bleibt Rein bei seinen früheren Darstellungen stehen, Wer
aber das pädagogische Leben von heute betrachtet, wird zugestehen, daß Herbart in
vielen Dingen rein historisch geworden ist. Herbarts Bedeutung wird heute mehr
anerkannt als je, und Reins größtes Verdienst sehe ich darin, daß er vielen Ver-
anlassung gibt, in Herbarts Gedankenwelt sich zu vertiefen. Die rein philosophische
Pädagogik war ja ganz am Platze, solange die Kinderforschung es noch zu keinem
sicheren Resultate gebracht hatte. Herbart stand noch keine Psychologie zu Ge-
bote, wie sie sich heute entwickelt hat. Wir müssen aber daran festhalten, daß
unsere Kinderforschung doch auch bewirken will, erweiterte Grundlagen für die Er-
ziehungslehre zu schaffen. Darum bin ich dafür, daß auch objektiv die Entwicklung
der Probleme nach Herbart und der Stand der Dinge der Jetztzeit erwähnt werden.
Die Männer der Jetztzeit sind bei Rein aber zu kurz weggekommen. — Bei einer
eventuell kommenden Neuauflage müßte das Werk auch auf Fehler allerlei Art hin
untersucht werden.
München. Egenberger.
Roloff, Lexikon der Pädagogik. I. Band. Freiburg i. Br., Herder, 1912.
1346 Seiten. Preis 14 M.
Von den geplanten fünf Bänden liegt hier der I. Band vor. Im ganzen sollen
es 1100 Artikel und zirka 700 Verweisungen werden und damit beansprucht das
neue Lexikon, die reichhaltigste und mannigfaltigste Nomenklatur aller bisher er-
schienenen Enzyklopädien zu besitzen.
Vorliegendes Werk stellt mit Absicht den katholischen Standpunkt an die
Spitze und das Verzeichnis der Mitarbeiter weist durchweg katholische Autoren auf.
Die Theologie, die Kirchenlehrer, bedeutende katholische Männer sind eingehend be-
rücksichtüägt. Auf die einzelnen Artikel soll erst eingegangen werden, wenn wir
Einsicht in das ganze Werk genommen haben. Gerade bei einem konfessionell ge-
haltenen Buche hängt das abschließende Urteil von der Gesamteinsicht und dem
Gesamteindrucke ab.
München. Egenberger.
eg sat Para Seele des Kindes. Stuttgart, Franck. 93 S. Preis geh. 1 M.,
geb. 1, :
Vorliegendes Büchlein ist den Müttern und solchen, die Mütter werden wollen,
gewidmet. Das biologische Moment steht im Vordergrunde. Man muß beachten,
daß das Büchlein im populären Gewande geboten werden mußte; aber trotz der
weitgehenden Kürze, trotz des liebenswürdigen Tones haben wir hier ein Werkchen
über die Kindesseele vor uns, das uns auf die wissenschaftlichen Probleme dieses
Gebietes klar hinweist.
München. Egenberger.
Ponickau, Richard, Lehrerschaft und alkoholfreie Jugenderziehung.
Leipzig, Verein abstinenter Philologen, 1913. 20 Seiten. Preis 20 Pf.
Für eine Unterweisung der Schüler in der Alkoholfrage ist vor allem eine
hinreichende Aufklärung der Lehrer nötig. Wie diese erfolgen kann, erfährt man
aus der kleinen Arbeit, die auch sonst noch manche wertvolle Aufschlüsse über den
jetzigen Stand der alkoholfreien Jugenderziehung gibt. Sie sei daher (weniger den
schon Bewanderten als vielmehr den noch Unsicheren und Unkundigen) warm
empfohlen.
Jena. Karl Wilker.
Verantwortliche Schriftleitung für Abhandlungen und Mitteilungen: Dir. J. Trüper,
Sophienhöhe b. Jena; für Zeitgeschichtliches, Zeitschriftenschau und Literatur:
Dr. Karl Wilker, Jena, Weißenburgstraße 27.
Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
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A. Abhandlungen.
1. Ein bedeutsamer pädagogischer Erlass.
Von
J. Trüper.
Der Erlaß, den der bayrische Kriegsminister Freiherr von Kreß
gegen Soldatenmißhandlungen erlassen hat, wird allen Lesern aus der
Tagespresse bekannt sein. Er verdient aber auch in unserer Zeitschrift
für Heilpädagogik festgelegt und als Vorbild für Schulen und An-
stalten beachtet zu werden. Der Erlaß lautet:
»Die Fälle unwürdiger Behandlung von Untergebenen haben trotz vielfacher
Erlasse des Kriegsministeriums keine genügende Einschränkung erfahren. Um dies
endlich zu erreichen, ist es unerläßlich, daß bei allen Vorgesetzten der ernste Wille
zur Ausrottnng dieses die Armee nach innen wie nach außen schwer schädigenden
Übels vorhanden ist. Allen voran muß ich von jedem Offizier fordern, daß er, der
Vornehmheit seines Berufes eingedenk, sich nicht nur roher Behandlung, sondern
auch der gewohnheitsmäßigen Anwendung von Schimpfworten enthält. Ich erwarte,
daß in dem Vorgehen gegen die Offiziere, die die erforderliche Selbstbeherrschung
vermissen lassen, künftig jede unangebrachte Nachsicht von den Disziplinar-
vorgesetzten oder den Gerichtsherren fallen gelassen wird, auch hege ich zu den
Militärgerichten selbst das Vertrauen, daß sie ohne Ansehen der Person durch eine
nachdrückliche Behandlung der ihnen zur Aburteilung obliegenden Fälle von Miß-
handlungen usw. bei der Zurückdämmung dieser Verfehlungen mitwirken.
Von ausschlaggebender Bedeutung für die Erreichung dieses Zieles ist eine
gewissenhafte Handhabung der Dienstaufsicht und eine nachhaltige Erziehung der
Unteroffiziere und der mit Vorgesetzteneigenschaften ausgestatteten Mannschaften
durch die Kompagnie- usw. Chefs, deren Pflicht es ist, über die vorschriftmäßige
Behandlung der Mannschaften zu wachen. In einer Truppenabteilung, in der
längere Zeit hindurch Ausschreitungen der erwähnten Art vorkommen oder in der
sich mehrere Organe solcher gleichzeitig schuldig machen, fehlt es mit Sicherheit
entweder an der pflichtgemäßen Dienstaufsicht oder an der Erziehung oder an
beiden. Ich werde die beim Kriegsministerium zur Meldung gelangenden Fälle ein-
gehend prüfen lassen und mit unnachsichtiger Strenge auch gegen jene Vorgesetzten
einschreiten, die durch lässige Ptlichtauffassung eine Mitschuld an unwürdiger Be-
handlung von Mannschaften trifft. Offiziere, die fernerhin gegen den nun zur Ge-
nüge gekennzeichneten Willen des Kriegsministeriums verstoßen oder die Pflicht
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 30
466 A. Abhandlungen.
der Dienstaufsicht in erheblichem Grade vernachlässigen, haben eine strenge Er-
örterung der Frage, ob sie sich noch für ihre Stellung eignen, zu gewärtigen. Da-
mit auch Unteroffiziere über die Tragweite einer solchen Handlungsweise nicht im
unklaren sind, ist ihnen zu eröffnen, daß bei schweren Fällen von Mißbrauch der
Dienstgewalt — es zählen hierzu auch Schikanen und Quälereien der Mannschaften
im inneren Dienst — nach dem Willen des Kriegsministeriums die Genehmigung
zur Fortsetzung der Kapitulation nicht mehr erteilt werden soll, sofern nicht über-
haupt eine sofortige Kapitulationslösung eintritt. In allen Berichten über Mißbrauch
der Dienstgewalt durch Kapitulanten ist Stellung in der Frage zu nehmen, ob der
Betreffende sich weiterhin zum Erzieher der Mannschaft eignet. Die Unteroffiziere
sind ferner darauf hinzuweisen, daß das Kriegsministerium Gesuche um Löschung
von Strafvermerken wegen Mißhandlung usw. von Untergebenen an allerhöchster Stelle
nicht vertreten wird, und zwar ohne Rücksicht darauf, daß der Vortrag derartiger
Strafen die Versorgung im Zivildienst außerordentlich erschwert. Die Befürchtung;
daß durch ein strenges Vorgehen gegen die Mißhandlungen die Leistungen einer
Truppe Schaden leiden könnten, ist irrig. Der anständige Geist in einer Abteilung
und damit die wirkliche Disziplin ist durch eine erniedrigende Behandlung der
Mannschaften und durch die mehr oder minder offene Duldung einer solchen in
weit höherem Maße gefährdet. Bei aller Strenge der dienstlichen Anforderungen,
an denen nicht nachgelassen werden soll, muß der Soldat die Empfindung haben,
daß seine Vorgesetzten auf gute und gerechte Behandlung sehen, Die Offiziere
aller Grade müssen sich bewußt sein, daß gerade durch eine üble Behandlung der
Mannschaften die meisten Feinde entstehen und die Lust am Waffendienst ver-
dorben wird, während im anderen Fall sich auch Leute zu brauchbaren Soldaten
erziehen lassen, die mit einem Vorurteil zum Heer eingerückt sind.«
Der alte Schulrat Dinter betonte: »Von zehn Schlägen, die der
Lehrer austeilt, gehören neun ihm.« Ich habe aus den verschiedensten
Schulen viele Fälle in meinem Leben zu prüfen gehabt und nicht
selten gefunden, daß Dinter für manche dieser Fälle Recht hatte. In
Hinblick auf die Soldatenerziehung hat das auch der Bayrische Kriegs-
minister erkannt, und wenn der Erlaß streng gehandhabt wird, werden
nicht bloß die Mißhandlungen wesentlich vermindert werden, sondern
es werden auch die Bestrafungen an sich seltener notwendig sich er-
weisen. Das Vertrauen der Untergebenen zu den Vorgesetzten wird
zunehmen und dadurch Hinterlist und Opposition nachlassen und die
Leistungen sich heben. Für die Schule gilt genau dasselbe.
Wenn wir die zahllosen Urteile der Erwachsenen über die Schule,
die sie früher besuchten, lesen, wie sie in der Presse und Literatur
laut geworden und durch Umfragen gesammelt worden sind,!) so finden
wir, daß die Anklage gegen die Schule auch immer wieder auf unwürdige
Behandlung einzelner Lehrer hinausgeht. Man vergaß, daß auch jeder
Lehrer »der Vornehmheit seines Berufes eingedenk, sich nicht nur
roher Behandlung, sondern auch der gewohnheitsmäßigen An-
+) Alfred Graf, Schülerjahre, Erlebnisse und Urteile namhafter Zeitgenossen.
Berlin-Schöneberg, Fortschritt, Buchverlag der Hilfe, 1911.
Trüper: Ein bedeutsamer pädagogischer Erlaß. 467
wendung von Schimpfworten« streng enthalten sollte, auch sie ließen
»die erforderliche Selbstbeherrschung vermissen.e Auch hier fehlte
es nicht selten »entweder an der pflichtgemäßen Dienstaufsicht oder
an der Erziehung (der Lehrer und Erzieher) oder an beiden«. Auch
hier wurde zu oft vermißt, daß die Fälle eingehend geprüft wurden,
und es fehlte auch hier nicht selten die unnachsichtige Strenge gegen
jene Vorgesetzten der Kinder, die durch lässige Pflichtaufsicht eine
Mitschuld an unwürdiger Behandlung von Schülern triff. Auch
hier kamen nicht selten »schwere Fälle von Mißbrauch der Dienst-
gewalt« vor, und es zählten auch in der Schule hierzu »Schikane
und Quälereien« der Schüler im Unterricht und in der sonstigen Be-
schäftigung. Auch hier ist zu selten die Frage erhoben worden, ob
Lehrer und Erzieher, die nach diesen Seiten hin fehlten, sich wirklich
eignen für ihren Beruf. Auch hier ist vor allem die landläufige Be-
fürchtung irrig, >daß durch ein strenges Vorgehen gegen die Miß-
handlungen« die Leistungen einer Klasse Schaden leiden könnten. »Der
anständige Geist« in einer Schule oder Klasse und damit die wirkliche
Disziplin ist ebenfalls durch eine erniedrigende Behandlung der Schüler
und durch die mehr oder minder offene Duldung einer solchen in
weit höherem Maße gefährdet. Und auch für die Schule gilt es:
»Bei aller Strenge der dienstlichen Anforderungen, an denen nicht
nachgelassen werden soll, muß der Schüler die Empfindung haben,
daß seine Vorgesetzten auf gute und gerechte Behandlung sehen.«
Auch die Lehrer aller Grade müssen sich bewußt sein, daß gerade
durch eine üble Behandlung der Schüler die meisten Feinde der
Schule entstehen und die Lust am Lernen verdorben wird, während
im andern Fall sich auch Kinder zu brauchbaren, leistungsfähigen
Schülern erziehen lassen, die mit einem Vorurteil, mit Unlust und
Abneigung, zur Schule gehen.
Leider sind die Verfehlungen in den höheren Schulen verhältnis-
mäßig häufiger als in den Volksschulen, wobei noch zu bedenken ist,
daß jene alle ihnen ungeeignet erscheinenden Schüler, manchmal sogar
rücksichtslos, abschieben, während die Volksschule sie behalten und jene
Abgeschobenen noch dazu aufnehmen muß und überdies so viele Schüler
nicht bloß aus ungebildeten, sondern auch aus verkommenen Familien hat.
Die Schuld liegt daran, daß die Lehrer höherer Schulen vordem
nur als Gelehrte, nicht aber als Lehrer, geschweige denn als Erzieher!)
1) Vergl. Trüper, Zur Wertschätzung der Pädagogik in der Wissen-
schaft wie im Leben. Beiträge z. Kinderforschung u. Heilerziehung. Heft 45.
Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann). — Derselbe, Zeitfragen.
Heft 80. Ebenda.
30*
468 A. Abhandlungen.
vorgebildet wurden und sie nach dieser Seite hin oft als Dilettanten
mit Unlust ein Leben hindurch wirken. Die Schuld liegt also weniger
an den Einzelnen als am ganzen Systeme.
Doch noch eins kommt hinzu, auf das der Bayrische Erlaß bei
den Soldatenmißhandlungen nicht besonders hingewiesen hat, als eine
wichtige Quelle soldatischer Mißhandlungen wie solcher von Schülern.
Das ist eine psychopathische Belastung von Vorgesetzten wie von
Untergebenen. Ich habe bereits im Jahre 1892, als die Soldaten-
mißhandlungen in der öffentlichen Diskussion eine große Rolle spielten,
in einem Artikel des »Hamburger Correspondenten« darauf hinge-
wiesen, und für die Schule haben es in jeder Nummer die 18 Jahr-
gänge dieser Zeitschrift getan. Die Bewertung der psychopathischen
Zustände bei allen menschlichen Handlungen ist zwar seit der Zeit
sehr in den Vordergrund gerückt, in jenen beiden Fällen aber noch
nicht genug. Selbstverständlich gehören zu den psychopathischen
Minderwertigkeiten auch der Alkoholismus und der Morphinismus und
in gewissem Sinne auch die Syphilis. Hoffentlich holt der Bayrische
Kriegsminister diese Bewertung noch einmal nach. Noch mehr aber
wäre zu wünschen, daß irgend ein Kultusminister ihm zuvor käme.
2. Junge Galgenvögel.
Von
Charles E. B. Russell, M. A.
Chief Inspector of Reformatories and Industrial Schools.
Berechtigte Übersetzung von Dr. jur. Karl Struve.
(Fortsetzung.)
VII. Der schwache Fred.
»Nanu, was hat dich nach Manchester zurückgebracht, Fred?«
Ich rief es einem kränklich aussehenden jungen Burschen zu, der
mich eines Abends im letzten Jahr aufsuchte. »Ich dachte, du hättest
dich in Wigan niedergelassen, und alles wäre in schönster Ordnung.«
— »Schon recht, Herr, aber ich verlor meine Arbeit und dachte, ich
könnte hier welche bekommen.« — »Deine Arbeit verloren! Warum ?«
fragte ich. »Was hast du angestellt?« — »Nichts, Herre war die
Antwort, »sie arbeiteten nur mit halber Schicht«. — »Wohnst du bei
deinem Vater?« — »Nein, ich habe die beiden letzten Nächte im
Freien geschlafen.« — »Du junger Narr, Fred« entgegnete ich, »was,
denkst du eigentlich, kann ich jetzt mit dir anfangen ?«
Schließlich trug ich ihm auf, nach zwei Tagen wiederzukommen,
denn ich zweifelte an der Richtigkeit seiner Erzählung, und da ich
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 469
seinen Arbeitgeber kannte, fragte ich brieflich nach dem wahren
Grund seines Fortganges. In der Antwort wurde mir mitgeteilt, daß
er die Arbeit ganz aus eigenem Antrieb verlassen habe und nicht
wegen schlechten Betragens entlassen sei, wie ich einigen Grund hatte
zu befürchten. Denn Fred war mir als vorbestrafter Dieb bekannt
und ist einer jener unglücklichen Burschen, die — willensschwach
und einfältig zugleich — weit häufiger sind als Leute vom Schlage
Petes. Dennoch sind sie genau so schwer zu behandeln, da ihre
Neigungen zum Unrecht und selbst zum Verbrechen gewöhnlich die
Folge verhältnismäßig schwachen Verstandes sind, und gegen letzteren
Mangel ist kein Kraut gewachsen. Reine Einfältigkeit hatte dem Fred
seine drei Monate Gefängnis eingetragen. Gleich so vielen jungen
Leuten, deren Verfassung an den als Geistesschwäche bekannten Zu-
stand grenzt (— man findet sie in jedem Stand, und sie werden
häufig von den meisten ihrer oft kurzsichtigen Bekannten gar nicht
als solche erkannt —), hatte er den Wunsch, in den Augen seiner
Genossen als reich bemittelt zu erscheinen, und fand Vergnügen daran,
ihre Ausgaben zu bezahlen, wenn sie ihn nach Konzerthallen und
anderen Vergnügungsorten begleiteten. Denn zu den Künsten der
Bestechung nehmen diejenigen, die anderer Reize ermangeln, ihre Zu-
flucht, um die von ihnen ersehnte Beliebtheit zu erhaschen. Er hatte
ein gutes Heim gehabt, aber bei der Arbeit auszuharren, war nicht
nach seinem Sinn, oder vielmehr nicht in seiner Kraft; denn kein
Arbeitgeber ließ sich die wehleidige Art, mit der er an sein Geschäft
ging, lange gefallen. Mehr als einmal war sein Vater, ein ruhiger,
achtbarer Mann, der über zwanzig Jahre in derselben Stellung ge-
wesen war, zu mir mit dem Anliegen gekommen, ob ich dem Jungen
helfen könne und vor allem, ob ich nicht irgendwie einen Druck auf
ihn ausüben könne, sich zu Hause besser zu betragen. Dies ging
natürlich über meine Macht, und ich konnte nur empfehlen, ihn, wenn
er sich den sehr bescheidenen Wünschen seines Vaters nicht fügen
wolle, an die Luft zu setzen. Zuletzt griff der Vater zu diesem
Mittel; aber er war mehr als nachsichtig, und es dauerte nicht lange,
da ließ er sich erweichen und erlaubte ihm, wieder heimzukehren.
Da ich einige Kenntnis von Jungen dieses Schlages hatte, war
ich ziemlich sicher, daß für Fred nur wenig Hoffnung bestand, solange
er in Manchester blieb, und daß die einzige wirksame Hilfe, die ihm
gegeben werden konnte, darin bestand, für ihn Handarbeit irgend
welcher Art in beträchtlicher Entfernung zu finden. In Manchester
hatte er zuviel Freunde, da ja selbst der bescheidenste Bewirter zahl-
lose Schmarotzer hat. Diese, das wußte ich, würden ihn zweifellos
470 A. Abhandlungen.
ausfindig machen, wenn er irgendwo in erreichbarer Nähe war, und
wieder ihn dazu verführen, seinen ganzen Verdienst für sie auszu-
geben. So war vorauszusehen, daß er früher oder später wieder
stehlen würde, um nicht der Stichelei anheimzufallen, daß er nicht
mehr wie früher sie freihalten könne — ein Vorwurf, der einen
Burschen von seiner Gemütsart aufs tiefste kränken mußte. Als daher
eine Gelegenheit kam, ihn in guter Stellung in Preston unterzubringen,
wurde es eingerichtet, daß er dorthin ging. Diese Maßregel war um
so ralsamer, als sein Vater ihm zum zweiten Mal sein Haus verboten
hatte, bis er sich zur Ordnung bequemt habe und ein stetiger Arbeiter
geworden sei.
Bericht auf Bericht kam, daß er ordentlich arbeite und sich ganz
vernünftig aufführe. Unglücklicherweise fiel er jedoch im Herbst
1909 dem allgemeinen wirtschaftlichen Niedergang zum Opfer, verlor
seine Stellung und kam nach Manchester zurück, wo er einige Wochen
durch Freundeshilfe unterhalten wurde, obwohl er in dem Licht
späterer Ereignisse solche Behandlung sicher nicht verdiente. Denn
spätere Nachfragen ließen es klar zutage treten, daß er von zahlreichen
Empfehlungsbriefen an verschiedene Arbeitgeber keinen einzigen vor-
gezeigt hatte, der irgend eine Unbequemlichkeit, etwa einen längeren
Gang des Morgens, um seine Arbeitsstätte zu erreichen, in sich schloß.
Bevor ich dies entdeckt hatte, kam ihm eine andere günstige Gelegen-
heit in den Weg, indem ihm Arbeit in den Bleichwerken von Wigan
angeboten wurde. Es wurde ihm jetzt nachdrücklich klar gemacht,
daß er, wenn er die Arbeit durch eigene Schuld verliere, sich selbst
durchzuschlagen haben werde. Sein Lohn war gut, und eine Zeit-
lang schickte er sich; aber als die Firma gezwungen wurde, die
Arbeitszeit zu verkürzen, beschloß er in seiner alten Narrheit, eine
Stellung, die ihm selbst bei verringertem Lohn ein anständiges Aus-
kommen gewährleistete, aufzugeben und nach Manchester zurück-
zukehren, wo er unverzüglich gute Arbeit zu finden hoffte. So teilte
er eines Morgens seinen Brotherren mit, daß er lohnendere Beschäfti-
gung gefunden habe, erbat seinen rückständigen Lohn und kehrte nach
seiner Heimatstadt zurück.
Während seiner letzten Arbeitsperiode hatte er sich unglücklicher-
weise eine Vorliebe für schwere Getränke angeeignet, eine Neigung,
die in solchen Fällen schwer wieder zu beseitigen ist. Hinterher er-
fuhr ich, daß er mehr als einmal den Hauptteil seines Lohnes in
einer Wirtschaft durchgebracht hatte. Höchstwahrscheinlich war, wenn
er es auch nicht zugeben wollte, die infolge solcher Geldvergeudung
eingetretene Verschuldung bei seiner Wirtin und bei anderen auch
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 471
der wirkliche Grund, aus dem er seine Arbeit so mutwillig nieder-
gelegt hatte. Die ersten Tage nach seiner Ankunft in Manchester
brachte er damit zu, seine paar Schillinge in dem Besuch von Theatern
und Konzerthallen und in anderem Amüsement anzulegen. Erst als
alle seine Mittel erschöpft waren, suchte er mich auf, wie oben be-
richtet, in dem Wahn, daß auf der Stelle neue Arbeit für ihn be-
schafft werden würde. Bei seinem zweiten Besuch wurde ihm klar
gemacht, daß es gegenüber den vielen, die nach jeder Art von Arbeit
strebten, die sich hart abmühten und niemals gegen die Gesetze ver-:
stießen, ein schweres Unrecht bedeuten würde, Arbeit für einen
Burschen zu suchen, der vorsätzlich und ohne vernünftigen Grund
gute Beschäftigung aufgegeben habe. »Ja«, entgegnete er, »aber was
soll ich denn tun?« »Suche dir Arbeit und schlage dich durch!« er-
hielt er zur Antwort, »aber wenn du wirklich Arbeit bekommst, wird
für deine Kost und Wohnung gesorgt werden, bis du den ersten Lohn
erhältste. Dieser Rat schien fast ein Hohn; denn auf eigene Hand
Arbeit zu suchen, war das letzte, was er konnte. Für ihn bedeutete
das soviel, wie an den Straßenecken herumzulauern oder in Piccadilly
umherzustreichen in der Hoffnung, irgend eine Gelegenheitsarbeit als
Träger oder Bote zu ergattern, obwohl er kaum genug Unternehmungs-
geist hatte, einem Reisenden seine Dienste als Kofferträger anzubieten.
An Sonnabendnachmittagen schlug er ein wenig durch den Verkauf
von Fußballprogrammen heraus; aber das war auch seine beste
Leistung. Alles in allem führte er ein elendes Dasein, und es dauerte
nicht lange, da wurde er wegen Nächtigens im Freien zu 14 Tagen
Gefängnis verurteilt.
Dies zweite Urteil hatte die Wirkung, ihn ein bißchen aufzu-
rütteln, und unmittelbar nach seiner Entlassung kam er zu mir mit
der Bitte, ihn sofort nach Kanada zu senden, was in seinem Falle
eine so sinnlose Maßregel wie nur möglich bedeutet haben würde.
Abgesehen davon, daß er nicht genötigt sein sollte, wieder im Freien
zu schlafen, lehnte ich ab, ihm zu helfen, wenn er nicht selbst etwas
für sich tun würde, und überließ ihn drei Wochen hindurch seinem
kümmerlichen Zustand. Dann wurde in der Hoffnung, daß er seine
Lektion gelernt hatte, wieder Arbeit für ihn beschafft und zugleich
sein Vater bewogen, ihm noch einmal die Heimkehr zu gestatten.
Seine Arbeit war gut, seine Aussichten keineswegs schlecht, und er
beteuerte, daß er jetzt »standhalten«, d. h. bei der Arbeit bleiben
wolle. Er hielt sein Versprechen über sechs Monate; aber an einem
Sonnabend im letzten Juli verschwand er, und seitdem hat man nichts
von ihm gehört oder gesehen. Nach angestellten Ermittelungen schien
472 A. Abhandlungen.
es, daß er wieder seiner lächerlichen Prahlsucht und Ruhmredigkeit
zum Opfer gefallen war. Denn er hatte Geld von fast allen seinen
Bekannten zusammengeborgt, um die Ausgaben für seine und seiner
Freunde Zigaretten und Theaterplätze bestreiten zu können, und der
Augenblick kam, an dem er weder weiter borgen noch seine Schulden
bezahlen konnte. Wohin er floh, ist völlig unbekannt, aber es ist
ganz sicher, daß es nicht lange dauern wird, bis er wieder auf der
Bildfläche erscheint und um Arbeit nachfragt.
Fred ist in der Unterhaltung ganz ruhig, höflich und freundlich,
aber hat keinen Begriff von Verantwortlichkeit und ermangelt jeglichen
Schneids. Er versteht es nicht, sich um Arbeit zu bemühen, und
wenn er sie hat, weiß er sie nicht zu schätzen. Um sich einen aus-
giebigen Vorrat von Zigaretten zu verschaffen, ist er zum Betteln
bereit, und wenn es ohne Mühe und sichtliche Gefahr geschehen kann,
läßt er sich unbedenklich zum Stehlen herbei. Er ist geistig und
körperlich unter dem Durchschnitt. Als ich ihn fragte, warum er
seine Arbeit verlassen habe, sagte er, er wisse es nicht. Als ich
weiter fragte, was er zu tun gedenke, erwiderte er: » Arbeit suchen.« -
Als ich so neugierig war, zu fragen »Wo?«, erklärte er wieder, er
wisse es nicht, und auf meine Schlußfrage, was er tun wolle, wenn
er nicht sogleich Arbeit finde, »wußte er auch dies nicht«.
Er hatte zu seinem raschen Sturz von den Höhen der Rechtlich-
keit und Ehrbarkeit dadurch selbst beträchtlich beigetragen, daß er
ausnahmslos die allerschlechtesten Logierhäuser zu seiner Wohnung
erwählte, wenn er sein eigenes Heim verließ und von der Hand in
den Mund lebte. Nicht nur war die gewöhnliche Umgangsform der
Leute in diesen Stätten schlecht, sondern die ganze Gegend, in der sie
gelegen waren, schien mit tierischer Roheit durchsetzt zu sein. Selbst
ein Bursche von viel größerer Sittenstärke als Fred würde es schwer
gefunden haben, gegen die allgemeine Atmosphäre der Umgebung an-
zukämpfen. Schlägereien empörender Art waren an der Tagesordnung,
und ich selbst habe Messer in der Straße gezückt gesehen, an der die von
ihm am häufigsten besuchten Logierhäuser lagen. Bei einer Gelegenheit
z. B. erhob sich ein schrecklicher Tumult, gellende Rufe eines Weibes
übertönten den Aufruhr, und ich sah einen Mann die Straße entlang rasen,
verfolgt von einem Mannweib mit einem großen Messer in der Hand.
Auf halbem Wege und fast mir gegenüber erreichte sie den Mann,
packte ihn, und ich fürchtete, daß im nächsten Augenblick etwas Ent-
setzliches geschehen würde; da brüllte sie ihm einen Strom gemeiner
Schimpfreden ins Gesicht, die mit einem wilden Aufschrei ausklangen,
wandte sich davon und entschwand in wenigen Sekunden meinem
Russell- Struve: Junge Galgenvögel. 473
Blick. Bei einer anderen Gelegenheit kam eine Frau — soweit ich
urteilen konnte, nüchtern — auf mich zu, als ich bei der Tür eines
Logierhauses stand, packte mich am Bein und weigerte sich rundweg,
mich loszulassen, und nur mit Mühe machte ich mich schließlich frei.
Ein andermal sah ich nachts einen Mann, ohne Hut und Rock und
mit einer Wunde quer über dem Gesicht, hilferufend aus einem Haus
herausstürzen. Als ich hinzukam, fand ich ihn schwer blutend und
völlig außerstande, den Vorgang zu erklären; ich überließ ihn daher
der Sorge einiger Polizisten, die ich näherkommen sah. Dies war ein
Bezirk, in dem die Polizisten ihre nächtlichen Runden gewöhnlich in
Paaren anstatt einzeln machten.
Auftritte dieser Art müssen diejenigen, welche sie ständig mit-
erleben, auf das Schlimmste beeinflussen, und zwar besonders Leute,
die wie Fred keinen festen Charakter haben, wenn auch nach meiner
Meinung niemand den Folgen völlig entgehen kann. Als ich einst in
einem gewissen Hause einen furchtbaren Lärm hörte, lenkte ich die
Aufmerksamkeit eines Polizisten darauf; ich war aber sehr betroffen,
als ich ihn sagen hörte: »Das sind nur Herr und Frau B.; von der-
artigen Dingen nehmen wir in dieser Gegend keine Notiz.« Seine
Worte waren nur zu wahr; denn ich habe gesehen, wie ein Rohling
sein Weib jämmerlich auf der Straße verprügelte, ohne daß ein einziger
Passant stehen blieb oder solch ein Vorkommnis als etwas Außer-
gewöhnliches anzusehen schien.
In den Logierhäusern selbst sieht man alle Anzeichen guter
Kameradschaft, wenn Burschen sich dort abends zusammenfinden. Sie
pflegen in der Küche zu sitzen und sich Geschichten zu erzählen
oder. mit einer Gewandtheit und Geschwindigkeit Domino zu spielen,
die den Zuschauer ganz wirr macht. Geld zum Einsatz ist immer
vorhanden, wenn Domino gespielt wird, und die Jungen denken sich
nichts dabei, sich zum Spiel hinzusetzen und in verhältnismäßig kurzer
Zeit ihre gesamte Barschaft zu verlieren. Ihr Gedächtnis ist glänzend;
denn die verschmitzteren Spieler behalten Einzelheiten hinsichtlich der
ausgespielten Steine im Sinn und machen mit den zurückbleibenden
selten ein Versehen. Sie sind außerdem philosophische Verlierer, denn
ein Bursche wird spielen, bis er seinen letzten Heller verloren hat,
und danach ruhig aufstehen und hinausgehen. »Mir ist das Fell aus-
gezogen« (ich habe all mein Geld verloren), sagte so einer zu mir,
während er der Tür zustrebte. »Wo willst du denn schlafen?« »0O, ich
werde diese Nacht herumwandern,« und mit großer Gemütsruhe
schlenderte er hinaus. Die klügeren Burschen bezahlen dem »Vize«
ihr Nachtgeld, sobald sie eintreten, so daß sie auf jeden Fall ihr
474 A. Abhandlungen.
Nachtlager sicher haben. Fred war weder ein erfolgreicher Spieler
noch ein Trunkenbold und pflegte stumpfsinnig dazusitzen und alles
zu belauschen. Da auch seine Selbstachtung dahinschwand, verringerte
sich von Tag zu Tag die Aussicht auf seine Besserung, mochte das
Leben ihm auch noch so gute Gelegenheit bieten.
Das einzige wirklich aufregende Ereignis in seinem Leben trug
sich zu, während er Insasse eines dieser Logierhäuser war. Ich be-
suchte das Haus eines Abends spät, und alles schien in Ordnung zu
sein als ich fortging; vierzig oder fünfzig junge Schlafgäste — der
Platz war besonders für die Aufnahme junger Burschen eingerichtet
— und ungefähr die gleiche Anzahl Männer waren schon zu Bett
gegangen oder im Begriff, es zu tun. Plötzlich erscholl gegen zwei
Uhr morgens ein Feuerschrei, und Flammen, deren Ursache nie er-
mittelt wurde, erfüllten eines der oberen Gemächer. Sofort war alles
ein großer Wirrwarr, da die Insassen in dem dicken Rauch wild
herumliefen und einen Ausgang suchten. Die Mehrzahl entkam durch
ein Hinterfenster, das auf das Dach eines Schuppens hinausging,
andere, darunter Fred, mit Hilfe der Rettungsleiter, die bald zur Stelle
war, und niemand wurde ernstlich verletzt. Der Platz vor dem Logier-
haus bot einen seltsamen Anblick, denn die meisten Schlafgäste hatten
sich nicht die Zeit genommen, nach ihren beim Zubettgehen abge-
worfenen Kleidern zu suchen, und hatten außer ihren Hemden nichts
am Leibe. Die Nachbarn, alle sehr arme Leute, halfen nach Kräften
aus, und verschiedene Personen, die an den Burschen Anteil nahmen,
brachten am nächsten Tage die Mittel zum Ersatz der verbrannten
Kleidung auf. Das Ereignis lebt im Gedächtnis derer, die daran teil
hatten, fort, und sie sprechen noch heute von der »Feuernacht« als
dem Ausgangspunkt für die zeitliche Bestimmung verschiedener Be-
gebenheiten — sie sagen z. B., daß dies oder jenes sich »sechs
Monate nach der Feuernacht« zutrug.
Burschen des Schlages, von dem ich Fred als ein Beispiel vor-
geführt habe, gibt es in betrübender Menge, und ihr Leben ist eine
lange Reise von Liederlichkeit, Entartung und Elend. Sie neigen
regelmäßig dazu, sich zu Verbrechern zu entwickeln, und fügen als
solche nicht nur der Gemeinschaft, in der sie leben, unmittelbar
Schaden zu, sondern sind mittelbar infolge ihrer häufigen Besuche im
Gefängnis auch oft die Ursache, daß andern Unrecht geschieht. Denn
seitens gewisser Menschenfreunde, die beträchtliche Hilfsmittel für
Jugendliche zur Verfügung haben, werden sie ungebührlich anderen,
die außer Arbeit sind, aber sich in der Verborgenheit ehrlich durch-
schlagen, vorgezogen.
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 475
Was kann aber denn mit diesen Unglücklichen geschehen? Die
Gedanken vieler werden sich augenblicklich dem Borstal-System zu-
wenden;!) denn sie haben ab und zu in den Tageszeitungen bemerkt,
daß irgend ein Junge zu Borstal-Haft während eines bestimmten Zeit-
raums verurteilt ist. Davon ist in ihrem Bewußtsein der beruhigende
und befriedigende Eindruck haften geblieben, daß hier schließlich
doch noch das Mittel gefunden ist, um voraussichtliche Verbrecher
zu nützlichen Bürgern zu erziehen. Aber unglücklicherweise ist das
Borstal-System nicht für Jungen wie Fred da. Die körperlich und
geistig Ungeeigneten sind von seinen Vorteilen ausgeschlossen, da die
Gefängniskommission solchen Burschen, welche die ärztlichen Be-
hörden als untauglich für die in dem System einbegriffene anstrengende
Lebensweise bescheinigt, die Aufnahme versagt. Außerdem kann Über-
weisung an eine Borstal-Anstalt nur dem Schuldspruch in einem
Vierteljahrs- oder Schwurgericht folgen, und viele Polizeirichter
sträuben sich unklugerweise, Fälle junger Burschen, die sich — wenn
auch im Wiederholungsfalle — nur geringfügiger Vergehen schuldig
gemacht haben, vor jene Gerichte zu bringen.
Es kann nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, daß eine große
Zahl jugendlicher Gefangener körperlich und geistig unter dem Durch-
schnitt ihrer Altersgenossen steht. Es mag schon sein, daß solche
Jünglinge, deren fortwährende Bekanntschaft mit dem Verbrechen
von einer körperlichen Minderwertigkeit herrührt, für die sie nicht
verantwortlich sind, für eine menschliche und erziehliche Behandlung,
die voll entwickelten jungen Bösewichten angepaßt ist, nicht geeignet
sind. Es bestätigt sich wieder einmal die alte Wahrheit: »Wer da
hat, dem wird gegeben werden; und wer da nicht hat, von dem wird
auch genommen werden, was er hat.« Aber der Erfolg des Borstal-
Systems, so ausgezeichnet es auch ist, muß unvermeidlich ganz be-
deutend beeinträchtigt werden, wenn nicht eilends Vorkehrungen ge-
troffen werden, um diese unglücklichen Jünglinge seiner Wirksamkeit
teilhaftig zu machen. Wenn ihnen Gerechtigkeit widerfahren soll, so
muß die öffentliche Meinung sich über die unglückliche Lage, in der
sie sich nach dem gegenwärtigen Stand der Gesetze befinden, klar
werden — eine Lage, die um so unglücklicher ist, als das System,
von dessen Wirksamkeit sie ausgeschlossen sind, sich als sehr erfolg-
reich erweist. Kurz gesagt, es kann kaum zweifelhaft sein, daß der
schlecht genährte und kümmerlich entwickelte Junge, der zum ersten
Mal ins Gefängnis wandert und untauglich für Borstal-Behandlung er-
1) Näheres über das Borstal-System siehe im Nachwort.
476 A. Abhandlungen.
funden ist, gegenüber seinem kernigen Kameraden sehr schlimm be-
nachteiligt ist, während er nicht weniger, sondern eher mehr Fürsorge
bedarf, wenn seiner verbrecherischen Neigung wirksam Einhalt getan
werden soll.
Außerdem wird, was ihre Behandlung im Gefängnis anlangt, leider
oft übersehen, daß es für solche Burschen unendlich viel schwerer ist,
häufiges Erscheinen vor dem Richter zu vermeiden, als für gesündere
Burschen des gleichen Schlages. Gerade die Schwächen, welche einen
Jungen ungeeignet für das Leben in einer Borstal-Anstalt gemacht
haben, erschweren es gleichzeitig, daß er oder andere für ihn Be-
schäftigung finden, selbst wenn er den ernsthaften Wunsch hat zu
arbeiten.
Nach den bisherigen Erfahrungen sind die ausgezeichneten Er-
gebnisse, mit denen das Borstal-System jugendliche Übeltäter auf den
rechten Weg zurückführt — denn bis jetzt hat nur ein sehr kleiner
Prozentsatz ehemaliger Borstal-Häftlinge den Rückweg ins Gefängnis
gefunden, obwohl Fall für Fall ihr Leumund vor der ausgedehnten
Erziehungsperiode ausnehmend schlecht war —, der denkbar stärkste
Grund für die Errichtung einer besonderen Anstalt, die imstande ist,
für eine große Zahl von Jungen, die nicht stark genug oder zu be-
schränkt für die volle Borstal-Behandlung sind, etwas auszurichten,
das in entsprechendem Maße dieselben günstigen Ergebnisse zeitigen
könnte.
VII. Dennis.
Ich war völlig verblüfft, als ein kleines Mädchen zu mir kam
und sagte: »Wollen Sie heute abend hinkommen und ihn sehen, Herr,
denn wir wissen nicht, was wir mit ihm anfangen sollen.« Ich hatte
das Kind nämlich nie zuvor gesehen und hatte nicht die leiseste
Ahnung, von wem sie sprach. Als ich sie aufforderte, ihre Sendung
deutlicher auseinanderzusetzen, erklärte sie: »O, Sie wissen doch, Herr;
Dennis natürlich, der Bursche, der bei uns wohnt.« — »Nun, was hat
er getan?« — »Wir glauben, er hat versucht, sich das Leben zu
nehmen.« — »Weshalb denn?« — »O,.er hatte seine Arbeit verloren
und gesagt, er könne es nicht ansehen.« »Gute«, sagte ich, »ich will
kommen und nach ihm sehen«, und einige Stunden später machte
ich mich auf den Weg nach einer kleinen Straße in einer der näheren
Vorstädte, um Dennis zu suchen. Die Reise war jedoch umsonst,
denn während der Abwesenheit des Mädchens war er von der Polizei
unter der Anklage eines Selbstmordversuches verhaftet. Es handelte
sich um einen recht kleinmütigen Versuch; denn das von ihm benutzte
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 477
Messer hatte sozusagen keine Schneide, und er hatte in keinerlei Ge-
fahr geschwebt. Trotzdem wurde er dem Schwurgericht überwiesen
und erschien seinerzeit, um sich auf die Anklage zu verantworten.
Er wurde jedoch, nachdem der Vorsitzende einige kräftige und ver-
nünftige Worte an ihn gerichtet hatte, in Freiheit gesetzt und suchte
mich in der Hoffnung auf, daß ich passende Beschäftigung für ihn
finden möchte.
Er war ein großer und starker junger Bursche, aber von sehr
schwacher Willenskraft. Soweit ich erfahren konnte, hatte er weder
Eltern, noch irgend welche Freunde oder Verwandte, und das Leben
schien für ihn nur wenig Reiz und viel Bitterkeit zu haben. Er war
ein Dieb, aber er stahl nicht mit jener Verwegenheit und Lust an
dem Reize der Gefahr, die das Herz manches jungen Verbrechers er-
füllt, sondern lediglich auf heimlichen Schleichwegen, wenn er durch
die unerbittliche Notwendigkeit, sich Nahrung und Obdach zu ver-
schaffen, getrieben wurde. Denn wie es fast mit jedem Jungen seines
Standes der Fall ist, kam auch bei ihm das Werkhaus niemals in
Frage, wenn er am Ende seiner Mittel war, und auf die eine oder
andere Weise mußte die unentbehrliche Notdurft des Leibes beschafft
werden. Das Problem seiner Zukunft stellte sich um so schwieriger
dar, als er schon eine gute Gelegenheit, sein Leben befriedigend zu
gestalten, durch eigene Schuld versäumt hatte. Denn er war drei
Jahre hindurch Insasse einer Besserungsanstalt in der Nähe Londons
gewesen und war bei seinem Abgang mit einem Schub anderer Jungen
nach Kanada gesandt. Das Leben dort gefiel ihm aber nicht; er ließ
sich daher auf einem Schiff anheuern und verdiente sich durch seine
Arbeit die Rückfahrt nach England.
Er hatte ein bequemes Mittel entdeckt, das ihm in jedem Jahr
einige Monate hindurchhalf. Er gehörte nämlich zu der keineswegs
geringen Zahl erfindungsreicher Burschen, die in den alten Tagen
soviel dazu beitrugen, um auf dem Papier die Reihen unserer zweiten
Verteidigungstruppe, der Miliz, zu füllen. Denn er brüstete sich offen
damit, daß er zu »verschiedenen Milizene, womit er verschiedene
Korps meinte, gehörte. Er pflegte in ein Regiment einzutreten und
seine Ausbildung zu vollenden, um sich nach seiner Entlassung nach
einem wenige Meilen von seinem bisherigen Standort entfernten Werbe-
büro zu begeben. Indem er durch runde Schulterhaltung und
schlotterigen Gang in seiner äußeren Erscheinung jede Bekanntschaft
mit militärischem Drill verleugnete und einen anderen Namen annahm,
gelang es ihm leicht, Angehöriger verschiedener Bataillone zu werden;
denn so einfältig er auch in mancher Beziehung war, so entwickelte
478 A. Abhandlungen.
er doch bei seinen Versuchen, die Militärbehörden irrezuführen, ein
gut Teil Schlauheit. Auf diese Weise bekam er die Ausbildungs-
prämie und Löhnung von verschiedenen Regimentern, und sein Fall
war, wie ich bemerkt habe, keineswegs ungewöhnlicher Art. Ich
glaube, keine Tatsache würde die vielen, welche an die Leistungs-
fähigkeit der alten Miliz glauben, mehr überraschen als die Ver-
schiedenheit zwischen den in den Listen enthaltenen Ziffern und der
Zahl derer, die wirklich zur Stelle gewesen sein würden, falls die ge-
samte Milizmacht an einem und demselben Tage mobil gemacht wäre.
Denn der Brauch, sich auf die beschriebene Art betrügerisch anwerben
zu lassen, war weit verbreitet, da die auf Entdeckung stehende Strafe
— ein Monat Gefängnis oder mehr — für jene Sorte von Burschen,
die sich damit befaßten, kein genügendes Abschreckungsmittel war.
Als ich Dennis zuerst sah, war er gerade aus dem Gefängnis
entlassen, wo er eine seiner zahlreichen kurzen Strafen wegen Nächtigens
im Freien abgesessen hatte. Auf den rechten Weg gebracht, zeigte
er alle Merkmale der Entwicklung zu einem guten Arbeiter. Er trat
in einen Jünglingsverein seines Bezirks ein, gab vor, sich für die
Arbeit in den Abendschulen zu interessieren und verhielt sich über-
haupt so, als ob sein Charakter sich völlig geändert habe. Wäre er
nur in seiner Wohnung genügend beaufsichtigt worden, so würde
wahrscheinlich alles gut gegangen sein; aber natürlich hatten seine
Wirtsleute keinen ernstlichen Einfluß auf ihn. Er begann bald, nachts
spät auszubleiben und infolgedessen des Morgens seine Zeit schlecht
innezuhalten. Schließlich kam es dahin, daß er nach vielfacher
Warnung kurzerhand entlassen wurde und in einem Anfalle von Ver-
zweiflung den kleinmütigen Versuch machte, seinem Erdenlauf ein
Ende zu setzen.
Nach diesem Fehlsprung schöpfte er neuen Mut, und auch Arbeit
wurde bald für ihn gefunden; aber diesmal war seine Ausdauer nach
noch kürzerer Zeit zu Ende. Aus einem gleichgültigen Arbeiter wurde
er ein leidlicher Bettler und Bummler, suchte häufig gewöhnliche
Logierhäuser auf und schien auf dem besten Wege, sich den Ruf
eines ausgemachten Nichtsnutzes zu erwerben.
Sicherlich haben die anständigeren Logierhäuser für Leute von
der Gemütsart unseres Dennis viele Anziehungspunkte; denn der
Bursche hatte eine romantische Ader und wurde durch Erzählungen
wagelustigen und abenteuerlichen Inhalts leicht begeistert. Es kann
nicht geleugnet werden, daß die Küche eines Logierhauses viel Inter-
essantes bietet; denn wenn auch viele grobe und schmutzige Reden
das Ohr des jugendlichen Besuchers erreichen, so wird er doch stets
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. A 479
Männer treffen, die von fernen Ländern und aufregenden Begeben-
heiten in einer Weise erzählen können, die seine Phantasie erregt und
in ihm den Wunsch erweckt, ebenfalls sein Glück außerhalb des Weich-
bildes seiner Vaterstadt zu versuchen. Die Mannigfaltigkeit der Ge-
sprächsthemen ist erstaunlich, und ich kann die beste Vorstellung
davon geben, indem ich schildere, was ich selbst vor einigen Jahren
an einem einzigen Abend gehört habe.
Als ich eintrat, war ein Mann gerade dabei, augenscheinlich auf
Grund eingehender Kenntnis, die verschiedenen Pferderennen des
Landes zu erörtern. Es waren viele anwesend, die einige Worte über
dies umfangreiche Thema zu sagen hatten, aber so oder so landete
die Unterhaltung schließlich bei einer Beschreibung der Vorzüge oder
Nachteile der zahlreichen Wanderarbeitsstätten, mit denen Glieder der
Versammlung bekannt waren, sowie der Landstraßen und Richtwege,
auf denen sie zu diesen freudlosen Stätten gewandert waren. Dann
begann ein lustig dreinblickender, etwa fünfzigjähriger Mann plötzlich
von Walfischfängern zu erzählen und berichtete weiter von seiner
fünfzehnjährigen Arbeit im Dienst der Hudson Bay-Gesellschaft, von
seinem einsamen Leben auf einer Station in dem eisigen Norden und
von Abenteuern bei aufregenden Jagden nach den Pelzen, mit denen
die Gesellschaft handelt. Der Trunk, ganz allein der Trunk, hatte den
Pelzjäger ins Logierhaus gebracht. Ein anderer Insasse, ein großer,
schwerfälliger Mann, erzählte von den Brasilianern und den Sitten
mehrerer eingeborener Indianerstämme, die, wie er bekräftigte, ihres-
gleichen jagten, wie Engländer es mit dem Wild tun. Alles in allem
hatte er so viele Wunderdinge zu berichten, daß ich bemüht war,
herauszubringen, ob er — er war nämlich Graduierter der Glasgower
Universität — sich die Werke des ausgezeichneten Barons Münch-
hausen zum Muster genommen hatte. Nicht lange danach begann
ein alter Kerl, der vom Bettel lebte und weit gereist war, über seine
Fahrten in Japan zu sprechen und murmelte, daß England früher oder
später den Tag bereuen würde, an dem es sich mit der gelben Rasse
verbündet habe. Seine Bemerkungen wurden mit ungläubigem Spott
aufgenommen, aber er wiegte sein Haupt und sagte mit einer Miene
überlegener Weisheit: »O, ihr werdet dereinst noch daran denken,
was ich euch gesagt habe. Ich habe bei den Japanern gelebt und
weiß, was für Leute sie sind.« Ein bleicher, kränklicher junger Mann,
der teilweise für deu katholischen Priesterberuf ausgebildet war, gab
seine Eindrücke von dem Leben in Westafrika und sprach begeistert
von allem, was er nach seiner Rückkehr dorthin unternehmen wolle;
er ahnte nicht, daß er noch vor Ablauf eines Jahres in der Ferne
480 A. Abhandlungen.
sterben sollte. In einer Ecke eiferte ein alter Krieger, daß jener große
General, dessen Marsch von Kabul nach Kandahar mit Recht so ge-
rühmt wird, in Wirklichkeit nicht der Mann wäre, der den Ehrenpreis
des Zuges verdient habe, sondern daß dieser einem anderen Offizier,
dem Obersten seines Regiments gebühre, unter dem der alte Bursche
den Feldzug durchgemacht hatte. Ehemalige Angehörige der Flotte
trifft man selten in gewöhnlichen Logierhäusern — im Gegensatz zu
ihren Kameraden von der Landmacht, die einen großen Bruchteil der
Insassen stellen — aber diesmal war einer da und wurde durch die
Geschichte des Soldaten dazu verlockt, ein Garn zu spinnen. Er hielt
die ganze Gesellschaft in der Küche in atemloser Spannung, als er
seine Erlebnisse in Ägypten während seines Dienstes in der See-
brigade und seine Abenteuer bei Tel-el-Kebir beschrieb, wo er einem
Manne das Leben nehmen mußte, um sein eigenes zu retten. Ihn
verlangte nicht danach, sagte er, aber ein Eingeborener stürzte auf
ihn los mit einem großen Schwert, und es blieb ihm nichts übrig,
als den Angriff mit seinem Seitengewehr abzuwehren, wenn er das
Ergebnis auch sehr bedauerte. Es war betrübend, in diesem alten
Seemann ein weiteres Opfer der Trunksucht zu sehen; denn er war
ein gutmütiger und tapferer Mann. Wäre er nicht tapfer, so hätte er
nicht zugegeben, wie Angst ihn packte, als er zum ersten Mal ins
Feuer kam und das Sausen und Schwirren feindlicher Kugeln ihn
umgab. Sein Unglück war das vieler; denn Männer aus allen Ständen,
aus allen Bevölkerungsschichten treiben auf demselben Strom diesen
Logierhäusern zu, und dasselbe Laster, das ihn zu dieser Stätte ge-
führt hatte, war bei den meisten seiner Quartiergenossen, die früher
bessere Tage gesehen hatten, die Ursache ihres Sturzes in solche Tiefe
gewesen.
Unter ihnen hat sich einer besonders meinem Gedächtnis ein-
geprägt, ein Mann von Universitätsbildung, schönem Körperbau und
gewandten Manieren, der letzte seines Namens, an Alter noch unter
fünfunddreißig Jahren. Für ihn war in einer Holzfabrik Arbeit ge-
funden, und er blieb auch einige Tage dabei; aber seine ganze Natur
lehnte sich gegen die zermürbende, rein körperliche Arbeit auf. Da
entschloß er sich, allen seinen Mühen und Sorgen Lebewohl zu sagen
und gab ein Leben auf, das seinen Mitmenschen hätte von großem
Nutzen sein können. Und noch ein anderer war da — ein früherer
Religionsdiener, ein gelehrter Kenner des klassischen Altertums, ein
Mann, der wunderbare Kenntnis der Astronomie besaß und im Zu-
stande schwerster Trunkenheit mich zur Mitbetrachtung der Sterne
aufzufordern pflegte. Gleichzeitig prägte er mir ein, daß Trunkenheit
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 481
das eine große Laster sei, das er verabscheue, und flehte mich an,
niemals darin zu verfallen. Im Gegensatz zu diesen gebildeten Männern
steht vor mir in Gedanken eine ganz verschiedene Figur, die mit
ihnen die Küche teilte, ein merkwürdiger, dünner, bleicher und —
nüchterner Mann, der den größten Teil des Tages verschlief und
nachts um halb elf ausging, um in kleinen Kneipen seine Fähigkeit,
Steine, Zinn und Glasstücke zu verschlucken, zur Schau zu tragen.
Sein Verfahren war etwas ganz Unerhörtes; aber er führte ein un-
beschwertes Leben und sagte, sein Vater habe gerade so vor ihm ge-
lebt; er denke nicht daran, jemals zu arbeiten, da er es nicht nötig
habe.
Sie bildeten eine seltsame, trübselig-interessante Versammlung,
diese Männer, die lebten, man wußte kaum wie, deren Dasein so öde
schien, denen Religion jeder Art fremd schien, deren Gott mit wenigen
Ausnahmen der Trunk war, an dessen Altar sie unaufhörlich opferten.
Es war kein Wunder, daß der Einfluß solcher Gesellschaft auf Dennis
hauptsächlich darin bestand, sein bißchen Verstand und Willenskraft
— es war wirklich sehr wenig — ins Wanken zu bringen, Nichts-
destoweniger kann Gutes auch an sonderbaren Stätten ersprießen, und
ich vermute, daß es einer der von ihm in einer Logierhausküche ge-
hörten Geschichten zuzuschreiben ist, daß er nach einem neuen kurzen
Besuch im Gefängnis den Schritt tat, der sich schließlich als der
Wendepunkt in seiner Laufbahn herausstellte. Er entschloß sich plötz-
lich, Soldat zu werden, und, obwohl er sich schon vielfach hatte für
die Miliz anwerben lassen, fand er in einem in Südengland garniso-
nierten Regiment Aufnahme. Denn er vermied es vorsichtigerweise,
sich bei einem der nördlichen Korps zu melden, zu dessen ständigem
Unteroffiziersstab möglicherweise jemand gehörte, der ihn von seiner
früheren Dienstleistung in einem anderen Truppenteil her wieder-
erkennen würde.
Freilich schien ihm das Leben in der Armee zunächst nicht zu-
zusagen. Nach all dem Lärm und der Aufregung einer geschäftigen
Großstadt, wo das Leben einer dichten Bevölkerungsmasse pulsiert,
fand er den Übergang zu der ruhigen und einsamen Salisbury-Ebene
äußerst verdrießlich und kam, sobald er konnte, auf Urlaub nach
Manchester, wo er einem alten Freunde gegenüber seine Absicht äußerte,
bald nach seiner Rückkehr zu desertieren. Glücklicherweise hatte er
sich jedoch, von einem günstigen Instinkt geleitet, einem vernünftigen
Manne anvertraut, der ihm klar machte, daß solche Handlungsweise
keinen Vorteil bringen, sondern nur künftige Bemühungen, ihn nach
Ableistung seiner Dienstzeit auf seine eigenen Füße zu stellen, ab-
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 31
482 A. Abhandlungen.
schneiden würde. So kehrte er schließlich zurück, entschlossen, wie
er sagte, »es auszuessen«. Aber bei seiner Rückkehr zum Regiment
hatte er das Unglück, einen alten Bekannten aus Manchester namens
Cohen zu treffen, einen hinterlistigen und verschlagenen Hebräerjüng-
ling, der sich auch unter einem falschen Namen hatte anwerben lassen.
Dieser Bursche hatte nicht die Absicht, seine Zeit abzudienen, sondern
ging darauf aus, »seinen Schein zu kriegen«, d. h. er trachtete nach
seiner Entlassung, indem er auf verschiedene Weise darzutun ver-
suchte, daß er »wahrscheinlich keinen guten und brauchbaren
Soldaten abgeben würde«. Eine Zeitlang verführte er Dennis, seine
Schlechtigkeiten und böswilligen Kniffe mitzumachen, aber schließlich
machte er sein Maß dadurch voll, daß er die Feldflaschen verschiedener
seiner Kameraden stahl. Als er des Diebstahls überführt wurde, ver-
suchte er, seinen »Bettmaaten« (Inhaber des Nachbarbettes) mit in
sein Mißgeschick hineinzuziehen. Als ihm dies nicht gelang, »gab er
Dennis preis«, indem. er seinen wirklichen Namen verriet und einige
Angaben über seine Laufbahn machte. Aber er hatte sich in anderen
Stücken als ein solcher Lügner erwiesen, daß seinen boshaften An-
gaben kein Glauben geschenkt wurde, und Dennis kam mit einem
strengen Verweis davon, während Cohen schimpflich entlassen wurde.
Die überstandene Gefahr war für Dennis eine heilsame Lehre;
denn er machte sich jetzt klar, wie ungern er ins bürgerliche Leben
zurückkehren würde. Seit dieser Zeit gab er sich mit ganzer Seele
seiner Arbeit und dem Dienst hin und wurde ein eifriger und
schneidiger Soldat. Er schrieb: »Ich denke, ich will in der Armee
bleiben und sie zu meinem Heim machen, da es reichliches Essen
und anständige Behandlung gibt.« Bald nachher suchte er mich
während eines Urlaubs auf. Im ersten Augenblick erkannte ich ihn
kaum. Schlank und aufrecht, sauber, mit kurzgeschorenem Haar und
gut sitzenden Kleidern war er ein Mensch, ganz verschieden von
dem schmutzigen, schäbigen Dennis, den ich zuletzt gesehen hatte. Es
war klar, daß das regelmäßige Leben, das Exerzieren in freier Tuft
und vor allem die Zucht des Heerdienstes eine Wirkung ausübten,
die nicht zu spät gekommen war, um aus ihm einen Mann von einigem
Wert für das Gemeinwesen zu machen. Er pflegte mir damals regel-
mäßig zu schreiben, wobei er das größte Interesse für sein Handwerk
sowie den Entschluß kundgab, sich einen guten Namen zu erwerben.
Es war seltsam, von einem Mann mit seiner Vergangenheit Klagen
über die Langsamkeit der Beförderung gerade in seinem Bataillon zu
vernehmen, und zu hören, daß er sich auf wissenschaftliche Prüfungen
vorbereitete. Er bekam auch eine Art Korpsgeist und schrieb mehr
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 483
als einmal triumphierend von der hohen Überlegenheit seines eigenen
Bataillons über andere Bataillone bei langen Märschen. Jetzt ist er
nach Indien gegangen und sendet fröhliche Briefe heim. Er ist ein
eifriger Anwalt körperlicher Übung geworden und hat sich als sein
besonderes Steckenpferd den Sport — wenn man es Sport nennen
kann — des Keulenschwingens ausersehen. In einem seiner letzten
Briefe teilte er mir mit, daß er jetzt ein Paar neun Pfund schwere
Keulen neun Stunden lang ununterbrochen schwingen könne und hoffe,
nach einigen weiteren Wochen mir schreiben zu können, daß er der
Champion-Hammerschwinger von Indien geworden sei.
Es gibt viele Jünglinge von dem gleichen Schlage wie Dennis,
für welche die Erziehung durch den Heeresdienst gerade das Heil-
mittel bedeutet, dessen sie benötigen, um von den aus ihrer Willens-
schwäche entspringenden Übeln gründlich zu genesen, und es ist wirk-
lich ein Unglück, daß so viele Jungen gerade dieser Sorte körperlich
nicht genügend entwickelt sind, um den Anforderungen des Werbe-
sergeanten zu genügen. (Forts. folgt.)
3. Die experimentelle Ermüdungsforschung.
Von
Marx Lobsien, Kiel.
(Fortsetzung.)
4. Beurteilung der physiologischen Methoden.
Von diesen sind zweifellos die Körpermaßmethoden, selbst
wenn sie mit der großen Genauigkeit geschehen, wie sie durch den
Stephanischen Apparat möglich ist, für die Bestimmung der geistigen
Leistungsfähigkeit nur in so allgemeinem Sinne verwendbar, daß sie
für eine fruchtbarere, praktisch verwertbare Messung der geistigen
Ermüdung nicht in Frage kommen können. Es erübrigt sich mithin,
auf sie genauer einzugehen.
Auch die drei Methoden, von denen die eine den elektrischen
Strom, die andre die Vibration, die dritte das Quinquaudsche
Zeichen benutzt, lassen sich mit einigen Bemerkungen abtun.
Pimmers Versuch galt nicht zunächst der Ermüdung als solcher,
sondern er wollte mittels des Influenzstromes »körperliche Minder-
wertigkeiten«e kenntlich machen. Seine Methode hat bis heute keine
Nachahmer gefunden, auch er selbst hat, wie ich einer liebenswürdigen
privaten Mitteilung entnehme, keine Gelegenheit und Muße zu einer
Nachprüfung gefunden, die wir allerdings demnächst erwarten dürfen.
— Wie weit die Vibrationsmethode Neutras bisher Bestätigung ge-
31*
484 A. Abhandlungen.
funden hat, entzieht sich meinem Wissen. Neutra erklärt die Tat-
sache, daß die Vibration noch mehrere Sekunden an der symmetrischen
Stelle empfunden wird, während sie an der ersten nicht mehr merk-
lich ist, als beruhend auf der Ermüdung der Apperzeptionsfähigkeit
mit folgender Begründung: »Bestimme ich die Ermüdungsziffer
bei sehr schwachem Anschlage der Stimmgabel, so wird die Er-
müdungsziffer (d. h. die Zeitdauer des Abklingens der Vibration auf
der symmetrischen Stelle) etwas kleiner als beim Versuch mit sehr
stark angeschlagener Stimmgabel. Das erklärt sich dadurch, daß bei
starkem Anschlage die Schwingungen viel länger empfunden werden,
die Aufmerksamkeit viel länger in Anspruch genommen wird und
daher infolge der Ermüdung feinere Schwingungen nicht mehr wahr-
nimmt, wodurch sich die Ermüdungsziffer vergrößert, während bei
schwachem Anschlage die Konzentration der Aufmerksamkeit für die
untersuchte Stelle nur wenige Sekunden in Anspruch genommen wird,
und daher noch sehr kleine Amplitüden an der zuerst untersuchten
Stelle wahrgenommen werden, wodurch die Ermüdungsziffer verkleinert
wird.«e Aus dieser Begründung erfahren wir nicht, welchen Begriff
Neutra mit dem Terminus Apperzeption verbindet. Das wird um so
weniger klar, als er in dem folgenden Satze ausführt: »Der angeführte
Versuch zur Bestimmung der Ermüdungsziffern gelingt bei jedem In-
dividuum mit normaler Sensibilität, und ich möchte daher dieses
Phänomen für physiologisch halten.« Es scheint, daß Neutra für
die verschiedene Größe der Ermüdungzziffern in erster Linie Auf-
merksamkeitsschwankungen verantwortlich macht und ferner, daß er
eine relativ sehr kurze Zeitdauer schon für ausreichend hält, merkliche
Abstriche an der Aufmerksamkeitsenergie vornehmen zu können (es
handelt sich um einige Sekunden). Neutra charakterisiert seine Ver-
öffentlichung selbst als vorläufige Mitteilung und wir werden abwarten
müssen, ob die Ermüdungsziffern sich als fruchtbares Mittel zur Be-
stimmung der geistigen Leistungsfähigkeit bewähren werden.
Ähnliches läßt sich von der Methode Minors sagen, der das
Quinquaudsche Zeichen benutzte.
Von den physiologischen Methoden im engeren Sinne verbleiben
noch die Sphygmometer- und die Pneumometermethode. Von
ihnen ist die erste noch weniger einwandfrei als die zweite. Der
Blutdruck ist dem Willen nicht unterworfen und somit subjektiven
Veränderungen nicht zugänglich, aber die Gestaltung desselben ist von
vielen Nebenumständen mitbeding. Wenn auch nach den Unter-
suchungen Binets und Henris mit der Ermüdung eine Verlang-
samung und eine Verringerung der Zirkulationsenergie zusammen ge-
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 485
geben ist, so läßt sich doch keineswegs einwandfrei konstatieren, ob
die Krmüdung die alleinige Ursache, umgekehrt, ob diese Erschei-
nungen für die Ermüdung symptomatisch sind. Es kommt ferner
hinzu, daß die Technik nicht eben einfach ist. — Die Atemschreibung
ist zwar einfach, aber die Atmung ist in hohem Grade der Willkür
unterworfen, und kaum zu unterbindende suggestive Einflüsse bewirken
starke Kurvenänderungen. Sicherlich führt daher die Methode der
Atemschreibung zu recht vieldeutigen Ergebnissen, wenn auch ge-
lingt, im allgemeinen eine Beziehung herzustellen zwischen der Er-
müdung und etwa der Verflachung der Atmung (Binet), so darf diese
nur als Symptom eines gewissen Ermüdungsstadiums, keineswegs als
allgemeines geschätzt werden. Noch viel weniger ist gelungen, Pro-
portionalität zwischen einzelnen pneumographischen Aufzeichnungen
und gewissen Graden der Leistungsabnahme zu konstatieren.
5. Die taktilen Empfindungen als Maßstab geistiger Ermüdung.
Die Kinematometermethode hat Gineff, Meumanns Schüler,
umfänglicher angewandt. Er gelangte zu der Überzeugung, daß sie
zuverlässiger sei als die Ergographenmethode. Seine Untersuchungen
bedürfen aber der Nachprüfung, denn er hat sie nur an einer Ver-
suchsperson durchgeführt. Je feiner die Unterschiedsempfindlichkeit
für die Bewegungsempfindungen ist, desto mehr wird die Vergleichs-
bewegung der Normbewegung angeähnelt werden. Die Unterschieds-
empfindlichkeit vermindert sich unter den Wirkungen der Errmüdung,
und die natürliche Folge davon sind Fehler in den Vergleichs-
bewegungen. Die Fehler kommen dem Schätzenden nicht zum Be-
wußtsein. Die Tatsache, daß die Schätzungsfehler unter dem Einfluß
der Ermüdung sich vergrößern, ist sehr leicht erklärlich; denn die
Bewegungen erfordern eine größere Willensanspannung, eine größere
Anstrengung, und dieses Anstrengungsgefühl macht eben glauben, daß
die kürzer ausgeführte Bewegung der längeren gleich sei.
Die Methode erfordert aber sorgsames Studium auf breiter
Grundlage. Zur Begründung dessen nur einige Bemerkungen. Die
Schätzungsgenauigkeit ist, wie man unschwer erproben kann, je nach
der Individualität sehr verschieden (wie überhaupt für alle Arten der
Bewegung). Die individuellen Besonderheiten kommen auch darin
zum Ausdruck, daß dieser Prüfling überhaupt zu starken Über-, jener
zu großen Unterschätzungen neigt (der Vorsichtige, Genaue, Abwägende
— der Zugreifende, Unüberlegte). Die Übung spielt eine nicht un-
bedeutende Rolle; unter ihrem Einfluß paßt sich dieser bald einer
relativ genauen Schätzung an, während jener sich ihr sehr langsam,
486 A. Abhandlungen.
ein anderer gar überhaupt nicht nähert. Unter allen Umständen muß
em Übungskursus den kinematometrischen Hauptversuchen vorangehen.
Endlich sind auch Suggestionswirkungen von großem Einfluß. Weiß
die Versuchsperson, daß sie bei länger fortgesetzten Versuchen oder
unter Ermüdungswirkung dazu neigt, kleinere Vergleichsbewegungen
auszuführen, dann wird sie diesen Mangel wettzumachen suchen, indem
sie Bewegungen ausführt, die zu groß, oft viel zu groß sind. Die Ge-
fahr, die durch die Möglichkeit der Suggestion droht, ist so groß, daß
man nur Prüflinge heranziehen darf, die über die Absicht und die
näheren Umstände des Versuchs gänzlich unorientiert sind. +- Mit
Recht hebt Offner als einen Vorzug der Methode ihre Einfachheit
hervor, die sie für Einzelversuche in den Schulen verwendbar er-
scheinen läßt.
Der Anwendung der Taktiermethode (optimales Taktschlagen)
liegt der zweifellos richtige Gedanke zugrunde, daß die Ermüdung eine
Verlangsamung der natürlichen rhythmischen Bewegungen im Gefolge
hat. Aber auch hier ist die Eindeutigkeit in der Beziehung stark in
Zweifel zu ziehen (Nebenwirkung der individuellen Differenzen, Sug-
gestion, Übung, allgemeine physische Disposition, Stimmung). Vor
allem bewirkt, nach Meumann, der Rhythmus des Taktierens einen
Erregungszustand, der eine bestehende Ermüdung völlig kompensieren,
ja überkompensieren kann.
Hjalmar Öhrwall hebt an der von ihm verwendeten Blixschen
Methode zur Untersuchung des Muskelsinnes mit Recht ihre außer-
ordentliche Einfachheit hervor. Als weitere Vorzüge — besonders
den Kraepelinschen Methoden gegenüber — rühmt er: Bei der von
ihm (Kraepelin) angewandten Methode ist es die Qualität der Arbeit,
die in erster Linie gemessen wird, teils durch Messung des mittleren
Fehlers, teils durch Verminderung der Variationen; infolgedessen wird
die Arbeit niemals so mechanisch wie bei den Methoden mit Addieren
von Zahlen oder Zählen von Buchstaben u. dergl. Die Methode nimmt
kürzere Zeit in Anspruch, denn der Versuch ist anstrengender und
die Müdigkeit stellt sich im allgemeinen nach ungefähr 60 bis 100
einfachen Versuchen ein, welche !/, bis höchstens !/, Stunde erfordern.
Ferner beobachtet die Versuchsperson ständig das Resultat, sieht bei
jedem einzelnen Versuch unmittelbar, wie gut oder schlecht er ge-
lingt, was das Interesse aufrecht erhält. So ist die Gefahr des Lang-
weilens weit geringer als bei den Methoden mit länger dauernder
und mehr mechanischer Arbeit. Die Methode schließt auch keine
fremdartige, ungewöhnliche oder schwerverständliche Aufgabe in sich,
Versuchsperson kann beinahe jeder beliebige sein, ein Umstand, der
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 487
sie sicherlich auch für Untersuchungen in Schulen anwendbar machen
dürfte. Schließlich kann das Resultat mit beliebiger Genauigkeit exakt
gemessen und graphisch registriert werden. — Kein Zweifel — die
Methode hat große Vorzüge, besonders gegenüber der vorhin be-
sprochenen Kinematometermethode Ein besonderer Vorzug ist der,
daß infolge der immer wieder einsetzenden Selbstkorrektur durch den
Prüfling Suggestirwirkungen so gut wie ausgeschlossen sind. Aber
auch hier ist mindestens schwer, feinere Ermüdungsmessungen vorzu-
nehmen. Die Blixsche Muskelsinnmethode erfordert, sofern die
Prüfung als Agens und Reagens dient, bis zum Eintritt der Ermüdung
einen Zeitraum von tj, bis zu !/, Stunde. Nachprüfungen, bei denen
die Schätzungen als Reagens allein Verwendung finden, müssen erst
offenbaren, um wieviel die Zeit der Ausführung eine Verkürzung er-
fahren kann; ein Zeitraum von der oben angegebenen Länge macht
das Verfahren für Schulversuche sehr wenig geeignet. Öhrwall will
mittels der Blixschen Methode sowohl die Übung, wie die Ermüdung
studieren; wo es sich ausschließlich um eine Untersuchung der letzteren
handelt, muß natürlich ein Übungskursus voraufgehen, der eine wesent-
liche Verkürzung der Experimentierzeit im Gefolge haben würde. In
technischer Beziehung besteht noch das Bedenken, daß es schwer hält,
den Zeitpunkt genauer festzustellen, da die Ermüdung die Übungs-
wirkungen verdrängt hat; denn periodisch ist immer wieder ein Über-
greifen in die größere Genauigkeitszone, die von der Übung unberührt
scheint, bemerkbar. Auch darf darauf aufmerksam gemacht werden,
daß das wiederholte Heben des Armes zugleich eine muskuläre Er-
müdung im Gefolge hat, so daß das Agens immer ein um diese ihm
nicht zugehörige Ermüdungswirkung erhöhtes Plus in der Registrierung
erfährt. — Mit vollem Recht macht Öhrwall darauf aufmerksam, daß
etwaige Einwendungen gegen das Verfahren aus der Erwägung heraus,
daß nicht ausschließlich eine Untersuchung des Muskelsinnes der Hand
und des Armes stattfinde, sondern auch der Muskelsinn des Auges in
Anspruch genommen werde, nicht stichhaltig seien; denn für den
vorliegenden Zweck sei der Umstand nur von geringer Bedeutung.
Wenn die Versuche nur immer gleichförmig nach derselben genau
präzisierten Methode ausgeführt wurden, müsse man den Einfluß der
(Übung und) Ermüdung studieren können, ob nun der Muskelsinn des
einen oder des andern Organs die Hauptrolle bei den Versuchen
spiele. Die Hauptursache der Ermüdungswirkung auf die Genauig-
keit der Schätzung ist dieselbe, die bei der Kinematometermethode er-
wähnt wurde: Die größere Willensanspannung und das damit ver-
bundene Anstrengungsgefühl.
488 A. Abhandlungen.
Der biologischen Methode werden wir, so steht zu hoffen,
demnächst weitere Aufschlüsse über das Wesen der Ermüdung und
möglicherweise eine von fälschenden subjektiven Nebenwirkungen
gänzlich freie objektive Maßbestimmung der Ermüdungswirkungen ver-
danken. Es ist nicht unmöglich, daß mit ihrem weiteren Ausbau der
experimentellen Ermüdungsforschung, die heute so ziemlich auf einem
toten Strang angelangt ist, neue fruchtbare Bahnen gewiesen werden.
Wir dürfen das um so mehr hoffen, als heute schon feststeht, daß mit
der Anwendung des Weichardtschen Antitoxins keine schädigenden
Folgen für die Gesundheit der Versuchspersonen verbunden sind.
(Forts. folgt.)
4. Problematische Naturen überhaupt und im weiteren
solche schon in jugendlichem Alter.
Eine psychologische Studie über Erfahrungs- und Erziehungsprobleme.
Von
Dr. Boodstein - Elberfeld.
(Fortsetzung.)
Entsprechend diesem Hinweis auf Fritz Reuter könnte ich noch un-
gezählte Beispiele für die verhängnisvolle Einwirkung aller möglichen Um-
stände nicht nur auf die körperliche und geistige, sondern auch auf die
ganze Charakter-Entwicklung und Lebensrichtung der Einzelnen anführen.
Denn »das Leben des Einzelnen entwickelt sich«e — wie Max Eyth,
der berühmte Ingenieur in seinem Werk: »Im Strom unserer Zeit« be-
merkt — »wie das des Embryo, der die Stadien der Lebewesen der
Urzeit durchzumachen hat, ehe er als fertiges Geschöpf in seine Welt
tritt«e. Und wenn demgemäß, oberflächlich betrachtet, in diesen Stadien
auch eine gewisse Gleichförmigkeit sich kundgibt, bei genauerem Zusehen
spielen doch sehr viele fast unmerkliche Kleinigkeiten eine maßgebende
Rolle und bestimmen im voraus den Verlauf und das Endergebnis, nur
später hier und da beeinflußt durch Regungen des Eigenwillens, durch
Rücksichten auf andere und dadurch, daß — wie sich im Raume die
Sachen stoßen — auch in den Gedanken und Empfindungen ein vielfältiger
Wechsel stattfindet, der früheres in den Hintergrund treten läßt, was ganz
vorn oder obenan gestanden hatte. Denn des Menschen Geist und Gemüt
gleicht durchaus nicht dem Getriebe eines mechanischen Kunstwerks,
dessen Räder in unabänderlich regelmäßiger Weise ihre Arbeit verrichten,
und deshalb erkennen lassen, wann und in welcher Form das Schlagwerk
die Vollendung eines Zeitabschnittes verkündigen werde. Und keinem
Einzigen, Denkenden oder Sichgehenlassenden bleibt es erspart, ge-
legentlich, selbst wenn keine großen Umwälzungen sich in ihm vollziehen,
über sich selbst den Kopf zu schütteln und nicht zu begreifen, wie dies
oder jenes über ihn gekommen ist, und ihn zum Tun oder Leiden,
Handeln oder Unterlassen, Trotzen oder Dulden bestimmt hat. Selbst
Boodstein: Problematische Naturen usw. 489
Immanuel Kant mit seinem kategorischen Imperativ, der sich nach und
nach durch allerlei Entbehrungen, deren er freilich mit Schrecken gedachte,
zu geregeltem Wohlstande, unabänderlichem Lebensgange und zu un-
verbrüchlichen Verhaltungsregeln durch- und emporgearbeitet hatte —
und mit Folgerichtigkeit und unerbittlicher Strenge der gewonnenen
Überzeugung treu blieb, hat ab und zu suchen müssen, sich vor sich
selbst zu rechtfertigen, wenn er glaubte, daß die öffentliche Ordnung ein
Verschweigen seiner aufrichtigen Meinung erfordere.!) Natürlich rechne
ich derlei Lagen nicht zu solchen, die einen Lebens- und Entwicklungs-
gang zu einem problematischen stempeln, d. h. zu einem solchen,
dessen Ausgang sich schlechterdings und ganz allgemein nicht vorher-
sehen, allerhöchstens vermuten läßt: denn es würde ja damit über jedes
Stillschweigen aus Klugheit, über jede Maßnahme abwarteuder Vorsicht,
ja über jedes Irren über uns selbst und unser Können und Verstehen —
rücksichtslos der Stab gebrochen; sondern ich wollte nur feststellen, daß
selbst so durchaus unabhängige, ihrer selbst so durchaus gewisse
Persönlichkeiten wie Kant, der im Alter von 70 Jahren — denn beim
Empfang jener Zuschrift, 1794, traf letzteres zu — auf dem Höhe-
punkte seines Weltruhms und unbedingter geistiger wie materieller
Unabhängigkeit stand, so daß er selbst seinem Könige hätte trotzen können,
— auf Verhältnisse Rücksicht nehmen, die für die Allgemeinheit eine
unverkennbare Bedeutung haben und damit Zurückhaltung auferlegen.
Also nieht die gelegentliche Änderung des Denkens, Empfindens und
Wollens stempelt den Einzelnen zu einem Problem; denn im Leben ver-
geht kaum ein Tag, der nicht einzelne Änderungen selbst hinsichtlich
wichtiger Kundgebungen und Entschlüsse herbeiführte und so ein Hin-
und Herschwanken bedingte, weil wir die Wirkungen nicht klar voraus-
zusehen vermögen. Denke ich hierbei aber gar an die Lösung der
wichtigsten Lebensfragen, die Wahl des Berufs, die Entscheidung für eine
Lebensgemeinschaft, die Erkenntnis unserer Anlagen und Kräfte, die Be-
tätigung unseres Interesses an unserem persönlichen und auch am all-
gemeinen Wohl — wer wüßte da sicher, was wirklich gut wäre und
zum Frieden diente? Treitschke sagt einmal in einem Aufsatz: »Theo-
retiker sind in der Regel der Ansicht, alle Menschen bestimmten sich
in ihrem Handeln nach vernünftigen Erwägungen; das ist aber durch-
aus nicht der Fall; das fällt den wenigsten ein; vielmehr ist richtig, daß
1) Nur ein Beispiel: Kants berühmte Schrift: »Religion innerhalb der
Grenzen der bloßen Vernunft« war nicht nur durch das von Friedr. Wilhelm II.
eingesetzte geistliche Gericht (Wöllner und Genossen) sondern auch durch eine
Kabinettsordre des Königs selbst gemißbilligt und verboten worden. Daraufhin
fühlte sich Kant verpflichtet zu schweigen. In seinem Nachlasse aber fand sich
ein noch jetzt vorhandener Zettel seiner eigenen Hand, lautend: »Widerruf und
Verleugnung seiner inneren Überzeugung ist niederträchtig; aber
Schweigen in einem Falle wie der gegenwärtige ist Untertanenpflicht; und
wenn alles, was man sagt, wahr sein muß, so ist darum nicht auch Pflicht, alle
Wahrheit öffentlich zu sagen.«
490 A. Abhandlungen.
Millionen sich nach dunkeln Instinkten bestimmen — und wenig-
stens für den Augenblick sich wohl dabei befinden.«e Dieses »den dunkeln
Instinkten folgen« mag ja auch manchmal gut sein — jedenfalls ist es
zunächst das »Ehrlichste«, »Aufrichtigste«, was der Mensch tun kann,
— ob immer das Nützlichste, Richtigste, Beste, ist freilich die Frage —
wer kennt sich selbst in dieser Hinsicht aus? wer weiß im voraus den
Ausgang unserer Ideen, Pläne und Entwürfe? Nach der Sitzung im Rathaus
ist man immer klüger als vorher! Also nicht das Ändern unserer Gedanken
und Entschließungen macht das Problematische aus, sondern nur das
Viertel- oder halbe Denken und Handeln, das Nichts recht zu Ende
führen und Ausgestalten, das Nichtfragen nach dem wozu wir etwas
denken und tun, das ist das Unbefriedigende für uns selbst und auch für
die anderen. Gewiß ist sicher, daß der Mensch in seinem Erkennen
und Können beschränkt ist, und selbst das Genie trägt den Charakter der
Beschränktheit mit Bezug auf die Gebiete, in denen es nicht schöpferisch
wirksam sein kann; denn es ist, wie Emerson einmal sagt, »keiner der
ganze, der vollkommene Mensch, keiner der der Idee des Menschen
ganz vollkommen Entsprechende. Der Einzelne zeigt uns gelegentlich
und bisweilen auch dauernd eine Seite seines Wesens mächtig entwickelt,
während er in vielen anderen nichts oder nur Mangelhaftes leistet: der
Mann der Tatkraft ist, wie Emerson weiter sagt, der Sklave und das
Opfer seiner Taten; bei dem Denker erlahmt oft die Tatkraft völlig;
und alle übrigen, die Gläubigen, die Propheten, die Skeptiker, die Ratio-
nalisten usw. haben wohl einseitig eine gewisse Stärke — in vielen
anderen Richtungen aber sind sie ganz ohnmächtig, oder wenigstens in
ihrem Können und Verstehen äußerst beschränkt. Der Problematiker
aber besitzt überhaupt keine starke, keine voll durchgebildete Seite; er
hegt und pflegt wohl gelegentlich diese oder jene Richtung und läßt sich
eine Weile von ihr beeinflussen; dann wendet er sich zu etwas anderem
und wird auch diesem bald wieder untreu. Ja, auf ihn läßt sich nicht
einmal anwenden, was Goethe in einem seiner Prosasprüche sagt: »Nicht
allen Menschen ist es eigentlich um ihre Bildung zu tun; viele wünschen
nur so ein Hausmittel zum Wohlbefinden, Rezepte zum Reichtum
und zu- jeder Art von Glückseligkeit.« Denn diese letzteren, denen es sich
im wesentlichen ums Ergötzen und Genießen handelt — Dilettanten könnte
man sie ebenfalls nennen, denn das Wort kommt von Delectari — haben
doch ein, zwar nur auf sich selbst gerichtetes, Ziel im Auge, aber
doch ein Ziel, dem sie mit Beharrlichkeit dienen, dem ihre ganze
Willenskraft gilt und welches sie so immer aktiv erhält. Die Proble-
matiker dagegen, meist wirklich begabte, aber oft nach mehreren
Polen zugleich gerichtete Persönlichkeiten, folgen kraft dessen bald
dem einen, bald einem anderen Magneten und entbehren so einerseits
eines sie sicher leitenden Kompasses uud eines Verständnisses für ver-
läßliche Schätzung und Verwertung ihrer Gaben; andererseits aber
auch der für jeden durchaus nötigen Selbstzucht, die sie bei der ein-
mal begonnenen Sache festhält und sie nicht losläßt, ehe diese nicht der
ihnen möglichen Vollendung und Vollkommenheit zugeführt ist. Das waren
Boodstein: Problematische Naturen usw. 491
die Fehler, unter denen unsere bisher angezogenen Modelle litten und
verkümmerten; freilich waren sie daran nicht allein schuld; Verhältnisse
ungünstiger Art, falsche Magneten, Lässigkeit und Nachgiebigkeit gegen
auftauchende, ablenkende Wallungen, schließlich vielleicht die Erkenntnis,
daß sie gewissen großen Ideen, innerlich mächtigeren Menschen gegenüber
doch nicht stark genug seien, zogen sie ab und entmutigten sie, daß sie
nicht wirkliche Charaktere wurden. Sie waren wohl empfänglich für
große Ideen; sie waren wohl zugänglich für den Eindruck großer Vor-
bilder und Muster; aber das Große, das Bleibende, ja das Ewige in
solchen Ideen und Vorbildern hatte keinen ausreichend getreuen
Abdruck in ihnen hinterlassen, und vielleicht ihre Unkraft, ge-
legentlich auch ihre Selbstliebe trieb sie an, sei es die gewiesenen
Wege zu verlassen, sei es über dieselben hinauszustreben, und so selbst
Charaktere zu werden oder besser gesagt: Persönlichkeiten, die, zwar
nicht durehaus originell (d. h. urwüchsig und des Zusammenhangs mit Vor-
gängern völlig entbehrend) wären, aber doch auch eine gewisse Eigenart
zeigten, welche wenn auch nicht allgemeine Zustimmung, doch wenig-
stens eine Anerkennung als berechtigt fänden.
Diese seheinbaren Eigenbrödler sind an sich durchaus nicht zu ver-
urteilen oder mit Vorurteil zu behandeln, denn sie erstreben ja wirklich,
»Persönlichkeiten« zu werden, das heißt: das zu werden, was des
Menschen höchstes Ziel ist. Aber freilich, oft genug verbindet sich
damit das Geschick, welches das zweite Goethesche Merkmal der Proble-
matiker sein soll: »sie tun sich selbst nie genug«; finden aber oft auch
bei den Menschen nicht die Anerkennung, dass sie ihrer Lage ge-
wachsen gewesen seien. Wie oft ist solches nicht das Schicksal von
Erfindern und Entdeckern gewesen! wie oft der nächste Lohn für ge-
waltige Leistungen, besonders wenn es der Anbahnung von erheblichen
Umwälzungen auf allen möglichen künstlerischen, technischen, wissen-
schaftlichen, volkswirtschaftlichen Gebieten galt! Welcher Hohn erwuchs
solchen Personen, wenn die ersten Versuche noch nicht sofort das erhoffte
Ergebnis herbei führten! Aber auch bei minder bahnbrechenden, mehr nur
auf seelischem oder geistigem Boden beruhenden Tätigkeiten, Be-
obachtungen und Vermutungen oder Folgerungen, bei Erzeugnissen der
Einbildungskraft, in redender oder bildlich darstellender Kunst stellt
sich die Gegenwart oft genug auf den Boden nicht nur des Zweifelns oder
Zuwartens, sondern geradezu des verletztenden Unglaubens, wenn nicht
gar auch des Hohnes und der Feindseligkeit. Daß der Prophet im Vater-
lande nichts gelte, ist ja sprichwörtlich geworden. Zarter empfindenden
Naturen gegenüber wirkt dergleichen nicht nur entmutigend, sondern
geradezu abweisend, und nötigt sie zu einer Scheu, sich zu offenbaren,
die oft zur Menschenscheu ausartet, ja sie umgangs- und verkehrsfeindlich
macht oder zu solchen, die die Allüren des Menschenhasses an sich tragen.
Freilich mag dieses Verkanntwerden ihres guten Wollens Temperament-
vollere bisweilen dahin bringen, sich als Einzelne in einen Verzweiflungs-
kampf gegen Viele zu stürzen und darin dieser Vielheit gegenüber zu
unterliegen oder, wenn auch als Sieger, durch das Übermaß der An-
492 A. Abhandlungen.
strengung dennoch vorzeitig zugrunde zu gehen oder wenigstens bei
Lebzeiten die Früchte des Siegs nicht mehr selbst zu ernten. Aber selbst
wenn keines dieser beiden Endergebnisse sich einstellen sollte, so bildete
sich doch auf Grund solcher persönlichen Erfahrungen ganz gewiß ein —
früher in der Regel nicht bemerkter, also fremdartiger — Charakterzug
und Trieb aus: der Zug zur Isolierung, Verschlossenheit, Abwehr gegen
andere, ja unter Umständen sogar eine gewisse Verbissenheit, welche
sie erst recht des Lebensgenusses, der Früchte des Schaffens beraubt,
oder wenigstens derselben nicht froh werden läßt. Hier ließen sich
Dutzende der klangvollsten Namen anführen und brauchten wir nicht zu
solchen zu greifen, die wie Friedrich Nietzsche, Hölderlin, Heinrich von
Kleist, Grabbe, Lauckhard buchstäblich im Leben Schiffbruch litten:
sondern wir könnten aus allen Begabungs- und Berufssphären und
besonders aus denjenigen, die die gewaltigsten Forderungen an ihr
Schaffen und Wissen stellen, Beispiele überzeugendster Art beibringen, die
das Goethesche Wort zu Eckermann zu beglaubigen scheinen: »Je höher
ein Mensch, desto mehr steht er unter dem Einfluß der Dämonen.«
Wenn er dann gleich hinzufügt: »und er muß nur immer aufpassen, daß
sein leitender Wille nicht auf Abwege gerate«. Dies Rezept mag gut
sein; doch ist es leider lange nicht in jeder Apotheke zu erkaufen, und
sodann die Hauptsache ist: jeder muß es sich selber zurecht-
mischen und es in geeigneten Dosen immer wieder zur rechten
Zeit einnehmen.
Daß übrigens gegen die Folgen solcher Einflüsse auf die Charakter-
Entwicklung auch die Höchststehenden nicht gefeit sind, dafür kann der-
selbe Goethe als Zeuge gelten, als er im Epilog zu Schillers Glocke in
seiner Kennzeichnung des Wesens seines Freundes diesem nachsagte,
daß »hinter ihm im wesenlosen Scheine Lag was ums alle bändigt, das
Gemeine«. Indes ohne aus diesem Gemeinen irgend etwas besonders
Niedriges, etwas Moralisch - Verwerfliches herauslesen zu wollen, was Goethe
gewiß auch nicht gemeint hat, kann man doch sagen: bisweilen stellt sich
allerdings »Menschliches — Allzumenschliches«, ein Pessimismus ein, der aus-
sieht wie Haß, Mißgunst, Neid oder auch Selbst-überschätzung und Über-
hebung, die zur Freude am Geschaffenen, zur inneren Befriedigung, zur
Steigerung des Selbstbewußtseins nicht gelangen lassen, weil das Vertrauen
zum gerechten Gewürdigtwerden durch andere getrübt, wenn nicht ganz
erschüttert ist. Unter solchem Banne scheint z. B. Grillparzer, der große
Wiener Dramatiker; Anselm Feuerbach, der geniale Maler des Symposion
(Platos Gastmahl), der Titanenschlacht, der Iphigenie, Medea, der Ama-
zone, des Konzerts und anderer Bilder; Richard Wagner, der große Ton-
dichter — eine lange Zeit — die beiden erstgenannten bis an ihr
Lebensende — gestanden zu haben. Für sie, und noch für eine ganze
Reihe anderer, war es eine hohe und sehr schwere Aufgabe gewesen,
für den Sieg einer verkannten Existenz streiten zu müssen,
(S. II. von Feuerbachs Vermächtnis, herausgegeben von seiner Mutter)
und es ist schließlich begreiflich, wenn infolge dieses Kampfes in jedem
von ihnen gewisse Eigenheiten der Unzugänglichkeit, ja in gewissem Sinne
Boodstein: Problematische Naturen usw. 493
der Ungenießbarkeit sich herausbildeten und z. B. Feuerbach seinerzeit
veranlaßten, in Venedig seine Grabschrift zu entwerfen, die da lautete:
»Hier liegt Anselm Feuerbach,
Der im Leben manches malte,
Fern vom Vaterlande — ach —
Das ihn immer schlecht bezahlte!«
Selbstredend liegt mir nichts ferner, als etwa einem von ihnen —
selbst nur für ganz kurze Lebensperioden — etwa das Prädikat einer
»problematischen Natur« anhängen zu wollen, weil keiner von ihnen sich
selbst ja ein Rätsel geblieben war. Aber während sehr langer Abschnitte
ihres Lebens waren sie nicht nur für das große — nicht immer wirklich
urteilsfähige Publikum, sondern auch für ihre eigenen Kunstgenossen
Persönlichkeiten mit einem recht großen Fragezeichen geblieben, bis
schließlich ihr Tod ihre Werke in einer Weise verklärte, die ihnen eine
gewisse Unsterblichkeit und das Zugeständnis: »nil nisi bene« sicherte.
Daß also die Ungunst der Verhältnisse sich auch an Hochhegabten
schwer versündigen und ihnen den Stempel nicht bloß nicht ver-
standener, sondern sogar scheinbar mit sich selbst ganz zer-
fallener Naturen aufdrücken kann, ist durchaus nicht zu bestreiten.
Innerhalb solcher Ungunst wird sich nur behaupten können, wer durch
große Ideen, durch das Vorbild innerlich mächtiger Persönlich-
keiten sich selbst bilden, seinen Willen stählen, seinen Charakter festigen
läßt; denn weder die Summe des Wissens, noch die Empfänglichkeit des
Gefühlslebens fördert uns in dieser Hinsicht ausreichend, und nur das,
was von großen Gedanken, von großen Persönlichkeiten, von
erhabenen Zielen in uns Eingang gefunden hat und so ein Teil
unseres Wesens geworden ist, hat erziehliche, aber auch be-
wahrende Bedeutung für uns. Gustav Freytag gibt in seiner »ver-
lorenen Handschrift« durch den Mund des Professors Felix Werner,
eines gelehrten Philologen, einem ähnlichen Gedanken Ausdruck, indem er
ihn ausführen läßt: »Der Geist des Aristoteles ist für uns noch etwas
anderes, als die Summe seiner Lehren; und Sophokles bedeutet für uns
etwas ganz anderes als seine sieben Tragödien: die Art, wie er dachte,
das Schöne empfand, das Gute wollte, die soll für uns ein Stück von
unserem Leben werden!« Ob dergleichen die Schulen mit ihren mannig-
fachen Lernmitteln und Lernstoffen immer, ja auch nur oft wirklich, ja
auch nur annähernd erreichen, kann und soll hier nicht erörtert werden;
daß Grund vorhanden ist, daran zu zweifeln, dürfte jeder Nichtselbst-
gerechte aus eigenster Erfahrung wissen; lassen doch selbst die uns am
nächsten liegenden, die eindringlichsten, die unserer Naturanlage gemäßesten
Fächer — ich denke an die Sprache und Geschichte unseres Volks, an
die Religion, an die uns umgebende Natur — mit solcher Wirkung uns
oft durchaus im Stich — und nicht nur unsere Lehrer, unsere Geistlichen,
ja selbst unsere Eltern haben oft genug zu klagen: »warum hat unsere
Lehre, unsere Predigt, unser Beispiel so wenig Erfolg?« Deun das ist ja
leider nicht zu bestreiten, daß das, was der einzelnen Menschenseele das
Höchste, Tiefste und Reinste werden soll: sichere »Gemüts-Erkenntnis
494 A. Abhandlungen.
und Kraft des sittlichen Willens« zu ihrer Verkörperung nur
gelangen kann auf dem Wege unablässiger Kämpfe mit uns selbst und
unserer Umwelt, d. h. aller der Verhältnisse, die darnach angetan sind,
Einfluß auf uns auszuüben, ohne immer wirkliches Recht dazu zu
haben.
Gilt aber solches »Kämpfen um Selbsterkenntnis und sittliche
Selbstbestimmung auch als unerläßliches Gebot bis ins späte Alter
hinein; so darf es doch nicht erst beginnen, wenn die Gefahr eines
Lebensschiffbruchs uns drohend bewußt wird. Wer erst dann daran
gehen will, sein Steuer zum Stoppen zu gebrauchen, etwaige Lecks zu-
zustopfen, das auf den Strand oder zwischen Klippen geratene Schifflein
zurück in klares Wasser zu leiten — der dürfte nur in seltenen Aus-
nahmefällen und auch dann meist nur mit Hilfe von Schleppern und
unter Verlust von Segeln und Masten sich davor bewahren können, zum
völligen Wrack zu werden; jedenfalls aber dürfte er kaum noch versuchen
dürfen, auf der Höhe des Meeres sich erfolgreich zu behaupten. Viel-
leicht dankt er noch Gott, wenn still auf gerettetem Boot endet im Hafen
der Greis. —
Demnach dürfte über die Schwierigkeit genereller Lösung ent-
sprechender Rätsel niemand im Zweifel sein, welcher sich sagt, daß
zwischen der Erkenntnis der einzelnen Momente im Entwicklungsgange
eines abgeschlossenen Lebens, also eines Lebens, welches sich in ver-
schiedenen Stadien abgespielt hat und nun fertig vor uns liegt, also für
Änderungen irgend welcher Art keinen Raum mehr bietet; und zwischen
derjenigen eines erst im Werden begriffenen Lebensganges ein erheblicher
Unterschied bestehen muß. Dort liegt uns ein Ergebnis vor, und wenn
wir aus gewissen Tatsachen, Äußerungen und Handlungen uns ein Bild
von dem Seelenzustande des Vollendeten zu machen versuchen, so kann
uns seitens dieses selbst weder mit Worten noch mit Willensregungen
und neuen Handlungen noch widersprochen werden. Ja, vorausgesetzt,
daß unser Urteil einigermaßen folgerichtig erscheint, kann von anderen
Urteilern höchstens behauptet werden, daß ihnen andere Tatsachen.
Äußerungen, Handlungen auch ein anderes Charakterbild gestatten. Für
uns erscheint also das Rätsel seines Wesens gedeutet und gelöst,
gleichgültig, ob wir den — dieses Wesen seinerzeit belebenden — Geist
nachträglich bewundern, verurteilen, oder betreffs seiner schwankend ge-
worden sind. Jedenfalls schließen wir auf Grund unserer Prüfung der
uns bekannt gewordenen physischen und psychischen, und auch aller
möglichen äußeren Umstände und Verhältnisse so richtig oder so mangel-
haft, wie wir es unserer Verstandeskraft entsprechend vermögen.
Wesentlich anders liegt die Sache gegenüber gewissen Erst-
werdenden: bei ihnen können ja gewiß allerlei Anzeichen äußerer
und innerer Begabungen und Anlagen sich bemerkbar machen; aber
mindestens ebensoviele andere nicht in Erscheinung getreten sein, weil
es bisher an dem Schlage oder Stoße fehlte, welcher dem Stein den
Funken wirklich entlockte und also höchstens Vermutungen, Wünsche,
Hoffnungen oder Befürchtungen entstehen ließ, die unsere Stellungnahme
Boodstein: Problematische Naturen usw. 495
bestimmten und die Richtung beeinflußten, innerhalb deren wir, als Eltern,
Lehrende oder Ratgeber, sei es fördernd oder hemmend, glaubten, in die
weitere Entwicklung oder den äußeren und inneren Werdegang eingreifen
zu sollen. Daß hier Möglichkeiten schwersten Irrens, ebenso wie
glücklichsten Erkennens vorliegen werden, ist ganz sicher; erkennt doch
der am unmittelbarsten Beteiligte selbst oft erst recht spät, bisweilen viel
zu spät, was zu seinem Frieden hätte dienen können, welcher Weg für
ihn der gewiesenste gewesen sein würde. Und so geht es auch oft genug
den Eltern, Lehrenden und sonstigen Fürsorgern; sie meinen es alle in der
Regel recht gut und zwingen doch ihre Pfleglinge in Verhältnisse hinein,
die durchaus nicht für ihre Begabungssphäre passen wollen und so den
Grund zum Mangel an eigener Befriedigung ebenso wie zum Verfehlen
erstrebter höherer Ziele legen müssen. Daß dergleichen schon bei der
Wahl der — für das Leben vorbereitenden — Schulen recht oft der Fall
ist, weiß jeder einsichtige Schulmann — und daß in der Welt recht viel
verkannte Größen auf der Jagd nach dem Glücke nicht nur Nieten ziehen,
sondern in Sümpfe und Abgründe geraten, ist eine leidige Erfahrung, die
schon manches Haar vorzeitig grau gefärbt hat. Zumal in den höheren
und in allerlei Kunstschulen gibt es schließlich Problematiker genug, die
bestenfalls sich irgend einen Berechtigungsschein ersitzen und mit Angst
und Krach propter barbam — wie man solches in Süddeutschland nennt
— promoviert werden. Daß Standesvorurteile, äußere Umstände, falsche
Beurteilungen der Sachlage auch bei Eltern und Pflegern derlei Fehlgriffe
verschulden, ist allgemein bekannt, denn auch ihnen geht es oft so wie
den Nächstbeteiligten selbst: nicht allen Menschen ist es wirklich
um ihre Bildung zu tun; viele wünschen von den Schulen nur so ein
Hausmittel zum Wohlbefinden, ein Rezept zum Reich werden
und zu anderen Arten von Glückseligkeit. Wer dann wirklich
Pech hat, der braucht für Spott freilich nicht zu sorgen. — Aber freilich
wenden sich gegen solehe Aufgabe unserer Schulen nicht bloß Ideal-
gerichtete, sondern Leute von genauester Einsicht in die Bedürfnisse aller
möglichen Berufsarten, die rückhaltslos bekennen, daß das alte »non
scholae, sed vitae diesendum est« nicht ein einseitiges Fertigmachen
für die Ausübung eines Handwerks oder sonstigen Betriebs, einer
Fachwissenschaft oder einer Kunstfertigkeit bedeute und empfehle, sondern
ein vernünftiges Anwendenlernen aller geistigen und leiblichen Vermögen
und Kräfte zur Anbahnung und zum Ausbau eines menschenwürdigen
Daseins, damit wir nicht dastehen veluti pecora, prona et ventri obe-
dientia, und so das Leben im Stillschweigen — wie Sallust sagt —
also ohne bedeutsamere geistige Regung — hinbringen müssen; denn
Leben bedeutet Betätigung unseres Könnens und Erkennens zum Besten
aller und nicht bloß Sorgen für des Leibes Nahrung und Notdurft, weil
der Mensch nicht lebt vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort,
das durch den Mund Gottes gehet (Matth. 4, 4). Und so wäre es ein
Verkennen der erziehlichen Aufgaben, wenn man zugunsten lediglich
materiellen Vorteils die Pflege der Seele und ihrer — den Menschen
vom Tiere unterscheidenden — Vermögen hintenanstellte und es unseren
496 A. Abhandlungen.
Kindern und Pfleglingen überließe, lediglich tierischen Trieben zu folgen
und zu genügen. Deshalb sei es erste Aufgabe aller Schulen, zu allererst
die allen Menschen gemeinsamen — wenn auch im einzelnen qualitativ
und quantitativ sich erheblich unterscheidenden — geistigen und seelischen
Anlagen zu bilden, damit auf Grund vernünftigen Denkens und richtigen
Fühlens ein aufs Gute, Wahre und Schöne gerichtetes Wollen sich ent-
wickele und darnach strebe, bestmöglich den göttlichen Geboten gerecht
und dadurch glücklich zu werden. Wegen der Verschiedenheit der
empfangenen Begabungen aber und Kräfte — der Eine hat zehn, ein
Anderer fünf, ein Dritter gar nur ein Pfund überkommen — sei nicht der
gleiche Maßstab an alle anzulegen, wohl aber darauf hinzuwirken,
daß keiner sein Pfund vergrabe, sondern nach bestem Können mit
demselben arbeite und wuchere. Der Grad und die Frucht dieses
Arbeitens und Wucherns mögen immerhin verschiedene sein, wofern nur
ein gutes Wollen dasselbe beseelt und leitet. —
So läßt sich zwar das Prädikat »problematische Natur« auch schon
auf junge — im Lern- und Schulalter stehende — Menschen
unbedenklich anwenden; doch werden wir vorsichtig und gut tun, dabei
im wesentlichen uns auf gewisse als Wesensrätsel zu kennzeichnende zu
beschränken; da diejenigen Rätsel, welche streng ins Gebiet der Erziehung
gehören und damit dem Erziehenden oft recht harte Nüsse zu knacken
geben, nieht ohne weiteres dem Zögling selbst und ihm alleia zur
Last zu legen sein werden. Schon im Worte Erziehen ist ausgedrückt,
daß — hierin streng genommen — zwei in verschiedenen Richtungen
strebende Naturen einen Kampf führen, der nicht immer sich zu-
gunsten der anscheinend stärkeren Seite, derjenigen des Er-
ziehenden, entscheidet. Wenn der Zögling bisweilen sich nieht ziehen,
erziehen lassen will, so wird oft Gewalt angewendet, um den Widerstand
auf der anderen Seite zu brechen. Das mag auch wohl für kurze Zeit
gelingen. Gewiß, weil aber seitens des Erziehenden nur ein dauernder
und bleibender Erfolg voll gewertet werden dürfte und jedenfalls erst
ein solcher Genugtuung gewährt; so läßt sich ermessen, daß ein nur
für den Augenblick erzieltes Nachgeben nicht als wirklicher Sieg
erscheint, sondern bestenfalls höchstens als Waffenstillstand gilt. In
solchem Falle den Widerstrebenden als Überwundenen anzusehen, geht
also nieht an, selbst wenn solches mit der Notwendigkeit begründet werden
sollte: Die Autorität des Erziehenden sei unter allen Umständen zu
stützen. Denn es darf nicht außer acht gelassen werden, daß z. B. das
Schulleben (d. h. die Eingliederung des Einzelnen in eine be-
stimmte — für alle geltende — Ordnung [also die Forderung des
Gehorsams, der Aufmerksamkeit, gewisser Arbeitsleistungen, und des
willigen Entgegenkommens gegenüber den Lehrenden]) bei manchen fast
wider ihr Naturell geht und sie zu Ablehnungen oder wenigstens
zur Passivität veranlaßt, die schlimmer wirkt als offener Widerspruch.
Denn es gibt nicht wenige Jugendliche, die nicht in Reihe und Glied
Schritt halten, nicht sich in Formen hineinzwingen lassen können, wie
es ja auch beim Militär Leute gibt, die jede Marschlinie verderben,
Boodstein: Problematische Naturen usw. 497
selbst wenn ihre Hintermänner ihnen die Hinterhacken abtreten sollten,
wie es in einem bekannten Spottliede heißt. Deshalb wird oft — auch in
Selbstbekenntnissen später bestbewährter Menschen — darüber berichtet,
daß Einzelne (und zwar oft spätere Koryphäen) in der Schule klägliche
Rollen spielten, oder wegen aller möglicher Ausschreitungen, Regel-
widrigkeiten, Unbotmäßigkeiten oder gar wegen des Hervortretens schein-
barer Laster, Leidenschaften, Untugenden das Entsetzen ihrer Pfleger und
Lehrer bildeten, ja gar aus der Schule gewiesen werden mußten, damit nicht
die ganze Schul- und Hausordnung in die Brüche gehen sollte. Mir sind bei
der Durchsicht der Lebensläufe recht vieler, später bedeutender Menschen
Berichte und eigene Bekenntnisse über Vorgänge und Entwicklungen ent-
gegengetreten, die fast unglaublich klingen; das überaus abfällige, ja
geradezu hoffnungslose Urteil ihrer Erzieher herausfordertten — und
schließlich sich doch als die ersten Keime späterer Entwicklung zu
Tüchtigkeit, Leitungsfähigkeit, ja gewaltiger Größe erwiesen. Denn grade
Bestbegabte wollen und können nicht gebahnte Wege gehen; sondern
müssen sich ihre Straßen erst selbst pflastern. Sie häufen oft zu
diesem Zwecke Steinhaufen an, die für andere als Steine des Anstoßes,
ja des Ärgernisses gelten. Da zeigt sich dann oft erst ihre eigentliche
Begabung und das Gebiet, in welchem sie besonders leistungsfähig werden
könnten, falls nicht Umstände, die ausserhalb ihrer liegen, sie dazu
nicht kommen lassen. Wer nicht von vornherein sich als Herden-
mensch erweist und damit so recht eigentlich nichts Besonderes, Eigen-
artiges an sich hat, hätte der nicht auch an sich solche Erfahrungen
gemacht? Er fühlt meist in sich sehr auseinanderstrebende Merkmale
der Neigung und Begabung, und schwankt, wenn nicht ein glücklicher
Zufall und die Erkenntnis seines Naturells durch sich selbst oder die Seinigen
ihm rasch auf den besseren Weg hilft, nachdem lange hin und her bald nach
der einen, bald nach der anderen Seite seine Kräfte probiert sind. Er wird
schließlich seines Irregehens gewahr; oft wenn es schon fast zu spät
ist, umzukehren oder einem abseits führenden Pfade zu folgen, der
ihm entgangen oder nicht verlockend erschienen war. Daß dergleichen
schon in der Schulzeit dem Einzelnen begegnen kann, ist schon weiter
oben angedeutet worden; — und gerade der Werdegang der Be-
deutendsten belehrt uns oft darüber, was das Übersehen des richtigen
Zeitpunktes und Wegweisers für verhängnisvolle Wirkungen
zeitigen kann. Wird er aber schließlich seiner Sache ganz sicher, dann
gelingt es ihm oft doch noch, mit Siebenmeilenstiefeln den Weg zum Ziele
zu durchmessen und das Ziel mit Ehren zu erreichen, wenn auch bis-
weilen nicht ohne lebensgefährliche Wunden. Erschien er so eine
längere Periode hindurch als Problematiker, so entsteht von da ab, wo
er die Entscheidung getroffen hat zwischen mehreren Möglichkeiten
seiner Willensrichtung und seines Triebes, wo er bisherige Er-
innerungen und Vorstellungen abgetan hatte und sich nur einem Ziele
zuwendete, und in dessen Erkenntnis er Gesetze, Gebote, Grundsätze,
Ideale auf sich so wirken läßt, daß etwas Einheitliches, etwas
Charakterzeigendes zustande kommt; so entsteht da der Zustand,
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 32
498 A. Abhandlungen.
in dem er sich selbst genügt und auch andern gegenüber seiner
Lage gewachsen erscheint. Er erfährt dann an sich, und gelegentlich
wohl auch durch andere, daß durch die Unterordnung seines
Willens in den Dienst sittlicher Grundsätze er festen Halt
gewonnen hat. Er wird des Friedens voll, denn fürder lebt in
ihm das Bild des, das er werden soll: das ihn lange quälende
Rätsel erscheint also für ihn persönlich gelöst; ob er schließlich auch
im Einzelnen sich noch des Schicksals und Erbteils aller Menschen, des
Irrens und Fehlgehens, gelegentlich bewußt wird. Das tut dann
aber nichts zur Sache: Gutes erstrebt zu haben und dessen bewußt zu
sein, hilft ihm über weitere Selbstquälereien hinweg. —
Aus dem Zuletztberichteten läßt sich erkennen, daß die Spezies
der problematischen Naturen keine so ganz seltene ist und sein
kann; ja daß vielleicht keiner der Bestausgestatteten, der originellsten
und tiefsten Denker, Dichter, Künstler, keiner der eigentlichen Bahnbrecher
für menschlichen Fortschritt, keiner der Propheten und Seher in die Zu-
kunft, ja auch keiner der Prediger des allgemeinen Priestertums der
Menschen, keiner der Erlöser vom Zwang des Aberglaubens und des zum
Sklaven machenden Wahnes — während seines ganzen Wirkens und
Schaffens frei geblieben sein wird wenigstens vom Scheine des Un-
erklärlichen und Rätselhaften! Und selbst wenn er sich durch-
gerungen hätte zum unerschütterlichen Glauben an sich selbst und an
seine Mission, und bereit wäre, sich für seine Idee zu opfern; so
hat er ganz gewiß nicht nur Augenblicke, sondern ganze Perioden ge-
habt, in denen er an sich irre wurde und sich haltlos erschien, weil
ihm nicht nur Kämpfe, sondern geradezu Leiden zuteil wurden, die keinem
erspart bleiben, der hochstrebenden Sinnes doch das Maß seines Könnens
überschätzt, wenigstens soweit dieses für das erwählte Ziel in Betracht
käme. Denn ganz einseitig ist nur selten das geistige Vermögen der
Begabteren. Tritt nun an diese das oft recht harte Gebot des Lebens:
»laß die anderen Seiten deines Könnens und Strebens völlig ruhen, ja
völlig verkümmern!«, dann entwickelt sich in vielen ein schwerer seelischer
Konflikt, der den Erfahrungssatz, daß erst in der Beschränkung sich der
Meister zeige, nicht anerkennen will und eben Kämpfe und Leiden zeitigt.
— Minderhochstrebende, Nüchterndenkende werden durch solche
Lebensgebote minder schwer betroffen, weil sie sich in die ihrer Natur
besser gemäße Beschränkung fügen, selbst wenn sie sich darin auch
nicht gerade gefielen. Daß diese Minderhochstrebenden auch Minder-
begabte seien, soll damit aber nicht gesagt sein, denn daß die Vor-
stellung von der geistigen Minderwertigkeit und allgemeinen Gleichförmig-
keit der breiteren Volksmassen durchaus unzutreffend sei, erfährt jeder,
der von Berufswegen sie kennen lernte; denn auch in ihnen fehlt es
durchaus nicht an ausgeprägten Individualitäten und Persönlichkeiten.
Wenn sie aber nicht so häufig hervorzutreten geneigt sind, so liegt
das daran, daß sie frühzeitig gezwungen waren, sich nach der Decke zu
strecken, und deshalb von vornherein sich von unlösbaren Problemen
fern hielten, also in die Gefahr, Problematiker zu werden, nicht gerieten.
Boodstein: Problematische Naturen usw. 499
Wer trotzdem — trotz seiner gelähmten Flügel, trotz sonstiger Mängel
physischer, materieller, vielleicht psychischer Art; trotz der Ungunst
äußerer Verhältnisse — sich auf das hohe Meer wagt, braucht sich
wenigstens nicht zu wundern, wenn äußerer und innerer Erfolg sich ihm
versagt. Ein in solchem Sinne vielleicht wagemütiges, aber schließlich
doch verfehltes Jugendleben, denn Jünglingsjahre erfreuen sich oft an
brausendem Verlangen und Hoffen, läßt sich schon ertragen, wenn nur
in der Zeit des eigentlichen Schaffens und des Begründens fruchtbaren
Wirkens die Vernunft obsiegt und sich der gewiesenen Ordnung doch
einfügt. Wer aber vermöge der verfehlten Ziele zugleich die sittliche
Richtung nicht einzuhalten vermag, der verkommt und wird ungenieß-
bar nach dem Sprichwort: Der ist ein unbrauchbarer Mann, der
nicht befehlen und nicht gehorchen kann. Problematisch ist er
dann nicht mehr. — Doch verlassen wir nun das Gebiet zum Teil
spekulativer Betrachtungen und wenden uns den Ursachen zu, die auch
schon in der Jugend das Erstehen problematischer Naturen be-
günstigen können. Wollte man aus der Zahl z. B. Strümpells in
seiner Pädagogischen Pathologie oder der Lehre von den
Fehlern der Kinder (in der IH. Aufl. sind auf Seite 95 als Zahl
der letzteren über 300 angegeben) auch auf die Zahl der Ursachen
schließen, so käme man zwar zu einer geradezu erschrecklichen Zahl,
und würde doch zu keiner Klarheit kommen, da viele der erwähnten
Fehler zwar Begleiterscheinungen solcher Naturen sein können,
aber noch lange nicht einen Grund für ihr Vorkommen abgeben und
erkennen lassen. Überdies dürften bei den meisten Problematikern ver-
sehiedene Umstände zusammen wirken, Umstände oft inhaltlich gerade-
zu entgegengesetzter Art, so daß es schwer wäre, irgend einer dieser
Begleiterscheinungen eine Schuld für den Widerstreit der Gefühle
und Strebungen, für den ganzen seelischen Zwiespalt des Proble-
matischen allein zuzuschreiben. — Weiter hat jeder Mensch seine Fehler
und der erste Idealmensch soll noch geboren werden: wir sind
allzumal Sünder. — So kämen wir bei einem Versuch auf Grund der
Strümpellschen Liste schlechterdings weder zu einer Erklärung noch zu
einer wirklichen Beschreibung dieser Naturen, oder wir müßten uns alle
auch als Inhaber bezüglicher Qualitäten erklären, was doch wohl nicht
zuträfe —
Wir tun demnach gut, eine andere Gruppierung etwa in der Weise
zu versuchen, daß wir erstens in unserer Körperlichkeit, weiter in
unserer seelischen Verfassung und schließlich in einer Reihe von
außerhalb uns liegenden, aber mitwirkenden besonderen Ver-
hältnissen, sowie in einem Zusammentreffen mehrerer geeigneter
Umstände aus allen Gruppen auch unerwünschte Entwicklungs-
möglichkeiten in Rechnung ziehen und daraus schließen, daß bei
solcher Lage der Dinge, schon bei einiger Disharmonie der Trieb-
kräfte eine harmonische Ausgestaltung der Frucht, also beim Menschen
seines Tuns und Treibens ein ihm selbst genügendes und auch die anderen
zufrieden stellendes Ergebnis kaum haben kann, falls er nicht von vorn-
32*
500 A. Abhandlungen.
herein sich zu einer vernünftigen Resignation bestimmen ließe und sich
sagte, daß schon das Bewußtsein, das Gute gewollt und erstrebt zu
haben, befriedigen müsse und könne. —
Wenden wir uns demgemäß zunächst solchen Ursachen zu, die mit
‚unserem Leibesleben in Verbindung stehen, so kann schon die bloße
Herkunft aus zweifelhaften Verhältnissen von oft bestimmendem
Einfluß sein. Greifen wir noch einmal auf Spielhagens Roman zurück,
so bietet uns der Hauptheld desselben, Oswald Stein, bemerkenswerte
Gesichtspunkte. Er ist ein Kind der Liebe, hat eine sehr schöne Mutter,
deren illegitime Mutterschaft aber legalisiert wird durch einen edelmütigen
Mann mit einer Pygmäengestalt, einen alten Kandidaten, der als Sprach-
lehrer seinen Unterhalt gewinnt, mit peinlichster Gewissenhaftigkeit der
übernommenen Vaterpflicht sich widmet, aber den Pflegesohn zur Ab-
neigung und Verachtung des Adels erzieht, weil ein Adeliger seinerzeit
sich an der Mutter Oswalds vergangen hatte. Daß er aber damit doch
die unauslöschlichen Spuren von seiner Abkunft, körperlich wie geistig,
nicht verwischen kann, ergibt sich im weiteren: die Ähnlichkeit mit
seinem Vater bleibt unverkennbar, äußerlich und innerlich, an ihm haften;
seine Schönheit und Gewandtheit zieht zumal die Weiblichkeit mächtig
an: ungewollt macht er Eroberungen — und gibt sich ihnen leiden-
schaftlich hin; aber auch ihm fehlt die Beständigkeit; denn seine Natur
sträubt sich gegen jede Ordnung; alles Neue, selbst das Alltägliche, so-
lange es neu ist, zieht ihn unwiderstehlich an; aber sein sanguinisches
Temperament läßt Sonnenschein und Sturm in seinem Gemüte häufig
wechseln, und auf Momente übermütiger Lust folgt schnell an Schwermut
grenzende Niedergeschlagenheit. Man darf sich deshalb nicht wundern,
daß Oswald, der den Weg, dem er selbst folgen sollte, nicht deutlich vor
sich sah, einem anderen als Lehrer den Weg zu weisen nicht sehr
geeignet war. Auf den ihm gemachten Vorwurf: du kannst nicht treu
sein! antwortete er: ich leide sehr an närrischen Einfällen — und dem-
gemäß war er wenig geneigt, die stolze Kraft seiner Zöglinge im Keime
zu brechen — weil er durchaus nicht zu denjenigen Männern gehörte,
die für Haus und Schule und Leben, die sich doch gegenseitig unter-
stützen sollen und so viele gemeinsame Aufgaben haben, das nötige
Verständnis, die unentbehrliche Selbstzucht und den heiligen Ernst besitzen.
Alle diese Keime mögen sich schon während seiner Schul- und Studien-
zeit gezeigt haben; wenigstens können wir solches an seinem jugendlichen
Freunde Bruno, in welchem auch die gleiche Leidenschaftlichkeit pulsierte,
wahrnehmen. —
Daß auch für Andere gewisse körperliche Erbstücke zum Ver-
hängnis werden können: Schönheit und Wohlgestalt ebenso wie Häßlich-
keit und Mißgestalt; Gesichtsform und Gesichtsfarbe; Schlitzauge, krumme
Nase, wulstige Lippe und auch noch mancherlei in Wuchs und Glieder-
bau usw., ist weltbekannt, obwohl doch anerkannt werden müßte, daß
derlei Äußerlichkeiten einen Einfluß auf die Entwicklung des Denk-,
Empfindungs- und Willensvermögens nicht auszuüben brauchten und
ausüben dürften. Aber wenn in älterer Zeit die Fürsten als Hofnarren
Boodstein: Problematische Naturen usw. 501
Bucklige und Mißgestaltige, Zwerge und andere mit auffallenden Formen
Behaftete bevorzugten; so mag das damit zusammengehangen haben, daß
gerade derlei Abweichungen von den alltäglichen Erscheinungsformen bei den
Betroffenen eine Weltanschauung bitterster, beißendster, zur Selbst-
ironie und zur Verspottung anderer herausfordernder Art hervorgerufen,
haben, die sich darin gefiel, auch anderen gegenüber boshafte Kritik zu üben
und an deren wirklichen oder vermeintlichen Vorzügen oder Fehlern sich
in ätzender Form schadlos zu halten für Nachteile, unter denen sie selbst,
offenbar ohne eigenes Verschulden, leiden mußten. Spricht doch
gelegentlich ein Satiriker von der »Schadenfreude als der reinsten
Freude, die der Mensch haben könne,« als ob solche auch ethisch
berechtigt wäre. — Läßt sich aber psychologisch verstehen, wieso infolge
der unverschuldet verletzten Freude an sich selbst, der gekränkten
Selbstliebe, eine Mißgunst gegenüber den Begünstigteren, ein Neid auf
diese entstehen kann; so dürfte sich auch verstehen. lassen, daß an-
geborene, ererbte, also ohne eigenes Verdienst erlangte Vorzüge im
stande sein können, Selbstgefühl, Hochmut, Überhebung, ja Verachtung
Minderbegünstigter groß zu ziehen, Eigenschaften, die sich zur aus-
gesprochenen Herrschsucht und Selbstsucht, zur Anmaßung im schlimmsten
Sinne, Unterdrückung, ja unter Umständen Beraubung des Rechtes
anderer steigern können — und so oft genug die Wurzel noch weiterer
und schlimmerer Übel zu werden vermögen. Die moderne Theorie der
Herrenmenschen kann auch auf solche körperliche Vorzüge sich
gründen. Erklärlich ist ferner, daß Gemeinschaften von minder ent-
wickelter Kultur an ihre Spitze gewöhnlich diejenigen berufen, die durch
Größe, Stärke, Mut und Ausdauer, Schönheit — kurz und gut durch be-
sondere äußere Merkmale allen anderen gegenüber sich hervortun, und
sich durch diese Vorzüge gewissermaßen als zur Führerschaft der anderen
bestimmt legitimieren.. Daß Erscheinungen dieser Art auch schon in der
Jugend sich bemerklich machen, dürfte jeder mit der Jugend Verkehrende
oft genug erfahren haben; wenn auch bloß äußerliche Vorzüge in
kulturell vorgeschrittenen Verhältnissen, in denen die geistigen Vorzüge
schon besser gewürdigt werden, nicht ohne weiteres den unbestrittenen
Vorrang behaupten werden. Immerhin bilden auch sie unter allen Um-
ständen eine besondere Empfehlung und bahnen so die Wege zu bevor-
zugterer Geltung.
Was betreffs körperlicher Vorzüge oder Mängel bisher allgemein
gesagt ist, gilt auch insbesondere für Personen, die in ihren Sinnes-
organen bevorzugt oder benachteiligt sind; nehmen erstere in ausgiebigster
Weise den Nutzen wahr, den ihnen die Schärfe der einzelnen Organe
darbietet, so ersteht bei den letzteren, zumal wenn sie sich des Schadens
bewußt werden, den Sinnesmängel ihnen bereiten können, außerordentlich
leicht ein oft durchaus unberechtigtes Mißtrauen gegenüber den Besser-
gestellten: dem Schwerhörigen oder Tauben erscheint jedes von anderen
gesprochene Wort als in böswilliger Weise gegen sich gerichtet; der Blinde
oder Blödsichtige traut dem vorsichtigen und treuen Führer zu, ihn auf
Irr- oder schlecht gangbaren Pfaden zu geleiten oder sonst ihm kleine
502 A. Abhandlungen.
Ungelegenheiten zu bereiten, um ihm seine Unbeholfenheit fühlbar zu
machen. Dieser Mangel an wirklicher Einsicht in die obwaltenden Ver-
hältnisse zeitigt bisweilen auch Charakterzüge bedauerlicher Art. Mangel
an Vertrauen und auch an Aufrichtigkeit, Neid, Furcht, Hinterhaltigkeit,
ja Undankbarkeit, kurz die Wurzeln aller möglichen Übel bilden sich bei
solchen Stiefkindern der Natur oft ganz unwillkürlich aus und zeitigen
recht unliebsame Gemütszustände, die selbst durchaus willigen Helfern
die Hilfeleistung verleiden können. Treten, was auch bisweilen der
Fall ist, hierzu noch wirkliche Krankheitserscheinungen — eine Dis-
position zu krampfartigen, hysterischen, epileptischen Anfällen, Nerven-
zuckungen — kurz Erregungen, die nicht nur die Herrschaft über den
Körper schwer beeinträchtigen, sondern auch die Achtsamkeit auf sich selbst
wie auf die Außenwelt behindern, ja Störungen des Gefühls für Ver-
antwortlichkeit, für Recht und Billigkeit bedingen und weder den be-
dürfnissen des Augenblicks noch der näheren und späteren Zukunft die
gebührende Rechnung tragen, so braucht man sich nicht zu wundern,
daß bei der Wiederkehr des vollen Bewußtseins über die geschaffene
Lage eine tiefe Niedergeschlagenheit und Verzagtheit Platz greift, die alles
andere eher ist als ein Zufriedensein mit sich selbst. Wer so zeitweilig
— wie man sagt — ganz außer sich geraten ist, der kann weder sich
selbst, noch anderen mit dem genügen, was er zustande gebracht hat. —
So können also aus unserer Körperlichkeit und der Beschaffen-
heit ihrer Organe geistige und Willensbetätigungen unerfreulicher,
problematischer d. h. unzureichend zu erklärender und zu begründender
Art sich herausbilden oder wie Schiller in »Ideal und Leben« es be-
zeichnet: »nur der Körper eignet jenen Mächten, die das dunkle
Schicksal flechten.«e Und es ist weiter begreiflich, daß Gefährdungen
solcher Art besonders unter jüngeren Menschen, die weder durch die
reifere Erfahrung noch durch Schaden klug gemacht oder behütet werden,
leichter Opfer finden, als unter älteren, die gewisse Sturm- und Drang-
perioden schon hinter sich haben und deshalb besser auf der Hut sein
dürften. Von einem »Unterliegenmüssen braucht aber auch bei Jüngeren
nicht die Rede zu sein, und zwar ebensowenig wie bei Älteren, für welche
doch oft genug immer noch das an anderer Stelle des Gedichtes gebrauchte
Wort: »nur der Starke wird: das Schicksal zwingen, wenn der
Schwächling untersinkt«, auch gelten kann. Es wird also darauf an-
kommen, daß sich Jeder ebenso der ihm zuteil gewordenen Kraft, wie
seiner etwa ererbten, sonst überkommenen oder vielleicht durch eigene
Schuld zugezogenen Unkraft bewußt werde und möglichst Rechnung trage.
Wer dann bemüht ist, das Seine zu tun, Vernünftiges zu wollen,
nach Idealen — die zumeist der Jugend erreichbar erscheinen, und
oft fürs Leben vorhalten — zwar zu streben, aber vor allem in seinem
Leibesleben nach Möglichkeit des Genusses wandelbarer Freuden
sich zu enthalten, der dürfte, selbst wenn er gelegentlich fehlt und irrt,
sich wenigstens vor schwerstem Schaden hüten und dem ungeheueren
Widerstreit entgehen, der das Leben ohne Genuß verzehrt. Denn
darin liegt auch in der leiblichen Organisation des Menschen, der ja,
Boodstein: Problematische Naturen usw. 503
verglichen mit den Organen mancher Tiere und Pflanzen, diesen nieht
gleich günstig gestellt ist, ein Vorzug, daß seine Organe, soweit sie
nicht die Kraft haben, aus sich selbst heraus zu wirken, doch vermöge
des Zusammenhangs aller — auch der geistigen — Kräfte ausgebildet
werden können in einer Weise, daß sie ihm nicht nur die Herrschaft
über die anderen Geschöpfe, sondern auch über sich selbst, zumal seinen
Leib ermöglichen und dauernd sichere. In dieser Richtung schon
möglichst früh auf die Jugend einzuwirken, ist zunächst zwar Sache der
Eltern, später zugleich auch die der Lehrenden und Pflegenden;
hierin kann aber zu große — durch Gefühlsregungen beeinflußte — zu
zärtliche Fürsorge viel verderben. Paradox klingt, aber zutreffend ist
das geistreiche Wort eines Menschenkenners: gerade solche Frauen
— bezüglich auch Väter — werden zu schwachen Müttern, in denen die
Mutter zu stark ist, d. h. in denen der Pflege und Fürsorge usw. das
Übergewicht über ruhige, sachliche Erwägungen und Maßnahmen ein-
geräumt worden ist. —
Ergibt sich aus dem Bisherigen, daß auch der Einfluß des Leibes-
lebens auf die Erzeugung problematischer Existenzen durchaus nicht zu
unterschätzen sei, so ließ sich doch schon aus der eben gemachten
Bemerkung über den Zusammenhang aller im Menschen vor-
handenen Kräfte, und demnach auch der seelischen, erkennen, daß
gerade diese letzteren die wesentlich bestimmenden und massgebenden
sind und sein müssen. Man entschuldigt oft genug Fehlgriffe und Ver-
irrungen mit dem Wort: der Geist ist. willig und das Fleisch ist
schwach; meint aber streng genommen das Gegenteil: weil das Fleisch
sich zu stark geltend machte, so hat sich der Geist schwach gezeigt,
und dem Fleische nachgegeben. Goethe hat ganz recht, wenn er behauptet,
daß wir unseren Fehlern gar zu gern das Gewand eines gültigen Gesetzes
umhängen und uns auf Grundsätze berufen, die so nur ein Supple-
ment unserer Daseinsbedingungen ausmachen.
Seelische Vorgänge sind es also im wesentlichen, die unserem Denken,
Fühlen, Wollen, unserm Tun und Treiben bisweilen den Stempel des
Rätselhaften, Folgewidrigen, Unfertigen, Unvollkommenen aufdrücken und
dadurch den Einzelnen als Problematiker erscheinen lassen. Das
braucht er aber durchaus nicht zu sein, wenn er auch als solcher er-
scheint, weil anderen zum Erklären seines Wesens der Schlüssel fehlt.
Denn gerade schöpferischen Naturen blüht oft solches Verkannt-
werden, solches Gehaltenwerden für Phantasten und unpraktische Leute,
weil sie alltäglich begangene Wege verlassen, um neue, vorteilhaftere zu
bahnen. Freilich gehört zum Austragen neuer Gedanken und zum Pflastern
neuer Straßen Zeit und gründlich durchgearbeitetes Material; und
schwerfällig, ungangbar, ja unmöglich erscheint manche neue
Methode, die dem Gewohnheits-Menschen nicht sofort einleuchte. Man
kann deshalb verstehen, wie im Mittelalter alles nicht von kirchlichen
Organen Approbierte dem Verdachte unerlaubter, gotteswidriger Kräfte
unterlag und oft nicht nur in unliebsamster Beurteilung, sondern oft mit
schwerster Buße bestraft wurde Und auch in unserer Zeit gibt es noch
504 B. Mitteilungen.
Gebiete, deren Vertreter jede Abweichung von der hergebrachten Auf-
fassung schroff abweisen, sie schlechterdings nicht dulden, sondern ge-
gebenenfalls aufs bitterste verfolgen — und zwar gilt das Aufrechthalten
des allein seligmachenden Dafürhaltens nicht nur im Bereiche der
kirchlichen Überlieferungen, sondern auch mit Bezug auf Auffassungen,
die wie z. B. die politischen und die privatrechtlichen Verhältnisse von jeher
mancherlei Wechsel unterworfen waren. Glücklicherweise sind auf rein
wissenschaftlichem und auch auf ethischem Gebiete und in der An-
wendung ihrer Grundsätze auf die Praxis des Lebens die gegen-
wärtigen Generationen duldsamer; ja man kann sagen, wundersüchtiger
und wundergläubiger geworden, als die früheren es waren. Die Ein-
blicke in das Walten der Natur, das Verständnis der geistigen Kräfte des
Menschen haben bewirkt, daß man jetzt vieles nicht nur für möglich,
sondern für gut ausführbar hält, was früher mit Hexenprozessen, ja mit
dem Scheiterhaufen bedroht worden war. — (Forts. folgt.)
B. Mitteilungen.
1. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen.
Von Ernst Willich.
(Fortsetzung.)
Verfasser unterhielt sich einmal in O.s Gegenwart mit einem Ento-
mologen über den Totenkopf. Nachher erzählte O. seiner Mutter, es sei
jemand gestorben. Ein andermal wurde bei Tisch davon geredet, daß ein
(0. bekannter) Herr in einen Verband eingetreten sei. Dies veranlaßte O.,
in einer Gesprächspause zu fragen, wer den Herrn verbunden habe. Als
bei einer andern Gelegenheit O.s Mutter erzählte, daß Frau A. mit einer
Bitte zu Ihr gekommen sei, dachte O. an eine Wasch-Bütte. Vom Gottes-
dienst versteht O. so ziemlich nichts. Noch nie aber hat er die An-
kündigung eines gebotenen Feiertags (unterrichtsfrei!) überhört. In der
Adventszeit erzählte er einmal nach besuchtem Gottesdienst den Haus-
bewohnern in freudigster Stimmung, der Geistliche habe heute vom »heiligen
Mann« gepredigt, worunter man in X. den Nikolaus versteht. Darüber bei
anderen Kirchenbesuchern lebhafte Verwunderung. Schließlich stellte es
sich heraus, daß in einem verlesenen Hirtenbriefe in bezug auf den hl.
Borromäus die Wendung »heiliger Mann« gebraucht worden war. Auf
einem Spaziergange hörte er im Vorbeigehen von Passanten das Wort
Feuerwehr. Sofort bemerkte er im Tone der Neugierde: »Es ist etwas
passiert!« Überhaupt schnappt er auf diese Weise auffallend viel von den
Unterhaltungen seiner Nebenmenschen auf (ihre Namen, ihre Titel, ihre
Berufsarten, ihre augenblicklichen Vorhaben usw.) Es ist, als ob sein
Ohr fortwährend auf der Lauer läge, oder als ob bei ihm, der nie in
»Gedanken versunken« ist, sich die Aufmerksamkeit ausschließlich in die
Sinnestätigkeit konzentrierte,
1. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen. 505
Während einer kurzen Eisenbahnfahrt verfolgte er einmal mit un-
verhohlenem Interesse die Unterhaltung mehrerer Herren. Beim Aus-
steigen nach dem Beruf derselben befragt, gab O. prompt die richtige
Antwort: Viehhändler! Dabei war dieses Wort von den Reisenden selbst
nicht gebraucht worden, auch wies deren Äußeres durch nichts auf ihre
Tätigkeit hin. Auf Reisen und in Sommerfrischen sind die Tisch- und
Hotelgenossen O.s der Hauptgegenstand seiner Neugierde. Bleibt er
längere Zeit mit ihnen zusammen, so pflegt er erstaunlich rasch und
sicher über ihre Namen, ihre Herkunft, ihre Reisepläne und sonstigen
Verhältnisse orientiert zu sein. Einer Dame, die sich verabschiedete,
nannte er zu deren größtem Erstaunen die 4—5 Städte, die sie auf ihrer
Heimreise noch zu besuchen gedachte Wie genau und sicher sich die
aus Neugierde aufgefangenen Worte seinem Gedächtnis einprägen, zeigt
folgendes Beispiel. Eine Tante von O. plante eine Reise nach Italien.
Wiederholt war O. zugegen, als diese Tour im Familienkreis besprochen
wurde. Bei der Zusammenkunft mit einer befreundeten Dame erzählte
er: Meine Tante reist nach Rom, Genua, Neapel, Pisa, Marseille. Die
Einprägung dieser Namen im Unterricht hätte ihm sicher ungeheure Mühe
verursacht; so aber behielt er sie spielend.
Ein andermal wurde ganz beiläufig von einem Geschäftsgang gesprochen,
den Verfasser nach etwa einer Woche an einem bestimmten Termine zu
erledigen hatte. O. verriet durch keine Miene ein Interesse an dieser
Angelegenheit und sprach auch während der folgenden Tage kein Wort
davon. An dem betreffenden Tag beim Frühstück aber war O.s erste
Bemerkung: »Heute morgen muß Herr Y. auf die Bank!« Dabei ist aller-
dings zu bemerken, daß dieser Geschäftsgang für O. den Ausfall einer
Unterrichtsstunde bedeutete. Aber auch wo solch reale Motive nicht im
Spiele sind, zeigt O. für derartige Dinge jederzeit regstes Interesse. Über-
haupt leistet er auf: den Gebieten des alltäglichen praktischen Lebens als
»Erinnerer« ganz vorzügliche Dienste. Wenn in einem Geschäft etwas
gekauft, abgeholt oder abgegeben werden muß, wenn ein Paket fort-
zuschicken, ein Gratulationsbrief zu schreiben oder eine Kommission zu er-
ledigen ist, kurz bei all jenen kleinen, laufenden Pflichten, die die Eigen-
schaft haben, leicht vergessen zu werden, kann O. ein Memorandum ersetzen.
Auch Namen, Adressen und Nummern behält er mit großer Sicherheit.
Selbstverständlich muß es sich aber immer um Personen und Dinge handeln,
die zu ihm in irgend welcher persönlichen Beziehung stehen bezw. in
seinen Interessenkreis fallen.
Bezeichnend ist, daß O., der Mitteilungen über Tagesneuigkeiten, über
Straßenereignisse, über Todesfälle oder auch über weniger wichtigere Be-
gebenheiten mit heißer Gier aufnimmt und dem man darüber nicht genug
erzählen kann, Geschichten, Märchen und dergl. direkt abweist. Selbst
den kleinsten und einfachsten Kindererzählungen gegenüber verhält er sich
absolut teilnahmlos.. Wurde ihm der Appetit dafür durch den Unterricht
verdorben? Oder vermißt er bei Geschichten, die eben keine »Neuigkeiten«
sind, von denen weder die Dienstmädchen noch die Stundenfrau noch der
Milchmann sprechen und die sich nicht an bestimmte und bekannte Per-
506 B. Mitteilungen.
sonen und Schauplätze knüpfen, den Reiz der Aktualität? Oder macht es
ihm Mühe, sich den Inhalt einer Erzählung (namentlich die zeitliche Auf-
einanderfolge der einzelnen Vorgänge) phantasiemäßig vorzustellen und zu
vergegenwärtigen? Jedenfalls fällt es ihm sehr schwer, den logischen
Verlauf und Zusammenhang einer geschichtlichen Handlung zu erfassen.
Dies beweist am anschaulichsten sein Verhalten im Theater. Obwohl für
ihn nur Märchenspiele und dergl. in Betracht kommen, bleibt ihm doch
in der Regel der Sinn der Stücke völlig dunkel, selbst dann, wenn ihm
vor und während des Spiels entsprechende Erklärungen gegeben werden.
Er sieht immer nur das Einzelne und nie den Zusammenhang, den zu
erfassen er gar kein Bedürfnis fühlt. Wenn einer hinfällt und heult oder
einen dummen Streich ausführt, oder wenn zwei sich prügeln oder einem
dritten einen Schabernack spielen, solche und ähnliche grotesk-alberne
Episoden erregen seine Heiterkeit, ohne daß er sich über das Warum und
Wozu oder über die Pointe eines Witzes Gedanken macht. Dabei kann es
vorkommen, daß ihn eine an sich erschütternde Szene belustigt. So lösten
z. B. die herzzerreißenden Töne, mit denen Schneewittchen im Walde den
Jäger um sein Leben anfleht, in O. unbändiges Vergnügen aus, und seine
Freude wäre sicher noch größer gewesen, wenn der Jäger seinen Auftrag
erfüllt hätte. Nachher darüber befragt, stellte es sich heraus, daß O. in
dem Jäger einen Schutzmann erblickt hatte, der ein unartiges Mädchen
strafen sollte.
Ein scharf hervorstechender aber merkwürdiger Zug in O.s Charakter
ist seine Begehrlichkeit. Auch in ihr äußert sich, wenn auch in sehr
primitiver und minderwertiger Form, geistige Aktivität. Eigentlich
müßte man von einem blinden Begehrlichkeitstrieb reden: Trieb, weil er
mit der Heftigkeit und Stärke eines solchen in die Erscheinung tritt;
blind, weil die Gegenstände des Begehrens dabei eine relativ untergeordnete
Rolle spielen. ©. will einfach schlechthin »haben«; das »Bekommen« an
sich macht ihm Vergnügen. Bildlich gesprochen sitzt dieser Trieb fort-
während auf der Lauer, und wo sich ihm Gelegenheit zur Befriedigung
bietet, stürzt er heißhungrig hervor. Mit Bettelsucht, Sammelwut, Klepto-
manie u. dergl. hat er nichts zu tun. Alles im Hause ist vor O. sicher,
selbst Eßwaren und Süßigkeiten. Was ihm nicht gehört, läßt er liegen,
auch wenn es sich um Dinge handelt, die ihm begehrenswert erscheinen.
Damit hängt zusammen die scharfe Ausprägung des Begriffes »mein«.
»Sein« Eigentum kennt er ganz genau, von den Kleidungsstücken bis
herab zum abgenutzten Bleistiftstummel. Aber auch hier weiß er nichts
von Geiz. Gerne teilt er von seiner Habe mit, und jenes hamsterartige
Aufspeichern und eifersüchtige Bewachen des eigenen Trödelkrams, wie
man es bei Schwachsinnigen so vielfach findet, ist ihm fremd. Die meisten
Dinge haben für ihn nur im Moment des Bekommens Wert, und diesen
Moment recht oft zu erleben, ist Ziel seines Dichtens und Trachtens.
Vielleicht versteht man diese eigenartige psychische Erscheinung am
besten, wenn man versucht, sie genetisch zu erklären. Jedes Kind ist
von Natur aus bestrebt, sich möglichst viele Lustgefühle zu verschaffen.
Darum wollen kleine Kinder in ihren ersten Lebensjahren »alles haben«.
1. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen. 507
Mit der Zeit aber machen sie die Erfahrung, daß nicht jedes Objekt ihnen
Vergnügen bereitet. Sie fangen an, von diesem Gesichtspunkt aus die
Dinge verschieden zu bewerten. Die einen bleiben Gegenstand des Be-
gehrens, die andern werden als wertlos oder indifferent abgelehnt. Zu
dieser grundlegenden Erfahrung gesellt sich später die weitere, daß nicht
alle Wünsche erfüllbar sind. Das Kind hört von selbst auf, Unmögliches
zu verlangen, sein natürliches Begehren hat eine erneute Beschränkung
erfahren. Zuletzt, mit fortschreitender Entwicklung, lernt das Kind aber
auch auf die Erfüllung möglicher Wünsche verzichten. Aus dem rohen
Trieb des blinden, sinnlichen Begehrens ist ein vernünftiges, sittliches
Wollen geworden. Bei O. fiel nun dieser Veredelungsprozeß des ur-
sprünglichen natürlichen Begehrens fast ganz aus. Der jedenfalls schon
von Geburt an außerordentlich starke und wohl auch durch eine allzu
nachgiebige Erziehung in seiner Entfaltung zu sehr begünstigte Begehrlich-
keitstrieb steigerte sich von Jahr zu Jahr, ohne durch die Bildung hemmender
Vorstellungen wirksame Regulative zu erhalten. So ragt heute aus O.s
Seelenleben ein Trieb hervor, der an Stärke und Intensität den Leiden-
schaften erwachsener Personen gleicht, der aber seinem Inhalte nach dem
ziellosen Begehren unvernünftiger Kinder an die Seite zu stellen ist.
O. pflegt nach allem, was ihm überreicht wird, mit nervöser Hast
und Gier zu greifen. Nicht selten kommt es vor, daß er einem den be-
treffenden Gegenstand buchstäblich aus der Hand reißt. Man hat den
Eindruck, als quälte ihn die Furcht, die Sache könnte ihm entgehen.
Tatsächlich wird er auch, wenn man Miene macht, ihm das für ihn Be-
stimmte vorzuenthalten, im höchsten Maße ungeduldig und aufgeregt, ja
in seinen Bemühungen um die Erlangung des fraglichen Objekts sogar
direkt heftig und grob. Dabei spielt das »Was« eine höchst untergeordnete
Rolle. Nach einem Spazierstock, der ihn in Begeisterung versetzt, greift
er beinahe ebenso gierig wie nach einem Taschenmesser, mit dem er
nichts anzufangen weiß, oder einem bunten Atlas, dessen Bedeutung ihm
völlig dunkel ist. Sogar bei Einkäufen hat man Mühe, seine Nehmgier
im Zaum zu halten, da er auch hier bei mangelnder Beaufsichtigung sich
nicht scheuen würde, dem Verkäufer die Ware aus der Hand zu reißen,
und zwar einerlei, ob der Kaufgegenstand für ihn oder für die Haushaltung
bestimmt ist, ob es sich um eine Tüte Schokolade oder um ein Paket
Seife handelt. Übergibt man ihm ein für ihn bestimmtes Paket, so reißt
er die Papierhülle in wüsten Fetzen herunter. Von einem sorgfältigen
Entwickeln und Öffnen ist bei ihm keine Rede. (Allerdings ist hierbei
auch manuelle Ungeschicklichkeit mit im Spiel.) Lange dauerte es, bis
man ihm angewöhnt hatte, bei Spaziergängen nicht nach jedem von
Straßenhändlern angebotenen Gegenstand zu greifen. Obwohl es ihm nicht
entfernt einfällt, aus eigenem Antrieb auch nur ein einziges Wort zu
lesen, ist er doch bei jeder Gelegenheit leidenschaftlich darauf bedacht,
Kataloge, Programme, Prospekte, Annoncenzettel usw. zu erwischen. Beim
Besuch einer Gemäldesammlung gewahrte er, daß an der Kasse Kataloge
vertrieben wurden. Obwohl ihm Bilder höchst gleichgültig sind und obwohl
ihm für gewöhnlich alles »Gedruckte« einen Schrecken einjagt, bettelte er
508 B. Mitteilungen.
doch über eine Stunde hartnäckig um ein solches »Buch«. Mit derselben
Gier sucht er bei Benutzung von Straßenbahnen, beim Besuch von öffent-
lichen Etablissements, bei Garderobeablagen usw. in den Besitz der be-
treffenden Billets und Karten zu gelangen. Diese Beispiele zeigen deut-
lich, daß es sich hiebei mehr um einen nackten Nehmbetrieb als um ein
von bestimmten Vorstellungen determiniertes Begehren handelt.
Am Weihnachtsfeste pflegt O. sich mit einem wahren Freudengeheul
auf seinen Gabentisch zu stürzen, und totunglücklich würde er sein, wenn
das Christkindchen, an das er trotz seiner 18 Jahre noch glaubt, ihn
überginge. Dabei bereitet ihm aber die Aufstellung des Wunschzettels
vor dem Weihnachtsfeste stets die größte Verlegenheit, weil er außer ein
paar stereotyp wiederkehrenden Spielgegenständen, von denen weiter unten
noch die Rede sein wird, nichts zu wünschen weiß. Und was ihm das
Christkindchen auch bringen mag, stets ist die Freude groß, einerlei ob
es sich um »nützliche« Gegenstände oder um Spielsachen handelt, ob er
mit den Dingen etwas anzufangen weiß oder nicht, ob sie die Erfüllung
eines Wunsches darstellen, oder ob er sie bereits besitzt. Aber ebenso
rasch ist seine Freude auch verrauscht. Die meisten Gaben liegen schon
am andern Tag unbeachtet im hintersten Winkel des Spielschrankes. Was
jedoch mächtig in ihm auflodert, das ist der Trieb: »Ich will etwas
haben!« Wenn O. am heiligen Abend von seiner Mutter überreich be-
schenkt wurde, so beschäftigt sich am Christtag Morgen sein ganzes Sinnen
und Trachten doch nur mit der noch ausstehenden Bescherung bei Tante A.
Und ist auch diese erledigt, dann brennt er vor Verlangen nach der Über-
raschung bei Tante B. usw. Nie ist er unglücklicher, enttäuschter und
unzufriedener als nach den Weihnachtsfeiertagen, wenn, bildlich gesprochen,
sein am Christfeste aufgepeitschter Nehmtrieb sich wieder an die magere
Kost des Alltags gewöhnen muß. Nicht das Geschenk ist es, was ihn
in erster Linie erfreut, sondern das Beschenktwerden.
Von seinem Verhalten vor Schaufenstern war bereits die Rede.
Mögen diese mit Zuckerwaren oder Leckerbissen noch so verführerisch
locken, mögen sie die reizendsten und wunderbarsten Produkte der Spiel-
warenindustrie vor Augen führen oder durch originelle Reklametricks die
Beschauer in ihren Bannkreis ziehen, O. geht an ihnen gleichgültig vorüber.
Selbst Gegenstände, für die er eine ausgesprochene Passion besitzt, wie
Stöcke, Peitschen, Kleider usw., reizen ihn nicht. Was nützen ihm diese
Dinge, wenn er sie nicht bekommt? Seine Seele schreit nur: »Ich will
haben!«, und diese Begierde läßt ein bloß theoretisches Interesse nicht
aufkommen. Sobald er aber für einen Gegenstand praktisch interessiert
ist, d. h. sobald ein solcher für ihn in die Sphäre des Bekommens gerückt
ist, sucht er in den Schaufenstern direkt nach ihm. Sind ihm z. B. neue
Schuhe versprochen worden, so kommt er an keinem Schuhwarenlager
vorüber, ohne die Auslagen gründlich gemustert zu haben. Dabei pflegt
er dann vor jedem Schaufenster für eine andere Schuhsorte zu schwärmen,
auch läßt er sich, obwohl er selbst relativ viel Sinn für Mode und Eleganz
besitzt, in seinem Geschmacksurteil sehr leicht durch andere beeinflussen.
Ihm kommt es hauptsächlich darauf an, daß er neue Schuhe, neue Hosen,
2. Zeitgeschichtliches. 509
neue Krawatten usw. bekommt; wie die Sachen hinterdrein ausfallen, ist
ihm ganz gleichgültig. (Forts. folgt.)
2. Zeitgeschichtliches.
Wie Max Kirmsse im letzten Heft unserer Zeitschrift bereits kurz bemerkte
(Zum 80. Geburtstage des Geh. San.-Rates Dr. O. Berkhan), tritt Schulinspektor
Heinrich Kielhorn-Braunschweig wegen Kränklichkeit in den Ruhestand. Kiel-
horn ist als einer der ersten und als einer der tapfersten für das Hilfsschulwesen
jederzeit eingetreten. Vor allem aber ist er der Begründer des Verbandes der
deutschen Hilfsschulen geworden durch seinen am 4. November 1897 gehaltenen
Vortrag »Gründung eines Verbandes der deutschen Hilfsschulene. — Kielhorn wurde
am 2. September 1847 in Vallstedt geboren, besuchte seit 1869 zuerst die Wolfen-
bütteler, dann die Braunschweiger Lehrerbildungsanstalten, wurde 1877 Lehrer an
den Braunschweiger Bürgerschulen und leitete dann seit 1881 die Braunschweiger
Hilfsschule.
Am 26. März wurde in München eine Königliche Landesanstalt für
krüppelhafte Kinder und eine Königliche Orthopädische Klinik eröffnet.
Die Kosten belaufen sich auf 21/, Millionen Mark. Die neuen Einrichtungen ver-
sprechen besonders für den orthopädischen Unterricht wertvoll zu werden.
Der Stadtmagistrat von Fürth hat am 16. März 1914 folgende beachtenswerte
Bekanntmachung über den Alkoholmißbrauch bei Kindern erlassen: »Der
Genuß auch kleiner Mengen Alkohol ist nach unzweifelhaften wissenschaftlichen
Feststeilungen für Kinder in hohem Grade schädlich. Daher muß dringend davor
gewarnt werden, Kindern Bier zu verabreichen, was anscheinend hier insbesondere
des Abends zu geschehen pflegt. Personen, welche fremde Kinder in Kost und Pflege
nehmen, werden nachdrücklichst gewarnt, in solcher Weise die ihnen anvertrauten
Kinder zu benachteiligen; sie würden unter Umständen Bestrafung, jedenfalls aber
Entziehung der Erlaubnis zum Halten von Kostkindern zu gewärtigen haben.«
Ein Kursus zur Ausbildung und Fortbildung von Hilfschullehrern
soll vom 18. Juni bis zum 14. Juli 1914 in Leipzig stattfinden.
Über die Kinder und Jugendlichen in Fabriken teilen die Vierteljahrs-
hefte zur Statistik des Deutschen Reiches, 1913, 4, folgende Zahlen mit:
Kinder unter Jugendliche
14 Jahren (14—16 Jahre)
m. w. m. wW.
WE u a an en o ra a VOR 5388 289 597 150 658
WIE a aa A du 06 5970 332 882 172 535
1912. . a na Daran A ALIOU 6136 358 327 179 964
Zunahme 1912 gegen 1908. . 1103 748 68 730 29 306
Die Zahl der Kinder und Jugendlichen zusammen stieg von 1908 bis 1912 von
452 317 zu 552204 (99887 oder 22,8°,)., Am stärksten ist die Zunahme der
jugendlichen Arbeiter in der Metallverarbeitung und in der Maschinen- und Werk-
zeugindustrie. Daß die Zahl der jugendlichen Fabrikarbeiterinnen in der Textil-
industrie eine erschreckende Zunahme erfahren hat, nimmt kein Wunder.
Schulärzte für gewerbliche und kaufmännische Fortbildungs-
schulen anzustellen empfiehlt ein Erlaß des Ministers für Handel und Gewerbe
und des Ministers des Innern an die preußischen Regierungspräsidenten. Sie
sollen sich an der Berufsberatung beteiligen und hygienische Unterweisungen erteilen.
Über die Verhandlungen der sächsischen Tuberkuloseversammlung
(Herbst 1913) berichten ausführlich die »Blätter für das Leipziger Armen- und Für-
sorgewesen«, Nummer 110, Februar 1914, S. 674—675.
Stiftungen, Geschenke usw.: für ein Jugendheim der Stadt Weißen-
fels (Saale) ein Grundstück im Werte von 60000 Mark und 15000 Mark extra für
die Einrichtung.
510 B. Mitteilungen.
Der internationale Kongreß für Neurologie, Psychiatrie und Psy-
chologie findet vom 7.—12. September 1914 in Bern statt. Von den zur Ver-
handlung gelangenden Referaten interessieren die Leser unserer Zeitschrift besonders:
Die Erziehung junger Delinquenten (Ferrari-Bologna), Die Psychologie in der
Schule, Die Prüfzeichen der Intelligenz (Ziehen-Wiesbaden, Simon-Rouen, Des-
coeudres-Genf). Anmeldungen usw. an Dr. L. Schnyder, 31 Monbijoustraße, Bern.
Eine Ausstellung der pädagogischen Fachpresse der Welt soll in
Leipzig auf der Internationalen Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik versucht
werden. Die Leitung und Ausgestaltuug liegt: in den Händen des auf diesem Ge-
biete bestbekannten Leipziger Schulmanns Max Döring, dem jede Mitarbeit, nament-
lich hinsichtlich der ausländischen Fachpresse erwünscht ist (Leipzig-Lindenau,
Uhlandstraße 29).
Einen »Entwurf einer Stoffverteilung für einen stufenmäßig geordneten
Nüchternheits-Unterricht in der deutschen Volksschule gibt soeben der
Deutsche Verein abstinenter Lehrerinnen in dritter, vom deutschen Verein enthalt-
samer Lehrer mitbearbeiteter Auflage heraus. Der Entwurf erschien als Beilage
zu Nr. 3 der »Enthaltsamkeit« vom März 1914 und ist durch Lehrer F. Meinssen,
Bergedorf bei Hamburg, Am Birkenhain zu beziehen.
Zur Feststellung der geistigen Minderwertigkeit bei Jugendlichen
und ihrer strafrechtlichen Behandlung hat Leon A. Carley, Counsellor at
Law, 257 Broadway, New York, einen ausführlichen Fragebogen entworfen.
Der Bericht über den IX. Verbandstag der Hilfsschulen Deutsch-
lands zu Bonn (24., 25. und 26. März 1913), erstattet von Stadtschulrat Dr. Wehr-
hahn und Stadtschulinspektor A. Henze, ist im Umfange von 247 Seiten im Kom-
missionsverlag von Carl Marhold in Halle a. S. erschienen.
Ein ausführlicher Bericht über die Feier des 50jährigen Jubiläums der Alster-
dorfer Anstalten am 19. Oktober 1913 ging uns zu. (Norden, Druck von Diedr.
Soltau. 56 Seiten.)
Aus dem 28. Jahresbericht des Franz-Sales-Hauses in Essen-
Huttrop (für katholische idiotische Kinder beiderlei Geschlechts aus der Rhein-
provinz) geht unter anderm hervor, daß diese größte Anstalt dieser Art im Westen
Deutschlands (600 Kranke) neben ihrem engeren Zweck auch die dringenden
sozial-bygienischen und sozial-fürsorgerischen Aufgaben der Neuzeit nach Kräften
zu fördern bemüht ist. Auf die wertvollen Arbeiten des Oberarztes der Anstalt,
Dr. Kleefisch, ist in unserer Zeitschrift wiederholt hingewiesen.
Die Stadt Antwerpen hat unter Redaktion von M. C. Schuyten den
VIII. Jahrgang des »Paedologisch Jaarboek« herausgegeben (XVILI und 323 Seiten),
dessen Vertrieb für Deutschland Friedrich Brandstetter in Leipzig (Stephanstraße 20)
übernommen hat. Neben kleineren Arbeiten Schuytens bringt es einen Versuch, die
pädologische Literatur der letzten Jahre systematisch zusammenzustellen. Das so
gewonnene Verzeichnis umfaßt 4027 Arbeiten, darunter viele deutsche.
Das von der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge unter Schriftleitung von
Dr. jur. Frieda Duensing herausgegebene »Handbuch für Jugendpflege« ist
soeben vollständig geworden. Der stattliche Band (XIV und 874 Seiten) kostet
broschiert 15 Mark, gebunden 17 Mark (Verlag von Hermann Beyer & Söhne
[Beyer & Mann] in Langensalza). Das Handbuch wird für jeden, der in der Jugend-
pflege arbeitet oder zu arbeiten vorhat, zu einem wertvollen Örientierungswerk
warden. Daß es in alle Bibliotheken, vor allem in die unserer Volksschulen, hinein-
gehört, ist selbstverständlich. Im übrigen verweisen wir auf unsere Besprechung
in dieser Zeitschrift, Jg. XVII, 1 (Oktober 1912), 8. 46—47. Was wir damals auf
Grund unseres Studiums der ersten Lieferungen sagten, gilt für das ganze Werk:
es ist wahrhaft gediegen.
Die Schrift des Kieler Rektors Dannmeier »Kind und Alkohol«, die als
mustergültige Darstellung bestens empfohlen werden kann, wird vom Deutschen
Verein enthaltsamer Lehrer kostenlos jedem Lehrer und jeder Lehrerin auf Ver-
langen zur Verfügung gestellt. Man wende sich deswegen an Lehrer F. Meinssen,
Bergedorf bei Hamburg, Am Birkenhain.
D. Literatur. 511
»Aus der Jugendzeit« betitelt sich ein neues Bändchen der Sammlung
»Lebensfreude« (P. J. Tonger, Köln. 160 Seiten. Gebunden 1 Mark), das wie alle
andern Bändchen der kleinen Sammlung ein warm empfehlendes Wort an dieser
Stelle finden möge.
D. Literatur.
Vincenz, A, Zur Analyse des kindlichen Geisteslebens beim Schul-
eintritte. Mit 14 Tafeln. 66 S. Heft 90 der »Beiträge zur Kinderforschung
und Heilerziebung«. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1912.
Preis 2,40 M.
Die Entwicklung der psychischen Kräfte des Kindes kann die Schule nur
fördern, wenn der Lehrer eine genaue Kenntnis des kindlichen Geistes besitzt. Der
Vermittlung dieser Kenntnis dient die Analyse des kindlichen Geisteslebens. Ver-
suche zur Analyse des kindlichen Gedankenkreises sind von den Pädagogen seit
etwa 50 Jahren gemacht worden.!) Bei diesen kam es darauf an, die Vorstellungs-
welt des in die Schule eintretenden Kindes zu erforschen. Der Verfasser ist mit
diesen Versuchen nicht einverstanden. Er will nicht nur den Besitzstand des
Kindes an Vorstellungen feststellen, viel wichtiger ist ihm die Kenntnis der Ent-
wicklung des kindlichen Geisteslebens beim Schuleintritte.e Vincenz sucht daher
eine Lösung der Fragen: In welcher Weise hat das Kind die Vorstellungen auf-
genommen? Wie sind sie in seinem Geiste verankert? Wie bringt es sie zur Dar-
stellung? Welches sind die psychischen, physiologischen oder physischen Ursachen
der dabei zu beobachtenden Erscheinungen? zu erlangen. Bei seinen Untersuchungen,
die er nicht mit der ganzen Klasse, sondern nur mit einzelnen Kindern anstellt, er-
mittelt der Verfasser zuerst Wortvorstellungen, dann prüft er, ob die Kinder die
dazu gehörenden Sachvorstellungen haben. Zur Kontrolle benutzt Vincenz das
Bild und die Kinderzeichnung. Ergänzt werden die Untersuchungen durch Aus-
künfte seitens der Eltern und das Urteil des Arztes. Tabellen veranschaulichen die
Ergebnisse, ein Anhang von 14 Tafeln bietet Kinderzeichnungen. Die Ausführungen
und Untersuchungen des Verfassers wissen das Interesse der Leser zu gewinnen. ?)
Danzig-Langfuhr. Franz Matschkewitz.
Anton, G., Über die Formen der krankhaften moralischen Abartung.
Vortrag, gehalten in Berlin (Vortragreihe für Richter und Staatsanwälte im Be-
zirk des Königl. Kammergerichts). 18 S. Heft 99 der »Beiträge zur Kinder-
forschung und Heilerziehunge. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer &
Mann), 1912. Preis 0,30 M.
Der Verfasser spricht in seiner Schrift von der Bedeutung der Gefühle für
die Beziehungen der Menschen zueinander, vom Ausdruck der Gefühle in den
mimischen Ausdrucksbewegungen und von dem Vermögen, Gefühle anderer zu ver-
stehen. Dann geht er auf die Störung der Gefühle durch psychische Krankheiten
und mangelhafte Anlage ein. Er unterscheidet dabei krankhafte Veränderungen des
Gemütslebens und des Charakters, die bereits vollwertig entwickelte Individuen be-
1) Vergl. Karl Wilker, Die Analysen des kindlichen Gedankenkreises.
(Sammelreferat.) Zeitschrift für angewandte Psychologie, V, 1911, 5/6, 5. 516 bis
568. Anm. der Schriftleitung.
?) Wenn auf S. 51 als offene Frage hingestellt wird, »ob nicht der sogenannte
Hydrozephalus dadurch entsteht, daß die Abdampfung der Gehirnabsonderung in die
Nase unmöglich wird«, so muß man das doch als eine ganz bedenkliche Verirrung auf
ein dem Verfasser unbekanntes Gebiet bezeichnen. Bei einiger anatumischer Kenntnis
mußte ihm schon das Widersinnige dieser »offenen Frage« klar werden. Sehr
wahrscheinlich spielt das Ausweichen der Flüssigkeit nach dem Rückgratskanal bei
den Gehirnbewegungen eine Rolle. Anm. der Schriftleitung.
512 D. Literatur.
treffen und hebt die leichteren Formen von Manie, die chronischen Vergiftungen,
die krankhafte senile Charakterveränderung, die krankhaften Charakterveränderungen
bei der progressiven Paralyse und die Charakterveränderung des Epileptikers hervor.
Zu den moralischen Abartungen, welche seit der Kindheit oder seit der Pubertät
bestehen und häufig auf krankhafte Anlage und krankhafte Entwicklung zurück-
zuführen sind, rechnet Anton die geistig Infantilen, die Imbezillen und die Psycho-
pathen. Eingebende Betrachtung finden jene Typen, welche kurzweg als krankhaft
moralisch abgeartete bezeichnet werden.
Danzig-Langfuhr. Franz Matschkewitz.
Haase, Hermann, Zur Methodik des ersten Rechenunterrichts. Dritte
Auflage. VIII u. 141 S. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann),
1911. Preis geh. 2 M.
Das Buch bildet einen Beitrag zur Lösung der Frage über den Betrieb des
ersten Rechenunterrichtes. Die Anschauungen der Methodiker gehen hier sehr aus-
einander. Haase stimmt mit den Zählmethodikern und den Anschauungsmethodikern
nicht überein. Diese lassen sich bei ihren Untersuchungen von philosophischen Er-
wägungen über das Wesen der Zahl leiten, es müssen aber psychologische Gesichts-
punkte maßgebend sein. Nicht das Wesen der Zahl — das Wesen des Rechnens
ist (lie Hauptsache. Daher müssen sich die Untersuchungen auf die Vorgänge, die
sich beim Rechnen im Menschen abspielen, erstrecken. Haase gibt eine eingehende
Darstellung seines Verfahrens im ersten Teile seiner Schrift; eine Ergänzung des-
selben bietet der vierte Teil mit seinen ausgeführten Lehrbeispielen, während die
psychologische Begründung des Verfahrens im zweiten und dritten Teile erfolgt.
Das Buch, das in dritter Auflage erschienen ist, sei zur Klärung dieser wichtigen
Frage empfohlen.
Danzig-Langfuhr. Franz Matschkewitz.
Wehrhahn, Deutsche Hilfsschulen in Wort und Bild. Halle a.S., Karl
Marhold. 1913. XXI und 385 Seiten. Mit 279 Abbildungen, Grundrissen und
Plänen. Preis in Ganzleinen gebunden 15 Mark.
K. Basedow-Hannover hat dem beschreibenden Teil einen Überblick über die
Entwicklung des Hilfsschulwesens in Deutschland vorangeschickt. Ganz besonders
hebt er die Entwicklung des Verbandes der Hilfsschulen Deutschlands hervor.
Die Einzelberichte geben ein mannigfaches Bild mit einer Fülle von erfreu-
lichen Momenten. Ein Eingehen darauf ist garnicht möglich. Wohl aber dürfte
jeder Hilfsschulmann Anregung aus ihrem Studium empfangen. Nicht nur über die
örtliche Entwicklung erfährt man hier, auch über allgemeine Fragen, besonders über
die Lehrpläne, das Fortbildungsschulwesen usw.
Einzelne Berichte sind zu kleinen wissenschaftlichen Abhandlungen geworden,
etwa über die intellektuelle Entwicklung beim Schwachsiun, über die Vererbung,
über einzelne Krankheitsfälle usw.
Zu bedauern ist es, daß nicht alle Berichte Daten über die Unterrichts- und
Erziehungserfolge enthalten oder auch über die Ursachen des Defekts. Allerdings
wäre dazu vielleicht Beantwortung nach einem gegebenen Schema erforderlich ge-
wesen, durch die andererseits wieder die Darstellung gelitten haben würde Aber
auch aus dem Gebotenen läßt sich bei richtiger Benutzung viel wertvolles Zahlen-
material herausholen.
Vollständigkeit konnte und sollte nicht angestrebt werden. Das Gebotene läßt
aber alle Typen der Hilfschulerziebung erkennen.
So schließen denn auch wir uns denen an, die das Werk freudig begrüßten.
Jena. Karl Wilker.
Verantwortliche Schriftleitung für Abhandlungen und Mitteilungen: Dir. J. Trüper,
Sophienhöhe b. Jena; für Zeitgeschichtliches, Zeitschriftenschau und Literatur:
Dr. Karl Wilker, Jena, Weißenburgstraße 27.
Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
Sen
nn
A. Abhandlungen.
1. Die Alkoholkriminalität der Jugend.
Von
Landgerichtsrat Rupprecht- München.
Das englische Jugendgesetz von 1908 (Children act) hat in weiser
Würdigung der zahlreichen und schweren Gefahren, die gerade der
heranwachsenden Jugend nicht bloß aus dem Alkoholmißbrauch,
sondern schon aus dem Alkoholgenuß allein drohen, trotz oder viel-
leicht gerade wegen der sonst in England historisch gewordenen weit-
gehenden persönlichen Freiheit sehr strenge Bestimmungen über den
Verkehr mit alkoholhaltigen Getränken erlassen, insoweit die Jugend
in Frage kommt. Die Abgabe von solchen Getränken an Jugendliche
ist mit schweren Strafen bedroht; es ist verboten, daß Jugendliche
sich in Schanklokalen aufhalten oder dort die Gäste bedienen.
Wie notwendig solche Verbote auch für Deutschland wären, er-
gibt der einfache Hinweis auf die schlimme deutsche Unsitte, Kinder
schon in den ersten Lebensjahren in die Wirtschafts- und Schank-
stätten mitzunehmen, weil eben die Eltern besonders am Sonntag auch
eine Abwechslung und Unterhaltung haben wollen, die Kinder aber
allein und unbeaufsichtigt zu Hause zu lassen Bedenken tragen. War
es doch bis vor ganz wenig Jahren in München etwas herkömmliches,
daß sogar Säuglinge, von noch nicht schulpflichtigen Kindern gar
nicht zu reden, mit in den Trubel der Starkbierfeste (Salvator) von
den vergnügungssüchtigen, alle erzieherischen oder hygienischen Rück-
sichten mißachtenden Eltern mitgenommen wurden. Erst ein streng
überwachtes Polizeiverbot konnte diesem Unfug Einhalt tun. Für
schulentlassene Burschen, die dem Einfluß der Eltern und der Schule
entwachsen sind, fehlt es leider bei uns an so durchgreifenden Wirts-
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 33
514 A. Abhandlungen.
haus- und Alkoholverboten, wie England sie eingeführt hat. Gerade
für dieses Alter vom 15. bis zum 18. Lebensjahr sind solche Be-
schränkungen aber besonders veranlaßt; denn es bedarf keiner Aus-
führung, daß die affektaufpeitschende, die sittlichen Hemmungen aus-
schaltende Einwirkung des Alkohols in diesem Lebensabschnitt mit
seinem gesteigerten Triebleben und seiner ungefestigten Willensenergie
von besonders schweren Nachteilen für Körper und Geist der Jugend-
lichen begleitet sein muß.
Statistische Erhebungen über die schädlichen Einflüsse des Alkohol-
genusses in diesen Lebensjahren sind nur wenige vorhanden. Es ist
darum das Ergebnis der Ermittelungen, welche seit 1910 das bayer.
Justizministerium über den Einfluß des Alkohols auf die
Häufigkeit und die Erscheinungsformen des Verbrechens
anstellen ließ, von erheblichem Wert, wenn sie auch nur einen Teil,
freilich einen besonders sinnfälligen und die Allgemeinheit gefährden-
den Teil, der Alkoholfolgen umfassen. Aus den Ermittelungen läßt
sich, wenn auch diese amtliche Statistik in diesem Punkt nicht be-
sonders tief in die Einzelheiten eindringt, doch einigermaßen ein Bild
von der Alkoholkriminalität der Jugendlichen Bayerns ge-
winnen. Da anzunehmen ist, daß die Verhältnisse in den anderen
deutschen Bundesgebieten nicht recht viel anders liegen werden, so
erhalten diese bisher nur von Bayern veranstalteten Erhebungen all-
gemeinere Bedeutung und sind der weitgehenden Beachtung besonders
in Jugendfürsorgekreisen wert.
Jugendliche sind im Sinne unseres Strafgesetzbuches, da es sich um
eine Kriminalstatistik handelt, alle Personen welche das 12. Lebens-
jahr vollendet, das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben; es
liegt in der Natur der 'Trunkenheitsdelikte, daß die Altersklassen des
13., 14. und 15. Lebensjahres außer Ansatz bleiben müssen; wegen
Trunkenheit straffällig und verurteilt werden wohl nur jugendliche
Burschen im Alter von 16 und 17 Jahren, die zahlreichen Lehrlinge,
Ausgeher, Hilfsarbeiter, Gesellen und Gehilfen. Durch diese Be-
schränkung auf 2 Jahresklassen erhöht sich natürlich der relative
Anteil dieser beiden Jahresklassen an der Gesamtheit der jugendlichen
Trunkenbolde Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, war die Zahl
der wegen Vergehen und Verbrechen gegen die Reichsgesetze,
die irn Zustand der Trunkenheit begangen wurden, verurteilten Jugend-
lichen recht erheblich. Wenn die Statistik aufweist, daß die Ge-
samtzahl der jugendlichen Alkoholdelinquenten im Jahre 1910 166,
im Jahre 1911 178, im Jahre 1912 231 betrug, so daß auf je 100
überhaupt verurteilte Jugendliche (12—18 Jahre) 2,75 bezw. 2,9,
Rupprecht: Die Alkoholkriminalität der Jugend. 515
bezw. über 3 jugendliche Trunkenbolde trafen, so erhöht sich dieses
Anteilsverhältnis bei der Verteilung auf die allein in Betracht kommen-
den 2 Jahresklassen (16. und 17. Lebensjahr) ganz wesentlich. Da
von sämtlichen in Bayern wegen Verbrechen oder Vergehen ver-
urteilten Jugendlichen etwas über die Hälfte älter als 15 Jahre waren,
so traf im Jahre 1910 und 1911 auf je 17 bis 18 verurteilte Jugend-
liche im Alter von über 15 Jahren ein Trinker, im Jahre 1912
schätzungsweise (die genauen Zahlen der Verurteilungen sind noch
nicht veröffentlicht) gar schon auf je 13 Verurteilte ein Trinker. Bei
den über 18 Jahre alten, also erwachsenen Verurteilten traf im Jahre
1912 je ein Trunkenbold auf 7 Verurteilte; das Verhältnis der jugend-
lichen Alkoholexzedenten zu den Erwachsenen stellt sich somit auf
1:2, eine bedenklich hohe Ziffer, wenn man zudem in Erwägung
zieht, daß es sich bei den Alkoholdelikten überwiegend um Roheits-
und Brutalitätshandlungen, wie Körperverletzung, Widerstand gegen
die Staatsgewalt, Sachbeschädigung usw. handelt. Allein in dieser
absolut und relativ hohen Zahl jugendlicher Trinker erschöpft sich
noch nicht die beängstigende Erscheinung der jugendlichen Alkohol-
kriminalität. Die Erhebungen haben auch ergeben, daß auf Seite der
Erwachsenen seit 1910 ein fühlbarer Rückgang der verurteilten
Alkoholexzedenten eingetreten ist (von 14,2%, auf 12,3%, im Jahre
1911 und auf 13,1°/, im Jahre 1912), während bei den jugendlichen
Alkoholdelinquenten eine gleichmäßige Zunahme sich zeigt: die Zahl
der verurteilten jugendlichen Trunkenbolde betrug 1910 166, stieg im
Jahre 1911 auf 178 und betrug 1912 231; auf je 100 verurteilte
Jugendliche umgerechnet ergibt dies 2,75 bezw. 2,91, bezw. rund 3,8
jugendliche Trunkenbolde.
Man könnte nun der Auffassung sein, die Zunahme der Be-
völkerung in den Großstädten, besonders in den Industrie- und Fabrik-
städten mit ihrer zahlreichen Arbeiterjugend gelernten und ungelernten
Berufs, trage die Schuld an dieser Zunahme der Alkoholkriminalität
der Jugend, zumal da in den Städten durch die zahlreichen Schank-
stätten, besonders die wie Pilze aus der Erde schießenden Automaten-
restaurants, Tanzlokale, Tingel-Tangels, der Jugend unbegrenzte Mög-
lichkeit gegeben sei, ihr verdientes oder recht häufig durch irgend
eine Untat erlangtes Geld in Alkohol umzusetzen. Dieser Meinung
widerspricht die Statistik. Fast 70°, aller wegen Trunkenheitsdelikte
verurteilten Personen wohnten in Gemeinden bis zu 6000 Personen,
also auf dem flachen Lande oder in kleineren Landstädten, nur 18
bis 20°, haben in Städten mit einer Einwohnerzahl von mehr als
40000 Personen gewohnt. Diese für die Gesamtheit der Trunkenbolde
33*
516 A. Abhandlungen.
getroffene Feststellung findet Anwendung auch auf die Jugendlichen;
denn die Erhebungen in den einzelnen Landgerichtsbezirken haben er-
geben, daß die Bezirke mit überwiegend ländlicher Bevölkerung auch
die meisten jugendlichen Alkoholdelinquenten aufweisen, während die
Gerichtsbezirke der Großstädte nur recht unerheblich, so die Stadt
München mit 2, die Stadt Nürnberg mit 9 jugendlichen Trunkenbolden,
beteiligt sind. Es liegt nahe, anzunehmen, daß die intensivere Tätig-
keit der Jugendfürsorge und Alkoholbekämpfungsvereine in den Groß-
städten auch auf diesem Gebiete zum Ausdruck kommt.
Es ist auch nicht die eigentliche Arbeiterjugend, welche die Opfer
des Alkoholübermaßes stellt; denn die Fabrikarbeiter und sonstigen
gelernten Arbeiter finden sich nur zu einem geringen Teil unter den
wegen Alkoholvergehen verurteilten Personen; die ungelernten Arbeiter,
Hilfsarbeiter, Tagelöhner, Ausgeher, die landwirtschaftlichen Dienst-
boten sind die Gruppen, aus denen hauptsächlich die jugendlichen
Alkoholverbrecher stammen; es waren im Jahre 1912 nicht weniger
als 66,3°/, aller verurteilten Trunkenbolde ledigen Standes.
Jung gewohnt, alt getan: wer schon in der Jugend mit dem
Trinken beginnt, wird als gemeingefährlicher Gewohnheitssäufer fort-
leben und enden. Darum ist eine rechtzeitige Bekämpfung des Al-
koholismus der Jugend ein dringendes Erfordernis einer zielbewußten
Jugendfürsorge, nicht bloß in den Großstädten, sondern, wie obige
Feststellungen ergeben haben, erst recht auf dem Lande. Doch
dürften hier nicht sowohl die Vereine für Trinkerfürsorge und Anti-
alkoholbestrebungen ein Feld ihrer Tätigkeit finden, als vielmehr die
Freunde der Jugendpflege. Alle die Vereine, welche sich die
Jugendpflege zur Aufgabe gemacht haben, und die langsam, aber
sicher ihre Arbeit auch auf das flache Land erstrecken, ob sie auf
nationaler oder christlicher oder sozialistischer Grundlage ruhen, haben
wohl ausnahmslos zu ihrem ersten Grundsatz gemacht, den Alkohol
aus ihren Versammlungen und Veranstaltungen zu verbannen und
durch andre der Jugend und ihren berechtigten Wünschen und An-
sprüchen zweckmäßig angepaßte Maßnahmen zu ersetzen. Städtische
Wandervogel- und ländliche Burschenvereine, Jugendheime und Lehr-
lingsheime und wie all diese verschiedenartigen Bestrebungen auf dem
Gebiete einer neuzeitlichen Jugendpflege in Stadt und Land heißen
mögen, sie sind die berufenen und bei richtiger Sachbehandlung auch
erfolgreichen Streiter im Kampfe gegen den Alkoholismus der Jugend,
gegen diese mehr als Schundliteratur und Kino Körper und Geist
unseres heranwachsenden männlichen Geschlechts zerrüttende und da-
mit auch die Allgemeinheit bedrohende Landplage.
Russell-Struve: Junge Galgenvögel.
2. Junge Galgenvögel.
Von
Charles E. B. Russell, M. A.
Chief Inspector of Reformatories and Industrial Schools.
Berechtigte Übersetzung von Dr. jur. Karl Struve.
(Schluß.)
IX. Jud.
Breitschulterig, wohlgebaut, mit einem Schopf rötlichen, unge-
kämmten Haares, mit wilden Augen, mit bunt geflickten Hosen,
denen der Boden fehlte, mit einer unbeschreiblichen Jacke und Weste,
ohne Halstuch und mit Stiefeln, in denen vielfache Löcher gähnten,
so stand er vor mir. »Wenn Sie mir heute abend nicht helfen, werde
ich ‚Krach machen‘ (Er meinte einen Einbruch). Ich brauche ein
Paar Holzschuhe und einige Kupfer für Essen. Ich hab’ den ganzen
Tag nichts zu beißen gehabt.ce — »Unsinn, Jud, du hast auf keinen
Fall eine schlechte Mahlzeit gehabt.«e Denn ein Blick auf seine Weste
zeigte zur Genüge, daß Jud, wenn er auch sonst zu kurz gekommen
sein mochte, jedenfalls seine Mahlzeiten nicht entbehrt hatte. — »Mag
sein, aber ich habe die Nacht im Freien zugebracht, und es fällt mir
nicht ein, es heute Nacht wieder zu tun; und Sie wollen mich doch
nicht wieder ins Loch marschieren sehen, Herr?« — »Ob du wieder
ins Loch gehst oder nicht, hängt von dir ab, Jud. Du hast gute Ge-
legenheiten in Fülle gehabt und jetzt, nachdem es dir beliebt hat, deine
Arbeit fahren zu lassen und dein früheres Leben aufzunehmen, kommst
du wieder und bittest um Hilfe. Aber es nützt nichts, und ich werde
dir heute abend nicht helfen.ce — »Gut, Herr, ich bleibe hier stehen,
bis Sie etwas für mich tun.e — »Schön, mein Junge, bleib stehen,
wenn du Lust hast; aber du mußt deine Lektionen lernen, und heute
abend gibt’s keine Unterstützung.«
Georg, gewöhnlich mit der nordenglischen Abkürzung seines
Namens, »Jud«, genannt, war mir seit ein paar Jahren bekannt. Aus
einer armen, aber anständigen Familie entstammend, hatte er stets die
Neigung gezeigt, sich abzusondern und umherzuschwärmen, und mit
sechzehn Jahren begonnen, nachts auszubleiben und sein Heim un-
unterbrochen wochenlang zu verlassen. Er pflegte erst dann wieder-
zukommen, wenn er völlig am Ende seiner Mittel war — jedesmal
natürlich mit dem Versprechen, in sich zu gehen und ein besseres
Leben zu führen. Einige solide verbrachte Tage genügten gewöhnlich,
um das alte Wanderfieber wiederkehren zu lassen, und die tückischen
Einflüsterungen von Freunden niedrigster Sorte, zum Teil wohl-
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bekannten Dieben, wurden von seinem Ohr aufgenommen wie Regen
von dem durstenden Erdboden. So dauerte es nicht lange, bis er,
kühner als andere Gesinnungsgenossen, seine erste Gefängnisstrafe
wegen eines Einbruchs verbüßte. Er verließ das Gefängnis als ein
Kehrdichannichts und lebte eine Zeitlang nach dem Motto: Hol der
Teufel den Kram. Er folgte dem Beispiel jener Burschen, die den
einen Tag müßig dahinbringen und sich am nächsten Tage mit einer
Piano-Orgel durch die Straßen der Großstadt und der Vorstädte ab-
quälen, während sie an jedem Abend durch ihr rohes Betragen an
irgendeiner Straßenecke zur Plage werden.
Jud kam zuerst zu mir wegen »Arbeit«. Diese wurde auch für
ihn gefunden, während er gleichzeitig mit passenden Kleidern ausge-
stattet wurde, in denen er sie beginnen konnte. Er sagte gleich den
übrigen, daß er niemals eine Gelegenheit gehabt habe, sich emporzu-
arbeiten, und daß er nur diese brauche, um sich als ein guter Arbeiter
zu bewähren. Später erfuhr ich, daß er seine Kleider fast auf der Stelle
versetzt hatte und nur drei Tage bei der Arbeit geblieben war. Nach
einer oder zwei Wochen erschien er wieder, und bei dieser Gelegen-
heit wurde ihm keine weitere Unterstützung als Obdach für zwei
Nächte zuteil, und auch dies nur deswegen, weil es mitten im Winter
war und der Junge schwach und krank aussah. Er kam einmal über
das andere, obwohl ich eine Zeitlang sein Vertrauen fast gänzlich ver-
wirkte. Ich verweigerte nämlich rundweg die Erfüllung einer Bitte,
die Jungen seines Schlages häufig genug auf den Lippen liegt, aber
so unvernünftig wie nur möglich ist.
Einerlei, zu welchen Tiefen der Erniedrigung Männer und Frauen
auch sinken mögen — wenn ihre Zeit kommt, den irdischen Schau-
platz ihrer unrühmlichen Tätigkeit zu verlassen, dann kommen un-
geahnt von allen möglichen Ecken und Enden Verwandte und Freunde
zum Vorschein, die zu den Begräbnisfeierlichkeiten beizusteuern
wünschen. Jeder Nerv wird angespannt und zu den absonderlichsten
Hilfsmitteln wird gegriffen, um zu verhüten, daß ein Armenbegräbnis
der Abschluß eines vergeudeten Lebens wird. Bei solchen Gelegen-
heiten ist es für die Leidtragenden unbedingt nötig, sich »schwarz«
auszustaffieren, und faule, rohe, grobe, liederliche und verbrecherische
Burschen sind ebensosehr wie andere, die in besseren Verhältnissen
leben, darauf bedacht, einen der im Volk am tiefsten eingewurzelten
Bräuche mitzumachen. Die bedürftigsten Leute beiderlei Geschlechts
und jeden Alters zögern keinen Augenblick, sich für diesen Zweck in
Schulden zu stürzen. Es ist erstaunlich, wie sorglos und ver-
schwenderisch selbst sparsame arme Leute werden, sobald der Tod
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ihre Häuser heimsucht. Der Begräbnispomp erreicht oft ein Maß, das
lediglich durch den Umfang des erreichbaren Kredits begrenzt wird,
und, noch schlimmer, das durch rührselige Aufrufe an Freunde, Ver-
wandte und Nachbarn gesammelte Geld wird nicht selten bei einer
an das Begräbnis sich anschließenden Orgie vergeudet, die einfach
schändlich ist.
Nun traf es sich, daß eine Schwester von Jud, die er nicht ge-
sehen hatte, seit sie vor einer Reihe von Jahren das Vaterhaus verließ,
um ein Leben der Schande zu führen, in dem Werkhaushospital gestorben
war, und daß die Verwandten es auf irgendeine unerklärliche Weise
fertig gebracht hatten, die Begräbnisvorkehrungen den Armenbehörden
aus der Hand zu nehmen. Jud wünschte sehr, daran teilzunehmen,
und da er nur einen groben, wenn auch brauchbaren Barchentanzug
besaß, bat er mich, ihm eine Garnitur »schwarz« zu kaufen. Auf
meine Weigerung entgegnete er hitzig: »Die Sache liegt doch nicht
so, daß ich Sie um das Geld bitte; denn Sie werden alles zurück-
bekommen, Herr. Ich will nicht, daß Sie es mir schenken.« Wie
anders freilich das Vorschießen von Geld, zu dessen Zurückzahlung
der Empfänger weder willens noch fähig ist, bezeichnet werden kann,
ist mir nicht klar. Die Vereinbarung der Rückzahlung scheint eine
Redensart zu sein, die infolge einer merkwürdigen Gedankenverbindung
Leute wie Jud — und, wie ich fürchte, nicht minder Borger aus
höheren Gesellschaftsschiehten — zu der Einbildung verführt, daß sie
einen völlig geschäftsmäßigen Vorschlag machen, der von einem Bitt-
gesuch grundverschieden ist. Aber vielleicht zeugt diese Form der
Bitte von löblicher Selbstachtung, da sie es dem Bittsteller ermöglicht,
in seinen eigenen Augen »sein Gesicht zu wahren«e. Ich setzte Jud
so schonend wie möglich auseinander, daß es nicht der richtige Weg
wäre, seiner Schwester Andenken zu ehren, wenn er sich in Schulden
stürzte, um Kleider zu kaufen, die er nach wenigen Tagen doch un-
zweifelhaft wieder verkaufen oder versetzen würde, und daß ich nie-
mandem zum Zweck des Kaufes von Trauerkleidern geholfen habe
und helfen werde. Ich versuchte ihm klar zu machen, daß der Wert
der Ehrbezeugung nicht von diesen Dingen abhänge, und daß es weit
besser wäre, durch Reinigen und Bürsten seine Kleidung in den besten
Stand zu setzen und keine weiteren Umstände zu machen, als un-
bedacht schwarzes Zeug zu kaufen. Er geriet schnell in Zorn. »Gut,
dann kann ich überhaupt nicht zu dem Begräbnis gehen,« rief er aus,
»denn ich möchte da nicht in diesem Zustand gesehen werden,« wobei
er an seinem abgetragenen Arbeitszeug heruntersah, und Tränen ver-
wundeten Stolzes blinkten in seinen Augen. — »Ich kann’s nicht
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ändern, Jud; ich werde nach dieser Richtung nichts für dich tun,«
sagte ich. — »Schön, dann weiß ich, was ich tun werde,« schrie er
mir zu, drehte sich auf der Stelle um und verschwand. Zwei bis drei
Monate hindurch sah ich nichts von ihm; schließlich erfuhr ich aber,
daß er es doch vorgezogen hatte, seinen Stolz zu bezwingen und sich
einzustellen, anstatt überhaupt auf das Leichenbegängnis zu verzichten.
Sein großer Unwille überraschte mich nicht; denn mir ist schon
oft unter ähnlichen Umständen Härte vorgeworfen. Vor einigen
Monaten zum Beispiel starb ein Jüngling von erschreckend bösem
und verdurbenem Charakter, der mir viele Sorgen gemacht hatte,
ziemlich plötzlich. Nach Verlauf einiger Tage erhielt ich den Besuch
eines Mannes, der mich fragte, ob ich zu einem Kranz für »den
armen Jungen« beitragen wolle, einen Jungen übrigens, der mehr als
einmal gedroht hatte, mich — wie er sich anschaulich ausdrückte —
zu »vermessern«, und der jahrelang von kleinen Diebstählen und
niedrigen Betrügereien jeder Art gelebt hatte. Als ich mit der Er-
klärung ablehnte, daß die Lebenden weit wichtiger wären als die
Toten, erhielt ich die Antwort: »Ich hätte nicht gedacht, Herr, daß
Sie so hart sein könnten. Ich sehe aber jetzt, wes Geistes Sie sind.«
Nachdem Jud mir insoweit vergeben hatte, daß er seine Besuche
wieder aufnahm, entsprach ich schließlich seinen zudringlichen Bitten
und gab ihm eine Gelegenheit zu einer neuen Probe Er war zu
einer kurzen Gefängnisstrafe verurteilt, und ich dachte, daß vielleicht
das Seemannsleben ihm zusagen möchte. So erbot ich mich, dafür
zu sorgen, daß er unmittelbar nach seiner Entlassung zur See gehen
könnte. Das Gesicht des Burschen hellte sich bei dem Angebot auf;
er schlug sofort ein und erklärte, daß er zur See sein Glück machen
werde. Alle Vorkehrungen wurden getroffen, um ihn durch eine zu-
verlässige Person nach Liverpool zu bringen, aber über die Vorgänge
am Entlassungsmorgen berichtete die genannte Person Folgendes: »Jud
kam um acht Uhr zu mir; ich gab ihm Frühstück und traf Vor-
bereitungen, ihn nach Manchester zu bringen, wie Sie wünschten.
Aber er rückte mit einer Rotte seiner schlechten Gefährten aus, die
ihn zweifellos bald wieder ins Unglück ziehen werden. Er erklärte
lachend, er sehe nicht ein, warum er zur See gehen solle, da er ebenso-
gut in Manchester seinen Weg finden könne.«
Wie vorauszusehen war, dauerte es nicht lange, bis Jud wieder
in Not war, mit dem Ergebnis, daß er wieder sechs Monate für einen
frechen, gemeinsam mit mehreren anderen Burschen verübten Laden-
einbruch verbüßte. Selbst die Strafe schien ihn nicht zu ändern;
denn fast unmittelbar nach seiner Entlassung sprach er in dem Hause
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eines Freundes vor, als dessen ganze Familie abwesend war, raffte
alles an sich, was nicht niet- und nagelfest war, und brachte es wieder
einmal fertig, die Sachen zu »verschärfen« und einige Tage in sünd-
licher Lust zu verbringen, bis die Entdeckung und eine neue Ge-
fängnisstrafe folgten. Dieser letzte Schurkenstreich war seinem Vater
zuviel, und zu meiner Überraschung erhielt ich eines Morgens einen
Brief, der mich anflehte, ihm nicht weiter zu helfen, und folgender-
maßen lautete:
Ich denke, es ist eine Schande, daß Sie etwas für einen verd.... Tauge-
nichts wie meinen Sohn Georg tun. Er ist ein fauler, nichtsnutziger Tunichtgut.
Zwei Nächte in der Pfingstwoche kam er nicht nach Haus; dann kam er, nahm
die neue Jacke und Weste und versetzte sie, und als er am letzten Sonnabend-
morgen auf Arbeit ging, nahm er alles, was er bei sich hatte und eine Menge
anderer Sachen mit fort, und ich habe ihn seitdem nicht gesehen. Aber ich
will ihn nicht länger in meinem Haus haben und gedenke ihn für das, was er
wegnahm, einsperren zu lassen.
Ihr ergebener
Herr Z., sein
Vater. Gefängnis
ist der beste Platz für
ihn.
Im letzten Januar sprach der »verd.... Taugenichts« wieder
bei mir vor und versprach wieder einmal, seine alte Lebensweise zu
ändern. Ein hoffnungsloser Fall, möchte man sagen, in dem Hilfe
ganz unangebracht ist, nicht wahr? Nun, diesmal sagte er, er habe
ein Mädchen, dem er sehr zugetan sei, und um ihretwillen wolle er
seine alte Lebensführung aufgeben und auf dem geraden Weg bleiben.
Es schien ihm völlig ernst zu sein, und es deuchte mir der Mühe
wert, es wieder mit ihm zu versuchen. Der wilde Blick und das un-
gekämmte Haar waren noch vorhanden, die bodenlosen Hosen aber
verschwunden. Trotz seines Leumundes hatte der Bursche zweifellos
viele gute Anlagen. Ich besorgte ihm daher Arbeit bei einer guten
Bauunternehmerfirma, um ihm nochmals Gelegenheit zu geben, sich
auf die Füße zu arbeiten. Seit jenem Tage sah ich ihn wiederholt
Monat für Monat, mitunter mit Pferd und Wagen, die Muster von
Reinlichkeit waren. Mitunter besuchte er mich auch abends, und er
bereitete mir stets wachsendes Vergnügen. Er »machte einen Strich
unter das Alte«, wie er versprochen hatte, sagte augenscheinlich allen
seinen alten Kumpanen lebewohl, heiratete sein Mädchen, das er auf-
richtig liebte und richtete sich auf eine ehrliche, bescheidene und
ruhige Lebensführung ein. Freunde verhalfen ihm zu einem Heim
in den städtischen Wohnungsbauten, und allmählich erwarb er sich
einen genügenden Vorrat von einfachem, nützlichen Hausrat, außerdem
522 A. Abhandlungen.
einen Reichtum von Wandsprüchen und eine Sammlung kleiner be-
malter Gipsstatuen der Jungfrau und der Heiligen. Diese waren sorg-
fältig durch Glaskuppeln geschützt und erweckten sicherlich den Ein-
druck, daß Jud mit seinem lockigen Haar und fröhlichem Gesicht ein
ausnehmend frommer junger Mann war. Ein Rückfall schien un-
wahrscheinlich; denn er hatte Energie genug, bei einem Entschluß
zu beharren und ein von Grund aus braver Mann zu werden, wenn
er sich dazu Mühe gab. Es ist eine Seltenheit, daß lebhafte Burschen,
die unbekümmert ein leichtfertiges, hauptsächlieh von Diebstahl und
Betrug gefristetes Leben führen, nicht zu einem anständigen Leben
gebracht werden können, wenn sich nur ein Motiv, das sie anspornt,
finden läßt. Nur selten wird es vorkommen, daß sie dem richtigen
Antrieb nicht folgen, sobald sie sich seiner erst bewußt geworden
sind. In diesem Fall war, wie in vielen anderen, ein braves Mädchen
das Mittel, um das Beste aus dem Burschen herauszuholen. Der ge-
meine, schleichende Dieb, der Feigling, der Bettler und Gauner bieten
häufig keine Aussicht auf Rettung; anders jedoch die Burschen, deren
Verbrechertaten, gleich denen Juds, von verwegener Art gewesen
sind. Nur muß jemand da sein, der ihm bei seinem Streben nach
Besserung zur Seite steht, jemand, der ihm die fast stets nötige hilf-
reiche Hand leiht; denn die ganze Richtung eines Lebens kann ohne
Beistand nicht so plötzlich geändert werden. Als Jud mich im No-
vember letzten Jahres aufsuchte und fragte — es war das erste Mal,
daß ich ihn eine Bitte schüchtern vortragen hörte — ob ich für seine
Kleine »stehen«, d.h. Gevatter sein wolle, war er wirklich ein anderer
Geselle als der Jud vom vergangenen Jahr, jener Jud mit seiner
harten und fast gefährlichen Gemütsart, seiner Rücksichtslosigkeit und
Gleichgültigkeit gegen Schimpf und Strafe.
Aber »weh, was ist menschliches Trachten«. Nach fast einem
Jahr stetiger Arbeit und zunehmender Ehrbarkeit verlor Jud im
Dezember seine Stellung, einfach weil die Firma, für die er arbeitete,
ihre Arbeiterschar verringern mußte. Seit jener Zeit begann es mit
ihm wieder bergab zu gehen; aber wahrscheinlich würde das Ende
doch nicht so unglücklich gewesen sein, hätte er nicht mit der ihm
eigenen Gutmütigkeit einen seiner früheren Genossen, einen Burschen,
namens Bill, dem es besonders schlecht ging, mit in seine beiden
kleinen Räume aufgenommen, obwohl er hierdurch Gefahr lief, von
der Verwaltung der Wohnungen hinausgesetzt zu werden.
Eine Dame, die sich für Juds kränkliches Baby interessierte, hat
mir einen Besuch beschrieben, den sie der Wohnung einige Tage vor
Weihnachten frühmorgens abstattete. Um Raum für Bill zu schaffen,
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war Juds Doppelbett in der kleinen Küche dicht unter dem Fenster
aufgestellt. Sobald Jud, der darin lag, durch die Unterhaltung ge-
weckt und der Gegenwart der Dame inne wurde, verkroch er sich
schamhaft unter der Bettdecke und verharrte dort regungslos während
der Dauer ihres Besuches. Seine Frau und Bill schienen im Begriff
zu sein, stehend ein flüchtiges Frühstück einzunehmen, und das kleine
Kind lag schlafend in einem Armstuhl neben dem Feuer. Durch
kunstvolle Ausschmückung, deren Herstellung ziemliche Zeit in An-
spruch genommen haben mußte, war dem Raum ein überraschender
weihnachtlicher Festesglanz verliehen. Blumengewinde aus rosafarbenem
Papier zogen sich von Ecke zu Ecke, und die oberen Türschwellen,
die Bilder und jeder sonstige geeignete Fleck waren in ähnlicher
Weise geschmückt. Als meine Bekannte aufbrach, erbot Bill sich,
sie auf einem Richtwege nach ihrer Bahnstation zu begleiten und er-
zählte unterwegs von seinen persönlichen Verhältnissen mit einer selt-
samen ÖOffenherzigkeit und einem völligen Mangel an sittlickem Emp-
finden, der jedem, der nicht mit den Gewohnheiten dieses Standes
vertraut ist, unglaublich erscheinen würde. So teilte er ihr — als
eine bei seinen Verhältnissen ganz landläufige Tatsache — mit, daß
er nicht der einzige verbotswidrige Bewohner von Juds zweiter Stube
sei. Sein Mädchen, sagte er, wäre außer Arbeit und hätte kein Heim,
und als er sie vor einer oder zwei Wochen an einem feuchten Abend
gegen 11 Uhr in den Straßen herumwandernd getroffen habe, habe
er sie mit sich genommen, und seitdem habe sie sein Heim geteilt.
Er hoffte, sie würden nach einem oder zwei Monaten heiraten können,
wenn er Arbeit finde.
Bill war jedoch nicht der Bursche, sich viel um Arbeit zu
kümmern. Im Gegenteil hatte er keine besondere Neigung, das Diebs-
handwerk aufzugeben, wenn er nur seine Räubereien ohne Entdeckung
ausführen konnte, und dieser Hang seines Freundes erwies sich als
des armen Juds Verderben. Eines Abends brachte Bill ein abgenutztes
Pferdegeschirr heim und warf es in eine Ecke, wobei er sagte, daß
er es für einen Sixpence gekauft habe, eine Angabe, deren Unwahr-
heit Jud sehr wohl erkannte. Tatsächlich hatte Bill, auf Beute be-
dacht, an dem fraglichen Abend dem Stalle von Juds früheren Arbeits-
gebern einen Besuch abgestattet und das Geschirr gestohlen, und als
sich am nächsten Morgen ein großes Geschrei erhob, kam die Polizei
sofort auf den Gedanken, daß Jud, dessen früherer Ruf ihr wohl be-
kannt war, wahrscheinlich etwas von der Geschichte wisse. Seine
Wohnung wurde sofort durchsucht, das Geschirr entdeckt, und er
selbst wegen Beteiligung an dem Diebstahl in Haft genommen. Er
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konnte nur eine kümmerliche Verteidigung vorbringen, und seine
ganze Erscheinung auf der Anklagebank in Verbindung mit seinem
früheren Leumund führte zu der Verhängung einer neuen Strafe von
drei Monaten Gefängnis.
Das Heim mußte jetzt aufgegeben werden, und Frau Jud zog zu
ihrer Mutter. Da ihr Gatte keine Arbeit fand und nicht imstande
war, durch Hausieren und andere Notbehelfe genügend zu verdienen,
ging sie schon seit einigen Wochen in die Fabrik, in der sie vor
ihrer Heirat in Arbeit gestanden hatte. Als dieselbe Dame, welche
sie zu Weihnachten besucht hatte, von ihrer Absicht zu arbeiten hörte
und sie fragte, wie es ihrem zarten, kaum zwei Monate alten Kind
in ihrer Abwesenheit gehen solle — sie hatte bisher nämlich nach
besten Kräften für die Kleine gesorgt und sie rein und nett gehalten
— antwortete sie: »O, ich werde sie jeden Morgen bei meiner Mutter
vorbringen.«e Auf die weitere Frage, ob die Mutter sie ordentlich zu
warten vermöge, entgegnete sie mit einiger Belustigung: »Du meine
Güte, Mutter weiß mit der Sorge für Babies genau Bescheid, und das
sollte sie billigerweise auch; denn sie hat selbst achtzehn gehabt.«
Die Dame erlaubte sich die weitere Frage, wie viele noch am Leben
wären. Die Antwort war »acht«.
Trotz seiner unverdienten Strafe sank Jud nicht wieder auf seine
frühere Stufe hinab und gab sich nach seiner Entlassung viel Mühe,
Arbeit zu bekommen. Er hoffte, in einer Stadt, wo er unbekannt
war, erfolgreicher zu sein, und ich erhielt folgenden Brief:
Geehrter Herr,
Nur ein paar Zeilen, damit Sie wissen, wo ich bin. Ich ging Mittwoch
nach Liverpool, um Arbeit zu fiaden, habe aber noch keine gefunden, und habe
jetzt keinen Penny, mir weiter durchzuhelfen. Geehrter Herr, ich habe Aus-
sicht, binnen vierzehn Tagen eine Stelle als Fuhrmann zu bekommen. Geehrter
Herr, wenn Sie mir einige Schillinge senden würden, könnte ich etwas kaufen
und wieder verkaufen und etwas Verdienst herausschlagen, bis ich obige Stelle
erhalte. 'Geehrter Herr, die paar Schillinge, die ich hatte, ließ ich meiner Frau,
um unsere Sachen zu bezahlen. Geehrter Herr, ich hoffe, Sie werden mir
diesmal meine Bitte nicht abschlagen, da ich gestrandet bin und mich wieder
aufs Trockene arbeiten muß. Geehrter Herr, ich möchte nicht immer von Ihnen
abhängig sein, da Sie gut gegen mich gewesen sind und ich sehr dankbar dafür
bin. Damit genug von Ihrem
gehorsamen Diener
Jud.
Als die vierzehn Tage um waren, bekam er die Stelle — es war
in Manchester —, aber nach einem Monat hatte er wieder Unglück,
da er »wegen Geschäftsflaue aufhalten mußte«. Er hat jedoch jetzt
neue Arbeit als Fuhrmann gefunden, und ich hoffe, daß sie sich als
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dauernd erweisen und ihm ermöglichen wird, sein Familienleben in
einem neuen eigenen Heim wieder aufzunehmen. Gegenwärtig wohnt
er bei seinem Vater, während seine Frau noch mit ihrer Mutter zu-
sammenlebt. Obwohl er ein unglücksreiches Jahr hinter sich hat und
sein Charakter infolgedessen etwas gelitten hat, ist doch nicht einzu-
sehen, weswegen er den verlorenen Grund nicht wiedergewinnen sollte.
Wenn er nur seine Gutmütigkeit einigermaßen durch gesunden
Menschenverstand leiten läßt, wird er doch noch sein Leben zu einem
Erfolg gestalten und vielleicht jüngeren Burschen von ähnlicher Anlage
helfen, sich wieder emporzuarbeiten, wie er es tat.
X. Tom.
»Wer in aller Welt bist du, und was willst du?« rief ich aus,
als ein Jüngling in äußerst seltsamem Aufzuge in meine Tür trat.
Seine zusammengekniffenen Augen, sein aufgeworfener Mund und sein
pocken-narbiges Antlitz waren von langem, schwarzem, gesträhntem
Haar eingerahmt. Er war barhäuptig und barfüßig und ohne Hals-
tuch und Binde, wie sie sonst von kragenlosen Burschen gewöhnlich
getragen werden; dabei war sein Zeug naß zum Auswringen, obwohl
es ein schöner Abend war. — »Entschuldigen Sie, Herr, ich bin eben
einem Mann in den Kanal nachgesprungen, der zu ertrinken drohte,
und jemand hat mir meine Stiefeln und Sachen gestohlen, während
sie am Ufer lagen.« — »Unsinn«, sagte ich, »binde mir doch nichts
derartiges auf. Hole lieber einen Polizeibeamten, der deine Erzählung
bestätigt«. — »Schön, Herr,« antwortete er und verschwand, und ich
dachte bestimmt, ich hätte ihn zum letzten Mal gesehen — eines der
sonderbarsten und unangenehmsten Wesen, denen zu begegnen mir
beschieden gewesen ist. Aber in weniger als einer Stunde erschien
er wieder auf der Bildfläche, von einem Polizisten begleitet, der zu
meinem Erstaunen seine ganze Erzählung bestätigte und seine Bitte
um einige Kleidungsstücke als Ersatz der verlorenen unterstützte.
Seit jenem Tage, der fünf bis sechs Jahre zurückliegt, bin ich niemals
frei von Toms Aufmerksamkeiten gewesen.
Stückchen für Stückchen habe ich seine Geschichte zusammen-
geflickt — eine traurige Geschichte. Von Eltern geboren, die diesen
Namen kaum verdienten, war er von Kindheit auf an Schmutz, Ent-
behrung und eine Atmosphäre von Schlechtigkeit gewöhnt. Seinen
Vater sah er selten, denn er war wenig zu Hause und verließ auch
tatsächlich kaum ein Jahr, nachdem ich Tom zuerst gesehen hatte,
endgültig Weib und Familie und hat nichts mehr von sich hören
526 A. Abhandlungen.
lassen. Angeblich hat er sich nach Süden gewandt und irgendwo in
der Nähe Londons Arbeit gefunden; freilich weiß niemand genau, wo,
und worauf die Vermutung sich gründet, würde äußerst schwierig zu
sagen sein. Seine Mutter war ein großes, grobes und selbstgefälliges
Frauenzimmer, träge, schmutzig und schwatzhaft, von geselliger Ver-
anlagung, gutmütig im nüchternen, zanksüchtig im trunkenen Zustande.
Der Grund für eine ihrer ersten Gefängnisstrafen, denen einige Dutzend
weitere folgten, war amtlich in ungewöhnlicher aber anschaulicher
Ausdrucksweise aufgezeichnet als »in Kampf verwickelt«e. Seine
Mutter und ihre unmittelbaren Nachbarn hatten viele Treffen mit-
einander. Sie meinte es gut mit ihren Kindern; aber sie hatte keine
erhabene Auffassung von Mutterpflichten und war viel zu freundlich
und nachgiebig, um ihre drei trägen, liederlichen und eigensinnigen
Söhne irgendwie in Zucht zu halten. Sie kam niemals über beständige
Warnungen bezüglich der Folgen ihres böses Treibens hinaus, und
ihre Warnungen, neben denen Nachgiebigkeit und völliger Mangel
sittlicher Kraft einhergingen, hatten keinerlei Wirkung. Immerhin
dauerte ihre Anteilnahme an dem Wohlergehen ihrer Burschen fort,
selbst damals noch, als ich Tom zuerst kennen lernte, und sie unterzog
sich sogar der Mühe, mir einen Brief zu schreiben, der folgender-
maßen lautet:
Herr, ich würde Ihnen sehr dankbar sein, wenn Sie meinen Sohn Tom
D. aufsuchen würden, da er noch jugendlich ist und seine Kleider nicht einmal
mehr taugen, um Dielen damit zu waschen, und wenn Sie Ihr Bestes für ihn
tun wollten, bevor er herauskommt. Ich hoffe, Herr, daß Sie Ihr Bestes für
eine arme Mutter tun werden, der fünf Kinder am Arm hängen und für die
kein Vater arbeitet.
In der Hoffnung, daß es Ihnen und allen Ihrigen gutgeht,
bleibe ich Ihre
aufrichtige Freundin
Frau D.
Die beiden älteren Brüder Toms entwickelten sich ihrem Charakter
nach zu durchtriebenen Verbrechern und machten viele Besuche im Ge-
fängnis zur Buße für Freveltaten und Einbrüche. Währenddessen begann
Tom frühzeitig die Eigenschaften zu entwickeln, die ihn zu der einen
oder anderen Zeit beinahe in jedes Gefängnis des Landes gebracht
haben; er ist nämlich weit und breit gewandert, obwohl er noch ein
junger Mann ist. Als er im Alter von vierzehn Jahren einem Er-
ziehungs-Schulschiff überwiesen wurde, schien seine erste Gelegenheit,
ein ordentlicher Junge zu werden, gekommen zu sein; aber die Mängel,
welche seinen Charakter bereits beeinflußt hatten, konnten durch die
Erziehungsweise des Schiffes, zu dessen Besatzung er zählte, nicht ge-
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hoben werden. Er war unaufhörlich aufsässig, ständig in Ungelegen-
heiten und wurde vor Ablauf seiner Zeit wegen eines von ihm an-
gestifteten Versuches, das Schiff in Brand zu setzen, zu Gefängnis
verurteilt.
Nach Verbüßung seiner ersten Strafe verließ er das Gefängnis,
wie er offen gesteht, ohne die geringste Absicht, sich anständig durch-
zuschlagen, da er fest überzeugt war, daß er ebensogut auf krummen
Wegen, d. h. durch Diebstahl, als auf dem geraden Wege vorwärts
kommen könne. Viele Diebe richten sich in einer bestimmten Stadt
heimisch ein, gesellen sich einer bestimmten Bande zu und suchen die
Bewohner eines besonderen Stadtviertels heim. Dies war jedoch
niemals Toms Lebensweise. Er zog es vor, herumzustrolchen, durch-
wanderte sechs bis sieben Jahre lang das Land in die Länge und
Breite und brachte es fertig, während der Zwischenräume, wo er nicht
im Gefängnis war, sich seinen Unterhalt zusammenzustehlen. Er
hatte viel Schneid und stahl zum großen Teil aus lauter Ruhmsucht,
um zu zeigen, daß er Pläne wirklich auszuführen wagte, von denen
weniger tüchtige Burschen sich nur zu schwatzen getrauten. Andrer-
seits hielt er auch Betteln nicht für unter seiner Würde und ließ sich
keine Gelegenheit zur Ausübung dieser Kunst entgehen. Als ich seine
Bekanntschaft machte, gab er vor, aller dieser Dinge überdrüssig und
auf ein ordentliches Leben bedacht zu sein, wobei er sein bisheriges
hauptsächlich damit entschuldigte, daß er durch das Vorgehen der
Polizei aus jeder Stellung, die er erlangt habe, vertrieben sei. Ich
kann ohne Zaudern erklären, daß diese Anschuldigung jeder Grund-
lage entbehrte, obwohl Tom sie nicht mit bewußter Unaufrichtigkeit
vorbrachte, sondern sich ihre Wahrheit eingeredet hatte. Gleich so
vielen jungen Leuten, die im Gefängnis gewesen sind, ließ er seine
Strafe, nachdem er seine Zeit abgesessen hatte, nicht auf sich beruhen,
sondern mußte, wenn er glücklich Arbeit bekommen hatte, irgend
einem Arbeitsgenossen notwendig erzählen, woher er gekommen war
und wurde natürlich bald bewogen, einige auserlesene Einzelheiten
über seine Straftaten zum Besten zu geben. Jedesmal dauerte es
nicht lange, bis Tatsachen dieser Art dem Meister zu Ohren kamen
und Tom entlassen wurde; denn in den meisten Werkstätten wird
Jünglingen, die eine Lehrzeit in den kgl. Gefängnissen durchgemacht
haben, nicht gerade eine freundliche Hand entgegengestreckt. Es ist
merkwürdig, wieviele solcher Burschen sich nicht darin genug tun
können, mit ihren Übeltaten zu prahlen, und es so extra schwer
machen, ihnen wieder auf die Füße zu helfen und auf gute Art ehr-
lichen Verdienst zu verschaffen. Denn mit größter Wahrscheinlich-
528 A. Abhandlungen.
keit führt ihre Geschwätzigkeit einmal über das andere zum Verlüst
ihrer Stellung.
Als Tom zu mir kam, hatte er schon den Gedanken, in einer
Werkstatt Arbeit zu erhalten, aufgegeben, und sein einziger Plan hin-
sichtlich der Aufnahme eines ehrlichen Gewerbes bestand darin, sich
als Besitzer einer Kokosnußbude oder eines ähnlichen Unternehmens
aufzutun und von Markt zu Markt zu reisen. Dies deuchte mir kein
sehr aussichtsreicher Geschäftsbetrieb zu sein; es ließ sich aber ermög-
lichen, ihn als Frucht- und Gemüsehändler auszurüsten, und eine
Zeitlang machte er sich ganz gut. Aber obschon Trunkenheit nicht
zu seinen Fehlern gehörte, sorgte er doch nicht für die Zukunft,
sondern verschwendete seinen Verdienst, und als schlechtes Wetter
kam und der Regen seinen Vorrat verdarb, war er wieder einmal mit
seinen Mitteln zu Ende. Er wurde aufs neue in ähnlicher Weise
unterstützt; aber das Ergebnis blieb sich gleich, und nach seinem
dritten oder vierten Fehlschlag im Hausiergewerbe erschien es geraten,
ihn eine Zeitlang nicht weiter zu unterstützen.
Es gibt nur wenige Jungen dieses Standes, die es unterlassen
können, bei ihren Unterstützungsgesuchen Bitte auf Bitte zu häufen,
selbst in Fällen, wo es ganz klar ist, daß sie um unnötige Dinge
bitten. Tom folgte der allgemeinen Regel, denn er war außerordent-
lich gierig und stets höchst besorgt, sich alles zu sichern, was mög-
licherweise seine Beute werden konnte. Bald nach unserer ersten
Bekanntschaft bat er um ein Paar Stiefel als Ersatz seiner durch-
löcherten. Kaum sah er, daß ich geneigt war, seinen Wunsch zu er-
füllen, da begann er mir auseinanderzusetzen, daß er sich unmöglich
länger mit Ehren vor der Welt zeigen könne, wenn seine Garderobe
nur das eine von ihm am Leibe getragene Hemd umfasse. Als er
auch jetzt noch kein Mißfallen in meinem Gesicht entdeckte, fügte er
ohne Besinnen hinzu, daß eine Jacke und Weste ebenso nötig wären,
und zwar so dringend erforderlich, daß er ohne eine neue Auftakelung
seine Arbeit (er hatte nämlich gerade in einer Gießerei Beschäftigung
gefunden, bei der er aber nur einige Tage aushielt) nicht in Angriff
nehmen könne. Als ich ihm vorhielt, daß er bei der Arbeit weder
Jacke noch Weste trage, murmelte er etwa folgendes: »Aber man
sieht mich, wenn ich heimgehe«, und erst, als ich ihm sagte, daß er
keine neuen Stiefel bekommen würde, wenn er noch ein Wort von
anderen Kleidungsstücken sage, brachte ich ihn zum Schweigen. Ich
bin überzeugt, daß er in dem Glauben fortging, sehr hart behandelt
zu sein.
Sein Vorgehen war geriebener als das mancher seiner Kameraden.
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 529
Wenn er z. B. »ein bißchen hausierte«, pflegte er vorzukommen und
mir ein paar Apfelsinen als Angebinde überbringen zu lassen, wozu
er Früchte auswählte, die besonders wenig anziehend ansahen. Dann
pflegte er zu fragen, ob er mich sprechen dürfe, und nachdem ihm
Einlaß gewährt war, sagte er, ich habe sicher die geringe Güte seiner
Apfelsinen bemerkt, und setzte mir weiter auseinander, einen wieviel
besseren Vorrat er sich anschaffen könne, wenn er nur noch zwei
‘ Schilling mehr hätte. Wenn ich erklärte, daß seine Früchte wirklich
nicht so schlecht wären, und daß er lieber erst seinen jetzigen Vorrat
verkaufen sollte, ehe er an die Beschaffung eines neuen dächte, meinte
er: »Ganz wie Sie denken, Herr; ich will sehen, was sich machen
läßt« und trollte mit seiner Karre davon, überzeugt, daß er mir etwas
mehr Vertrauen zu ihm eingeflößt habe, und daß ich das nächste Mal
ihm um so bereitwilliger helfen würde. Ich muß zugeben, daß er
sich nicht ganz ohne Erfolg bemühte, den von ihm gewünschten Ein-
druck hervorzurufen.
Trotzdem wurde es bald klar, daß die auf ihn verwandte Mühe
nicht völlig umsonst war. Es war etwas gewonnen; denn seine Selbst-
achtung war allmählich gewachsen. Er dachte nicht mehr an Dieb-
stahl als ein Mittel zu seinem Unterhalt, und seine Besuche im Ge-
fängnis hörten daher auf. Er wanderte nach einem Seehafen und
beschloß, mit dem heimlichen Beistand einiger Heizer, früherer Schul-
schiff-Kameraden, als blinder Passagier nach Australien zu fahren.
Er bat mich um einige Schillinge zur Erleichterung des Fortkommens
in dem neuen Lande und schrieb mit seiner gewöhnlichen Zuversicht:
Denken Sie keinen Augenblick, daß ich mich nicht zum Manne bilden werde.
Ich hätte es schon lange tun können, aber meine Genossen haben mich daran
gehindert. Ich tadele sie durchaus nicht; denn was ich gewesen bin, war ich
aus eigener Schuld. ... Glauben Sie mir, Herr, diesmal ist es mir ernst; mit
Gottes Hilfe wird das Schiff nicht ohne mich abfahren, und nach der Landung
werde ich bald Arbeit haben. Glauben Sie, Herr, einem, der meint, was er sagt.
Die nächsten Nachrichten lauteten, daß er »nach Astralien ge-
gangen sein würde, aber gefaßt wurde«, und zwar jedesmal, obwohl
er drei Versuche machte, sich zu verstecken. Aber er verzweifelte
nicht und erklärte, daß er von seinem Arbeitslohn das nötige Geld
zusammensparen wolle, um den Fahrpreis nach dem Lande der Ver-
heißung — »Astraliene — bezahlen zu können.
Überraschenderweise gelang es ihm, ganz durch eigene Bemühung
Beschäftigung als Gipsarbeiter zu erlangen, und er blieb zu meinem
noch größeren Erstaunen mehrere Monate dabei. Zu Beginn des
vorigen Jahres wurde er unglücklicherweise ohne eigene Schuld in-
folge Geschäftsflaue arbeitslos. Er wurde darauf mit einem Vorrat
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 34
530 A. Abhandlungen.
ausgestattet, um wieder das Hausiergewerbe zu beginnen, und obwohl
ihm nur eine geringe Summe zur Verfügung gestellt wurde, war er
weit erfolgreicher als früher. Er dachte jetzt ans Heiraten und er-
wähnte in einem Briefe, in dem er darlegte, welchen Rückhalt ihm die
Ehe geben werde, daß er schon >10 Bilder, 1 Ausziehtisch, 3 Stühle,
1 Bett, Feuereisen, Töpfe, Pfanne, Kessel, Teetopf« für die nötige
Haushaltseinrichtung habe.
Nach seiner Heirat nahm das Hausieren mit wechselndem Erfolg
seinen Fortgang. Auf vereinzelte Augenblicke der Verzweiflung folgte
neue Zuversicht und die Beteuerung, daß er zum letzten Male um
Hilfe bitte. Bei einer Gelegenheit schrieb er:
Ich kann mein Leben nicht fristen. Ich habe mir viel Mühe gegeben und
keinen Erfolg gehabt. Mein Fall scheint hoffnungslos; ich kann meine Miete
nicht bezahlen. Ich habe einen Raum mit meiner Mutter genommen. Ich weiß
nicht, was ich beginnen soll; ich bin ohne eigene Schuld niedergebrochen. Ich
will noch einmal versuchen vorwärts zu kommen, und wenn es mir mißlingt,
will ich’s aufgeben und sagen: An mir ist alles verloren, und will mich von
jedem Gewerbe und Beruf zurückziehen. Ich bin von Sinnen und weiß nicht,
was ich tun soll. Mir ist mitunter die ganze Welt verhaßt, und ich wäre fähig,
etwas Verdrehtes zu tun. Ich möchte es nicht versuchen; denn ich habe mich
zweieinhalb Jahre aus dem Gefängnis ferngehalten und möchte nicht wieder
hinein. Wenn die Dinge sich nicht ändern, fürchte ich, bin ich geliefert. Aber
lieber möchte ich auf dem geraden Weg bleiben.
Einige Wochen später war die Versuchung, zu seinem alten Leben
zurückzukehren, vorüber, und er schrieb:
Ich versuche, mich gut zu halten, und habe Unglück. Ich bin nicht
völlig hoffnungslos. In mir lebt noch etwas, und ich versuche, mich zu
einem Mann zu bilden.
Und später:
Bis jetzt ist alles gut gegangen. Aber meine Barschaft ist nicht groß
genug, um viel anzufangen. Montag beginne ich, für £ 1 wöchentlich zu arbeiten,
und denke, ein paar Monate dabei zu bleiben, eine gute Summe zu sparen und
dann wieder zu hausieren. Für eine lange Zeit werde ich keine Hilfe brauchen,
vielleicht überhaupt nicht wieder. Ich will versuchen, mich als Mann zu zeigen
und ein ehrenwertes Leben zu führen. Von Gebrochensein ist natürlich keine
Rede.
Wie gewöhnlich, brachen seine Pläne und lebhaften Hoffnungen
zusammen, und im letzten Oktober war er wieder gänzlich ohne
Kapital. Wieder einmal gingen seine Gedanken zurück zu den Freuden
des Lebens eines wandernden Schaustellers. Ein glänzender Plan war
ihm in den Sinn gekommen, der vielleicht am besten mit seinen
eigenen Worten beschrieben wird:
Ich will den Winter über Jones’ Weltmarkt mit einem neuen Spiel folgen.
Die Regeln des Spiels bestehen darin, den Ball zu stoßen und den Mann damit
an den Kopf zu treffen; wer das fertig bringt, erhält vier Penny ausbezahlt.
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 531
Aber das Spiel erfordert Gewandtheit und gelingt selten. Ich habe die nötige
Ausrüstung und den Stand fertig, und Ihre Hilfe brauche ich nur für die er-
betenen Dinge (alte Fußbälle und »eine Kleinigkeit«). Ich hoffe, Sie werden mir
dieses letzte Mal helfen, da ich denke, ich werde nicht mehr in die Lage kommen,
Ihnen zur Last zu fallen; denn ich bin zuversichtlich, daß dies Spiel mich
auf meine Füße stellen wird. Nur mein Weib und ich werden damit zu tun
haben, und ich hoffe, daß es ein gutes Auskommen für uns beide abwerfen wird.
Sein Wunsch wurde bis zu einem gewissen Grade erfüllt, und
als ich dann einige Zeit nichts mehr von ihm hörte, dachte ich, daß
er schließlich eine einträgliche und befriedigende Art, seinen Unter-
halt zu gewinnen, gefunden habe. Aber vor einigen Wochen schrieb
er von einer entlegenen Straße und fragte, ob ich ihm eine »Emp-
fehlung« zwecks Miete eines Hauses geben wolle. Nach reiflicher
Überlegung sagte ich zu, und wieder herrschte Schweigen. Es dauerte
jedoch nicht lange, da empfing ich eine Mitteilung von einer Haus-
maklerfirma, in der ich für den mehrwöchigen Mietbetrag eines Häus-
chens haftbar gemacht wurde, das Tom gemietet, für das er aber nur
eine oder zwei Wochen bezahlt hatte. Überdies stellte sich heraus,
daß er nur mit großer Schwierigkeit und unter dem wachsamen Auge
eines Dieners des Gesetzes zur Räumung bewogen worden war. Süd-
Shields war der nächste Ort, von dem ich hörte und wo der Hausier-
handel ihn augenscheinlich wieder einmal auf den Pfad zum Glück
gebracht hatte. Er verlangte nur nach einem etwas größeren Vorrat,
um den Erfolg zur Gewißheit zu machen. Auf dieses Ansinnen
konnte es nur eine Antwort geben — eine entschiedene Weigerung;
und damit glaubte ich, für lange Zeit das letzte von ihm gehört zu
haben. Aber zu meiner Überraschung erreichte mich seine wohl-
bekannte Handschrift vor einem Monat wieder einmal auf einem Um-
schlag, der den Stempel einer Nachbarstadt trug, wo er sich als
Arbeiter in einem der größten Werke niedergelassen hatte. Er
wünschte Hilfe, um sich durch die jährliche Arbeitsunterbrechung,
für welche, wie ich zufällig wußte, die Werke auf zehn Tage ge-
schlossen waren, »durchzuschlagen«e. In diesem Brief schrieb er von
Weib und Kind und äußerte naiv seine Neugierde, ob das letztere
»seinem Vater nacharten werde« — eine Anspielung, die das Gegen-
teil alles Wünschenswerten enthielt. Der Brief war jedoch in mancher
Beziehung besser als seine früheren Mitteilungen, und es ist nicht
ausgeschlossen, daß er nun schließlich wirklich zur Ruhe gekommen
ist und seinen vorgegebenen Entschluß, ein ehrbarer Arbeiter zu
werden, verwirklicht.
Toms Leben, soweit es bis jetzt gediehen ist, mag nicht als ein
großer Erfolg gewertet werden; aber beim Überblick über seine Ge-
34*
532 A. Abhandlungen.
schichte müssen wir vor allem berücksichtigen, daß wir es mit dem
Fall eines jungen Burschen zu tun haben, der durch Vernachlässigung
und Übel seit seiner Geburt heimgesucht ist, der in allen Teilen des
Landes Strafen erlitten hat und den denkbar schlechtesten Leumund
hatte und der dennoch, mit einem sehr bescheidenen Lose zufrieden,
nicht notwendig ein Verbrecher und nicht unfähig ist, ein ehrenwerter
Mann zu werden. Er ist durch keine Trinkleidenschaft geschwächt,
und nachdem seine Gedanken einmal auf die Möglichkeiten eines
»geraden Lebensweges« gelenkt sind, ist er imstande gewesen, sich
von dem Verbrechen und seinen Folgen frei zu halten, wenn er auch
zu Zeiten in geringem Umfange Hilfe braucht. Die Besserung eines
Lebens wird nicht an einem Tage vollendet, und wenn er sich auch
noch nicht ständig selbst unterhalten kann, so wollen wir ihm doch
voll den Erfolg zugute rechnen, mit dem er seit nahezu vier Jahren
freien Unterhalt innerhalb der Gefängnismauern vermieden hat. Er
muß erst gehen lernen, bevor er laufen kann; aber für Leute seines
Schlages gibt es stets eine Möglichkeit, bleibt stets Hoffnung, und es
liegt kein Grund vor, weswegen Tom trotz seiner Vergangenheit nicht
in zukünftigen Jahren ein grundanständiger Bursche werden sollte.
XI. Joe — eine Borstal-Kur.
Vor etwa vier Jahren erhielt ich einen Brief mit der Anfrage,
ob ich mich eines Jünglings aus einem südenglischen Seehafen, der
demnächst seine zwei Jahre in Borstal vollende, bei seiner Entlassung
annehmen und ihm auf den Weg helfen wolle, seinen Unterhalt zu
verdienen. Ich wurde davon in Kenntnis gesetzt, daß wenig oder
gar keine Aussicht vorhanden sei, daß der Bursche sich in seiner
Heimatstadt schicken werde, da seine Kameraden alle junge Leute
von verbrecherischer Anlage seien. Es wurde betont, daß mangels
eines völligen Wechsels der Umgebung die ihm im Borstal-Gefängnis
zuteil gewordene wertvolle Erziehung verlorene Mühe sein würde.
Sein Leumund war keineswegs gut; denn die Strafe, welche sich jetzt
ihrem Ende näherte, war seine fünfte wegen Einbruchdiebstahls; aber
da andere Burschen aus dem Süden trotz schlechter Anlagen und
wiederholter Gefängnisstrafen sich nach ihrer Verschickung nach
Manchester zu einem ordentlichen Leben und ehrlicher Arbeit zu-
sammengerafft hatten, erklärte ich mich bereit, ihn zu nehmen.
Von durchaus ehrenwerten Eltern abstammend, hatte er sich an-
scheinend schon in früher Jugend mit einer Rotte besonders lockerer
Gesellen eingelassen, von denen viele im Gefängnis gewesen waren,
und die sämtlich nichts Böses darin sahen, auf anderer Kosten zu
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 533
leben. Sie gehörten nicht zu jenen armseligen Wichten, die in gewöhn-
lichen Logierhäusern herumliegen und auf Schleichwegen kümmerliche
Taten ausüben — z. B. Ausrauben von Hintergärten, Plündern von
Gas- und Wasserleitungszubehör in leeren Häusern und dergleichen —,
sondern alle lebten zu Hause und versuchten sich in Diebereien
höherer und verwegener Art. Joe selbst, ein gewandter, kluger und
schneidiger Bursche, wollte mit kleinen Spitzbübereien nichts zu tun
haben, denn er hatte sich schon früh durch die Vorteile erfolgreicher
Einbrecherarbeit angezogen gefühlt und beschränkte sich ganz auf
dies gefährliche Gewerbe. Die Strafe, die er gerade abgebüßt hatte,
war der Lohn eines besonders kühnen Verbrechens, und schließlich
erwies sich, wie es oft geht, die Schwere der Tat als seine Rettung,
weil sie ihm eine Strafe von langer Dauer sicherte. Die früher von
ihm verbüßten kurzzeitigen Strafen hatten, abgesehen von einem all-
gemeinen Groll gegen das Gesetz und seine Diener, keinerlei Wirkung
hervorgerufen, und er erzählte mir ohne Zögern, daß er bei den
früheren Gelegenheiten das Gefängnis jedesmal mit der festen Absicht
verlassen habe, wieder auf Einbrüche auszugehen. Er hatte den Reiz
der Gefahr gekostet, und es war, wie er sagte, ein ganz leichter und
vergnüglicher Weg, seinen Unterhalt zu erwerben, solange man nur
keine Bange hatte. Joe gehörte niemals zu der Klasse der Angst-
meier, welche die Mehrzahl der Verbrecher umfaßt; Mut ist nämlich
nicht gerade ein Merkmal des gewöhnlichen Einbrechers und Diebes.
Er sagte mir, er würde vor keiner Gewalttat zurückgeschreckt sein,
wenn sie ihm im Falle der Entdeckung die Möglichkeit der Flucht
eröffnet hätte; aber wenn es klar war, daß man ihn gestellt und ihm
die Flucht abgeschnitten hatte, fügte er sich ohne weiteres ruhig in
sein Los.
Auch unter seiner eigenen Bande hauste er als ein wilder, roher
Bursche, und eine seiner Strafen war auf den zu eilfertigen Gebrauch
seines Messers gefolgt. Er hatte einige seiner Spießgesellen spät
abends getroffen, nachdem ihm vor wenigen Tagen der Versuch, »ein
Ding zu drehen«, dessen er sich schon im voraus gebrüstet hatte,
schmählich mißlungen war. Unfähig, Spott zu ertragen, wurde er
durch die allgemeine Neckerei über seine Schlappe über alle Maßen
aufgebracht. Ein Zank folgte, in dessen Verlauf er einen Schlag ins
Gesicht erhielt. Augenblicklich zog er sein Taschenmesser und stach
seinen Gegner in die Brust. Dieser Stoß war zweifellos mit der
ernstesten Absicht geführt; aber zu seinem Glück heilte die Wunde
schnell. Er war im ganzen genommen bei seinen Freunden außer-
ordentlich beliebt, und der verletzte Bursche erklärte, daß das Messer
534 A. Abhandlungen.
nur in einer Scherzdrohung gezogen und versehentlich ausgeglitten
sei; er machte nicht viel Wesens von seiner Verwundung und ließ
sich nicht dazu bewegen, etwas gegen Joe auszusagen.
Soviel über Joe vor seiner Borstal-Zeit. Zwei Jahre individueller
Behandlung nach menschlichen und vernünftigen Grundsätzen hatten
einen anderen Jungen aus ihm gemacht. Zum erstenmal hatte er
gelernt, daß gute und stetige Arbeit ihren Lohn hat, und indem er
sich daran gewöhnte, gemeinsame Aufgaben um verschiedener kleiner
hochgewerteter Vorrechte willen zu erfüllen, war er allmählich dahin
gelangt, die Arbeit um ihrer selbst willen zu lieben. Als die Zeit
seiner Entlassung näher rückte, war er so entschlossen, nicht wieder
»die schiefe Ebene zu betreten«, daß er den Behörden sagte, seine
Rückkehr nach seiner Heimatstadt würde aller Wahrscheinlichkeit
nach seine frühe Rückkehr ins Gefängnis, wahrscheinlich sogar ins
Zuchthaus, bedeuten. Er fühlte, daß er sich zu Hause unmöglich
von seinen alten Freunden fernhalten könne und bat, von seinen
Eltern unterstützt, um Verschickung nach einem entfernten Landes-
teile. Infolge meiner Zustimmung, ihn zu betreuen, wurde Manchester
sein Bestimmungsort.
Er war ein hübscher junger Bursche von einigen zwanzig Jahren,
schlank, geschmeidig, wohlgebaut, äußerst sauber gekleidet, und außer
einem gewissen Blick in seinen Augen, wie er sich bei Gliedern der
Verbrecherzunft nicht selten findet, konnte nichts auf den Gedanken
bringen, daß er schon jemals das Innere eines Gefängnisses gesehen
habe. Sein erster Eindruck auf mich war günstig; denn anstatt billige
Versicherungen herunterzuschnurren, wie erfolgreich er sein Leben
dank der ihm gewährten Hilfe gestalten werde, erwiderte er auf meine
Mahnungen: »Sie haben gut reden, Herr; aber wenn Sie mein Leben
geführt hätten, würden Sie es nicht so leicht finden, es aufzugeben
und ein neues zu beginnen. Sie sehen, ich hatte niemals eine Ge-
legenheit. Sobald ich aus dem Gefängnis kam, schien ich von der
Polizei gebrandmarkt zu sein, und niemand wollte mir Arbeit geben,
und ich mußte doch irgendwie meine äußere Erscheinung in an-
ständiger Verfassung erhalten.«
Schon bald nach seiner Ankunft fand sich eine passende Stellung
für ihn, während Vorkehrungen getroffen wurden, um ihn bei einer
durchaus ehrenwerten Familie unterzubringen. Nichtsdestoweniger
bestand eine Zeitlang die ernste Gefahr, daß er seinen Versuch einer
ehrlichen Lebensführung wieder aufgeben würde. Denn sein Unter-
halt verschlang fast seinen ganzen Verdienst, und er schien sehn-
süchtig an seine Einbrecherzeit zurückzudenken, wo er seiner Angabe
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 535
nach stets darauf rechnen konnte, ein Menge loses Silbergeld in der
Tasche zu haben. Er hatte die Idee gefaßt, daß der einzige Weg,
der ihm einige Aussicht auf Erfolg biete, die Einrichtung eines eigenen
Geschäftes wäre, und er kam zu mir mit dem Plan, für die geringe
Summe von æ 15 ein angeblich vielversprechendes kleines Krämerei-
geschäft in einer Vorstadt zu erwerben. Er schien zu denken, daß
in der Aufwendung einer so großen Summe für ihn nichts Besonderes
liege und deutete fast an, daß er ein Recht habe, die Beschaffung
des Geldes zu erwarten. Freilich hatte er keine sehr klaren Gründe
für seine Forderung außer dem einen, daß er ein »armer Schlucker«
gewesen sei und auf eine gute Aussicht für die Zukunft Anspruch
habe. Es erforderte einen beträchtlichen Aufwand von Überredungs-
kunst, um ihn zur Aufgabe des Gedankens zu veranlassen und ihm
klar zu machen, daß seine wirklichen Aussichten auf Erfolg in ganz
anderer Richtung lägen.
Nichts ist überraschender als die Art, in der junge Leute ohne
jeden Geschäftsgeist, ohne die geringste Übung im Kaufen und Ver-
kaufen und ohne die leiseste Ahnung von Buchführung glauben, aus-
. gezeichnete Ladeninhaber abzugeben. In der Regel könnte es kein
törichteres Verfahren geben als sich auf ihre Grillen einzulassen. Ich
habe allerdings tatsächlich einen Burschen gekannt, dem von einem
Borstal- Verein ein kleines Geschäft eingerichtet ist und zwar mit
gutem Erfolge. Aber wenn das letzte Ziel dieser Vereine wirklich die
Verringerung des Verbrechertums ist, darf die Wohlfahrt des ehe-
maligen Gefangenen selbst nicht der einzige Gesichtspunkt derer sein,
die ihm zu helfen wünschen. Es liegt große Gefahr vor, daß zuviel
Geld auf eine einzelne derartige Person verwendet wird; denn ab-
gesehen von allen anderen Erwägungen sollte man ihm niemals solche
Gelegenheiten geben, die er nicht vielleicht auch auf dem verborgenen
Pfad der Ehrlichkeit gefunden hätte. Junge Leute, die im Gefängnis
gewesen sind, werfen sich fast unvermeidlich dadurch weg, daß sie
ihre Vergangenheit bekannt werden lassen, und wenn ihre Lage be-
merkenswert günstig ist, wird die in gewissen Arbeitervierteln keines-
wegs ungewöhnliche Vorstellung bestärkt, daß ins Gefängnis zu wandern
sich besser bezahle als das Gegenteil. Daß dieser Eindruck nicht
selten vorherrscht, wird vielleicht durch die Tatsache belegt, daß in
einem nordenglischen Gefängnisse, dessen jugendliche Insassen bei
ihrer Entlassung sehr freigebige Hilfe erfuhren, der Oberaufseher mir
gegenüber kürzlich folgendes bemerkte: Gewisse Jungen, die man bei
ihrer Entlassung mit neuer Kleidung versehen und in anderer Weise
unterstützt habe, seien binnen wenigen Wochen zurückgekehrt, und
536 A. Abhandlungen.
zwar nicht allein, sondern jeder in Gesellschaft von zwei oder drei
anderen Burschen. Diese hätten gemeinschaftlich mit ihnen irgend
eine kleine Dieberei offenbar aus dem einzigen Grunde ausgeübt,
weil sie hofften und erwarteten, nach Ablauf ihrer Strafzeit eben-
falls mit Kleidung und anderen äußeren Wohltaten versehen zu
werden. Tatsächlich wurden einige von ihnen bei der Äußerung be-
lauscht, daß es keinen besseren Weg gebe, sich einen guten Anlauf
zu verschaffen als für ein paar Wochen »eingebuchtet« zu werden.
Solchen Burschen zu helfen, die ihre Strafe nicht als ein restloses
Übel, sondern als ein Mittel betrachten, um den gewöhnlichen Jungen,
die nicht im Traum an einen Konflikt mit der Polizei denken, den
Rang abzulaufen — das heißt eine Richtung einschlagen, bei der mehr
Böses als Gutes herauskommen muß. So gestaltet sich die Besserung
eines jungen Kerkervogels zu einer heiklen Aufgabe; denn seine Be-
handlung erfordert die größte Umsicht, wenn seine Zeitgenossen ihn
nicht eher beneiden als auf ihn herabsehen sollen.
Obwohl eine gewisse Gefahr darin gelegen haben mag, Joe bei
seinem unsinnigen Streben nach Erwerb eines Ladens den Beistand
zu versagen, so ließ sich diese Gefahr doch nicht umgehen, und
schließlich lief alles gut ab. Der unmittelbar auf die Entlassung
folgende gefährliche Zeitraum wurde glücklich überwunden, und mit
fortschreitender Zeit und zunehmender Gewöhnung gab Joe sich zu-
frieden und nahm sich seiner Arbeit mit dem lebhaftesten Interesse
an. Er arbeitet noch bei derselben Firma, bei der er eintrat und ist
kürzlich zu der Stellung eines Vorarbeiters aufgerückt. Sein ehrliches
Leben ist nicht unbemerkt geblieben. Mehr als einmal ist er in
Manchester von alten Gefährten, die nordwärts verschlagen waren,
gesehen, und mehr als einmal haben sie, bestrebt, aus seinem Wage-
mut Kapital zu schlagen, ihm verlockende Anerbieten gemacht, um
ihn für ihre Sache zu gewinnen. Aber er erklärte, das Spiel sei den
Einsatz nicht wert, und er habe für sein Leben schon genug Gefängnis
gehabt. Was etwa noch an Rückfallsgefahr bestanden haben mag,
löste sich infolge seiner Heirat in nichts auf, denn er ist seinem
jungen Weibe warm zugetan.
Ich darf die Bemerkung nicht unterdrücken, daß Joes Wieder-
geburt durch eine bei Leuten seines Standes ganz ungewöhnliche
Eigenschaft wesentlich unterstützt wurde. Er war stets peinlich sauber
und rein. Einerlei, wie ärmlich seine Kleidung, wie schmutzig seine
Arbeit war, in seinen Mußestunden war er stets bemüht, sich so
schmuck als möglich zu zeigen, und diese Besorgnis um seine per-
sönliche Erscheinung machte es für ihn viel leichter als für die große
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 537
Mehrzahl der jungen Gefüngnisstammgäste, seinen Platz in den Reihen
ehrsamer Handwerker einzunehmen, sobald er nur alle Gedanken auf
Fortsetzung seiner Einbrecherlaufbahn aufgegeben hatte. Es ist wohl
zweifelhaft, ob jemand, für den Wasser und Seife und mehr oder
weniger saubere Kleidung selbstverständliche Dinge sind, sich ein
richtiges Bild davon machen kann, in welchem Maße diese Kleider-
und Reinlichkeitsfrage die Kriminalität der Jugendlichen beeinflußt.
Schmutzige, zerlumpte Kleidungsstücke, schmierige Mützen und tagaus
tagein ohne Möglichkeit eines Wechselns getragene Halsbinden sind
meiner Meinung nach für vieles verantwortlich. Soviel ist gewiß,
daß ein Bursche, der sich mit einer einzigen Garnitur von Kleidungs-
stücken begnügt, unbedingt zu einer sehr niedrigen Gesellschaftsstufe
gehört, und das fehlende Verlangen nach einem Sonntaganzug sowie
das unbekümmerte Tragen der Werktagkleidung am Sonntag ist in
der Tat sehr häufig das Kennzeichen eines Menschen, der äußeren
Einflüssen in hohem Maße unzugänglich ist. Der Mangel an Selbst-
achtung oder ihr Verlust ist wohl das am schwersten zu behandelnde
und überwindende Hindernis bei der Erziehung eines Burschen, in
dem sich infolge des verderblichen Einflusses seiner ganzen Umgebung
und seiner Gefährten die Überzeugung festgesetzt hat, daß Vergehen
gegen Recht und Sitte nichts zu bedeuten haben. Die Abhängigkeit
des Geistes vom Fleisch ist so groß, daß diese über alles wichtige
Eigenschaft der Selbstachtung kaum jemals in einem in schlechte
Kleider gehüllten, schmutzigen Körper wohnen kann.
Wie schon bemerkt, entwickelte Joe gleich vielen Jünglingen
seines Schlages nach Aufgabe seiner verbrecherischen Neigungen ein
gewisses Maß von Ehrgeiz. Obschon seine jetzige Stellung befriedigend
ist, läßt er es sich damit nicht genügen, sondern hegt die Über-
zeugung, daß er bei gehöriger Anspannung seiner Kräfte in einer der
Kolonien viel bessere Aussichten hat als in England. Er hat bemerkt,
wie Leute hierzulande ihre Arbeit infolge Geschäftsflaue oder irgend
eines Zufalles verlieren und ohne Hilfsmittel in einem Alter — viel-
leicht erst vierzig oder darunter — dastehen, wo trotz ihrer Arbeits-
willigkeit und Arbeitsfähigkeit kein Arbeitgeber ihre Dienste begehrt.
Er sagt, er wünsche nicht, daß sein Weib jemals auf Verdienst aus-
zugehen und für Lohn zu arbeiten brauche, wie in solchen Fällen
die Frauen zu tun pflegen, um den Haushalt aufrecht zu erhalten.
Er glaubt, ihr Leben viel heller und ihre Hoffnungen auf künftigen
Wohlstand viel sicherer gestalten zu können, wenn sie nach Neu-
südwales auswandern, und er hofft, den Zeitpunkt, wo er genug ge-
spart hat, um diesen Plan ausführen zu können, im nächsten Frühjahr
538 A. Abhandlungen.
zu erreichen. Daß es ihm gut gehen wird, bezweifle ich nicht. Ebenso-
wenig kann es fraglich sein, daß mancher andere Bursche, der viel-
leicht ein alter verhärteter Einbrecher und eine Pest für die Gesell-
schaft geworden wäre, statt dessen unter dem wohltätigen Einfluß des
Borstal-Systems sich zu einem nützlichen Arbeiter entwickeln wird.
Viele mögen vielleicht denken, daß die Besserung eines so schweren
Verbrechers, wie ein Einbrecher es ist, eine weit schwierigere Aufgabe
darstellt als die Rettung eines der vielen Diebe, die lediglich von
kleinen Spitzbübereien leben. Aber wie die Sache auch bei Leuten,
über die ich keine genauere Kenntnis habe, liegen mag — ich bin
überzeugt, daß ein Jüngling, der Unternehmungsgeist hat, um einen
Einbruch zu planen und auszuführen, sich gut entwickeln wird, wenn
es nur möglich ist, ihm die Vorteile eines ehrlichen Lebens begreif-
lich zu machen und ihn aus seiner schlechten Umgebung zu entfernen.
Denn wenn er nicht von Grund aus verdorben ist, wird die mutige
Entschlossenheit, die ihn zum Einbrecher gemacht hat, bei Verwendung
auf anderen Gebieten aus ihm einen guten und zuverlässigen Arbeiter
machen.
XII. Ein vergeudetes Leben.
»Darf ich mich hier verstecken, Herr, darf ich? Er ist hinter
mir! Er hat mich unter gehabt und einmal verhauen und sagt, er will
mir den Garaus machen, wenn er mich wieder zu fassen kriegt, und
er ist hinter mir!« -— »Unginn, Junge, wovon redest du eigentlich?«
erwiderte ich kühl einem wenig einnehmenden, keuchenden Burschen
von etwa achtzehn Jahren, der mich, wie vorstehend, bestürmte. Er war
untersetzt, aber stämmig und kräftig gebaut, hatte helles, lockiges Haar
und wild rollende Augen, die niemals lange auf demselben Gegenstand
ruhten, sondern die Richtung ihres Blicks ständig wechselten. Ein
Ohr war leicht angeritzt und seine Backe blutüberlaufen. Bevor ich
Zeit hatte, mehr zu sagen, erschien ein größerer, plumperer, etwa zwei
Jahre älterer Bursche am andern Ende des Ganges, und im Nu war
Albert in das angrenzende Zimmer geschlüpft und hatte die Tür ver-
schlossen. Peter, der neue Ankömmling, war mir wohlbekannt als
eine Person, die ihren schlechten Ruf wegen Trunksucht und üblen
Lebenwandels im allgemeinen durchaus verdiente, und man konnte
leicht sehen, daß er trunken und wuterfüllt war. »Haben Sie ihn
gesehen, Herr?« schrie er. — »Wen gesehen?« — »Den jungen
Turner. Ich will ihn heute nacht kalt machen, und es ist mir gleich-
gültig, ob ich deswegen am Galgen baumeln soll.«
Es war klar, daß Peters Blut in Wallung war und daß er, vom
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 539
Trunk angefacht, mit Albert hart umspringen würde, wenn er ihn zu
fassen bekäme. »Heute abend kann ich hier nichts mit dir anfangen.
Hinaus mit dir, und komm wieder, wenn du nüchtern bist« sagte ich
und brachte den Rüpel mit großer Schwierigkeit hinaus. Dann machte
ich mich auf die Suche nach Albert, der in gemeiner Furcht an der
Rückwand des Raumes kauerte, in dem er bei Peters Herannahen
Zuflucht gesucht hatte. »Komm da heraus! Er ist jetzt fort. Laß
mich hören, was das alles zu bedeuten hat!«
Es stellte sich heraus, daß Albert zu früherer Stunde dieses
Abends im Besitz von ein paar Schillingen gewesen war. Peter, der
davon Wind bekommen hatte, hielt ihn auf der Straße mit den Worten
an: »Gib mir einige Kupfer ab, Bert, damit ich über die Nacht hin-
wegkomme.«e Die Bitte wurde ohne weiteres abgeschlagen, worauf
Peter den Burschen zu Boden stieß und ernstlich auf ihn einhieb,
wovon er erst abließ, als ein Polizist auf der Bildfläche erschien und
ihn nötigte, Fersengeld zu geben. Später hatte er Albert wieder ge-
seben, der aber bei seiner Annäherung floh und in Verlegenheit,
wohin er sich wenden solle, instinktiv nach einem Platze eilte, wo er
mich, von dem er Schutz erhoffte, anzutreffen sicher war.
Sein Fall lag eigenartig. Obwohl seine Eltern ehrliche, streb-
same Leute waren, hatte er seit seinem Abgange von der Schule un-
entwegt von seiner Schlauheit oder, klarer ausgedrückt, von kleinen
Diebereien in Verbindung mit erfolgreichem Bettel gelebt; denn er
war einer der unverschämtesten Bettler geworden, die ich je gesehen
habe. Ihm behagte es, in gewöhnlichen Logierhäusern zu wohnen, und
dementsprechend hatte das Gefängnis keine Schrecken für ihn. Er
war sein Insasse wohl ein halb Dutzend mal gewesen, und bereute
die Erfahrung nicht im mindesten; so nahm er auch die Gefahr, ent-
deckt und für seine verschiedenen Übeltaten ins Gefängnis geschickt
zu werden, bereitwillig auf sich. Gerade seine Unbekümmertheit
machte ihn in gewisser Weise bei seinen Kameraden beliebt, obwohl
offen unter ihnen erzählt wurde, daß er in Wirklichkeit ein »Spitzel«
oder »Schnüffel«, d. h. ein Agent der Polizei, sei und schon manche
seiner Gefährten »preisgegeben« habe. Mag dem sein, wie es wolle,
es ist möglich, daß Albert gleich vielen seiner niedrigen Gesellen bis
zu einem gewissen Alter die Elemente eines ordentlichen Burschen in
sich trug. Ihre gegenseitige Gesellschaft hatte die meisten von ihnen
in den Sumpf gezogen.
Eine Fertigkeit besaß der Junge. Er war ein vollendeter Holz-
schuh-Tänzer und konnte sich durch eine Schaustellung seiner Be-
weglichkeit und Gewandtheit leicht einen Vorrat von Kleingeld er-
540 A. Abhandlungen.
werben. Tatsächlich sicherte er sich bei mehr als einer Gelegenheit
Beschäftigung in den niederen Musikhallen des Ortes. Als er älter
und verwahrloster wurde, übte er seine Kunst in gewöhnlichen,
schweren Holzschuhen aus, aber zur Zeit unserer besten Bekanntschaft
ging er niemals ohne ein reichgeschmücktes Paar einher, das er in
einem schmutzigen Stück Papier bei sich trug und beim Eintritt in
die von ihm bevorzugten Kneipen anzulegen pflegte. Die Besucher
der letzteren waren stets bereit, sich in den Holzschuhen etwas vor-
tanzen zu lassen und am Schlusse der Vorstellung den Hut herum-
zureichen. Aber obwohl er so imstande war, ein wenig zu verdienen,
gereichte ihm sein Tanzen doch nicht zum Heil; denn, an sich harm-
los, war es vermutlich in hohem Grade die Ursache seines völligen
Sturzes. Durch seine Betätigung auf diesem einen Gebiet, auf dem
er vor seinen Kumpanen glänzen konnte, erwarb er sich nämlich schon
früh im Leben eine leidenschaftliche Vorliebe für starke Getränke;
denn oft genug bestand das Mittel, durch das Zuschauer ihrer Wert-
schätzung seiner Künste Ausdruck zu geben wünschten, darin, daß
sie dem Jungen zu trinken gaben. Der Holzschuhtanz ist außer-
ordentlich beliebt bei der Jugend der ärmeren Klassen von Manchester
und Umgegend, und viele von ihnen sind ausgezeichnete Beurteiler
und wissen eine neue Abart des Tanzes oder ein ungewöhnlich
genaues Innehalten der Zeit beim Durchtanzen der verschiedenen
Schritte sehr wohl zu würdigen.
Ein anderer Weg, auf dem Albert mitunter seinen Unterhalt zu-
sammenscharrte, bestand in der Miete und dem Spielen eines Orgel-
klaviers, eine Erwerbsquelle, die jetzt nicht annähernd so ertragreich
ist, wie sie es vor einigen Jahren vor der Einführung des Grammophons
war. Aber mehr als einmal kam es vor, daß er, nahe daran, wegen
Verkehrsbehinderung verhaftet zu werden, davon rannte und die Orgel
im Stich ließ, wo sie der Eigentümer unter Weitläufigkeiten abzuholen
hatte. So sah ihn der Italiener, der die Instrumente verlieh, in
steigendem Maße als unzuverlässig an, und schließlich wurde ihm
dieser Weg zu einem Einkommen fast gänzlich verschlossen.
Was die Orgeln anlangt, so ist es eine interessante Tatsache, daß
man unter ihren erwachsenen Spielern — wenn es sich nicht gerade
um wirkliche oder vorgebliche Arbeitslose handelt — selten Eng-
länder finden wird; vielmehr sind sie gewöhnlich Italiener, mitunter
zwei Männer, mitunter Mann und Frau. Wenn Orgeln dagegen von
Jugendlichen gespielt werden, so handelt es sich fast stets um rauhe
englische Jungen. Letzteres braucht nicht bedauert zu werden; denn
Orgelspielen ist der Zweig des Straßengewerbes, nach dessen Erprobung
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 541
Jungen bereitwillig ordentliche körperliche Arbeit aufnehmen, und
zwar, wie ich glaube, aus dem Grunde, weil sie nicht durch völlige
Trägheit verweichlicht sind. Denn »eine Kurbel zu drehen«, wie sie
es nennen, und die schwere Orgel häufig meilenweit an einem Tage
mit sich zu schleppen, ist keine leichte Arbeit für einen unerwachsenen
Burschen.
Ein oder zwei Jahre nach dem oben beschriebenen Zwischenfall
traf ich Albert zufällig in einem gewöhnlichen Logierhause, das ich
bei gebotener Gelegenheit besuchte. Ich fand ihn allein in der Küche.
Er hatte getrunken und bot ein trauriges Bild, als er eifrig auf mich
zu kam, um zu fragen, welche Schritte ich gegen jemanden ergreifen
würde, der mich beleidigt hätte. Man konnte leicht sehen, daß er
unter dem Eindruck stand, von jemandem, den er kürzlich gesehen
hatte, beleidigt zu sein, und ich versuchte, so gut ich konnte, ihn zu
beruhigen. Schließlich ließ er sich auf einer Bank in der hintersten
Ecke des Raums nieder. Kurz danach erschien ein etwa vierzig Jahre
alter Mann, ein Ausländer und offenbar eben derjenige, mit dem
Albert vor einigen Minuten im Wortkrieg gelegen hatte. Er verlangte
ebenfalls zu wissen, wie er sich im Falle einer Beleidigung richtig
verhalten solle. Er war leicht beruhigt, und für einige Minuten ver-
stummte die Unterhaltung — da sprang Albert plötzlich ohne vorherige
Warnung mit einem Messer in der Hand von seinem Sitz auf und,
bevor man sein Vordringen hindern konnte, hatte er mit dem Messer
den Fremden in die Stirn gestoßen. Im Nu wurde ihm das Messer
aus der Hand entwunden, und er stürmte aus dem Haus, während
der Verletzte, dessen Wunde glücklicherweise nicbt gefährlich war,
unter unserer Obhut zur Verbindung der Wunde ins Krankenhaus
gebracht wurde. Für einige Augenblicke hatte die Wirkung des
Trunkes Albert in einen Unhold verwandelt. Als ich ihn einige
Wochen später traf und fragte, was in aller Welt ihn veranlaßt habe,
den Mann zu stechen, erhielt ich die seltsame Antwort: »Ja, Herr,
ich fühlte, da war ein Teufel in mir, und da mußte ich es tun.«
Jedenfalls möchte ich nie wieder in einem menschlichen Auge solch
einen Blitz wilden Hasses sehen, wie er aus Alberts Auge hervor-
schoß, als er seinen Gegner niederstach. Obwohl immer noch ein
Jüngling, ging es mit ihm doch reißend hinab auf die Bahn eines
völlig dem Laster gewidmeten Lebens, und sein Aussehen wurde
immer verkommener. Ich konnte nichts tun, um ihn wieder in die
Höhe zu bringen, und sah ihn nur bei vereinzelten Gelegenheiten,
wenn er mich auf der Straße traf und mir weinerlich bettelnd folgte.
Dann verschwand er lange Zeit gänzlich aus meinem Gesichtskreis,
542 A. Abhandlungen.
bis ich ihn infolge eines seltsamen Zusammentreffens gerade noch
einmal wiedersah.
Ich besuchte einen Patienten in einem Krankenhause, und
während ich mit ihm plauderte, ertönte plötzlich von dem nächsten
Bett, dessen Inhaber ich nicht sehen konnte, da er in den letzten
Zügen lag und Wandschirme rings herum gestellt waren, eine schwache
Stimme: »Sind Sie es, Herr?« Nachdem ich Erlaubnis erbeten und
sofort erhalten hatte, trat ich hinter den Schirn und sah Albert zum
letztenmal. Er lag auf dem Rücken und rang hart nach Atem, und
seine Lebensuhr holte schon zum letzten Schlage aus. »Ich bin ein
Narr gewesen, Herr, nicht wahr? Aber ich wollte es nicht sein.
Meine Kumpane und der Suff sind Schuld an allem. Sie werden
nicht schlecht von mir denken, nicht?« Es nahm nicht viel Zeit in
Anspruch, um alles Nötige zu sagen, und als das müde Haupt zurück-
sank, zog ich mich traurig zurück; denn Albert hatte sich zu seiner
langen Ruhe niedergelegt.
Ein Leben vergeudet — gescheitert, wie er sagte, infolge schlechter
Kameraden und Trunksucht. Nach beiden Richtungen war es kein
ungewöhnliches Dasein, obwohl zur Ermutigung aller, die mit der-
gleichen in Berührung kommen, die Häufigkeit derartiger Fälle all-
mählich etwas abnimmt. Denn die Dinge sind schon besser geworden.
Überall wird die Einrichtung von Trinkgelegenheiten beschränkt, und
die Trunksucht ist in der Abnahme begriffen, während die Notwendig-
keit, vernünftige Betätigungsarten für den jugendlichen Tatendrang zu
schaffen, immer mehr erkannt und berücksichtigt wird. Schließlich
hat ein weiseres, menschlicheres und aufgeklärteres Verfahren bei Be-
handlung der irrenden Jugend Platz gegriffen, und wenn die ersehnte
Zeit kommt, daß die Schmutzviertel unserer Großstädte nur noch ein
gräßlicher Alp der Vergangenheit sind, wird solches Verderben nicht
mehr möglich sein. Der arme Albert »gedachte nicht närrisch zu
seine und auch nicht schlecht; er verlangte nur seinen Tribut vom
Leben und ging nicht darauf aus, zu leben und zu sterben, wie er
es tat. Aber die sozialen Verhältnisse, in denen er lebte und die zu
wenig mit seinen natürlichen Instinkten im Einklang waren, hatten
ihn dazu gemacht, was er schließlich war, und hatten seinem Leben
ein frühes Ziel gesetzt — einem Leben, das so völlig vergeudet war,
wie nur eins, mit dem ich je in Berührung gekommen bin.
XIII. Jack.
Jack war der Sohn ruhiger, ehrenwerter Eltern, die in einiger
Entfernung von dem Mittelpunkt der Stadt in einer von kleinen Ge-
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 543
schäftsleuten und besseren Handwerkern bewohnten Straße lebten.
Als Knabe war er sehr schlagfertig und lebhaft und besaß eine mehr
als durchschnittliche Begabung. Er las äußerst gern, hatte aber un-
glücklicherweise nicht die Mittel, sich zu einer Bibliothek guter Jugend-
schriften Zugang zu verschaffen. Infolgedessen erwarb er eine große
Vorliebe für die starke Kost auf dem Gebiet der romantischen Knaben-
literatur, wie sie in den Zeitungsläden in den kleinen Hinterstraßen
feil gehalten wird. Der Stil dieser Bücher könnte leicht so aufregend
bleiben, wie erist, und dabei doch harmlos sein. Anstatt dessen wird
jetzt unberechenbarer Schade dadurch angerichtet, daß Rüpel und
Räuber zu Helden gestempelt werden und die Phantasie der jugend-
lichen Leser mit Ideen von Geheimbünden, schrecklichen Morden und
allen möglichen Sensationsgeschichten genährt wird.
Sogleich nach seinem Schulabgang erlangte er eine Stellung bei
einer nicht unbedeutenden Firma als eine Art Pagenjunge. Da eine
seiner Pflichten darin bestand, morgens aufzuräumen, waren ihm
während der Nacht die Schlüssel des Platzes anvertraut. Durch eins
der gelesenen Bücher und die Würde seiner neuen Stellung verwirrt,
faßte er den Plan, eine Geheimgesellschaft zu gründen, die er die
»Gesellschaft der goldenen Schlüssel«e nannte. Ihr Zweck war, soweit
ich erfahren konnte, rein geselliger Natur, und die Mitglieder be-
standen aus fünfzehn bis achtzehn Kontor- und Laufjungen. Jack
war Präsident und Schatzmeister, und Versammlungen wurden einmal
wöchentlich abends in einem der Geschäftsräume seiner Arbeitgeber
abgehalten. Bei diesen Gelegenheiten wurden umständliche Förmlich-
keiten beobachtet, und ein guter Vorrat von Erfrischungen, haupt-
sächlich Süßigkeiten, wurde vertilgt. Jacks Taschengeld war nur
gering, und als Präsident der Gesellschaft deuchte er sich zu arm
und glaubte, ohne größere Mittel seine Stellung nicht glanzvoll und
sicher machen zu können. Unglücklicherweise konnte er sich früh-
morgens vor Öffnung des Büros Zutritt zu. den Briefen der Firma
verschaffen und fand unter dem Zwang der Versuchung schnell ein
Mittel, um ein- oder zweimal wöchentlich ein paar Postanweisungen
beiseite zu bringen. Dabei suchte er Geldsendungen von Personen
aus, die seiner Mutmaßung nach nur ein einziges Geschäft mit der
Firma schweben hatten. Einige Wochen lang ging alles gut; dann
aber traf das Unvermeidliche ein. Ein Kunde, der zum zweitenmal um
Zahlung ersucht war, berief sich auf eine der Firma in einem Brief
gesandte Postanweisung, deren Nummer er angab, und es dauerte
nicht lange, da wurde diese Anweisung ausfindig gemacht und fest-
gestellt, daß sie in Jacks gänzlich unverstellter Handschrift quittiert.
544 A. Abhandlungen.
war. Auf Vorhalt räumte er seine Schuld ein und wurde in der ge-
richtlichen Verhandlung auf fünf Jahre einem Erziehungs-Schulschiff
überwiesen. Dies entsprach auch dem Wunsche des Vaters, der an
einer langwierigen tödlichen Krankheit litt und erklärte, daß der Junge
zu Hause seiner Aufsicht völlig entwachsen sei. Zuerst haßte er die
Schiffszucht und alles, was damit verbunden war. gründlich, aber
binnen wenigen Wochen fügte er sich und erreichte durch ausge-
zeichnetes Betragen die beste ihm zugängliche Stellung, nämlich die
des »Kapitänsjungen«.
Nach Ablauf der fünf Jahre reiste Jack, jetzt ein großer,
stämmiger Bursche von schönerer und kräftigerer Gestalt als die
meisten Jungen in den Besserungsanstalten, von der Themse nach
Manchester. Er fand jedoch bei seiner Rückkehr ein sehr verändertes
Heim vor. Sein Vater war seit langem tot, und seine Mutter war
durch den Abschluß einer unverständigen zweiten Ehe auf der ge-
sellschaftlichen Stufenleiter gesunken. Die Wohnung war dem Mittel-
punkte der Stadt näher und lag in einer weit weniger anständigen
Straße als die frühere. Sein übelbeleumundeter Stiefvater hieß ihn
nicht willkommen, und als zwei bis drei Wochen dahingingen und er
immer noch keine Arbeit erlangte, wohl aber einen gesunden Seemanns-
appetit entwickelte, gerieten sie in beständige Zänkereien. Als schließ-
lich eines Abends ihre Worte mehr als gewöhnlich von Geifer und
Haß erfüllt waren, verlor Jack alle Selbstbeherrschung und forderte
seinen Stiefvater offen heraus, auf die Straße zu kommen und dort
ihre Zwistigkeiten durch einen Faustkampf zur Entscheidung zu
bringen. Der Stiefvater, der sich in der benachbarten Schenke Mut
angetrunken hatte, war keineswegs abgeneigt, und binnen wenigen
Augenblicken war die Straße in einem tobenden Aufruhr. Die beiden
Kämpfer bildeten ein Knäul auf dem Fahrdamm und wurden in dieser
Stellung noch von den bald auf dem Kampfplatz erschienenen Polizisten
gefunden. Da sie infolge des Lärms nicht imstande waren, irgend
etwas über die Ursache des Streites herauszubekommen, packten sie
Jack, der das Gesicht seines Stiefvaters ziemlich schlimm zugerichtet
hatte, und schleppten ihn mit nach dem nächsten Polizeigefängnis.
Am nächsten Morgen wurde er im Gericht wegen gewalttätigen Ver-
haltens angeklagt und von dem Polizeirichter zu vierzehn Tagen Ge-
fängnis verurteilt.
Als ich ihn einige Tage später im Gefängnis sah, erzählte er mir,
er würde nach seiner Entlassung heimatlos sein, da sein Stiefvater
sich rundweg weigere, noch etwas mit ihm zu tun zu haben. Es
schien nur wenig Arg in ihm zu sein, und da er von dem Schulschiff
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 545
mit einem sehr guten Zeugnis entlassen war, gelang es mir, einige
Freunde zu dem Anerbieten zu bewegen, ihm Verpflegung und
Wohnung und womöglich auch Arbeit zu verschaffen. Er brachte
seine Habseligkeiten von seinem bisherigen Heim nach einem besseren
Stadtteil, und nach einigen Tagen fand sich auch eine Stelle für ihn
in einem benachbarten großen Eisenwerk. Zuerst schien alles gut zu
gehen, aber zu unserer Enttäuschung entdeckten wir bald, daß er eine
Reizbarkeit besaß, die er nur mit der größten Schwierigkeit zügeln
konnte und die sofort entfacht wurde, wenn er glaubte, daß ihm in
irgend einer Weise »mitgespielt« werde, wie er es nannte. Im Ver-
laufe weniger Wochen war er entlassen, weil er seinem Vorarbeiter,
der ihn um eine kleine in seinen gewöhnlichen Pflichtenkreis nicht
eingeschlossene Verrichtung ersucht hatte, eine unverschämte Antwort
gegeben hatte.
Er blieb noch fernere zwei Wochen in seiner Wohnung und ver-
schwand dann plötzlich, freilich nur, um im Laufe des nächsten oder
übernächsten Tages der Polizei wieder wegen Nächtigens im Freien
in die Hände zu fallen. Er wurde diesmal von dem Richter ohne
Strafe entlassen, aber es dauerte keine Woche, da wurde er wieder
wegen eines ähnlichen Vergehens aufgegriffen und auf abermal vier-
zehn Tage ins Gefängnis geschickt. Da abgesehen von seiner leiden-
schaftlichen Gemütsart in dem Burschen nicht viel Arg zu stecken
schien, beschlossen die Freunde, die ihm früher geholfen hatten, noch
einen Versuch mit ihm zu machen und besorgten ihm wieder ein
Heim. Aber Arbeit war jetzt schwerer zu bekommen, und nach einer
kurzen Zeit der Untätigkeit machte Jack sich eines Morgens auf nach
dem Marine-Werbebüro. Da es ihm irgendwie gelang, den Nachfragen
der Behörden zu genügen, wurde er in die Marine für eine kurze
Dienstperiode aufgenommen, was damals noch möglich war und machte
sich einige Monate ganz gut; seine einzige Strafe war zehn Tage
Strafexerzieren wegen Rauchens im Zwischendeck. Er brachte es
fertig, wöchentlich vier bis fünf Schilling seiner Mutter heimzusenden,
die in Not war, da ihr Gatte infolge Erkrankung seine Arbeit hatte
aufgeben müssen. Er brachte dies Opfer bereitwillig genug, indem
er philosophisch bemerkte: »Es ist besser, daß ich es auf rechte Weise
ausgebe, als in Bier oder sonstigen Dingen anlege. Ich muß daran
denken, wie sie mich großgezogen hat.« Seine Briefe waren voll von
Begebenheiten, und die von ihm beschriebenen Erlebnisse waren nicht
immer angenehmer Natur. Bei einer Gelegenheit schrieb er:
Leider muß ich berichten, daß das Schiff, zu dem ich gehöre, während
unseres Aufenthaltes in B. auf einen Felsen auflief. Wir hatten eine schlimme
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 35
546 A. Abhandlungen.
Zeit; von morgens halb sechs bis um zwölf warteten wir auf Hülfe. Und dann
etwas anderes: Nach der Reparatur des Schiffes wurde ich über Bord gewaschen,
und es dauerte zwanzig Minuten, bis ich wieder aufgefischt wurde; denn die
See war wild. Ich hielt mich aber am Rettungsgürtel wie Leim; denn ich
wußte, mein Leben hing davon ab, daß ich ihn nicht fahren ließ. Ich kriegte
meinen Magen voll Salzwasser. Ich kann Ihnen versichern, daß meine Arbeit
bei rauhem Wetter nicht gerade angenehm ist. Hier in dieser Gegend ist ge-
wöhnlich schlechtes Wetter. Na, Herr, nach diesen Dingen liegt mir nicht viel
an der Marine. Aber ich muß mich darin finden, bis sie mich entlassen.
Obwohl ihm das Leben im ganzen zusagte, war er doch niemals
für die Flotte begeistert, wie es sonst bei den meisten Jungen seines
Standes der Fall ist. Im Laufe der Zeit begann sich seine alte
Leidenschaftlichkeit wieder bemerkbar zu machen und führte ihn
wiederholt zu schweren Verletzungen der Disziplin. Schließlich war
er keineswegs betrübt, als die Zeit seiner Entlassung herankam.
Nach Verlassen des Dienstes wurde er wieder nach Manchester
verschlagen und bat mich, ihm zur Auffindung von Arbeit behilflich
zu sein; da jedoch seine Papiere von der Marine nicht allzu gut
waren, handelte es sich um eine schwierige Aufgabe, und eine Zeit-
lang blieb er beschäftigungslos. Aber plötzlich bot sich eine Gelegen-
heit, ihn in der Handelsflotte unterzubringen, und dies hat sich als
sein Glück erwiesen. Es scheint ihm gelungen zu sein, sein Tempera-
ment zu meistern; denn er ist jetzt seit über zwei Jahren bei der-
selben Dampferlinie geblieben und zum Quartiermeister befördert.
Vor einem Jahr kam er heim und fragte mich, ob er mich in
einer sehr wichtigen Sache sprechen könne; ich sollte ihm raten, ob
er ein hübsches, freundliches Mädchen, dem er schon lange zugetan
war, heiraten solle oder nicht. Ich empfahl ihm, zunächst noch
wieder eine Reise zu machen, um genügend Geld für einen behag-
lichen Beginn seines Ehelebens zu sparen, und er ging ganz zufrieden
fort. Vor fünf Monaten hat nun die Heirat stattgefunden, und er hat
jetzt alle Aussichten auf ein dauerndes glückliches Heim, wenn er
auch einen Teil des Jahres während seiner Reisen fern sein muß.
Denn er hat nach Überwindung seiner ersten Abneigung sich kluger-
weise entschlossen, die See nicht aufzugeben und hat die Absicht, es
im Dienst der Linie, bei der er jetzt fährt, noch weiter zu bringen.
Er verfehlt niemals, mich während seines Urlaubs zu besuchen und
kommt selten heim, ohne eine in einem Landungshafen erworbene
Kuriosität mitzubringen. Das letzte Geschenk war, wenn auch wert-
voll, so doch ziemlich verblüffender Art, nämlich ein junger Jaguar,
den er selbst ausgestopft hatte. Er ist kein gelernter Ausstopfer, und
durch das Stopfen ist ein Tier hervorgebracht, das für einen Natur-
kenner überraschende Züge trägt. Wenn er auf See ist, schreibt er
Russell- Struve’ Junge Galgenvögel. 547
ziemlich häufig von den verschiedensten Häfen der Welt. Aus dem
persischen Golf schrieb er z. B. im Juni:
Wir haben wirklich große Hitze, 130° im Schatten. Es ist sehr erschlaffend,
und es wehen oft heiße Winde, die von der Wüste herkommen. Hier draußen
gibt es eine Menge Dinge zu sehen, die ein Engländer mit offenen Augen an-
staunen würde. Die Kleidung, die wir hier draußen tragen, sind ein dünnes
Unterhemd und ein um den Leib gewickeltes Handtuch. Anstelle der Hosen
tragen wir dasselbe wie die Eingeborenen. Mir ist es gleich, wie bald wir
wieder in das alte Wetter kommen. Wir sind in Djibuti, Maskat und der Insel
Perim gewesen und der nächste Hafen ist Karatschi in Indien. ... Das Wasser
wimmelt von Haien, Delphinen und Schwertfischen; Sie können also sehen, daß
es nicht sicher ist, zum Schwimmen hineinzugehen. Wir haben viel Plage mit
den Moskitos und erkennen einander kaum, wenn wir aufwachen.
Ich habe zugeben müssen, daß bei vielen, die häufig im Ge-
fängnis aus- und eingegangen sind, der Lauf der Ereignisse die auf
sie verwandte Sorge wirkungslos gemacht hat. Um so erfreulicher ist
es, von Beispielen berichten zu können, wo trotz wenig verheißungs-
vollen Materials unerwartet günstige Ergebnisse erzielt sind. Von
allen jungen Rechtsbrechern sind diejenigen, welche bereits jahre-
lang in einer Erziehungs- oder Besserungsanstalt gewesen sind, am
schwierigsten zu bessern. Denn wenn eine lange Erziehungsperiode
fehlgeschlagen hat, ist von den ihnen meist auferlegten kurzen Ge-
fängnisstrafen nicht der mindeste Erfolg zu erwarten. Jack ist ein
typisches Beispiel einer großen Zahl von Jungen, die in jugendlichen
Jahren den staatlichen Anstalten überwiesen werden und deren
Missetaten gewöhnlich in glatter Verweigerung des Schulbesuchs,
Herumwandern und hartnäckigen Diebereien bestehen — Taten, die
hauptsächlich aus einer störrischen Gemütsart entspringen. Solche
Knaben brauchen vor allem systematische, von straffer Zucht be-
gleitete Erziehung, die bei den meisten sehr gut anschlägt; aber in
manchen Fällen läuft die Frucht jahrelanger Erziehung Gefahr, durch
Rückkehr des Jungen in eine schlechte und träge Umgebung völlig
zerstört zu werden. Einige Wochen lang geht alles gut, und der
Bursche hält sich ordentlich und sauber; aber in demselben Maße,
wie die Anstaltsgewöhnung verschwindet, gewinnen Neigungen, die
bisher im Zaum gehalten sind, die Oberhand, und Rücksichtslosigkeit,
Launenhaftigkeit und Gleichgültigkeit kommen zum Vorschein. Das
Alter, in dem sie die Anstalt verlassen haben, war zu früh, um eine
volle Charakterbildung zu ermöglichen, und weitere Zucht wäre nötig
gewesen. Jack erhielt ein gut Teil von letzterer in der Marine, und
schließlich hat sein Dienst in der Handelsflotte, der zwar leichter ist,
aber doch seine Disziplin hat, den Prozeß der Heranbildung eines
zuverlässigen, standhaften und festen Charakters beendet.
35*
548 A. Abhandlungen.
XIV. Ein knappes Entrinnen.
Es war eine kalte, frostige Januarnacht. Niemand war auf den
Straßen als die wenigen, die ein Geschäft hinaustrieb, und die Be-
dauernswerten, welche ohne Heim und Freunde und ohne die paar
Heller waren, die ihnen bis zum nächsten Morgengrauen die Wärme
eines Logierhausfeuers und mehr oder weniger bequeme Bettruhe ge-
sichert hätten.
Ich bemerkte unter den vereinzelten Fußgängern in der Markt-
straße einen Jüngling, der augenscheinlich auf dem Weg nach dem
Bahnhof Londonstraße war. Er trug ein leeres Felleisen auf der
Schulter und lenkte meine Aufmerksamkeit durch seine traurige,
schleppende Gangart auf sich, die erkennen ließ, daß er völlig er-
schöpft und verzagt war. Als ich im Begriff war vorüberzugehen,
hemmte er einen Augenblick den Schritt, als ob er etwas sagen
wolle, schien dann aber zu zaudern, und erst, als ich schon vorbei-
gegangen war, hörte ich eine schwache Stimme hinter mir >Herr«
rufen. Ich wandte mich nach dem Burschen um, und er begann, mir
seine Geschichte zu erzählen.
Er war ein kräftiger, gut entwickelter Jüngling von etwa sieb-
zehn Jahren, mit einem hellen, offenen Auge, das keinen Augenblick
zögerte, einen noch so scharfen Blick zu erwidern. Seine Aussprache
verriet ihn sofort als einen Landsmann aus dem Süden, und ich
fand, daß er nichts von Manchester und den dortigen Verhältnissen
wußte Bis vor zwei Monaten war nämlich Southampton seine
Heimat gewesen. Ich fragte ihn nach Einzelheiten, um zu ermitteln,
ob er zu Verwandten oder Freunden zurückkehren könne. Denn der
Regel nach gedeiht ein Junge unter seinen eigenen Familien-
angehörigen, wenn sie ordentliche Leute sind, besser als unter Fremden.
Er ist dann nicht so hilflos der Not preisgegeben, wenn einmal
Arbeitslosigkeit, die Lebenstragödie manches geringen Arbeiters, sein
Los wird. Aber eine solche Möglichkeit schien nicht vorhanden zu
sein. Er hatte, wie sich herausstellte, keine Verwandten, die ihm
irgendwie nützen konnten, und auch seine Freunde waren nicht zu
der geringsten Hilfeleistung imstande. Soweit ich erfahren konnte,
hatte er zu einer Familie gehört, die verzweifelt gegen ständige
Schicksalsschläge gekämpft hatte, allmählich tiefer gesunken war und,
wie häufig in solchen Fällen, ihre Wohnung immer näher dem
Mittelpunkte seiner Heimatstadt und in immer ungesundere Behausungen
verlegt hatte. Sein Vater war in den Docks beschäftigt gewesen und
führte durchweg ein ordentliches Leben, verfiel auch nur gelegentlich
Russell- Struve: Junge Galgenvögel. 549
dem Trunk. Aber zwei Jahre, bevor ich Bob kennen lernte, war der
Vater das Opfer eines Straßenunfalles geworden, für das er keinen
Schadenersatz erlangen konnte, und der ihn hinderte, seine Pflichten
weiter befriedigend zu erfüllen. Nach einigen Monaten fand er, daß
ihm nichts übrig blieb, als seine Arbeit aufzugeben. Niemandem
lag daran, einen unbrauchbaren Mann anzustellen, und zu unfrei-
williger Trägheit verurteilt, fiel er der Niedergeschlagenheit anheim.
So hieß er eine heftige Lungenentzündung, die ihn im nächsten Winter-
heimsuchte, fast willkommen und gab sich keine Mühe, der Krank-
heit Widerstand zu leisten. Nach einigen Tagen waren seine Leiden
zu Ende, und Bob, die Mutter und zwei kleine Mädchen mußten
jetzt der Welt allein die Stirn bieten. Bobs Mutter war ihrem
Gatten innig zugetan gewesen, und das Leben erschien ihr nach
seinem Tode kaum lebenswert. Sie kämpte tapfer und versuchte
gleich allen Frauen in ihrer Lage »etwas mit Waschen zu verdienen«;
aber obwohl Bob seinen wöchentlichen Verdienst von zehn bis zwölf
Schillingen heimbrachte, konnte sie sich doch kaum durchhelfen.
Stets wurde sie durch die Bürde ihrer Sorgen gedrückt und durch
den Mangel an nahrhafter Speise, mitunter an Speise überhaupt, ge-
schwächt; denn wenn es den Ihren knapp ging, gab sie fast alles
ihren Kindern und verheimlichte ihnen sorgfältig, wie wenig sie
selbst aß. So war sie zu weiterem Widerstand unfähig, als die
ältere von Bobs Schwestern ein siebenjähriges Kind, krank wurde
und starb. Bob mußte bald auch dem Leichnam seiner Mutter zu
einem Armengrab folgen und seine überlebende Schwester der Sorge
der Armenschule überlassen. Er selbst, in Ungemach und Mühsalen
wie wenige seines Alters erfahren, suchte sich seinen Weg zu bahnen
und sein Haupt über Wasser zu halten. Aber das Unglück hatte
ihn noch nicht verlassen. Er hatte gute Unterkunft gefunden und
begonnen, sich einzurichten, da gingen die Aufträge der Firma, bei
der er als Nachputzer von Stuckarbeiten beschäftigt war, zurück, und
Bob gehörte zu den vielen, die entlassen werden mußten. Sein Lohn
reichte noch für einige Tage, während derer er jeden Nerv an-
spannte, um Arbeit zu erlangen. Es war jedoch alles vergebens, und
er gelangte bald an den Scheideweg, bei welchem mancher unglück-
liche Bursche den Pfad des Verbrechens einschlägt. Bob hatte je-
doch ein gutes Heim gehabt und — wenigstens soweit sein Leben
sich darin abspielte — in guter Umgebung gelebt und wollte, so
groß auch die Versuchung war, nicht stehlen, sondern beschloß, sein
Glück anderswo zu versuchen. Er hatte sagen hören — was gänz-
lich der Begründung entbehrte — daß in Manchester für Burschen,
550 A. Abhandlungen.
die danach verlangten, Arbeit, und noch dazu gut bezahlte Arbeit,
in jedem Umfange vorhanden sei. Die Aussicht auf angemessen be-
zahlte Arbeit war für ihn wie die Vision eines Eldorado, wo alle
Schätze im Leben von denen gewonnen werden können, die sich an
das Suchen wagen. So beschloß er, auf der Landstraße nach Norden
zu wandern, unbekümmert darum, daß es tief im Winter war. Hin-
sichtlich der nötigen Nahrung und des Obdachs verließ er sich auf
die Freundlichkeit von Landleuten und anderen, bei denen ihn sein
Weg vorbeiführen würde. Sein Vertrauen war nicht ganz un-
angebracht; denn sonst würde er überhaupt nicht angekommen sein.
Aber der bloße Bericht, daß der Junge von Southampton nach
Manchester wanderte, kann keine Vorstellung davon geben, welch
bitteres Elend eine solche Reise für jemanden in sich schließen
mußte, der bis zum Beginn der Wanderung in einem ordentlichen
Heim gelebt und niemals sich die wirkliche Bedeutung eines solchen
Unternehmens klar gemacht hatte. Er brauchte einen Monat, um
die Strecke zurückzulegen. Inzwischen waren seine Stiefel fast ganz
aufgeschlissen, während seine Kleider, die seit seinem Abmarsch
kaum von seinem Leib gekommen waren, völlig zerfetzt und in
einem schrecklichen Zustand waren. Er hatte sich entschlossen von
den Unterkunftsstätten der Werkhäuser ferngehalten und seine Nächte
unter Hecken, in Torwegen, hinter Heuschobern — kurz überall, wo
er auch nur den Schein von Obdach und ein wenig Wärme erlangen
konnte, zugebracht. Die unumgänglich notwendige Nahrung hatte er
sich von Dorf zu Dorf zusammengebettelt, und nur seine Willenskraft
und die Entschlossenheit, daß er auf die eine oder andere Art Arbeit
bekommen wolle, hatten verhütet, daß er wegen irgendeines kleinen
Vergehens in die Hände der Polizei gefallen war. Er war daher mit
Recht stolz darauf, mir versichern zu können, daß er niemals ein-
gesperrt gewesen sei. Die wenigen Logierhäuser, die er an Tagen
aufgesucht hatte, wo er die nötigen Kupfer dafür aufbringen konnte,
hatten ihn erklärlicherweise abgestoßen, und in der kurzen Zeit
zwischen seinem Abmarsch aus Southampton und unserer Begegnung
hatte er genug ausgestanden und hinreichend Jammer und Elend
kennen gelernt, um ihn für alle Zeiten vor Gleichgültigkeit gegen
Unglück und Not anderer zu schützen. Offenbar war er in
Manchester in einem Zustande völliger Erschöpfung angekommen, und
zweitägiges Umherirren in den Straßen und nächtliches Kampieren
hatten ihn in einen Zustand versetzt, in dem er reif für das Kranken-
haus aussah. Er hatte mich lediglich mit dem unbestimmten Ge-
danken, mich um Schlafgeld für die Nacht zu bitten, angerufen, aber
Russell-Struve: Junge Galgenvögel. 551
konnte sich nicht dazu überwinden, seinen Wunsch vorzubringen.
Als er mir seine Geschichte erzählte, lautete seine dringende Bitte
nicht um Geld, auch nicht um Nahrung, sondern um Arbeit, und
nur zögernd ließ er sich das Zugeständnis abringen, daß er keinen
Kupfer in der Tasche, keine Stätte, sein Haupt niederzulegen, habe,
und daß er in dieser Lage schon manche Nacht vorher gewesen sei.
Ich hegte keinen Zweifel an der Wahrheit seines Berichtes, und
da ich infolge eines glücklichen Zufalls einen kleinen Haushalt kannte,
wo man gern bereit war, gegen entsprechende Bezahlung einen
Burschen wie Bob aufzunehmen, vermittelte ich ihm dort eine
Unterkunft. Beschäftigung fand sich schnell für ihn; denn er war
von dem ehrlichen Verlangen beseelt, Arbeit irgendwelcher Art zu
erlangen, und gehörte nicht zu den vielen, die angeblich bereit sind,
überall Hand anzulegen, in Wirklichkeit aber Beschäftigung besonderer
Art suchen und Arbeitsgelegenheit, die nicht ganz nach ihrem Sinn
ist, ständig zurückweisen. Diese finden niemals die gewünschte
Arbeit, weil der Arbeitsscheue überhaupt keine Arbeit als passend
anerkennt. Wie ich erwartet hatte, erwies Bob sich als durch-
aus fleißig und eifrig. Er entdeckte aber schnell, daß ein Jüngling
von seiner Natur — er ist nicht groß — und seinem Alter als ge-
wöhnlicher Handarbeiter keinen sehr hohen Lohn erlangen konnte.
Da er ganz auf sich selbst angewiesen war und in England keine
näheren Verwandten und keine Freunde, die diesen Namen verdienten,
hatte, machte er sich klar, daß, wenn Unglück in Gestalt von Arbeits-
losigkeit ihn treffen würde, er unvermeidlich auf die Ebene eines
Bettlers oder Verbrechers hinabsinken müßte; denn Insasse eines
Werkhauses wollte er niemals sein. Es ist bemerkenswert, welch
starke Abneigung die große Mehrheit der Arbeiterbevölkerung gegen
das Armenhaus hat, in dessen Inanspruchname man oft die anständigste
Lösung ihrer Schwierigkeiten finden möchte. Wie sie sich innerlich
zu dem Armenhaus stellt, kommt vielleicht am besten in der Äußerung
eines vielfach bestraften Mannes von grundschlechtem Charakter zum
Ausdruck. Als ich einmal ablehnte, ihm zu helfen, sagte er in be-
leidigtem Ton: »Mag sein, Herr, daß ich ein schlechter Kerl bin, und
sicher bin ich schon oft genug im Gefängnis gewesen, aber noch
niemand hat mich jedenfalls im Werkhaus gesehen.« Während
Bob seine Lage überdachte, befestigte sich der Gedanke in ihm, daß
Kanada ihm bessere Zukunftsmöglichkeiten biete, als er sie je in der
alten Heimat finden könne. Er sagte mir, er fühle sich seiner Sache
ganz sicher, wenn er nur hinkommen könne. Eben in dem Hin-
kommen bestand die Schwierigkeit.
552 A. Abhandlungen.
Während er diesen Plan erwog, entfachte ein anderer Grund seinen
Eifer, ihn ohne Aufschub auszuführen. Ein Mitglied der Familie, bei
welcher er wohnte, war nach mehrjährigem Auslandsaufenthalt heim-
gekehrt, und unglücklicherweise stellte sich heraus, daß er während
seiner Abwesenheit von England sichtlich entartet war. Er war in
den Bann des Trunkes geraten, wasihn und die ganze Familie in endlose
Zwistigkeiten mit den Nachbarn brachte, bis plötzlich infolge eines
Lähmungsanfalls das Ende kam. Bob hatte mir viel über den Tod
dieses Mannes zu erzählen; denn des Hinschieden eines Menschen,
dessen schlechte Lebensführung so offen zutage lag, und die nach-
folgenden nach den Regeln eines fremden Glaubens abgehaltenen
Leichenfeierlichkeiten hatten großen Eindruck auf sein Gemüt ge-
macht. Das kleine Vorderzimmer des Hauses war schnell in eine
Art Leichenkapelle verwandelt; das Bett, auf dem der arme Bursche
lag, war von weißen, mit schwarzen Samtkreuzen geschmückten Vor-
hängen umgeben, während vor dem Bett ein Tisch mit einem Kruzifix
und zwei brennenden Kerzen aufgestellt war. Der Mann war dem
Namen nach Katholik gewesen, und obwohl er Jahre lang keine
Kirche besucht hatte und sich, soweit man sehen konnte, nur wenig
aus seiner Religion machte, hielten seine Verwandten es doch für
unziemlich, ihn ohne jedes äußere Zeichen lebendigen Glaubens an
die Religion seiner Kindertage zu Grabe zu tragen. In Augenblicken
wie diesen wird das religiöse Gefühl, das niemals gänzlich ausstirbt,
in der Seele unzähliger Menschen lebendig, die bei den gewöhnlichen
Geschäften des Alltagslebens sich gleichgültig gegen seine Regungen
verhalten. Wenn auch die Beobachtung gewisser bekannter Bräuche,
z. B. die Besichtigung des Leichnams von allen und jeden, die Lust
haben, in die offene Tür des Häuschens einzutreten, reine Ge-
wohnheitsache sein mag, so glaube ich doch, daß ein viel tieferes
Gefühl darunter verborgen liegt, und daß die näheren Verwandten
die Gegenwart des Allmächtigen erfassen und, so gut sie es können,
den großen Vater über den Wolken anbeten.
Sobald ein Todesfall eintritt, offenbart sich auch sofort der außer-
ordentliche Wohltätigkeitssinn dieser Niedrigen, von denen viele das
ihnen nie zu Ohren gekommene alte lateinische Sprichwort »von den
Toten nur Gutes zu reden« in die Tat umsetzen. Nachbarn, die
früher unfreundlich waren, werden kommen und sagen: »Ach ja, er
hatte seine Fehler wie wir andern auch; aber er meinte es gute,
oder: »Er war wohl mitunter ein rauher Geselle; aber im Grunde
seines Herzens war er doch gut«, oder sie werden ähnliche Be-
Russell-Struve: Junge Galgenvögei. 553
merkungen machen und mit gedämpften Stimmen und freundlichen
Gedanken ihrer Wege gehen.
Nach der Beerdigung beschloß die Familie, nach einem ganz
anderen Stadtteil umzuziehen, wohin ihnen Bob nicht zu folgen
wünschte; es wurde daher notwendig, nach einem neuen Heim für
ihn auszuschauen. Gerade um diese Zeit fügte es ein glücklicher
Zufall, daß Freunde in Kanada bei mir wegen der Aussendung einiger
hoffnungsvoller Auswanderer anfragten. Bob war einer der ersten,
der hinausging, und fand sofort Stellung bei einem Farmer in der
Provinz Ontario. Dort ging es ibm hervorragend, ja so gut, daß er
bald den Plan erwägen konnte, vielleicht ein Heim für eigene
Rechnung zu gründen. In einem Brief, den ich einige Monate nach
seiner Ankunft erhielt, beschreibt er die Erfahrungen, welche er und ein
gleichzeitig ausgesandter Rursche auf ihrer über tausend Meilen
langen Reise von seiner ersten Arbeitsstätte nach einem Ort im
Norden Winnipegs gemacht hatten. Dorthin war er nämlich mit
seinem Kameraden gefahren, um sich die hohen Erntelöhne zunutze
zu machen und vor Gründung einer eigenen kleinen Farm mehr
Erfahrung zu gewinnen:
Wir stiegen am 17. August in den Erntezug nach dem Westen und
hatten eine gute Zeit — eine Menge Spaß und viel gute Gesellschaft. In diesem
Jahr zog eine ordentliche Schar hinaus im Gegensatz zum vorigen Jahr, wo sie
die ganze Strecke hindurch Skandal machten. Natürlich steckten sie auch dies-
mal voll von Scherzen; aber ich glaube nicht, daß sie ihre Späße zu weit trieben.
Natürlich wurden einige betrunken; es sind immer einige darunter, die sich zu
Narren machen; doch im ganzen genommen waren es ordentliche Jungen. Das
Land, durch das wir kamen, ist eine unfruchtbare, wenig verlockende Gegend,
tausend Meilen nur Felsen und Busch, und ich kann Ihnen versichern, daß wir
froh waren, wieder in offenes Feld zu kommen .... Abends kamen wir nach
einem Platz namens S., wo Leute gebraucht wurden, wie man uns sagte; wir
stiegen daher aus und nahmen Ernte- und Drescharbeit an. Wir verrichteten
Erntearbeit für zwei Brüder; als wir dort fertig waren, gingen wir zu einem
Nachbarn und halfen ihm beim Rest der Ernte; dann begannen wir mit dem
Dreschen. Soweit sind wir bis jetzt gekommen. Alles freut sich hier draußen
über die gute Ernte; sie macht alles wieder fröhlich aufleben. Ich lege einen
Dollar bei zum Besten eines andern Burschen.
Bob hat hat sich zu einem erfolgreichen Kolonisten entwickelt,
und es gibt viele Jünglinge, die gleich ihm, sich selbst überlassen,
nicht imstande sein würden, ihr Glück zu schmieden, die aber, von
einer hilfreichen Hand gestützt, zeigen können, was in ihnen steckt.
Es ist ein großes Unglück für sie selbst und die Gesellschaft und
ein großer Verlust für die Nation, daß ordentliche Burschen, wenn
sie plötzlich ihrer Freunde beraubt oder arbeitslos werden, infolge
der Macht der Verhältnisse tiefer und tiefer sinken, bis sie die
554 A. Abhandlungen.
Reihen der ungebrauchten und unbrauchbaren Müßiggänger und
Straßenbummler füllen, die es gelernt haben, ohne Arbeit zu be-
stehen und einen schimpflichen Zug in dem Leben jeder englischen
Großstadt darstellen. Ich habe die Geschichte Bobs, der selbst
niemals innerhalb der Gefängnismauern gewesen ist, mitgeteilt, weil
seine Leiden von dem Tode seines Vaters bis zu unserer Begegnung
zeigen, was für Begebenheiten manchen Burschen auf die Anklage-
bank der Polizeigerichte führen. Ohne Hilfe hätte er unvermeidlich
binnen wenigen Tagen nach unserem Zusammentreffen der Polizei
in die Hände fallen müssen; denn niemand würde ihn in seinem
damaligen kläglichen Zustand angestellt haben, und seine Verurteilung
wegen Nächtigens im Freien oder wegen Bettelns wäre unausbleiblich
gewesen. Hätte er sich in einer Gefängniszelle gefunden, so würde
er dies Ende seines ehrenwerten Strebens als ein bitteres Unrecht
empfunden haben und gleichgültig und verhärtet herausgekommen
sein; seine ehrlichen Entschlüsse wären wahrscheinlich in verhängnis-
voller Weise zerstört. Nur sein außergewöhnlicher Mut und die
seiner guten Erziehung entsprungene Willensstärke hatten ihn so
lange aufrecht erhalten; aber die Krisis war nahezu erreicht, und
nur um Haaresbreite wurde er vor dem Los bewahrt, mit Fug und
Recht unter die Gestalten dieses Buches eingereiht zu werden.
3. Die experimentelle Ermüdungsforschung.
Von
Marx Lobsien, Kiel.
(Fortsetzung.)
6. Die psychischen Maßmethoden.
a) Die Kombinationsmethode.
Ebbinghaus urteilt über sie: »Sie bildet ein einfaches, in seiner
Anwendung nur wenig Zeit erforderndes Prüfungsmittel für die in
Schule und Leben wahrhaft wichtige und wertvolle intellektuelle Be-
tätigung des Geistes. Sie ermöglicht eine eigentliche Intelligenz-
prüfung.« Er hält seine Methode aber auch für verbesserungsbedürftig:
so hält er die Zeit, die zum Ausfüllen des Textes gewährt wurde, für
zu lang. Schon Elsenhans warf der Methode vor, daß sie zu ein-
seitig die geistige Tätigkeit in Anspruch nehme und wünschte, sie zur
Komplikationsmethode ausgestaltet zu sehen. Griesbach unterzog
die Ebbinghaussche Methode einer recht abfälligen Besprechung in
der Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. Er warf ihr folgendes vor:
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 55E
1. Die Methode ist ungeeignet, weil gar nicht zu vermeiden ist, daß
bei Massenuntersuchungen ein Abschreiben und Zuflüstern seitens der
benachbarten Prüflinge stattfindet. — Diesen Einwand wird man nicht
ohne weiteres gelten lassen. Er ist für jegliche Art von Massenver-
such zutreffend, wenn die Grundvoraussetzung für das Gewinnen
brauchbarer Untersuchungsergebnisse nicht! vorhanden ist, nämlich
eine gute Disziplin; wo aber eine straffe Handhabung der Ordnung
geübt wird, sind nachbarliche Anleihen mit Leichtigkeit zu vermeiden.
2. Griesbach wirft der Methode ferner vor, daß sie kein reines Bild
derjenigen Ermüdung gebe, welche durch den Unterricht hervorgerufen
werde, da sich zu der Ermüdung durch diesen noch diejenige addiere,
welche die Methode selbst hervorbringe; dazu schließe sie Unterschiede
der Begabung und Übung nicht aus. — Dieses Bedenken ist offenbar
berechtigt, wenn ein Text den Prüflingen vorgelegt wird, der zu lang
ist; andrerseits gewährt ein kurzer Text nicht ausreichende Möglich-
keit zur Entfaltung der kombinatorischen Tätigkeit. Es ist keineswegs
leicht, eine richtige Mitte zu finden, zumal in Erwägung der zahl-
reichen individuellen Unterschiede im Arbeitstempo. Schwerwiegender
aber sind zwei andere Bedenken, auf deren eines Griesbach a. a. O.
ebenfalls aufmerksam gemacht hat, und die wohl verschuldet haben,
daß die Methode so wenig Anwendung gefunden hat (wohl nur von
Bellei) Ebbinghaus weist auf den einen Umstand selber hin; er
hebt als Mangel hervor: 1. Die Schnelligkeit, mit der kombiniert
werden muß. Das entspreche den wirklichen Verhältnissen nicht,
denn tatsächlich wird der langsame und bedächtige, aber doch um-
sichtige und tüchtige Denker mit Recht besser bewertet als der
schnellfertige. — 2. Spielt die formale Gewandtheit in der Beherrschung
der Muttersprache eine große Rolle. Diese Begabungsdifferenzen
können mittels der Kombinalionsmethode nicht ausgeglichen werden.
Die Kombinationsmethode hat vor nahezu zwei Jahrzehnten eine
besondere, umfassende Prüfung erfahren, deren Ergebnisse noch heute
ihren vollen Wert haben. Ich möchte bei ihnen einen Moment ver-
weilen. Wie Prof. Ebbinghaus auf dem dritten internationalen
Kongreß für Psychologie in München mitteilte, beschäftigte er sich
auf Veranlassung der hygienischen Sektion der Schlesischen Gesell-
schaft für vaterländische Kultur mit der Frage, wie man insbesondere
die geistige Leistungsfähigkeit von Schulkindern in exakter Weise
prüfen könne Die Kommission, die die Angelegenheit zu prüfen
hatte, faßte zunächst die Burgersteinsche Rechen- und die Gries-
bachsche Tasterzirkelmethode ins Auge, wünschte aber, da jene zu
einseitig, diese bezüglich der Beziehungen zwischen Hautsensibilität
556 A. Abhandlungen.
und geistiger Leistungsfähigkeit noch zu dunkel sei, die Verwendung
anderer Methoden. Als solche empfahl Ebbinghaus die Gedächtnis-
und die Kombinationsmethode; daneben wurde noch die Rechen-
methode geprüft. Durch das Entgegenkommen der Behörden wurde
ermöglicht, daß an je einem Schultage an einem Gymnasium und an
einer höheren Mädchenschule zu Beginn und am Ende jeder Unter-
richtsstunde alle drei Methoden Anwendung fanden. Die Kombinations-
methode, die hier näher interessiert, nahm genau 5 Minuten in An-
spruch. Die Texte wurden nach Möglichkeit übereinstimmend schwierig
gestaltet. Die Prüfungen fanden an drei Mittwochen der Monate
Februar und März 1896 statt.
Bezüglich der praktischen Durchführbarkeit ergab sich folgendes:
Das Interesse der Schüler nahm, obwohl es anfangs sehr rege war,
bei der häufigen Wiederkehr der Versuche stark ab; man muß also
bei andauernden Versuchen darauf Bedacht nehmen, das Interesse der
Schüler rege zu halten. — Hinsichtlich der Beziehungen zur geistigen
Leistungsfähigkeit ergab sich nur ganz im allgemeinen, daß ältere
Schüler besser kombinierten als diejenigen niederer Klassen, aber
keineswegs galt das mit starrer Regelmäßigkeit; jeweils übertrafen
jüngere Zöglinge die reiferen. Innerhalb einer Klasse aber zeigten die
Ergebnisse der Kombinationsmethode sehr charakteristische Beziehungen
zu der geistigen Befähigung der Schüler. Die Rangordnung der
Schüler kam in sehr deutlicher Weise zum Ausdruck. Die Anzahl
der ausgefüllten Silben nahm von oben nach unten stark ab und zu-
gleich die verhältnismäßige Anzahl der gemachten Fehler in derselben
Richtung stark zu. Mit dieser Methode trifft man also in der Tat das,
was man unter geistiger Tüchtigkeit im allgemeinen versteht. — Weil
immer neue Silben auszufüllen sind, tritt der Einfluß der Ermüdung
viel deutlicher zutage, als es bei den andern Methoden der Fall ist.
Dementsprechend fällt die überhaupt erreichte beste Leistung vielfach
auf das allererste Experiment, also auf den Beginn des Schultages.
Bei den später erzielten Silbenzahlen ist dann ein charakteristischer
Unterschied zu beobachten. In den mittleren Klassen oszilieren sie
im großen und ganzen um ihren Mittelwert und erheben sich bis-
weilen am Ende der letzten Stunde noch zu einem relativ hohen Be-
trag. Die Fehlerprozente nehmen dabei im ganzen etwa von dem
Einfachen auf das Doppelte zu, aber eine besonders starke Schädigung
der geistigen Leistungsfähigkeit durch den fortdauernden Unterricht
möchte Ebbinghaus aus diesen Ergebnissen nicht folgern. — Ganz
anders bei den unteren Klassen. Hier nimmt von der ersten zur
letzten Periode, d. h. bis zum Ende der vierten Stunde gleichzeitig
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 557
die Quantität wie die Güte der Leistung so beträchtlich ab, daß die
Frage berechtigt erscheint, ob bei der gegenwärtigen Art des Unter-
richts der etwaige Nutzen der späteren Stunde nicht mit zu großen
Opfern erkauft wird. —
In Summa: Eindeutige Ergebnisse hat die Prüfung nicht überall
zutage gefördert, am wenigsten auf den oberen Stufen. Am schwer-
wiegensten ist der Umstand, daß das Interesse so bald und so stark
erlahmte, und es erscheint sehr schwer, bei dieser Art Prüfung, die
aus dem Rahmen des Schulmäßigen so stark herausfällt, daß Stimu-
lantien wie die Angabe, es handle sich um Prüfungs- und Versetzungs-
arbeiten, keine Anwendung finden können, ein gleichschwebendes
Interesse zu erzielen. Das Interesse aber ist die Achillesferse auch
dieser Untersuchungsweise.
Man hat der Kombinationsmethode ferner den Vorwurf gemacht,
es handle sich bei ihr lediglich um ein Ratespiel. Ebbinghaus
sieht aber das Kunsträtsel als zu einer Intelligenzprüfung ganz und
gar ungeeignet an,!) denn das Rätsel entfessele zwar auch die
kombinatorische Verstandestätigkeit, aber mit der Absicht, ästhetisch
zu erfreuen. Die Ebbinghausschen Texte sind gute Ergänzungs-
rätsel, was ihrem Werte keinerlei Abbruch tut. Sie bieten nach dem
Ausspruch Elsenhans’ dem Leser zum Ausfüllen verschiedene Mög-
lichkeiten an; diese werden auf ihre Brauchbarkeit geprüft, die richtigen
ausgewählt und in die Lücke eingeschoben: Gedächtnis und überlegende
Intelligenz wirken zusammen.
Ganz besonders schwierig ist aber, eine notwendige Voraussetzung
zu erfüllen, nämlich die Texte so zu gestalten, daß sie untereinander
in ihren Anforderungen gleichwertig sind.
Auch Ebbinghaus ist nicht gelungen, die Forderung zu er-
füllen, trotzdem er sich darum bemühte. Er wählte für die oberen
Klassen schwerere Texte aus als für die unteren. Aber schwer ist,
den Nachweis zu führen, daß die Arbeitsforderung dem Durchschnitt
der unteren Klassen relativ in demselben Maße angepaßt sei, wie auf
den oberen Stufen der Fall ist. Warum ist die Textgestaltung von
Gullivers Reisen leichter, und darum der Unterstufe mehr ent-
sprechend, als die der Belagerung Kolbergs 1807? Der Text zwar in
der Belagerung Kolbergs enthält eine Summe von Vorstellungen, die
dem Schüler der Unterstufe völlig fremd sind, und er wird infolge-
dessen aus Unkenntnis des Textes viele Lücken lassen müssen. Aber
1) Man vergl. die Anm. S. 416 in H. E.: Über eine neue Methode zur Prüfung
geistiger Fähigkeit usf. Ztschr. f. Psych. u. Phys. d. Sinnesorgane. 1897.
558 A. Abhandlungen.
es kommt doch auf die Textgestaltung an. Ebbinghaus sagt
selbst: Große Schwierigkeiten macht es, die verschiedenen für die-
selben Schüler bestimmten Texte untereinander möglichst gleich
schwierig zu gestalten, da in dieser Hinsicht oft schon das Vorhanden-
sein oder Fehlen eines einzigen Buchstabens erhebliche Unterschiede
bewirkt. Natürlich läßt sich dieses Ziel wegen der Verschiedenheit
der einzelnen Individuen immer nur in einer gewissen allgemeinen
Weise erreichen. Aber soweit es der Fall ist, suchte ich ihm nicht
nur durch wiederholte eigene Prüfung der Texte, sondern auch noch
dadurch nahezukommen, daß ich sie einigen andern Personen zur
Ergänzung vorlegte und dabei dort modifizierte, wo allzugroße Un-
gleichheiten hervortraten. Es ist offenbar ungleich leichter, für eine
bestimmte Unterrichtsstufe objektiv gleiche Arbeitsforderungen den
einzelnen Experimenten zugrunde zu legen, als für verschiedene auf-
einanderfolgende. Der subjektiven Willkür bleibt zuviel Spielraum,
und sie verdirbt zu leicht den Erfolg. Ich halte es vorderhand für
unmöglich, in dieser Hinsicht durch das Experiment Tatsachen zu er-
zielen, die den wirklichen Verhältnissen einigermaßen entsprechen;
auch die in mancher Beziehung so wertvolle Kombinationsmethode
sieht sich wegen der Schwierigkeit der Textgestaltung wie manche
andere pädagogisch-psychologische Methode auf ein enges Verwendungs-
gebiet beschränkt.
Endlich noch einige Bemerkungen bezüglich der Fehlerwertung
durch Ebbinghaus! Er sah von einer verschiedenen Wertung der
Sinnfehler ab. Diese mag ihre Schwierigkeiten haben, aber gerade bei
der Kombinationsmethode hätten sie einzeln und nicht in Bausch und
Bogen Beachtung finden müssen. Was wiegt hier eine übersprungene
Silbe oder ein Verstoß gegen die Silbenanzahl eines Wortes gegen
die verschiedenen Formen der Sinnfehler! Bei der sinnvollen Aus-
füllung der Lücken ist notwendig, die nächsten Wörter, Sätze zu
überblicken; reicht dieser Überblick nicht aus, werden nur die aller-
nächsten Wörter in Betracht gezogen, so entsteht notwendig ein sinn-
widriger Text und dieser beherrscht oft noch die folgenden Kom-
binationen, wie die von Ebbinghaus in der Fußnote angegebenen
ergötzlichen Beispiele beweisen — kurz, es mag schwierig sein, einen
Maßstab für die Würdigung der verschiedenen Sinnfehler zu gewinnen,
aber notwendig ist es dennoch. Vielleicht ließe sich ein solcher
Maßstab aus der Sehweite des kombinatorischen Blicks gewinnen, die
gewiß individuell verschieden abgemessene Radien hat, soweit sie sich
aus den Arbeiten ablesen lassen.
Als Anmerkung mögen noch zwei interessante Resultate der
l Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 559
Untersuchungen von Ebbinghaus genannt werden: 1. in den unteren
Klassen stehen die Mädchen in der Kombinationsfähigkeit ausnahmslos
hinter den Knaben zurück; 2. Mädchen, die im sechzehnten Lebens-
jahre stehen, haben die in verschiedener Beziehung bestehende geistige
Überlegenheit der Schüler vollständig eingeholt, entwickeln sich also
schneller.
b) Die Gedächtnismethode.
Die »angebliche Gedächtnismethode«, nach Griesbachs Aus-
spruch, wurde ebenfalls von Ebbinghaus der Kommission zur Prüfung
empfohlen. Sie stellt zweifellos sehr einseitige Forderungen an die
Versuchspersonen, auch in ihren späteren Verbesserungen, die u. a.
Ritter und Teljatnik vornahmen, indem sie anstatt der einsilbigen
Zahlen Wörterreihen memorieren ließen, und Januschke, der noch
einen Schritt weiter ging und Sätze einprägen ließ. Dazu ist die
Fähigkeit des Behaltens in außerordentlich hohem Maße bedingt durch
individuelle Besonderheiten und die Übung. Die von der oben ge-
nannten Kommission veranlaßte Prüfung der Gedächtnismethode ergab
die am wenigsten gleichmäßigen Resultate, ein Ergebnis, das Ebbing-
haus allerdings in erster Linie auf ungünstige äußere Versuchs-
bedingungen zurückführt, teils auf unkontrollierbare Verschiedenheiten
in der Darbietung der zu memorierenden Stoffe, teils auf das Ver-
halten der Schüler untereinander (Vorsagen, Abschreiben). Die Er-
gebnisse der Gedächtnisprüfungen zeigten gar keinen Unterschied
zwischen besseren und schlechteren Schülern, ja jeweils einen geringen
Unterschied zugunsten der schwächeren. Diese Resultate sprechen
nicht eben für eine besondere Brauchbarkeit der Gedächtnismethode
zum Messen der Ermüdung. Die Untersuchungen, die Ritter mit
derselben Methode anstellte, sind nach dem Urteil Baades in metho-
discher Hinsicht so mangelhaft, und es ist in der gesamten Aus-
führung der Versuche eine gewisse Sorglosigkeit so augenfällig vor-
handen, daß man den Versuchen schlechtweg jeden Wert absprechen
muß; sie werden also über die Brauchbarkeit der Methode nichts
Greifbares entscheiden können. Es scheint, als ob sie in besonders
hohem Maße auf technische Fehler reagiert, als da sind: Übungs-
einflüsse, Suggestion, Gleichmäßigkeit aller äußeren Bedingungen,
augenblickliches körperliches Befinden, Geneigtheit, äußere Störungen
u. a., und erst dann, wenn Versuche vorliegen, die alle diese Momente
aufs sorgfältigste in Rücksicht ziehen, werden wir einigermaßen sicher
über den methodischen Wert des Verfahrens ein Urteil gewinnen
können. Sicherlich aber prüft sie auch dann nur eine Seite der
560 A. Abhandlungen.
geistigen Betätigung und kann nicht als Maßstab für die geistige Er-
müdung überhaupt dienen — wenigstens bedarf es der ergänzenden
Prüfung durch andere Untersuchungsmethoden.
c) Die Reaktionsmethoden
bedürfen nur weniger Bemerkungen. Je sorgfältiger die Zeitmeß-
apparate konstruiert, je genauer man imstande ist, die Reaktionszeit
gewisser psychischer Vorgänge zu messen, desto größer ist ihr Wert.
Aber mit der peinlichen Beachtung dieser methodischen Bedingung
ists nicht genug. Gerade weil es sich um kurze Fristen handelt,
müssen alle die Reaktionszeit stark mitbestimmenden Umstände eine
äußerst gewissenhafte Würdigung erfahren. Für Massenversuche sind
sie nicht geeignet und wegen des künstlichen Instrumentariums, das
sie erfanden, auf das Laboratorium verwiesen. Selbstverständlich ist
die Ermüdung ein Faktor, der die Länge der Reaktionszeit wohl in
erster Linie bestimmt, aber keineswegs eindeutig; die Komponenten
erfordern eine sehr sorgsame psychologische Analyse und doch ist
zumeist unmöglich, ihren Anteil an den Veränderungen der Reaktions-
zeiten reinlich zu bestimmen. (Die Messung komplizierterer psycho-
physischer Vorgänge rechnen wir hier nicht ein, sondern erwähnen
ihrer später) Die Anhänger der Methode, besonders Bettmann,
rühmen ihre Empfindlichkeit. Bettmann war bei seinen Versuchen
allein Versuchsperson. Als Ermüdungsagens wählte er teils die An-
strengung infolge eines zweistündigen Marsches, teils eine einstündige
Addierübung nach der Kraepelinschen Weise. Beide Arten Ermüdungs-
arbeit wirkten herabsetzend auf die geistige Leistungsfähigkeit ein, was
sich in einer Verlängerung der Reaktionszeiten äußert, die mittels
des Lippsschen Chronoskops gemessen wurden, und zwar die körper-
liche Arbeit mehr als die geistige. Wie weit diese Ergebnisse sich
bei andern Versuchspersonen bestätigen und wie weit die Methode
geeignet ist, als Maßstab für Ermüdungswirkungen anderer, speziell
schulmäßiger Arbeitsforderungen zu dienen, können erst Nachprüfungen
in größerem Umfange dartun.
7. Die pädagogisch-psychologischen Methoden.
a) Mechanische Methoden
zu besprechen ist nicht notwendig; auf sie trifft zu, was von andern
der vorauf erwähnten Methoden gesagt worden ist. Sie stellen alle
ein sehr bequemes, bei sorgsamer Kontrolle auch für Massenversuche
leicht zu handhabendes Hilfsmittel zur Messung der Ermüdung dar,
aber sie bedürfen in gleichem Maße einer sehr sorgsamen Kontrolle
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 561
unter stetem Bedenken derjenigen Konstellationsumstände, die geeignet
sind, Fälschungen zu veranlassen — und deren sind nicht wenig.
b) Die nichtmechanischen Methoden
sollen etwas ausführlicher gewürdigt werden. Beginnen wir mit der
ältesten, der Diktiermethode! Dabei sollen zunächst Bedenken erwähnt
werden, die gegen die meisten der psychologischen Methoden erhoben
werden können. Die, wenn man so sagen will, mechanischen Angel-
punkte der Diktier-, Rechen- u. ä. Methoden sind: Die festbestimmte
Zeit der Prüfung und die homogene Qualität der einzelnen Arbeits-
forderungen. Auffällig ist zunächst die verschiedene Länge der
zugelassenen Zeit, sie schwankt zwischen vier und dreißig Minuten.
In der durch Friedrich beanspruchten längern Zeit prägt sich wohl
noch der Einfluß Burgersteins und Höpfners aus. Bei den ver-
schiedenen Autoren verwischen sich die Grenzen zwischen solchen
Arbeitszeiten, die erlauben, die Arbeitsforderungen als Agens und Reagens
zugleich zu verwerten und solchen, da sie allein als Reagens, als Er-
müdungsspiegel dienen sollen; oder, anders ausgedrückt, die Grenze
zwischen solchen Ermüdungsexperimenten, deren Ergebnis sich nicht
aus zwei schwer zu sondernden Summanden zusammensetzt, nämlich
der Ermüdung infolge des voraufgegangenen Unterrichts und der durch
das Verfahren selbst bedingten, und jenen, da das nicht oder doch
nur in so geringem Umfange der Fall ist, daß die geistige Inanspruch-
nahme als besondere Ermüdungswirkung vernachlässigt werden kann,
ist nicht reinlich gezogen.
Aber auch bei denselben Autoren finden sich ungenaue Zeit-
angaben. Zumeist wird man sich den Vorgang wohl so denken müssen,
daß der Untersuchende, die Uhr in der Hand, durch einen Befehl
oder ein Glockensignal das Zeichen zum Beginnen und Aufhören der
Arbeit gibt. So aber ist ein präzises Beginnen und Schließen nicht
möglich. Einige Buchstaben oder Ziffern können von schneller Hand
noch leicht hinzugetan werden, der Langsame, Bedächtige bequemt
sich erst spät zum Beginn der von ihm zu leistenden Arbeit. Diese
Umstände sind besonders dann bedenklich, wenn die geforderte Arbeit
lediglich als Reagens Verwendung finden soll, also nur über einen
kurzen Zeitraum sich erstreckt. — Sehr bedenklich ist ferner, daß
die für ein relativ kurzes Arbeitsstück gewährte Zeit zu lang gewährt
wurde, etwa so umfänglich, daß auch die Schwächsten der Gruppe
sie bequem erledigen konnten. Manche werden so zum Müßigsitzen
gezwungen oder haben Gelegenheit zu wiederholten Korrekturen, ge-
legentlich auch, die Nachbarn zu stören — Umstände, die wohl ge-
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 36
562 A. Abhandlungen.
eignet sind, das Resultat der Untersuchung stark zu modifizieren, im
besonderen aber der Kontrolle sich entziehen. —
Und die homogenen Arbeitsqualitäten? Zweifellos sind darin die
Rechen- und Gedächtnismethoden der Diktier- und Kombinations-
methode erheblich überlegen. Hier liegt eine feststehende Reihe von
Ziffern oder Zahlwörtern zugrunde, die durch eine Ortsveränderung
der einzelnen Glieder zahlreich variiert werden kann. Daß aber z. B.
die Diktatstoffe Friedrichs für dieselbe Bildungsstufe, gar für ver-
schiedene aufsteigende Klassen eine homogene Arbeitsforderung dar-
stellen, ist nicht erwiesen. Selbstverständlich hat Friedrich diese
Schwierigkeit eingesehen, aber er hofft, durch den Umstand, das
Diktat biete den Prüflingen nichts Neues und die einzelnen Diktate
hätten annähernd übereinstimmende Buchstabenanzahlen, sei der Forde-
rung: Gleiche Leistungsschwierigkeiten! genug geschehen — und doch
wird man nicht ernstlich behaupten können, daß eine solche äußer-
liche Angleichung, wie etwa die Zusammenstellung der gleichen Buch-
stabenanzahl, und sei sie noch so peinlich genau erfüllt, als ein Index
für gleichschwere Textgestaltung angesprochen werden dürfte.
Höpfners Studie mit der Diktiermethode betrifft ein zweistündiges
Prüfungsdiktat, das 19 Sätze umfaßte; Friedrich diktierte in Zwischen-
räumen. So wenig wie Höpfners Versuch zeigt die Weise Fried-
richs ein Bild der gewöhnlichen Unterrichtsstunde; doch ist die Arbeit
Höpfners wegen der außerordentlich interessanten Fehleranalyse, die
deutlich die Ermüdungswirkungen wiedergibt, recht viel wertvoller.
Der Vorwurf der »bodenlosen Langeweile«, den man der Rechen-
methode Burgersteins gemacht hat, kann gegenüber den vor-
liegenden Methoden nicht in gleichem Umfange aufrecht erhalten
werden, weil es sich um ein Prüfungsdiktat handelte, von dessen
Ausfall die Versetzung abhängig war; da darf man wohl annehmen,
daß weitaus der größte Teil der Zöglinge bei der Sache gewesen ist.
Den Untersuchungen Friedrichs fehlt dieses Moment allerdings, der
Reiz der Neuheit wird sie bald verlassen haben. Dazu kommt, daß
ihre Dauer, dreißig Minuten mit durchgehends gleich langen Zwischen-
räumen eine unglückliche Verquickung der am Diktat sich mittelbar
und unmittelbar äußernden Ermüdung notwendig herbeiführen muß.
Wäre das Maß der unmittelbaren Ermüdung eine konstante Größe,
dann könnte man unschwer durch einfache Subtraktion aus den ver-
schiedenen Versuchen ihren Wert und den den verschiedenen Unter-
richtsgegenständen entsprechenden variablen des mittelbaren Er-
müdungsergebnisses ermitteln.
Beider Diktate stellen keine homogene Arbeitsforderung für die
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 563
einzelnen Versuche dar, worauf bereits hingewiesen worden ist. Es
ist ferner nicht gleichgültig, zu welcher Tageszeit der Versuch vor-
genommen wird, die Ermüdungskurve der späteren Stunde zeigt einen
anderen Verlauf als die der Morgenstunde, wenn andere Umstände
nicht störend wirken. Höpfner hält mit gewissem Reeht für aus-
geschlossen, daß sich für die Diktiermethode die geistige Arbeit
homogen gestalten lasse, auch würde dann die Fehlerwertung nicht
annähernd ein so interessantes Bild bieten können wie die Resultate
Höpfners.
Friedrich versucht eine Kombination der Rechen- und Diktier-
methode. Er sagt: »Zu meinen Untersuchungen bediente ich mich so-
wohl der Diktier- als auch der Rechenmethode, um ein unantastbares
Resultat zu gewinnen. Eine Untersuchung sollte auf diese Weise
durch die andere ergänzt, berichtigt und gestützt werden.« Daß ein
Vergleichen beider Methoden wegen der inneren Verschiedenheiten
nur in den Resultaten und auch dort nur in den allgemeinsten Um-
rissen möglich ist, liegt auf der Hand; so bestätigen auch die Ver-
suchsergebnisse Friedrichs im allgemeinen die landläufige Erfahrung.
Bezüglich des inneren Verlaufs der Schülerarbeiten konstatiert er,
daß von 22 Untersuchungen 21 gegen den Schluß der Arbeit eine
Qualitätsminderung erfahren und schließt, daß mit der Zunahme der
Arbeitszeit eine Abnahme der Qualität parallel geht; von der Be-
deutung des geleisteten Arbeitsquantums wird nichts gesagt. Hin-
sichtlich des Einflusses der Unterrichtsdauer auf die Leistungsfähigkeit
bestätigt Friedrich, daß einem Zuwachs der Schulstunden eine Ab-
nahme der Arbeitsqualität entspricht. Was den Einfluß der ein-
geschobenen Arbeitspausen anlangt, muß festgestellt werden, daß sie
durchweg von günstiger Wirkung waren. — Friedrich untersucht
zunächst die morgenliche Frische, gegenüber der die folgenden Er-
gebnisse eine Abnahme der geistigen Leistungsfähigkeit offenbaren usf.
c) Die Rechenmethode.
Man wirft ihr allgemein vor, daß sie langweilig sei, daß die
Interesselosigkeit und Nachlässigkeit folglich auf Arbeitsquantum uud
Arbeitswert in einem Sinne einwirken, der verbietet, die Leistungs-
abnahme als reinen Ausdruck der Ermüdung zu werten. Man wirft
der bisherigen Verwendung oft vor, daß sie die starke Übungszunahme,
die bei dem elementaren Rechnen sich bemerkbar macht, nicht ge-
nügend in Erwägung gezogen hat. Wir wissen, daß man sich bemüht
hat, nach beiden Richtungen hin eine Verbesserung der Methode zu
erzielen.
36*
564 A. Abhandlungen.
In den nachstehenden Zeilen sollen die Rechenmethoden Burger-
steins, Kemsies und Kraepelins als charakteristische eine besondere
Wertung erfahren.
Die Burgersteinsche Methode zeigt in ihrer Anordnung bei
den verschiedenen Verwendungen wenig Variationen. Sie diente zu-
nächst als Agens und Reagens zugleich. Laser benutzte sie zuerst,
indem er die Zeit auf zehn Minuten normierte, allein als Reagens.
Das Resultat der Burgersteinschen Untersuchungen zeigt folgende
Übersicht. Es wurden ausgerechnet, bezw. gemacht:
Resultatziffern Fehler
nn rm nn msn E, se Sr ss m on Ea ern
Im ganzen Addition Multiplikation Im ganzen Addition Multiplikation
135 637 _ 70787 64 850 6514 2259 4255
Ergebnis:
- Berəchnete Fehler i Abgerundet
Viertelstunde Ziffern (rund) Fehler Prozenten in Prozenten
1 28 200 851 3,01 3
2 32 500 1292 3,98 4
3 35 400 2011 5,67 5,7
4 39 500 2360 5,98 6
Die einzelnen Versuchsabschnitte zeigen also eine so bedeutende
Zunahme des Arbeitsquantums, daß in der letzten Viertelstunde fast
40°/, mehr Ziffern geschrieben wurden als in der ersten. Einige
Schüler allerdings, bemerkt Burgerstein, zeigten gegen den Schluß
der Stunde eine Abnahme der Ziffernanzahl. Dieses im ersten Augen-
blick überraschend wirkende Ergebnis zeigt, daß Burgerstein eine
Fehlerquelle, die geeignet ist, geradezu verheerend zu wirken, falls
sie nicht eingedämmt wird, unbeachtet gelassen hat: die Übungs-
wirkung. Sie ist selbst bei solchen Operationen, die wohl täglich im
Unterrichte erlangt werden, sehr bedeutend. Einen ähnlichen Übungs-
zuwachs lehrt die Rechenmethode Kraepelins, die Untersuchungen
Schulzes u. a Schulzes Experimente zeigten an einer Reihe von
sechs Versuchstagen, die bezw. um 7, 4, 1, 2 und 7 Tagen ausein-
anderlagen folgende absolute Leistungszunahmen:
26 886
34 312
37 833
41156
42 690
46 037
oder relativ von 28, 10, 9, 4, 8%,. Es ist also durchaus irreführend,
wollte man die quantitative Rechenleistung, der keinerlei Übung
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 565
vorausgegangen ist, zum Maßstabe der Ermüdung machen. Unter
allen Umständen muß ein energischer Übungskursus den Haupt-
versuchen vorangeschickt werden. Der Zeitpunkt, von welchem an
sich der Einfluß der Ermüdung zeigt, ist lediglich abhängig von dem
Grade der Übung. Dann setzt die Abnahme der Leistung gleich ein,
nicht etwa nach 30 Minuten nach Meinung Burgersteins. Schulze
berechnete in den aufeinanderfolgenden zehn Minuten einer Rechen-
stunde folgende Leistungen:
17740
16 726
15 855
15 485
15 134,
ja schon von der ersten Minute an ist der Abstieg nachweislich:
1. Minute: 1850 (?)
Fe wa sl
3. „ 1863
4. „1785
5 1772
s ”
Dringend erforderlich ist bei der Rechenmethode, dem Verhältnis
von Übung und Ermüdung nachzugehen, wenn man sich vor Irrtümern
schützen will. Bevor wir in der Beurteilung der Burgersteinschen
Methode fortfahren, möge erlaubt sein, auf die entsprechenden Unter-
suchungen Schulzes kurz einzugehen. Um Mißverständnissen vorzu-
beugen bemerke ich vorweg, daß die Zahlen quantitative, nicht quali-
tative Leistungen bedeuten. —
Er stellte Fünfminutenversuche an, in denen er addieren ließ.
Es handelte sich um Aufgaben wie 5+ 3=8. Je fünf Minuten lang
wurde gerechnet um 7, 8, 9, 10, 11 Uhr vor und nach der Unter-
richtspause.
Das nächste Ergebnis war der Nachweis sehr großer individueller
Unterschiede in der Leistungsfähigkeit; Schulze fand Differenzen von
90—467 Lösungen in fünf Minuten. Ferner: die Größe der Übungs-
fähigkeit war durchgehends sehr bedeutend — aber ebenfalls starken
individuellen Unterschieden unterwerfen. So z. B. fanden sich Übungs-
zunahmen von 56 : 90, 57 : 157 und 98 : 295 Leistungen in fünf
Minuten. Das Verhältnis von Übung und Ermüdung war folgendes:
Eine beständige Zunahme der Übung fand statt vom ersten bis zum
siebenten Tage, erst vom achten an zeigte sich die Ermüdung wirk-
sam. Aber auch die aufeinanderfolgenden Stundenleistungen zeigten
kein glattes Bild der Ermüdung, wie folgende Übersicht zeigt:
566 A. Abhandlungen.
Vor der Stunde um 7h = 6869
nach „, 5 „ 8h = 7389
i s „ 9h = 7300
„ „ Pause „ 9h = 6895
„ » Stunde „ 10h = 7155
le,
Überall läßt sich hier Übungswirkung erkennen. Die Pausen
allerdings zeigen teils starke Abnahmen, als deren Ursache man zur
Hauptsache den Übungsverlust ansehen muß. — Man sieht also, daß
es naiv wäre, wollte man die Ermüdung den gefundenen Zahlen pro-
portional setzen.
In ganz entgegengesetzter Richtung steigt in den Burgerstein-
schen Resultaten die Fehlerkurve ab; die Arbeitsqualität nahm von
der ersten Viertelstunde an stetig an Wert ab. Die Zahl der Ver-
besserungen stieg um 162, die der einfachen Fehler gar um 172 %%,.
Daraus schließt Burgerstein, daß die Ermüdung von dem ersten
Zeitabschnitt an stetig steige, die geistige Leistungsfähigkeit also be-
ständig abnehme. Zu dieser Schlußfolgerung berechtigt ihn also ledig-
lich die Qualität der geleisteten Arbeit; das geleistete Arbeitsquantum
beweist durch seine Zunahme genau das Gegenteil. Würde man die
falschen Werte von den richtigen subtrahieren (was offenbar nicht
ohne weiteres statthaft ist, denn auch in den Fehlleistungen steckt
quantitative Arbeit), dann würde man folgende Anzahlen richtig ge-
löster Aufgaben finden:
Richtig Falsch Differenz Also + In Prozenten
28 200 851 27 349
32500 1292 31 208 Be =
35 400 2011 33 309 s Pe e
39 500 2360 37140 ?
Gegen die erste Viertelstunde + 33°/,. Zugegeben, daß nicht
richtig ist, die Fehler einfach zu subtrahieren, unzweifelhaft fest steht,
daß diese Zunahme von 33°/, gegen den ersten Versuchsabschnitt
Arbeit von nicht verminderter Qualität bedeutet. Ein einfaches Neben-
einanderstellen von Arbeitsquantum und Arbeitsqualität berechtigt
mindesten gerade so gut zu der Behauptung, die geistige Leistungs-
fähigkeit nehme stets zu als zu dem Gegenteil. Dieses seltsame Er-
gebnis der Burgersteinschen Untersuchungen kann aus mancherlei
Gründen nicht wundernehmen, trotzdem es durch die Experimente
Lasers, Friedrichs u. a. teilweise bestätigt worden ist. 1. Obwohl
zweifelsohne das Addieren und Multiplizieren, wie es die Methode
fordert, allen Schülern geläufig ist, hätte Burgerstein doch einen
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 567
energischen Übungskursus, der die Leistungsfühigkeit bis an die
äußerste Grenze steigert, seinen eigentlichen Hauptversuchen voran-
gehen lassen müssen; dann wäre das Arbeitsquantum nicht von vorn-
herein gestiegen, sondern hätte sich unter dem überwiegenden Ein-
fluß der Ermüdung im großen und ganzen abwärts bewegt; dann hätte
auch die Qualität der Leistung dem Quantum in richtigem Sinne ein-
gerechnet werden können. 2. Die Zunahme der Fehler erklärt sich
aus Ursachen, die mit der eigentlichen Ermüdung nichts zu tun haben.
Die Arbeit wird den Prüflingen einfach langweilig und hat nach kurzer
Zeit den kleinen Reiz verloren, den sie vielleicht zu Beginn hatte.
Unaufmerksamkeit, Nachlässigkeit machen sich immer mehr breit und
machen die stark wachsende Fehleranzahl verständlich. Die größere
Nachlässigkeit aber gegenüber der geforderten Arbeit gefährdet die
Richtigkeit und ermöglicht ihrerseits ein durch keinerlei oder geringe
Überlegung gehemmtes Niederschreiben beliebiger Resultatziffern, kurz,
eine Vermehrung des Arbeitsquantums. Möglich, daß hier auch der
Ehrgeiz jeweils wirksam ist, es diesem und jenem Schüler zuvor-
zutun.
Eine bedeutende Verbesserung erfuhr die Burgersteinsche
Rechenmethode durch Kemsies, der sie erheblich dem natürlichen
Verlaufe einer Unterrichtsstunde anähnelte. Seine Rechenmethode ist
in gewissem Sinne auch eine Kombinationsmethode und nähert sich
darin der Weise Ebbinghaus’. Das lehrt ein Besinnen auf ihren
psychologischen Wert. Die Aufgaben fordern folgende psychische
Prozesse: 1. Aufnahme der vorgesprochenen Zahlen in das Gedächtnis.
2. Geistiges Erfassen der Zahlen. 3. Rechenakt (die Prozesse 1, 2
und 3 sind zum Teil simultan). 4. Festhalten des Resultats. 5. Mo-
torischer Akt des Niederschreibens.. 6. Ausruhen, teilweise gestört
durch die Nachbilder der voraufgegangenen Prozesse. — Bedenken
begegnen zunächst der Zeitlage des Versuchs. Er wurde mitten in
die Stunde hineingerückt, fand statt um 83°, 930 usf. Es ist wohl
richtig, was Kemsies als Begründung dafür angibt, daß gegen den
Schluß der Stunde Ungeduld, Unlust, auch wohl gesteigerter Antrieb
infolge des ersehnten Endes sich bemerkbar machen. Aber mir will
scheinen, daß man alsdann, um die etwa so veranlaßte Störung des
Versuchs zu hindern, Wertvolles preisgibt. Zunächst soll das Ex-
periment nach Möglichkeit die tatsächlichen Ermüdungsverhältnisse
während der Unterrichtsstunde zeigen. In dem Proberechnen kommt
die voraufgegangene Anstrengung durch den Unterricht deshalb nicht‘
reinlich zur Ausprägung, weil eine Kontrolle über sie fehlt. Die Probe
aber wird mit voller Anspannung ausgeführt, weil unter Stimulanz ge-
568 A. Abhandlungen.
arbeitet wird: sie wird den Schülern als Versetzungsarbeit nahe ge-
legt. Man wird mit Recht einwenden können, daß diese Kontrolle
bei sehr vielen Untersuchungsmethoden nicht ausgeübt werden könne,
und diesen Mangel zu beseitigen eben eine der Hauptschwierigkeiten
bedeute. Ferner ist zu bedenken, daß die Einstellung auf die ge-
forderte Arbeit Schwierigkeiten macht, wenn plötzlich der bisherige
Gedankengang unterbrochen werden und die Aufmerksamkeit neuen
Dingen zugewendet werden muß. Die Adaptation ist um so schwieriger,
mit je größerem Eifer die Beteiligung am stundenplanmäßigen Unter-
richte war. Man muß darauf verzichten, den Wert der Pausen einem
genaueren Studium zu unterziehen. Endlich gewinnt man keinen
Maßstab für die geistige Frische am Morgen vor Beginn des Unter-
richts. Wahrscheinlich würde sich eine Verbindung der Ebbing-
hausschen Kombinations- und der Kemsiesschen Rechenmethode
empfehlen, denn bei der ersteren Weise ist die Art der Fehler, also
auch die Möglichkeit einer qualitativen Auswertung der Ergebnisse
mannigfaltiger, während sie sich bei dem Rechnen im großen und
ganzen nur unter zwei Rubriken einordnen lassen, nämlich falsch
und korrigiert.
d) Die Kraepelinsche Rechenmethode
stellt sich eine andere Aufgabe: sie will die Ermüdungswirkung bei
fortlaufenden Arbeiten studieren. Kraepelin selbst hält sie zur An-
wendung in den Schulen für wenig geeignet. Sie erfordert eine lange
Zeit, oft stundenlang fortgesetztes Addieren einstelliger Zahlen —
eine äußerst langweilige Arbeit, die an die Willensenergie der Ver-
suchspersonen sehr hohe Anforderungen stell. Nur Erwachsene, die
über den Zweck der Arbeit aufgeklärt, dazu bereit — und befähigt
sind, sich in den Dienst derselben zu stellen, können geeignete Prüf-
linge abgeben — Kinder jedoch werden sehr bald erlahmen, da helfen
keine Stimulantien. Der methodische Mangel wird aber wieder wett-
gemacht, denn den Kraepelinschen Untersuchungen verdanken wir
in allererster Linie, wie Offner mit gutem Grunde hervorhebt, tiefere
Einblicke in den Gang einer länger dauernden Arbeit. Daß aber die
Methode unter allen Umständen ungeeignet ist, in der Schule Ver-
wendung zu finden, kann nicht zugegeben werden. Schon daß sie
mit nicht geringem Erfolge in der Psychiatrie Benutzung fand, spricht
dagegen, denn, wenn Kranke zur Zufriedenheit des Experimentators
die Rechnung handhaben können, warum sollte das bei Kindern aus-
geschlossen sein. In der Tat haben praktische Versuche dargetan,
daß die Kraepelinsche Methode auch mit Schülern sich fruchtbar
Boodstein: Problematische Naturen usw. 569
ausführen läßt, sofern man eine geschickte Auslese zu treffen weiß
und die Übungen nicht über einen zu großen Zeitraum ausdehnt.
Dann vermag die Anregung des Ehrgeizes, der Wettbewerb über
viele Klippen hinwegzuhelfen.
Sehr leicht möglich ist die Verwendbarkeit, wenn die Methode
im Sinne Hylans und Heümans eine Modifikation dahin erfährt, daß
anstatt fortlaufenden Addierens durch lange Zeiträume hindurch ein
abgekürztes Verfahren tritt, die Rechenprobe auf fünf oder zehn
Minuten beschränkt wird. Selbstverständlich ist dann die Aufgabe
eine total andere geworden. Man kann dann nicht die Ermüdungs-
wirkungen langdauernder Arbeiten untersuchen, sondern die Rechen-
probe dient nur als Reagens allein. Ihre Anwendungsmöglichkeit
wird viel labiler, — allerdings auch unsicherer, und ist mehr auf das
Sammeln großer Massen Beobachtungsmaterials angewiesen.
Wo immer man aber die Kraepelinsche Methode mit Schülern
anwendet, muß man in erhöhtem Maße darauf bedacht sein, störende
Übungs- und Suggestionswirkungen nach Kräften auszuschalten.
(Forts. folgt.)
4. Problematische Naturen überhaupt und im weiteren
solche schon in jugendlichem Alter.
Eine psychologische Studie über Erfahrungs- und Erziehungsprobleme.
Von
Dr. Boodstein - Elberfeld.
(Schluß.)
Immerhin bleiben auch jetzt noch viele Fragen unbeantwortet und
viele Rätsel ungelöst — und es ist für Manche nicht ganz ungefährlich,
Deutungen zu vertreten und Lösungen zu empfehlen, denen angeblich für
alle Zeiten das »ignorabimus« aufgeprägt ist. Wenn diese aber doch der-
gleichen wagen, so besteht bei Andern rasch die Auffassung, daß nach
beiden Seiten hin die Goetheschen Merkmale des Problematischen auf sie
zutreffen werden. Allerdings müssen für sie Voraussetzungen gelten, die
nur bei ganz großen Forschern zu finden sind: Gedankenreichtum,
Darbietung schwerwiegender Gründe, Urteile, Schlüsse; licht-
volle Darstellungsgabe; Anknüpfung neuer Gesichtspunkte an ein-
gebürgerte Vorstellungen — so daß ohne Anwendung von zu
viel Einbildungskraft sich die Brücke auch für den Minderbegabten
gangbar erweist. Das ist gerade für so schwierige Objekte nicht so
leicht; — und zumal unseren deutschen Gelehrten und Forschern
wird nachgesagt, daß sie des leicht übersichtlichen Stils, des Bilder-
reichtums und der tatsächlichen Anschaulichkeit viel öfter entbehren als
z. B. die Franzosen und die Engländer. Wirkliche Wirkung und
570 A. Abhandlungen.
zwar verhältnismäßig rasche Wirkung findet sich meist erst dann ver-
geben, wenn auch das Schwere, durch die Kraft und Folgerichtigkeit
der Ergebnisse sich zur Geltung Bringende in einer Form auftritt,
die das Erfassen sprachlich und inhaltlich leicht macht. Das ist aber
in der Tat nur dem möglich, der die ganze Sache beherrscht. Umgekehrt
wirkt auf den Leser oder Hörer nichts so befremdend, ja abstoßend ein
als wenn ein ganz Neues, Fremdes, Unerwartetes ihm zu schaffen macht,
indem es sich ihm in nicht leicht übersehbarer und verdaulicher
Form darbietet. Denn die Verknüpfung bisher für heterogen geltender
Merkmale und bisher noch nicht verbundener Beobachtungen überrascht
und enttäuscht — und macht den Empfangenden nicht aufnahmefreudig,
sondern zweifelud, ungläubig, widerstrebend, wie Alles, was grell auf die
Sinne wirkt. Zeigt nun noch die Gedankenfolge Sprünge, die Gedanken-
reihe Lücken — so geht der Eindruck nicht tief und haftet nicht; man
spricht wohl gelegentlich von geistreichen Einfällen, aber hält sie
nicht für richtig und bedeutsam — und oft begegnen gerade die kühnsten
und tiefsten Denker den verletzendsten Zweifeln. Zu grelle Farben, zu
schrille Töne, zu schroffe Szenen und Wendungen stoßen eben ab. —
Geht es denn aber nur den abstrakten Denkern, den Zukunftsmusikern,
den Verächtern alles Konservierens, also Propheten des Modernismus so?
— Ist denn nicht vielen der begnadetsten Künstler, Dichter, Forscher,
Erfinder und Entdecker ein ähnlich Los beschieden? Mußten denn nicht
recht viele von ihnen das bitterste Verkannt- und Mißachtetwerden lebens-
lang tragen; oft ihr Brot mit Tränen essen; galten als Propheten nichts
im Vaterlande und kamen erst zu richtiger Würdigung, wenn sie nicht
mehr unter den Lebenden weilten? Von ihrem Nachruhm — sie waren,
wie man bisweilen mit bitterer Ironie sagt, um ein Jahrhundert zu früh
geboren — hatten sie selbst keinen Gewinn mehr; und wenn auch von
der Erde Gütern allen der Ruhm das höchste ist und der gute Name noch
lebt, selbst wenn der Leib in Staub zerfallen ist —, ihren Zeitgenossen
erschienen sie vielleicht als problematische Naturen, die sie doch trotz
des Anscheins nicht waren. Sie erfuhren eben an sich, daß das Echte,
Innerlichste sich am schwersten Bahn bricht. Was sie aber während
ihres Lebens oft kennzeichnete: eine gewisse Verschlossenheit; eine Art
von trotziger Einsamkeit; eine spröde, unzugängliche Keuschheit des
Denkens, Empfindens, Strebens; ihr fester Charakter, welcher die All-
täglichkeit, die bequeme Phrase verachtete — das half ihnen auch
darüber hinweg, daß sie sich bei Lebzeiten keine Volkstümlichkeit
erwarben, ja oft abträglich beurteilt, vielleicht sogar direkt angefeindet
wurden. Sie ertrugen mit Würde das Schicksal, das oft gerade denen
beschieden ist, die, ohne sich zu übersehätzen, an die bedeutsamsten und
schwierigsten Aufgaben herangehen, um der Welt zu nützen, selbst auf
die Gefahr hin, nicht sofort vollen Erfolg zu erringen. — Daß Geister
dieser Art kein problematisches Naturell haben, ist klar: sie sind jeden-
falls mehr als ihrer Lage gewachsen; wenn sie aber den Schein er-
wecken, als genügten sie auch sich selbst nicht; so mag für sie ein
Verschen von Heinrich Seidel auf Theodor Storm passen:
Boodstein: Problematische Naturen usw. 871
Die Lust des Schaffens in Weihestunden,
Die haben die Dilettanten erfunden;
Die Qual des Schaffens im Niesichgenügen
Das ist das wirkliche Küustlervergnügen.
Denn dieses Niesichgenügen; dieses unablässige Vorwärts-
streben und Feilen an ihrem Werke, um es zu einem vollkommenen zu
machen; dieser rastlose Fleiß des Genies — mehr eine Großtat des
Charakters als des Geistes und Wissens — schafft deshalb auch für
kommende Tage und spätere Bedürfnisse — und wird deshalb von
solchen, die aus der Hand in den Mund leben, nur das Heute im Sinne
haben und an das Morgen nicht denken, nicht gewürdigt, sondern mit
dem Urteil »der Lage nicht gewachsen zu sein« abgefertigt. —
Der Anschein, ihrer Lage nicht gewachsen zu sein, kann unter Um-
ständen schon in frühen Lebensjahren entstehen, wenn frühreife
Menschen in Lagen gebracht werden, die ihren Gaben und Neigungen durchaus
nicht entsprechen. Die Gestaltung der Schulen in den meisten Kultur-
ländern kann an ihrer Lage schuld sein, wenn diese im Interesse der
großen Mehrheit: des Mittelschlages ihrer Bewohner Gesetze zur Anwendung
bringen lassen, die eine gewisse Nivellierung bezwecken und den Sonder-
begabungen und Sonderneigungen gar nicht Rechnung tragen. Bei-
spiele in ziemlicher Menge lassen sich dafür anführen aus den Selbst-
bekenntnissen späterer geistiger oder technischer, ethischer oder wirt-
schaftlicher Größen und aus den Berichten über das Schulleben, über
die Wahl des Berufs oder über das Gezwungensein, in einer Sphäre zu
wirken, die nicht nur dem Können, Wissen und Wollen nicht entsprach,
sondern jedes Interesse an einer gedeihlichen Entwicklung abtötete und
sie scheinbar zu einer Plage für sich und andere machte. Indes hätte es
keinen Zweck, hier auf solche Beispiele einzugehen, da wohl jeder durch
die allgemeine Schule Gegangene entsprechende Erfahrungen an sich und
anderen gemacht haben dürfte. Wenn infolgedessen besonders in neuerer
Zeit die Forderung weitestgehender Individualisierung gestellt, und
die Errichtung von Anstalten für die Bestbegabten dringend empfohlen
wird, so vergißt man dabei ganz, daß weder das Selbstbewußtsein des
Einzelnen, noch die Beobachtung durch Andere, also auch durch Eltern
und Lehrende, ganz sichere Kennzeichen aufzustellen vermögen für
unbedingte Begabung, Dauer des Interesses, unzweifelhafte
körperliche und geistige Leistungsfähigkeit. Denn nach allen
diesen Richtungen sprechen die obwaltenden Verhältnisse: die Persön-
lichkeiten selbst mit ihren offenbaren und latenten Eigenschaften und
Beziehungen; das Milieu, aus welchen sie hervorgegangen sind und unter
dessen Einfluß sie stehen; die allgemeinen und besonderen Strebungen
der Periode ihres Wirkens; die zeitweilige Weltanschauung — und end-
lich auch allerlei materielle Hemmnisse — ein sehr gewichtiges Wort.
Hierbei kann jemand ganz leicht statt eines Hammers nur der Ambos
werden und das Opfer seines Strebens.
Bevor nun im folgenden über den Einfluß der die Entwicklung
mitbestimmenden Verhältnisse im besonderen gesprochen wird,
572 A. Abhandlungen.
dürften einige Bemerkungen allgemeinerer Art über die unendliche
Mannigfaltigkeit der Begabungen am Platze sein, zumal schon
wiederholt behauptet wurde, daß problematische Naturen ausnahmslos
zu den Begabteren gehören werden, da Unbegabte oder ganz einseitig
Ausgestattete und wohl auch der bloße Mittelschlag der Begabung eben
wegen der Beschränkung ihres Könnens und Erkennens in der Regel und
auf die Dauer weder für sich selbst noch auch für die Anderen ganz un-
lösbare Rätsel bilden dürften. Gewiß wird ihrer Selbstliebe die Einsicht
in die ihnen auferlegte Beschränkung auch nicht gerade zur Genugtuung
gereichen, sondern eher schmerzlich sein; einen Weg indes zur Erhaltung
ihres Gleichgewichts dürfte ihnen vielleicht das bekannte Sprichwort zeigen:
Glücklich ist, wer vergißt, was doch nicht zu ändern ist. Wohl ihnen,
wenn sie sich dadurch trösten lassen, daß sie auch zur Schopenhauerschen
»Fabrikware der Natur« gehören, und als solche sich für leidlich gut ge-
raten halten, und nicht wie Heinrich von Kleist sich als »vom Himmel
nur mit halben Talenten begabt« erachten.
Ein anderes Wort von Schopenhauer kennzeichnet aber auch die Be-
gabten: »Es ist in den höheren Menschen ein Etwas, das über ihre
Person hinausgeht. Sie sind ihrem innersten Wesen nach mehr als in
ihrer persönlichen Erscheinung.« Daß vielleicht in jedem Menschen
Anlagen schlummern, die vermöge seiner bescheidenen Stellung im Leben
ihm gar nicht bewußt werden und deshalb mit seinem Willen gar nicht
in Aktion treten, kann nicht bestritten werden, wenigstens soweit sie rein
geistig sind. Bei körperlichen tritt solches eher ein, zumal wenn die
Not zwingt, sogar Eisen zu brechen. Nennen wir diese letzteren Kraft
und die ersteren Talent, so können wir sagen, daß von beiden in jedem
ein Überschuß vorhanden sein kann, selbst beim Krüppel, beim Idioten,
ohne daß er es weiß. Diesen auch nutzbar zu machen, stellen sich
Menschenfreunde zur Aufgabe, schon damit er dem Pflegling selbst, viel-
leicht sogar der Allgemeinheit zugute komme. Daß in den Besser-
begabten dieser Überschuß ein größerer sein wird und unter Umständen
sogar ein ganz großer, ist anzunehmen; sich seiner aber in seinem ganzen
Umfange zu bedienen, dazu fehlt es meist an Gelegenheiten, und vielleicht
nur den Allergrößten werden sie geboten. Zweck der Schulen ist es,
theoretisch und formal sie zur Erkenntnis zu bringen — und wenn
die Schulen es völlig verständen, den Sinn dafür zu wecken, so könnten
— und die Jugend träumt gern davon — sie einen Helden, einen Dichter,
Künstler, Forscher, Redner usw. aus den Einzelnen machen, wofern nicht
eben allerlei andere Realitäten den Eintritt solcher Möglichkeiten ver-
wehrten. Aber wie lange nicht alle Samenkörner keimen, sprießen, Früchte
tragen; wie lange nicht aus allen Eierchen des Fischrogens Fischchen und
im weiteren Fische werden; und wie dafür gesorgt ist, daß die Bäume
nicht bis in den Himmel wachsen — so geht es auch mit den Anlagen
der Menschen: die hochfliegenden Träume der Jugend erweisen sich oft
als Schäume, wie das Sprichwort sagt — und wohl dem, der sich zu
beschränken weiß und in der Beschränkung zum Meister wird. Die
problematischen Naturen haben das eben nicht lernen wollen oder
Boodstein: Problematische Naturen usw. 573
zu begreifen vermocht — und so erklärt sich daraus der Schiffbruch
ihres Lebens: sie erweisen sich eben der Lage ihres Lebens nicht ge-
wachsen, weil sie eben nicht glauben, daß irgendeine, wäre sie auch
nur eine recht bescheidene, ihren Ansprüchen genüge. Und doch,
wohltätig ist der kleinste Kreis, wenn man ihn wohl zu pflegen weiß.
So kann eben eintreten, was Ralph Waldo Emerson einmal aufstellt:
»Die eigentliche Tragödie des Menschenlebens scheint der Unter-
schied der Begabung zu sein.« Er spricht diesen Satz aus, nachdem
er in seinem Essay über die Ausgleichungen (Compensations) eben an-
geführt hat, daß sim Wesen der Seele der Ausgleich für die Un-
gleichheit der Zustände der Menschen liege«, und damit die
Bitterkeit des Empfindens über die scheinbare Ungerechtigkeit
des Schicksals zu bekämpfen sucht, weil dem Bruder scheinbar
mehr und Besseres zuteil geworden sei als ihm. Denn die berg-
hohen Ungleichheiten verschwinden vor der Betrachtung, daß
»Herz und Seele der Menschheit nur Eines sind«; daß deshalb was meines
Brnders ist auch das meine ist; und daß »wenn ich mich von
großen Mitmenschen verdunkelt und beeinträchtigt fühle, ich
dennoch lieben und auch noch empfangen könne, und damit teil-
nehme an allem Guten, Großen, Schönen, was in der Welt und durch
Menschen geschaffen worden ist«. —
Demnach wird für jeden gelten müssen, von den ihm beschiedenen
Anlagen Gebrauch zu machen, mögen sie sein, welcher Art sie sind; denn
auch solchen zu mechanischer Arbeit, die bisweilen als geisttötend
angesehen wird, wird auch eine geistige, unter Umständen sogar eine
ideale poetische Seite sich abgewinnen lassen, schon weil keine mecha-
nische — es sei denn solche in der Tretmüble, die auch von Tieren be-
wirkt werden kann — schlechterdings der Verwertung geistiger An-
teile zu entbehren braucht; wie auch umgekehrt jede scheinbar rein
geistige einer gewissen Mitwirkung des Körpers (z. B. des Schreibens
mit der Hand) nicht zu entbehren vermag, wenn es darauf ankommt, die
Gedankenarbeit mitzuteilen.
Die Schwierigkeit für den Einzelnen wird bloß darin bestehen,
diejenige Betätigung zu wählen, die seinen Verhältnissen am besten
entspricht und seinen natürlichen Trieben nicht direkt widerspricht.
Daß trotzdem innere und äußere, besonders Seelenkonflikte nicht aus-
bleiben, lehrt jedes Menschenleben zur Genüge; denn mit des Geschickes
Mächten ist kein ewiger Bund zu flechten, und die Befolgung tierischer
oder vegetabilischer Instinkte der menschlichen Willensfreiheit durchaus
unangemessen. Hier gilt es also, sich bestmöglich nach der Decke zu
strecken und zu denken, daß auf jeder Art von Arbeit, die nach dem
biblischen Berichte vom Sündenfall die Folge eines Fluches und eine Art
Strafe zu sein scheint, ein hoher Segen ruht, wenn sie vernünftig aus-
geführt wird. — Freilich ist nicht außer acht zu lassen, daß die Wahl
des Berufs, wie schon früher die Wahl der Schule, doch eine bedeutsame
Einsicht in die Psychologie des die Folgen der Wahl später Tragen-
den erfordert. Er selbst oder sein Ratgeber schafft sich zwar ein Bild
574 A. Abhandlungen.
dessen, was durch sein Wirken hervorgebracht werden soll — und das
ist mehr oder weniger ein Erzeugnis seines Denkens, seiner Einbildungs-
kraft, deren Voraussetzungen freilich nicht immer zuzutreffen brauchen.
Die Gründe dafür können in ihm selber liegen, da sein Können doch oft
seinem Wollen nicht ausreichend gewachsen ist; aber sie liegen auch außer
ihm, wenn die Außenwelt — persönlich wie sachlich gemeint —
ihm nicht die gehofften Bedingungen erfüllt und die Hilfe leiht, die er
von ihr erwartet hat und die er als Mittel zur Erfüllung seines Zwecks,
zur Erreichung seines Ziels sich gedacht hat. Versagt sich ihm das Eine
oder das Andere, und vermag er nicht aus sich selbst, einen gewissen
Ersatz sich zu verschaffen, dann hilft der schönste Plan, die Voraus-
bestimmung der Einzelheiten seiner Tätigkeit ihm nicht, die Bahnen zu
verfolgen, die er sich für seine Entwicklung gedacht hatte. Er muß dann
andere einschlagen — und ob diese daun gleichwertig seien und füglich
doch ans Ziel oder wenigstens in die Nähe desselben führen werden, kann
fraglich sein. —
Denn der mitwirkenden Umstände sind tatsächlich sehr viele vor-
handen; viele liegen in seinem Naturell, das ein sehr vielfach zu-
sammengesetztes sein kann und aus Umständen herrühren, die sein Ent-
stehen mit veranlaßt haben, also von ihm selbst weder körperlich noch
seelisch zu beeinflussen waren. Er steht damit vor vollendeten Tatsachen
oder wenigstens vor gewissen gegebenen Größen, die nur in stark be-
dingter Weise einer schwachen Änderung sich dürften unterziehen
können, wenn es ihm eben möglich wäre, etwa aus seiner Haut zu
fahren. Ich meine damit an erster Stelle sein leibliches Erbteil, welches
er eben tragen muß, wie es ihm angeboren ist, und welches eine Anzahl
von Merkmalen und Eigenschaften aufweist, die sei es auf die Eltern, den
Volksstamm, Klima und Natur des Landes bezw. irgend einer Gegend,
sei es auf andere, oft unberechenbare Zufälle oder Anlässe zurück-
zuführen sind, also auch von ihm selbst durchaus nicht irgendwie ab-
hängen. Hier kommen bald gewisse Vorzüge, bald aber auch gewisse
Mängel und Nachteile in Betracht, die sich auch in — selbstredend ver-
schiedener — Stärke ihm aufprägen, und ihm gelegentlich ebenso zu-
gute kommen als sich — wie Mängel und Sünden — an ihm rächen
können bis ins dritte und vierte Glied. Was sich aus solcher Leiblichkeit
alles ergeben kann, weiß jeder; ihr Zusammenhang mit dem Seelischen
und ihr Einfluß auf die Seele wird auch in dem Satze: »mens sana in
corpore sano« behauptet, und ist, wenn auch nicht im unbedingtesten Um-
fange, so doch vielfach zutreffend; aber gerade dieses vielfältige Zu-
sammentreffen von allerlei Fremdartigem, Unvereinbarem, direkt Wider-
strebendem kann schon die Entstehung eines Gebildes zustande bringen,
das nicht zu den gerade gefälligen gehört, unharmonisch und problematisch
genannt werden kann.
Und auch aus dem Seelischen allein, also ohne daß ein offen-
barer Zusammenhang mit leiblichen Verhältnissen sich erkennen lasse, also
wo körperliche Vorzüge oder Mängel einen Einfluß auf das seelische Ver-
halten scheinbar nicht auszuüben brauchen, können sich Z witterzustände
Boodstein: Problematische Naturen usw. 575
ergeben, welche einen inneren Widerstreit herbeiführen, der den Menschen
nicht zum Genusse des Lebens kommen läßt. Ich denke hier z. B. an
vielseitig Begabte, denen die Entscheidung für die Bevorzugung der
einen oder anderen Gabe schwer fällt, und die deshalb aus dem Schwanken
und Umherrirren nicht herauskommen, denen deshalb nichts Rechtes ge-
lingen will. Daß derlei auch schon in der Jugend, in der Schule, dem
sonstigen Bildungsgang und schließlich bei der Ausübung des Berufs -auf
treten, und dann Verlegenheiten über Verlegenheiten erzeugen — ist aus
vielen Lebensläufen bekannt. Wie derlei seelische Konflikte entstehen
müssen, wenn Betätigungstrieb und Neigung auf die eine Seite hinweist
und die harte Notwendigkeit auf eine andere, der man nur mit Unlust
dient, bedarf keiner Erklärung. Manchmal bewirkt die Zeit und die Ge-
wöhnung eine Art Heilung der Wunden oder hilft wenigstens zu einiger
Ausgleichung der Gegensätze; bisweilen freilich bleiben sie unversöhnt
bestehen — und dann muß das Lebenswerk darunter leiden, wie auch
der Charakter des unter dem Zwiespalt seines Denkens und Wollens
Stehenden. Gleichgültig ist hierbei, welcher Umstand dazu beigetragen
hat und zwar oft schon in früher Jugend: wenn Eltern aus irgend einem
Nützlichkeitsgrunde, ohne Begabung und Neigung des Kindes in Betracht
zu ziehen, den künftigen Beruf bestimmten und es die herkömmlichen Wege
dazu gehen ließen; wenn die Macht irgend eines Beispiels verlockend
wirkte; oder wenn irgend ein dunkler Drang ohne Kenntnis der ob-
waltenden Verhältnisse zum Entschlusse trieb. — Zu diesen immer-
hin mehr von außen an den Einzelnen herantretenden Einflüssen können
aber auch Solche kommen, die im wesentlichen aus dem Menschen
selbst kommen, im [Innern Nahrung und Antriebe finden, angeboren,
ererbt oder anerzogen sind. »Zwei Seelen wohnen ach! in meiner
Bruste muß so mancher klagen, der sich des immer wiederkehrenden
Widerstreits seiner Gefühle zwar bewußt ist, aber ihrer doch .nicht in-
soweit Herr werden kann, um mit Hilfe seiner geistigen Kräfte dem
Werdegange seines Lebens eine Gestalt zu geben, die wahrhaft, ver-
nünftig und menschenwürdig genannt werden kann, und die »Wege zur
Kultur« wirklich geht. Wie solches geschieht, faßt der Verfasser eines
mit den zuletzt erwähnten drei Worten betitelten Buches, Heinrich Dries-
mann (Becksche Buchhandlung in München) dahin zusammen, daß er am
Schlusse anführt: »Wer zu wirklicher Kultur kommen, wirklicher Mensch
werden will, der muß an sich selbst den Lauf wiederholen, den die
Menschheit vom schönen antiken Edeltier bis zum modernen Menschen-
wesen durchgemacht hat.« Nicht was der Mensch erreicht oder erworben
hat, sondern was er geworden ist, sei das Entscheidende — und diese
Arbeit müsse von jedem selbst geleistet werden. Er weist deshalb auf
eine Reihe von wirklichen Lebensweisen, Ralph Waldo Emerson,
Thomas Carlyle, Paul de Lagarde, Leixner und auch andere hin, die nicht
irgend einem bestimmten Fache gedient haben, sondern die Kraft des
Werdens besonders betonen. »Arbeiten und Nichtverzweifeln«
ist die Losung des an zweiter Stelle Genannten, und eine Sammlung
seiner denkwürdigsten Aussprüche bietet Jedem einen solchen Weg
576 A. Abhandlungen.
Suchenden eine Fülle von Ratschlägen und Weisungen und auch von
Tröstungen im Unglück, d.h. wenn ihm Ungelegenheiten widerfahren usw.,
die leider ihren Zweck nicht verfehlen. Widerwärtigkeiten solcher Art,
eine Art Krieg in seinem Innern, hängen aber oft zusammen mit dem
geistigen Daseinszustand, den ich oben als angeboren und anerzogen, oder
richtiger als ererbt bezeichnet habe. Denn derlei ist bisweilen geistiges
Erbteil, wenn kontrastierende Wesensteile, die von den unmittel-
baren oder mittelbaren Vorfahren überkommen worden sind, sich je nach-
dem gelegentlich vordrängen oder einander zu verdrängen suchen.
Kann es mir hier auch nicht darauf ankommen, gewisse biologische
Probleme über die Vererbung zu erörtern;!) so steht doch unumstößlich
fest, daß wie leibliche Eigenschaften und Merkmale ihrem Einfluß in offen-
barster Weise unterliegen und sich nicht nur auf den unmittelbaren Zu-
sammenhang etwa mit den Eltern oder der nächsten Familie beziehen,
sondern auch den Stamm und das Volk, das Land und seine Kultur,
unter Umständen sogar Luft und Licht betreffen und sich unabweisbar
geltend machen; so auch allerlei Seeliseches — also der ganze Bereich des
Denkens, Fühlens, Wollens mit allen Unterabteilungen — entsprechender
Einwirkung ausgesetzt ist und — wie Gesetze und Rechte sich als ewige
Krankheit fortsetzen — so die ganze Anschauungs- und Verhaltungsweise
durchdringt, dergestalt daß es, wie es Stammes- und Volkscharakter gibt,
die bald Vorzüge bald Mängel sein können, das ganze Volk Züge auf-
weist, die bald hingebend, treu, heroisch, bald aber auch trügerisch, falsch,
hinterlistig erscheinen — und demnach sofort abstoßen. Macht sich
derlei Charakteristisches unter Umständen als Merkmal eines ganzen
Volkes bemerklich, — man denke hier z. B. an die Kennzeichnung der
Kreter im Briefe des Paulus an Titus (Kap. 1, V. 12) — so kann nicht
wundernehmen, wenn Entsprechendes gelegentlich den Gliedern einzelner
Stämme und Familien ebenso geht, und die Wendung, daß jemand aus
der Art geschlagen sei, also die Ausnahme bestätigt, damit die Regel,
die ich, um niemandem Unrecht zu tun, dahin fassen will, daß es sehr
erklärlich sei, wenn auch in seelischer Hinsicht der Nachkomme
die Züge der Eltern, der Familie oder des Stammes zur Er-
scheinung bringe. Je mehr aber ihrer sind, die solchen Einfluß aus-
üben, desto vermischter und verwischter wird das Abbild des Nachkömm-
lings erscheinen; reine Naturvölker und ihre Glieder, die nicht durch wer
weiß wieviele Einflüsse bedingt sind und an denen nur ganz wenige
Hände herummodeln, werden stets viel ein- und gleichförmiger sich ent-
wickeln, und weder im Äußern noch im psychischen Gebahren die un-
endliche Mannigfaltigkeit aufweisen, mit welcher der Kulturmensch sich
1) Ein mir vor einiger Zeit bekannt gewordenes Werk von Gustav Eichhorn
(Verlag ven Jul. Hoffmann in Stuttgart) behandelt: Vererbung, Gedächtnis und
Transzendentale Erinnerungen vom Standpunkte des Physikers; Verfasser
versteht unter den letzteren Entdeckungen und Erfindungen, die in genialen Per-
sönlichkeiten plötzlich auftauchen, ohne daß ein persönlicher Zusammenhang mit
früheren Gedanken sich feststellen läßt.
Boodstein: Problematische Naturen usw. 577
gelegentlich brüstet und vor lauter Individualität und Herrenmenschentum
am liebsten fast die Möglichkeit allgemeingültiger Stammeszüge bestreiten
möchte, und sich fast verletzt fühlt, falls man seiner Eigenart nicht
noch eine besondere Extranote beilegen will. Natürlich birgt diese Sucht,
eine Sonderspezialität aus sich zu machen, auch manche Gefahren in sich:
gemeinsame Züge mit andern will er nicht aufweisen — und da bleibt
er, wie ein etwas grobes Sprichwort es nennt, ein Narr für sich. Ist
nun ein solcher in Reihe und Glied zu gebrauchen? ist zu erwarten,
daß er seiner Lage zum besten der Allgemeinheit gewachsen sein werde?
kann er in seiner Eigenbrödelei mit sich selbst zufrieden sein und auch
zufrieden sein mit dem Urteile Anderer über sich? Die Genesis eines
Problematikers ist damit angedeutet. —
Zu diesen im wesentlichen rein persönlichen Verhältnissen,
welche dem Betroffenen selbst nicht zur Last zu legen sind, denn er
hat sich ja nicht in dieselben hineinbegeben, sondern ist in sie versetzt
worden ohne eigene Schuld und ohne eigenes Zutun — und muß darin
beharren, selbst wenn er die Gefahr derselben erkannt hätte, weil ein
Kampf gegen sie dem Scheine nach doch ein vergeblicher gewesen wäre,
und sogar eine Flucht vor ihnen — wie seinerzeit die des späteren großen
Kurfürsten nach Breda — die Beziehungen doch nicht völlig aufzuheben
vermöchte, — treten oft noch Schwierigkeiten mehr sachlicher Art, die
auch nicht zu unterschätzen sind, aber sich doch dürften überwinden
lassen, wenn ein großer Gedanke, ein hohes Ziel vor unseren Augen
steht und unser Wille uns die Kraft gibt zu warten, zu tragen, zu
leiden und zu kämpfen. Angesichts des hohen Zieles lernen wir
auch auf kleinere verzichten, selbst wenn diese unserem Selbstgefühle
mehr schmeichelten: denn der große Gedanke lehrt uns warten, zumal
das Große nicht plötzlich, sondern nach und nach ersteht; er lehrt uns
entbehren, um Mittel zu erwerben; er lehrt uns Verkennung, Hohn,
Verachtung ertragen — und gibt uns Mut zu kämpfen, um der Schwierig-
keiten Herr zu werden, wenn die Anschauungen unserer Umgebung
das Ideal nicht anerkennen, welchem wir zustreben. So sehen wir in
den Lebensläufen der Geistig-Großen unentwegtes Suchen und Ringen!
Ob auch den Einen hindert des Leibes Schwäche, den Andern der Mangel
an Mitteln sowohl zum Leben als auch zum Ausführen des für richtig
Erkannten! Einem Dritten wieder mutet die Notdurft und Sorge für die
Seinen die Aufwendung fast aller verfügbaren Zeit zu — und dem Vierten
fehlen die Wissensgrundlagen für das ihm vorschwebende Lebenswerk, zu
welchem er die Kraft in sich fühlt. Sollten und dürften sie um ihrer
Selbstachtung willen von vornherein darauf verzichten? Der Kampf muß
gewagt, manch Opfer gebracht, vielleicht auch manch bittrer Kelch geleert
werden: Hilf dir selbst, danu wird dir Gott helfen! Und das Bewußtsein
besten Willens half tatsächlich oft genug auf den richtigen Weg, dem
Ziele zu.
Die Überwindung der sachlichen Erschwerungen hängt schließ-
lich von der Persönlichkeit selbst ab; hier hindert keine Erbschwäche,
sondern höchstens die eigene; also Wille und Charakter! —
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 37
578 A. Abhandlungen.
Wille und Charakter, die beiden bedeutsamen Worte gelassen aus-
gesprochen, klingen fast so, als wäre etwas Selbstverständliches, Leicht-
erfüllbares mit ihnen gefordert; und doch ist durchaus nicht zu bestreiten,
daß das eine wie das andere nur unter Voraussetzungen sehr zu-
sammengesetzter Art sich bilden kann. Es dürfte in jetziger Zeit
kaum noch von irgend jemand bezweifelt werden, daß der Wille ebenso
wie das Bewußtsein auch physiologisch bedingt ist, d. h. von der
Leistungsfähigkeit körperlicher Organe abhängt. Die seinerzeit von
dem Reichsgesundheitsamt herausgegebene »gemeinfaßliche Anleitung zur
Gesundheitspflege, das Gesundheitsbüchlein« drückt solches mit den
Worten aus: »Die Ganglienzellen des Gehirns und des Rückenmarks
sind der Sitz des Bewußtseins; in ihnen bilden sich unsere Vorstellungen
und aus ihnen entsteht der Wille, der unsere Handlungen leitet.« Im
weiteren wird noch ausgeführt, wie nach Zerstörung bestimmter
Teile dieser Nervenzentren gewisse Fähigkeiten der Sinne, der Glied-
maßen usw. verloren gehen können; weiter wird hervorgehoben, daß auch
geistige Arbeit körperliche Organe ermüde und somit ein steter
Kreislauf von Wirkungen zwischen Leib und Geist stattfinde und sich
bemerklich mache, ob wir auch selbst diesen Zusammenhang nicht immer
zugeben wollen. Dem entspricht, daß wir, wenn wir etwas ernstlich
wollen und erstreben, trotz körperlicher Ermüdung, nicht geneigt
sind, es leichtweg aufzugeben oder gar zu vergessen. Daß bei Kindern
das eine oder andere gleichfalls eintritt, sogar verhältnismäßig leicht ein-
tritt, bedarf keiner Erklärung, da ihre Willenskräfte noch nicht aus-
reichend entwickelt und geschult sind, überdies ihr Vorstellungskreis
durch neue Vorstellungen leicht abgezogen und den älteren untreu wird.
Anders liegt die Sache bei geistig Reiferen und demnach Willens- und
Widerstandskräftigeren, die das Gewollte festhalten und durchzusetzen
suchen, vorausgesetzt, daß ihr Temperament nicht ein so leichtflüssiges
ist, daß es wie das von Kindern ebenfalls neuen Vorstellungen schnell
folgt und die früheren im Stiche läßt, also kaum je etwas ganz zu Ende
führt und damit zu wirklicher Befriedigung nicht gelangt. Hier haben
problematische Erscheinungen oft ihren Entstehungsgrund — und
keine noch so hervorragende Anlage dürfte zu wirklich reifen
Früchten führen. So können vielversprechende Talente — im
Eingang unserer Abhandlung haben wir einige gekennzeichnet — zu-
grundegehen und zu verkommenen Genies werden, die niemandem
Freude, höchstens Bedauern erwecken. Das ist, was Heinrich von Kleist
halbe Talente nennt, und die angewandte Psychologie begründet dies
traurige Ergebnis mit der Feststellung, daß nicht mit ganzer Lebens-
kraft gearbeitet worden, daß ein Teil der Gedanken durch andere
Gedanken gehemmt worden sei. Das Fehlen eines ganzen, festen,
dauernden Wollens verschuldet solches, und Heinrich Heine beurteilt
Persönlichkeiten dieser Art mit der Note: ein Talent, doch kein
Charakter.
Erklärlich wird so, warum alle — aktiv zur Erziehung legiti-
mierten Faktoren, die wirkliche Einsicht in das Seelengetriebe junger
Boodstein: Problematische Naturen usw. 579
Menschen besitzen, nach Mitteln suchen, um die Willenskräfte zu
stärken und den Geist daran zu gewöhnen, auch bei minderbeliebten
Betätigungen bei der Stange zu bleiben; auch den Körper willig zu
machen, dem Streben des Geistes nicht zu widerstreben, sondern ihm
zu dienen. Denn daß solches möglich ist, kann jeder wissen, der im
Augenblicke der Gefahr, bei außergewöhnlichen Gelegenheiten, alle —
auch die ermüdetsten Kräfte aufbot und zusammennahm, um sich
und andere zu retten, sollte solches auch das Leben kosten. Die Not
ist nicht nur die zehnte Muse und lehrt nicht nur beten, sondern bricht
auch Eisen.
Absichtlich ist hierbei bisher das sogenannte Willensproblem
(welches nach einem neuerdings gefallenen Ausspruch als das Stiefkind
der modernen psychologischen Forschung bezeichnet worden ist),
also die Erklärung unseres Wollens und sein Zusammenhang mit
unserem Triebleben, außer Erörterung geblieben; und weder versucht
worden, das Wollen im wesertlichen als aus Gefühlen oder aus der
Sphäre des Denkens herzuleiten; noch in ihm die Wirkung einer inneren
Eingebung zu sehen, deren der Mensch sich nicht eigentlich bewußt
ist, die ihm aber doch von oben her gekommen ist und ihn so durch
eine Art Vorherbestimmung leitete. Vielmehr kam es Verfasser darauf
an, die im Bereich der Ethik und der Pädagogik wurzelnde ver-
nünftige Weise zu denken und darnach zu handeln und die Achtung
auch vor dem Rechte der Anderen als die Grundlage des Wollens
zu bezeichnen und so eine dauernde Gesinnung solcher Art herbeizu-
führen, die zwar auch sich selbst und die erstrebten Ziele nicht ver-
gißt, aber zugleich so zu handeln strebt, daß Andere nicht geschädigt,
sondern eher mit gefördert werden. Diese dauernde Gesinnung,
deren Frucht eine gleichmäßige, der geistigen und sittlichen Begabung
entsprechende Lebensrichtung und Handlungsweise ist, setzt auch eine
in Grundsätzen und Gewohnheiten sich gleichbleibende Beherrschung
der Willensregungen voraus; nicht ein Nachgeben gegenüber augen-
blicklichen Stimmungen und Gemütswallungen, nicht ein Aufgreifen bald
dieses oder jenes Vorschlags oder plötzlichen Einfalls, erschiene er auch
sehr geistreich (— ein grundgescheidter Mann sprach einst aus: ich habe
vor nichts soviel Respekt als vor plötzlichen geistreichen Einfällen, mit
denen man mich unvorbereitet zu bestimmen sucht —), endlich nicht
ein jähes Wechseln der nach ruhiger Überlegung angenommenen und
befolgten Richtung. Gerade bei temperamentvollen (meist sanguinischen),
geistig scheinbar sehr lebendigen und auch fremden und neuen Eindrücken
leicht zugängigen Menschen — und zumal in der Jugend sind Regungen
dieser Art, die jeder Nötigung, jedem »impelle« schnell Gehör schenken
und folgen, oft gang und gäbe — bildet ein solcher Richtungswechsel
eine große Gefahr. Denn er bewirkt eben, daß nicht leicht etwas zu
Ende geführt, geistig durchgearbeitet, gefeilt und vervollkommnet wird.
Ist es da ein Wunder, wenn es erscheint, als seien Leute dieser Art
keiner Lage voll gewachsen? ist es ein Wunder, wenn sie selbst —
sowohl im Hinblick auf das Unternommene, wie auf das neu vor ihnen
37*
580 A. Abhandlungen.
auftauchende, weitere Ziel, nicht mit sich selbst zufrieden sind und in
sich selbst und in ihrer Lage und Aufgabe kein Genüge finden? Sie
wollen sich nicht finden in das »aequam servare mentem rebus in arduis«
oder scheinen es wenigstens nicht zu können. Dieser Mangel an prak-
tischer Verständigkeit; dieser Mangel an Einsicht in die Erfahrung
vergißt, daß für allerlei Erweiterungen menschlichen Wissens und Könnens,
Wirkens und Schaffens der Anschluß an das bisherige und natür-
liche — also auch psychologisch begründete — Wesen der Personen
und Dinge die unbedingte Voraussetzung ist, und daß sprungweise viel-
leicht einmal eine einzelne Frucht, ein kurzer Erfolg erlangt werden
kann, nie aber ein bleibendes Ergebnis erzielt wird, läßt sie aber nicht
zu einer — ihrer Begabung entsprechenden — Ausgleichung ihres Wollens
und Könnens gelangen. Ganz gewiß sind sie nicht allein daran schuld;
welchen Anteil daran aber einesteils vielleicht ihre mehrseitige Be-
gabung habe — Franz Brentano sagt z. B. in einem Vortrag über »Das
Genie«, daß jedes Genie beschränkt sei auf sein eigentümliches Ge-
biet; es habe seine Eigenart, von der es nicht lassen könne; ja er
zitiert dafür noch Plato, der beobachtet habe, daß das Genie sogar
nicht mit bewußtem Kunstverstande schaffe! —; weiter welcher
Anteil besonderen Verhältnissen persönlicher und sachlicher Natur;
weicher Anteil schlechter Gewohnheit, dem Mangel an Übung und vollem
Verständnis, an Fleiß und Ausdauer zur Last zu legen sein werde — wer
kann und soll das entscheiden? Es herrscht in dieser Hinsicht eine un-
endliche Mannigfaltigkeit von Anlässen, Ursachen, ja unter Umständen
sogar von Notwendigkeiten. Bisweilen trägt zu dieser Entwicklung
von problematischen Naturen auch manches bei, worauf unsere Zeit, ja ge-
legentlich unser Volk stolz ist; unsere Schulen; die Vielseitigkeit unserer
wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, künstlerischen, politischen Strebungen;
gelegentlich Reichtum oder Armut; dann aber auch wieder das Versagen
des Gedächtnisses, des Kunst- oder technischen Verstandes; das Stehen
unter Vorurteilen oder Einflüssen religiöser, politischer Denkweise — aber
auch oft des Interesses für das Wollen und Handeln nach bestimmten
Gesetzen. Wer die Laufbahn einzelner Verbrecher, aber auch solcher, die
mit unbegrenzter Gestaltungs- oder Einbildungskraft an Werke zu gehen
beginnen, die sich bisher dem menschlichen Können zu entziehen
schienen, also einzelner Dichter und Künstler, Erfinder und Entdecker;
schauspielerische Talente (Virtuosen der verschiedensten Genre, auch
Taschenspieler) neben solchen ausübender Musik — kurz alle solche, die
erst darauf ausgehen, sich selbst und ihre Spezialität zu entdecken und
zu entwickeln — machen besonders in ihren ersten Anläufen oft den
Eindruck ausgesprochener Problematisten. Und selbst auf dem Gebiete
ernstesten Forschens nach den Geheimnissen und Rätseln des mensch-
lichen Daseins gibt es sogenannte Adepten, die vielleicht durch das schein-
bar konsequenteste Verfolgen gewisser Ideengänge und durch das Ziehen
gewagtester Schlüsse aller Welt zu imponieren vermögen, die also nicht
Halt machen vor den uns Menschen einmal auferlegten Schranken mit
ihrem »ignorabimus« ; sie geraten nicht nur in den Verdacht, problematische
Boodstein: Problematische Naturen usw. 581
Naturen gewesen zu sein, sondern enthüllen sich schließlich als solche,
selbst wenn sie ungezählte Anhänger und Jünger gefunden haben sollten,
die ihr Prophetentum gläubig aller Welt verkünden. Dutzende von Namen
wären hier zu nennen, für welche das »L’inconnu« (ich zitiere hier den
französischen Titel eines Werkes von Camille Flammarion, welches
neuerdings unter der Firma: »Rätsel des Seelenlebens« von Gustav
Meyrink ins Deutsche übersetzt worden ist) — nicht nur auf psychologi-
schem Gebiete, sondern auch auf allen möglichen anderen eine Anziehungs-
kraft ausgeübt hat, daß ihnen die Neigung, Praktisch-Erreichbares zu
erstreben, vollständig verloren ging. Ganz gewiß ist Manchen unter
ihnen doch gelungen, das, was bisher für unbekannt und unerkannt galt,
bei ihrem Suchen und Forschen doch zu entschleiern, ganz wie es seiner-
zeit Christoph Columbus gelang beim Suchen eines kürzeren Seewegs nach
Ostindien Amerika zu entdecken, welches daher zunächst Westindien ge-
nannt wurde. Aber recht viele gehen doch bei ihren Fahrten ins Fabelland
gründlich irre, verlieren nicht nur schließlich das Feste unter ihren Füßen,
sondern sich selbst und gehen zugrunde.
Die hierin liegende Gefahr kann nur von solchen vermieden werden,
welche in dem Streben, wirkliche, d. h. selbständig denkende Persön-
lichkeiten zu werden, nicht dem — immerhin leicht wechselnden — Ge-
fühl den Haupteinfluß auf ihr Wollen einräumen, sondern ihrer Er-
kenntniskraft, ihrer Intelligenz den Vorrang zugestehen. Den mit
lebhafter Einbildungskraft Begabten, also angehenden Künstlern, Dichtern,
Weltverbesserern usw. mag dergleichen zu nüchtern, prosaisch, hausbacken
vorkommen, ja gelegentlich wie eine Entweihung des Hohen und Schönen
erscheinen; aber uns Erdenkindern ist einmal durch unsere Natur geboten,
mit der Erde in Berührung zu bleiben und nicht den Boden unter den
Füßen zu verlieren, weil uns sonst leicht das Schicksal des Ikarus zuteil
wird, wenn wir mit wächsernen Flügeln den Himmel zu erreichen trachten.
Ganz gewiß gilt für die Emporstrebenden das schöne Dichterwort:
Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, wie könnten wir das Licht erblicken?
Lebt’ nicht in uns des Gottes eigne Kraft, wie könnt’ uns Göttliches entzücken ?
Aber versagt ist doch auch ihnen das Emporsteigen bis zur Quelle
des Lichts, bis zur Sonne; versagt ihnen auch das unmittelbare Er-
fassen göttlicher Kraft und Allmacht, da sie durchaus einer Vermitte-
lung bedürfen und nur wie durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort
das zu sehen und kennen zu lernen vermögen, welches nur durch seine
Wirkung sich menschlichen Personen offenbart. Dieser Zusammenhang
zwischen Intelligenz und Wollen lehrt uns unsere wahre Begabung er-
kennen und uns an ihr durch Selbstzucht und Beschränkung, also durch
eine Art von Seelengymnastik, nach und nach zu Charakteren aus-
bilden, die sich nicht durch anscheinende Vererbung mutlos und vernünftiger
Veränderung unzugänglich machen, aber durch die Herrschaft der Leiden-
schaften zu Exzessen geneigt, und durch Untergrabung unserer Lebens-
kräfte frühzeitig erschöpft werden lassen. Eine traurige Wahrheit ist es,
daß viele Leute erst durch Schaden klug werden; besser wäre es für
diese gewesen, wenn sie sich durch den Schaden Anderer hätten witzigen
582 A. Abhandlungen.
lassen; noch besser, wenn sie, statt an schon Geschädigten, lieber an
solchen, die in der Lebensschule ihre Lektion gut gelernt und dann
brauchbar angewendet hatten, sich ein Beispiel genommen, vernünftige
Grundsätze zur Losung gewählt und dieser Losung gemäß im Kleinen
und Großen sich bewährt hätten; denn fruchtbar ist der kleinste Kreis,
wenn man ihn wohl zu pflegen weiß. Das vermag aber nur, wer sich
bemüht, ein Charakter zu werden und zu bleiben.
Festzuhalten ist, daß jede dem Menschen gewordene körper-
liche oder geistige Gabe auch ihre Aufgabe hat: demnach weiter, daß
jede reichere Begabung doppelt schwere Aufgaben mit sich bringt —
und daß dementsprechend besonders reichbegabte Menschen vor Auf-
gaben stehen, welche den ganzen Ernst, den vollen Fleiß, den stärksten
Selbstzwang und auch die opferwilligste Hingabe erfordern. Sich diesen
Aufgaben nicht widmen zu wollen, weil Anderen geringere zuteil wurden,
heißt nichts anderes, als unpassende und unrühmliche Vergleiche zu ziehen,
sich selbst aber Pflichten gegenüber der Mitmenschheit entziehen zu
wollen. Daß solche Versuchungen aber gern an diejenigen herantreten,
die unter vielfältig wechselnden Eindrücken der Art und des Grades
ihrer Begabungen stehen, — und nicht wie die Mehrzahl der Genies in
einer gewissen Einseitigkeit ihre Stärke besitzen, ergibt sich oft von
selbst; besonders wenn nicht vielleicht von außen her irgend eine
Mahnung oder Vorstellung, ein Lob oder ein Tadel, vielleicht sogar eine
unabweisbare Notwendigkeit sie auf das Eine oder Andere hinweist
und so ihre Selbstentscheidung beeinflußt. So quält sich der — unter
dem Hauptdruck des Genialen Nichtstehende heute mit der oder jener
Erwägung ab und kommt morgen zu einer anderen, die seinen Kurs
wesentlich ändert. Marchem Menschen geht es Zeitlebens so — und vor
unablässigem Probieren bald dieser bald jener Hantierung bringen diese
es in keiner zu einer wirklichen Meisterschaft. Besonders gilt solches
von Talenten, zumal solcher im Nachmachen der Manier Anderer, für
deren Eigenheiten und Schwächen ihnen ein gewisser Blick zu Gebote
stand. Beschränkten sie sich auf die Kritik dessen, was sie selber glaubten
besser machen zu können, so könnte man sie sich gefallen lassen, wie
Apelles es seinerzeit mit dem Schuster machte, dessen größeres Sandalen-
verständnis er zwar gelten ließ, dem er aber im übrigen das »ne sutor
ultra crepidam« zurief. Anders aber stellt sich die Sache, wenn er Be-
rufeneren gegenüber den Bessermacher spielen oder diesem gegenüber sich
zur verspottenden, ja höhnenden Travestie oder Parodie bereit finden läßt
und sich damit vielleicht gründlich versteigt. Nach Hohem zu streben,
soll gewiß Niemandem verwehrt werden, der bereit ist, mit vollstem Ernst
und Fleiß sich seiner Aufgabe zu widmen; wer aber zu hoch hinaus will,
der sehe zu, daß er nicht noch tiefer falle, als er zu fallen brauchte,
wenn er seine noch unerprobten Kräfte nicht überschätzte: ungeduldige
Hast, voreilige Genußsucht, Erntenwollen ohne gesät zu haben, führt nie
zu Erfolgen von Dauer, zur Freude an sich selbst und seinem Werk —
und hat schon mancher durchaus nicht verächtlichen Kraft zum Ver-
derben gereicht. Das Gleichnis vom verständigen Gebrauche seines
Boodstein: Problematische Naturen usw. 583
Pfundes — und dieser ist nur möglich bei gewissenhafter Prüfung und
ebensolcher Ausnutzung desselben — weist auch darauf hin, daß eine
Nichtverwertung oder ein Mißbrauch sich bitter räche: dem sein
Pfund Nicht- oder Nichtgut-Gebrauchenden wird sein Pfund ge-
nommen und einem Anderen gegeben, wie es im Evangelium heißt. —
Also in der Vielseitigkeit der Begabung liegt wie gewiß ein Vorteil,
so doch auch sicher eine nicht zu unterschätzende Gefahr; und mancher
unterliegt, der nicht nach und nach lernt, sich selbst richtig zu messen
und zu schätzen, und die längeren Erfahrungen elterlicher und sonstiger
Autoritäten nicht oder wenigstens nicht ausreichend beachtet. »Zu stehn
in treuer Eltern (Lehrer, Freunde) Pflege, ist reicher Segen für ein Kind!
Ihm sind gebahnt die besten Wege, die Andern schwer zu finden sind,«
sagt schon ein älterer Spruch. Hier gilt es also die sehr mannigfaltigen
Wegweiser der in uns und außerhalb unser liegenden Verhältnisse zu beachten:
erbliche Anlagen oder erbliche Belastung; äußere Umstände fördernder
oder störender und hemmender Art; innere Feinde im Bereiche unseres
Denkens, Empfindens, Wollens und Handelns; Schwächen körperlicher
oder geistiger Natur und bestmöglich zu erkennen und zu deuten. Frei-
lich bleiben diese Verhältnisse nicht lebenslang bestehen; sondern er-
fahren im Bereiche des Entwicklungsganges des Einzelnen oft nicht vor-
her zu erkennende, ja nicht einmal vorher zu ahnende Veränderungen;
denn selbst die Temperamente hängen von allerlei Einflüssen, Lebenslagen
und Schicksalen, dem Lebensalter, dem Klima, der Gesundheit, der Be-
schaffenheit körperlicher Organe ab; hat man sie doch in alter Zeit in
Verbindung gebracht mit der Mischung der Säfte im Blute und je nach
ihrer leichten oder schweren Flüssigkeit, dem Überwiegen der Zutaten
der Galle (schwarzgallig oder bloß gallig) benannt. So kann es vorkommen,
daß vermeintliche Anlagen die auf sie gesetzten Hoffnungen nicht er-
füllen und anderen Platz machen müssen, die vorher nicht entfernt ver-
mutet worden waren; daß scheinbare Kinderfehler sich nach und nach
zu Charakterzügen entwickeln, die von erheblichem Werte sein
können, wenn sie von der Vernunft, vom Entschluß zur rechten Zeit,
vom Rechtsgefühl — also durchs Denken, Wollen und Handeln, und vom
Fühlen unserer Pflicht auch gegenüber Anderen sich beeinflussen lassen
und nicht blindlings der augenblicklichen Eingebung folgen. In der
»pädagogischen Pathologie oder der Lehre von den Fehlern
der Kinder« gibt Professor Ludwig Strümpell eine reichhaltige Grund-
legung für hierher gehörige Erscheinungen und erhärtet seine Auffassung
in einem anderen Werke über die geistige Entwicklung des Kindes oder,
wie er es als Herbartianer nennt, in seiner »psychologischen Päda-
gogik« dahin, daß allerdings neben vielen — durch körperliche, erbliche
und von außen kommende Umstände bedingten Ursachen auch freie
geistige oder seelische Akte dabei mitwirken, um erhebliche Ano-
malien zu erzeugen d. h. Kundgebungen hervorzurufen, die im Wider-
spruche stehen zu demjenigen, was der Erzieher aus seinem Zöglinge
machen will, und somit die regelrechte, gesetzmäßige, vernünftige Ent-
584 A. Abhandlungen.
wicklung hindern!) oder wenigstens zu hindern scheinen. Denn es ist
nicht außer acht zu lassen, daß, wie manchen körperlichen Schwächen,
Fehlern oder Krankheiten andrerseits Vorzüge gegenüberstehen, die Anderen
fehlen, oder Wirkungen hervorbringen, die der Starke, Wohlgestaltete, Ge-
sunde nicht zu leisten vermag, wie dem ererbten Besitz die Gefahr des
Verlustes droht; wie die vom Schicksal erfahrene Gunst oft so schwer
drückt wie eine zu bezahlende Schuld, die uns nicht erlassen wird;
so steht es auch mit den Gaben des Geistes, des Herzens, der Sinne —
sie alle müssen gebraucht werden zum Nutzen der Anderen: wer sich
dessen weigert, verachtet schließlich sich selbst; wer nichts für Andere
tut, tut auch nichts für sich. Erbaulich wird solches nachgewiesen in einem
schon erwähnten Essay von Ralph Waldo Emerson über »Ausgleichungen«
(compensations), dessen Ergebnis sich etwa in den Worten abspiegelt:
»Das Leben umkleidet sich mit unvermeidlichen Bedingungen,
die törichte Menschen zu umgehen suchen, indem sie prahlend vor-
geben, daß sie sie nicht kennen, daß sie sie nichts angehen. Doch nur
die Lippen prahlen; die Seele kennt die Bedingungen. Entrinnt der
Mensch ihnen nach der einen Seite hin, so fassen sie ihn an anderer,
gefährlicherer Stelle. Denn ganz augenscheinlich ist das Miß-
lingen aller Versuche, das Gute von demjenigen zu trennen,
was dafür entrichtet werden muß.« An anderer Stelle dann zitiert
Emerson die Bekenntnisse des Augustinus: »wie geheimnisvoll bist du,
du einzig großer Gott, der du in den Höhen im Schweigen thronest und
nach ewigem Gesetze die verlockenden Begierden mit Strafen der Blindheit
strafst!« und dann auch den englischen Philosophen Burke: »Kein Mensch
kann sich eines Vorzugs rühmen, der ihm nicht auch Schaden
brächte.« Mehr gegen das Ende der Abhandlung führt er aus: »Jeder-
mann wird einmal im Leben seiner Mängel froh. So wie keiner eine
Wahrheit ganz begreift, ehe er sie bekämpft hat, so kennt keiner die
Hindernisse oder Talente eines Menschen ganz, der nicht durch jene ge-
litten, und den Triumph der letzteren über seine eigenen, ungenügenden
erlebt hat.« »Jedes unverdiente Gut bringt neue Lasten; der Gewinn
an Besitz, Ehren, Macht und Anhaug ist einer stärkeren Steuer gewiß,
also ist der Gewinn nur ein scheinbarer.«e Das Menschenleben ist kein
Verweilen, sondern ein Fortschreiten. »Unterbrechungen, welche der
Mensch in seinem Fortschreiten, seinem Glück erleidet, sind Warnungs-
zeichen der Natur, deren Gesetz das Wachstum ist und die uns
daher oft genug das Lossagen von vertrauten Dingen, von Freunden, von
der Heimat, vom Gesetz, ja vom Glauben — kurz und gut von dem ver-
1) Der Herausgeber neuer Auflagen beider Werke, Dr. Alfred Spitzner hat
dieselben verdienstlich erweitert und fortgeführt, aber, vielleicht in pietätvollem
Anschluß an das zunächst von Strümpell Erstrebte, doch nicht ausreichend das-
jenige nachgewiesen, was sich aus solchen Kinderfehlern im weiteren entwickeln
kann, wenn aus der Miniatur- Ausgabe durch eigenes geistiges Zutun des
heranwachsenden Menschen sich Eigenschaften herausbilden, die nicht immer
noch als Fehler zu bezeichnen wären.
Boodstein: Problematische Naturen usw. 585
götterten Hergebrachten auferlegt mit der Zusage, daß die Kräfte
des neuen Tages das schöne Gestern überflügeln und erneuern werden!
So erscheinen manche Dinge, deren Verlust wir als Raub empfinden,
nach einiger Zeit mit heilender Kraft als uns erwiesene Wohltaten, zumal
wenn sie eine Lebensepoche abschließen und unser Leben umgestalten.«
Bequemt man sich zu dieser Auffassung Emersons und gesteht man
damit zu, daß — wie ein Dichter sagt — »So traurig ist kein Los, So
trüb ist keine Stätte, Die nicht in ihrem Schoß Ein kleines Labsal hätte;«
so ergibt sich damit auch die Selbsterhaltungspflicht, durch Ausnutzung
dieses Labsals sich über die sonstige Misere des Lebens hinwegzuhelfen.
Wird damit auch für uns kein Eden geschaffen, so doch eine Daseins-
möglichkeit, ein Winkel, der auch wenigstens etwas Glück birgt, und
in bescheidenem Sinne andere Mängel ausgleichen hilft. Carlyle empfiehlt
hierfür Arbeit, Arbeit für sich und auch für Andere nach Maßgabe der
vorhandenen Kraft, — und solches Arbeiten zu lehren und daran zu ge-
wöhnen, dazu hat die Natur, vom ersten Augenblick unseres Existierens
an, uns Helfer gegeben in den Eltern und der Umwelt, innerhalb deren
wir uns entwickeln, bis wir auf unseren Beinen stehen, mit unseren
Sinnen alles mögliche in uns aufnehmen, und auf uns wirken lassen
können, und endlich im Empfinden unseres Ich unser Können nach und
nach zur Geltung bringen. Die eben bezeichneten Geburtshelfer unseres
Könnens, vereint mit der mehr und mehr in uns erwachsenden Bewußt-
seinskraft, fördern uns dann zunächst Schritt für Schritt oder sollen es
wenigstens tun. Wer dann nach und nach sich seiner Gaben und damit
seiner Pflichten einigermaßen bewußt wird und demgemäß darauf ausgeht,
sein Leben nicht stillschweigend und tatenlos zuzubringen wie die Tiere
(»quae natura prona ac ventriobedientia finxit«; Sallust) mag ja bisweilen
in Schwierigkeiten geraten, die ihn anmuten, wie seinerzeit Scylla und
Charybdis die Gefährten des Odysseus. Aber wenn er nach und nach
klarer denkt, aufrichtig strebt, seine Kräfte nützt, dann hilft ihm auch
Gott, selbst wenn er wie Paulus den Pfahl in seinem Fleische spürt und
klagen zu müssen glaubt, daß der Geist zwar willig ist, aber das Fleisch
versagt, vorwärts: möge er nur ausrichten, was in ihm und an ihm ist
.— aber sich nicht ohne Not vergleichen mit anderen, deren Stärke dort
liegt, wo bei ihm die Schwäche ihren Einfluß übt.
Also sich selbst erkennen und sich erkennen lassen durch Erfahrenere
ist die einzig richtige Lösung — dann ist man weder an sich noch
für sich eine problematische Natur, sondern zeigt sich, wie und wer man
ist, und nicht, wie und wer man scheinen will. Dann wagt man sich
auch nicht an Aufgaben, denen man nicht gewachsen ist, und bescheidet
sich mit dem Genügen an sich. —
Rezepte freilich für dies Sich-selbst-erkennen und Sich- erkennen-
lassen, gibt es nicht. Es gibt auch wohl niemand, der den Weisheitsrat
Solons befolgt zu haben jederzeit von sich behaupten könnte; und fast
noch weniger jemand, welcher sich für einen unfehlbaren Herzenskündiger
ausgeben dürfte. Dies Sich-Erkennen ist wie die ganze Anthropologie
und Psychologie im allgemeinen ein Ergebnis der Erfahrung, die ja
586 A. Abhandlungen.
manches erklären, sogar manches voraussehen kann, aber bei weitem nicht
alles: es ist weiter auch eine Kunst, deren Vermögen darin besteht, aus
tatsächlich vorhandenen Eigenschaften und Fähigkeiten Folgerungen zu
ziehen, die, falls nicht unvorhergesehene Umstände oder Widerstände beide
beschränken oder gar vernichten, nicht nur Wahrscheinlichkeit haben,
sondern Wirklichkeiten versprechen. Aber es geht mit dem Erkennen
des ganzen Menschen ebenso wie mit der angewandten Natur-
wissenschaft; überhaupt seine Erweiterung erfolgt nur ganz langsam,
denn die Beziehungen zwischen körperlichen und seelischen Vorgängen
sind so überaus mannigfaltig, sie wechseln so oft, ja so unaufhörlich, daß
sich feststehende allgemeine Gesetze und Regeln nicht aufstellen lassen
— und höchstens eine Beschreibung des Einzelzustandes und seiner
nächsten Wirkung mit einiger Richtigkeit gegeben werden kann, wo-
fern nicht im selben Augenblick noch vom beschriebenen Objekt, dessen
Wollen nicht beschränkt ist, eine Schwenkung sich vollzieht, die die
angenommenen Folgen wieder aufhebt und damit die aufgestellte
Rechnung vergeblich macht. —
Soll aber des möglichen Irrtums wegen, der vielleicht sich nur
auf Einzelheiten bezieht, überhaupt alles Versuchen, zur Erkenntnis fort-
zuschreiten, aufgegeben werden? soll kein Plan in Vorschlag gebracht
oder gefaßt werden, weil er schließlich nicht in allen Punkten ausführbar
wird? soll an kein Werk der Einbildungskraft —- ich denke hier an die
Schöpfungen unserer Genies in allerlei bildenden und redenden Künsten,
an die Entdeckungen der tiefsinnigsten Forscher — soll an kein solches
Werk herangegangen werden, weil vielleicht nicht nur der erste Entwurf
nicht voll gelang, sondern sich auch an dem vollendeten Bild, der
Dichtung, der Symphonie oder der Lösung eines wissenschaftlichen
Rätsels noch dies und jenes aussetzen oder bezweifeln ließe? Zwar irrt
der Mensch, solange er strebt, im Einzelnen, und hier und da auch im
Ganzen; aber soll er — angesichts der fortwährenden Wechselwirkung
zwischen dem Einzelleben und den vielfältigen Zusammenhängen mit
allerlei Persönlichkeiten und Umständen außer ihm — wenn er das
Wesenhafte eines Vorgangs oder einer Erscheinung erfaßt zu haben
meint, von dessen Feststellung absehen, weil ihm nicht alle zufälligen :
Einzelheiten erfaßbar werden konnten? — Weil man — nach dem be-
kannten Sprichwort — klüger vom Rathaus heimkehrt als wie man hin-
ging; weil man — nach unserer Meinung — eine Sache oft später
anders ansieht, als da man sie in Angriff nahm; weil man im augen-
blicklichen Erfolg ein Gottesurteil erblickt und deshalb bisweilen einen
früheren Entschluß bereut; — soll man da überhaupt an keinen Ratschlag
denken, keine Sache unternehmen und den ersten — in der Regel red-
lichsten Entschluß bedauern oder unterlassen? Alles Große, Schöne,
Wahre, Gute entfaltet sich nicht auf einen Ruck; sondern erwächst
nach und nach aus einer Reihe von Erscheinungen, Kräften, Formen und
Farben, die dann zu einem Ganzen werden, welches die wesentlichen
Bestandteile dieser Wechselbilder zusammenfaßt. Manche Genies be-
Boodstein: Problematische Naturen usw. 587
schreiben in entsprechender Weise die Genesis ihrer Meistertaten: nehmen
auch wir die Eindrücke des Augenblicks in unsere Gedankenwelt auf und
warten dann ab, was nach und nach aus diesem unseren Gedankenkinde
wird; vielleicht wird es doch wenigstens etwas Brauchbares. —
In solchem Sinne mag nach und nach auch der Erzieher, der Vater,
die Mutter, der Freund denken an das, was er raten, und schließlich
auch unser Pflegling an seine Entschließungen gehen über das, was er
werden, was er schaffen, was er der Welt geben will. Wir alle müssen
aus Beobachtungen, Erfahrungen, Erwägungen des Persönlichen, Sachlichen,
Möglichen unsere Schlüsse und Entschlüsse herleiten, — zwar sagt Heine:
was er webt, das weiß kein Weber — doch wir fügen hinzu: alles Guten
ist schließlich doch Gott der Geber. —
Demnach erscheint es unweise und ungerecht, mit Gott oder der
Natur zu hadern, weil wir nicht beschaffen sind und Gaben empfingen,
wie wir sie uns wünschten. Seien wir nur das, was wir sind, willig
und ganz; nützen wir das, was wir haben, nach bestem Wissen und
Können aus; auch wer über wenig getreu gewesen ist, kann eingehen
zu seines Herm Freude — wie es in der Heiligen Schrift steht.
Wenden wir das an auf die Wege, die wir (— bei der Vielgestaltig-
keit unseres Kulturlebens sind sie ja auch überaus mannigfaltig und be-
einflußt durch allerlei Umstände in uns und außer uns —) zur Erfüllung
unserer irdischen Sendung zu gehen haben, und auf die wir durch unsere
Verhältnisse gewiesen sind, so kommt hier für uns alle besonders zweierlei
in Betracht: die Schule und der Beruf. Auf sie beide wird durch
Eltern und Pfleger zunächst das Augenmerk gerichtet — und vorsorg-
lich oft in allerfrühester Zeit, ehe sich wirklich gezeigt hat, wes Geistes
Kinder wir sind und wie weit unsere Leibeskräfte etwa reichen dürften,
bedacht und erwogen, was wohl das Beste und am sichersten zum Ziele
Führende wäre. In einfachen und bescheidenen Verhältnissen verursacht
das zunächst nicht viel Kopfzerbrechen, zumal auch die Staatsgesetze meist
Vorschriften enthalten, denen ohne große Umstände seitens ziemlich Aller
entsprochen werden kann. Hier liegt also zunächst weder Wahl noch
Qual vor, zumal wenn das Kind den Spuren der Eltern folgen und die
von diesen begangenen Wege ebenfalls gehen soll. Doch diese Gewohn-
heit der sogenannten guten alten Zeiten nimmt immer mehr ab; sind
ja vielfältig auch die Rechts-, Erwerbs-, Verkehrs- und sonstigen Ver-
hältnisse steten Änderungen unterworfen — und unterliegt auch das Erb-
recht an den Nachlaß der Eltern erheblich größeren Beschränkungen als
früher, zumal wenn der Geschwister mehrere sind. Das Bett der Eltern
ist deshalb nicht ohne weiteres auch für die Kinder gemacht. Doch das
sind Nebensachen gegenüber der Summe der geistigen und mate-
riellen Änderungen, die die neue Zeit unablässig zur Geltung bringt.
Zwar haben die Anfänge und Grundlagen alles Schulwissens und Könnens
eine große Ähnlichkeit, denn das in ihnen gebotene Formale und Stoffliche
kann nach verschiedenen Methoden und auch in etwas veränderter Reihen-
folge an die Zöglinge herantreten — wird aber im wesentlichen immer
dasselbe sein müssen, solange der Zögling nur dem Zwange der Schul-
588 A. Abhandlungen.
pflicht im gesetzlichen Sinne zu genügen hat. Anders schon stellt sich
die Sache, wenn Rücksichten auf den Schein der Begabung, den Stand,
die Bildungs- und Vermögenslage der Eltern, die vorhandenen oder sonst
erreichbaren Anstalten, der ins Auge gefaßte spätere Beruf und allerlei
äußere Umstände des Wohnorts usw. eine Erweiterung des innerhalb
des Bildungszwanges Erforderten erheischen. Hier stehen neben den
sogenannten mittleren und höheren Erziehungsschulen noch allerlei
Berufs- und Fachbildungsgelegenheiten zur Wahl, wenn die für die Auf-
nahme in dieselben getroffenen Voraussetzungen erfüllt worden sind.
Denn diese Voraussetzungen können schon für Manche zu Klippen
geworden sein, die wenigstens nicht ganz gerade, sondern nur auf Um-
wegen zum Ziele führen, oft sogar von demselben abführen oder wenigstens
abzuführen scheinen. Welcher Art diese Voraussetzungen — oder wie
man sie auch nennt — die Berechtigungen sind, die zu Klippen
werden können, braucht hier nicht ausgeführt zu werden, da sie allgemein
bekannt sind und in der Regel darin liegen, daß z. B. in den sogenannten
mittleren und höheren Schulen um der sogenannten allgemeinen Bildung
wegen eine große Mannigfaltigkeit von Fächern behandelt werden
müssen, deren einige außer aller Beziehung zu dem späteren Berufe
stehen oder zu stehen scheinen. Dienen diese dem Einen zum Hemm-
schuh, so daß er nur zu erheblich späterem Zeitpunkt zum vorgeschriebenen
oder erstrebten weiteren Ziele gelangt, so dem Andern zum Antriebe, auf
andere Zwecke sein Hauptaugenmerk zu richten und so dem Er-
wünschten mehr und mehr untreu zu werden. Hier kann es also ge-
schehen, daß das vorhandene, vielleicht nur halbe Talent noch herab-
gemindert wird durch nur halbe oder ganz fehlende Neigung und ein
sich in anderer Richtung bewegendes Interesse. Verstärken diese ein-
ander sowieso schon beeinträchtigenden Neigungen und Richtungen die
Abneigung gegen das Vorgeschriebene und Erstrebte, so kann ja das
Arbeitsergebnis — trotz äußeren und vielleicht auch inneren — Zwanges
— kein zufriedenstellendes sein; ein sich in dieser Hinsicht betätigen-
des Berufsleben mag äußerlich sich pflichttreu sein und alle Paragraphen
der Instruktion erfüllen, auch dem Kontrollierenden keinen Anlaß zur Be-
mängelung geben; die innere Stellung zur Sache läßt aber Herz und
Gemüt unberührt: es ist eben eine Brotarbeit, wie Schiller von einem
Brotstudium spricht. Wie das Berufsleben kann sich vorher auch das
Schulleben gestaltet haben — auch dort gibt es Scholaren, die die vor-
geschriebenen Stadien mit Geduld ersitzen, das Mindestziel mit Not er-
reichen, aber doch erreichen, opus operatum. Daß die Hierhergehörigen
noch nicht zu den problematischen Naturen zu rechnen sind, ist klar.
Das Prädikat »genügend«, bisweilen auch das »zur Note oder »knapp
genügend« reicht ja schon für das Examen aus — und wenn sich dann
ihr Leben in solcher bescheidensten Mittelmäßigkeit nach und nach voll-
zieht und unter Umständen verzehrt hat, so kann man zwar auf ihren
Leichenstein schreiben: »Machet nicht viel Federlesen: Dieser ist ein
Mensch gewesen«, aber nicht hinzufügen: »Und das heißt ein Kämpfer
sein !«
Boodstein: Problematische Naturen usw. 589
Über die Anderen, die ausreichend und auch mehrseitig Begabten,
ist schon weiter oben gesprochen; sie können und wollen etwas Besseres
leisten; meist fehlt aber ihrem Können die Gediegenheit, ihrem Wollen
die Ausdauer und der Richtung ihrer Leistungen die Beständigkeit und
Treue. Sie irrlichterieren von einem zum anderen; vielfältige, nichts
weniger als im Einklange miteinanderstehende Aufgaben beschäftigen sie
zeitweilig und lösen sich rasch wieder mit anderen neuen ab; mit Pro-
jekten verschiedenster Gestalt überstürzen sie sich — und manches Kind
ihrer Erfindungsfreudigkeit sinkt ins Grab, noch ehe es geboren ward.
Rerum novarum cupidi nannten die alten Römer diese Sensationsrevulutionäre,
denn nur das Neue hat Reiz für sie — und bewährtes Altes wird gering
geschätzt oder ganz aufgegeben zugunsten des in ihrer regen Einbildungs-
kraft auftauchenden, aber in der Luft schwebenden neuen Gebildes. Paart
sich solche Fruchtbarkeit an Ideen noch mit einer gewissen Leichtfertig-
keit in ihrer Behandlung und mit steter Wandelbarkeit der Unterlagen,
auf denen die Ideen sich aufbauen wollen, da trifft der Ausspruch in
Schillers Glocke: »wo rohe Kräfte sinnlos walten, da läßt sich kein
Gebild gestalten« buchstäblich zu — und der von ihnen für sich ge-
schaffenen Lage sind Persönlichkeiten dieser Gattung weder gewachsen,
noch können sie durch sie Befriedigung finden, zumal sie ihnen natürlich
nicht genugtun kann. —
Kleineren Kindern freilich kann man dergleichen nicht übel nehmen;
wohnt doch bei ihnen, wie man sagt, Lachen und Weinen in einem Sack;
holen sie sich doch Sonne, Mond und Sterne vom Himmel herunter, um
mit ihnen zu spielen; machen sie doch zunächst den Großen nur alles
nach, ohne zu ahnen, was sie sprechen. tun und denken. Aller Wechsel
ergötzt sie und ihren Ammen glauben sie die verwegensten Märchen, weil
ihnen der Maßstab und das Urteil für Vernünftiges und Mögliches und
die Erfahrung über Wirkliches und Phantastisches durchaus fehlt. Weder
der Sinn noch der Wert der Dinge, noch der ihres eigenen Seins und
Lebens ist ihnen aufgegangen; lediglich körperliche Vorgänge bestimmen
zunächst den Mechanismus ihres Seelenzustandes.. Nach und nach ändert
sich das, bis sich nach und nach die Beziehungen zwischen ihm und den
Personen und Dingen außer ihm mehr und mehr Eingang schaffen und
das Bewußtsein der Verschiedenheit zwischen beiden in ihm zu erstehen
beginnt und auch dasjenige eines gewissen Gegensatzes sowohl wie eines
Zusammenhangs sich regt. Ist hier auch nicht der Ort, solches im ein-
zelnen zu beschreiben und darzulegen, so mag doch hervorgehoben werden,
daß aus diesem Bewußtsein ebenso das Gefühl einer gegenseitigen Ab-
hängigkeit, wie auch das Streben, den eigenen Willen zur Geltung zu
bringen, erwächst und gelegentlich die ersten Konflikte erzeugt, die zwar
manchmal zu einer Art von Sieg führen, meist aber mit einer Niederlage
enden. Wie lange dieser Zustand dauert, ob nach Comenius und Anderen
etwa bis zar Vollendung des sechsten Lebensjahres oder etwas kürzere
oder etwas längere Zeit, kommt hier nicht in Betracht. Hat der nicht
rechtzeitig bekämpfte und unterdrückte Eigensinn das Durchsetzen des
ohne bewußte Gründe versuchten Eigenwillens zustande gebracht, so kann
590 A. Abhandlungen.
das schon dahin gedeutet werden, als begännen hiermit schon die Ansätze
zur Entwicklung einer füglich problematisch werdenden Natur, der keine
Lebenslage zu genügen scheint, und die doch auch keiner entstehenden
und gegebenen wirklich gewachsen ist. Kinder dieser Art erscheinen
den Näherstehenden ungenießbar und gehen in solchem Widerstreit auch
selbst jedes vernünftigen Lebensgenusses verlustig.
Mit dem Eintritt in die folgende Periode, sie mag das Lernalter
oder Schulalter genannt werden, treten dann auch fernerstehende per-
sönliche und sachliche Einflüsse in Wirksamkeit, und die tunliche Berück-
sichtigung der individuellen Beschaffenheit, die in der nach Comenius als
Mutterschule bezeichneten ersten Periode überwog, kommt höchstens
in der allersten Zeit, der Übergangszeit, und auch da nicht immer,
noch einigermaßen zur Geltung. Dann aber heißt es, auf Geheiß von
Fremden in einer größeren Gemeinschaft von Altersgenossen sich einzu-
gliedern oder eingliedern zu lassen — und das geht in der Regel nicht
ab uhne eine gewisse Verletzung oder Einbuße bisheriger Eigenwilligkeiten
und Eigenheiten, die nicht bestehen bleiben dürfen, wenn sie den Zu-
sammenhang des neuen Organismus stören. Dieser Organismus unterliegt
selbst gewissen Bestimmungen und will nach Kräften und mit hergebrachten
oder neuen Mitteln seinen Zwecken dienen. Ob und inwieweit sie dem
körperlichen und seelischen Bedürfnisse des einzelnen Zöglings immer
gemäß sind, kommt für uns nicht in Betracht; solches zu erwägen, wäre
vorher ebenso Sache des Anmeldenden oder des Übergebenen, wie die des
Verwalters gewesen, da sie schließlich dafür verantwortlich sind und den
Erfolg werden abzuwarten haben. Ob sich alle drei oder nur der eine
oder andere darin getäuscht finden sollten, mag auch unerörtert bleiben;
der am meisten unter dem Mißerfolge Leidende dürfte zunächst der Zög-
ling sein, vorausgesetzt, daß er nicht allein die Schuld daran trüge.. —
Solches aber wird der Fall sein, wenn er, bewußt oder instinktiv sich
der Erfüllung derjenigen Pflichten entzöge, die er nach Maßgabe seiner
geistigen und sonstigen Kräfte bequem zu erfüllen imstande gewesen wäre,
wenn er nur gewollt hätte. Ob hier bloß moralische Schwäche vorliege
(— es gibt schon im kindlichen Alter allerlei bedenkliche Manien,
denen zu fröhnen nicht der geringste Anlaß zugrunde liegt, z. B. wenn
reiche Kinder stehlen, oder aus Übermut und Bosheit Schaden anrichten,
den andere zu tragen haben; wenn aus Großmannssucht geprahlt und ge-
logen wird; wenn Mißbrauch geschlechtlicher Art getrieben, wenn Schwächere
und Unerfahrene verführt oder vergewaltigt werden und noch dergl. mehr —)
oder die ausgesprochene Freude am Schädigen, Verletzen, Hineinlegen
Anderer, ohne daß daraus ein eigener Vorteil erwüchse, sich zum Charakter-
zug herauszubilden schiene (— man denke hier nur an das Beschuldigen
wider besseres Wissen, an das Vernichten von Wünschen und Hoffnungen,
ja von kleinen Liebhabereien Anderer lediglich aus Bosheit —), oder end-
lich die ganz unverhüllte Neigung gerade das zu tun, was Andere nicht
tun wollen, weil es eben einmal etwas anderes ist — man denke an
Alcibiades, aber auch viele andere erheblich minder hervorragende Leute,
denen es nur darauf ankommt, daß von ihnen gesprochen wird, also eine
Boodstein: Problematische Naturen usw.
591
lächerliche Form der Eitelkeit und des Widerspruchsgeistes — das ist
oft nicht recht zu erkennen und zu entscheiden; im ganzen dürfte all’
solch’ Verhalten Zeugnis ablegen für das Obwalten einer falschen Selbst-
liebe, die grundsätzlich von anderen nicht begangene Wege geht, nur
um das Auge auf sich zu ziehen. Oft könnte man solchen zurufen wie
seinerzeit dem in zerrissenen Kleidern Stolzierenden: »aus deinen Löchern
schaut deine Eitelkeit heraus«; Studiosi dieser Art nennt man im Uni-
versitätsjargen: »Renommierfüchse«e, im übrigen Leben bisweilen
»Narren«. — Natürlich können im eigentlichen Lernleben der Minder-
jährigen Auswüchse dieser Art, zumal wenn sie Einzelnen oder der
Gesamtheit lästig werden, nicht geduldet werden. Treten sie später bei
Selbständiggewordenen immer noch auf, so läßt man den Narren ihre
Kappe oder bemerkt, wie die Franzosen es nennen: à chaque fou sa ma-
rotte. Erscheinungen dieser Art beruhen auf Charakterfehlern, denen mit
angemessenen Mitteln beizukommen gelegentlich die Gesamtheit oder die
sonst Verantwortlichen versuchen werden; im Schulleben geben sich ge-
legentlich die Klassen- oder Bankgenossen daran, dergleichen unbequeme
oder ärgerliche Ecken nach Kräften abzuschleifen; hier gilt der schon
einmal angezogene Spruch: »willst du, daß dich mit hinein in das Haus
wir bauen, laß es dir gefallen, Stein, daß wir dich behauen!« Solches
geschieht oft genug nicht bloß bildlich, sondern oft ganz wörtlich.
Andere Erscheinungen, die auf vererbten oder versagten Anlagen
beruhen, lassen sich aber mit dem Behauen nicht bannen; die Natur
läßt sich nun einmal nicht austreiben. Hier liegt bisweilen der
Fehler weniger in der Schuld des Minderbegabten als in der Uniformität
des Anstaltsdaseins, die sich aber wegen ihres Charakters als für
viele zu sorgen berufene Einrichtung schwer ändern läßt, wenn
nicht das ganze Gefüge Schaden leiden soll. Nun braucht der Lehrling
nur keinen rechten Sinn für diesen oder jenen Stoff, diese oder jene
Form und Behandlung zu haben, dann stimmt die Rechnung schon nicht
und das Endergebnis muß beanstandet werden. Sind das schon Nöte für
die Lehrenden, wie aber gar erst für den Lehrling, der ohne eigene Schuld
zu Leistungen angehalten wird, die ihm nicht möglich sind. Feststellungen
über sogenannte Lieblingsfächer und dann wieder für Kreuz und Leid ge-
haltene Fächer bilden ein stehendes Besprechungskapitel in den Zensur-
und Versetzungskonferenzen der Schulen. Universaltalente für Alles sind
dünn gesät; sehr viele der Kämpfer haben ihre Achillesfersen, und auch
die sogenannten Musterknaben, die in allen Sätteln gerecht zu werden
scheinen, haben in der Regel nur das Mittelmaß: von allem ein Bißchen,
von keinem Viel und etwas wirkliche Eigenart (Originalität), Tempera-
ment und auch Einbildungskraft, sowie Erfindergabe fehlt ihnen meist
durchaus. Unter den kurz bezeichneten drei Gruppen dürften sich eigent-
liche Problematiker kaum finden; es wäre denn, daß zumal aus der
mittleren — der mit der Achillesferse — der eine oder andere zum Teil
durch seine Mängel in schwerer Notlage oder aber durch irgend eine,
allen anderen fehlende Ausstattung oder Begabung sich erfinderisch ge-
zeigt oder sonst eine Ausnahmestellung errungen hätte, die ihn zum Ton-
592 A. Abhandlungen.
angeber für die Mehrheit seiner Mitschüler gemacht hätte: denn es gehört
ja nicht zu viel dazu, einer Schar von jungen Menschen — wenn auch
nur vorübergehend — zu imponieren, zumal wenn die Schulzucht ihnen
den Unterordnungsgrundsatz kräftig aufgeprägt hatte und sie so auch
minder legalen Einflüssen sich fügten. Solche zeitweilige Diktatur üben
durchaus nicht immer die besten oder klügsten aus; sondern meist solche,
die nach der einen oder anderen Seite eine Art Vorzug — wie die
Scholaren sagen: ein prae — voraus haben — etwa guter Suade, der
Körperkraft, der Dreistigkeit, bisweilen auch äußerlichen Aussehens, selten
vielleicht auch des Geldes. Die Wirkung auf Knaben dürfte sich in diesen
Fällen von derjenigen auf Mädchen wesentlich unterscheiden, ein durch
die Geschlechtseigenheiten bedingter Umstand. Jeder Lehrende, der viele
Generationen zu beobachten Gelegenheit hatte, dürfte solches bestätigen
können. Auch aus der eigenen Schülerzeit, zum Teil sogar aus der Uni-
versitätszeit kann gewiß Mancher bezügliche Erfahrungen zum Besten
geben, die vielleicht keinen generellen Charakter haben, aber oft dartun
werden, daß diese Tonangeber, die Einpeitscher — wie man sie im eng-
lischen Parlament nennen würde, oft problematische Naturen waren,
meist begabt mit einer Anzahl halber Talente, einer starken Impulsivität,
bestechenden Manieren, der Geschicklichkeit sich dem Augenblick an-
zupassen, aber auch der Fähigkeit die Front rasch zu wechseln — kurz
gesagt: diplomatisch zu wirken. Ruhigere Erwägung, tieferes Eindringen,
Beharrungsvermögen und unerschütterliche Festigkeit, ethische Bedenken
in der Wahl der Mittel, und auch logische Folgerichtigkeit sind solchen
im wesentlichen fremd — ihr Ziel ist der augenblickliche Erfolg,
möchte später auch die Sündflut folgen. Kein Wunder, wenn solche
schwierigeren Lagen nicht dauernd gewachsen scheinen, zumal wenn sie
hochfahrend bekunden, daß ihnen das Rasten auf irgend einer Zwischen-
stufe nicht genüge. Sie tragen demnach recht oft die Goethesche Signatur.
Ob sie diese dauernd beibehalten, kommt zunächst nicht in Betracht.
Manche mögen — nachdem ihre Lehr- und Werdezeit vorüber — ge-
witzigt durch die Erfahrung, sich besser mit ihrem Können und
Wollen abfinden, das Eintreten widerstreitender und unbehaglicher Ge-
fühle zu vermeiden suchen; Andere dagegen sich nicht durch den Schaden
klug machen lassen, und, wie seinerzeit der Schule, so später dem Leben
schuld geben, daß es sich nicht nach ihnen gerichtet habe, und sie so
unverdient Schiffbruch litten. Ist solchen Eigenwilligen zu helfen? —
Freilich mag nicht immer unberechtigt sein, wenn sie klagen, daß die
Schule, die sie vielleicht nicht selbst gewählt hatten, ihnen nicht das ge-
boten habe, was sie glaubten, für ihren späteren Beruf zu bedürfen. Kann
aber die allgemeinbildende Erziehungsschule für jeden beliebigen Beruf
auch noch die Berufsbildung vermitteln? — Wir kommen damit auf
ein Kapitel, welches unserem engeren Thema fern liegt und demnach gar
nicht berührt zu werden brauchte; indes ist es doch eines von großer
Tragweite und offenbart die Gründe, weshalb in viel mehr als den letzten
dreißig Jahren mit sehr großem Eifer, ja mit sehr großer Heftigkeit die
Frage der Reform unserer Schulen erörtert worden ist und bisher zu
Boodstein: Problematische Naturen usw. 593
einem wirklichen Ruhepunkte nicht recht gelangen konnte. Ihr Ausgangs-
punkt war: was kann bei der Bedeutung der Schule für den Ein-
tritt in einen Lebensberuf geschehen, damit sie diesem Eintritt in
bestmöglicher Weise vorarbeitet, ohne daß ihre erziehliche Arbeit
in der Richtung auf das Allgemein-Menschliche, Religiöse und
Nationale Abbruch leide? Die Schwierigkeit ihrer Lösung leuchtet
ein bei der fast unendlichen Vielfältigkeit von Lebensberufen und
deren Vielseitigkeit und Arbeitsteilung im Einzelnen, und bei der gleich-
zeitigen Nötigung der Schule, wegen ihrer Arbeit an großen Mengen
von Zöglingen sich in der Arbeit möglichst zu konzentrieren. Daß
die Lösung versucht worden ist einerseits durch das Mittel, eine große
Zahl von Schulgattungen ins Leben zu rufen und ihnen nicht nur eine
gewisse Gleichwertigkeit zuzusprechen, sondern ihnen allen auch eine Reihe
gemeinsamer Aufgaben zu stellen; andererseits aber auch die Lern-
stoffe nach unterscheidenden Gruppen auszuwählen und sie je nach
ihrer Bedeutung für die einzelnen Gattungen zu vermehren oder zu ver-
mindern, und ihre Anwendung und Verwertung in entsprechenden Formen
darzubieten und in praktischen Übungen festzulegen, ist wohl allgemein
bekannt. Aber ganz aufrecht ist das Ei des Kolumbus bisher noch nicht
aufgestellt worden; auch sind, abgesehen von einzelnen, im wesentlichen
reinen Berufsschulen die Versuche erziehlichen Einflusses (z. B.
durch Internate u. dergl.) noch nicht als durchweg gelungene zu bezeichnen,
da andere Einflüsse doch schließlich sich als stärker erwiesen. Für ge-
wisse Berufe (kirchliche, schulamtliche, militärische usw.) mögen die Inter-
nate technisch gute Dienste leisten; betreffs ihrer Bewährung im späteren
öffentlichen und unabhängigen Leben dürften sie doch manchmal die Probe
nicht zu bestehen vermögen, da die Umkrempelung der Herzen durch
immerhin äußere Mittel kaum gewährleistet werden dürfte.
Kann man demnächst der Schule — in welcher Form sie auch auf-
träte — nicht direkt den Vorwurf machen, problematische Naturen er-
zogen oder gar großgezogen zu haben, so wird sie doch bisweilen indirekt
solche Schuld nicht von sich abweisen können, zumal wenn sie ver-
suchte zum Kadavergehorsam, zu Standesvorurteilen, zur Heuchelei
oder wenigstens zur Erweckung eines gewissen Scheins ihre Zöglinge zu
bestimmen. Daß solches aber doch manchmal der Fall ist, kann angesichts
einer Reihe unanfechtbarer Zeugnisse und entsprechender Tatsachen nicht
bestritten werden. Am häufigsten dürfte solches dann der Fall sein, wenn
sie — vielleicht unter dem Vorwand, allgemeine Bildung zu ver-
mitteln, — ihre Zöglinge gleichwohl für ganz bestimmte Berufe mit
vorbereitet und damit strebt, der eigenen Richtung und Entscheidung der-
selben zu präjudizieren. Oft mag sie solches mit ausdrücklicher Zu-
stimmung der Eltern oder sonstiger Interessierten tun und es an ihrem
Teile unverblümt und ehrlich bekunden; über die Frucht ihres Strebens,
gelegentliche Flucht, späteres Renegatentum und scheinbar bitteren Un-
dank ihrer Pfleglinge braucht sie sich nicht zu wundern. — Eins aber
mag auch solchen — in gewissen Richtungen und unter Aufwendung
eines Gewissenszwanges arbeitenden Schulen nicht zum Vorwurf gemacht
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 38
594 A. Abhandlungen.
werden, weil es jedenfalls nicht in ihrer bewußten Absicht gelegen
hat, nämlich ihre Zöglinge zu Verbrechen anzuleiten, also sie zu Ver-
brechern auszubilden. Wenn immerhin eine nicht ganz geringe Anzahl
Jugendlicher oft recht zeitig dahin gelangt, so haben hierbei stets ander-
weitige Verhältnisse mitgewirkt; und schließlich bei gemeingefährlichen,
unverbesserlichen, weil immer wieder rückfälligen Übeltätern kommt man
unwillkürlich zu der Überzeugung, daß sie Problematiker sind, weil in
ihrem Verhalten und ihrem Charakter sich deutlich ausprägt, daß ihre
ethische Unberechenbarkeit, ihre dauernde Zerfahrenheit und
ihre Unfähigkeit, selbst nach Eintritt in das selbständige Schaffensalter
(d. h. von der Mitte der 20er Jahre etwa ab) wirklich Brauchbares
und Befriedigendes zu schaffen, weil sie sich stets bald wieder
gehen lassen, nachdem sie sich vielleicht etwas ermannt, keinen anderen
Schluß zuläßt. Immerhin trägt vielleicht Haus und Schule, Lehrmeister
und Umgebung doch einige Mitschuld, wenn frühe Kennzeichen solches
Mangels an Ausdauer, Arbeitslust, Anlagen unbeachtet, ungerügt, unbeein-
flußt geduldet wurden etwa mit der Beschönigung, daß Jugend keine
Tugend habe. Verfehlte und verkommene Lebensläufe sind dann das Er-
gebnis übel angebrachter Toleranz. —
Wie wir der Schule nur mittelbar einige, gelegentliche — jeden-
falls nicht allgemeine — Mitsehuld an der Entwicklung einzelner proble-
matischer Naturen zuschreiben, so geht es auch mit dem Berufe, den der
Einzelne auszuüben hat, gleichgültig ob er auf Grund eigener Wahl oder
durch die Macht der Einflüsse und Verhältnisse hineingekommen ist; denn
die Tatsache läßt sich in der Gegenwart nicht bestreiten, allerdings wohl
auch nicht mehr als in der Vergangenheit, daß oft nicht der innere Trieb
das Entscheidende bei der Wahl gewesen ist, sondern die Erwägung
gewisser Vorteile der Schein besonderer Anlagen, ferner das Beispiel,
hier und da Gewohnheit, Herkommen und oft genug auch der bloße Zu-
fall. Jedenfalls sind sich viele nicht dessen bewußt, was ihrer wartet,
zumal wenn äußere Umstände ihre Anziehungskraft geltend machen. So
hofft mancher auf Erfolg, weil wie ein Sprichwort sagt: wem Gott ein
Amt gibt, dem gibt er auch Verstand. Das mag ja auch nach und nach
in der Tat der Fall werden, wenn er sich redlich bemüht, seiner Lage
immer besser gewachsen zu werden. Schließlich hat ja jeder Stand seine
Freuden und auch seine Leiden, seinen Frieden und auch seine Last. Wer
also nach bestem Wissen und Vermögen seiner Aufgabe waltet, der steht
nicht in Gefahr, ein Problematiker zu werden, selbst wenn sein Können
nicht das Beste und Höchste hervor bringt, sondern, wie man sagt,
dem Hausbedarf genügt und damit füglich auch sich selbst. Ob ihm
schließlich die Einsicht eingeht, er sei für Höheres und Besseres begabt
gewesen, habe aber gewissen Liebhabereien in Mußestunden zu fröhnen sich
gedrungen fühlt, wenn er nur in der Hauptsache sich selbst und seiner
Aufgabe treu bleibt — dies Bewußtsein hilft ihm über die Gefährdung
seines Gleichgewichts hinweg. Gewiß haben manche Berufe auch ihre
großen Schattenseiten, wenigstens deuten Sprichwörter dergleichen an:
Juristen seien böse Christen; von den Geistlichen gelte: richtet euch nach
Boodstein: Problematische Naturen usw. 595
meinen Worten, aber nicht nach meinen Taten; vom Kriegsmann: Gewalt
geht vor Recht — und auch für andere Stände gibt es allerlei Trost-,
aber auch Hohnworte; sicher ist, daß sie aber auch der Lichtseiten nicht
entbehren.
Indes diese Sprichwörter, Trost- und Hohn- oder Spottlaute, beruhen
im wesentlichen nur auf Einzelerfahrungen und nicht auf irgend
welchen Notwendigkeiten, denen diese Berufe unterliegen. Von wesent-
licher Bedeutung wird stets sein die persönliche Stellung des
Einzelnen zu ihnen — und daß dieser Einzelne wirklich eine Persön-
lichkeit sei, die nicht bloß einen Beruf. notdürftig ausübt, sondern ihm
wirklich zur Ehre gereicht. So ist ein Unterschied zwischen Jurist und
Jurist, Theologe und Theologe, Kriegsmann und Kriegsmann; so auch einer
zwischen Kaufmann und Kaufmann, Künstler und Künstler, Dichter und
Dichter. Nicht der Rechtsgelehrte, der alle Gesetzesparagraphen und
Rechtsformen kennt und zu handhaben versteht; nicht der Gotteszelehrte,
der der exegetischen, der Auslegekunst und der Rechtfertigung aller mög-
lichen Dogmen mächtig ist; nicht der Kriegsmann, der mit der Theorie
der Kriegskunst für Angriff und Verteidigung durchaus vertraut ist; end-
lich auch nicht der Kaufmann, der aus seinem Handelsbetrieb die größten
Vorteile herauszuschlagen versteht — sind diejenigen, die allgemein un-
erschütterlichstes Vertrauen genießen, selbst wenn sie siegreich ihre Vor-
haben durchführen, da sich erkennen läßt, daß sie, nicht selbst sicher,
ihr Wissen und Können meist aus zweiter Hand entliehen haben und
deshalb sich nach beliebigen Vorgängen richten müssen. Anders Die-
jenigen, deren angeborene Meisterschaft geheime Macht von vornherein
ausübt, weil ihr Naturell und Geist die volle Einsicht in ihr Fach, ihre
Wissenschaft oder Kunst bekundet und allen Zweifel ausschließt, sie hand-
habt in unbedingter Billigkeit und Rechtschaffenheit und stets zum allge-
meinen, nicht zum eigenen Nutzen. Das sind dann volle und wirk-
liche Persönlichkeiten, die erhaben sind über alle Zweideutigkeiten
und Kniffe und den mit ihnen Umgehenden die Überzeugung beibringen,
daß Geschäfte, Verträge, der Verkehr in geistiger Hinsicht und auch die
Behandlung der Gegner und Feinde sich nicht zu beliebigem Vorteil,
sondern nur auf dem Wege des Rechts, auslegen, nicht aber drehen und
wenden lassen. Persönlichkeiten dieser Art werden nie zu problematischen
Naturen werden können. Und je schwerer, höher, bedeutsamer ihre Auf-
gaben sind, desto reiner, vorurteilsfreier, unbestechlicher und gemein-
nütziger — warten sie ihrer; geradezu idealer Gesinnung entspricht
ihr Denken, Wollen, Schaffen. Der wahre Dichter und Künstler, der große
Staatsmann und Feldherr, der erleuchtete Bildner und Erzieher seines
Volks und der Menschheit, der tiefsinnige Erforscher der mancherlei Ge-
heimnisse des Lebens und des Daseins überhaupt mag ja manchmal Wege
gehen, die nicht allen einleuchten; Formen gebrauchen, die nicht allen ge-
fallen; Gewalt anwenden, die Widerspruch weckt: zeitweilig sogar in seinen
Mitteln sich vergreifen, also irren, also seinem Menschentum Zoll ent-
richten — und infolgedessen verkannt, verurteilt, gebannt werden; — von
dem als richtig Erkannten geht er nicht ab, verzichtet auf Volks-
38*
596 A. Abhandlungen.
und Fürstengunst und auf irdischen Lohn. Unentwegt folgt er seinem
Stern, dessen gewiß, daß dieser später auch Anderen leuchten werde.
Wiewohl er so in den Augen der Mehrheit seiner Lage nicht gewachsen
scheint — und äußerlich gezwungen, vielleicht sogar widerruft: Das Wort
»Und sie bewegt sich doch!« klingt doch in ihm weiter. Persönlichkeiten
dieser Art, wenn sie auch dafür gehalten werden mögen, problematische
Naturen sind sie nicht. Die soeben geleistete negative Schilderung von
solchen, die bisweilen für Problematiker erachtet werden, ohne es wirk-
lich zu sein, deutet an, welches Gemeinsame und welches Unterscheidende
ihnen gegenüber die wirklichen Problematiker dürften aufzuweisen haben.
An erster Stelle des beiden Kategorien Gemeinsamen dürfte das Be-
wußtsein tatsächlicher und bisweilen sogar mehrseitiger Be-
gabung stehen. Wenn diese aber nicht richtig und im Einklang mit
den Schwierigkeiten der Erziehung hoher Ziele angemessen geschätzt,
sondern überschätzt wird, so ergibt sich, daß die Leistungen mit den ge-
hegten Erwartungen nicht übereinstimmen können. Die Wirkung solcher
Mindererfolge auf alle Beteiligten braucht nicht beschrieben zu werden:
sie ist jedenfalls nicht zufriedenstellend. Die Ursachen hierfür können
allerdings verschiedene sein. Auch Hochbegabte können verkannt werden,
wenn sie eigene, neue Wege gewandelt sind; bei Nichtausreichenden
liegt Selbstüberschätzung vor. Kommt bei letzteren noch hinzu ein ge-
wisses Niehtzusammenfassen, sondern Teilen, wenn nicht gar Zer-
splittern ihrer Kraft; ein gleichzeitiges Streben nach verschiedenen
Richtungen; ein Nichtiefgenug-Eindringen in den Kern der Sache — und
fehlt gleichzeitig das mutige Sichwagen in das zu erobernde Gebiet,
ebenso wie die Demut des Lessingschen Bekenntnisses, daß Gott allein
die Wahrheit habe und Menschen sich schon an dem Streben darnach ge-
nügen lassen müssen; — dann erklärt sich der Eindruck, daß der Suchende
der Lage nicht gewachsen sei, aber solcher Erkenntnis selbst wider-
strebe. — Haben wir sodann oben festgestellt, daß geniale Naturen oft
einer gewissen Einseitigkeit unterliegen, so wollen wir solches anderen
Hochbegabten nicht ohne weiteres nachsagen; aber darin haben sie eine
gewisse Ähnlichkeit mit den Genialen, daß sie ihre Hauptkraft der
Hauptsache widmen: sie hüten sich vor Magnetsteinen, die ihren Kompaß
irre leiten könnten, und lassen deshalb die anderen Knospen ihrer Er-
kenntnis lieber ganz und gar, oder mindestens so lange als sie ihr Licht
für die Hauptaufgabe nötig haben, ruhig im Schatten stehen, der diese
nicht so rasch zum Blühen bringen kann wie das helle Sonnenlicht; kommt
dann die rechte Zeit, so werden auch sie nach Möglichkeit gefördert.
Problematiker dagegen üben solche Zurückhaltung nicht. Warum sollen
sie nicht alle Lichtchen auf ihrem Christbaum zugleich anbrennen? Das
gibt viel helleren Schein, hält allerdings auch nur kürzere Zeit vor.
Man denke an die eingangs erwähnte verzagte Klage Heinrichs von Kleist;
und weiter an den Ausgang Anderer. Das in das Lichtstellen der eigenen
Person hat notwendig die gedeihliche Entwicklung der Sache in den Hinter-
grund gedrängt; das erkannte Kaiser Nero, als er erdrosselt wurde mit
den Worten an: qualis artifex intereo! Als Kaiser war er gewiß eine
Boodstein: Problematische Naturen usw. 597
höchst problematische Natur gewesen, sein Reich hätte doch für ihn die
Hauptsache sein müssen. —
Zu diesen generellen Momenten im wesentlichen sachlicher Art
kommen natürlich noch unzählbare solcher der einzelnen Persönlich-
keiten, Momente, die dem Einen den Himmel öffnen, während sie
Andere der Hölle zuführen; und oft befinden sich gerade unter den
letzteren die allerbedeutendsten Talente, so daß ein Blick auf ihren Lebens-
gang uns erschauern läßt von Weh über den jähen Untergang so viel-
versprechender und doch so frevelhaft verschleuderter Gaben. Daß es
deren gerade unter den Dichtern manche gäbe, darüber kann uns fast jede
Literaturgeschichte manches erzählen. Ich will nur auf einige wenige,
aber ganz große aus den Hauptliteraturen hinweisen. Nehmen wir aus
der englischen Lord Byron, aus der französischen Alfred de Musset,
aus der deutschen Gottfried August Bürger, deren Lebensschicksale all-
gemein bekannt sein dürften — und diese Dreizahl könnte noch erheblich
vermehrt werden — so wird man zugeben, daß sie alle neben manchem
Verwelklichen doch vieles Unverwerkliche geschaffen haben, so daß z. B.
Goethe des Erstgenannten Monologe Manfreds ins Deutsche übertrug, seinen
Ruhm in seiner »Herrlichkeit als grenzenlos« bezeichnete und ihn allein
»neben sich gelten lassen« wollte. Sodann daß Musset, der genialste
unter den französischen Romantikern, schon im jugendlicher Alter von
16—18 Jahren seine in der Form unvergleichlichen italienischen und
spanischen Lieder, und später noch vieles Andere, Eigentümlichstes aber
immer Graziöses, verfaßte, so daß einer seiner besten Übersetzer unter
dem Eindruck der Schönheit ihrer Form, seiner Wiedergabe einer Anzahl
der besten Gedichte das Geleitwort voransetzte: »Und willst du Dichter
übersetzen, Nicht bring uns bloß die Phrasenfetzen. Zeig’ gleichfalls ihre
Kraft in Formen Nach den durch sie geschaffnen Normen, Kurz, sei ver-
eint wort-, sinn- und klanggetreu, Als dichtete der Dichter selbst sich
neu!« Und Paul Lindau, sein Biograph, faßt am Schlusse seines Buchs
sein Urteil über ihn dahin zusammen, daß Musset, wenn nicht der größte
Dichter seiner Zeitgenossen, jedenfalls die poetischst angelegte Natur
derselben war. Und wenn Schiller seinerzeit auch über Bürger streng
Gericht hält und in seinen meisten Gedichten »den milden, sich immer
gleichen, immer hellen männlichen Geist vermißt, der, eingeweiht in die
Mysterien des Schönen, Edlen und Wahren, zu dem Volke bildend her-
niedersteigt und auch in der vertrautesten Gemeinschaft mit demselben
nie seine himmlische Abkunft verleugnet« — so begründet er dieses Urteil
damit, daß »Alles, was der Dichter geben kann, seine Individualität sei:
Diese müsse es wert sein, vor Welt und Nachwelt aufgestellt
zu werden; denn kein noch so großes Talent kann dem Kunst-
werk verleihen, was dem Schöpfer selbst gebricht«. Bürger aber
wäre durch Leben, Irren und Leiden des Vorzugs verlustig gewesen, aus
reiner Fülle zu geben usw. »Seine Balladen tragen deshalb von trüben
Wolken und den Schlacken gemeinen Erzes Farbe und Mischung
genug in sich, um mitten im Genusse des Gelungenen aus dem Gedichte
in die Individualität des Dichters umsonst hinüberzuführen.«
598 A. Abhandlungen.
Was hier über Bürger gesagt ist, gilt auch für die beiden anderen
ausgezeichneten Talente, und ich habe deshalb nicht nötig hier zu er-
wähnen, wie Lord Byron, das eben noch verhätschelte Schoßkind der
ganzen englischen Gesellschaft, auf Grund des Verdachts des »Inzests«
(der Blutschande) verlassen von seinem Weibe, geächtet von den Londoner
ersten Adelskreisen, mit Schuld beladen, von Unglück gepeitscht den Rhein
entlang zog und in tiefster Seelenqual, aus finsterster Verzweiflungsglut
den dritten Gesang des »Childe Harold« schrieb; oder wie Musset, der
nach vielen zweifelhaften Verhältnissen, Irren und Wirren mit Frauen und
fortwährendem Absinthgenuß und anderem daraus Folgenden mehr und
mehr auf die Verwertung seiner Gabe verzichtet und 47jährig langsam
verwischt. Muß man nicht wirklich diese Reichbegabten durchaus auch
zu den Problematikern rechnen? —
Wie beschaffen also im Einzelnen die Verhältnisse sind, die schließ-
lich so unfruchtbare und unerfreuliche Ergebnisse zeitigen; ob sie aus
erblicher Belastung stammen oder durch eigene oder fremde Schuld, durch
Zusammentreffen von allerlei Widerwärtigkeiten entstanden sind, dem
Volkscharakter, dem Temperament, dem Klima, perversen Neigungen, zu
großer Weisheit und Nachgiebigkeit zuzuschreiben wären — darauf kommt
es nicht an: Hier gilt nun, daß solche Naturen im wesentlichen an
ihren Früchten zu erkennen sind, so daß gelegentlich sogar gesagt
werden kann, daß die Tugend im Übermaß, z. B. Geduld, Versöhnlichkeit
usw. ins Gegenteil umzuschlagen, aus der Stärke einer Eigenschaft eine
Schwäche zu werden vermag, wie solches z. B. bei einem Übermaß von
Einbildungskraft schon wiederholt geschehen ist, daß aus dem Dichter ein
Phantast, dem Erzähler ein Flunkerer, dem Zeugen ein Lügner wurde;
ja daß z. B. unter dem Einflusse gewisser religiöser Vorstellungen, poli-
tischer Anschauungen, ethischer Standpunkte oder dem völligen Mangel
an dergleichen sich Fanatiker oder Nihilisten, gelegentlich sogar reine
Wetterfahnen und Chamäleons, d. h. Menschen ohne jeden festen Grund-
satz und ohne Charakter, die reinen Wechselbälge, sich herausbilden können.
Selbstredend gelten derlei Umstände ebenso für das männliche wie für
das weibliche Geschlecht, welches gelegentlich seine besonderen Krank-
heitssymptome aufweist.
Dem entgegenzuarbeiten ist ja ebenso die Pflicht jedes einiger-
maßen Einsichtigen, wie der gesamten menschlichen Gemeinschaft, in deren
Interesse die Verhütung und nötigenfalls die Beseitigung solcher schäd-
lichen Auswüchse ebenso liegt, wie in dem des Gärtners, schädliches Un-
kraut möglichst früh aus dem Gartenland zu entfernen.
Die Nutzanwendung für jede Art von Erzieher liegt daher durch-
aus nahe und offen; denn schon früh zeigt sich, daß, was ein Häkchen
werden will, sich früh krümmen wird, und daß deshalb für alle Arten
von Kinderfehlern, körperliche, geistige, sittliche, die möglichst frühe Vor-
beugung, Abweisung und gründliche Heilung dringendste Pflicht ist. Wer
es mit der Zukunft des einzelnen Anvertrauten wie derjenigen der größeren
Gemeinschaft, innerhalb deren er steht, wohl meint, darf sich solcher
Pflicht durchaus nicht entziehen. —
1. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen. 599
B. Mitteilungen.
1. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen.
Von Ernst Willich.
(Fortsetzung.)
Überhaupt spielt der Begriff »kaufen« in O.s Vorstellungsleben eine
recht wichtige Rolle. Sobald das Wort kaufen nur genannt wird, spitzt
O. voll Aufmerksamkeit die Ohren. Jedenfalls verbinden sich für ihn mit
diesem Wort sehr starke Lustgefühle. Bei jeder Gelegenheit (beim Be-
such von Geschäften, von Warenhäusern, von Jahrmärkten, beim Anblick
fliegender Händler usw.) fängt er zu betteln und zu quälen an: »Ich will
etwas gekauft haben.«e Dabei fehlt ihm auch hier meist eine bestimmte
Zielvorstellung. Läßt man ihn wählen, so kommt er entweder vor lauter
Begierde zu keiner Entscheidung, oder er zählt sinnlos auf, was ihm ge-
rade in die Augen fällt. Aber auch wo das Kaufen ihm persönlich keinen
Vorteil bietet, ist er mit Leib und Seele dabei. Es braucht nur jemand
aus O.s engerem Familienkreis in seiner Gegenwart gelegentlich davon zu
sprechen, daß er dies oder das kaufen müsse, und er kann sicher sein,
daß O. ihn von diesem Augenblick an tagtäglich an sein Einkaufsvorhaben
erinnert, natürlich in der geheimen Erwartung, bei diesem bedeutsamen
Geschäft mitgenommen zu werden. Denn bei Kommissionsgängen den Be-
gleiter spielen zu dürfen, hat für O. den größten Reiz, einerlei ob dabei
der Einkauf von Zucker oder Schuhbändern, von einer Bürste oder einem
Kochtopfe, von einem Hut oder einem Buch in Frage steht. Selbst
der Einkauf von Utensilien, deren er bei dem ihm so sehr verhaßten
Unterrichte bedarf, ist für ihn ein freudiges Erlebnis. Erklären läßt sich
diese Merkwürdigkeit einerseits durch den Hinweis auf O.s Neugierde und
Sucht nach Abwechslung und andrerseits durch die Annahme, daß sich bei
O. vielleicht doch (auf Grund vielfacher früherer Erfahrungen) mit der
Vorstellung eines Einkaufaktes die geheime Hoffnung auf eine persönliche
Überraschung verbindet. Außerdem ist O. absoluter Gegenwartsmensch.
In dem Moment des Einkaufes von Schreibheften z. B. stört ihn nicht
entfernt der Gedanke an die Rolle, die diese Hefte später im Unter-
richte spielen. Entweder steigt dieser Gedanke gar nicht über die Schwelle
seines Bewußtseins, oder er wird durch die Macht der gegenwärtigen von
direkten Sinnesempfindungen getragenen Vorstellungen aus dem Blickpunkt
der Aufmerksamkeit verdrängt.
Eine besondere Seite der Begehrlichkeit ist die Vergnügungssucht.
Auch diese ist bei O. außerordentlich stark entwickelt. In demselben
Maße, in dem O. einerseits das Lernen scheut, ist sein Sinnen und Trachten
andrerseits darauf gerichtet, sich angenehm zu unterhalten und zu amü-
sieren. Beim Morgenkaffee, während des Unterrichts, beim zweiten Früh-
stück, beim Mittagessen, auf den Spaziergängen, kurz den ganzen Tag
liegen ihm die Fragen auf den Lippen: Was machen wir heute? Was
machen wir morgen? Mit diesen Fragen steht er auf und mit ihnen geht
600 B. Mitteilungen.
er zu Bett. Dabei ist er himmelweit davon entfernt, in den Vergnügen
ausnahmsweise Belohnungen oder Vergünstigungen zu erblicken. Er be-
trachtet sie als etwas ganz Selbstverständliches, ihm von Rechts wegen
Zustehendes. Deshalb motiviert er sein Verlangen nach Amüsements auch
sehr häufig mit der naiven Bemerkung: »Weil mirs Freude macht!« Jeden-
falls bekam er aus dem Kreis seiner Angehörigen recht oft den Satz zu
hören: »Macht dem armen Jungen doch die Freude!«
Die Ziele seiner Vergnügungssucht fallen natürlich fast ganz mit
seinen Interesserichtungen zusammen. Für gewöhnlich ist sein Sinn auf den
Besuch von Biergartenkonzerten, auf Spaziergänge mit Einkehr, auf Aus-
flüge mit Straßenbahn- oder Eisenbahnfahrten u. dergl. gerichtet. In der
guten Jahreszeit träumt er von Landpartien, Wagenfahrten, Schiffstouren
und ähnlichem. Theatervorstellungen, Kinovorstellungen, Zirkusdarbietungen
stehen bei ihm hoch im Wert. Sehr wichtig sind ihm auch Zusammen-
künfte, Festessen, Gesellschaften u. dergl. im Familienkreis. Den‘ Höhe-
punkt aber bilden die jährlichen Sommerreisen, die täglich neue Abwechs-
lung und neues Vergnügen bringen (Eisenbahnfahrten, Schiffsfahrten,
Wagentouren, Hotelgenüsse).
Die Heftigkeit von O.s Verlangen nach amüsierendem Zeitvertreib
tritt am deutlichsten zutage in der Art und Weise, wie er sich auf ein
in Aussicht gestelltes Vergnügen freut. Diese Vorfreude nimmt in be-
sonderen Fällen ganz den Charakter pathologischer Exaltation an, bei der
alle unter gewöhnlichen Verhältnissen vorhandenen Hemmungsvorstellungen
von dem entfesselten Sturm der Gefühle und Affekte wie Spreu hinweg-
gefegt werden. Recht häufig ist man deshalb genötigt, ihm im Interesse
seines seelischen Gleichgewichtes geplante Vergnügungen bis zum letzten
Augenblicke zu verheimlichen. Wenn ihm z. B. eine Wagenfahrt ver-
sprochen wird, so stellt sich sofort seine ganze Aufmerksamkeit unter Ab-
weisung aller anderen Vorstellungen auf diesen Vorstelluugskomplex ein.
Unvermeidlich beschäftigt sich sein Geist mit dem Ausmalen der einzelnen
ihn besonders interessierenden Details: Aussehen und Einrichtung des zu
mietenden Wagens, Beschirrung der Pferde, Ausrüstung des Kutschers,
wie O. sich selbst anziehen wird (ob Stock oder Schirm, ob Handschuh,
ob Stroh- oder Filzhut), wo er sitzen wird usw. Und all das ist auch
Gegenstand seiner Unterhaltungen und Selbstgespräche. Am Ausfahrtstage
selbst ist nichts mit ihm anzufangen. Soll die Fahrt mittags stattfinden,
so ist morgens an eine ersprießliche Lernarbeit nicht zu denken. Selbst
zu Spaziergängen läßt er sich nur schwer bewegen, und alle 100 Schritte
will er umkehren, als fürchtete er, zu spät nach Hause zu kommen. Je
näher der Moment der Ausfahrt rückt, desto mehr greift die Erregung
auch in die motorische Sphäre über: Er kann vor Erwartung nicht still
sitzen, greift planlos bald nach diesem bald nach jenem Gegenstand, ver-
gißt Essen und Trinken, rennt bei jedem Geräusch, das die Ankunft des
Wagens verkünden könnte, zum Fenster, läuft ziellos durch die Zimmer usw.
Ertönt die Hausklingel, so stimmt er ein regelrechtes Freudengeheul an
und stürzt Hals über Kopf hinunter. Vor dem Wagen führt er einen
Strampeltanz auf mit den lächerlichsten, hanswurstartigen Bein- und Arm-
1. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen. 601
bewegungen; daß vorübergehende Passanten vor Staunen und Verwunderung
eventuell stehen bleiben, nimmt er gar nicht wahr, und wenn er es merkte,
würde ihn das nicht im geringsten genieren. Damit hat der Affekt aber
auch seinen Höhepunkt erreicht. Sehr rasch tritt nun eine Abspannung
ein. Sobald die physische Erregung verklungen ist, sitzt O. stumm in
seiner Wagenecke, mit der ihm eigenen Neugierde die Vorgänge um ihn
her betrachtend. Namentlich die Pferde und der Kutscher fesseln seine
Aufmerksamkeit. Nach etwa !/, Stunde tritt ein Zustand der Gleichgültig-
keit ein. O. fängt an, sich zu langweilen. Auf der Rückfahrt beschäftigen
sich seine Gedanken schon wieder mit der Frage: Was machen wir morgen?
Zu Hause bemächtigt sich seiner eine mißmutige, verdrießliche Stimmung.
Das Gefühl der Dankbarkeit kennt er kaum. Mit neuer Wucht und
Stärke erwacht in ihm das Verlangen pach Vergnügungen. »So tauml
ich von Begierde zu Genuß, und im Genuß verschmacht ich nach Be-
gierde.«e Jedes ihm gewährte Amüsement hat nur den einen Erfolg, daß
seine Vergnügungssucht aufgepeitscht und gesteigert wird. Je weniger
man ihm gewährt, desto ruhiger und zufriedener lebt er.
Sehr leicht wird O.s Begierde nach Unterhaltung und Vergnügen
auch suggestiv wachgerufen. Er braucht nur das Zusammenströmen von
Menschen zu beobachten, und sofort steigt in ihm der Wunsch auf, dabei
zu sein, auch wenn ihm jede Vorstellung von dem fehlt, was die Leute
anlockt. Tagelang bettelte er um die Erlaubnis, ein Schlachtenpanorama
besuchen zu dürfen. Er hatte zwar nicht die geringste Ahnung von dem
Wesen und der Bedeutung einer solchen Schaustellung, aber er hatte ge-
sehen, daß sich das Publikum haufenweise hineindrängte, und das genügte
ihm. Als ihm der Wunsch gewährt wurde, konnte er den Augenblick
des Besuches kaum erwarten. Und das Resultat? Kaum hatte sein Blick
das kolossale und tatsächlich wirkungsvolle Rundgemälde überflogen, so
kam es enttäuscht über seine Lippen: »Ist das alles?« Im nächsten Augen-
blick setzte er sich gelangweilt auf eine Bank, begann ungeduldig in einem
Kataloge zu blättern, um dann nur noch dem einen Gedanken nachzu-
hängen: Wann gehen wir nach Hause? Trotz dieser Erfahrung hätte aber
O. das Panorama gleich am andern Tag wieder besucht, wenn es ihm an-
geboten worden wäre. Ganz ähnlich verhält sich O. in Museen. Auch
in diesen pflegt er sich tödlich zu langweilen, wenigstens die ausgestellten
Gegenstände interessieren ihn nicht im geringsten, und doch geht er
immer wieder gerne hin. Dieselbe Bedeutung hat für ihn der von seiner
Familie regelmäßig besuchte Luftkurort R. So oft man sich zur Reise
nach demselben anschickt, bemächtigt sich seiner eine ungeheure freudige
Erregung, so daß er den Tag der Abreise kaum erwarten kann. Ebenso
sicher stellt sich bei ihm aber auch nach 1 bis 2tägiger Anwesenheit in
R. das Gefühl der Langweile ein, die sich in permanentem Drängen zur
Heimkehr Luft macht. Was ihm Vergnügen macht ist eben nur die Ab-
wechslung des Reisens an sich, nicht der ruhige und stille Aufenthalt an
einem bestimmten Orte. Deshalb gefallen ihm Reisen mit wechselnden
Quartieren entschieden besser, obwohl er auch hier, da er für landschaft-
liche Schönheiten, Städtebilder, Kunstwerke u. dergl. absolut kein Ver-
602 B. Mitteilungen.
ständnis hat und daher auch nirgends das Bedürfnis zu längerem Ver-
weilen empfindet, immer nur weiter und weiter drängt.
Sehr charakteristisch ist auch O.s Verhalten, wenn ihm ein Wunsch
versagt wird. Hier ein Beispiel. Gegen O.s Wille wurde ein Spaziergang
in einen Park an der Peripherie der Stadt ausgeführt. Darüber MiB-
stimmung, die sich in dem Verlangen Luft machte, auf dem Heimweg die
Straßenbahn benutzen zu dürfen. Als dies abgeschlagen wurde, fing O.
unvermittelt zu quasseln an: »Ich will neue Platten haben (für eine Spiel-
orgel). Die alten sind schlecht. Ich habe dies und dies Lied noch nicht.«
Nachdem dieses Begehren durch den Hinweis auf seinen bald statt-
findenden Namenstag abgewiesen war, folgte das Räsonnement: »A. (O.s
Bruder) hat mir meinen Stock kaput geschlagen. Ich will einen neuen
haben!« Dies stimmte allerdings, nur waren seit diesem Vorfall bereits
Wochen vergangen, auch mangelte es O. durchaus nicht an Stöcken. Auf
diese Tatsache aufmerksam gemacht, wechselte O. nochmals den Gegen-
stand seines Begehrens: »Ich brauche neue Schuhe, die alten sind fieß
(soviel wie unschön, wüst), ich will Lackstiefel haben.«e Als er auch mit
dieser Bettelei keinen Erfolg hatte, kam ihm in den Sinn, daß man am
Nachmittag eine Tour oder dergl. machen könnte, und dementsprechend
ging seine verdrießliche Jeremiade auf dieses Thema über. Nachdem ihm
die Unterstützung dieser Bitte bei seiner Mutter versprochen worden war,
gab er sich zufrieden. Dieser Vorgang, der sich in ähnlicher Weise bei
O. sehr oft abspielt, ist ein anschauliches Schulbeispiel für die Re-
produktion der Vorstellungen auf Grund der Ähnlichheit ihrer Gefühls-
werte. Über O.s Bewußtseinsschwelle stiegen in diesem Falle lauter Vor-
stellungsinhalte, deren Gefühlstöne mit seiner augenblicklichen Stimmungs-
lage übereinstimmten. Zugleich zeigt dieses Beispiel, wie sehr bei Schwach-
sinnigen der allgemeine Vorstellungsverlauf subjektiven Bedingungen (Ge-
fühlen und Affekten) unterworfen ist.
Im bisherigen wurde gezeigt, wie O.s psychische Aktivität d. h. sein
praktisches und theoretisches Interesse in seinen Neigungen, seiner Neu-
gierde, seiner Begehrlichkeit und seiner Vergnügungssucht zur Äußerung
kommt. Von ganz besonderer Bedeutung für die Beurteilung der psychi-
schen Individualität überhaupt wie für die Analyse der Interesserichtungen
im besonderen ist die Spieltätigkeit oder, allgemeiner ausgedrückt, das
spontan motorische Verhalten. In nichts treten die individuellen
geistigen Anlagen und Fähigkeiten eines Kindes anschaulicher und deut-
licher zutage als in dem, was es aus eigenem Antriebe tut und treibt.
Hier sammeln sich alle Strahlen des geistigen Lebens wie im Brennpunkt
eines Hohlspiegels. Psychologisch ist dies auch durchaus verständlich.
Die Grundlage alles Handelns und Tuns bildet der allgemeine Bewegungs-
drang, der sich im Kinde vom ersten Augenblick seines Lebens an regt.
Daß dieser Bewegungsdrang selbst bereits etwas Sekundäres darstellt, näm-
lich die Ableitung innerer oder äußerer Reize in das motorische Nerven-
system, braucht nicht daran zu hindern, ihn als einen selbständigen (ur-
sprünglichen) Trieb anzusprechen. Anfänglich ist dieser Bewegungstrieb
gewissermaßen blind, ins Vage und Allgemeine gerichtet. Erst allmählich
1. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen. 603
verbinden sich mit ihm im Bewußtsein deutliche Objektvorstellungen, er
differenziert sich in zielbewußte Einzelhandlungen, und zwar wird diese
Differenzierung eine um so schärfere und mannigfaltigere sein, je viel-
gestaltiger, deutlicher und gefühlsstärker die im Kinde sich bildenden
Vorstellungen sind. Deshalb ist das Spiel im Grunde nichts anderes als
die in die Sphäre des Motorischen übertragene Vorstellungs- und Phantasie-
welt des Kindes. Allein Umfang und Qualität der vorhandenen Vor-
stellungsmassen einerseits und Umfang und Qualität der Spieltätigkeit
andererseits sind keineswegs adäquate Größen. Zwischen beide schiebt
sich als wesentlicher Faktor die körperliche (manuelle) Geschicklichkeit.
Auf dem Wege von der phantasiemäßigen Vorstellung einer Sache bis zur
realen, plastischen Darstellung derselben geht viel verloren. Auch das
phantasiebegabteste Kind wird keine hervorragenden Spielleistungen auf-
weisen können, wenn es manuell gar zu unbeholfen ist. Tätigkeitstrieb,
Vorstellungsleben und manuelle Fertigkeit sind demnach die wichtigsten
Komponenten des Spiels. Unter diesen Gesichtspunkten soll O.s spiele-
risches Verhalten im folgenden betrachtet werden.
Zunächst ist jedoch zu bemerken, daß O.s spontanes Tun und Treiben
nur unter gewissen Kautelen unter den Begriff »Spiele gebracht werden
kann. Wohl steht O. seinem geistigen Habitus nach auf der Stufe eines
Kindes und dementsprechend »spielt« er auch. Aber in seinem tätigen
Verhalten machen sich auch Züge geltend, die an den 18jährigen Jüng-
ling erinnern, der nicht mehr bloß spielen sondern auch arbeiten und mit-
helfen will. Es befinden sich unter O.s Lieblingsbeschäftigungen eine
Reihe solcher Tätigkeiten, die äußerlich ganz das Gepräge ernster Arbeit
tragen. So z. B. bereitet es O. großes Vergnügen, mit Lumpen und
Schrubber, Besen und Staubwischer zu hantieren, ebenso gerne hilft er
mit, den Tisch zu decken, das Geschirr zu spülen, Holz und Kohlen zu
schleppen usw. In Wirklichkeit handelt es sich aber auch hier um ein
spielerisches Tun, insofern O. diese Beschäftigungen nicht um ihres Er-
folges willen sondern lediglich um ihrer selbst willen ausführt. Ihm macht
das Putzen und Schrubben, das Plantschen im Wasser an sich Vergnügen,
das Resultat ist ihm Nebensache, er verliert sogar die Lust an diesen
Tätigkeiten, sobald der Versuch gemacht wird, ihn im Interesse eines
guten Erfolges »anzuleiten«.
Eine Aufzählung der Beschäftigungsarten, in denen sich O.s spontaner
Tätigkeits- und Spieldrang entladet, ist von besonderem Interesse. Seine
Vorliebe für Schrubber, Putzeimer, Besen, Staubtuch u. dergl. wurde soeben
erwähnt. In ähnlicher Weise schwärmt er für Tischdecken, Servieren,
-Geschirrspülen, untergeordnete Küchenarbeiten u. dergl. Überhaupt ist er
bei all jenen mannigfaltigen häuslichen Verrichtungen, die nicht gelernt
und geübt zu werden brauchen, bei denen es nicht auf Akkuratesse der
Ausführung ankommt, und die keine allzu großen körperlichen An-
strengungen erfordern, mit seiner Dienstbereitschaft sehr gerne bei der
Hand. Wenn es sich z. B. darum handelt, ein Zimmer auszuräumen,
leichte Gegenstände innerhalb des Hauses zu transportieren, Körbe vom
und zum Speicher zu tragen, Kartoffeln, Kohlen u. dergl. aus dem Keller
604 B. Mitteilungen.
zu holen, so fühlt er sich in seinem Elemente. Noch lieber hantiert er
mit Hacke, Schaufel und Rechen, einerlei, ob ihm ein Sandhaufen oder
ein Stück Gartenland Gelegenheit dazu bietet. Eng damit verwandt ist
das Spielen mit Wagen und Peitsche, wobei namentlich die letztere eine
bedeutsame Stellung einnimmt. Sie ist neben dem Stock dasjenige Objekt,
das seit O.s Kindheit unverrückt im Mittelpunkt seines Interesses steht
und sich heute noch darin behauptet. Nicht minder wichtig ist ihm seine
Drehorgel, die er fast tagtäglich in Bewegung setzt. In früheren Jahren
beschäftigte er sich auch gerne mit Reiflaufen, soweit er bei Landaufent-
halten Gelegenheit dazu hatte; doch ist er heute davon abgekommen. Er-
wähnt man noch O.s Neigung, Erwachsene in ihrem Tun nachzuahmen,
z. B. Näherinnen, Kartenspieler, Schreiber, Raucher, Kellner, »Brücken-
männer«, Kapellmeister, so ist der Kreis von O.s Spieltätigkeiten er-
schöpft.
Bei dieser Aufzählung fällt zunächst auf, daß hier ein großer Teil
der Objekte wiederkehrt, die auch bei der Analyse von O.s theoretischem
Interesse eine Rolle spielten. Seinem starken Interesse für kulinarische
Genüsse entspricht die Lust am Tischdecken, Servieren, Hantieren in der
Küche. Seinem Sinn für Wohnungseinrichtungen steht das Vergnügen
am Abstauben, Zimmeraus- und einräumen, Aufputzen, Teppichklopfen und
u. dergl. gegenüber. Die Freude am Fahren und an Fahrzeugen ergibt,
ins Motorische übertragen, das Spielen mit Wagen und Peitsche. Die
Liebe zur Musik erzeugte den leidenschaftlichen Drehorgelspieler. Und
das mächtige Interesse am Tun und Treiben der Menschen kommt handelnd
in der Nachahmung derselben zum Ausdruck. Man sieht, wie die ge-
fühlsstarken Gedankenkomplexe und die spontanen Tätigkeitsäußerungen
in engster Wechselbeziehung zueinander stehen.
Neben dieser Parallelität zwischen theoretischem Interesse und prak-
tischer Beschäftigung springt aber auch sofort die Einseitigkeit unà Ein-
förmigkeit von O.s spielerischem Verhalten in die Augen. Bekanntlich
gibt es in der Entwicklung des normalen Kindes nichts Staunenerregenderes
als die reiche Mannigfaltigkeit, in der sich sein Tätigkeitsdrang im Spiel
zu entfalten pflegt. Hunderte von Spielen spielt und erfindet das Kind,
und unerschöpflich ist in dieser Richtung seine Phantasie und Erfindungs-
gabe. Wie arm sieht dagegen O.s Spielrepertoir aus! Sieht man von den
zwischen Spiel und Arbeit stehenden Beschäftigungen ab, so bleiben als
O.s einzige Spielideale nur das Knallen mit der Peitsche, das Fahren mit
dem Wagen, das Hantieren mit Hacke und Schaufel, das Drehen der Dreh-
orgel und die paar Nachahmungsspiele. Um sich die Enge und Ein-
förmigkeit dieses Spielkreises deutlich zu machen, muß man sich ver-
gegenwärtigen, was O. nicht spielt. Sein von unten bis oben voll-
gestopfter Spielschrank (ein vom pädagogischen Standpunkt aus selbst-
verständlich nicht zu billigender Umstand!) enthält so ziemlich alle Spiel-
mittel, nach denen ein Knabenherz sich sehnen kann, aber nicht eines von
ihnen vermochte O.s Spielinteresse zu reizen, geschweige denn zu fesseln,
weder die Bleisoldaten noch die mancherlei Bau- und Legespiele, weder
die Dutzende von Fahrzeugen en miniature noch die verschiedenartigen
1. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen. 605
Musikinstrumente, *) weder die Bilderbücher noch die Modellierspiele usw.
Auch von all jenen vielen Spielen, auf die die Spiel- und Phantasielust
normaler Kinder von selbst zu verfallen pflegt, kennt O. nicht ein einziges.
Nie hat er nach Griffel oder Bleistift gegriffen, um nach Kinderart seine
Vorstellungen malend darzustellen. Nie kam ihm die Lust, Papier zu
Häuschen u. dergl. zu falten oder Figuren mit der Schere auszuschneiden.
Ein Taschenmesser, das Idealspielzeug jedes 10—12jährigen Jungen, ist
ihm an sich (»haben« will er es natürlich) ein völlig gleichgültiges, über-
flüssiges Ding. Und Illusionsspiele, bei denen sich die kindliche Phantasie
aus den nächsten besten Steinchen, Klötzchen, Lappen u. dergl. eine ganze
Welt zusammenbaut, sind ihm erst recht fremd.
Welches sind nun die Ursachen der Monotonie von O.s spielerischem
Verhalten? An Tätigkeitstrieb fehlt es ihm nicht. Das hängt zum Teil
mit seiner erethischen Natur zusammen. Wenn seine Aufmerksamkeit und
sein Interesse nicht durch irgend welche Beobachtungen in Anspruch ge-
nommen sind, befinden sich seine Hände fortwährend in (wenn auch meist
tändelnder) Bewegung. Deutlicher tritt sein starker Tätigkeitstrieb in dem
Eifer und in der Ausdauer zutage, mit denen er sich seinen Lieblings-
beschäftigungen hinzugeben pflegt, vorausgesetzt, daß er seinen Schaffens-
drang dabei ungehemmt entfalten kann. Wer ihn hier beobachtet, der
würde hinter ihm niemals den trägen, lernscheuen Schüler vermuten.
Stundenlang kann er mit Hacke und Schaufel in einem Sandhaufen wühlen
oder mit seiner Peitsche (einer richtigen Fuhrmannspeitsche) hantieren,
ohne die geringste Spur einer Ermüdung zu zeigen oder des herabrinnenden
Schweißes zu achten. Einen Handwagen zieht er unter den beschwerlichsten
Umständen mit nicht erlahmendem Eifer, bis ihn tatsächliche Ermüdung
zu einer Pause zwingt. Denjenigen häuslichen Geschäften, die in der
Richtung seines spontanen Wollens liegen, widmet er sich mit einer
Emsigkeit, die Dienstboten beschämen könnte. Das Putzen des Speichers
ist ihm eine solche Wonne, daß er um die Erlaubnis hiezu wie um ein
Vergnügen bettelt. (Als sich ihm gelegentlich eines Spazierganges auf
einen Exerzierplatz das ganz interessante militärische Schauspiel der Er-
stürmung eines Forts bot, erfüllte ihn nur der eine Gedanke: Ich will
nach Hause und den Speicher putzen!) Seine Ausdauer im Orgeldrehen
erreicht nur zu häufig jenen Höhepunkt, auf dem sie von seiten der Haus-
bewohner eine recht fragwürdige Bewunderung findet. So mächtig äußert
sich O.s Tätigkeitstrieb aber, wie bereits erwähnt, nur solange, als sich
ihm nicht von seiten des zu bemeisternden Objekts Schwierigkeiten in den
Weg stellen oder ihm von dritter Seite aus erzieherischen Gründen keine
Disziplinierung seiner Hantierungen zugemutet wird.
Neben dem stark entwickelten Tätigkeitsdrang besteht jedoch eine
hochgradige motorische Ungeschicklichkeit. ©. lernte erst sehr
!) Eine Ausnahme macht nur die schon erwähnte Drehorgel, deren Handhabung
keinerlei Mühe verursacht. Musikspielzeuge, die eine, wenn auch noch so geringe,
Kunstfertigkeit erheischen, rührt O. trotz seiner Freude an der Musik nicht an.
Einesteils ist er zu schwach und andernteils zu faul, um deren Gebrauch zu er-
lernen. Selbst am Klavier hat er noch niemals auch nur zu tippen versucht.
606 B. Mitteilungen.
spät, sich im Schlafzimmer, im Speisezimmer, im Badezimmer usw.
selbständig zu bedienen, und er lernte es nur durch jahrelange
konsequente systematische Übungen; ohne diese hätte er sich die frag-
lichen Fertigkeiten überhaupt nicht angeeignet. Und heute noclı machen
ihm das Anlegen und Anknüpfen von Hosenträgern, das Schnüren und
Binden der Schuhe, das Anziehen von Kragen und Krawatten, das
Schneiden und Bestreichen von Brötchen Schwierigkeiten. Mit einem
Taschenmesser weiß er absolut nichts anzufangen, er vermag nicht einmal
einen Stecken damit zu schneiden. Schere, Hammer, Nagelzange und ähn-
liche Werkzeuge kann er auf Grund besonderer Anleitung nur ganz not-
dürftig gebrauchen. Ein Dreirad, einen fliegenden Holländer, ein Eureka-
gewehr, die ihm gelegentlich beschert wurden, rührte er aus eigenem An-
trieb nicht an, und das alles hauptsächlich aus körperlicher bezw. manueller
Ungeschicklichkeit. Aber auch in der Auswahl der Spiele und Beschäfti-
gungsarten, denen O. sich aus eigener Neigung hingibt, kommt seine ge-
ringe körperliche Geschicklichkeit insofern zum Ausdruck, als es sich dabei
ausschließlich um Hantierungen gröbster Qualität handelt. Selbstverständ-
lich rührt diese motorische Minderwertigkeit zunächst von physischen
Anomalien her: Angeborene Unbeholfenheit, Koordinationsstörungen, Muskel-
zittern und Muskelunruhe dürften dabei die wichtigsten ursächlichen Faktoren
sein. Daneben spielt aber auch die psychische Minderwertigkeit eine
wesentliche Rolle: Unfähigkeit zur Erlangung klarer und deutlicher Ob-
jektvorstellung, Mangel an verständnisvollem Einblick in das Wesen und
die zweckmäßige Einrichtung der Dinge, intellektuelle Ratlosigkeit beim
Anfassen und Zugreifen, übertriebene Ängstlichkeit gegenüber neuen, un-
gewohnten und schwierig scheinenden Aufgaben.
Allein sind das Peitschenknallen, in dem er mit jedem Fuhrmann
konkurrieren könnte, und die genannten Nachahmungsspiele (Nähen,
Schreiben, Kartenspiele usw.) nicht Zeichen einer gewissen manuellen
Fertigkeit? Was das Peitschenknallen betrifft, so handelt es sich hier
offenbar um die Ausbildung einer angeborenen Anlage. Nicht nur der
Vater O.s, sondern auch O.s einziger Bruder sowie seine zwei Neffen
(väterlicherseits) zeigten bis in das Jünglingsalter hinein einen auffallenden
Hang zum Peitschensport, zu dem sie keineswegs durch Berufsvorbilder in
der Familie angeregt wurden. Bei den Nachahmungsspielen tritt das
Moment der manuellen Minderwertigkeit aber erst recht drastisch zutage.
So ahmt O. z. B. das Kartenspielen in der Weise nach, daß er sein Häuf-
lein Karten zunächst unzähligemal von einer Hand zur andern wandern
läßt, sie dann ebenso oft auf den Tisch stößt, dann wieder eine Zeitlang
nervös in den Händen dreht (wobei die Karten immer in der gleichen
Reihenfolge bleiben), bis er glaubt, sie genug »gemischt« zu haben. Hierauf
werden sie fast ganz ordnungslos auf dem Tisch plaziert, mehrmals zweck-
und ziellos durcheinander geschoben und dann plötzlich — als ob ihm die
Einsicht gekommen wäre, daß es »aufgeht« (Patiencespiel!) — mit einem
Ruck zusammengerafit, worauf das Spiel von neuem beginnt. Von einem
geschickten Nachmachen der manuellen Seite des Kartenspiels (regelrechtes
Mischen, reihenweises Auflegen, ordnungsmäßiges Zusammenfassen) ist O.
1. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen. 607
also weit entfernt. Ebenso äußerlich ahmt O. Büroarbeiter nach, indem
er sich mit wichtiger Miene an seinen Pult vor alte Geschäftsbücher setzt,
in diesen nachdenklich blättert, ab und zu mit der Feder ein paar Reihen
sinnlose Hieroglyphen hinkritzelt (etwa in der Art 3—4 jähriger Kinder,
obwohl O. schreiben kann!), dann »kollationiert«, die Feder würdevoll
hinters Ohr steckt, das Buch befriedigt aufs Regal stellt, um hierauf ein
anderes vorzunehmen. Noch charakteristischer ist, wie O. »näht«. Man
muß ihm dabei die Nadel einfädeln (er selbst ist dazu nicht imstande),
darf ihm aber den Faden am Ende beileibe nicht knoten, weil er diesen
nach jedem Stiche völlig durchziehen will. Dann pflegt er ohne Sinn und
Zweck an einem Lappen darauf los zu stechen, bald oben bald unten, in
die Kreuz und in die Quer, von rechts nach links und von links nach
rechts, wobei ihn die Resultatlosigkeit seines Bemühens nicht im geringsten
stört. Wie man sieht, sind O.s Nachahmungsspiele weit davon entfernt,.
manuelle Fertigkeit zu verraten; im Gegenteil, O. vermeidet geflissentlich
alle schwierigen Manipulationen und beschränkt sich auf ein rein äußer-
liches Nachahmen. Selbstverständlich soll damit aber nicht behauptet
werden, in diesen Nachahmungsspielen komme überhaupt keine geistige
Aktivität zum Ausdruck. Dies ist sehr wohl der Fall, nur liegt sie in
einer andern Richtung, wie weiter unten gezeigt werden wird.
Die zweite Ursache von O.s beschränktem Spielinteresse ist seine
Phantasielosigkeit, die ihrerseits wieder in engstem Zusammenhang
steht mit seiner Intelligenzschwäche. Verfasser konnte bis jetzt nicht eine
einzige Spieläußerung O.s beobachten, die als der Versuch einer äußeren
Darstellung von etwas innerlich Geschautem oder Vorgestelltem hätte- an-
gesehen werden können. So hat O. z. B., obwohl er mit Griffel und
Bleistift sehr gerne hantiert, noch niemals versucht, einen Gegenstand
seiner Umgebung zu malen, und umgekehrt ist es ihm auch nie in den
Sinn gekommen, seinen Kritzeleien hinterher eine Bedeutung beizulegen.
(Die früher erwähnte Zeichnung eines Straßenbahnwagens machte er auf
Befehl.) Ebensowenig hat O. je einmal einen Gegenstand in der bekannten
kindlichen Weise personifiziert oder im Zauberspiel der Illusion ein anderes
Objekt in ihn hineingesehen. Ein Stock bleibt für ihn ein Stock und wird
in seiner Phantasie nie zu einem Pferd, und jeden Versuch, ihm eine
Dlusionsvorstellung zu suggerieren, weist er direkt ab. Besonders drastisch
tritt O.s Mangel an Phantasie am Sandhaufen zutage. Ziel- und zwecklos
wühlt er da mit Hacke und Schaufel in die Kreuz und Quer; etwas dar-
zustellen, etwa einen Graben, eine Burg oder eine Höhle, liegt ihm völlig
fern, und die chaotische Wüstenei, die regelmäßig das Resultat seines
Spielens ist, läßt ihn vollständig gleichgültig. Ebenso trostlos pflegen die
Produkte seiner Spieltätigkeit am Steinbaukasten auszusehen: Sinnlos auf-
einander getürmte Steinhaufen, die auch nicht die Spur von Regelmäßig-
keit und Symmetrie geschweige denn Ähnlichkeit mit irgend einem Bau-
werk an sich tragen. Jedes dreijährige Kind, dem man ein paar Stein-
chen in die Hand gibt, spielt verständiger damit als O. Überläßt man ihm.
zum Spiele alte Zeitungen, so knüllt er diese in roher Weise zu formlosen
Papierbällen zusammen und füllt damit einen Korb oder seinen Wagen.
608 B. Mitteilungen.
Genau so pflegt er mit dem von Kindern so sehr geschätzten Stanniol-
papier von Schokoladetafeln umzugehen; er reißt dies (meist zusammen
mit der äußeren Papierumhüllung) roh herunter, ballt es zu formlosen
Knäueln und wirft diese in den Papierkorb. Sehr gering ist sein Interesse
an Bilderbüchern. Nicht als ob er nicht mit gieriger Hast nach jedem
Buch griffe, das ihm in den Weg kommt. Allein er tut es ausschließlich
aus vager Neugierde, unter dem Zwange des oben geschilderten Begehr-
lichkeitstriebes, sowie in der Sucht, Erwachsene nachzuahmen. Dabei ist
es ihm völlig gleichgültig, ob er ein Eisenbahnkursbuch oder einen Band
Tageszeitungen oder ein Bilderbuch in der Hand hat. Sein Interesse an
Büchern erschöpft sich immer in derselben Weise: Ein hastiges Durch-
blättern, bei dem die Aufmerksamkeit durch nichts gefesselt wird, einige-
mal ein Mienenspiel, als ob er eine schwerleserliche Stelle zu entziffern
suchte, dann ein Weglegen mit der Geste des Gelangweiltseins und im
Anschluß daran ein scheinbar sehr interessiertes Greifen nach einem neuen
Buche. Auch das stofflich elementarste und qualitativ vorzüglichste Bilder-
buch vermag sein Interesse nicht zu wecken.
Ferner macht sich O.s Mangel an Einbildungskraft in der öden und
poesielosen Nüchternheit geltend, mit der er die Produkte eigener und
fremder Spieltätigkeit betrachtet. Das normale Kind freut sich seiner Spiel-
ergebnisse, einerlei ob und wie dieselben gelungen sein mögen, es ist stolz
auf sie, bewundert sie, will sie bewundern lassen und schützt sie eifer-
süchtig vor fremden Übergriffen. O. dagegen steht seinen Spielprodukten
absolut gleichgültig gegenüber. Er kennt nicht das Bedürfnis, sie andern
zu zeigen. Er hat nur den einen Trieb, sie sofort wieder zu zerstören.
Selbst wenn er mit fremder Hilfe ein Werk zustande gebracht hat, das
sich einigermaßen sehen lassen kann, erwachen in ihm nicht die Gefühle
des Stolzes und der Pietät. Ebensowenig kennt er aber auch gegenüber
den Spielprodukten andrer Kinder oder gegenüber dem, was Erwachsene
ihm vorspielen, irgend welche Regungen der Achtung und Schonung. Er
ist nur von deın einen Trieb beseelt, diese zu vernichten, aber nicht aus
Bosheit oder pathologischer Zerstörungswut (letztere würde sich gegen alle
in O.s Tätigkeitsbereich fallende Gegenstände richten, was aber nicht der
Fall ist), sondern weil ihn eine Sandburg, ein Moosgärtchen, ein ausge-
schnittener Vogel, ein Häuschen u. dergl. nicht interessieren, weil ihm die
Phantasie fehlt, sich mit diesen Dingen illusionär zu beschäftigen und um
sie den zarten Schleier einer eingebildeten Märchenwelt zu weben, weil er
die zur Herstellung solcher Spielprodukte erforderliche Kunst und Mühe
nicht zu schätzen weiß, und weil er nur im Zerstören, Zerreißen, Ab-
wischen usw. Befriedigung für seinen Tätigkeitsdrang findet. Vielleicht
aber auch weckt der Anblick eines vollendeten Spielwerks in O., wenn es
von Kindern stammt, das Gefühl der Beschämung und Verlegenheit, oder,
wenn es von Erwachsenen herrührt, die Befürchtung, es könnte von ihm
nun eine ähnliche Spielleistung erwartet werden, zwei Gefühle, die eben-
falls Mitursachen seiner Pietätlosigkeit gegen Spielprodukte sein könnten.
Auf alle Fälle aber ist der Hauptgrund dieses Verhaltens in O.s nüchterner,
nur auf den derb sinnlichen Genuß gerichteter Anschauungsweise zu er-
1. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen. 609
blicken, neben der die feineren Regungen eines elementaren Schönheits-
gefühls und einer phantasievollen Betrachtung der Dinge nicht aufkommen
können.
Nur in einer Richtung zeigt sich bei O. eine gewisse Phantasie- und
Illusionstätigkeit, nämlich bei seinen schon erwähnten Nachahmungsspielen,
Hier merkt man ihm deutlich an, daß er sich in die Rolle und in die
Situation Erwachsener hineindenkt, und daß er sich dabei recht wichtig
vorkommt. Und zwar tut er dies meist mit vollem Bewußtsein, wofür
der Umstand spricht, daß er in diesen Spielen sofort geniert innehält, so-
bald er sich beobachtet glaubt. Die psychologischen Grundlagen dieser
Illusionstätigkeit hat man zunächst in seinem stark entwickelten Nach-
ahmungstriebe zu erblicken,!) sodann in seinem hohen Interesse an dem
Tun und Treiben seiner Nebenmenschen, ganz besonders aber in seiner
Lust, sich als Erwachsener zu fühlen und zu benehmen, einer Art kind-
licher Großtuerei. Wie er einen Kartenspieler, einen Schreiber, eine Näherin
imitiert, davon war bereits die Rede. In ähnlicher Weise ahmt er mit
einer Schokoladezigarre die lässig vornehmen Bewegungen und Allüren
eines Rauchers nach. Im Theater, in Konzerten u. dergl. will er unbe-
dingt ein Programm haben, das er zunächst genau so gleichgültig wie
die übrigen Besucher in der Hand trägt bezw. in die Tasche steckt, um
es dann an seinem Platze mit prüfender Miene zu durchblättern, obwohl
er keinen Buchstaben liest. Mit der gleichen Würde handhabt er sein
Opernglas, trotzdem er durch dasselbe höchst wahrscheinlich gar nicht
sehen kann. Auf Reisen ins Gebirge gefällt er sich in der Rolle des
durch Rucksack und Bergstock ausgezeichneten Touristen. Sehr wichtig
tut er auch mit seiner Taschenuhr. Obwohl er nicht entfernt imstande
ist, die Stunde abzulesen, pflegt er doch von Zeit zu Zeit auf sie zu sehen
1) O.s Nachahmungstrieb stellt sich indes nicht ausschließlich in den Dienst
seiner lllusionsspiele. Vieles, namentlich Redensarten, ahmt O. rein mechanisch,
gedankenlos und unbewußt nach, ohne daß sich sein Ich dabei phantasiemäßig an
die Stelle bestimmter Personen versetzte. So behält und reproduziert er mit be-
sonderer Vorliebe Schimpfworte, groteske Ausdrücke und ähnliche Redewendungen,
die er dann meist ohne Sinn und Verstand anwendet. Beim gelegentlichen Anblick
eines jungen Ehepaares z. B., das sich mit seinem Kinde im Grase tummelte, be-
merkte er im Tone der Entrüstung und sich ereifernder Kritik: »Ist das eine Er-
ziehung!« Die Nachricht vom Hinscheiden einer ihm nur dem Namen nach be-
kannten Person glossierte er mit den Worten: »Wie traurig! Hatte er Zucker?«
Auch beim Lachen sucht er ganz unwillkürlich den Ausdruck und Tonfall Er-
wachsener nachzuahmen. Ein Fremder, der ihn dabei beobachtete, würde ent-
schieden den Eindruck gewinnen, daß O. aus vollem Verständnis lacht. Dabei
lacht er meist nur der Spur nach und hat von der Pointe eines Witzes oder dem
Komischen einer Situation gewöhnlich nicht die geringste Ahnung. Wie weit O.s
gedankenloses Nachahmen geht, zeigt am anschaulichsten die Tatsache, daß er
seine Mutter genau so anredet, wie er sie von Fremden (Frau Justizrat!) und von
den übrigen Familienangehörigen (Vorname!) anreden hört und daß er auch die
Kollegen des Verfassers als »Kollegen« “zu begrüßen pflegt.
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 39
610 B. Mitteilungen.
und im Anschluß daran sie auch hin und wieder ans Ohr zu halten, wobei
er kaum eine Ahnung hat, welche Bedeutung letztere Manipulation bei Er-
wachsenen besitzt. Ja es wurde schon wiederholt beobachtet, daß O. am
Bahnhof »interessiert« auf die große Portaluhr schaute, dann einen
»prüfenden« Blick auf seine Taschenuhr warf, hierauf am Bügel einige Dreh-
bewegungen ausführte, als hätte er seinen Chronometer »gestellt«, um ihn
hierauf »befriedigt« in der Tasche verschwinden zu lassen, und das alles,
obwohl ihm der Gebrauch und die Handhabung der Uhr völlig fremd sind.
Wenn O. »Schiffer« oder »Brückenmann« spielt, dann setzt er sich in der
Mitte des Speicherbodens auf eine alte Kiste und wirft von hier aus ein
altes, ein Schiffstau vorstellendes Waschseil bald nach der rechten bald
nach der linken Seite, um es dann unter entsprechenden Ausrufen langsam
wieder einzuziehen. Noch köstlicher ist es, wie O. die Rolle eines Kapell-
meisters nachahmt. Beim Spielen mit seiner Drehorgel stellt O. vor sich
ein Notenpult auf, entfaltet auf diesem eine Anzahl abgedankter Noten-
blätter, die er zunächst »prüfend« überfliegt, gibt dann durch Klopfen mit
einem kleinen Stock das Zeichen des Anfangs, um hierauf das ganze Stück
hindurch mit wichtigtuerischen Gebärden den Takt zu schlagen. Dabei ist
O. weit davon entfernt, den Rhythmus eines Musikstücks richtig markieren
zu können. Sein Taktieren ist gewöhnlich ein ganz unregelmäßiges
Fuchteln. Setzt sich jemand ans Klavier, so holt O. ebenfalls sofort seinen
Taktstock herbei, um »Kapellmeister« zu spielen, wobei er nicht selten
während des Taktierens mit dem Taschentuch von der Stirne den —
Schweiß abtupft! Einen höheren Grad von Beobachtungsschärfe und Fertig-
keit im Nachahmen kann man von einem Schwachsinnigen wohl kaum er-
warten. Im übrigen aber vermögen diese relativ hochstehenden imitatorischen
Äußerungen an dem monotonen und nüchternen Bilde von O.s spielerischer
Tätigkeit wenig, zu ändern. Trotz alle dem wird man darin die an-
mutigen Züge der produktiven, schöpferischen Phantasie des normalen
Kindes vermissen.
Damit ist nicht nur die Schilderung von O.s spielerischem Verhalten
beendet, sondern überhaupt die Analyse des gesamten Vorstellungskreises,
in dem sich O.s spontanes Interesse theoretisch und praktisch bewegt,
abgeschlossen. Wie die obigen Ausführungen im einzelnen zeigen, kann
bei O. trotz seiner hochgradigen Intelligenzschwäche doch nicht schlecht-
hin von Vorstellungsarmut und absoluter Interesselosigkeit geredet werden.
Zwar weist sein Besitz an Allgemeinvorstellungen niederer und höherer
Ordnung, sowie an räumlichen und zeitlichen Komplexvorstellungen große
Lücken auf; um so zahlreicher sind aber seine einfachen und zusammen-
gesetzten Individualvorstellungen. Es gibt kaum ein Ding in seiner Um-
gebung, das ihm nicht bekannt wäre. O.s Interesse ist allerdings vorzugs-
weise egozentrischer Natur, aber daneben richtet es sich doch auch auf
solche Gebiete, die mit seinen sinnlichen Begierden und Wünschen in
keinem unmittelbaren Zusammenhang stehen. Auch die disharmonische
Einseitigkeit von O.s Interesse tritt scharf hervor (Schiffe, Beerdigungen,
Orgeldrehen usw.). Diese findet aber einen gewissen Ausgleich in O.s Neu-
gierde, die sich gleichmäßig auf alles erstreckt, was um ihn her »passiert«
1. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen. 611
und vorgeht. Es kann sich in O.s Gegenwart schlechterdings nichts,
buchstäblich nichts abspielen, und sei es etwas auch noch so Alltägliches
und Unbedeutendes, das seiner Aufmerksamkeit entginge. Allerdings der
Form, der Qualität nach steht O.s Interesse auf einer niedrigen Stufe: es
hat einen rein sinnlichen, empirischen Charakter, es beschränkt sich fast
ganz auf den äußeren Schein der Dinge, bleibt am Einzelnen, Speziellen,
Individuellen haften, vermag nicht das Wesentliche vom Unwesentlichen,
das Wichtige vom Nebensächlichen zu unterscheiden und kümmert sich
vor allem nicht um den kausalen Zusammenhang der Dinge und ihrer
Teile. Als O. zum erstenmal eine Flugmaschine zu Gesicht bekam, da
sah er an ihr wohl allerlei Rädchen, Drähte und Stangen, einen Sitz,
eine »Dreh«, Tuch und »Rotes«, »Grünes«, »Gelbes« usw., aber es kam
ihm nicht entfernt in den Sinn, nach Zweck und Bedeutung dieses merk-
würdigen »Dings« zu fragen. Und als der Flieger die Maschine bestieg,
da erregten dessen Bekleidung, seine Manipulationen, das Knattern des
Motors und die Bewegung der Propeller in O. die gespannteste Aufmerk-
samkeit; aber der entscheidende Effekt des Schauspiels, der Flug in die
Luft, ließ ihn völlig kalt und gleichgültig. Nur innerhalb der von seinem
leidenschaftlichen Interesse getragenen Vorstellungskreise äußert sich ab
und zu auch ein mehr spekulativ gerichtetes Denkvermögen, das allerdings
dann stets in der Form selbstsüchtiger, eigennütziger Schlauheit auftritt.
Sehr wesentlich ist aber, daß sich O.s Interesse im weitesten Umfange
auch in motorischen Funktionen entladet, sowohl in der Form spiele-
rischer Betätigung als auch, wovon später noch die Rede sein wird, in
der Form sprachlicher Äußerung.
Man sollte nun meinen, daß es bei solch günstigen (natürlich
»günstig« im Sinne der Heilpädagogik) Bildungsbedingungen einem Unter-
richte, der dem Zögling nichts Fremdes aufdrängen will, sondern in jeder
Hinsicht dessen natürlichen Neigungen zu folgen bereit ist, unter allen
Umständen gelingen müßte, die vorhandene Lernunlust zu überwinden und
einigermaßen befriedigende Resultate zu erzielen. Und dies um so mehr,
wenn es sich, wie in dem vorliegenden Falle, um Einzelunterricht handelt,
bei dem nicht nur alles äußere Zwangs- und Vorschriftenwesen, das im
öffentlichen Unterricht aus Gründen der Ordnung nicht umgangen werden
kann, wegfällt, sondern der auch die Durchführung des Grundsatzes von
der Berücksichtigung der individuellen Neigungen des Zöglings in viel
vollkommenerer Weise ermöglicht als der Massenunterricht. Allein das
war leider nicht der Fall. Das fragliche Unterrichtsprinzip, das theo-
retisch ohne weiteres einleuchtet und das sich in der Praxis im allge-
meinen aufs beste zu bewähren pflegt, versagte O. gegenüber fast voll-
ständig. -Es ist psychologisch und pädagogisch nicht ohne Interesse,
diesen Mißerfolg in seinen Einzelheiten etwas näher zu betrachten. Dies
soll im folgenden geschehen und zwar im Anschluß an die einzelnen
Unterrichtsfächer. (Forts. folgt.)
39*
612 B. Mitteilungen.
2. Zur Psychologie des Rechtschreibungsunterrichts.
Von Oberlehrer Dr. Krassmöller, Berlin-Wilmersdorf.
Es ist eine alte Erfahrungstatsache, daß die Rezeption der normalen
Schüler auf drei verschiedene Weisen erfolgt: die erste Gruppe prägt sich
den Lernstoff auf visuellem Wege, die zweite auf akustischem Wege ein,
— und schließlich gibt es eine dritte Gruppe, die beide Methoden ge-
mischt befolgt.
Beim Schreibunterricht hat der Pädagoge auf den visuellen Faktor
den höchsten Wert zu legen; schon allein deshalb, damit er die vorge-
schriebenen Formen der einzelnen Schriftzeichen erzielt. Unerläßlich er-
scheint uns dies Postulat bei der Rechtschreibungslehre: hier ist es not-
wendig, dem Schüler im Leseunterricht, der dem Schreibunterricht voran-
zugehen hat, solange die richtigen Bilder der Worte vorzuführen, bis sie
ihm zu einem klaren und deutlichen Bewußtseinsinhalt geworden sind.
Dann erst ist er in der Lage, zu untersuchen, ob sich das visuelle Bild
mit seinem Bewußtseinsinhalt deckt. Wissen wir doch alle aus Erfahrung,
daß selbst Erwachsene, wenn sie sich über die Rechtschreibung eines
Wortes im Zweifel sind, sich das visuelle Bild des Wortes erst dureh
probeweises Schreiben verschaffen.
Hierher gehört der Fall eines siebenjährigen Knaben, der unmotiviert
Buchstaben, sogar aus seinem eigenen Namen, ausließ, ohne daß er die
üblichen orthographischen Fehler gemacht hätte. Auch lag hier nicht die
Flüchtigkeit des Normalen vor. Eine nähere Prüfung ergab, daß er von
den Wortbildern eine Vorstellung nur dann bekam, wenn er sie sich auf
akustischem Wege angeeignet hatte. Dies war mir eine willkommene
Handhabe, um diesem psychologischen Mangel abzuhelfen. Es war also
meine Aufgabe, dem Schüler beim Rechtschreibungsunterricht anstatt des
nicht vorhandenen visuellen Bildes das akustische zu geben, das ihm eine
Kontrolle während des Schreibens verschaffen sollte. Zu diesem Zweck
diktierte ich zunächst einzelne Worte, von den einfachsten bis zu den
schwierigeren aufsteigend und ließ sie deutlich buchstabieren. Dann mußte
er während des Buchstabierens schreiben und darauf das Geschriebene
lesen. Um ihm nun auch das visuelle Bild zum Bewußtsein zu bringen,
mußte er das geschriebene Wort buchstabierend ablesen und dann schweigend
abschreiben. Hierdurch wurde zweierlei erreicht: erstens wurde ihm das
Wortbild noch einmal fest eingeprägt, und zweitens hatte er durch diese
Maßnahmen eine Kontrollmöglichkeit, die ihn oft genug gerade seine
alten Fehler — das Auslassen von Buchstaben und dergleichen — ent-
decken ließ.
Durch fortgesetzte Übungen zeigten sich Fortschritte seiner Bewußt-
seinsentwicklung in den visuellen Wortbildern. Bald ging ich zu kleineren
Sätzen über, die ich anfänglich noch diktierte, und die er dann noch
nachbuchstabierte; schließlich schrieb er die Worte nur noch an Hand der
visuellen Vorstellung nieder, während der akustische Weg vermieden wurde.
(Hier sei bemerkt, daß auf diese Art in gewisser Beziehung schon der
mathematische Unterricht vorbereitet wurde: denn in ihm ist ohne das
3. Der Lesetext als Kontrolle beim Lesevorgang. 613
visuelle Bild gar nicht auszukommen. Eine Gewöhnung an die visuelle
Methode ist also beizeiten anzuraten.)
Schwierigkeiten zeigten sich noch, als er selbst frei erfundene Ge-
dankengänge niederschreiben sollte, nachdem er sie in die Form eines
Satzes gebracht hatte. Auch hier mußte er erst die Sätze mehreremale
laut vor sich hin sprechen, weil anfangs die visuelle Vorstellung, die er
sich von den Sätzen machte, noch nicht ausgeprägt genug war, um eine
fehlerfreie Niederschrift zu ermöglichen. —
Aus diesem Felle ergab sich für mich das interessante Ergebnis, daß
man beim Fehlen des visuellen Bildes beim Rechtschreibungsunterricht
auf den akustischen Weg zurückgreifen muß. Vielleicht kann einer der
Herren Kollegen von einem ähnlichen Fall berichten, bei dem man durch
die visuelle Methode zu einem akustischen Bild kam, — sei es im Recht-
schreibungsunterricht oder in sonst einem Fache. —
3. Der Lesetext als Kontrolle beim Lesevorgang.
Von Kurt Tucholsky, Berlin.
Im Heft 3 dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift hatte ich einen Fall
besprochen, der gewisse Schwierigkeiten im Leseunterrichte behandelte,
Während ich mich damals einer maschinellen Hilfe (Pappschablone) be-
diente, liegt in dem hier zu besprecherden Fall die Hilfe in der Auswahl
der Lektüre selbst.
Es handelt sich hier wiederum um einen 12 jährigen Knaben, dem
das Lesen immer noch Schwierigkeiten machte. Bei näherer Beobachtung
stellte ich folgendes fest: Die Apperzeption des Wortbildes war bei ihm
in mangelhafter Weise ausgebildet, schon bei dem mechanischen Akt im
Lesevorgang machte ihm weniger die Reproduktion der einzelnen Laute
als die Verschmelzung von Konsonanten und Vokalen einige Schwierig-
keiten. Diese Schwierigkeiten wurden aber erhöht und machten die richtige
Bildung des zu lesenden Wortes fast unmöglich, weil die Reproduktion
und Verbindung der Sachvorstellung bei ihm viel zu früh einsetzte. Kaum
hatte er ein flüchtiges Wortbild erhascht, so machte er sich vor Beendigung
des mechanischen Aktes an den geistigen, blieb aber auch hier nicht in normaler
Weise stehen, sondern wurde durch seine weitschweifende Phantasie ver-
anlaßt, die bei ihm entstehende Vorstellungsreihe von Ideenassoziationen
sehr weit auszudehnen. Nun kam es ja vor, daß die abgelaufene Reihe
am Ende wirklich wieder mit dem Text übereinstimmte. Er faßte z. B.
von dem Wortbild »womöglich« nur den Komplex »mög« auf, und bevor
er nun sich daran machte, das Ganze mechanisch zu erfassen, lief er bereits
die Reihe ab: möglich, womöglich, vermögend, vermöge usw. Da konnte
es nun sehr gut geschehen, daß er »vermöge« oder auch »möglich« las,
— andererseits konnte er aber auch »womöglich« lesen, d. h. er traf in
der Vorstellungsreihe zufälligerweise das richtige Wort. Daher fehlte mir
jede Kontrolle, ob er richtig las, d. h. ordnungsgemäß mechanisch apper-
zipierte und dann erst geistig reproduzierte und verband, was er mechanisch
aufgenommen hatte, — oder ob er geraten hatte.
614 B. Mitteilungen.
Mir war nun aufgefallen, daß die von ihm erratenen Phantasieprodukte
immer dann nicht mit dem Text übereinstimmten, wenn dieser von einer
stehenden, in der Sprache starr gewordenen Wendung abwich. Wenn
z. B. zufälligerweise einmal nicht »Mann und Maus« da stand, sondern
»Mann und Männer« oder dergleichen, dann hatte ich es ja in der Hand
zu kontrollieren, daß er fabulierte anstatt zu lesen. Stand aber eine der-
artige Wendung im Text, die sich leicht erraten ließ, dann wußte ich nie-
mals, ob er gelesen oder geraten hatte. Ich begann mich nun nach einer
Lektüre umzusehen, die in derartigen Kleinigkeiten von der gewöhnlichen
Ausdrucksweise der Lesebücher, die ja ein bißchen schematisch ist und daher
dem Jungen schon geläufig war, abwich. Ich fand so etwas im »Schatz-
kästlein des Rheinländischen Hausfreundes von Johann Peter Hebel, neu
herausgegeben im Delphinverlag in München«e. Das ist eine Sammlung
der Beiträge, die Hebel für den Badischen Landeskalender, den er als
Rheinländischen Hausfreund herausgab, in den Jahren 1808—1819 schrieb.
Ohne hier eine literarische Charakteristik von Hebel zu geben, will ich nur
erwähnen, daß diese kleinen Erzählungen, deren Stoff aus alten Büchern,
aus Freundesgesprächen Hebels, aus volkstümlichen Anekdoten genommen
war, geschlossen und sauber disponiert und in einem vorbildlichen Deutsch
geschrieben sind. Sie eignen sich mit einiger Auswahl wohl für Kinder,
denn sie sind ungemein anschaulich und lebendig, und gerade die Er-
klärungen aus der Naturwissenschaft und der Physik sind kindlich urd
primitiv gehalten.
In diesem Buch nun, dessen Sprache immerhin hundert Jahre zurück-
liegt, finden sich kleine Floskeln und Abweichungen von der heutigen
Sprache, die aber wieder nicht so veraltet sind, daß sie von den Kindern
nicht mehr verstanden würden. Da steht noch »Jänner«, »eilf«, »ablösets,
»der geneigte Leser«, u. dergl. (Nur die Orthographie ist auf den neusten
Stand gebracht worden.)
Im Nachfolgenden gebe ich einige Beispiele für die obigen Aus-
führungen:
Text:
Seite 247
Denn als er eines Tages, es war
aber Nacht, mit dem Adjunkt und
mit dem Vizepräsident durch den
Brassenheimer Wald nach Hause ging;
vornehme Herren schämen sich nicht,
mit ihm zu gehen und gut Freund
zu sein, absonderlich bei Nacht, wenn
es niemand sieht, und wenn sie
selber froh sind, daß sie jemand be-
gleitet ...
Einen Teil dieser Fehler hätte
Es wurde gelesen:
Denn als ( ) eines Tages, es war
aber Nacht, mit dem Adjudant und
( ) dem Vizepräsident durch den
Brassenheimer Wald nach Hause ging;
vornehme Herren schämten sich nicht,
mit ihm zu gehen und ein guter
Freund zu sein, absunderlich bei der
Nacht, wenn sie niemand sieht, und
wenn sie selbst froh sind, daß sie
jemand begleitet ...
der Junge auch in einem Lesebuch
Auch dort hätte er das »er« aus-
gemacht, und ich hätte sie bemerkt.
gelassen, hätte vielleicht statt »es« »sie«, gelesen und statt »Selber« »Selhst«,
aber andererseits hätte das Lesebuch kaum den Tempowechsel bei »schämen«
t
4. Bericht über den VI. Kongreß für experimentelle Psychologie. 615
aufgewiesen, hätte das altmodische Wort »Adjunkt« nicht gehabt, —
sondern statt dessen die modernen, einem Schüler geläufigen Formeln und
Ausdrücke. Und wenn der Junge, wie es sicherlich oft geschehen ist,
diese neuen Floskeln richtig las, so war eben nicht zu unterscheiden, ob
er im eigentlichen Sinne gelesen oder nur geraten hatte. Hier aber gab
mir der ihm nicht vertraute Stil Hebels die Kontrolle und die Gewißheit,
daß er richtig gelesen hatte. Denn wenn er las: »Das war so brotlos
eben auch nicht« (Seite 101), so mußte er jedes Wort erst mechanisch
reproduziert haben, ehe er diese ihm ein wenig fremde Wortverbindung
richtig wiedergeben konnte. Hebel hat noch den alten guten Konjunktiv
Imperfecti, der durch unsere moderne Umschreibung mit »würden« so sehr
zu Unehren gekommen ist. Er sagt noch: »Aber wenn wir nur erst die
Gefährlichen unter ihnen kennten!« (Seite 41). Der Schüler las hier
»Kennen«, weil ihm die andere Form ungewohnt war; auch hier gab der
Text wieder eine Kontrolle über den Lesevorgang. Auf derselben Seite
findet sich: »Über den Rücken hinab lauft ein dunkelbrauner Streifen im
Zickzack, ...« Diese Stelle kann man natürlich nur einem Schüler vor-
legen, der das Deutsch so weit beherrscht, daß er alte Formeln wie »lauft«
und »kömmt« versteht. Er las hier: »über dem Rücken hinab läuft...«
Solche Beispiele enthält das Buch massenhaft. Überall zwingen die
ein wenig altmodischen Floskeln den Lesenden, jedes vorzeitige Aneinander-
reihen von Ideenverbindungen beiseite zu lassen und sich zunächst an die
rein mechanische Reproduktion zu halten.
Daß diese leicht antiquierten Redensarten schlecht auf die deutsche
Sprachkenntnis des Schülers eingewirkt haben, konnte ich nicht feststellen.
Natürlich darf eine so einseitige Lektüre nicht fortwährend getrieben
werden, schon deswegen nicht, weil sich der Junge ja dann wiederum an
diese Sprachschablonen gewöhnen würde, und das alte Spiel von neuem
einsetzt. Nach einer Weile muß eben mit der Lektüre gewechselt werden.
Ich habe nur darauf hinweisen wollen, daß ältere Schriften, die von
den modernen Lesebüchern in der Sprachbehandlung abweichen und so
keinerlei Eselsbrücken bieten, wohl geeignet sind, dem Lehrenden eine
Handhabe zur Kontrolle des Lesevorgangs zu geben. Hierher gehören
auch einige Märchen bei Grimm und die Bibel in Lutherscher Übersetzung,
natürlich in entsprechender Auswahl.
4. Bericht über den VI. Kongreß für experimentelle
Psychologie.
(Göttingen: 15.—18. April 1914.)
Von Dr. phil. Heinrich Eger-Jena.
Die im Jahre 1901 gegründete Gesellschaft für experimentelle Psychologie
hielt ihren diesjährigen Kongreß in Göttingen, der Wirkungsstätte ihres schon seit
der Gründung vorstehenden Präsidenten, des Universitätsprofessors G. E. Müller,
ab. Die Gesellschaft, die alle Psychologen umfaßt, die die naturwissenschaftlich
forschende Methode auch auf das Gebiet der Psychologie angewandt wissen wollen,
hat sich die Aufgabe gestellt diese zwar noch junge, aber doch so wertvolle Wissen-
schaft durch den Zusammenschluß aller nach dieser Seite hin arbeitenden Forscher
616 B. Mitteilungen.
zu kräftigen und zu fördern. Um diesem Zweck gerecht zu werden, hat die Gesell-
schaft neben dem alle zwei Jahre in Deutschland oder einem der Nachbarländer
stattfindenden Kongreß noch eingerichtet 1. eine Sammlung von psychologischen
Apparaten und Tests in Gießen, unter Leitung von Professor Sommer-Gießen,
sowie 2. ein Institut für angewandte Psychologie und Sammelforschung in Berlin
unter Leitung von Professor W. Stern-Breslau und Dr. O. Lipmann-Kleir-
glienicke bei Potsdam.
Ungefähr 300 Teilnehmer, die sich aus Mitgliedern und sich interessierenden
Personen, darunter einer Reihe von Pädagogen und Schulaufsichtsbeamten, zusammen-
setzten, hatten sich eingefunden, um den Vorträgen über die Fortschritte auf diesem
Wissensgebiet innerhalb der letzten zwei Jahre zu lauschen. Der Kongreß, der
von größeren festlichen Veranstaltungen Abstand genommen hatte, legte den Haupt-
wert auf die Vorträge und die sich anschließenden Diskussionen. Ein reiches und
vielseitiges Material war es, was hier geboten wurde. Neben 4 Sammelreferaten
(1. C. Stumpf-Berlin, Über neuere Untersuchungen zur Tonlehre; 2. H. Gutz-
mann-Berlin, Über die Beziehungen der Gemütsbewegungen und Gefühle zu
Störungen der Sprache; 3. O. Klemm- Leipzig, Über die Lokalisation von Schall-
reizen; 4. G. Deuchler-Tübingen, Die Psychologie der sprachlichen Unterrichts-
fächer) fanden noch 31 Einzelvorträge, teilweise mit Demonstrationen, statt. Eine
große Anzahl von diesen wurden von außerdeutschen Mitgliedern gehalten, so
sprachen O. Spearman-London, Über die Theorie von zwei Faktoren; C. Révész-
Budapest, Über musikalische Begabung; S. Alrutz-Upsala, Wie man die Existenz
der Hitzeempfindung beweist und demonstriert; P. Menzerath-Brüssel, Fehler
des Alltags; M. Ponzo-Turin, Demonstration einer Einrichtung für die Analyse von
Erkennungs- und Benennungszeiten, und andere. Immer mehr hat man im Laufe
der Jahre erkannt, wie wichtig für die Forschung die vergleichende Methode
zwischen den Ergebnissen der benachbarten Wissensgebiete ist; deshalb waren auch
3 Vorträge aus der Tierpsychologie vorgesehen, 1. L. Edinger-Frankfurt a. M.,
Zur Methode der psychologischen Untersuchung an Säugetieren: Beobachtung am
Hund; 2, O. Pfungst-Berlin, Zuchtversuche mit Wölfen; 3. O. Pfungst-Berlin,
Über die Spürfähigkeit der Polizeihunde. Zu ihrem Rechte kamen auch die mit der
modernen Psychologie verwandten Hilfsdisziplinen wie Physiologie, Psychiatrie und
Psychopathologie.
In einem Vortrag wurde auch Stellung genommen zu der die gauze wissen-
schaftliche Welt interessierenden Frage: »Stellung der Philosophie und Psychologie.«
Das Referat hierüber hatte der Professor der Philosophie Heinrich Meier-
Göttingen übernommen. Er stellte fest, daß die Psychologie heute als eine Er-
fahrungswissenschaft gilt, ebenso, daß wohl im ganzen die Übereinstimmung herrscht,
daß sie zu den Geisteswissenschaften zu zählen ist. Der Vortragende wies nach, in
welch naher Beziehung die Psychologie zu einer Reihe von Wissenschaften steht,
die herkömmlicherweise als philosophische bezeichnet werden, so zur Sprachphilo-
sophie, Wirtschaftslehre, Kunst-, Religions-. Rechts- und Wirtschaftsphilosophie. In
seinen weiteren Ausführungen betonte der Redner, daß in all den philosophischen
Wissenschaften zwei Disziplinen miteinander gemischt seien: eine theoretisch-psycho-
logische und eine normativ-kritische. Diese Disziplinen, die in Wirklichkeit in das
System der besonderen Wissenschaften hineingehören, könne man nur als »sekundär-
philosophische« bezeichnen. Die »eigentliche Philosophie selbst« ist die Wissenschaft
von den Normen des Denkens und dem Wesen des Seins. Zu ihr steht die Psycho-
logie sachlich in keinem anderen Verhältnis als die anderen positiven Wissenschaften
auch. Dennoch hat sie für die philosophische Forschungsarbeit eine ungleich größere
Bedeutung als diese alle. Diese Behauptung wurde in längeren Ausführungen nach-
gewiesen aus den Beziehungen der Psychologie zu den philosophischen Grund-
disziplinen der Logik, der Erkenntnistheorie und der Metaphysik. Voraussetzung für
die normativ-kritische Arbeit der Logik ist die Kenntnis des tatsächlichen Denkens
und seiner Intentionen. Nun kann kein Zweifel sein, daß die logische Reflexion
das tatsächliche Denken der Erkenntnis da aufzusuchen hat, wo es sich in relativ
vollkommenster Weise betätigt, nämlich im wissenschaftlichen Erkennen. Das Ziel
der psychologischen Vorarbeit der Logik ist ein deskriptiv-analytisches. Jedoch hat
diese Vorarbeit nicht an dem ganzen tatsächlichen Verlauf des erkennenden Denkens
4. Bericht über den VI. Kongreß für experimentelle Psychologie. 617
gleiches Interesse. Ihr Augenmerk richtet sich auf die von dem Bewußtsein der
logischen Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit unmittelbar beleuchteten Seiten des-
selben. Sie untersucht darum in erster Linie die Endeffekte der Urteilsakte, die
»Urteile«, nicht die Urteilsakte selbst. Der Redner ging auf die verschiedenen
wissenschaftlichen Richtungen ein; er sagte unter anderem, daß die Külpesche Schule
das gewohnheitsmäßige, mechanisierte Denken, zu stark berücksichtigt habe. Man
müsse auf die ursprüngliche, in voller anschaulicher Evidenz sich vollziehende Denk-
funktion zurückgehen, dann werde auch der Schein verschwinden, als ob es ein
»Teinese, d. i. völlig vorstellungsloses Denken gäbe. In diesem Abschnitt nahm der
Vortragende auch Stellung zu Husserls Phänomenologie und ihrer Intuition. Er
sagt: die »Wesensschauung« ist, soweit sie wissenschaftlich unanfechtbar ist, deskriptive
Psychologie, die aber insofern einseitig bleibt, als sie die Hilfe der erklärenden
Psychologie ablehnt. — Von der Metaphysik behauptet der Redner, daß sie durchaus
auf erkenntnistheoretischer Arbeit fuße. Während aber die Erkenntnistheorie eine
transzendentale Theorie des Wirklichkeitsmomentes in unseren Erkenntnisvorstellungen
anstrebe. suche sie eine systematisch-transzendentale Theorie der Gesamtwirklichkeit
zu gewinnen. Sie rückt die Ergebnisse des gesamten Komplexes der theoretischen
Wissenschaften in die Beleuchtung der erkenntnistheoretischen Einsichten. Zur
Psychologie steht sie in unmittelbarer Beziehung, sofern sie sich auf der Erkenntnis-
theorie aufbaut. Im übrigen verwertet sie die Resultate der Psychologie ebenso
wie die der übrigen theoretischen Disziplinen. Seine Ausführungen faßte der Redner
in folgenden Worten zusammen: Die Psychologie steht trotz ihres einzelwissenschaft-
lichen Charakters auch zu den eigentlichsten Aufgaben der Philosophie in engem,
unlöslichem Zusammenhang. Dem Philosophen, der sich von der Psychologie ab-
wendet, bleibt nur übrig, sich eine eigene Psychologie zurechtzumachen. Ob aber
die philosophische Arbeit bei diesem Tausch gewinnt, ist sehr die Frage. Drei große
Tendenzen haben der deutschen Philosophie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
ihr Gepräge gegeben: die empiristische, die kritische und die psychologische. Sie
haben jede für sich zu offenkundigen Einseitigkeiten geführt: zum Positivismus, zum
Agnostizismus und zum Psychologismus. Und gewiß ist die Reaktion, die sich seit
einiger Zeit diesen Extremen machtvoll entgegenstellt, berechtigt. Verhängnisvoll
aber wäre es, wenn darüber die berechtigten Motive jener Bewegungen vergessen
oder in den Wind geschlagen würden. Ein Unglück wäre es insbesondere, wenn
das Band, das Psychologie und Philosophie aneinander knüpft, zerschnitten würde,
ein Unglück für die Philosophie, und ich glaube auch für die Psychologie.
Reicher Beifall lohnte den Redner für die geistreichen Ausführungen.
In der sich anschließenden Diskussion ergriff unter anderen auch Professor
Husserl-Göttingen das Wort. Er nahm Stellung zu den Ausführungen des Referenten,
indem er ablehnte, daß seine Phänomenologie deskriptive Psychologie sei. Die
Phänomenologie operiere mit Abstraktionen frei von jeder Wirklichkeit. Er zog eine
Parallele mit der reinen Geometrie. Er schloß mit den Worten, wie es die von der
Wirklichkeit losgelöste Mathematik der Physik, der Chemie und den technischen
Wissenschaften erst ermöglichte, einen so ungeheueren Aufschwung zu nehmen, so
ist in der Psychologie ein tiefes Eindringen nur möglich auf dem Boden der
Phänomenologie. Dieser Behauptung wurde aus den Reihen der Zuhörer wider-
sprochen, besonders war es Professor Jerusalem- Wien, der die Theorie der Phäno-
menologie als vollkommen falsch ablehnte.
Aus der Generalversammlung der Gesellschaft dürften folgende Mitteilungen
von allgemeiner Wichtigkeit sein. Die Gesellschaft hat sich auch in den letzten
zwei Jahren gut entwickelt, besonders wurde der günstige Ausbau der beiden oben
erwähnten Einrichtungen der Gesellschaft hervorgehoben, sowie das Interesse, das
diesen Einrichtungen von verschiedenen Kreisen entgegengebracht wird. Der nächste
Kongreß findet im Frühjahr 1916 in Turin statt. Daß die Gesellschaft bestrebt ist,
psychologischen Fragen der Gegenwart gerecht zu werden und sie wissenschaftlich
zu ergründen, mag man daraus ersehen, daß die Versammlung den Vorstand beauf-
tragte eine Kommission zu bestimmen, die die Krallschen Pferde prüfen soll. Es
darf wohl behauptet werden, daß die ganze Tagung allen Teilnehmern viel Anregendes
und Wissenswertes bot, und daß sie von Göttingen schieden mit dem Bewußtsein,
618 B. Mitteilungen.
daß die experimentelle Psychologie in den letzten zwei Jahren wieder ein gutes
Stück vorwärts gekommen sei. —
Im folgenden sei nun auf jene Vorträge kurz eingegangen, welche in ihren
Ausführungen Beachtenswertes für den Pädagogen enthielten.
1. C. Heymans-Groningen, Die experimentelle Feststellung individuell-
psychischer Eigenschaften. (In Verbindung mit W. Stern und O. Lipmann.)
Dieser Vortrag hatte den Zweck, die von der Gesellschaft gepflegte Sammel-
forschung in bestimmte Bahnen zu lenken und an die Bearbeitung eines bestimmten
Gebietes, nämlich »die Fähigkeit zur willkürlichen Aufmerksamkeitskonzentration«,
heranzutreten. Nach einigen theoretischen Ausführungen wurde auf die Anordnung
der beabsichtigten Arbeit näher eingegangen.
Für den theoretischen Fortschritt sowie für die praktische Anwendung der
speziellen (differentiellen) Psychologie ist die Ausbildung zuverlässiger experimenteller
Methoden von großer Bedeutung. Die Zuverlässigkeit solcher Methoden läßt sich
nur dadurch gewährleisten, daß in bezug auf möglichst viele Personen experimentelle
Ergebnisse mit sicheren Daten über das Verhalten dieser Personen im Leben ver-
glichen werden. Dem einzelnen Forscher wird es kaum möglich sein, für eine ge-
nügend große Anzahl von Personen das Material für diese Vergleichung zusammen-
zubringen. Deshalb ist ein organisiertes Zusammenarbeiten vieler Forscher nötig.
Die Arbeitsweise ist so gedacht, daß jeder einige wenige ihm genau bekannte Per-
sonen nach dem gemeinsamen Plane experimentell untersucht und des weiteren zu-
sammenstellt, was ihm aus eigener Erfahrung oder durch Angaben der Versuchs-
person selbst über deren entsprechendes Verhalten im Leben bekannt ist. Aus dem
so gewonnenen Gesamtmaterial würde sich dann ermitteln lassen, welche experi-
mentellen Ergebnisse als mehr oder weniger sichere Kennzeichen für die Anwesenheit
bestimmter Eigenschaften gelten dürfen. Der Vorteil dieser Arbeitsweise liegt darin,
daß die Resultate der Experimente mit dem Inhalt der psychographischen Angaben
in Parallele gesetzt werden.
Wie schon erwähnt, soll die Untersuchung »der Fähigkeit zur willkürlichen
Aufmerksamkeitskonzentration« als erste in Angriff genommen werden. Fragebogen
für die Psychogramme, die Fragen nach dem Verhalten bei Vorträgen, Erklärungen,
nach der Ablenkbarkeit und andere mehr enthalten, sowie einfache Apparate für
die experimentelle Untersuchung der Aufmerksamkeit werden jedem, welcher sich
an der Arbeit beteiligen will, von dem Institut für angewandte Psychologie zu-
geschickt.
2. G. Revesz-Budapest, Über musikalische Begabung. Der Redner, der sich
hauptsächlich mit der Erforschung und mit Untersuchungen auf dem Gebiete der
Tonpsychologie befaßt, wurde zu seiner demnächst erscheinenden Arbeit über die
musikalische Begabung angeregt durch die mehrere Jahre sich hinziehende Beob-
achtung des jungen hochbegabten ungarischen Komponisten E. Nyiregyhäzi. Aus
den Untersuchungen, die der Forscher mit diesem vornahm, gewann er die Über-
zeugung, daß es möglich wäre, zuverläßliche Methoden für die Konstatierung und
Prüfung der musikalischen Begabung und Anlage aufzustellen. Das Augenmerk
war weniger auf Methoden für die Bestimmung und Bewertung hochentwickelter
musikalischer Begabung gerichtet, als vielmehr darauf), die musikalische Fähigkeit
bei Kindern und Jugendlichen, besonders bei nicht musiktreibenden und musik-
unkundigen, durch geeignete Methoden auszukundschaften und den Grad dieser
Fähigkeit festzustellen. Zunächst war bei dieser Untersuchung die Frage zu ent-
scheiden, ob die akustischen und musikalischen Eigenschaften, die man für gewöhn-
lich mit der musikalischen Begabung in Beziehung zu setzen pflegt, wirklich be-
stehen. Es war also der funktionaie Zusammenhang aufzusuchen, der angibt, welche
Bedingungen oder wenigstens Symptome der musikalischen Begabung zu den obigen
Eigenschaften vorhanden sind. Zum Zwecke dieser Bestimmung der ee
der Forscher mehrere musikalische Eigenschaften mit einer relativ großen Anzahl
von Schülern und Schülerinnnen geprüft. Hierbei konnten und durften ja nicht die
allerauffälligsten und für die Existenz der musikalischen Begabung am meist
charakteristischen Außerungen geprüft werden, wie z. B. die musikalische Auffassung
beim Vortrage eines Meisterwerks, das musikalische Schaffen, die Fertigkeit im
Transponieren. Es galt vielmehr. solche Fähigkeiten nachzuweisen, die ohne be-
4. Bericht über den VI. Kongreß für experimentelle Psychologie. 619
sondere Übung und ohne technische und theoretische Kenntnisse zum Gegenstand
einer exakten Prüfung gemacht werden können. Eine weitere Aufgabe war die sorg-
fältige Auswahl des Prüfungsmaterials, der sogenannten Tests. Bis jetzt hat der
Forscher folgende Fähigkeiten und Eigenschaften einer Untersuchung unterworfen:
1. Auffassung und unmittelbare Reproduktion akustisch dargebotener rhythmischer
Gebilde. Die Rhythmen wurden einmal durch Händeklatschen, ein anderes Mal
durch musikalisch-rhythmische Figuren gegeben. Die Wiedergabe erfolgte jedoch in
beiden Fällen durch Händeklatschen. Die letztere Art der Vorführung stellte sich
selbstverständlich als die schwierigere und mit der Musikalität in engerer Beziehung
stehende Leistung dar. 2. Absolutes Gehör auf Grund des Höhenmerkmals der Ton-
empfindungen. Anschlagen eines Tones mit der Aufforderung, denselben am Klavier
anzugeben. — Unter absolutem Gehör versteht man allgemein die Fähigkeit, einen
gegebenen Ton unmittelbar, also nicht etwa durch Intervallurteil mit seinem musi-
kalischen Namen zu bezeichnen, und auch die Fähigkeit, auf Aufforderung einen
bestimmten Ton zu singen. Revesz findet diese Definition des absoluten Gehörs für
zu eng und definiert das absolute Gehör als die Fähigkeit, den einzelnen Tönen gegen-
über stets ganz gleiche Verhaltungsweisen zu äußern. 3. Einen in der mittleren Lage
des Gesangsregisters angegebenen Klavierton in einer höheren und tieferen Oktave
durch Singen wiederzugeben. 4. Analyse von Zwei- und Mehrklängen. 5. Musi-
kalisches Gedächtnis. 6. Auffassung und Merkfähigkeit von einfachen und kompli-
zierteren Melodien. Die Wiedergabe erfolgte durch Nachsingen. 7. Transpositon von
Intervallen durch Singen. Dies wurde als eine Vorstufe für die Prüfung des relativen
Gehörs betrachtet. 8. Gute Dienste hat ferner bei gänzlich Unkundigen und Ungeübten
das Herausbringen bekannter Melodien am Klavier geleistet. — In der Diskussion
wurde hervorgehoben, daß es bei der Aufstellung der Prüfungsmethoden nötig sei,
darauf zu achten, daß musikalische Begabung vorhanden sein kann, jedoch die Fähig-
keit, das Gebotene gesanglich richtig wiederzugeben, nicht besteht.
3. D. Katz-Göttingen, Über einige Versuche im Anschluß an die Tonwort-
methode von Karl Eitz.
Seit Jahren herrscht in der pädagogischen und musikalischen Welt der Streit
für und gegen die von Karl Eitz geschaffene Tonwortmethode. Die Schar der An-
hänger und Freunde wächst jedoch. Man darf wohl behaupten, daß durch die Ton-
worte dem Kinde nicht nur eine Erleichterung, sondern auch ein größeres Ver-
ständnis für das Reich der Töne geboten wird. Diese letztere Frage ist nach meiner
Meinung für den Pädagogen die ausschlaggebende. Neben der empirischen Beob-
achtung, die sich natürlich auf eine Reihe von Jahren erstrecken muß, kann, um
den wahren Wert dieser Methode zu prüfen, die experimentell-psychologische Methode
angewandt werden.
Diesen letzten Weg wählte der Referent: Es handelt sich um Versuche, die
einen Beit zur Frage nach dem absoluten Gehör darstellen. Sie wurden an-
gestellt mit 24 elfjährigen Schülern der 5. Klasse der Göttinger Mittelschule, welche
etwa neun Monate lang von Herrn Lehrer Rehkopf nach der Tonwortmethode von
Karl Eitz Gesangunterricht erhalten hatten. Aus den nun folgenden theoretischen
Ausführungen über die Tonwortmethode, sei nur die wohl berechtigte Behauptung
des Vortragenden hervorgehoben: »Im Unterricht werden die Töne stets auf Ton-
worte gesungen, so daß sich innigste Assoziationen zwischen den Tönen und den
Tonworten ausbilden müssen. Dies scheint zur Folge zu haben, daß sich auch bei
den Schülern, die nicht über ein angeborenes absolutes Gehör verfügen, nach gar
nicht langer Übungszeit eine Art absolutes Gehör einstellt.« Es wurden mit den
Schülern zwei Gruppen von Versuchen angestellt. Die erste Gruppe sollte darüber
entscheiden, ob ein dem Schüler genanntes Tonwort die richtige Intonation aus-
lösen, ob eine richtige Notierung von vorgesungenen Tönen stattfinden würde.
Genannt wurden in der ersten Gruppe von Versuchen die Töne cis,, e, fis,, h,, die
entsprechenden Eitzschen Tonworte sind ro, gu, pa, ni. Das Resultat war 55
rıchtige und 41 falsche Intonationen. Nach einigen Tagen wurde die zweite Gruppe
von Versuchen veranstaltet. Es wurden dieselben vier Töne wie in der ersten
Gruppe von Herrn Rehkopf gesummt, und dieselben Schüler, einer fehlte, hatten
sie in Notenschrift zu notieren. Das Ergebnis war 41 richtige und 51 falsche
Notierungen. Das Verhältnis der richtigen zu den falschen Fällen hat sich also hier
620 B. Mitteilungen.
gegenüber dem Fall der Intonation von Tönen nahezu umgekehrt, d. h. die Intonation
von Tönen ihrer absoluten Höhe nach gelang bei Nennung des Tonwortes leichter
als die richtige Bezeichnung von intonierten Tönen. Der Vortragende wies auf ein
ähnliches Resultat hin, das die Untersuchungen von Fr. Bennedick-Jena ergeben
haben.
Aus diesen Resultaten leitete nun der Versuchsleiter die Behauptung ab, daß
die von ihm untersuchten Kinder das absolute Tongedächtnis bis zu einem gewissen
Grad besitzen. Während man bis jetzt das absolute Tongedächtnis fast allein als
auf angeborener Grundlage beruhend ansah, muß hier von einem teilweisen Erwerb
desselben durch Übung gesprochen werden. Der Redner schloß mit folgenden, diese
Methode anerkennenden Worten: »Einstweilen läßt sich zur Erklärung dieser Tat-
sache nur darauf hinweisen. daß durch die stets wiederholte eindeutige Zuordnung
von Ton und Tonwort eine so innige Verschmelzung eintritt, wie sie nach keinem
anderen Verfahren erzielt wird, welches auf assoziatirem Wege zum Erwerb des
absoluten Tongedächtnisses hinführen soll.«
4. H. Gutzmann-Berlin, Über die Beziehungen der Gemütsbewegungen und
Gefühle zu Störungen der Sprache. (Sammelreferat.)
Dieser Vortrag bot besonders für den Heilpädagogen wichtige Darlegungen und
wertvolle Winke für die Behandlung von Kindern mit Sprachstörungen. Denn der
Vortragende legte nicht nur in klarer Weise die Ergebnisse der verschiedenen
Forschungen auf diesem Gebiete in den letzten Jahren dar, sondern er erläuterte
und vertiefte das Theoretische durch eine Reihe von wertvollen Beispielen aus
seiner langjährigen reichen Erfahrung und praktischen Tätigkeit. Der Inhalt seiner
Ausführungen war ungefähr folgender: Die Ausdrucksbewegungen stehen mit Gemüts-
bewegungen meistens in einem kausalen Zusammenhang. Die Sprache im weitesten
Sinn ist reagierende Ausdrucksbewegung. Man unterscheidet Gebärdensprache, Ton-
sprache und artikulierte Lautsprache. Phylogenetisch ist die Gebärdensprache die
älteste, ihre Bewegungen drücken Vorstellungen aus. Wir finden sie auch heute
noch als ein internationales Verständigungsmittel, als eine Weltsprache, sowie beim
Kinde, besonders beim stummen. Bald kommt Rhythmus und Tonhöhe hinzu: Ton-
sprache. Die vollendetste und vornehmste Foım der Ausdrucksbewegung ist die
Lautsprache. Eingehend behandelt der Vortragende dann die Sprachentwicklung beim
Kind. Bereits beim Schreien des Kindes läßt sich eine Differenzierung unterscheiden,
wodurch bereits auf den Einfluß von Lust- oder Unlustgefühlen geschlossen werden
kann. Die ersten Laute sind lallender Art, es treten die bekannten Außerungen wie
»papa«, »mama« auf. Doch sind diese nur reflektorisch zu betrachten; ein Sinn
wird ihnen nur untergeschoben. Von einer wirklichen Nachahmung inbezug auf die
Sprachlaute kann im ersten Lebensjahr nicht gesprochen werden. Als äußerst wichtig
für die Sprachentwicklung wurde das vierte und fünfte Lebensjahr bezeichnet, es
tritt hier die Selbstkritik auf. Lachen der Umgebung über kleine Verfehlungen oder
Sprachschwierigkeiten kann das Kind verstummen machen. Also durch funktionelle
Störungen werden indirekt Gemütsbewegungen ausgelöst. Diese sind wieder rück-
wirkend, und so können aus unbedeutenden Lautverfehlungen schwere Sprachstörungen
entstehen. Beispiele aus der Praxis und entsprechende Behandlungsmethoden
schlossen diesen so interessanten Abschnitt. Eine eingehende Erörterung über das
Stottern und Gemütsveränderungen folgte.
In einem weiteren Abschnitt wurde die Sprache als ein unentbehrliches Ventil
für das Abreagieren von Gefühlen und Affekten behandelt. Die größere motorische
Erregbarkeit bei Stummen wurde durch das Fehlen dieser Abreagierung erklart.
Ziemlich ablehnend verhielt sich der Vortragende gegenüber den Theorien der
Psychoanalytiker, die das Stottern stets als thnymogen, d. h. aus Gemütsfaktoren ent-
standen, verursacht ansehen. So wandte er sich gegen Freud, der das sexuelle
Trauma, und gegen Frank. der Angstzustände als primäre Erscheinungen annimmt.
In der anregenden Diskussion wurde noch der soziologische Faktor: das Ver-
stehen des Sprechens, hervorgehoben.
5. A. Aall-Kristiania, Zur Erforschung der Einprägung und Reproduktion.
Auf Grundlage der Analyse eines außergewöhnlichen Gedächtnisses.
Der Vortragende referierte über die psychologischen Untersuchungen, die von
einem seiner Schüler, Th. Grüner-Hegge, an der jetzt 23jährigen Norwegerin,
5. Zur Stoffauswahl in der Hilfsschule. 621
Fräulein Paula Bergh, Studentin der Philologie an der Universität zu Kristiania,
vorgenommen wurden. Sie besuchte die experimental-psychologischen Kurse von
Aall; hier wurde sie »entdeckt«. Durch die Versuche wurde die Eigenart ihres
Gedächtnisses festgestellt. Es sei darauf hingewiesen, daß es sich diesmal nicht wie
in den bisher beschriebenen Fällen eines phänomenalen Gedächtnisses besonders um
das Behalten von Zahlen handelt. Die meisten Versuche wurden darauf zugeschnitten,
ihr Gedächtnis für sinnvolle Begriffe, zumal für Worte zu erforschen, und zwar
in der Weise, daß ihre unmittelbare Merkfähigkeit, die Gedächtnisspanne für einmal
vorgeführte Eindrücke, beleuchtet wurde. Der Ausfall war erstaunlich. Das Reiz-
material bestand zunächst in zusammenhanglosen Worten, die lebende Wesen oder
Gesichtsobjekte aller Art bezeichneten. Die Worte wurden akustisch dargeboten.
Einige Reihen hatten die Länge von 25, 35, 50, 100, 150 und zuletzt von 350 Worten.
Sofort nach Beendigung der Lesung wurde zum reproduzierenden Hersagen ge-
schritten. Sie machte einige Fälschungen sehr leichter Art; der wesentliche Teil der
Fehler bestand in Auslassungen. Auslassungen kamen bei den fünf ersten Reihen
mit 4, 3, 3, 6, 6°/, vor; bei der Reihe von 350 Worten lautete der Prozentsatz der
Fehler auch nur noch auf 14,2. Derartige Versuche wurden wiederholt; stets blieb
die Fehlerzahl die gleiche geringe.
Nunmehr wurde das Gedächtnis auf sinnlose Silben untersucht. Reihen von
10, 12, 14 Stellen wurden am Wirthschen Gedächtnisapparat visuell dargeboten.
Die Fehler betrugen 50, 33 und 86°/, — also vollständiges Versagen ihres Reproduk-
tionsvermögen. Auch Versuche mit Zahlen, Konsonanten wurden angestellt. Spätere
Nachprüfungen des zuvor einmal eingeprägten und gleich darauf von der Versuchs-
person reproduzierten Stoffes ergaben Fehlerschwankungen nur bis zu 30°/,. Das
eine Mal lag eine Zwischenzeit von einem Jahr vor. Nun einige Angaben über die
Art der Einprägung und Reproduktion bei Fräulein Bergh: sie kennt die Schwäche
ihres mechanischen Gedächtnisses und sträubt sich aufs äußerste dagegen, den Weg
des mechanischen Lernens zu betreten. Sie entfaltet eine ungeheuere Energie, um
den Lernstoff so zu gestalten, wie es die typische Arbeitsweise ihres Gedächtnisses
verlangt. Diese Arbeitsweise kann folgendermaßen charakterisiert werden: Sie gibt
den vorgestellten Inhalten eine örtliche Einrahmung; illustriert diese Inhalte, soweit
es angeht, durch vorgestellte visuelle Sachbilder; stiftet zwischen den Sachbildern
und der für jedes derselben in Gedanken ausgewählten Lokalität eine feste Asso-
ziation. Sie fügt in den Fällen, wo das als Notbehelf gewählte Sachbild nicht mit
dem Originalbegriff äquivaliert, noch ein visuelles Schriftbild des Originalbegriffs
hinzu, immer in engster lokaler Verbindung mit dem ıllustrierenden Ersatzbild.
Schließlich paßt sie alles in einen logischen Totalzusammenhang ein, so daß die auf-
gegebenen Begriffe alle als Einzelheiten einer Erzählung, als Momente einer Geschichte
gedeutet und verarbeitet werden.
Kurz seien noch einige Angaben aus den psychologischen Erklärungen dieses
Phänomens wiedergegeben. Fräulein Berghs Vorstellungstypus ist bis zu einem
gewissen Grad als topomnestisch zu bezeichnen. Jedoch ruht die Reproduktion nicht
auf Assoziation des Gegenstandes mit einem sinnlich gegebenen Ort, sondern sie be-
ruht auf einer Assoziation des illustrativen Bildes mit einer vom Gedanken aus-
gesuchten Lokalität; mit anderen Worten, das topische Gedächtnis ist in diesem
Fall ein autonomes. Es ist anzunehmen, daß dieses besondere Vermögen das Dar-
gebotene so festzuhalten, seine Ursache in einer konstitutionellen Eigenart ihrer
Psyche hat. Der Schlüssel dürfte darin zu finden sein, daß die zentral erregten
Bewußtseinsgebilde bei ihr eine außergewöhnliche Stärke und Zähigkeit besitzen.
5. Zur Stoffauswahl in der Hilfsschule.
Von Hugo Schmidt, Hilfsschullehrer in Bremen.
Nicht selten findet man die Ansicht verbreitet, es sei für die Unter-
richtsarbeit der Hilfsschule von untergeordneter Bedeutung, welche Stoffe
im heimatkundlichen Anschauungsunterricht verarbeitet werden. Haupt-
sache sei der geringe Umfang und die innere Einheitlichkeit des Stoffes.
622 B. Mitteilungen.
Das Übrige müsse die Persönlichkeit des Lehrers und sein methodisches
Geschick bewirken.
Aber gerade für den Sachunterricht der Hilfsschule erscheint mir
noch ein anderer Gesichtspunkt von besonderer Bedeutung. Wenn derselbe
auch schon des öfteren als wichtig oder aus psychologischen Gründen als
selbstverständlich bezeichnet wurde, so lassen doch manche Ailfsschul-
lehrpläne und Abhandlungen diesen Gesichtspunkt vermissen.
Ich denke dabei an den Handlungsreichtum der Sachstoffe. Gewiß
wird auch der Normalschullehrer handlungsreiche Stoffe bevorzugen, aber
in der Hilfsschule sollte dieses Stoffmerkmal zur Bedingung erhoben
werden. Die bloße Beschreibung eines Gegenstandes mag in noch so ge-
schickter Weise vermittelt werden, wirkliches Leben kommt doch erst
dann unter die Kinder, wenn der Gegenstand in eine Handlung hinein-
gesetzt und durch die Handlung betrachtet, aufgefaßt und begriffen wird.
Auch unsere geistesschwachen Hilfsschüler sind eben geschichtenhungrig.
Weben wir deshalb um jeden Unterrichtsgegenstand eine Geschichte, eine
Handlung. Also nicht: Unser Stubenofen; sondern: Vater macht heute
den Ofen sauber! Auch nicht: Der Hofhund; sondern: Unser Leo soll
gewaschen werden.
Recht aufmunternde Stoffbeispiele gibt der Hamburger Hilfsschul-
Lehrplan im Anschauungsunterricht: Ein Pferd ist gefallen. — Wie die
Straße gepflastert wird. — Meine Stiefel sind entzwei. — Wie der Schmied
das Pferd beschlägt. — Wie die Mutter die Lampe putzt. —
Mit solchen Stoffen ist auch unter die schwächsten Kinder Leben zu
bringen. Ein besonderer Vorzug dieser Stoffe besteht noch darin, daß
sie sich ausgezeichnet für selbständige schriftliche Übungen unserer Hilfs-
schüler eignen. Denn noch recht häufig leidet unser Deutschunterricht
unter der mangelhaften Verknüpfung mit den jeweilig behandelten Sach-
gebieten. Diese Verknüpfung ist selbst auf der Unterstufe möglich. Wenn
im Werkunterricht oder im malenden Zeichnen ein Junge auf dem Schlitten
dargestellt worden ist und anschließend Sätzchen wie »ich fahre schlitten«,
»es geht heute fein«, »halte dich fest«, lesend und schreibend geübt werden,
so darf wohl dabei die Annahme gerechtfertigt erscheinen, daß so kein
leeres Wortwissen vermittelt wird.
Aber auch hierbei wird am ehesten mit dem Interesse der Hilfs-
schüler zu rechnen sein, wenn die kleinen Unterrichtseinheiten in Hand-
lungen vermittelt werden. Daß dabei das Warum einer jeden Bewegung
von den Kindern sprachlich zum Ausdruck gebracht werden sollte, ver-
steht sich eigentlich in der Hilfsschule von selbst.
Ebenso sollte im Werkunterricht der kausale Zusammenhang der
einzelnen Handgriffe und Maßnahmen einer, wenn auch noch so kurzen,
Besprechung gewürdigt werden. Es wäre überhaupt recht erwünscht,
wenn die Erfahrungen über die rein unterrichtliche Verwertung des Werk-
und Werkstättenunterrichts mehr als bisher veröffentlicht und ausgetauscht
würden.!) Ich bin der Überzeugung, daß dadurch mancher, der den
1) Soweit es der Raum erlaubt, steht unsere Zeitschrift dafür zur Verfügung.
Die Schriftleitung.
6. Über die schulärztliche Tätigkeit an der Hilfsschule zu Worms. 6923
Werkunterricht noch als einen Fremdkörper im Schulorganismus wertet,
wesentlich anderer Ansicht werden würde. Der außerordentliche Handlungs-
reichtum, dessen kausaler Zusammenhang für den schwachsinnigen Schüler
offener als sonst zutage tritt, muß den Werkunterricht geeignet erscheinen
lassen, ihn zeitweise als Konzentrationsgebiet des Sachunterrichts zu be-
nutzen. Jedenfalls würde auf diese Weise der Tatsache wirksam ent-
gegengetreten, daß ein Teil der Hilfsschüler im Werkunterricht nur
mechanische Arbeit leistet. Jede Teilaufgabe kann in ihrer Einheit auf-
gefaßt und durchdacht werden, mit anderen Worten, sie wird zum Er-
lebnis des Kindes. Erlebnisse sind aber für die Hilfsschularbeit recht
wertvoll.
6. Über die schulärztliche Tätigkeit an der Hilfsschule
zu Worms im Schuljahre 1912/13.
Wie alljährlich, so ist auch jetzt wieder ein gedruckter Jahresbericht über die
schulärztliche Tätigkeit an der städtischen Volksschule über das verflossene Schul-
jahr erschienen, dem ein besonderer Bericht über die Tätigkeit an der Hilfsschule
angeschlossen ist, erstattet von Nerven- und Schularzt Dr. Bayerthal.
Er beginnt mit den Ergebnissen der Aufnahmeuntersuchungen der
zu Beginn des Schuljahres neu in die Hilfsschule eintretenden Kinder. Es
waren deren 21, nämlich 11 Knaben und 10 Mädchen. Bei ihnen fanden sich:
Zahl der
Schulkinder
Erbliche Belastung . 18
Vorgeburtliche schädliche Einwirkungen ei der
Zeugung und auf die Frucht) . .
Geistig minderwertige Geschwister .
Krämpfe in den ersten Lebensjahren .
Verzögerung in der Sprachentwicklung
Rachitis höheren Grades . .
Vorausgegangene Infektionskrankheiten
Störungen im Nervensystem
Augenerkrankungen mit ungenügender Sehschärfe .
Erkrankungen des Gehörorgans n-
Zahnfäulnis . P
Zurückbleiben im Längenwachstum 5
Ungünstiger Ernährungszustand .
Kopfumfang: übernormal groß
normal Fr
unternormal „,
Geistesschwäche höheren Grades. .
Sonstige Erkrankungen (der Haut 1, Leistenbrüche 1)
Die Gesamtschülerzahl der die Hilfsschule besuchenden Kinder betrug im be-
sagten Schuljahre 77. Bezüglich Erkrankungen und Gebrechen wurde bei
ihnen folgendes festgestellt: Es litten 5 an chronischen Augenerkrankungen, 12 an
Störungen der Sprache, 3 an Schwerhörigkeit, 3 an Hautausschlägen größeren Um-
fanges, 1 an den Folgen der cerebralen Kinderlähmung. Zahnfäulnis fand sich bei
69 Kindern oder 90 °/,.
Um den kränklichen und schwächlichen Kindern Hilfe zu bringen, wurde nach
Möglichkeit für ärztliche Behandlung Sorge getragen, Auswahl für Ferien-
kolonien, Badekuren und Milchfrühstück getroffen.
Angelegen ließ man sich ferner sein »die möglichst frühzeitige Ausscheidung
derjenigen Kinder, die in der Schule durch ihre krankhaften Symptome direkt
(durch psychische Infektion) oder indirekt (durch Störung des Unterrichts und Über-
[er
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624 B. Mitteilungen.
lastung des Lehrers) ihre Mitschüler in psychisch-nervöser und sittlicher Be-
ziehung gefährden«. Zwei Fälle waren in dieser Beziehung zu verzeichnen. Das
einemal handelte es sich um ein an Epilepsie leidendes Mädchen. Bei ihm häuften
und verstärkten sich mit der Zeit die Anfälle dermaßen, daß Anstaltsbehandlung
erforderlich wurde. Das anderemal war es ein 13jähriger Junge, »der durch die
bei ihm vorhandenen sexuellen Entartungserscheinungen, die eine vorüber-
gehende Aufnahme in die psychiatrische Klinik in Gießen notwendig machten, und
durch das mangelnde Verständnis des Elternhauses bis zu seiner endgültigen Über-
führung in eine Erziehungsanstalt viel Mühe verursaehte«.
Nicht vergessen sei, daß eingehende Beachtung und Aufmerksamkeit auch ge-
schenkt wurde dem Erbfeinde alles Kultur- und Menschenlebens, dem Alkoholis-
mus, in der richtigen Erkenntnis der Tatsache, daß ihm als Hauptursache der
geistigen Minderwertigkeit unbestreitbar eine nicht zu unterschätzende Be-
deutung zugewiesen werden muß. Es wird Jarüber unter anderem gesagt: »Es
gehört zu den wichtigsten Aufgaben der Schule und des Schularztes, bei den Eltern
und der heranwachsenden Generation das Pflichtgefühl zu wecken und lebendig zu
erhalten, das unschuldige Nachkommen nicht durch die »Sünden« der Väter »bis
ins dritte und vierte Glied« leiden läßt. Schon bei den Aufnahmeuntersuchungen,
bei denen in der Regel die Mutter, nur ausnahmsweise der Vater oder ein anderer
Erziehungsberechtigter zugegen ist, unterläßt es der Unterzeichnete nicht, dies-
bezügliche Ratschläge zu erteilen. e
Schon seit Einführung der Schulärzte an den Wormser Volksschulen (1903)
liȧ sich Dr. Bayerthal angelegen sein und erachtete es als zu seinen Dienst-
verpflichtungen gehörig, in Lehrerversammlungen Vorträge über die recht-
zeitige Erkennung der in pädagogischer Beziehung wichtigen Er-
krankungen des Nervensystems und des Seelenlebens zu halten. Auch
im abgelaufenen Schuljahre wieder nahm Dr. Bayerthal Veranlassung, die pro-
phylaktischen Aufgaben der Schule und des Schularztes auf diesem
Gebiete darzulegen. Er hofft, »daß von den deutschen Schulen die des Kreises
Worms die ersten sind, welche mit einer systematischen Vorbeugung und Be-
kämpfung der Nerven- und Geisteskrankheiten vom ersten Schuljahre an den An-
fang machen werden«.
Worms. Georg Büttner.
7. Zeitgeschichtliches.
Das Preußische Abgeordnetenhaus hat in dritter Lesung einstimmig einen
Gesetzentwurf zur Verbesserung des preußischen Fürsorgeerziehungs-
gesetzes angenommen, durch den die Fürsorgeerziehung mehr vorbeugenden Cha-
rakter bekommen soll (April 1914).
Ein Pädagogisches Zentralinstitut für das Deutsche Reich wird
in Berlin geschaffen.
Eine Ausstellung »Das Kind« findet 1915 in Düsseldorf statt unter
Leitung des bekannten Kinderarztes Professor Schloßmann.
Der Heilpädagogische Seminarkursus in Stettin (vergl. Heft 4, S. 247)
soll 240 Stunden umfassen und 30—35 Teilnehmer haben. Das Honorar beträgt
75 Mark, Der Kursus findet im Mai und Juni statt.
Vom 15.—17. Juni 1914 findet in Halle a. S. eine öffentliche Tagung des
Allgemeinen Fürsorge-Erziehungs-Tages e. V. statt, bei der u. a. Fr. W.
Förster über Autorität und Freiheit in der Erziehung der Fürsorgezöglinge sprechen
wird. Als weitere Verhandlungsgegenstände stehen zur Beratung: Die Organisation
der Fürsorgeerziehungskolonien und die Behandlung der psschopathischen Fürsorge-
zöglinge. — Anfragen sind zu richten an Pastor Backhausen, Hannover-Kleefeld,
Stephansstift.
Die 9. Tagung deutscher Berufsvormünder findet vom 21.—23. Juni
in Zürich statt. Die Themata betreffen zum Teil Schweizer Verhältnisse im Ver-
gleich zu deutschen und österreichischen. Zuschriften an das Archiv deutscher
Berufsvormünder, Fraukfurt a. M., Stiftstraße 30.
7. Zeitgeschichtliches. 625
In Holland wird ein Nationalkongreß für körperliche Erziehung
vorbereitet.
Seit in Hamburg die Stotterheilmethode von Lehrer Elders-Crefeld eingeführt
ist, bestehen dort neben einer Anzahl von Stottererkursen auch Hilfsklassen für
stotternde Schüler; es sind nach Feststellung der Hamburger Schulbehörde die
einzigen Stotterer-Hilfsklassen in Deutschland und Österreich.
Stiftungen, Geschenke usw.: 10000 Mark als König Ludwig III. -Stiftung
für bedürftige krüppelhafte Kinder in München aus Anlaß der Eröffnung
der Königlichen orthopädischen Klinik zu München vom König vom Bayern.
Am 3. April 1914 wurde das Heilerziehungsheim Klein-Meusdorf bei
Leipzig eingeweiht, das bis zu 150 Zöglingen aufnehmen kann. Der Gesamtaufwand
betrug 750000 Mark. Das neue Heilerziehungsheim soll dem Fürsorgeverband
Leipzig die Möglichkeit geben, die Mehrzahl der Fürsorgezöglinge sofort der rich-
tigen Erziehung und Behandlung teilhaftig werden zu lassen. Daneben soll es auch
der wissenschaftlichen Forschung dienen, insbesondere der Aufdeckung der Ursachen
der Verwahrlosung unserer Jugend usw. Die Leitung hat Direktor Knauthe, die
ärztliche Beratung die Ärzte der benachbarten Königlichen Landesheilanstalt Dösen.
Ein Fortbildungskursus »Erzieherhilfe« zur theoretischen und praktischen
Berufsausbildung des Erziehungs- und Aufsichtspersonals der Anstalten der Behörde
für öffentliche Jugendfürsorge wurde in Hamburg geschaffen. Monatlich soll ein
Vortrag gehalten werden; der ganze Kursus soll zwei Jahre dauern. Das inter-
essante und beachtenswerte Programm, das auch eine Einleitung über die Entwick-
lung dieser neuen Einrichtung enthält, ist durch den Geschäftsführer der Helfer-
und Aufsehervereinigung für Kursusangelegenheiten, Fr. Bergold in Hamburg-
Wandsbeck, Armen- und Waisenhaus, zu beziehen.
Wie aus dem Bericht des Pfleg- und Jugendfürsorgeamtes der
Stadt Leipzig über das Ziehkinderwesen im Jahre 1913 hervorgeht, wurden
im Berichtsjahre 13517 uneheliche Kinder in den Kartenregistern der Ziehkinder-
abteilung geführt. 10516 uneheliche Kinder wurden am 31. Dezeinber 1913 beauf-
sichtigt (497 mehr als im Vorjahre). Die Sterblichkeit im ersten Lebensjahre be-
trug bei den ehelichen Kindern 12,73°/,, bei den unehelichen 19,63 °/,.
Als erstes Handbuch der städtischen Fürsorge der Stadt Leipzig
erschien im Umfang von 157 Seiten ein umfangreiches Adressenverzeichnis, das
auch Auskunft über alle möglichen städtischen Einrichtungen der Jugendfürsorge gibt.
In sehr beachtenswerter Weise äußert sich C. L. A. Pretzel über das Thema
»Der Deutsche Lehrerverein und die pädagogische Wissenschaft« in
der »Deutschen Schule«, XVII, 4 (April 1914), S. 209—216. Er betont, daß die
Universitäten sich endlich ihrer Verpflichtungen gegen die Pädagogik bewußt werden
müssen. Sie dahin zu führen sind wohl die pädagogischen Arbeitsgemeinschaften
und Institute in Universitätsstädten mit berufen. Die Gründung eines eigenen
Iustituts seitens des Deutschen Lehrervereins hält Pretzel für unzweckmäßig, wohl
aber scheint es ihm erwünscht, daß dieser die bestehenden Institute unterstütze,
sie für die wissenschaftliche Arbeit in den Lehrervereinen nutzbar mache. Das
gleiche Heft enthält auch einige andere Äußerungen zu diesem in anbetracht der
Kieler Deutschen Lehrerversammlung höchst aktuellen Verhandlungsgegenstand.
Der Bericht über die IX. Schweiz. Konferenz für Erzighung und
Pflege Geistesschwacher (Herisau, 27. und 28. Juni 1913), herausgegeben von
E. Hasenfratz und U. Graf ist im Selbstverlag des Konferenzvorstands erschienen
und kann voın Präsidenten E, Hasenfratz in Weinfelden (Schweiz) bezogen werden.
Der Bericht umfaßt 196 Seiten mit mehreren Tafeln und statistischen Zusammen-
fassungen. An Vorträgen enthält er: Pfenninger, Etwas über das Beobachten mit
Berücksichtigung der irrenärztlichen Untersuchungsmethoden; Graf u. Stärkle, Für-
sorge für die schulentlassenen Schwachbegabten und Schwachsinnigen; Graf, Aus
deutschen Anstalten für schwachbefähigte Jugendliche; Descoeudres, Spiele von
Dr. Decroly für den Unterricht schwachsinniger Kinder; Villiger, Die Erkennung
des Schwachsinns beim Kinde. Wer sich über das Schweizerische Anstalts- und
Hilfsschulwesen zuverlässig orientieren will, wird den Bericht nicht entbehren können.
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 40
626 B. Mitteilungen.
Der Kalender für heilpädagogische Schulen und Anstalten, heraus-
gegeben von Fr. Frenzel, J. Schwenk und Dr. Meltzer, ist im zehnten Jahrgang
(1914/1915) soeben im Verlag von Carl Marhold zu Halle a. $. erschienen
(XXVIII und 242 Seiten. Preis in Leinen gebunden 1,20 Mark). Neben geschicht-
lichen Daten von Max Kirmsse enthält der erste Teil einen Aufsatz Dr. Meltzers »Zur
Ernährung unsrer Kinder«, in der besonders auf die Schäden des herkömmlichen
übermäßigen Fleischgenusses hingewiesen wird; hoffentlich finden diese Ausführungen
die wünschenswerte Beachtung. Der Kalender orientiert über die Hilfsschulen
Deutschlands, Österreichs, Ungarns, über die Spezial- und Nebenklassen der Schweiz
und Finnlands, über die Anstalten Deutschlands, Österreichs, Ungarns. der Schweiz,
Dänemarks, Schwedens, Rußlands, Englands, der Vereinigten Staaten. Es folgen ver-
schiedene gesetzliche Bestimmungen und behördliche Verfügungen, Angaben über
die Hiifsschul-Vereinigungen und verwandte Vereinigungen, eine kurze Literatur-
Übersicht (in der Rubrik F. Zeitschriften haben sich eine Reihe von Fehlern und
Ungenauigkeiten eingeschlichen, die hoffentlich im nächsten Kalender nicht mehr zu
finden sind), eine Lehrmittel-Umschau, Stundenpläne, Schülerverzeichnis und Notiz-
raum. Der Kalender ist wegen seiner Zusammenstellungen unentbehrlich für jeden
Heilpädagogen.
Von unserem Mitarbeiter Dr. jur. Karl Struve-Hamburg erschien soeben
bei Otto Liebmann - Berlin eine umfangreiche Untersuchung über »Die straf-
rechtliche Behandlung der Jugend in England unter Berücksichtigung der erzieh-
lichen Maßnahmen« (VIII und 302 Seiten), die eine wertvolle Ergänzung zu der
Übersetzung von Russels »Junge Galgenvögel« in unserer Zeitschrift bildet. Wir
werden auf das Buch noch eingehender zurückkommen.
Der bekannte Lehrer G. Temme-Nordhausen (Harz) gibt als Organ der von
ihm geschaffenen Wanderausstellung für Volksgesundheit und Jugendpflege seit dem
16. April monatliche Mitteilungen aus der Wohlfahrtsarbeit in der Provinz Sachsen
heraus: Die Wohlfahrtspflege. Sie sollen allen Städten, Wohlfahrtsorganisationen,
Lehrervereinen usw. der Provinz regelmäßig kostenlos zugehen. Bestellungen sind
zu richten an die Geschäftsstelle der Wanderausstellung, Nordhausen (Harz), Hohe-
kreuzstraße 15.
Eine neue Zeitschrift für Individualpsychologie (Studien aus dem Ge-
biete der Psychotherapie, Psychologie und Pädagogik), herausgegeben von Dr. med.
Alfred Adler-Wien und Dr. phil. Carl Furtmüller-Wien erscheint vom 1. April
1914 an im Verlag von Ernst Reinhardt in München. Der Bezugspreis beträgt für
12 Hefte jährlich 12 Mark.
Unter dem Titel Beiträge zur pädagogischen Forschung geben die
Schriftleiter des Archiv für Pädagogik, Max Brahn und Max Döring ın Leipzig, eine
Reihe umfangreicherer Untersuchungen und Abhandlungen heraus, die als Ergänzungs-
und Beihefte zum Archiv für Pädagogik gedacht sind. Es handelt sich dabei um
kinderpsychologische, methodologische, didaktische und organisatorische Fragen, die
nach experimentellen, statistischen und anderen exakten Methoden untersucht wurden.
Als erstes Heft erschien eine Arbeit von Konrad Brandenberger über Die
Zahlauffassung beim Schulkinde aus dem psychologischen Institut der Uni-
versität Zürich mit einer Einführung von Professor Lipps (Leipzig, Fr. Brandstetter,
1914. Preis 2,50 Mark, für Abonnenten des »Archiv für Pädagogik« 2 Mark). Für
die Praxis ergibt sich aus dieser Arbeit die Forderung, daß aller Rechenunterricht
auszugehen hat von der Zahlenreihe, die mit dem Schulkinde planmäßig erarbeitet
werden muß. Für die weitere Unterrichtsgestaltung enthält die Arbeit wertvolle
Hinweise.
Als Beilage zu Nr. 18 der Münchener Medizinischen Wochenschrift vom 5. Mai
1914 erschien eine umfangreiche wertvolle Arbeit des Münchener Rassehygienikers
Max von Gruber über »Ursachen und Bekämpfung des Geburtenrück-
gangs im Deutschen Reiche. (Auch als Broschüre zum Preise von 2 Mark
durch den Buchhandel zu beziehen. Verlag: J. F. Lehmann ın München.)
C. Zeitschriftenschau. 627
C. Zeitschriftenschau,
Jugend- und Schulhygiene.
E. G., Fürsorgeärzte. Zeitschrift für Kinderpflege. IX, Februar 1914, S. 21—22.
Die schulärztliche Tätigkeit läßt sich ergänzen durch Schaffung von Fürsorge-
ärzten, die- die Kinder im vorschulpflichtigen Alter überwachen.
Fürst, Moritz, Zur Hygiene des vorschulpflichtigen Kindes. Der Säemann. 1914,
3 (20. März), S. 103—105.
Kurze Gedanken über die Wohnungsfrage, die Kleidung und Ernährung, das
Baden und Reinhalten des vorschulpflichtigen Kindes.
Frank, Kurt, Vom Lutschen. Zeitschrift für Kinderpflege. IX, März 1914,
S. 46—47.
Das Lutschen, das sich oft bis in die Schulzeit hinein erstreckt, muß dem
Kinde abgewöhnt werden. Bei besonders hartnäckigen Fällen darf man vor etwas
gewaltsamen, Mitteln (Anbinden der Arme in Mullbinden in a Haltung
an den Bettgittern) nicht zurückschrecken.
Doll, E. A., Mental and physical development of normal ee The Training
School, X, 8 (Dezember 1913), S. 113—120.
Eine kurze Kinderentwicklungsgeschichte nach folgenden Lebensperioden: 1—3,
4—6, 7—9, 10—12 Jahre und endlich eine Periode der Pubertätsentwicklung (bis
18 oder 20 Jahren). Beachtenswert wegen der gedrängten Zusammenstellung.
Lorentz, Friedrich, Die biologischen Grundlagen der Schülerermüdung. Die
Deutsche Schule. XVII, 2 (Februar 1914), S. 94—98.
Die Arbeit berichtet kurz über die von Weichardt, Lorentz und Lobsien an-
gestellten Untersuchungen mit dem Antikenotoxin, durch dessen Einfluß die Leistungen
verbessert, die Korrekturen vermindert werden (Beweis für die bessere Qualität).
»Die Weichardtschen Forschungen eröffnen ganz neue Perspektiven für die Hygiene
der körperlichen und geistigen Arbeit. Wenn es uns auch nicht gelingen kann und
soll, die Ermüdung als einen naturnotwendigen Lebensvorgang aus der Welt zu
schaffen, so dürfte es doch vielleicht möglich sein, in bestimmten Fällen die Leistungs-
fähigkeit zu steigern und zu bewirken, daß die Ermüdung später als sonst in die Er-
scheinung tritt.«
Thiele, Versuch einer Biologie der Schulanfänger. Zeitschrift für Schulgesundheits-
pflege. 26, 6 (Juni 1913), S. 377—386; 12 (Dezember), S. 827—837.
Biologie der Schulanfänger ist die notwendige Zusammenstellung aller gesund-
heitlichen Tatsachen und Erlebnisse des Kindes bis zur Schulreife und die Auf-
nahme des gegenwärtigen Zustands bei der Schulaufnahme. Aus ihr wird sich eine
gewisse Grundlage für die Beurteilung des Körperzustandes des Schulanfängers über-
haupt ergeben. Die Eltern haben einen Fragebogen auszufüllen, der in Chemnitz
20 Fragen umfaßt. Der Arzt stellt den Gesundheitsschein aus. Von 5921 ausge-
teilten Fragebogen waren 5538 brauchbar. — Die Bearbeitung des Materials ergab
eine Reihe wertvoller Daten, von denen hier nur auf einige hingewiesen sei: die
allgemeinen Familienverhältnisse waren bei allen Kindern im großen und ganzen
gleich. Einzige Kinder scheinen in der Mehrzahl Mädchen zu sein (9,63 °/, Knaben,
11,76 °/, Mädchen). Mit Tuberkulose belastet waren 314 = 11,49 °/, Knaben und
278 = 9,91 °/, Mädchen. Nicht gestillt waren 1328 = 48,61 °/, Knaben und 1297
= 46,22 °/, Mädchen. Von den gestillten Kindern wurden nur ungefähr ein Drittel
40*
628 C. Zeitschriftenschau.
länger als ein Vierteljahr gestillt. Der Ernährungszustand war genügend bei 2668
= 97,66 °/, Knaben und bei 2729 = 97,26 °/, Mädchen, ungenügend bei 64 = 2,34/,
Knaben und bei 77 = 2,74 °/, Mädchen. Lungentuberkulose und Tuberkuloseverdacht
ist bei 31 = 1,13°/, Knaben und bei 25 = 0,89 °/, Mädchen notiert, Herzstörungen
bei 67 = 2,45 °/, Knaben und 54 = 1,92 °,, Mädchen. Nach Ausschluß gehirnkranker
und auffallend geistig minderwertiger Kinder bei der Schulanmeldung blieben noch
8 = 0,29 °/, epileptische Knaben und 4 = 0,14 °/, epileptische Mädchen.
Wichtiger als die Mitteilung der gesamten Ergebnisse ist die wissenschaftliche
Bearbeitung, für die ein durchgeführtes Beispiel gegeben wird. Dieses zeigt, daß
schon in den ersten sechs oder sieben Lebensjahren wesentliche Einflüsse bestimmter
Verhältnisse (Familien-, Erblichkeits-, Aufzuchtsverhältnisse) oder Krankheiten nach-
zuweisen sind.
Kühner, Fritz, Die anthropologischen Grundlagen der höheren Schule. Päda-
gogisches Archiv. 55, 1913, 10, S. 555—570.
Die Arbeit weist in erfreulicher Weise dem Oberlehrer Wege, wie er den
Schüler erforschen kann und soll. Selbstredend soll der Schularzt nicht ausge-
schlossen werden. Er soll mit dem Lehrer zusammenwirken. Auf die -ungenügende
psychiatrische und die meist ganz fehlende psychologische Schulung des Mediziners
wird mit Recht hingewiesen. Vielleicht ist dieser Hinweis mit ein Fingerzeig dafür,
daß vom Schularzt doch eine besondere Vorbildung zu verlangen ist (gründliches
psychiatrisches und psychologisches Wissen und Können). Zum Schluß gibt Kühner
eine ganze Reihe von Angaben über Listen und Beobachtungen, die aufgestellt und
gemacht werden sollen. Er sieht darin vorläufig nur Richtlinien und fordert die
Lehrer der höheren Schulen zur Mitarbeit daran auf. — Als beachtenswert heben
wir noch folgenden Satz hervor: »Es ist eine Rechtsfrage, ob dem Schularzt nicht
auch die Befugnis, amtlich das Elternhaus aufzusuchen (natürlich nur in ganz be-
sonderen Fällen), zugesprochen werden muß« (S. 561).
Makower, A. A., Untersuchungen über Wachstum. Zeitschrift für Schulgesundheits-
pflege. 27, 2 (Februar 1914), S. 97—120.
Die Untersuchungen wurden während drei Jahren in einem jüdischen Privat-
gymnasium vorgenommen. Aus den Ergebnissen, die in zahlreichen Tabellen nieder-
gelegt sind, sei hervorgehoben: die Zunahme des Wuchses während des ganzen
Jahres ist durch die während der Ferien bedingt; Wuchs und Gewicht nehmen am
hauptsächlichsten zu im Alter von 12 bis 16 Jahren; während der Prüfungen er-
leiden die Schüler zum Teil starke Gewichtsverluste. Am Schlusse seiner Aus-
führungen fordert der Verfasser die Anstellung des Schularztes im Hauptamte. Der
Schularzt soll anscheinend auch die Bebandlung der kranken Schüler übernehmen.
Hanauer, Konstitution und Krankheiten im schulpflichtigen Alter. Zeitschrift für
Kinderpflege. IX, Mai 1914, S. 88—85.
Nach den verschiedenen Untersuchungen darf man annehmen, daß etwa 50
bis 80°, aller Schüler mit einem Leiden behaftet sind. Es wird auf verschiedene
frühere Untersuchungen verwiesen, besonders auf die Schmid-Monnards (wie es statt
Schudt-Monnard heißen muß).
Biesalski, Staat und Krüppelfürsorge in Preußen. Zeitschrift für Krüppelfürsorge.
VII, 1 (Januar 1914), S. 3—16.
In der Arbeit wird das Wesentlichste aus einer Denkschrift mitgeteilt, die
vom Preußischen Landesverband für Krüppelfürsorge an die Herren Minister des
Innern und des Kultus gerichtet wurde. Die preußische Krüppelfürsorge kann zur-
zeit nicht die aus dem regelmäßigen Bevölkerungszuwachs hinzukommende Krüppel-
C. Zeitschriftenschau. 629
zahl bewältigen. Verschiedene Bundesstaaten sind Preußen voraus. In Oldenburg
ist die Krüppelfürsorge sogar verstaatlicht. Es wird eingehend dargelegt, was für
die Krüppelfürsorge zu erhoffen ist von einem Eingreifen des Staates in Preußen.
Nachdrücklich wird auch die Schaffung von Lehrstühlen der Orthopädie an den
preußischen Universitäten verlangt.
Wachsner, Fritz, Orthopädische Jugendfürsorge. Der Kinder-Arzt. XXV, 3
(März 1914), S. 49—54.
Da es in der Orthopädie vor allem auf möglichst frühzeitige Behandlung an-
kommt, müssen orthopädische Fürsorgestellen für das Säuglingsalter und für die
vorschulpflichtige Jugend geschaffen werden. Am besten würden diese Einrichtungen
selbständig gestaltet.
Peters, Einfluß der Rachitis auf Körperbeschaffenheit und Leistungen der Volks-
schulkinder. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 27, 4 (April 1914), S. 321
bis 332.
Als wesentliche Ursache der Rachitis kommt fehlerhafte Ernährung in Betracht.
Untersucht wurden 9504 Volksschulkinder zu Halle a. S. Die Ergebnisse sind in
verschiedenen Tabellen übersichtlich dargestellt. Für eine Gruppe wichtiger Organe
ergeben sich danach bei den rachitischen Kindern ungünstigere Verhältnisse als bei
den anderen. Besonders häufig werden die Zähne geschädigt. Vielleicht stehen
damit im Zusammenhang die Drüsenschwellungen. Die Rachitis vermag den allge-
meinen Körperzustand nicht nur zu schädigen, sondern auch da, wo sie keine Schädi-
gungen zu hinterlassen scheint, die Entwicklung zu einen besonders kräftigen
Organismus zu verhindern. Sie fand sich unter den Schlechterlernenden verbreiteter
als bei der Gesamtheit, wobei sich das Plus allerdings fast ausschließlich auf die
untersten Mädchenklassen erstreckte. Im wesentlichen wird die Beeinträchtigung
der Lernfähigkeit nur insoweit bestehen, als diese eben durch die körperliche Be-
schaffenheit mit bedingt wird.
Wolf, Hermann, Die Skrofulose. Das proletarische Kind. April 1914.
In allgemein verständlicher Form werden die Formen der Skrofulose, ihre Ur-
sachen, ihre Bekämpfung und Verhütung besprochen. Sie wird als eine Krank-
heit des proletarischen Kindes betrachtet. Unter den Bekämpfungsmaßnahmen wird
vor allem Verzicht auf Nachkommen von seiten tuberkulös veranlagter Personen
gefordert. Dann aber ist auch die Schaffung besserer Ernährungs- und Wohnver-
hältnisse unerläßlich.
Thiele, Über Schulkinder mit offener Lungentuberkulose. Zeitschrift für Schul-
gesundheitspflege. 27, 1 (Januar 1914), S. 73—81.
Man ist vielfach zu der Annahme geneigt, daß Kinder zur Tuberkuloseverbrei-
tung nicht oder nur wenig beitragen. In Chemnitz wurden unter 44000 Volksschul-
kindern in drei Jahren 74 Kinder mit Tuberkelbazillen im Auswurf ermittelt (außer-
dem noch vier vorschulpflichtige Kinder und vier Kinder aus Vorortsschulen). Im
4. und 5. Schuljahr (9.—11. Lebensjahr) steigt die Zahl der Kinder mit offener
Tuberkulose beträchtlich. Mit Steinhaus und Peters ist Thiele der Ansicht, daß die
schwer anämischen Kinder zum mindesten zu 50°, zu den tuberkulös-erkrankten
Schulkindern zu rechnen sind. Auch in anderen Großstädten würde man zu ähn-
lichen Ergebnissen wie in Chemnitz kommen. Unter den 78 tuberkulösen Kindern
wurden 13 = 16,66°/, im klinischen Sinne geheilt. Außerdem wurden bei 46 Kindern
durch mehrere Untersuchungen keine Bazillen mehr im Auswurf festgestellt. Der
Gebrauch einer Spuckflasche seitens dieser Kinder ist nicht durchzusetzen. Es
kommt darauf an, die tuberkulös-erkrankten Kinder für ihre Umgebung unschädlich
630 C. Zeitschriftenschau.
zu machen, ihnen aber gleichzeitig nicht die Möglichkeit zu nehmen, sich geistig
auszubilden. Das Ideal wäre eine Lungenheilstätte mit Schulunterricht, die von
großen Städten wobl eingerichtet werden könnte. Daß Kinder, die an offener
Tuberkulose gelitten haben, unter ständiger ärztlicher Überwachung stehen müssen,
ist selbstverständlich. Für offene Schulkindertuberkulosen ist eine Meldepflicht der
Fürsorgestelle gegenüber der Schulverwaltung unbedingt notwendig.
Cassel, Beitrag zur Heine-Medinschen Krankheit. Deutsche Med. Wochenschrift.
39, 51 (18. Dezember 1913), S. 2507—2509.
Seit einigen Monaten ist in Berlin eine, wenn auch nicht sehr ausgebreitete,
Epidemie von Kinderlähmung festzustellen. Einzelne Fälle werden beschrieben.
U. a. wird die Forderung erhoben, gesunde Geschwister erkrankter Kinder vom
Schulbesuch fernzuhalten, zumal sich unter ihnen nicht erkrankte »Keimträger«
finden können.
Uffenheimer, Albert, Der Stand der Heine-Medinschen Krankheit (epidemischen
Kinderlähmung) in Bayern. Münch. Med. Wochenschrift. 60, 51 (23. Dezember
1913), S. 2833—2837.
Die Zahl der in Bayern bekannt gewordenen Erkrankungsfälle ist zwar nicht
erschreckend hoch, berechtigt aber, von einer Epidemie zu sprechen, die sich vor-
wiegend in den Städten lokalisiert und für deren Weiterverbreitung besonders die
Sommer- (aber auch die Herbst-) Monate günstig sind. Über den Verlauf der
Epidemie, die zumeist jüngere Kinder betraf, werden einige Mitteilungen gemacht.
Jedenfalls ist die Anzeigepflicht der epidemischen Kinderlähmung durchaus notwendig.
Lust, F., und Rosenberg, F., Beitrag zur Ätiologie der Heine-Medinschen Krank-
heit (Poliomyelitis acuta anterior). Münch. Med. Wochenschrift. 61, 3 (20. Januar
1914), S. 121—126.
Vom März bis Dezember 1913 wurden der Heidelberger Kinderklinik 71 Fälle
überwiesen; nach Beendigung des 4. Lebensjahres war die Altersdisposition eine sehr
geringe. Ein sicherer Kontakt ließ sich nur bei 6 dieser Fälle nachweisen. Die
Annahme der Verbreitung der akuten Kinderlähmung durch Kontagiosität steht also
nicht unerschütterlich da. Die Verfasser berichten dann über Versuche mit Hühnern,
da man dazu neigte, das Hausgeflügel als Krankheitsüberträger zu betrachten. Die
Beobachtungen lassen keinerlei prophylaktische sanitäre Maßnahmen in dieser Hin-
sicht als notwendig erscheinen.
Henneberg, H., Ein Beitrag zur Masernfrage. Zeitschrift für Schulgesundheits-
pflege. 27, 3 (März 1914), S. 184—198.
Die Mortalität bei Masern übertrifft die beim meldepflichtigen Scharlach. Ein-
gehende Zahlen beweisen das. »Je jünger ein Kind ist, um so mehr ist es ge-
fährdet, und je trauriger seine Lebensverhältnisse sind, um so eher wird es den
Masern erliegen.e Jedenfalls erscheint eine gesetzliche Anzeigepflicht bei Masern
dringend wünschenswert. Beim Auftreten eines Masernfalles in einer Schulklasse
sind alle noch nicht durchmaserten Kinder der Klasse auf 10—14 Tage auszu-
schließen. Bei mangelnder Isolierung sind auch Geschwister masernkranker Kinder
vom Schulbesuch auszuschließen. Bei eigentlichen Epidemien ist zwangsweiser
Schulschluß zu fordern. Wie in früheren Arbeiten fordert der Verfasser nachdrück-
lich Hygieneunterricht. — Für die Masernbekämpfung ist die Anstellung von Schul-
schwestern von nicht zu unterschätzender Bedeutung.
Stephani, Kurzer Beitrag zur Ätiologie der Masern als Schulkraukheit. Ebenda.
S. 198—200.
»Von 44 in die Schule eingeschleppten Fällen entstanden zunächst 412 Fälle
C. Zeitschriftenschau. 631
in der Schule, dann 484 neue Erkrankungen in den Familien bezw. bei anderen
Hausgenossen. Es waren somit insgesamt 896 Krankheitsübertragungen durch die
Schule zu verzeichnen, die bei 320 Kindern Nachkrankheiten und 13 Todesfälle ver-
ursachten. Die 456 Masernfälle verursachten insgesamt 7849 Tage Schulversäum-
nisse. Dabei ist zu bemerken, daß einige der Kinder auch ihre Masern während
der Ferien durchmachten. Diese Ferientage sind als Schulversäumnistage nicht ge-
zählt. Trotzdem kommt auf das einzelne Kind im Durchschnitt eine Schulversäumnis
von 17,2 Tagen.« (Mannheim, Schuljahr 1911/12.)
Schultz, Über eine katastrophale Klassenepidemie von Diphtherie. Über den Ein-
fluß der Schule auf die Ausbreitung der Diphtherie und Maßregeln zur Be-
kämpfung der Diphtherie. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 26, 11 (No-
vember 1913), S. 705—723; 12 (Dezember), S. 788—827.
Die Ansichten über den Einfluß des Schulbesuchs auf die Ausbreitung der
Diphtherie sind noch nicht geklärt. Die Arbeit liefert einen eingehenden Beitrag
zu dieser Frage, aus dem hervorgeht, daß die Schule ganz sicher sehr viel zur Ver-
breitung beiträgt. Die Einzelfälle sind zusammengestellt. Die bisherigen Maßregeln
zur Verhütung der Ausbreitung von Diphtherie durch die Schule sind unzulänglich.
Vor allem muß die Einschleppung von Keimen in die Schule verhindert werden.
Den Bazillenträgern ist größte Aufmerksamkeit zu widmen. Weitere medizinisch-
praktische Vorschläge werden gemacht,
Gettkant, Die Diphtheriebekämpfung in den Schulen. Deutsche Med. Wochen-
schrift. 39, 51 (18. Dezember 1913), S. 2515—2516.
Plan der Diphtheriebekämpfung in Berlin-Schöneberg. Die Schulsperre wurde
auch ausgedehnt auf Kinder einer Klasse mit Diphtherieerkrankung, wenn diese
wegen Mandelentzündung gefehlt haben. Die Bekämpfungsmethode ist aus mehr-
jähriger praktischer Erfahrung hervorgegangen.
Gettkant, Die Diphtheriebekämpfung in den Schulen. Zeitschrift für Kinderpflege.
IX, April 1914, S. 73—74.
Es wird der Plan der Diphtheriebekämpfung mitgeteilt, der von der Gesund-
heitskommission zu Berlin-Schöneberg 1911 festgelegt wurde.
Bachauer, Diphtheriebekämpfung in den Volksschulen Augsburgs.. Münch. Med.
Wochenschrift. 61, 11 (17. März 1914), S. 603—604.
Seit Februar 1913 wird in den Volksschulen Augsburgs die Diphtherie nach
modernen Gesichtspunkten bekämpft, d. h. die Bazillenträger werden bakteriologisch
festgestellt und von der Schule ferngehalten. Die Erfolge waren sehr gut. Schwierig-
keiten bietet der außerschulische Verkehr infizierter und gesunder Kinder, dem durch
Aufklärung der Eltern entgegenzuwirken wäre. Für die Bekämpfung ist auch die
Untersuchung der Wohnungsgenossen erkrankter Kinder unbedingt notwendig. In
Augsburg fand man 25 °/, derselben infiziert. Zu bemerken ist noch, daß besonders
lange der Schule ferngehaltene Kinder durch Erteilung von Nachhilfeunterricht in
den Stand gesetzt wurden, das Versäumte wieder nachzuholen.
Riebold, Georg, Sind die Diphtheriebazillenträger für ihre Umgebung infektiös?
Münch. Med. Wochenschrift. 61, 17 (28. April 1914), S. 923—924.
Auf Grund seiner Beobachtungen glaubt der Verfasser, daß die Bazillenträger
stets infektiös sein können. Da sie die Quelle neuer Epidemien werden können,
muß die Prophylaxe besonders sie im Auge behalten. Am besten werden sie isoliert
oder doch von ihrer Eigenschaft in Kenntnis gesetzt und zur Vorsicht angehalten.
Für die Schule ist die Frage sehr schwierig. Jedenfalls aber sollte man den Bazillen-
trägern stets größte Beachtung widmen.
nn
632 D. Literatur.
D. Literatur.
Hermann, Grundlagen für das Verständnis krankhafter Seelen-
zustände (psychopathischer Minderwertigkeiten) beim Kinde in
30 Vorlesungen. Für die Zwecke der Heilpädagogik, Jugendgerichte und Für-
sorgeerziehung. Mit 5 Tafeln. Zweite Auflage. Langensalza, Hermann Beyer
& Söhne (Beyer & Mann), 1911. X1V u. 180 S. Preis brosch. 3 M. Geb. 4 M.
Voraussetzung für eine erfolgreiche Tätigkeit des Lehrers und Erziehers ist
die Kenntnis der Psychologie. Diese belehrt aber nur über die normalen Erschei-
nungen des Seelenlebens und ist daher nicht ausreichend, da der Pädagoge sich in
seiner Wirksamkeit oft Erscheinungen gegenüber sieht, die das Gebiet des Normalen
überschreiten. Unbedingt notwendig ist deshalb eine Kenntnis der abnormen seeli-
schen Erscheinungen, jener Erscheinungen, die unter dem Namen der »psychopathi-
schen Minderwertigkeiten« zusammengefaßt werden. »Eine allgemein verständliche
Einführung in die Lehre von den leichteren psychischen Abweichungen im Kindes-
alter«e zu geben, hat sich der Verfasser in seinem Werke zur Aufgabe gestellt.
Diese Aufgabe ist eine große und schwierige, die Lösung ist ihm aber in trefflicher
Weise gelungen. Ohne Voraussetzung irgend welcher Kenntnisse führt der Ver-
fasser allmählich in den Stoff ein; die Darbietung desselben zeichnet sich durch
Einfachheit und Klarheit in der Sprache aus. Für die Darstellung bat H. die Form
der Vorlesung gewählt, wodurch sie an Anschaulichkeit und Lebendigkeit gewinnt.
Fünf zum Teil farbige Tateln dienen der Erläuterung des Gehirnbaues und der Ge-
hirntätigkeit. Dem Werke ist ein Inhaltsverzeichnis beigegeben, das sich durch
große Ausführlichkeit auszeichnet; der Anhang bietet ein Sachregister, das zugleich
die wichtigsten Fachausdrücke gut verdeutscht. Durch vieiseitigen Gebrauch der
Fachausdrücke, die dem Texte in Klammern beigefügt sind, macht Verfasser den
Leser mit ihnen vertraut und befähigt ihn allmählich zum Studium einschlägiger
wissenschaftlicher Werke. Bei den psychiatrischen Ausführungen folgt der Ver-
fasser Autoritäten auf diesem Gebiete, so daß das Gebotene als »gesichertes Allge-
meingut der Wissenschaft« angesprochen werden darf. In der Psychologie stützt er
sich allein auf die physiologische Psychologie, weil wir ihr die »Existenz einer
modernen Psychiatrie, eines Verstehens abnormer Seelenzustände leichter und
schwerer Art als Gehirnkrankheiten einzig und allein verdanken«, Möge dem Werke
eine recht weite Verbreitung beschieden sein — im Interesse der Lehrer und Kinder.
Danzig-Langfuhr. Franz Matschkewitz.
Ziemke, Ernst, Die Beurteilung jugendlicher Schwachsinniger vor Ge-
richt. »Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung« Heft 92. Langen-
salza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1911. 24 S. Preis 0,35 M.
Die Kriminalität der Jugend weist andauernd eine Steigerung auf, die größer
ist, als sie der Bevölkerungszunahme entsprechen würde. Unter den Kriminellen
sind etwa ein Drittel angeboren schwachsinnige Individuen. Diese große Zahl ist
auf die moralische und intellektuelle Verkümmerung der jugendlichen Schwach-
sinnigen zurückzuführen, die sie bei ungünstigen äußeren Verhältnissen mit zwingender
Notwendigkeit dem Verbrechen in die Arme treibt. Will man dem Kriminellwerden
der Jugendlichen entgegenwirken, dann ist eine frühzeitige Erkennung des Schwach-
sinns und eine zweckmäßige Einwirkung erforderlich. Ziemke geht daher auf die
wichtigsten Erkennungszeichen des Schwachsinns ein, wobei er sich auf Ziehens
Werk »Die Erkennung des Schwachsinns im Kindesalter« stützt. Unter den krank-
haften Erscheinungen, welche beim Schwachsinn auftreten, hebt der Verfasser be-
sonders die ungünstige Beeinflussung des Aussagemechanismus hervor, die äußerste
Vorsicht bei der Bewertung der Zeugenaussagen Schwachsinniger erheischt. Des
weiteren erörtert Ziemke unter Zugrundelegung der $$ 51 und 56 des Strafgesetz-
buches die juristischen Gesichtspunkte, nach denen die Beurteilung der jugendlichen
Schwachsinnigen vor Gericht zu erfolgen hat. Für eine gerechte Beurteilung er-
achtet der Verfasser die Mitwirkung des Lehrers für notwendig. Ein Studium dieser
Schrift ist daher empfehlenswert.
Danzig-Langfuhr. Franz Matschkewitz.
D. Literatur. 633
Kuhn-Kelly, Über Mißhandlung der Kinderseele. Heft 451 des »Päda-
gogischen Magazins«. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann),
1911. 20 S. Preis 0,30 M.
Der Verfasser wendet sich in seiner Schrift gegen eine unverständige und
unpädagogische Behandlung der kindlichen Seele. Er sagt auf S. 3/4: »Es gibt nichts
Traurigeres für ein Kind, als wenn es Seelenmißhandlungen zu erdulden hat, deren es
sich auch nicht im geringsten erwehren kann.«e Die Ausführungen des Verfassers
können nicht befriedigen, dazu sind sie viel zu allgemein und theoretisch gehalten.
Er hätte an packenden Beispielen zeigen müssen, inwiefern die Behandlung eine
verkehrte ist, wie sie schlechte Erziehungsergebnisse zeitigen muß, wie die richtige
Behandlung zu erfolgen hat und wie durch eine solche den bösen Folgen vorgebeugt
werden kann. Es wäre dieses Verfahren um so notwendiger, als Kuhn-Kelly für
Eltern schreibt, das pädagogische und psychologische Verständnis derselben aber sehr
gering ist; schätzt doch der Verfasser selbst die Zahl der Eltern, die ihren Kindern
seine tadellos korrekte, pädagogische Erziehung« zu geben vermögen, auf kaum 5°/,.
Auch ist es nur einer kleinen Zahl von Eltern möglich, eingehende Studien zu
machen, um die delikate Natur der menschlichen und kindlichen Seele zu erfassen,
da hierzu Zeit und Fähigkeit fehlen. Wollte der Verfasser mit seiner Schrift Nutzen
stiften, dann hätte er die theoretischen Ausführungen beschränken und mehr in die
Tat umsetzbare Lehren bieten müssen; in dieser Form wird der Nutzen nur ein
geringer sein.
Danzig-Langfuhr. Franz Matschkewitz.
Plecher, Hans, Das Problem der Willenserziehung im Lichte der
Schulpraxis. Päd. Mag., Heft 502. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne
(Beyer & Mann). 1912. 468. 60 Pf.
Die Psychologie und Ethik, die Grundlage und Tendenz des Willens wurde
schon wiederholt und eingehend behandelt, jedoch die praktische Bildung desselben
in der Schulstube ist bislang immer zu kurz gekommen. Um nun diese Frage
einen Schritt weiter zu bringen, um neue Anregungen darin zu geben, um vielleicht
bessere Lösungen mit der Zeit zu finden, — dazu soll vorliegende Schrift dienen.
Es ist eine allbekannte Tatsache, daß unsere Zeit ein willensstarkes, tatkräftiges
Geschlecht braucht. Und fast möchte es scheinen, als ob in unseren Tagen mehr
und mehr ein willensschwaches Geschlecht zu verzeichnen wäre, faßt man die zu-
nehmende Zahl der »Schülerselbstmorde« ins Auge. Doch näher besehen, sind sie
keine ausschließliche Erscheinung unserer Zeit, keine sogenannte »moderne Zeitkrank-
heit«. Auch sind sie keine spezielle deutsche Angelegenheit. Das sucht Plecher
ausführlich zu beweisen; auch geht er ihren verschiedenen Verursachungen nach.
Mit Nachdruck wird betont, — ohne dem Wissenserwerb Abtrag tun zu wollen,
— daß unsere heutige Schule mehr zugeschnitten werden muß auf: Willensbildung
und Charakterbildung. Herbart schon sagt, daß »der Wert des Menschen nicht im
Wissen, sondern im Wollen« liege. Während er jedoch die Wurzel des Wollens in
den »Gedankenkreis« verlegt (»Umriß pädagogischer Vorlesungen«), geht jetzt die
Ansicht mebr darauf hinaus, daß auch dem Gefühlsleben ein mindestens gleich-
wertiger Einfluß beizumessen ist. Wundt z. B. sagt: »Ein Willensvorgang ist eben
nichts anderes, als ein gesetzmäßiger, im allgemeinen in sich abgeschlossener Gefühls-
verlauf.< Und Barth vertritt die Ansicht, »daß jede bewußte, nicht automatisch
gewordene Handlung durch ein Gefühl hervorgerufen wirde. Meumann schreibt, daß
die sogenannten gemischten Gefühle »bisweilen ganz besonders wirksame Mitursachen
von Handlungen sinde.
Was hier von verschiedenen namhaften Autoritäten ausgesprochen, wird jahr-
aus, jahrein jeder praktische Schulmann in der Schulstube bestätigt finden. Es er-
gänzen sich also hier Praxis und Theorie in der idealsten Weise.
Jedes Unterrichtsfach kann schließlich willens- und damit charakterbildend
wirken. Der Grad, in dem es das ist, hängt jedoch von drei Momenten ab: 1. von
dem Unterrichtsfache selbst, 2. von den psychischen Dispositionen des Schüler-
materials und 3. von der Persönlichkeit des Lehrers. Die weiteren Ausführungen
suchen dies zu beweisen. Zunächst wird gezeigt, wie die einzelnen Unterrichts-
fächer dazu in der Lage sind, wie weiter die willkürliche Aufmerksamkeit eine der
634 D. Literatur.
ergiebigsten Fundgruben für die Willensbildung ist, wie die kindliche Suggestibilität
geeignet ist, das Selbstvertrauen, die Willenskraft zu stärken, wie berechtigt die
Forderung von der »Pädagogik des Gehorsams« ist u.a. mehr. Eingehend wird auch
behandelt die Stellung der »Prügelstrafe in der Erziehung« bei der Frage der
Willensbildung, jedoch in solch humaner Weise, daß jeder erfahrene Praktiker dem
Verfasser beipflichten kann. Er sagt z. B.: »Derartige Fälle sind namentlich in
Großstädten gar häufig, wenn die häusliche Erziehung vollstandig versagt. Da helfen
die besten Ermahnungen, die wohlgemeintesten Belehrungen nichts: das Kind will
eben nicht. Und dann heißt es schließlich: Und folgst du nicht willig, so brauch
ich Gewalt.« Auch der Altmeister Diesterweg sagt: »Es kann niemand ein größerer
Feind des Stockregimentes sein, denn ich; aber ich bin ein noch größerer Feind der
Frechheit.«e Nicht als »Vergeltungsstrafe« soll sie nach Plechers Meinung in Betracht
kommen, sondern vielmehr als »Schutzstrafe«, namentlich auch im Interesse der
übrigen Schüler.
In den weiteren Ausführungen zeigt Plecher an reichlichen Beispielen, wie
sich im Schulbetrieb oft Gelegenheit bietet, die Willens- und Charakterbildung zu
ermöglichen, wie logische Deduktionen nicht ausreichen, wie vielmehr das Gefühl
mitsprechen muß. Es sei nur erinnert an die praktische Behandlung der Lehre:
»Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß es dir wohlergehe und du lange lebest
auf Erden«, oder »Du sollst kein falsches Zaugnis geben«, oder »Du sollst deinen
Nächsten lieben wie dich selbst«.
Unstreitig repräsentieren gerade diese Darlegungen neben den vorausgehenden
allgemeinen Betrachtungen und Begründungen einen nicht zu unterschätzenden
Wert des Buches. Voll und ganz wird es dadurch auch dem gerecht, was es in
seinem Titel verspricht: »Das Problem der Willenserziehung im Lichte der Schul-
praxıs.«
Worms. Georg Büttner.
Troll M., Begründung und Ausgestaltung der Pflege der schulent-
lassenen weiblichen Jugend. Päd. Mag., Heft 513. Langensalza, Hermann
Beyer & Söhne (Beyer & Mann). 1913. 27 S. 35 Pf.
Neben der weiteren Ausgestaltung der Jugendpflege für Knaben tritt neuer-
dings immer mehr auch diejenige für Mädchen in den Vordergrund des Interesses.
Es wird gesagt, daß die »Frau und Mutter neben dem Mann und Vater einen
mindestens gleichwertigen Anteil hat an der Staatserhaltung und Wehrbarkeit«. Die
sittlichen Gefahren, wird weiter betont, sind bei den jungen Mädchen noch größer,
namentlich auch sind diejenigen sittlicher Verfehlungen bei ihnen verhängnisvoller
als bei Knaben. In den Entwicklungsjahren sind sie weiter großen gesundheitlichen
Gefahren ausgesetzt, müssen aber doch für die einstige Mutterschaft ertüchtigt und
gestärkt werden. Damit wird auch schon der Weg angegeben, wird auch schon das
Ziel gezeigt, welches der weiblichen Jugendpflege zufällt. Sie muß a) sittlich be-
wahren, b) Geist und Gemüt bilden, c) Geselligkeit pflegen, d) gesundheitlich
fördern.
Fragen wir uns nun: Wer soll der Träger der Jugendpflegeunter-
nehmungen sein, so ist, — wenn auch die kirchlichen Unternehmungen sehr wert-
voll und höchst schätzenswert sind, — sicher am ehesten die bürgerliche Ge-
meinde, die Stadt- und Dorfgemeinde, dazu berufen und verpflichtet. Damit soll
jedoch keineswegs, das sci nochmals hervorgehoben, gesagt sein, daß schon bestehende
andere Anfänge und Ansätze über Bord geworfen werden und daß von Grund auf
neu aufgebaut werden soll, nein, »bereits vorhandene Einrichtungen könnten und
sollten von ihr gefördert und gestützt werden«.
Troll sucht in den weiteren Ausführungen zu beantworten: Wo, wann und
wie sind Veranstaltungen zur weiblichen Jugendpflege zu treffen? Die Zusammen-
künfte sind mindestens wöchentlich, am besten Sonntag abend in einem freundlichen,
ausreichend großen Raume, der nicht im Wirtshause liegen darf, abzuhalten. Unter-
haltungsabende sollen geboten werden. Sie sind auszufüllen durch Gesang, kurze
belehrende und unterhaltende Vorträge und Vorlesungen, Lesen von Dramen mit
verteilten Rollen, Lichtbilder, Demonstrationen, Gerätespiele, Gesellschaftsspiele,
Scherze, Handarbeiten, turnerische und sanitäre Übungen. Zuweilen sind auch
D. Literatur. 635
nachmittags größere Wanderungen auszuführen. Unerläßlich ist eine reichhaltige
Büchersammlung über geeignete Vortragsstoffe und die Bereitstellung von Spiel-
mitteln. Nicht zu vergessen ist ferner die Beschaffnng einer guten Leihbibliothek;
Spargelegenheit und Stellenvermittlung sind anzustreben. Nach Möglichkeit sind
die Pfleglinge auch heranzuziehen zur tatkräftigen Mitwirkung bei den einzelnen
Darbietungen und bei der Verwaltung.
Als die geeignetsten Pfleger erscheinen dem Verfasser die Lehrer und
Lehrerinnen, auf dem Lande auch Lehrerfrauen. Doch will es ihm fraglich er-
scheinen, »ob die Lehrer und Lehrerinnen bei ihrer aufreibenden und von Jahr zu
Jahr steigenden eigentlichen Berufsarbeit zu dieser nebenamtlichen Tätigkeit auf die
Dauer die Kraft haben«.
Klein sind bislang die Anfänge, aber groß ist die Aufgabe und schön das Ziel,
zu sein »Pioniere dieser Kulturarbeit und Pfadfinder auf dem Wege zu einer voll-
kommeneren, besseren, glückverheißenderen Eıziehung der weiblichen Jugend und
damit unseres deutschen Volkes«.
Alles in allem: Ein prächtiges Buch, aus der Praxis heraus für die Praxis
geschrieben, dienend einem edlen Zwecke, einer nicht zu unterschätzenden Kultur-
aufgabe. Möchte es weiteste Verbreitung und allseitige Beachtung finden.
Worms. teorg Büttner.
Ruttmann, W. J., Die Hauptergebnisse der modernen Psychologie mit
besonderer Berücksichtigung der Individualforschung. Leipzig,
E. Wunderlich, 1914. 392 Seiten. Preis 4,40 M, geb. 5,20 M.
Wer die rege Arbeit auf psychologischen Gebieten und ihre literarische Dar-
stellung verfolgt, weiß, welch ungeheure Fülle gerade von dorther auf den Bücher-
markt geworfen wird. Unsere ersten Forscher und fleißige Assistenten bieten
ständig Neues und Wertvolles. Tatsache aber ist es auch, daß von allen namhaften
Vertretern jeder sein eigenes System hat, so daß die verschiedensten Ansichten
herrschen und ein Zusammenkommen prinzipiell unmöglich ist. Wenn uns 1913 in
Elsenhans’ Psychologie ein besonnener, geistreicher Führer durch die psycho-
logische Literatur und ihre gegenseitige Bewertung geboten wurde, so liegt uns hier
in der guten Arbeit Ruttmanns der Versuch vor, als Pädagoge »eine kurze Dar-
stellung der Forschungsergebnisse der Psychologie zu geben unter besonderer Be-
rücksichtigung der Erforschung des Individuumse.. Besonders vom Standpunkte
Lehmanns aus entwirft R. ein Bild von der Arbeit und den Ergebnissen moderner
Psychologie.
Der Versuch ist vollkommen geglückt. Außerordentlich wertvoll
wird die klare Arbeit dadurch, daß R. erschöpfend in den einzelnen
Abhandlungen die einschlagende Literatur angibt, wodurch der Leser für
eigene Arbeit sichere Anleitung erhält. Außerdem läßt R. die namhaftesten Psycho-
logen selbst zu Worte kommen.
Ein kurzer Auszug aus der Inhaltsübersicht mögen zeigen, welch umfassende
Arbeit geleistet worden ist, und dann zum Selbststudium anregen.
Im I. Teil, der Individualpsychologie, behandelt R. an den elementaren
und höheren Bewußtseinserscheinungen neben dem allgemein Psychologi-
schen auch das Entwicklungs- und Pathopsychologische. Diese Zusammen-
stellung ist sehr geschickt durchgeführt und erzielt eine Übersichtlichkeit und Zu-
sammenschlüsse. Zeitgemäß kann man sich eingehend orientieren in den Abschnitten
über Individualität (z. B. Begriff, Methoden der Erforschung und Beobachtung
der Individualität — Intelligenz und ihre Prüfung —) und über die Ge-
schlechter (besonders über den Unterschied der Geschlechter in Rücksicht auf
die elementaren und komplexen psychischen Merkmale).
Der II. Teil enthält skizzenhaft Wissenswertes über die Sozialpsychologie.
Als Anhang eine Erläuterung von psychologischen Kunstausdrücken zu
bieten, war sehr zweckmäßig, da R. auf diese Weise berechtigt war, sich in seiner
Arbeit der psychologischen Fachausdrücke ungehindert zu bedienen. Bei einer Neu-
auflage wäre aber zumal im Interesse der Lesbarkeit zu raten, das Deutsche dem
Fremdwort auch im Fachausdruck voranzusetzen.
Wir möchten das Buch jedem, der einen Überblick über den Stand der
636 D. Literatur.
modernen Psychologie gewinnen will, warm empfehlen, da er dort alles findet,
was er braucht. Für Lehrer jeder Art und Studierende ist Ruttmanns Arbeit ein
ausgezeichnstes Handbuch, dessen Gebrauch durch ein ausführliches Namen- und
Sachverzeichnis sehr erleichtert ist.
Meißen i. Sa. Kurt Walther Dix.
Sellmann, Adolf, Das Seelenleben unserer Kinder im vorschulpflich-
tigen Alter. Kinderpsychologische Betrachtungen für Eltern, Lehrer und Kinder-
freunde. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1911. 146 S.
Preis 4 M.
Sellmann hat ein warmes Herz für Kinder, und darum liegt ihm daran, das
Verständnis für die Entwicklung und Erziehung der Kindesseele bei allen, die sich
damit befassen, zu vertiefen. Er will für die Beobachtung der Seelen unserer Kinder
Freudigkeit erwecken. Dazu bietet er neben verschiedenen eigenen Beobachtungen
besonders solche in ihrer psychologischen Bewertung nach Preyer, dem Altvater der
Kinderpsychologie. Um aber Laien zu gewinnen, verarbeitet er psychologisch Wissen-
schaftliches von Ziehen, Ebbinghaus mit Anschauungsmateriul aus deutscher Dicht-
kunst übers Kind. Gerade jetzt, wo viele tätig sind, die Kleinkinderpädagogik zu
heben, ist jeder Versuch dazu angebracht und zu begrüßen. Von dort aus aber
hätten wir auch eine eingehendere und praktische Darstellung des IX. Kapitels über
die Erziehung des Kindes gern gesehen. Ein ausführliches Literaturverzeichnis. das
allerdings zurzeit schon wieder wesentlich zu ergänzen wäre, regt zum Selbststudium
an, und so wird hoffentlich der ideale Zweck Sellmanns erreicht: »Aus Liebe zu
den Kleinen ist das Buch hervorgegangen und den Kleinen will es dienen.«
Meißen i/Sa. Kurt Walther Dix.
Der Kampf der Parteien um die Jugend. Herausgegeben von der Deutschen
Zentrale für Jugendfürsorge. Berlin, Otto Liebmann. 1912. 86 S. Preis 1,50 M.
Bei Abnahme einer größeren Anzahl Preisermäßigung.
Jeder, der mit der Jugendpflege in Verbindung steht, möchte dieses Buch ein-
mal zur Hand nehmen, um das Referat und die Stellungnahme zu demselben von
bedeutenden Persönlichkeiten verschiedener gesellschaftlicher Stellung, Konfession
und Partei kennen zu lernen. Das Problem einer gemeinschaftlichen Jugend-
pflege wird erörtert und die Möglichkeit einer Lösung erwähnt. Leider ist es nicht
möglich, auf die verschiedenen Anregungen, die ich diesem Werkchen verdanke,
einzugehen.
Meuselwitz. Oskar Zeißler.
Neter, Eugen, Arzt und Kinderstube. München, Otto Gmelin, 1913. 94 Seiten.
Preis 1 Mark.
»Ein Trostbüchlein für junge Mütter« nennt Dr. Neter sein Buch, und manche
besorgte Mutter wird sich guten Rat daraus holen können, wenn man so will,
auch Trost.
In dem erfahrenen Kinderarzt spricht gleichzeitig ein guter Pädagoge zu uns.
Schon im ersten Kapitel: »Von gesunden Kindern, die nicht essen wollen«, sieht er
den Grund zu diesem Fehler hauptsächlich in falscher Erziehung und Gewöhnung.
— Über die Wartung des Säuglings finden wir allgemeine und sehr vorsichtige An-
weisungen. Die Behandlung soll nicht schematisch sein. »Je einfacher. je un-
gekünstelter unsre Methode, desto sicherer wird sie zum Ziele führen.« (Seite 26.)
Wichtig ist auch die Regelmäßigkeit im Leben des Säuglings. Alles Bewundern
und Bestaunen des kleinen Kindes, namentlich Besuche bei Großeltern, Onkel und
Tanten weist Neter mit gutem Grund energisch zurück. — Selbstverständlich soll
jede Mutter ihr Kind selbst stillen. Bei ernstem Willen wird das auch in den
meisten Fällen gehen. Freundlich erlaubt wird der jungen Mutter zu essen: »alles
was sie gewöhnt ist und wobei sie gesund und kräftig bleibt«, aber leider nicht
verboten, Bier, Wein oder andre Alkoholika zu trinken. Sie soll nur nicht mehr
Bier, als sie gewöhnt ist, trinken. Neter scheint nicht zu wissen, daß auch die
geringste Menge genossenen Alkohols in ganz kurzer Zeit in die Milch übergeht,
und somit auch in des Säuglings Organismus. — Vor Übertreibungen in der Kinder-
D. Literatur. 637
pflege, z. B. vor der Überfütterung, vor der übertriebenen Bazillenfurcht, vor zu
ängstlicher Beobachtung der Gewichtszunahme warnt der Verfasser. Aber gerade
im Gegensatz zur Überfütterung mit Kraftmitteln vermisse ich eine Anweisung für
wirklich gesundheitsgemäße Ernährung, die sich auf die neusten wissenschaftlichen
Forschungen stützt. In dem über Abhärtung Gesagten fehlt leider bei vielem Guten
ein überzeugtes Eintreten für Luft- und Sonnenbäder. — Den Schluß des Heftes
bildet eine Erörterung verschiedener Erziehungsfragen.
Jena. Hanna Queck-Wilker.
Wyneken, Gustav, Der Gedankenkreis der Freien Schulgemeinde. Leipzig, Erich
Matthes, 1914. 23 Seiten. Preis 60 Pf.
Der Verfasser hat diese Schrift dem Wandervogel gewidmet. Zwischen ihm
und der Freien Schulgemeinde!) Beziehungen anzuknüpfen, hat er sich in letzter
Zeit wiederholt bemüht. Denn er glaubt, dem Wandervogel helfen zu können zu
der bisher von ihm noch nicht gefundenen »Verbindung mit dem Geist«, der ja in
allen Arbeiten Wynekens eine große Rolle spielt. Die Anmaßung des Autors
illustriert am besten folgender Satz aus der Einleitung: »Die Freie Schulgemeinde
hat einen diametral entgegengesetzten Ursprung (wie der Wandervogel). Sie ist
nicht im Gegensatz zur Schule entstanden, sondern als Schule, und im Gegensatz
zu dilettantischen, das Wesen der Schule verkennenden Schulreform-
versuchen (Landerziehungsheim)«e.. Daß die Grundlagen der Arbeit völlig
verkehrte sind, scheint dem Verfasser gar nicht bewußt geworden zu sein. Im
übrigen würde eine Widerleguug Wynekens auf eine Widerlegung Hegels heraus-
kommen. Und daran hat es bislang ja noch nie gefehlt!
Ansprechend ist die Ausstattung des Heftes.
Jena. Karl Wilker.
Wyneken, Gustav, Was ist »Jugendkultur« ? Schriften der Münchener Freien
Studentenschaft, Heft1. München, Georg C. Steinicke, 1914. 43 Seiten. Preis 75 Pf.
Man legt die Schrift weg und ist gerade so klug wie vorher. Damit hat man
sich in des Verfassers Augen allerdings sofort sein Urteil gesprochen; denn er hat
ein großes Geschick, seine Kritiker bereits im voraus abzutun. Allenfalls macht
man noch die Entdeckung, daß auch Jugendkultur nur Kultur ist, deren »geo-
metrischen Orte der Autor zu bezeichnen sucht. Daß dieser für ihn die Freie
Schulgemeinde ist, nimmt weiter nicht wunder. »In der praktischen Versöhnung
des theoretisch ewig Antithetischen, in der lebendigen Synthese aller Antinomien
trägt sie das Siegel der Bewährung« (S. 19) — eine nicht ganz leicht zu verstehende
Definition, die aber zugleich Wynekens Dialektik gut beleuchtet. So stellt sich die
ganze Schrift letzten Endes als nichts anderes dar denn als eine Reklameschrift für
die Freie Schulgemeinde und vor allem für den von Wyneken als verantwortlichem
Redakteur gezeichneten »Anfang«, eine Zeitschrift der Jugend für die Jugend zur
Jugerdemanzipation, nach Wyneken allerdings dazu bestimmt, »ein Götter- und
Geistesbote« zu werden.
Seltsam berührt es, wie Wyneken auch hier wieder (wie an einigen andern
‚Stellen schon) betont, daß im »Anfang« alle Richtungen zu Worte kommen könnten.
Liest man aber diese seltsame grüne Zeitschrift, dann macht man die Entdeckung,
-daß jede auch nur im geringsten konservative Anschauung sofort von der Redaktion,
vom »Anfang« oder von Dr. Wyneken widerlegt oder gar lächerlich gemacht wird.
Letzten Endes wird sie als unjugendlich und dementsprechend als oberlehrerhaft
bezeichnet. Das nennt man dann »unbevormundet«.
Für einen späteren Bearbeiter der verschiedenen Wyneken schen Schriften und
Aufsätze dürfte es übrigens eine interessante Aufgabe sein, einmal die mannigfachen
Widersprüche, die sich in der einzelnen Arbeit wie in den verschiedenen unterein-
1) Wir weisen auch bei dieser Gelegenheit wieder darauf hin, daß der Begriff
»Freie Schulgemeinde« von Dörpfeld und nicht von Wyneken geprägt ist (ob aus
Unkenntnis mit der Geschichte der Pädagogik?), der etwas ganz anderes darunter
verstand als das, wofür jetzt soviel Reklame gemacht wird.
638 D. Literatur.
ander finden, zusammenzustellen. Von Klarheit des darin so viel gerühmten Geistes
scheint das gerade nicht zu zeugen.
Jena. Karl Wilker.
Eulenburg, A., Kinder- und Jugendselbstmorde. Sammluug zwangloser Abhand-
lungen aus dem Gebiete der Nerven- und Geisteskrankheiten, herausgegeben von
A. Hoche. Band X, Heft 6. Halle a. S., Carl Marhold, 1914. 34 Seiten.
Preis IM.
Wir verdanken Eulenburg eine ganze Reihe von Studien über dieses Problem.
auf die in dieser Zeitschrift öfter verwiesen ist. Er reiht diesen Arbeiten mit der
vorliegenden Schrift eine Materialsammlung an: er sammelte innerhalb der letzten
vier Jahre (1910—1913) 323 Fälle aus Tageszeitungen, über deren Alter, Selbst-
mordart und -ursache und sonstige auffallende Momente er berichtet. Das Ver-
hältnis ‘der männlichen zu den weiblichen Selbstmördern ist bis zum 15. Jahre
90:42 = 2,14:1,0, vom 16.—20. Jahre 101 :90 = 1,1:1,0. Unter den Motiven
überwiegen bei den Mädchen Liebesaffären, bei den Knaben Furcht vor Bestrafung.
Man kann gegen das Material und seine Verwertung Bedenken erheben. Wer die
kleine Schrift liest, erkennt aber, daß sich doch wertvolle Ergebnisse daraus ziehen
lassen. In seinen Schlußbemerkungen wendet sich Eulenburg entschieden gegen die
unsinnigen »Jugend-Emanzipierungs«-Versuche. — Zu monieren sind störende Druck-
fehler auf den Seiten 20 und 32. Auf Seite 19 ist bei Fall 220 statt 241 221 zu
lesen, wodurch man einen Augenblick irre gemacht wird.
Für weitere Studien darf die Abhandlung nicht außer acht gelassen werden.
Jena. Karl Wilker.
X. und XI. Bericht über die Tätigkeit der Stadtärzte in Brünn als Schul-
ärzte für das Schuljahr 1910—1911 und 1911—1912 erstattet vom Stadtphysikus
Dr. Heinrich Kokall, Brünn. Verlag des Stadtrates der Landeshauptstadt Brünn,
1913. 75 Seiten. Mit verschiedenen Tafeln und Tahellen.
Wenn ein schulärztlicher Bericht hier besonders besprochen wird, so kündet
das von vornherein an, daß es sich um einen besonderen Bericht handelt, der ver-
dient vor anderen hervorgehoben zu werden. Nicht eine nüchterne Zahlenzusammen-
stellung wird uns in ihm vorgelegt. (Gegen die Ausgestaltung des Schularztamtes
zu einem statistischen Beruf haben sich ja nicht zum wenigsten die Schulärzte selbst
in letzter Zeit gewandt!) Außer Zahlen bietet dieser Bericht beachtenswerte Be-
merkungen und Aufsätze, bei denen man den Wunsch nicht unterdrücken kann: es
möchten recht viele schulärztliche Berichte sich diesen zum Vorbild nehmen. So
referiert Kokall über die Aufgaben des Schularztes bei der Bekämpfung der Tuber-
kulose, wobei er (wie auch schon in seinem schulärztlichen Bericht) eintritt für den
behandeluden Schularzt. Maßl behandelt die Berufswahl mit besonderer Berück-
sichtigung des Handwerkes, indem er einen Überblick über die in gewerblichen
Betrieben auftretenden Gesundheitsschädigungen gibt. Und dem Mahnwort Kokalls
an die Eltern (Jugend-Gesundheit-Unterricht) möchte man weiteste Verbreitung
wünschen. Daß der Autor durchaus kein Pessimist ist, geht auch aus seinen Be-
merkungen über die geistige Minderwertigkeit hervor.
Aus den eigentlichen schulärztlichen Berichten hebe ich kurz noch einiges
hervor, was mir besonders wissenswert erscheint. In dem Seehospiz Valdoltra bei
Triest wurden günstige Heilerfolge in der Behandlung des Beinfraßes, der Skro-
fulose usw. erzielt. — Die Kurzsichtigkeit nimmt prozentual von den unteren Klassen
nach den obersten zu: 1910/11 bei den Knaben von 4,9 auf 14°/,, bei den Mädchen
von 6,8 auf 15°/,, 1911/12 bei den Knaben von 5 auf 13%, bei den Mädchen von
6,3 auf 14°,. Die Hauptursache der Kurz- und Schwachsichtigkeit sieht Bochner
in der Überanstrengung zu Hause und nicht während des Schulunterrichts und in
Disposition und Erkrankungen der Augen während des Kindesalters; die Verhütung
macht also einen Teil der sozialen Fragen aus.
Interessant ist auch der Bericht über die Hilfsschule mit ihren 50 Zöglingen
(1910/11). 26°/, der Kinder waren im November geboren, also im Faschingsmonat
gezeugt, darunter 6°/, Erstgeborene. Die Eltern der Kinder gehörten zu 78°/, der
ärmeren Bevölkerung an, zu 16°, lebten sie in mittleren, zu 6°/, in guten Ver-
D. Literatur. 639
hältnissen. Erbliche Belastung infolge Trunksucht wurde in 42°/, der Fälle fest-
gestellt. Um die Unterernährung zu bekämpfen gewährt die Stadt allen Zöglingen
ein Milchfrühstück. Erfreulich ist es. daß in der Lehrer- und Lehrerinnenbildungs-
anstalt in jedem Jahr ein 6wöchentlicher Kursus zur Aufklärung über Wesen und
Ursachen des kindlichen Schwachsinns, über Unterrichtsmethode und Erziehung
anormaler Kinder durch den Leiter der Hilfsschule gehalten wird. .
Auch das mährisch-schlesische Taubstummeninstitut kann über eine erfreuliche
Einrichtung berichten: täglich findet eine ärztliche Visite statt. Besonders auffallend
ist es übrigens, daß dem Institut die meisten von Geburt aus taubstummen Kinder
aus der südmährischen Weingegend zugeführt werden. Der Alkoholgenuß spielt
hierbei sicher eine verhängnisvolle Rolle. Auch die Zahl der Taubstummen aus den
Industriezentren dürfte nach Ansicht des berichtenden Arztes mit durch den Alkohol-
genuß bedingt sein.
Jena. Karl Wilker.
Alkoholfreie Jugenderziehung. Die Vorträge des Ersten deutschen Kongresses
für alkoholfreie Jugenderziehung, Berlin vom 26.—28. März 1913. Berlin, Mäßig-
keitsverlag, 1913. XV und 224 Seiten. Preis 2,40 Mark, gebunden 3,20 Mark.
3 Wir haben bereits kurz auf dieses Werk hingewiesen (Jahrg. XIX, 2, S. 119).
Über ein Sammelwerk zu referieren, ist eine schwierige Sache. Die beste Cha-
rakterisierung hat der Herausgeber, Professor Gonser, im Vorwort selbst gegeben:
»Es ist ein grundlegendes, bahnbrechendes und richtungweisendes Werk«. Und daß
es als solches die weiteste Verbreitung verdient, braucht garnicht erst betont zu
werden. Es gehört in jedes Lehrerzimmer, in jede Schulbibliothek hinein. Es ist
ein Nachschlagebuch für den, der auf dem Gebiete bereits zu Hause ist, und ein
Einführungsbuch für die große Schar derer, die noch nicht recht wissen. was es
eigentlich um die alkoholfreie Jugenderziehung auf sich hat. — Die Einheitlichkeit
gewinnt durch die Weglassung der Diskussionsreden. Das bedeutet zwar eine Ab-
weichung vom üblichen Kongreß-Berichterstattungswesen; aber man wird sie nur
wohltuend empfinden.
Jena. Karl Wilker.
Henry H. Goddard, Sterilization and segregation. New York City, Department
of child helping of the Russel Sage Foundation, 1913. 11 Seiten.
Es könnte scheinen, als sei die Fürsorge für die Schwachsinnigen eine bloße
Liebhaberei einiger dafür begeisterter Menschen, wenn man das Heute mit dem
Früher vergleicht. In Wirklichkeit ist es aber nur so, daß an die Stelle der früheren
Vernachlässigung in der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die notwendige
(schon aus sozialen Gründen notwendige) Fürsorge getreten ist. Man hat erkannt,
daß Schlechtigkeit in sehr vielen Fällen auf geistiger Defektivität beruht; man hat
festgestellt. daß in Amerika etwa 2°, aller Schulkinder geistig defekt sind und un-
fähig, ihren Platz innerhalb der Gesellschaft einzunehmen; man hat erforscht, daß
in etwa zwei Drittel aller Fälle von Schwachsinn die Heredität eine große Rolle
spielt; und man hat beobachtet, daß gerade die Schwachsinnigen die größte Geburten-
häufigkeit aufzuweisen haben (wie man das in unseren Hilfsschulen tagtäglich fest-
stellen kann).
Was ist dagegen zu tun?
Goddard macht zwei Vorschläge: Absonderung in Kolonien — Sterilisierung
(also Verhinderung der Fortpflanzung; aber nicht Kastration!).
Die Absonderung der schwachsinnigen Individuen in besonderen Kolonien oder
Anstalten, wo sie auf ihre Art glücklich sein können, wo sie dem sozialen Ganzen
noch unter Umständen und nach Möglichkeit nützlich sein können, wo sie aber an
der Fortpflanzung gehindert sind, erscheint leicht und einfach zu verwirklichen.
Überlegt man sich aber, daß eine Stadt wie New York etwa 15000 schwachsinnige
Schulkinder zählt; daß zu ihrer Unterbringung mindestens acht Institute nötig wären
(die gewöhnliche Belegziffer derartiger Anstalten beträgt in Amerika 1000 bis 2000),
wünschenswerter Weise aber mindestens 30; daß New York City aber nur eine,
der Staat New York ganze vier derartige Anstalten hat, die finanziell mit den größten
Schwierigkeiten zu kämpfen haben, dann wird einem ohne weiteres die Schwierigkeit
640 D. Literatur.
der Absonderung klar. Außerdem werden sich die meisten Eltern der Unterbringung
ihrer Kinder in geschlossenen Anstalten widersetzen, besonders die Eltern der
»Moronen« (auf sehr hoher Stufe stehende Defekte): Elternliebe und die Aussicht
auf höheres Einkommen durch des Kindes unterstützende Arbeit wehren sich da-
gegen. Eine gesetzliche Regelung der Absonderung mit ihrer zwangsweisen Durch-
führung ist schwierig und so bald nicht zu erwarten.
Leicht zu verwirklichen scheint der zweite Plan: Sterilisierung der schwach-
sinnigen Individuen. Für dieses Verfahren sprechen Fälle aus der Praxis wie etwa
der: ein schwachsinniger Mann, der vor sechs Generationen lebte, wurde der Vorfahr
von 143 nachgewiesen schwachsinnigen Kindern. Die Gesellschaft wäre vor diesen
schädlichen Individuen verschont worden, wäre der Mann sterilisiert. — Allerdings
ergeben sich auch hier in der Praxis Schwierigkeiten: Die Auslese der zu steri-
lisierenden Personen ist nicht leicht; eine solche Operation ist vielleicht auch nicht
ganz ungefährlich für die öffentliche Sittlichkeit (Goddard meint allerdings, daß die
Unsittlichkeit kaum dadurch gefördert werde, weil in den hauptsächlich in Betracht
kommenden Kreisen die Furcht vor einem zu erwartenden Kinde durchaus nicht
sehr abschreckend wirke). Schlechte Einflüsse der Operation auf die psychische
und physische Konstitution wurden bisher nicht beobachtet.
Der gewichtigste Einwand gegen die Sterilisierung ist der: es sei eine grausame
und unnötige Strafe. Weil die in einigen (8) Staaten Amerikas bestehenden Gesetze
die Operation bei Verbrechern zulassen, hat man sich daran gewöhnt, eine Art
Strafe in ihr zu sehen. Man hätte sich hüten sollen, die Frage der Kriminalität
damit in Verbindung zu bringen, vor allem, weil Kriminalität nicht vererblich ist;
sie ist nicht angeboren, sondern sie wird erst gemacht, und sie wird vor allem durch
den Schwachsinn bewirkt. Man sollte also aus den betreffenden Gesetzen den Begriff
»Kriminalität« ganz weglassen.
In der Praxis erweist sich als notwendig eine Verbindung beider Vor-
schläge: Absonderung und Sterilisierung. Schwachsinnige Individuen könnten in
großen Anstalten erzogen und nach Möglichkeit zu sozial brauchbaren Menschen
gemacht werden. Ist es angängig, sie zu entlassen, so könnte die Entlassung nach
erfolgter Operation ohne Gefahr für den Staat und für das Individuum erfolgen.
Zugleich würde dadurch die Anstalt entlastet: es könnte der soziale Organismus
immer weiter von Schwachsinnigen befreit werden.
Jena. Karl Wilker.
Hart, Hastings H., The extinction of the defective delinquent. New York, De-
partment of Child Helping of the Russell Sage Foundation, 1913. 15 Seiten.
Derselbe, Sterilization as a practical measure. Ebenda. 11 Seiten.
Die Zahl der Schwachsinnigen unter den jugendlichen Verbrechern und Für-
sorgezöglingen ist eine außerordentlich hohe. Die Angaben aus Amerika schwanken
zwischen 28 und 60°. Die Vorschläge dem abzuhelfen, müssen auf eine Fort-
pflanzung schwachsinniger Individuen abzielen: Erziehung des Volkes zu den Grund-
regeln der Eugenik, Heiratsverbote, Sterilisierung und Absonderung defekter Individuen.
Als wirksamste Maßnahme erscheint dem Verfasser die Absonderung, die für die
schwachsinnigen Personen notwendiger erscheint als für die ausgesprochen Geistes-
kranken. An Absonderungsmöglichkeiten fehlt es allerdings sehr. Etwa 133000 Schwach-
sinnige in den Vereinigten Staaten können nicht untergebracht werden. Es werden
Vorschläge gemacht zu zweckmäßiger Unterbringung. Bei dieser hoben Bewertung
des Absonderungs-Verfahrens muß dem Verfasser die Sterilisierung natürlicherweise
minder wertvoll erscheinen, wenn er sie auch nicht für alle Fälle verwirft, wie das
aus der zweitgenannten Broschüre hervorgeht.
Jena. Karl Wilker.
Verantwortliche Schriftleitung für Abhandlungen und Mitteilungen: Dir. J. Trüper,
Sophienhöhe b. Jena; für Zeitgeschichtliches, Zeitschriftenschau und Literatur:
Dr. Karl Wilker, Jena. Weißenburgstraße 27.
Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
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A. Abhandlungen.
Die experimentelle Ermüdungsforschung.
Von
Marx Lobsien, Kiel.
(Schluß.)
e) Baades Rechenprüfungen.
Sie erfahren hier eine gesonderte Wertung, nicht weil sie eine
neue Methode bieten, sondern weil sie als Vorbild mustergültig sind
für die Weise des Experimentierens. Sie zeigen, wie man mit Um-
sicht, Vorsicht, unter peinlicher Erwägung aller der Umstände, die
auch nur entfernt geeignet scheinen, eine Störung oder Trübung der
Versuchsresultate zu veranlassen, wissenschaftliche Beobachtungen an-
stellen muß. Die Baadesche Arbeit enthält zugleich einen sehr
wertvollen kritischen Teil, der eine Reihe von Veröffentlichungen
daraufhin unter die Lupe nimmt, wie sorgsam die methodischen
Voraussetzungen gemacht worden sind. Die Arbeit selbst zeigt, wie
man positiv die Mängel vermeidet.
Weil die Gesichtspunkte, die Baade zur Beurteilung der von ihm
kritisierten Versuchsreihen anführt, zugleich eine Ergänzung der wesent-
lichsten in diesem Kapitel hervorgehobenen bedeuten, möchte ich sie
hier in Kürze erörtern. Baade geht so zu Werke, daß er die Fehler, die
ihm aufstoßen, systematisch ordnet und beurteilt, ohne doch auf Voll-
ständigkeit Anspruch zu erheben. Selbstverständlich darf ich mich
hier nur auf eine Aufzählung in groben Zügen beschränken.
Die drei Hauptgesichtspunkte, die Baade aufstellt, charakterisiert
er kurz: I. Ausgleich zufälliger Schwankungen, II. das Agens, III. Cetera
paria. — Zu I: Strenggenommen muß für jede Versuchsperson jede
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 41
642 A. Abhandlungen.
Konstellation so oft wiederholt werden, bis man mit den Mitteln der
Kollektivmaßlehre nachweisen kann, daß der Ausfall nicht auf zu-
fälligen Schwankungen beruht. Bis zu einem gewissen Grade kann
die Menge der Versuchspersonen die Menge der Wiederholungen er-
setzen. — Zu II: 1. Die Verschiedenheiten des Unterrichts, die durch
Lehrfächer, Methoden und Lehrer bedingt sind, müssen möglichst aus-
geglichen werden. 2. Unterrichtsstunden und Pausen sind durchaus
heterogene Faktorengruppen. 3. Verschiedene Arten von Unterrichts-
stunden können nur verglichen werden, wenn sie auf gleiche Tages-
zeiten fallen oder die durchschnittlichen Unterrichtskurven von einer
Stunde zur andern annähernd gleichen Ausschlag zeigen. 4. Die auf
den Versuch verwandte Zeit darf im Vergleich zur gesamten unter-
suchten Zeitspanne nur kurz sein. — Zu UI: Das Cetera paria ist zu
wahren 1. bezüglich der äußeren Bedingungen des Reagenzversuchs;
fernzuhalten sind: akustische Störungen, meteorologische und kos-
mische Einflüsse, die auf den gesamten Organismus einwirken oder
auf die beim Reagenzversuch besonders beteiligten Organe; 2. bezüglich
der Handhabung der Reagenzversuche durch den Versuchsleiter (die
Aufgaben, die gestellt, die Reize, die, wie etwa beim Ästhesiometer,
appliziert werden, müssen gleichwertig sein), der Vorführung der Auf-
gabe und der Applizierung der Reize, der Registrierung der Resultate,
der erteilten Instruktion, der Handhabung der Reagenzmethode durch
die Versuchspersonen. (In einigen Fällen wird man sich über die
Konstanz der Handhabung durch Selbstbeobachtung der Versuchs-
person oder durch Hilfsindizes Aufschluß verschaffen können. Im
allgemeinen aber wird man eine ausreichende Konstanz dieser Fak-
toren erst dann für erwiesen halten, wenn man bei einer Frak-
tionierung der Versuchsreihe übereinstimmende Resultate für die ein-
zelneu Teile erhält) Der Wert einer Versuchsreihe hängt wesentlich
von der Zahl der Versuchstage ab, wieviele Personen auch daran
beteiligt sein mögen; 3. bezüglich der Nachwirkung der Reagenz-
versuche, also solcher Nachwirkungen, ohne die ein Reagenzversuch
nur dann bleibt, wenn kein eigentlicher Versuch, sondern nur eine
Beobachtung seitens des Versuchsleiters vorliegt, sind zu betrachten:
die partielle Ermüdung, die Übung, die nur dann eine wirkliche Aus-
gleichung erfährt, wenn an jedem Versuchstage nur eine Konstellation
untersucht und eine ausreichende Verteiiung der Versuchstage erstrebt
wird, die motorische Einstellung (die etwa eine Tendenz zur Bei-
behaltung einer gewissen Bewegung, Fehlerart usf. vermittelt); 4. be-
züglich der Wirkungen der Suggestion, die sich äußert in vorgefaßten
Meinungen der Versuchspersonen, in Beeinflussungen durch den Ver-
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 643
suchsleiter im Moment des Versuchs (die sich steigern mit der Dauer
der Versuche und der Intensität des Verkehrs zwischen Prüfling und
Experimentator); 5. bezüglich des Hintergrundes des Bewußtseins,
unter dem Lay solche psychische Vorgänge versteht, die sich während
des Versuchs abspielen, aber für den Reageuzversuch selbst nicht not-
wendig sind; dazu gehören: der Anfangs- und Schlußantrieb, der Ein-
fluß des Umstandes, ob die Versuche während des Unterrichts oder
während der Freizeit stattfinden, ob ein Versuch zu Beginn oder am
Ende einer Unterrichtsstunde stattfindet.
Abschließend bemerkt Baade, die meisten der von ihm unter-
suchten Versuchsreihen seien mit so erheblichen methodischen Un-
vollkommenheiten behaftet und ständen auch untereinander so in
Widerspruch, daß aus ihren Resultaten noch keinerlei Schlüsse zu
ziehen seien; »es wird weiterer Forschungen bedürfen, ehe man über die
verschiedenen Fehlerquellen ein Urteil gewinnen und es erklären kann,
wie unter scheinbar nahe übereinstimmenden Bedingungen so häufig
verschiedene Resultate erzielt werden konnten«.
Die von Baade angewandte Methode ist das fortlaufende Addieren
nach Weise der Kraepelinschen Schule, in vier Modifikationen, die
sich großenteils auf die Fixierung der Arbeitseinheiten beziehen. Die
Versuchsdauer umfaßte durchweg etwa 5 Minuten. Prüflinge waren
Seminaristen eines Schullehrerseminars. — Die Wertung der nieder-
geschriebenen Resultate geschah mit ganz besonderer Sorgfalt.
f) Die Lesemethoden.
Schuyten verwertete seine Lesemethode, um den Aufmerksam-
keitsschwankungen in größeren Zeitintervallen nachzugehen. In Pro-
zenten der Aufmerksamkeitsenergie fand er für die Monate Januar
bis Dezember folgende Prozentualwerte:
68, 63, 77, 69, 64, 42, 27, | 48, 62, 67
(für die Monate August und September als Ferienmonate stehen keine
Messungsresultate zur Verfügung). Trotzdem die Schuytenschen
Resultate mit andern leidlich übereinstimmen, begegnen der Methode
Bedenken. Zunächst beziehen sich seine Untersuchungen nur auf
acht- bis zehnjährige Knaben und Mädchen — man ist nicht in der
Lage, zu entscheiden, ob überhaupt die Lesemethode zur Messung der
Aufmerksamkeitsschwankungen Verwendung finden kann. Ferner
handelt es sich nicht eigentlich um einen Versuch, ein Experimen-
tieren, bei dem der Experimentator willkürlich zu variieren, die Be-
dingungen nach seinem Ermessen aufheben und zulassen kann, son-
dern lediglich um ein Beobachten. Man hat keinen einwandfreien
41*
644 A. Abhandlungen.
Maßstab dafür, ob die Schüler, die ihre Augen auf das Buch hefteten,
nun auch wirklich ihre Aufmerksamkeit anspannten oder simulierten.
Noch viel weniger kann man ermessen, in welchem Grade sie ein-
gespannt wurde. Somit fehlt ein außerordentlich wichtiges Stück an
der exakten Durchführung des Experiments. Es ist ferner zu be-
achten, daß die Zahl der Versuchstage relativ gering ist. Trotz der
Bemühungen Schuytens, die Konstellationen nach Kräften überein-
stimmend zu gestalten, fehlt doch hier ein Beweis dafür, daß an den
Monatsmitten gleiche Versuchsbedingungen bei allen Prüflingen vor-
handen waren. — Die Methode ist sehr einfach, aber nicht exakt genug,
um genauere Resultate für die Ermüdungsmessung zu liefern.
Damit sind wir am Schlusse der kritischen Wanderung angelangt.
Sie hat gezeigt, daß eine Reihe wertvoller Ansätze für die Lösung des
Ermüdungsproblems geschaffen worden sind.
Fünftes Kapitel.
Die wichtigsten Ergebnisse der Ermüdungsforschung.
In der nachfolgenden Darstellung sollen diejenigen Resultate
verzeichnet werden, die nach den Ermüdungsforschungen als einiger-
maßen gesichert gelten dürfen. Eine ganze Reihe mühsam errungener
Umntersuchungsresultate deckt sich mit Erfahrungen, die bisher land-
läufig waren. Diese Kongruenz mit der Vulgärerfahrung ist aber
keineswegs ein Beweis dafür, daß das Bemühen eitel, die Zeit ver-
schwendet war; sie dient vielmehr dem Experiment als Bewährung,
als Beglaubigung, stärkt das Vertrauen, daß der eingeschlagene Weg
keineswegs falsch war. Man darf eben nicht vergessen, daß es sich
bei den Resultaten vielfach um solche elementarster, selbstverständ-
lichster Art handelt, um Tatsachen, die keines besonderen Beweises
bedürfen. Es tat einst not, daß man sich darauf wieder besann, denn
das neue Verfahren wurde vielfach mit Erwartungen aufgenommen,
die von vornherein unmöglich zu erfüllen waren. Man kann auch
nicht sagen, daß die Schuld allein auf seiten derer gelegen, die überall
vorschnell geneigt sind, Neues, Sensationelles zu erwarten — auch
die Vertreter der Ermüdungsexperimente täuschten sich oft über die
Grenzen dessen, was ihnen mit dem neuen Hilfsmittel naturgemäß
zu erreichen möglich war, und weckten unberechtigte Hoffnungen.
Das ist immer ein gefährlich Ding, nicht allein um des Propheten
— das wäre das geringere — sondern um der Sache willen. In
der Tat war ein starkes, weitverbreitetes Mißtrauen, wie gegen die
experimentelle Forschung auf psychologischem Gebiete überhaupt, so
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 645
auf dem Gebiete der Ermüdungsmessung insonderheit die Folge dieser
Enttäuschung, eine Enttäuschung, die heute noch weitere Kreise ab-
lehnend gemacht hat.
Wenn wir auch zugeben müssen, daß die Resultate der Er-
müdungsforschung im Vergleich zu der großen, entsagungs- und auf-
opferungsreichen Mühe kaum in einem Verhältnis stehen, das auch
nur einigermaßen als angemessen angesehen werden könnte, so wäre
es doch ein ebenso undankbares wie törichtes Unterfangen, wollte man
die Früchte des Fleißes überhaupt unbeachtet lassen, die Mühe schätzen
als die von Quärulanten, die ihre Zeit eben nicht mit nützlichen und
wertvolleren Dingen auszufüllen wüßten. Die Ermüdungsforschung
hat eine Reihe theoretischer und auch für die praktische Pädagogik
äußerst wertvoller Wahrheiten ans Licht gefördert, die bisher unserer
Kenntnis verschlossen waren. Wir verdanken dem Experiment Ein-
blicke in das Wesen und Wirken der Ermüdung, seine Zusammen-
hänge mit andern psychologischen Vorgängen und Erscheinungen, die
ihm unvergessen bleiben werden. Teils liegen sie heute bereits ab-
geschlossen vor, teils aber können sie als Grundlagen dienen für
weitere wissenschaftliche Forschungen, denen die Wege geebnet, Fehl-
gänge offenbart und die Augen geschärft worden sind für die Ziele,
auf die sie ihre Bemühungen zu richten haben werden.
Die wesentlichsten dieser Ergebnisse sollen in dem vor-
liegenden Kapitel behandelt werden. Wir werden dabei unsere Auf-
merksamkeit auf zwei Hauptgebiete hinzulenken haben, eines, das es mit
den Resultaten zu tun hat, die allgemeinerer Natur sind und mehr
theoretisches Interesse hat, eines — das umfänglichere, das auf dem
Gebiete der pädagogischen Praxis liegt. Dabei werden wir den Unter-
schied machen zwischen »selbstverständlichen« Resultaten, d. h. solchen,
die eine Bestätigung bisher bekannter Wahrheiten bilden, die allein auf
der Beobachtung (nicht experimentellen) beruhen, die aber diesen selbst-
verständlichen Wahrheiten gegenüber den sehr großen Vorzug haben,
daß sie auf Maß und Zahl gegründet sind, infolgedessen einen un-
gleich höheren objektiven Wahrheitswert besitzen und dem subjektiven
Deuteln und Meinen entrückt sind; wir werden dann mit aller Deutlich-
keit herauszustellen haben, welche sicheren neuen Ergebnisse wir
dem Experimente verdanken. Natürlich ist diese Scheidung nicht so
zu verstehen, als ob sie hernach mit voller Schärfe herausgehoben
werden sollte, sondern beide Gebiete werden uns in- und umeinander
beschäftigen.
646 A. Abhandlungen.
A. Allgemeine Ergebnisse.
1. Begleiterscheinungen fortlaufender Arbeit. Die Arbeitskurve.
Hoch und Kraepelin schließen ihre ausgezeichnete Abhandlung:
Über die Wirkung der Teebestandteile auf körperliche und geistige
Arbeit: Die Beurteilung des heranwachsenden Geschlechts würde von
der Feststellung sicherer Beziehungen zwischen Übungsfähigkeit und
Ermüdbarkeit die allergrößten Vorteile ziehen. Wir sind heute ge-
wöhnt, die geistige Begabung und besonders die Leistungsfähigkeit
sehr übungsfähiger Kinder weit zu überschätzen. Wissen wir erst,
daß große Übungsfähigkeit nur ein Ausdruck geringer Festigkeit
unseres Nervengewebes ist und sich zugleich mit großer Ermüdbar-
keit verbindet, so werden wir vor dem Irrtum bewahrt, die rasch
lernenden Kinder schon deshalb für verstandeskräftig zu halten, ob-
gleich doch die Verstandesbegabung unzweifelhaft von ganz andern
Eigenschaften abhängt. Wir werden aber auch uns hüten, jene Kinder,
die in kurzer Zeit erstaunliche Fortschritte zeigen, darum für besonders
arbeitskräftig anzusehen; vielmehr werden wir uns immer der fatalen
Mitgift erinnern, welche die große Übungsfähigkeit zu begleiten und
ihr einen großen Teil ihres Wertes zu entreißen pflegt, der großen
Ermüdbarkeit.
Der großen Übungsfähigkeit und ihrer stark ausgeprägten in-
dividuellen Differenzierung wurde oben bereits Erwähnung getan. Hier
interessiert sie als Begleiterscheinung der Ermüdung. Beide
stehen zueinander im Gegensatz, sind feindliche Kräfte, die sich
gegenseitig befehden, ohne doch sich gegenseitig dauernd zu ver-
nichten; vielmehr hemmen und binden sie sich in ihren auf die
quantitativen und qualitativen Arbeitswerte gerichteten Wirkungen. Die
Übung ist bestrebt, die Leistungsfähigkeit von Beginn an zu heben,
die Ermüdung, sie herabzusetzen, wenn möglich zu vernichten. Ihre
aufeinander gerichteten Wirkungen lassen beide Bemühungen nicht
zu reinlicher Ausprägung gelangen; wie bei dem Parallelogramm der
Kräfte wird das augenblicklich bestehende Verhältnis der Energie-
verteilung einen Leistungshöhepunkt bestimmen, der niedriger liegt,
als wenn die Übung das allein bestimmende Moment wäre. Jede
Leistung, zumal fortdauernder Art, wird die Form der bekannten
Galtonkurve beschreiben von symmetrischer oder asymmetrischer Ge-
stalt. — Der Kampf zwischen beiden wird mit steigernder Übung
immer ungleicher. Während die Ermüdung durch entsprechende
Ruhe gänzlich aufgehoben werden kann, bringt jede Übung der vor-
handenen Leistungsfähigkeit einen Energiezuwachs. Die Übung ver-
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 647
mag in steigendem Maße der Ermüdung zu widerstehen; aber es
bleiben Residuen, mit jeder neuen ähnlichen Arbeit gelingt die Ein-
stellung immer leichter und die Ermüdung macht sich immer später
deutlicher bemerkbar. Die Kurve, wir wollen sie kurz die Arbeits-
kurve nennen, behält also infolge der Übung bei demselben In-
dividuum keine dauernde Gestalt, der Fortschritt ist individuell eben-
falls stark verschieden, so sehr, daß man persönliche Differenzen
leicht zu erkennen vermag und charakteristische Eigentümlichkeiten
zu Typenbildern zusammenzufassen, die für gewisse Gruppen kenn-
zeichnend sind. Zwar sind Übung und Ermüdung keineswegs die
einzigen Faktoren, die für den Verlauf der Arbeitskurve entscheidend
sind, aber doch die wichtigsten, diejenigen, welche die Grundricbtung
bestimmen. Daher möge erlaubt sein, zunächst mit ihrer Hilfe allein
eine ideale Arbeitskurve zu konstruieren. Zu dem Zweck ist erst
nötig, eine ideale Übungs- und eine gleiche Ermüdungskurve zu ge-
winnen. (Will man nicht zugeben, daß sie als Arbeitskurve bezeichnet
werde, möge man sie Übungs-Ermüdungskurve nennen.)
Die Leistungssteigerung infolge der Übung geht nicht ins Unendliche,
auch dann nicht, wenn keine hemmenden Ermüdungswirkungen dem
entgegenstünden. Ganz unabhängig von der wirkenden Kraft hat jede
Leistung ein in sich begründetes Maximum der Vollkommenheit, sofern
man einen qualitativen, der Leistungssumme, sofern man einen quan-
titatiren Maßstab der Beurteilung zugrunde legt. Man kann sich
von der Wahrheit dessen am einfachsten durch die Annahme einer
qualitativen, beziehungsweise quantitativen Steigerung ins Unendliche
überzeugen; eine solche würde nicht mehr und nicht weniger als
eine Aufhebung, eine Verneinung der Leistung in sich schließen. Die
Übung wirkt ebenfalls nur bis zu einem bestimmten Kulminations-
punkte hin. Sie bedeutet letztenendes ja auch keine Schaffung neuer
Kräfte, sondern nur ein Mobilmachen vorhandener, eine bequemere
Angreifsmöglichkeit derselben durch Hinwegräumen von Hemmungen.
Die Übung bedingt formale Änderungen, die in der Zeitersparnis einen
äußeren Ausdruck findet. — Die Annäherung an die Leistungshöhe
geschieht nicht plötzlich, ebensowenig in unveränderter Richtung und
Geschwindigkeit, sondern allmählich. Denkt man sich die Entfernung
zwischen 0 und dem Leistungsmaximum in eine Reihe von Etappen
zerlegt, die gleiche Länge haben, dann muß man sich die Annäherung
so denken, daß ein immer größeres Maß von Übung erforderlich
wird, je näher man an den Höhepunkt herankommt, um ein gleiches
Etappenstück zurückzulegen, also der relative Übungszuwachs von
einem Etappenstück zum gleich großen anderen muß eine immer
648 A. Abhandlungen.
größere Steigerung erfahren. Denkt man sich diese Verhältnisse
figürlich, dann wird man die Übungswirkung in Form einer schwach
gebogenen Linie darstellen, die, je näher dem Kulminationspunkte,
desto flacher verläuft, während sie anfangs stärker gewölbt ist.
Diese ideale Konstruktion einer Übungskurve abstrahiert von
allen individuellen und typischen Besonderheiten. Gewiß nimmt die
Kurve im großen und ganzen den oben gekennzeichneten Verlauf.
Bedenkt man ferner die Tatsache, daß ein Übungsrest verbleibt und
sich für die nächste ähnliche Betätigung zu Dienste stellt, dann wird
leicht, einzusehen, daß mit der auf weitere Zeitstrecken verteilten
Übung sich eine immer weitere Verflachung der Kurve bemerkbar
machen muß zugleich mit einer sehr bedeutenden Verkürzung —
ganz abgesehen von den vielen individuellen Differenzen, die sich hier
wieder bemerkbar machen. — In der vorliegenden Angelegenheit be-
scheiden wir uns mit der idealen Konstruktion der Übungskurve.
Die Konstruktion einer Arbeitskurve hat zuerst Kraepelin
versucht (in der Festschrift zu Ehren Wundts). Sie hat natürlich
mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen, wenigstens zur Zeit. Die
Vorgänge, sagt Kraepelin, die hier ineinandergreifen, sind so innig
miteinander verknüpft, daß es unmöglich erscheint, sie getrennt einer
Messung zugänglich zu machen. Wir erkennen ihr Dasein, gewisser-
maßen wie dasjenige mancher Sternmassen im Weltenraume, nur aus
den Störungen, die sie im Ablaufe anderer Vorgänge verursachen,
ohne daß wir sie aus ihren Verbindungen loszulösen vermöchten.
Höchstens durch Rechnung können wir ihre Größe einigermaßen be-
stimmen. Und während die Weltkörper stets in denselben Bahnen
wandeln, so daß allmählich eine immer größere Genauigkeit der
Messung, eine fortschreitende Berücksichtigung aller Fehler möglich
ist, haben wir es hier mit überaus flüchtigen, den mannigfachsten
Zufällen und der Willkür unterworfenen Vorgängen zu tun, die nie-
mals in genau derselben Form wiederkehren, da sie selbst die Bahnen
verändern, in denen sie sich abspielen; — trotzdem waltet auch hier
Gesetzmäßigkeit. Wegen der noch unzulänglichen Hilfsmittel, die zur
Verfügung stehen, möchte ich mich begnügen mit einem erneuten
Hinweis auf den außerordentlich interessanten Versuch einer Kurven-
konstruktion durch Kraepelin; die nachfolgenden Zeilen sollen sich
lediglich auf die Übung und Ermüdung als Grundeinschlag des
Leistungsgewebes beschränken.
Nach diesen Ausführungen ist nicht notwendig, daß wir uns
lange bei der Konstruktion der idealen Ermüdungskurve aufhalten.
Selbstverständlich nimmt sie einen der Übungskurve genau entgegen-
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 649
gesetzten Verlauf. Auch hier begegnen Annäherungswerte, auch hier
haben wir zu Beginn eine besonders starke Krümmung oder, was
dasselbe sagt, einen stärkeren Abfall der Kurve.
Übung und Ermüdung wirken gegeneinander, die beiden Kurven
müssen zueinander in Beziehung gesetzt werden, aus ihnen muß
eine Superposition einer ideellen Übungs-Er-
müdungskurve sich ermöglichen lassen, die
bis zu einem gewissen Grade den tatsäch-
lichen Verhältnissen nahe kommt. Die Super-
position der Arbeitskurve kann leicht an
einem Beispiel erläutert werden.
In der Figur zeigt a-b die ideale Übungs-
kurve, Punkt b also den Höhepunkt an, der
ohne Hemmung seitens der Ermüdungs-
wirkung erreicht worden wäre. Die Kurve
a-c ist die ideale Ermüdungskurve und a-d
veranschaulicht die Arbeits- (Übungs - Er-
müdungs-) kurve. Durch weitere Steigerung
der Ermüdung würde das abwärts gerichtete Parabelstück bei b an-
geschlossen werden. — Die Ermüdung tritt zwar erst vom Höhe-
punkte an deutlich hervor, sie ist aber von Anfang an wirksam,
wenn auch überdeckt.
Die eben konstruierte Arbeits- oder Leistungskurve zeigt in in-
dividueller Sonderung eine sehr große Zahl von Varianten auf.
Ich greife nur einiges heraus zur Nlustrierung. Die verschiedenen
Sonderwesen zeigen hinsichtlich der Übungsfähigkeit große Variabilität.
Dieser Prüfling erreicht das Leistungsmaximum verhältnismäßig
schnell, jener erst nach geraumer Zeit, dieser in langsam und regel-
mäßig ansteigender Kurve, jener endlich nach immer neuen An-
läufen, also in mehrgipfeliger Kurve. Ähnliche Differenzen zeigt die
Ermüdungskurve Mancher ermüdet schnell, die Kurve nimmt sehr
bald eine stark abwärtsweisende Richtung, mancher vermag ihren
Wirkungen lange standzuhalten und seine Leistungskurve verläuft iu
sanft abwärtsgebogener Linie, mancher wieder bleibt längere Zeit auf
annähernd gleicher Leistungshöhe und erlahmt erst nach längerer Zeit,
dann aber in starkem Abfall der Leistungen. Aus diesen individuellen
idealen Übungs- und Ermüdungskurven lassen sich offenbar eine
ganze Reihe von verschiedenartigen Übungs - Ermüdungskurven
superponieren, die eine ebenso große Zahl realer Bestätigungen aus
den praktischen Erfahrungen finden werden.
Bezüglich der Übung ist noch eine wesentliche Bemerkung ein-
650 A. Abhandlungen.
zufügen. Ein Übungsgewinn wird nicht nur innerhalb einer Arbeits-
epoche erzielt, sondern jede Wiederholung bringt einen neuen Übungs-
zuwachs. Diesen Zuwachs bezeichnet man mit gutem Grunde als
Arbeitsersparnis, denn der Übungszuwachs besteht in einer immer
leichteren, sicheren und schnelleren psychophysischen Bereitstellung
auf die zu leistende Arbeit und bringt damit eine immer größere Er-
sparnis an aufzuwendender Energie.
Nun aber darf man sich diese Ersparnis nicht so vor-
stellen, als wenn der jeweilige Übungsgewinn gleichsam auf-
gespeichert würde um in unverkürzter Frische und Verwendbarkeit
zur gegebenen Zeit sich in den Dienst zu stellen. Seine Frische und
Verwendbarkeit ist sehr von der Länge der Zeit abhängig, die in
Latenz, wenn man so sagen will, zugebracht würde. Die Karenzzeit
hat einen Übungsverlust zur Folge, der im allgemeinen deren Dauer
direkt proportional ist, im besonderen aber so verläuft, daß auf einen
anfänglichen schnelleren Verlust eine Periode sehr langsamen Nach-
lassens folgt. Der Übungsverlust ist auch bei relativ kurzen Latenz-
zeiten deutlich nachweislich.
Die Übungs-Ermüdungskurve ist aber nicht allein durch die
beiden Hauptfaktoren in ihrem Verlaufe bestimmt, sondern es sind,
wie wir von der Kraepelinschen Schule belehrt worden sind, noch
Nebenwirkungen nachweislich, die den eben gezeichneten mehr oder
minder glatten Verlauf stark modifizieren. Die meisten dieser
Faktoren lassen sich ursächlich auf Willensregungen zurückführen.
Sie sind einer messenden Bestimmung nach der Kraepelinschen
Methode zugänglich. — Ich will versuchen, die Darstellung dieser
Nebenfaktoren in der Reihenfolge zu geben, wie sie durch Kraepelin
und seine Schüler gefunden wurden, bezw. eine erneute Bestätigung
oder vertiefte Charakteristik erfuhren. Da die Untersuchungen zu-
meist auf die geistige und leibliche Ermüdung zugleich, jeweils auch
auf ihr gegenseitiges Verhältnis Rücksicht nehmen, soll auch diese
Angelegenheit berührt werden.
Die Untersuchungen von Bettmann und Oehrn fanden eine
Bereicherung durch Amberg, der den Einfluß der Arbeitspausen auf
die geistige Leistungsfähigkeit untersuchte. Er fand, daß die Arbeits-
pausen keineswegs, wie man bisher angenommen hatte, im Grade ihrer
Länge erholend auf die Leistungsfähigkeit einwirkten. Nach ein-
stündigem Addieren zeigten Pausen von 5 Minuten Länge zwar nur
eine geringe, dennoch aber sehr deutliche günstige Einwirkung, da-
gegen wirkten Pausen von viertelstündiger Länge ungünstig. Auf-
fällig war ferner, daß sich das Verhältnis, wenn eine zweistündige
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 651
Addierarbeit voraufgegangen war, umkehrte, nun zeigte umgekehrt
die längere Pause eine günstige, die kurze eine ungünstige Wirkung.
Es lag nahe, dieses eigentümliche Verhalten damit zu erklären, daß
infolge der viertelstündigen Ruhe der Übungsverlust ein größerer ge-
worden sei. Dazu ist aber die Zeitspanne viel zu kurz. Hier tritt
ein neues Moment in Wirksamkeit, das die Kraepelinsche Schule
als Anregung oder Arbeitsbereitschaf, Meumann als Anpassung,
nämlich Anpassung der ganzen inneren Verfassung an die jeweils vor-
liegende Arbeit, bezeichnet. Sie erläutern dessen Wesen an einem
Bilde aus der mechanischen Arbeitsverrichtung. Sie erinnern daran;
daß ein Rad, um in Bewegung gesetzt zu werden zunächst eines
starken Anziehens, einer energischen Kraftanspannung bedarf, bis es
seine gewohnte Geschwindigkeit erreicht hat, hernach; wenn es erst
im Gange ist, bedarf es nur geringerer regulierender und forttreibender
Anstrengungen. Die Wirkung der Pause ist nämlich dreifach, sie
gleicht die Ermüdung aus, die Anregung geht während derselben
verloren und die Übung schwindet. Von der Länge der Pause
ist abhängig, welche der drei Wirkungen sich besonders deutlich
bemerkbar macht. Ermüdung und Übung schwinden im Ver-
laufe längerer Pausen, die Anregung während einer kürzeren Ruhe-
zeit. In den Untersuchungsergebnissen Ambergs wirkt im ersten
Falle, also nach einstündiger geistiger Arbeit, die kurze Pause darum
günstig, weil die Anregung, die Arbeitsbereitschaft noch nicht er-
loschen ist, wohl aber nach einviertelstündiger Pause. Nach längerer
Arbeit ist die Ermüdung intensiver, die Erholung gründlicher als nach
kurzer Pause. Die Arbeitsbereitschaft scheint nach längstens zehn
Minuten oder auch nach kürzerer Zeit ausgeglichen zu sein.
Die Anregung ist zu unterscheiden als spezielle und allgemeine
Arbeitsbereitschaft. Die erstere ist auf eine spezielle Tätigkeit ge-
rüstet; die andere nicht. Die erstere fassen Kraepelin und seine
Schüler bei ihren Untersuchungen besonders ins Auge. Die An-
regung macht sich namentlich beim Beginn der Arbeit geltend, indem
wir mit einem gewissen Maß von angesammelter Energie und Frische
an die Arbeit herantreten, durch welches bei manchen Individuen
eine ungewöhnlich hohe Anfangsleistung erzielt wird, die aber bald
auf ein geringeres Maß herabsinkt. Die allgemeine Anregung wird
natürlich erst durch längere Ruhepausen, die Nachtruhe, die Mittags-
pause aufgehoben, die Anregung für eine besondere Tätigkeit geht
nach kurzer Zeit verloren. Der Verlust an Anregung ist um so
größer, je länger die Pause ist — und je intensiver die Aufmerk-
samkeit auf die spezielle Tätigkeit eingeschränkt war. Es ist nicht
652 A. Abhandlungen.
verwunderlich, daß nach einer Ruhezeit von 10—15 Minuten die
wiederbeginnende Arbeit mit geringeren Anfangsleistungen einsetzt.
Die Fortdauer der Übungsspuren kann eine erstaunlich lange
sein. Nach zwei 2stündigen Addierversuchen, berichtet Kraepelin,
schien bei mir selbst volle 3 Monate später noch ein deutlicher
Übungsrest vorhanden zu sein; von 17 mal wiederholten Assoziations-
versuchen ließen sich unverkennbare Nachwirkungen noch nach
1%/, Jahren nachweisen. Der bei weitem größte Teil der Übung
geht allerdings recht rasch verloren; nur ein gewisser Bruchteil der-
selben erhält sich mit außerordentlicher Zähigkeit.
Rievers und Kraepelin gelang der Nachweis eines anderen
Willensmoments, daß in den Gang der Leistungskurve bestimmend
einzugreifen vermag, und zwar sowohl am Anfang, in der Mitte und
am Ende, und dieses Willensmoment zahlenmäßig zu fixieren. Sie
bezeichnen es als Antrieb. Der Antrieb tritt zutage als eine Senke
zu Beginn der Arbeit, der hernach unter dem Einfluß der Übung ein
Steigen folgt. Weygandt gelang zuerst der exakte Nachweis, daß
der Antrieb nicht nur als sogenannter Anfangsantrieb zu Beginn
einer Arbeit sondern auch während derselben als Wechsel- und an
ihrem Ende als Schlußantrieb vorhanden ist. Der Name Wechsel-
antrieb deutet darauf hin, daß die äußere Veranlassung zu erneuter
stärkerer Willensanspannung zumeist in dem Reiz der Neuheit zu
finden ist. Doch ist selbsverständlich auch möglich, daß der Wechsel-
antrieb veranlaßt werde durch Zurufe, Anspornen des Wettbewerbs u. a-
Der Schlußantrieb wird veranlaßt durch die Wahrnehmung, daß das
Ende der Arbeit nun nahe sei.
Voß ging in seinen Untersuchungen über die Aironet
der geistigen Arbeitsleistung den hemmenden und fördernden Be-
dingungen genauer nach. Dabei gelang ihm der wichtige Nachweis,
daß die eben gezeigten Schwankungen nur die gröberen sind. Neben
ihnen gibt es eine ganze Reihe feinerer Schwankungen der geistigen Arheit
und zwar mit genauer Periodizität, also auch innerhalb der Arbeit
sind Wirkungen des Antriebes wirksam. Voß deutet ihr Wesen
als Aufmerksamkeitsschwankung, also als zentral bewirkt; er zeigt,
daß die normale Durchschnittsdauer der Aufmerksamkeitsschwankungen
18/,“ beträgt, daneben werden Intervalle von 1%, Sekunden bevorzugt,
innerhalb deren sie sich immer wieder zu höchsten Spannungen der
Leistungen erheben. — Lindley zeigt, daß zwar der größte Teil des
Übungszuwachses zunächst schnell, hernach immer langsamer in
24 Stunden verloren gehen kann, während die Antriebsfähigkeit von
der Pausenlänge unbeeinflußt bleibe.
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 653
Endlich werde erinnert an die Arbeit Heümans, der dem
Lauf der Willensspannung während der Arbeit nachging. Nach
seinen Untersuchungen erreicht sie anfangs eine bedeutende Höhe,
um dann, wenn Anregung und Übung sich entwickeln, sehr schnell
zu sinken. Je mehr die Ermüdung sich geltend macht, desto mehr
steigt die Willensanspannung. Als letzter Faktor muß die Ge-
wöhnung genannt werden. »Sie bewirkt, daß wir uns allmählich an
den Charakter der Arbeit selbst und ihre äußeren und inneren Be-
dingungen anpassen und die für die Arbeit günstigste allgemeine
innere Verfassung gewinnen, insbesondere verschwinden nach
Meumanns Beobachtungen durch die Gewöhnung Unlustgefühle und
innere Spannungen, welche den Fortschritt der Arbeit hindern.«
2. Welche psychische Funktionen unterliegen der Ermüdung zuerst?
Die neueren Forschungen haben keine einwandfreie Rangordnung
unter den psychischen Partialprozessen unter dem Gesichtspunkte ihrer
Widerstandsfähigkeit gegen Ermüdungswirkungen zuwege bringen
können. Zwar steht fest, daß einzelne psychische Funktionen in
höherem Grade der Ermüdung und der Übung zugänglich sind, andere
unter ihren Wirkungen nur geringe Veränderungen zeigen. Keine
vermag sich ihnen gänzlich zu entziehen. Vielfach war man ge-
neigt, anzunehmen, daß das Gedächtnis, besonders dessen Aufnahme-
fähigkeit, die Leistung des unmittelbaren Behaltens am ehesten und
stärksten unter der Ermüdung zu leiden habe. Meumann konnte
die Richtigkeit dieser Annahme aber nicht bestätigen. Er hat
mehrere Semester lang vergleichende Beobachtungen an sich selbst
angestellt und gefunden, daß die Leistungen nach anstrengenden
Arbeitsperioden nicht wesentlich geringer waren als diejenigen vor
denselben. Andere sind der Meinung, daß alle mit der Aufmerk-
samkeit zusammenhängenden Prozesse, letztenendes die Konzentration
derselben, in erster Linie in Mitleidenschaft gezogen werden. Nach
Meumann werden der Vorstellungsverlauf, die Reproduktions-
prozesse und die Urteilstätigkeit besonders leicht und besonders nach-
haltig beeinflußt. Die Vorstellungen werden inhaltsärmer, un-
bedeutender, sie strömen weniger leicht zu. Die Gefühle werden ab-
gestumpft, bei Experimenten über den Ausdruck der Gefühle be-
merkte er, daß ermüdete Teilnehmer weniger stark und weniger leicht
auf Gefühlsreize reagierten, dagegen zeigte sich einige Male, daß im
dritten Ermüdungsstadium die Gefühlsreaktionen wieder zunehmen,
insbesondere werden dann die Reflexe gesteigert. Bei Schreckreizen,
wie starkem Knall, fahren die Versuchspersonen gewaltig zusammen,
654 A. Abhandlungen.
und der Schreck wirkt lange in der Stimmung nach. Neben den
Gefühlen erfährt auch die Phantasietätigkeit starke Einbuße.
Eine genauere Untersuchung der meisten dieser Erscheinungen steht
noch aus, doch verdanken wir Aschaffenburg eine experimentelle
Untersuchung über Assoziationen, in deren zweiten Teile er die
Assoziationen in der Erschöpfung behandelt. Unter der Wirkung der
zunehmenden Erschöpfung wurden die gewöhnlichen Beziehungen
zwischen Reizwort und zugehöriger Reproduktion gelockert, an die
Stelle der begrifflichen Zusammenhänge treten äußerliche, mechanische,
die Klangassoziationen drängen sich vor. Die Bewegungsvorstellungen
dominieren. Er betrachtet geradezu als das wesentlichste Moment für
das Zustandekommen der Klangassoziationen in einer die Norm über-
schreitenden Anzahl die Erleichterung der Auslösung motorischer
Antriebe.
Endlich macht Miesemer, darauf aufmerksam, daß nächst der
Vorstellungstätigkeit vielleicht die Auffassung von Sinneseindrücken
besonders leide, sie wird flüchtiger, die Neigung zu ungenauen Aus-
sagen über Wahrgenommenes und zu voreiliger Urteilsbildung
darüber nimmt zu; die Merkfähigkeit (nach Meumann die unmittel-
bare Einprägung von Eindrücken) leidet zumal nach geistiger,
weniger nach körpenlicher Anstrengung. (Nebenher mögen folgende
Resultate der Arbeit Miesemers angemerkt werden, die sich zum
Teil auf Veränderungen der Schrift beziehen. Unter dem Einfluß
der körperlichen Arbeit wächst der Schreibdruck, während er nach
geistiger Arbeit abnimmt. Die Schrift wird nach körperlicher Arbeit
größer, nach geistiger kleiner, in gleichem Sinne steigt und fällt die
Schreibgeschwindigkeit).
Eine bestimmte zuverlässige Wertung der Funktionen nach dem
Maße ihrer Widerstandsfähigkeit gegen die geistige Ermüdung läßt
sich nicht wahrnehmen. Das ist einesteils verursacht durch einen
äußeren Umstand nämlich den, daß experimentelle Untersuchungen
auf diesem Gebiete noch in sehr geringer Anzahl vorliegen: man
sieht sich zumeist auf gelegentliche Ergebnisse verwiesen, die sich
bei der Lösung anderer Aufgaben nebenher fanden. Daneben aber
machen sich hier zweifellos individuelle Eigentümlichkeiten tief ein-
greifender Art geltend, die eine Anordnung ihrerseits sehr er-
schweren, wenn nicht überhaupt unmöglich machen.
3. Periodische Schwankungen der Leistungsfähigkeit.
Neben solchen Untersuchungen, die sich zur Aufgabe gemacht
haben, den unmittelbaren Einfluß der Ermüdung auf die geistige
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 655
Leistungsfähigkeit darzutun, richten andere ihr Augenmerk weiter
auf größere Zeitepochen, gehen periodischen Schwankungen in der
Arbeitsfähigkeit der Individuen nach, die nicht sowohl in unmittel-
barem kausalen Zusammenhang mit geistiger oder leiblicher An-
spannung stehen, sondern Ursachen unterworfen sind, deren Wesen
noch dunkel ist. Die Forscher müssen sich zumeist begnügen, sie
zu deuten als Tatsachen der Psychogenesis oder Parallele her-
zustellen zu sozialen oder — einen zwar nicht unmißverständlichen
Ausdruck Lays zu gebrauchen — naturaler Art.. Zumeist werden
kausale Beziehungen aus konkurrenten Erscheinungen der letzteren
konstruiert, unter denen die größeren Regelmäßigkeiten im Wechsel
der Tages- und Jahreszeiten, der Temperatur, die Einflüsse des
Klimas und des Wetters zu verstehen sind.
Diese Konstruktionen sollen uns hier nicht interessieren, sondern,
es möge genügen, die gewonnenen experimentellen Tatsachen kurz
anzumerken. Die Untersuchungsmethoden erfordern keinerlei Er-
läuterungen, wir kennen sie bereits als solche, die bei der Er-
müdungsmessung Verwendung gefunden haben.
Die Untersuchungen, beziehen sich teils auf die periodischen
Schwankungen der physischen, teils auf solche der geistigen
Leistungsfähigkeit. Offenbar ist man imstande, mit Hilfe der meisten
Methoden, die sich in den Dienst der Ermüdungsmessung gestellt
haben, diesen Schwankungen nachzugehen, es bedarf nur, daß sie
über genügend lange Zeiträume ausgedehnt werden. Das stößt zu-
meist auf eine Reihe versuchstechnischer Schwierigkeiten, u. a. auf
solche, die sich aus Störungen resultieren, die Massenbeobachtungen
— und um solche handelt es sich hier — geregelten Arbeitsbetrieben
notwendig bringen müssen, öfter noch auf innere. So vertragen viele
Messungsmethoden, die nicht besonders genannt zu werden brauchen,
keine häufige Wiederholungen, sie würden sonst an Exaktheit und
Zuverlässigkeit in sehr hohem Maße verlieren, u. a.
Der erste Forscher, der meines Wissens den periodischen
Schwankungen der psychischen Leitungsfähigkeit der Schulkinder mit
der Mitteln des Experiments nachging, war meines Wissens der ver-
diente belgische Prof. Dr. Schuyten. Er untersuchte teils die
Schwankungen der Aufmerksamkeit, teils die der physischen Energie.
— Zur Untersuchung der ersteren wandte er die weiter oben ge-
kennzeichnete Lesemethode an und fand: 1. Die Energie der Auf-
merksamkeit ist umgekehrt proportional der atmosphärischen Temperatur,
ist größer im Winter als im Sommer; 2. sie ist in den höheren
Klassen größer als in den niederen; 3. sie ist bei Mädchen größer
656 A. Abhandlungen.
als bei den Knaben; 4. sie vermindert sich von 81/ Uhr vormittags.
Die Aufmerksamkeit ist um zwei Uhr nachmittags größer als um
11 Uhr vormittags, aber immer geringer, als um 81/, Uhr morgens.
Auch die physische Leistungsfähigkeit in ihren Schwankungen
wurde von Schuyten auf Grund sehr umfänglicher und sorgsamer
Untersuchungen festgestellt. Er suchte zwei Fragen zu beantworten:
1. Worin besteht die Ursache der außergewöhnlichen Abweichung im
Monat März? 2. Ist der Höhepunkt der psychischen Energie für
diesen Monat die Regel? Bestätigt die Nachprüfung das Ergebnis des
Vorjahres, so beschreibt die Aufmerksamkeitsenergie im Verlaufe eines
Jahres eine Kurve, die im Monat März ihren Höhepunkt, im Juli ihren
Tiefpunkt erreicht. Schuyten gewann folgende Resultate: Deutlich
sind vier Perioden in der jährlichen Entwicklung der Muskelkraft zu
unterscheiden und zwar zunächst eine fallende von Januar bis März,
dann eine steigende von April bis Juni, wieder eine fallende von
Juli bis September (die allerdings zum Teil erschlossen werden mußte,
weil eine längere Vakanz in diesen Zeitraum fiel), endlich fand sich
wieder von Oktober bis zum Dezember eine steigende Periode. Faßt
man die Monatsziffern zu Quartalsziffern zusammen, dann tritt als
Ergebnis noch deutlicher zutage: Ungerechnet die natürliche stete
Steigerung der Körperentwicklung, fällt eine höhere steigende und
fallende Periode zusammen mit Frühling und Sommer, eine niedere
mit Herbst und Winter; die Sommerperiode ist als die höhere, die
Winterperiode als die niedrigere anzusehen.
Von besonderem Interesse ist ein Vergleich zwischen der
psychischen (Aufmerksamkeits-) und der physischen Jahreskuve.
Schuyten hebt als Vergleichsergebnis hervor: Die psychische und
physische Kraftentfaltung steigt von Oktober bis Januar und fällt
von Januar bis März. Dann scheiden sich die Kurven und nehmen
eine entgegengesetzte Richtung ein: Während die Aufmerksamkeit
während der Sommermonate schnell fällt, steigt die Muskelkraft in
auffallender Weise bis zum Juni (oder Juli); vom Oktober an steigen
beide bis zum Januar.
Den Jahresschwankungen der psychischen Kraftentwicklung suchte
ich mit Hilfe der Gedächtnismethode nachzugehen. Auch das un-
mittelbare Behalten ist wellenähnlichen Schwankungen unterworfen.
Unter Ausschaltung der Sonderbedingungen, d. h. dann, wenn man
alle Resultate in ihrer Gesamtheit vergleicht, ohne Rücksicht zu
nehmen auf Unterschiede der Geschlechter, des Alters, gewährt
die Gedächtnisentwicklungskurve folgendes Bild: Sie zeigt eine Welle,
die im ersten Halbteile um ein gut Stück höher liegt als im zweiten.
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 657
Ähnliche Schwankungen gelang Stern und besonders Lay mittels
der Methode des Taktklopfens nachzuweisen.
Ich will auf eine Kritik dieser Untersuchungsweisen nicht ein-
gehen; man findet dazu vorzügliche Bemerkungen bei Lehmann-
Pedersen: Untersuchungen über das Wetter und unsere Arbeit. In
dem vorliegenden Zusammenhange soll nur zum Ausdruck gebracht
werden, daß die Leistungsfähigkeit periodischen Schwankungen unter-
worfen ist, und zwar nicht nur jährlichen, wie oben gezeigt, sondern
auch solchen in kürzeren Perioden, monatliche, wöchentliche, tägliche,
stündliche, ja, v. Voß gelang in seiner Arbeit über die Schwankungen
der geistigen Arbeitsleistung der Nachweis regelmäßiger noch feinerer
Schwankungen der geistigen Arbeit mit genauer Periodizität, ein Er-
gebnis, das durch andere Forscher durchaus bestätigt worden ist.
4. Der Einfluß des Arbeitswechsels.
Entsprechend der Erfahrung, daß der Wechsel in der geistigen
Betätigung erfreut, weil das Neue, das er bietet, reizt, hat sich die
Meinung seit alters weit verbreitet, daß dieser Wechsel imstande sei,
Ermüdungswirkungen zu hemmen, oder auszulöschen. Man wird
geneigt sein, anzunehmen, daß solchen Meinungen, die sich so all-
gemeiner Zustimmung erfreuen, nicht lediglich Irrtümliches zugrunde
liegen kann, daß sie vielmehr auf Beobachtungen sich stützen müssen,
die wenigstens zu einem Teile Wahrheit enthalten. Das hindert
natürlich nicht, daß ihnen trotz der objektiven Gültigkeit eine
psychologische und physiologische Interpretation widerfahren ist, die
sich vor gegenwärtigen Forschungsergebnissen nicht zu behaupten
vermag.
Die Beobachtung, daß, zumal nach anstrengenden und wenig
zusagenden Beschäftigungen geistiger oder körperlicher Art, ein
Wechsel in dem Einerlei mit lebhafter Freude und wenigstens mit
dem Scheine neuer Arbeitsbereitschaft, neuer Frische begrüßt wird,
ist durch eigene und Beobachtungen an der Jugend so vielfach be-
stätigt worden, daß an der Tatsache nicht wohl gezweifelt werden
kann. Daß aber eine schiefe Interpretation dieses Erlebens hier zu-
nächst nicht gänzlich ins Gebiet des Unmöglichen verwiesen werden
darf, folgt schon daraus, daß der Zustand, der mit dem Wechsel
kausal verknüpft wird, sehr komplexer Art ist. Diese Komplexität
läßt möglich erscheinen, daß bestimmte Gefühls- und Erregungs-
zustände, die zunächst durch ein allgemeines »Erleichtertwerden«
charakterisiert sind, als solche gedeutet werden, die eine Steigerung
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 42
658 A. Abhandlungen.
der Leistungsfähigkeit, also eine wenigstens teilweise Aufhebung des
Ermüdungszustandes zu veranlassen imstande sind.
Man könnte zunächst einige theoretische Erwägungen anstellen,
die die Möglichkeit einer solchen Energiesteigerung angehen. Dabei
empfiehlt sich vorläufig die Erschöpfung und die Ermüdung streng
auseinander zu halten und zu erwägen, ob tatsächlich bestehende
Ermüdungszustände infolge einfachen Wechsels in der Art der
Betätigung eine augenblickliche oder längere Aufhebung erfahren
können. — Oben wurde ausgeführt, daß der Mensch ein organisches
Ganzes sei, daß nicht wohl ein isoliert bleibender Kräfteverbrauch
möglich sei. Dieser zieht vielmehr weitere Kreise, macht Ersatzhilfen
aus näherer und weiterer Ferne mobil. Eine isolierte Ermüdung ist
innerhalb nichtpathologischer Verhältnisse nach Ausweis der Erfahrung
nicht möglich. Ist jede Ermüdung aber eine allgemeine, zieht sie
deu ganzen Organismus in Mitleidenschaft, wenn auch in schwächerem
Maße, je weiter man sich von dem Ermüdungszentrum entfernt, dann
ist offenbar ein Unding, anzunehmen, daß ein Arbeitswechsel als
solcher eine tatsächliche Unterbindung oder Aufhebung der Er-
müdungswirkung bedeuten könnte; denn der Arbeitswechsel bedeutet
immer eine Arbeitsfortsetzung, wenn auch vielleicht in anderer Form,
also eine fortgesetzte Inanspruchnahme der Kräfte und mithin eine
Herabsetzung der Leistungsfähigkeit. Unter der eben gemachten
Voraussetzung kann die Meinung, der Arbeitswechsel bedeute eine,
wenn auch nur vorübergehende, Erholung, nur auf einer Täuschung
beruhen, einer falschen Interpretation subjektiver Erfahrungen, die an
den Wechsel in der Betätigung geknüpft sind.
Weitere Überlegungen aber lassen eine derartige Weise fort-
schreitender Ermüdung wenig glaubhaft erscheinen. Jedenfalls wissen
wir, daß der Wille trotz fortgeschrittener Ermüdung — von Er-
schöpfung reden wir bier nicht — auf einem andern Betätigungs-
gebiete bedeutende Leistungen zu erzwingen vermag, die nicht ver-
ständlich wären, wenn durch die voraufgegangene Arbeit eine Herab-
setzung der Leistungsfähigkeit in radialer Ausstrahlung erfolgt wäre.
Ja, selbst der bis zur Erschöpfung der Muskelkraft fortgesetzte tetani-
sierte elektrische Reiz beläßt in dem Muskel noch einen Rest von
Energie, welcher von dem Willen ausgenutzt werden kann und hin-
wiederum läßt der Wille einen Rest von Kraft zurück, welcher von
der Elektrizität ausgenutzt und in Tätigkeit gesetzt wird, und wenn
diese Reize einer nach dem andern tätig sind, erschöpfen sie die
ganze Muskelkraft, gleichviel, welcher von beiden den Vortritt hatte.
Wahrscheinlich, so meint Mosse, handelt es sich hier um Erholungen,
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 659
die in den Nervenzentren erfolgen, wenn der Wille keine An-
strengungen macht. Jedenfalls zeigt dieses Beispiel, daß bei dem
Arbeitswechsel Umstände mitspielen, die von der Ermüdung mehr
oder minder unabhängig sind und wohl zu Fehldeutungen Veranlassung
geben können.
Zwar dürfen wir von einer isolierten Ermüdungserscheinung
nicht reden — wohl aber von einer partiellen, hier, wo es sich um
geistige Ermüdung handelt, um eine erhöhte Inanspruchnahme solcher
Organe, die zu bestimmten Hirnpartien in engerer Beziehung stehen.
Bei jeder Ermüdung handelt es sich, wie im dritten Kapitel dar-
gestellt wurde, einesteils um das Aufspeichern und Fortschaffen von
Ermüdungsstoffen, die sich an der Arbeitszentrale ansammeln, anderer-
seits aber um Ersatz der bei der Arbeit verwendeten organischen
Aufbaustoffe. Die sogenannte spezielle Ermüdung wird veranlaßt
durch die stärkere Ansammlung der Toxine und den erschwerten
Ersatz der Aufbaustoffe in den zunächst beteiligten Organen. Tritt
nun ein Wechsel in der Heranziehung der Organe ein, dann ist sehr
wahrscheinlich, daß die neue Arbeitsform schneller und mit einem
Gefühle der Erleichterung vonstatten geht, als vorher der Fall war.
Natürlich mußte es sich bei geistigen Betätigungen um solche Ver-
änderungen handeln, die andere Gehirnpartien in Mitleidenschaft
ziehen als die vorherigen. — Ob freilich dieses Gefühl der Befreiung
und Erleichterung ein untrügliches Kennzeichen dafür ist, daß die
neue Arbeit mit neuen frischen Kräften in Angriff genommen wird,
daß der Wert der Leistungen sich infolgedessen erhöhe — ist zu-
nächst nur eine Vermutung. — Definitive Entscheidung kann nur
das Experiment bringen, das die Wirkungen des Arbeitswechsels zu
seinem speziellen Gegenstande macht. Dessen Hauptaufgabe besteht
letztenendes darin, zu entscheiden, ob eine spezielle Ermüdung eine
isolierte sei und durch die wachsenden Ermüdungsgrade hindurch
bleibe oder jede sich über den Gesamtorganismus ausbreite und in
welchem Maße. — Bis heute liegen wenig solcher Untersuchungen
vor; die bekanntesten und bedeutsamsten sind diejenigen, welche
Weygandt in den Kraepelinschen psychologischen Arbeiten ver-
öffentlicht hat unter dem Titel: Über den Einfluß des Arbeitswechsels
auf die fortlaufende geistige Arbeit, in der er sich die Frage vor-
legt: Ist der Arbeitswechsel von günstigem Einfluß, wie vulgär ge-
glaubt wird? Er wandte folgende geistige Arbeiten bei seinen Ver-
suchspersonen an: 1. das Addieren nach der bekannten Weise,
2. das Memorieren zwölfstelliger Zahlen, 3. das Auswendiglernen
zwölfstelliger sinnloser Silbenreihen, 4. das Suchen bestimmter Buch-
42*
660 A. Abhandlungen.
staben, 5. das Lesen fremdsprachlicher Texte, 6. vollständige Ruhe-
pausen. Diese Arbeiten fanden mannigfache Verwendung, teils als
Grund-, teils als Wechsel- oder Einschiebearbeiten.
Er kommt zu dem wichtigen Ergebnis: Der Arbeitswechsel be-
dingt nicht unter allen Umständen eine Verbesserung der Leistung
— ein Ergebnis, das im übrigen Schulze in seiner Arbeit:
500000 Rechenaufgaben, ohne darauf seine besondere Absicht zu
richten, durchaus bestätigte. (Ich bitte weiter oben zu vergleichen,
daß bei Schulze bei ganzstündigem Rechnen die Leistungen von
der ersten zur zweiten Halbstunde von 43000 auf 44000 stiegen, die
im Buchstabenabschreiben allerdings fielen, daß aber bei halbstündigem
Wechsel die Rechenleistungen von 41000 auf 40000 zurückgingen.)
Weygandt drückt sich gleich darauf noch entschiedener aus, indem
er sagt: Von einer einschneidenden Verbesserung der Leistung durch
den Arbeitswechsel kann nicht die Rede sein. Nicht vom Wechsel
allein, überhaupt nicht von der Art der Arbeit ist ein Erfolg des
Wechsels abhängig, sondern allein die Schwere der Arbeit ist maß-
gebend. Die Schwere aber bestimmt sich zur Hauptsache nach der
Individualität des Prüflings.. Unter dieser Voraussetzung ist ver-
ständlich, daß eine leichtere Einschiebarbeit zur Folge hat, daß wir
dann, wenn wir die schwerere wieder aufnehmen, bessere Resultate
erzielen. Verantwortlich dafür ist die Wirksamkeit der Wechsel-
antriebe, aber, »unerschütterlich fest steht: Von einer partiellen Er-
müdung kann keine Rede sein, sondern sie breitet sich aus auf die
Träger anderer Verrichtungen«. Den Wechselantrieb führt Weygandt
zurück auf motorische Erregung.
Offner hält den Untersuchungen Weygandts entgegen: Sie
beweisen nichts gegen die spezielle Ermüdung und nichts gegen die
Annahme einer vorteilhaften Wirkung eines Wechsels in der Art der
Arbeit. Denn die Arbeiten, zwischen denen er abwechselte, sind zu
wenig verschieden. Es sind zwar verschiedene Operationen, aber mit
teils ähnlichen, teils gleichen Elementen. Physiologisch gedacht sind
es Vorgänge, die sich vorwiegend in denselben Hirnpartien abspielen.
Er hält die Erscheinung, daß bei der neuen, der sogenannten
Wechselarbeit bessere Leistungen erzielt werden als bei der voran-
gegangenen am Ende, trotz der aus der Verbreitung der Ermüdungs-
stoffe zu erwartenden allgemeinen Herabsetzung der Leistungsfähigkeit,
deshalb für begreiflich, weil einerseits der Reiz des Neuen das Inter-
esse weckt, zu erhöhter Energieausgabe veranlaßt, anderseits die
bei der neuen Arbeit in Tätigkeit tretenden Teile des Organismus
noch nicht in Anspruch genommen, ihre Kraftvorräte noch nicht
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 661
angegriffen sind — sofern nur eine mäßige Ermüdung voraufgegangen
und die Wechselarbeit wesentlich anders ist als die erste.
5. Übung und Gewöhnung.
Bei dem ungemein starken Anwachsen der Übungswirkungen,
spielt jedenfalls die Gewöhnung eine bedeutsame Rolle. Bei den
Kraepelinschen Addierarbeiten handelt es sich um oft geübte Be-
tätigungen. Sie fordern, daß auf ungewöhnlich lange Zeit die Auf-
merksamkeit ununterbrochen auf denselben Gegenstand gerichtet und
alle Nebenvorstellungen ferngehalten werden, die sich gerade bei dem
Herantreten an eine neue Arbeit besonders stark aufdrängen. Ferner
muß das Gefühl des »Ungewohnten« überwunden werden, was ver-
hältnismäßig rasch gelingt. Diesem raschen Eintritt der Gewöhnung,
so äußert sich Kraepelin, dürfte die unverhältnismäßige Steigerung
der Leistung mit entsprechen.
6. Ermüdung und Schlaf.
Über die psychologischen Ursachen des Schlafs ist man sich
noch keineswegs klar, auch über sein Verhältnis zur Ermüdung nicht
überall einig. Die landläufige Erfahrung faßt den Schlaf als Folge
tiefer Ermüdung auf. Dem steht die Erfahrung entgegen, daß durch-
aus nicht immer ein hoher Grad von Ermüdung zum Schlafe not-
wendig ist. Man kennt auch »Übermüdung, die den Schlaf nicht
gönnen mag«e. Auch weiß man, daß der Schlaf sich ohne besondere
Erschöpfung zur gewohnten Zeit einstellt, und daß er sich dann,
wenn man, wie der volkstümliche Ausspruch heißt, über den Schlaf
hinaus ist, d. h. die gewohnte Zeit des Einschlafens versäumt hat,
sich längere Zeit nicht einstellen will. Diese Tatsachen lehren, daß
die Ermüdung nicht die einzige Ursache des Schlafs sein kann,
wenn gleich sie in erster Linie verantwortlich gemacht werden muß.
Sicher steht der Schlaf in bestimmtem Verhältnis zu der Art
und Intensität der voraufgegangenen Arbeit. Je größer und länger-
währender diese, desto größer ist das Schlafbedürfnis, desto tiefer
und anhaltender ist er. Je weniger widerstandsfähig der Organismus
ist, desto größer ist sein Erholungsbedürfnis im Schlafe. Je ruhiger,
je ungestörter durch Träume, desto gründlicher ist der Ersatz der
verbrauchten Stoffe und die Fortschaffung der Toxine. — Es kann
bei der Schwierigkeit der Untersuchungen nicht wunder nehmen, daß
bis heute über das Verhältnis von Schlaf und Erholung nur wenig
experimentelle Studien vorliegen. Sie beschränken sich auf die ex-
perimentelle Messung der Schlaftiefe und deren Einfluß auf die
662 A. Abhandlungen,
geistige Leistungsfähigkeit:. Zu erwähnen sind hier die Unter-
suchungen von Michelson und Römer. Die ursprüngliche Idee
zur Messung der Schlaftiefe stammt, nach Michelson, von Kohl-
schütter, der sich eines Schallpendel bediente Er fand aber
Gegner, weil bei seinen Experimenten die Erwartung eine Rolle
spielte, infolge der die Versuchspersonen ihre Aufmerksamkeit vor-
weg auf das kommende Geräusch einstellten. Diese Fehlerquelle
schaltete Michelson nach Möglichkeit aus: Die Versuchspersonen
wurden durch das Geräusch überrascht. Der Schlaftiefenmesser
Kraepelins ist ein einfacher und sinnreicher Apparat. Er ist ein
Fallapparat. Eine Stahlkugel fällt aus bestimmter Höhe auf eine
Unterlage, je größer die Fallhöhe, desto stärker ist das Geräusch. Je
tiefer der Schlaf ist, desto stärkerer Reize bedarf es, um das Indi-
viduum aufzuwecken. Durch eine Reihe von Versuchen gelingt die
Feststellung einer Schlaftiefenkurve und der Nachweis, daß die indi-
viduellen Kurven von großer Ungleichheit sind. Ein Uhrwerk erlaubt
eine solche Einstellung, daß der Schallreiz zu einer beliebigen Nacht-
zeit appliziert werden kann. Die Erfahrungen Michelsons sprechen
dafür, daß die Schlafkurve bei den Morgenarbeitern viel rascher ihre
größte Tiefe erreicht und sich wieder verflacht als bei den Abend-
arbeitern. Kraepelin fügt dem hinzu. Wir dürfen annehmen, daß
die Fortschaffung der Ermüdungsstoffe, namentlich aber der Ersatz
der verbrauchten Kräfte und damit die Erholung sich vorzugsweise
im Tiefschlafe vollzieht. Bei den Morgenarbeitern ist die Erneuerung
des verbrauchten Stoffes anscheinend schon 2—3 Stunden nach dem
Einschlafen beendet, so daß nur noch eine Reihe von Stunden ober-
fächlicheren Schlafes folgen. Dagegen scheint der Ersatz bei den
Abendarbeitern so langsam und zögernd stattzufinden, daß er erst
kurz vor dem Erwachen abgeschlossen is. Es wäre daher recht
wohl möglich, zumal die stofflicbe Erneuerung mit einem Verlust
früher erworbener Eigenschaften der körperlichen Grundlagen unseres
Seelenlebens einhergeht, daß hier die Erschwerung der Morgen-
arbeit ihren Grund mit in den inneren Widerständen hätte, welche
die Aufnahme neuer Teile in den Verband der arbeitenden Gewebe
zunächst netwendig erzeugen muß.
Die Erfahrung, daß das Schlafbedürfnis aus hygienischen Gründen
eine vernünftige Regulierung erhalten müsse, hat Veranlassung gegeben,
bestimmte Schlafzeiten als normale festzustellen. Eine solche Nor-
mierung verdanken wir u. a. auch Axel Key, der für das schul-
pflichtige Alter festsetzte:
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 663
Alter: Jahre ins Bett — aufstehen also Stunden Schlaf
i 8 7 11
8 8 7 11
9 8 7 11
10 8—9 7 10—11
11 8—9 7 10—11
12 9 7 10
13 9 7 10
14 g 7 839
Selbstverständlich handelt es sich hier um durchschnittliche
Schlafperioden, die keine mechanische Anwendung erlauben, sondern
individuell angepaßt werden müssen.
Die Untersuchungen Römers, über die er im Verein deutscher
Irrenärzte zu Heidelberg unter dem Thema referierte: Experimentelle
Studien über den Einfluß des Schlafs auf die geistige Leistungs-
fähigkeit, führten zu gewissen gesetzmäßigen Beziehungen zu der
Leistungsfähigkeit, als deren Reagenz er das Addieren, das Auswendig-
lernen und die Dauer der Wahlreaktionen benutzte. Er kam zu
folgenden Resultaten: Je tiefer jemand am Morgen schläft, desto
geringer ist seine Arbeitskraft. Er dehnte seine Experimente auch
auf den einstündigen Mittagsschlaf aus.
Sein Apparat gestattete die automatische Auslösung mehrerer
Weckversuche in derselben Nacht zu verschiedenen Zeiten. Das
Aufwachen wurde durch eine besondere mechanische Vorrichtung
markiert.
7. Ermüdungstypen.
Arbeits- und Ermüdungstypen verdanken wir den Untersuchungen
Kemsies in seiner Arbeit: Die Arbeitshygiene der Schule. Kemsies
unterscheidet vier verschiedene Arbeitstypen, d. h. typische Ver-
haltungsweisen gewisser Schülergruppen in der Art und Weise, wie
Leistungsmaxima und -minima sich über einen bestimmten Teil
des Tages verteilen. Zur ersten Gruppe gehören diejenigen, deren
Leistungshöhe erst nach Ablauf einer geraumen Zeit erreicht wird,
die also mit schwacher Arbeitsfähigkeit beginnen und allmählich zu
immer höheren Leistungen aufsteigen. Dieser von Beginn an auf-
steigende Kurvenverlauf wird zumeist bei den Schülern auffindbar
sein, die keine sogenannten Morgenarbeiter sind. Leider finden wir
bei Kemsies keine Belehrung darüber, ob dieses typische Verhalten
lediglich im Verlaufe der Tagesarbeit nachweislich oder charakteristisch
ist für diesen Typus ganz unbekümmert um die Tagesschwankungen.
664 A. Abhandlungen.
Eine fernere Gruppe zeigt ein genau entgegengesetztes Verhalten,
Die voraufgegangenen ersten Unterrichtsstunden führen eine starke
Ermüdung herbei, die Kurve nimmt vom ersten Maximum an einen
abwärts gerichteten Verlauf. — Ein dritter Typus wird repräsentiert
durch solche Schüler, deren Leistungen an einer bestimmten Stelle des
Vormittags ihr Maximum erreichen, vorher steigen, nachher fallen;
sie bilden einen allmählichen Übergang vom zweiten zum ersten
Typus. — Bei einem vierten Typus endlich zeigen sich in den mitt-
leren Zeitlagen Depressionen.
Diese (rohen) Typenkurven sind in erster Linie bedingt durch
das gegenseitige Verhältnis von Übungs- und Ermüdungswirkung.
Man darf bei ihrer Wertung nicht vergessen, daß sie keine Rücksicht
nehmen auf die verschiedenen Arbeitsforderungen durch die auf-
einanderfolgenden Unterrichtsfächer, ferner nicht, daß ihre Stütz-
punkte recht weit auseinanderliegen (Abstände von einer Stunde).
Demgegenüber ist noch zu wenig verlangt, wenn man der Vermutung
Beachtung erbittet, daß eine subtilere Messung wesentliche, feinere
Schwankungen aufweisen, der gesamte Kurvenverlauf vielleicht eine
andere typische Ausprägung erfahren könnte.
8. Geschlecht und Ermüdbarkeit.
Die Verhältnisse zwischen beiden liegen noch einigermaßen im
Dunkeln. Im allgemeinen ist man geneigt, die geringere Widerstands-
fähigkeit gegenüber den Wirkungen der Ermüdung auf seiten des
weiblichen Geschlechts zu suchen — eine Vulgärauffassung die keines-
wegs überall Bestätigung findet. Die vorliegenden experimentellen
Untersuchungen erlauben aber keine bestimmten Formulierungen.
9. Lebensalter und Ermüdbarkeit.
Daß Lebensalter und Widerstandsfähigkeit gegen die Wirkungen
der Ermüdung zueinander in gewissen Beziehungen stehen ist durch
die praktische Erfahrung längst bestätigt worden. Im allgemeinen
pflegt man sich die Entwicklung in der Form einer weitausholenden
Parabel zu denken, deren Höhepunkte zwischen das dreißigste und
vierzigste Lebensjahr lokalisiert werden. Man denkt sich die Ent-
wicklung also während der Periode, die uns hier besonders interessiert,
in stets steigender Richtung begriffen. Dieser Vulgärauffassung liegt
ein doppelter Irrtum zugrunde, der berichtigt werden muß. Der erste
Irrtum liegt in der Annahme einer stetigen Fortentwicklung der
psychischen Kräfte und Leistungsfähigkeit, der zweite in der Be-
hauptung einer allseitigen Energiesteigerung von Anfang an. Die
Lobsien: Die experimentelle Ermiüdungsforschune. 665
experimentelle Forschung, die allerdings nur in ganz seltenen Fällen
die Entwicklung eines Indiriduums durch alle Lebensstadien hindurch
(soweit sie hier uns beschäftigen) verfolgt hat, sondern zumeist sich
begnügt mit dem Zusammenordnen von Massenbeobachtungen, die
auf den verschiedenen Altersstufen gewonnen wurden, hat nach-
gewiesen, daß diese Annahmen den Tatsachen nicht entsprechen.
Zwar sind wir von einer ausgebauten dynamischen Psychogenesis
heute noch sehr weit entfernt; dennoch sind folgende Resultate
gesichertes Ergebniss Die Entwicklung der geistigen Leistungs-
fähigkeit muß eine quantitative und qualitative Wertung erfahren.
Auf die quantitative Seite des Wachstums gesehen, ist sie rhythmisiert,
besteht in einem beständigen Wechsel von Schnell und Langsam.
Alle Entwicklung läuft in Wellenform ab. Auf Perioden größerer
und leichterer Ermüdbarkeit folgt eine andere, die durch größere
Widerstandsfähigkeit ausgezeichnet ist. Nach der qualitativen Seite
betrachtet geschieht die Kräfteentwicklung in Metamorphosen, sie ist
nicht bloßes Wachstum, wie Stern in seiner Arbeit über Tatsachen
und Ursachen der seelischen Entwicklung (Ztsch. f. angew. Psych. I!)
vorzüglich ausführt. »Vergleicht man die Altersstufen des Einjährigen
ınd des Sechsjährigen, so ist schon rein körperlich betrachtet das
dtere Kind nicht etwa ein Baby in größeren Dimensionen, sondern
&was qualitativ anderes; das Wachstum ist nicht für alle Körper-
eemente proportional, sondern unter fortwährender Verschiebung
dr Verhältnisse vor sich gegangen. In noch viel höherem Maße
git das von der psychischen Entwicklung. Sind auch im Neu-
gaorenen schon alle seelischen Hauptfunktionen in ersten Anfängen
amelegt, so geht doch der Altersfortschritt nicht so vor sich, daß sie
allı nebeneinander gleichmäßig wachsen, sondern in der ganz ab-
wechenden Form, daß sie nacheinander ihre entscheidenden Reifungs-
praesse durchmachen. Es findet also fortwährend im Entwicklungs-
proeß eine Durchbrechung des proportionalen Fortschritts statt. Jedes
an iner Entwicklung beteiligte Partialmoment hat seine Zeit, in der
es 'orübergehend durch plötzliche Entfaltung zu einem bestimmten
Chaakteristikum der Beschaffenheit des ganzen wird. Die Eintritts-
zeita sind zwar absolut nicht zu bestimmen, sondern in den Re-
latinen der Einzelphasen besteht die Allgemeingültigkeit der quali-
tatien Entwicklung. «
Aus diesen Angaben ersieht man, daß recht komplizierte Ver-
hältisse obwalten, und daß das Problem der Ermüdung unter dem
Gesihtspunkte des Altersfortschritts auf eine große, ja zu Beginn
ungehnte, Fülle von Schwierigkeiten stößt, die bis heute kaum noch
666 A. Abhandlungen.
als Tatbestände voll bekannt sind, geschweige eine eingehendere ex-
perimentelle Würdigung erfahren haben. Was heute an Ergebnissen
vorliegt, ist mehr als bescheiden zu nennen. Ganz allgemein hat sich
ein Tiefstand der psychophysischen Leistungsfähigkeit um das neunte
Lebensjahr herum feststellen lassen und ein gleicher um das dreizehnte
bis vierzehnte, faßt man aber die besonderen geistigen Fähigkeiten
ins Auge, dann wird nicht nur diese Parallelität, sondern unter der
Wirkung der metamorphorischen Entwicklung auch die gekennzeichnete
große Wellenbewegung gestört — ganz abgesehen davon, daß sie eine
Übertragung auf das Individuum im einzelnen überhaupt nicht ver-
trägt. (Man denke an Netschajeffs Untersuchung über die Ge-
dächtnisentwicklung.)
B. Spezielle Ergebnisse für die Praxis des Unterrichtsbetriebes.
Diese lassen sich in drei Gruppen sondern: sie beziehen sich
teils auf die Dauer der Arbeit- und Ruhepausen, beides in weiterem
Sinne verstanden, teils auf den Ermüdungswert der verschiedener
Unterrichtsfächer, teils behandeln sie die Ermüdungskoeffizienten de
Unterrichtsmethoden und der Lehrer.
1. Die Ferien
haben in verschiedenen Orten und Ländern nach Dauer und Lige
eine sehr abweichende Regulierung erfahren. Hier soll nicht erörert
werden, welche Gesichtspunkte für die Normierung bestimmend ge-
wesen sind; sicher ist, daß die schulhygienischen Erwägungen ur-
sprünglich überhaupt nicht, hernach erst in zweiter Linie zu łate
gezogen worden sind, daß praktische Notwendigkeiten, Ernteeit,
kirchliche Feste u. a. die entscheidenden Stimmen hatten. such
heute sind wir in Verlegenheit, wenn gefordert wird, die Feien-
ordnung möge eine Regulierung oder Begründung erfahren au’ der
Grundlage der Ermüdungsmessungen. Selbst wenn Messunga in
dem gewünschten Umfange zur Verfügung ständen, würde man
Mühe haben, dem Einwand zu begegnen, sie seien ja gewinnen
worden auf der Grundlage des heute üblichen, behördlicherseit: vor-
geschriebenen jährlichen Arbeitsplans, dieser mit seinen Arbeits und
Ruhepausen spiegele sich in den Ergebnissen wieder. Wenn aber
die Messungen dennoch ‘die Konstruktion einer Jahreskurw der
Arbeitsfähigkeit gestatten, die der Verteilung der vorgeschridenen
Leistungskurve nicht entspricht, dann wäre mindestens erlault, Be-
denken zu äußern.
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 667
Wie oben bereits angedeutet wurde, liegen heute nur wenig
Untersuchungen vor, die sich über ein ganzes Arbeitsjahr erstrecken,
die von Schuyten und von mir. Diese aber zeigen übereinstimmend,
daß die Konzentration der Aufmerksamkeit und die Gedächtnis-
tätigkeit des Kindes in der Zeit vom Oktober bis zum Januar be-
sonders günstig ist, beide steigen während dieses Zeitraums an.
Dieses Ansteigen steht in Parallele zu der Entwicklung der Muskel-
kraft. Man wird diese Periode also als eine solche ansprechen dürfen,
da den Ermüdungswirkungen der größte Widerstand entgegengesetzt
wird, da Antitoxine in erhöhtem Maße sich bilden. Aus prak-
tischen Gründen wird man nicht versäumen, zu kaufen, da der Markt
vor der Tür ist, man wird die körperlichen und geistigen Leistungs-
fäbigkeiten voll in Anspruch nehmen und keine Ferien zulassen. Vom
Januar bis März nehmen die geistige und leibliche Leistungsfähigkeit
zu. Hier würden die Anforderungen herabzusetzen, Ruhepausen zu
gewähren sein. Jetzt aber häufen sich Schwierigkeiten, denn nun
scheiden sich beide Kurven voneinander, Körper- und Geistes-
entwicklung schlagen entgegengesetzte Richtung ein: Die Muskelkraft
wächst während der Sommermonate, die beiden andern psychischen
Funktionen nehmen ab oder physiologisch ausgedrückt: Der. Mensch
leistet im Sommer mehr Muskel- als Gehirnarbeit (Meumann). Die
Untersuchungen lehren, daß der Leib Schonung bedarf im März und
April, daß er im Juni und Juli das höchste zu leisten vermag. Die
physische Leistungsfähigkeit zeigt zwei Jahreswellen, eine höhere und
eine niedere, die höhere im Frühling und Sommer, die niedere im
Herbst und Winter. Wir werden also mit Rücksicht darauf im März
eine kürzere, vor dem Oktober eine längere Ruhepause fordern müssen.
Mit Rücksicht auf die geistige Widerstandsfähigkeit dürfen wir
gesteigerte Leistungsfähigkeit erwarten und fordern vom Januar bis
zum März — ein übereinstimmendes Ergebnis der bisher vorliegenden
Untersuchungen, das um so bedeutungsvoller ist, weil es zeigt, daß
die Verschiedenheiten im Anfange des neuen Schuljahres und damit
in den Semesterabschlüssen mit ihren Prüfungen und Versetzungen
nicht von so einschneidender Bedeutung sind, daß sie die Aufwärts-
bewegung der Energiewelle im Schlußsemester verschieben könnten.
Die Hauptarbeitszeit, diejenige, welche die lohnendste Ernte ver-
spricht, ist die Zeit vom September bis zum April, also das Winter-
halbjahr, die andere Jahresperiode muß ausgiebig mit Ferien bedacht
werden im Interesse der Gesunderhaltung der geistigen Leistungs-
fäbigkeit — und im Interesse einer so gestalteten Arbeitsökonomie,
daß die wertvollsten Leistungen erzielt werden.
668 A. Abhandlungen.
2. Die Wochen- und Tageskurve.
Die Erfahrung bezeugt, daß die Leistungsfühigkeit, also die
Widerstandsfähigkeit gegen Einflüsse der Ermüdung nicht an allen
Wochentagen von gleicher Größe ist. Gemeinhin wird beklagt, daß
der Montag, zumal in seinen ersten Stunden, die am wenigsten er-
sprießliche Arbeitszeit sei. Das hängt — wenn von schädlichen
Nachwirkungen des Sonntags in anderem Sinne abgesehen wird, wohl
zumeist damit zusammen, daß ein Trägheitsmoment im Betriebe erst
überwunden, die Einstellung oder Adaptation des psychophysischen
Organismus erst wieder erreicht werden, ein Übungverlust aus-
geglichen werden muß. Nach den Erfahrungen anderer Pädagogen
ist der Sonnabend der ungünstigste Arbeitstag. Sie sind zumeist ge-
neigt, das damit zu erklären, daß sie auf die geforderten An-
strengungen in der verflossenen Woche hinweisen. Noch andere
bezeugen, daß vom Mittwoch an die Widerstandsfähigkeit gegen die
Ermüdung wesentlich abnehme. Tatsache ist, daß man den Mittwoch-
Nachmittag in einer Reihe von Schulen vom Unterricht frei läßt —
ob auf Grund dieser Erfahrung, entzieht sich meiner Kenntnis.
Denkt man sich auf der Grundlage dieser Äußerungen die Arbeits-
kurve im Verlaufe einer Woche dargestellt, dann gewinnt man drei
ganz verschiedene Formulierungen: nach der ersten eine ansteigende,
nach der zweiten eine wellenförmige, nach der dritten eine ab-
steigende. Über den Verlauf im einzelnen kann die Vulgär-
erfahrung nichts entscheiden, sie wird günstigstenfalls unregelmäßige
Schwankungen konstatieren können, die von nicht sonderlich auf-
fälliger Größe sind.
Experimentelle Untersuchungen, die über genügend ausgedehnte
Beobachtungsbasis verfügen, liegen heute nicht vor, nur einige be-
deutsame Anfänge. Ich erinnere zunächst an die weiter zurück-
liegenden Untersuchungen von Kemsies.
Er kam zu dem Resultat: Die besten Arbeitstage der Woche
sind der Montag und Dienstag, sowie jeder erste und zweite Tag
nach einem Ruhetage. Sie eignen sich infolgedessen zur Vornahme
von Prüfungsarbeiten. Die am Sonntag erworbene körperliche und
geistige Frische hält vielfach nur bis Dienstag Nachmittag an. Deshalb
dürfte sich empfehlen, den Mittwoch oder Donnerstag an höheren
Schulen stark zu entlasten, eventuell zuweilen einen Ruhetag ein-
zurichten.
Aus den Untersuchungen Lays ergibt sich, sofern man von den
individuellen Differenzen absieht und aus den Angaben über die
Klassenenergie das arithmetische Mittel berechnet, für den Montag
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 669
die höchste Leistungsfähigkeit, für den Dienstag ein recht bedeutender
Abfall, für Mittwoch und Donnerstag eine geringe Steigerung, eine
zweite, wenn auch unbedeutende Wellenhöhe für den Freitag und
ein schwacher Abfall für den Sonnabend — die individuellen Diffe-
renzen zeigen eben sehr erhebliche Abweichungen.
Auch die Tagesleistungen sind bestimmten Schwankungen unter-
worfen. Hier liegen umfänglichere Untersuchungen vor; die Er-
gebnisse sind, wenigstens in ihren allgemeinen Zügen daher auch
wesentlich zuverlässiger. — Nach den Experimenten von Kemsies
sind die beste Arbeitszeiten des Schultages die beiden ersten Schul-
stunden, in denen die Mehrzahl der Schüler ihr Arbeitsoptimum be-
sitzt; nur am Montag dürften die dritte und vierte Stunde bessere
Arbeitswerte ergeben; der Ergograph indiziert für diese Zeitlagen in
der Regel den besten physiologischen Zustand. — Lay kam auf Grund
sehr umfassender Prüfungen zu dem Ergebnis: Die Schwankungen
der Energie der Klassen im Verlaufe des Tages stellen eine Wellen-
bewegung dar, die zwei deutliche Höhepunkte zeigt, zwischen denen
eine Einsenkung sich findet. Das Maximum der Klassenergie kann
sich während des Vormittages oder erst während des Nachmittages
einstellen. Die Energie der Klasse ist während des Nachmittags-
unterrichts von 2 bis 4 Uhr annähernd ebenso groß oder größer als
die für 2 je einem Wellentale angehörigen Stunden des Vormittags-
unterrichts. Dieses Wellental über den Mittag, daß zunächst aus
physiologischen Gründen durchaus verständlich ist, haben andere
bestätigt, so meine Versuche mit Taktklopfen und Zeitschätzen;
Schuyten fand, daß die Aufmerksamkeit von achtundeinhalb bis
elf Uhr sich vermindere, dann wieder von zwei bis vier, daß
aber um zwei Uhr die Energie, obgleich geringer als morgens, doch
größer als um elf Uhr sei.
Wir werden bei beiden der oben genannten Untersuchungen noch
mit großer Vorsicht zu Werke gehen, sehr viele Nachprüfungen ab-
warten müssen, bevor wir wagen dürfen, bestimmte Vorschläge etwa
für die praktische Gestaltung des täglichen Arbeitsplanes zu machen.
Den Untersuchungen begegnen außerordentlich große Schwierigkeiten.
Zunächst beziehen sie sich auf einen festgelegten Arbeitsplan, der
entsprechend vielfacher Erfahrung, so angeordnet ist, daß nach Mög-
lichkeit diejenigen Fächer, welche an das Gros der Schüler die größten
Anforderungen stellen, auf den Vormittag und in die ersten Stunden
desselben verlegt werden. Besonders aber gilt es, eine wesentliche
Unterscheidung zu machen. Nach den Untersuchungen Lays scheinen
sich die Tagesmaxima großenteils auf zwei Typen von Prüflingen zu
670 A. Abhandlungen.
beziehen, von denen der eine so geartet ist, daß er am Morgen, der
andere so, daß er am Nachmittage seine relativ höchste Leistungs-
fähigkeit entfaltet. Ich sage: es hat den Anschein, sicher erwiesen
ist das Behauptete nicht. Unter der Voraussetzung der Richtigkeit
aber würde sich mancher Widerstreit unter den Beurteilern heben
und auf Grund der (wenn möglich) reinlichen Typenscheidung vieles
zur Verständigung erreicht werden können. -— Auf die zahlreichen
einzelnen Schwierigkeiten in der Untersuchung, die nicht allein in, etwa
in einer natürlich bedingten Wellenbewegung begründeten, Leistungs-
schwankungen bestehen, sondern auf sozialen und mancherlei Milieu-
einflüssen beruhen, will ich nicht näher eingehen. Sicher, weil
notwendig physiologisch bedingt, ist ein Wellental der psychophysischen
Leistungsfähigkeit in der Zeit nach der Hauptmahlzeit; wie weit sie
sich auf den Nachmittag erstreckt, ist von einer Reihe von Sonder-
bedingungen abhängig. Kraepelin berichtet als seine persönliche
Erfahrung, daß mindestens nach der Hauptmahlzeit die Leistung herab-
gesetzt ist, aber bei fortgesetzter Arbeit nicht sinkt, sondern allmäh-
lich ansteigt. So deutlich auch nach Tisch das Gefühl der Müdig-
keit sich geltend macht, kann es demnach doch nicht aus wirklicher
Ermüdung hervorgehen. Freilich ist es nicht leicht, sich eine be-
stimmte Vorstellung von unserer Arbeitslust nach dem Essen zu
machen.
3. Nachmittagsunterricht.
Mit der Formulierung der Energiekurve für den Tag entscheidet
sich auch die augenblicklich vielfach ventilierte Frage: Geteilter oder
ungeteilter Unterricht? die uns hier ausschließlich vom Standpunkte
der Ermüdungsforschung angeht. Wie die Ansichten über den Ver-
lauf jener Kurve, so stehen sich natürlich auch die Beantwortungen
dieser Frage unentschieden gegenüber. Einig ist man sich nur in
dem einen: Nach physiologischen Gesetzen muß es als unzulässig
bezeichnet werden, das Gehirn energisch in Anspruch zu nehmen,
während der Magen sich in Verdauungskongestion befindet. Die
dann vorhandene relative Anämie des Gehirns, subjektiv als Unlust
zu geistiger Arbeit und Abspannung sich äußernd, macht dieses Organ
für energische Tätigkeit ganz ungeeignet (Wagner). Wenn aber nun
die Verdauungswerkzeuge ihre physiologische Arbeit verrichtet haben,
wenn dann die übrigen Organe sich nicht begnügen müssen mit
einer Blutzufuhrmenge, die ihnen nur eben die Abwicklung ihrer
normalen Tätigkeit, die Regelung des unbeeinflußten Stoffwechsels
erlaubt, dann kehrt auch die Leistungsfähigkeit des Gehirns wieder,
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 671
und man kann aus Gründen der Ermüdung allein keine strikte Ab-
lehnung des Nachmittagsunterrichts konstruieren. Die Untersuch-
ungen von Lay, Schuyten u. a. bestätigen die Wiederkehr einer
größeren Leistungsfähigkeit nach der Mittagspause am Nachmittage.
Baade dagegen kommt durch seine Untersuchungen u. a. zu folgen-
den Resultaten: Der Durchschnitt des Nachmittags und auch dessen
Maximum in den Rechenleistungen liegt nahezu immer unter dem
des Vormittags und der Wert der Leistung um 2 Uhr liegt fast bei
allen Versuchspersonen unter dem um 12 Uhr. — Der Unterricht
bewirkt während der ersten Stunden des Vormittags eine Erhöhung
der Auffassungs- und Rechenfähigkeit; von der dritten Stunde an setzt
er beide Indizes herab, doch kann eine Herabsetzung unter den An-
fangswert nur für die Auffassungsfähigkeit nachgewiesen werden. Die
Nachmittagsversuche lassen wenigstens für die Rechengeschwindigkeit
einen ähnlichen Verlauf vermuten. Und Vannod fand: Der Unter-
richt am Nachmittage ermüdet im allgemeinen weit mehr als der am
Morgen, und eine Mittagspause von 12—2 Uhr ist nicht ausreichend,
um die Ermüdungswirkungen des Vormittages auszugleichen; die
Schüler kommen daher nicht gehörig ausgeruht zum Nachmittags-
unterrichte. Wie weit dieses Leistungsmaximum über dem vor-
mittägigen liegt, entscheidet sich, so sahen wir, für größere Schüler-
gruppen nach den typischen Unterschieden des Früh- und Spät-
arbeitens, im einzelnen nach den individuellen Besonderheiten.
4. Fünfstündiger Vormittagsunterricht.
Über die Ermüdungswirkungen eines zusammenhängenden fünf-
stündigen Unterrichts finden wir experimentelle Beobachtungen in der
Arbeit des Dortmunder Stadtschularztes Steinhaus. Er stellte teils
nach der Friedrichschen Rechenmethode, teils mit Hilfe des Ästhesio-
meters in drei verschiedenen Schulen Beobachtungen an, in denen
eine ungeteilte Unterrichtszeit, also fünf aufeinander folgende Lektionen,
vorgeschrieben war, während in den beiden andern der Unterricht auf
den Vormittag und den Nachmittag verteilt waren, unter größerer In-
anspruchnahme des Nachmittages.. Steinhaus kam zu folgenden
beiden wichtigen Ergebnissen: 1. Der auf die fünfte Vormittagsstunde
ausgedehnte Unterricht ist für den einzelnen (gesunden) Schüler ohne
nachteiligen Einfluß. 2. Im Nachmittagsunterricht ermüden die Schüler
sehr schnell, oder sie kommen zum großen Teil ohne geeignete Er-
holung zum Unterricht. Das letzte Ergebnis stimmt mit dem von
Friedrich gefundenen überein: Zu Beginn des Nachmittagsunter-
672 A. Abhandlungen.
richts fehlt jede Erholung und das Maximum der Fehlerzahlen liegt
am Nachmittage höher.
Zwar, entscheidend können die Steinhausschen Untersuchungen,
trotz ihrer Sorgfalt, in der vorliegenden Frage nicht sein, denn sie
erstrecken sich auf ein zu geringes Beobachtungsmaterial. Die
Rechenversuche wurden, soweit ich sehe, in je einer Klasse der drei
Schulen angestellt, die ästhesiometrischen Messungen aber nur an fünf
Prüflingen vorgenommen. Hier müssen unbedingt} weitere Unter-
suchungen angestellt werden. — Nicht möge unterlassen werden,
darauf hinzuweisen, daß viele Erfahrungen der fünften Unterrichts-
stunde auch relativ, d. h. im Vergleich mit dem Nachmittage, keine
sonderliche Widerstandskraft gegen Arbeitsanspannung zugestehen;
ich erinnere nur an die Meinung Kemsies. Die Stundenzahl des
Schultages soll ohne Not für Kinder von 10—12 Jahren nicht vier
Stunden überschreiten, für 12—14 jährige dürften fünf Stunden das
Maximum sein.
5. Die Unterrichtspausen.
Daß die Pausen der Erholung dienen, ist banale Erfahrung. Über
die Gestaltung ihrer Länge kommt man am leichtesten zu allgemeinen
Gesichtspunkten durch folgende theoretische Überlegung: Mit dem
fortdauernden Unterricht nimmt die Ermüdung stetig zu, sofern nor-
male Verhältnisse vorauszusetzen sind. Da die Erholungswirkung der
Pause mit ihrer Länge direkt proportional zu setzen sein dürfte,
müßte man die aufeinanderfolgenden immer länger bemessen, so daß
die nach der ersten Stunde die kürzeste, die zwischen den beiden
letzten Lektionen die längste sein müßte.
Diese, wenn man will, logische Bestimmung der Pausenlänge
enthält noch keinerlei Andeutung über die notwendige wirkliche
Pausenlänge. Auch hat sie als solche keine unbedingte Gültigkeit.
Eine nächste Korrektur — wir sehen von individuellen Differenzen
ganz ab — muß sie erfahren, wenn man die täglichen typischen
Energieschwankungen ins Auge faßt, eine fernere, wenn sie den
längeren periodischen Schwankungen der Woche, des Monats, des
Jahres angepaßt werden soll, wie doch notwendig ist. Sicherlich wird
die Frage der Pausenlänge durch diese Rücksichtnahme wesentlich
komplizierter. Die Frage der Pausenwirkung ist von der Kraepelin-
schen Schule durch eine Technik untersucht worden, die auf den
ersten Blick außerordentlich einfach und schnell zum Ziele führend
scheint. Man legt den Untersuchungen Arbeitseinheiten zu Grunde
von bestimmter Dauer (so bei von Amberg !/, Stunde, Hylan 5‘),
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 673
die Arbeitseinheiten wurden durch Pausen getrennt von 1‘, 5‘, 10%,
15‘, 20‘ 30° Dauer und deren Wirkung beobachtet. Fassen wir
zunächst die beiden Grunderscheinungen, die Übung und die Er-
müdung, ins Auge! Die Pause bewirkt an beiden eine Verminderung,
sowohl einen Übungsverlust wie eine Abnahme der Ermüdungs-
wirkung; dennoch besteht ein sehr bedeutsamer Unterschied. Die
Ermüdung wird durch hinlängliche Ruhe gänzlich beseitigt, während
die Übungswirkung über lange Zeiträume sich erstreckt, wenigstens
in gewissen Resten. Auf Grund vulgärer Erfahrung wird man an-
nehmen, daß nach einer gewissen Pausenlänge beide vollständig ge-
hoben sein werden. Dabei lassen sich theoretisch folgende Verhältnisse
annehmen: 1. ein Übungs- und ein Ermüdungsrest sind in solcher
Größe vorhanden, daß sie sich gegenseitig in ihren Wirkungen eben
aufheben, sich das Gleichgewicht halten. Eine Pausendauer, die das
zu bewirken imstande ist, bezeichnet man treffend als Gleichgewichts-
pause. Dieser setzt man die günstigste und die ungünstigste Pause
gegenüber und begreift unter der ersteren eine solche, die ein starkes
Übergewicht des Übungs- über den Ermüdungsrest bewirkt, während
bei der ungünstigsten das Umgekehrte der Fall ist. Nun aber irrt die
Valgärerfahrung in der Annahme, diese Abnahme erfolge durchaus
regelmäßig. Versuche haben vielmehr gezeigt, daß innerhalb der ge-
kennzeichneten Verhältnisse manche Pausenlängen durch eine günstige,
andere durch eine ungünstige Wirkung sich kenntlich machen. Man
wolle folgende Angabe nach Hylan vergleichen:
Pausendauer 0’ 1° 5‘ 10° 15‘ 20' 30’
H 100,3 100,8 103,3 101,1 101,1 93,9 106,1
K 98,5 100,6 101,5 985 1004 99,9 100,9
wW 100,5 100,1 109,0 110,4 984 1118 112,5
Greift man die Pausen von 5 und von 20 Minuten Dauer
heraus, dann gewahrt man deutlich, daß jene von günstigem, diese
von nachteiligem Einfluß sich darstellt. Auf die Wirkungen der
Übung und Ermüdung allein lassen sich diese Erscheinungen nicht
zurückführen. Aber muß man nicht individuelle Besonderheiten be-
denken, weiß man nicht, daß die Art und Dauer der der Pause vorauf-
gegangenen Arbeit von nachhaltigem Einfluß auf die Wirkung der
Pause sind? Jedoch auch diese Umstände können allein nicht für
das eigentümliche Verhalten verantwortlich gemacht werden, denn
man trifft zu oft auf Bestätigung, und andrerseits war die Dauer und
Art der Arbeit genau übereinstimmend. Hier greifen andere Be-
dingungen ein, die sehr schwer einer zahlenmäßigen Bearbeitung
standhalten: die Gewöhnung, die Anregung, der Antrieb. Wir
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 43
674 A. Abhandlungen.
wissen — und das ist entscheidend — daß sie von verschiedener
Nachhaltigkeit der Wirkung sind. »Der Antrieb vermag höchstens
minutenlang die Leistung zu beeinflussen; die Anregung schwindet
rasch nach dem Aufhören der Tätigkeit, langsamer die Ermüdung.
Dagegen bleiben die Spuren der Übung und namentlich der Ge-
wöhnung unter Umständen wochen- und monatelang zurück.« Die
Anregung, so schloß zuerst Amberg, der fand, daß nach halbstündigem
Addieren die Besserung der Arbeitswerte durch eine 5‘-Pause gün-
stiger war als durch eine solche von 15° Länge, ist eben noch 5’
lang wirksam, während sie nach 15‘ verschwunden ist. Um einen
Übungsverlust konnte es sich keineswegs handeln, denn nach längeren
Pausen zeigte sich die Leistungsfähigkeit wieder höher. Weil aber
auch nach kurzen Arbeitsperioden von 5‘ Minuten Dauer, die Wir-
kung sich zeigen und schwer einzusehen ist, daß dann die Anregung
15—20 ' andauern werde, muß angenommen werden, daß die » Arbeits-
bereitschaft«, der Antrieb, sich fördernd dazugesellt, umsomehr, als die
Versuchsperson die Fortsetzung der Arbeit im Auge hatte. Die An-
regung kommt erst dann klar zur Geltung, wenn sie sich im Laufe
der voraufgegangenen Arbeit ganz entwickelt hat — die Maschine
im vollen Betriebe ist; eine Pause nach kürzerer Zeit als 5‘ wird
mithin niedrigere Werte aufweisen, trotz des Übungsgewinnes. —
Die günstigen Wirkungen der längeren Pause von 30‘ beruhen aber
auf dem nachhaltigeren Ausgleich der Ermüdung gegenüber den
Übungsresten.
Die Bedeutung längerer Arbeitsperioden für die Pausenwirkung
hat Heümann untersucht, indem er einer Addierarbeit von 1‘ bis 60'
Dauer einer Pause von 1‘ einschob. »Dabei ließ sich klar erkennen, daß
nach kurzen Arbeitszeiten die Unterbrechungswirkung der Pause über-
wog, während mit dem Anwachsen der Ermüdung die Erholungs-
wirkung immer stärker bervortrat,< wie aus folgendem Beispiel zu
ersehen ist:
Arbeitsdauer 1"
Leistung in °% 86,7 9
nach der Pause von 1'
5! 10‘ 15' 30‘ 60’
74 105, 106.0 111,5 112,3
Zusammenfassend äußert sich Kraepelin folgendermaßen: In
der Pause nach einer ermüdenden Arbeit hebt sich zunächst wieder
durch die Erholungswirkung der Ruhe die Leistungsfähigkeit. Nach
einer bestimmten Zeit erreicht sie einen Höhepunkt, der infolge des
Übungsrestes vielfach höher liegt als jede frühere Leistung, aber
wegen des Übungsverlustes nicht um den vollen Betrag der ur-
sprünglich erzielten Übung. Dieser Höhepunkt bezeichnet den Augen-
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 675
blick, in welchem der Übungsrest den größten Überschuß über den
Ermüdungsrest aufweist. Späterhin nimmt dann die wesentlich durch
den Gang des Übungsverlustes bestimmte Leistung langsam wieder
ab. Durch Versuche können wir die Lage jener »günstigsten Pause«
annähernd feststellen. Dieselbe hängt einerseits ab von der Länge
und Art der vorhergehenden Arbeit, die das Verhältnis zwischen
Übung und Ermüdung bestimmen, sodann von den persönlichen
Eigenschaften der Übungsfähigkeit, Übungsfestigkeit und Ermüdbar-
keit, vielleicht auch von der Übungsstufe.
Kraepelins Schüler gewannen folgende für den praktischen
Unterricht bedeutsame Resultate. Amberg zeigte, daß Pausen
von verschiedener Länge keineswegs in gleichem Grade erholend
wirken, sondern die Erholungswirkung wird besonders durch die
Dauer und die Art der Arbeit beeinflußt. Sie hängt ab von dem
Zustande, in dem die Versuchsperson sich befindet: je höher die Er-
müdung, desto günstiger ist die Pausenwirkung. Lindley ergänzte
die Ambergschen Resultate: 1. Die Pausenlänge muß bestimmt
werden durch das Verhältnis in dem die drei grundlegenden Pausen-
wirkungen zueinander stehen, nämlich den Ermüdungsausgleich, den
Anregungsverlust und den Nachlaß an Übung. Die drei Wirkungs-
möglichkeiten müssen auf die goldene Mitte abgemessen werden.
2. Die Wirkung verschiedener Pausenlängen ist für Erwachsene recht
mannigfaltie. 3. Große Übungsfähigkeit und geringe Übungsfestigkeit
sind zumeist zusammen gegeben, es besteht aber kein festes Ver-
hältnis. 4. Jedenfalls ist die Antriebsfähigkeit davon unabhängig.
5. Der größte Teil des Übungszuwachses kann schon nach 24 Stunden
verloren gehen. Er empfiehlt auf Grund seiner Experimente folgende
für die Schulpraxis zweckmäßige Verteilung: 1. Auf leichte Arbeit
von kurzer Dauer folgt keine Pause, weil sonst außer mit dem Zeit-
verlust vor allem mit dem Anregungsverlust gerechnet werden muß.
2. Leichte Arbeit von längerer Dauer sollte durch möglichst wenig
Pausen unterbrochen, nicht aber unausgesetzt weiter verrichtet
werden. 3. Schwere Arbeit von kurzer Dauer wie etwa das Aus-
wendiglernen sollte nur mit spärlicher Pause bedacht werden.
4. Schwere, langandauernde Arbeit hat Lindley zwar nicht unter-
sucht, hält aber das Einschieben einzelner nicht zu kurzer Pausen
für am *empfehlenswertesten. — Die Ergebnisse haben aber alle nur
für Erwachsene Gültigkeit; Untersuchungen an Kindern stehen noch
aus. — Hylan und Kraepelin untersuchten die Wirkungen kurzer
Arbeitszeiten. Sie fanden, daß die halbstündige Pause die günstigste
sei, weil das Verhältnis von Ermüdung, Erholungswirkung und Übungs-
43*
676 A. Abhandlungen.
verlust nicht sonderlich ungünstig beeinflußt werde Es gelang
ihnen ferner der Nachweis, daß mit der Verlängerung der Pause eine
fortschreitende Verbesserung der Leistungen eintritt. Die ungünstigste
Pause ist die von zehn bis zwanzig Minuten Dauer, denn der An-
regungsverlust macht sich dann besonders bemerkbar; sie wirkt in-
folge der vorhandenen Arbeitsbereitschaft höchstens durch einen Zeit-
raum von fünfzehn bis zwanzig Minuten. Heüman endlich unter-
suchte die Beziehungen zwischen Arbeitsdauer und Pausenwirkung
an sechs Versuchspersonen. Er ging dem Lauf der Willens-
spannungskurve nach. Sie steigt anfangs zu bedeutender Höhe und
sinkt dann, während die Wirkungen der Übung und Anregung sich
in steigendem Maße bemerkbar machen, ziemlich schnell. Je mehr
dann die Ermüdigung wächst, desto mehr steigt die Willens-
anspannung, zugleich machen sich schwankende Anspannungen geltend,
die auf wechselnden Anregungen beruhen. Heüman stellt folgende
Schlußsätze auf: 1. Je länger die Pause nach voraufgegangener
Arbeit ist, desto größer ist die Erholung. 2. Eine Pause wirkt dann
ungünstig, wenn sie in die Zeit verlegt wird, da Anregung oder
Willensspannung im Steigen begriffen sind. 3. Der Antrieb wirkt am
nachhaltigsten bei kurzer, am schwächsten bei langandauernder Arbeit.
4. Die Willenspannung steht in umgekehrtem Verhältnis zu den
Leistungshindernissen.
Alle diese Ergebnisse sind an Experimenten mit erwachsenen
Prüflingen gewonnen worden und lassen keinen unmittelbaren Schluß
auf das Verhalten der Schuljugend zu. Es ist dabei ferner zu er-
wägen, daß die geforderten Leistungen in ihrer Art künstlich fest-
gelegt waren und keineswegs der Qualität der von der Schuljugend ge-
forderten entspricht oder ihnen auch nur ähnlich ist. Es empfiehlt sich,
daß wir nach solchen Experimenten Umschau halten, die beide Fehler
vermeiden, inden sie jugendliche Prüflinge und deren tägliche ge-
wohnte Beschäftigung zum Gegenstande haben. Da werden wir uns
bescheiden müssen; denn so umfängliche Untersuchungen, die die
verschiedenen Altersstufen ins Auge fassen, liegen heute nicht vor,
und bezüglich der Berücksichtigung der verschiedenen Arbeiten
werden wir zunächst mit solchen Angaben zufrieden sein müssen, die
sich als arithmetische Durchschnitte vieler Beobachtungen darstellen und
die Wirkungen der verschiedenen Art der Arbeit, die doch nach
Amberg von großem Einflusse ist, unberücksichtigt lassen. Ver-
suche letzterer Art liegen noch in geringer Menge vor. Unter-
suchungen, die auch die Pausenwirkung berücksichtigen sind die von
Dankwarth, Friedrich (aber nicht durchgehends), Lobsien.
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 677
Nach den Beobachtungen Dankwarths zeigen alle Pausen (um
9, 10, 11,12 Uhr) eine günstige Wirkung, weitaus am günstigsten die-
jenige um zehn Uhr. Nach meinen Untersuchungen waren ebenfalls
die Pausen im allgemeinen von günstiger Wirkung, nur die zwei-
stündige um die Mittagszeit brachte eine wesentliche weitere Er-
schöpfung. Keine aber war imstande, die Leistungsfrische vom
Morgen wieder herzustellen, sie blieben alle drunter, stark die fünf-
zehn Minuten lange Zehnuhrpause, ganz besonders aber die um drei
Uhr des Nachmittags. Überall beziehen sich die Beobachtungen also
auf kurzdauernde Pausen und scheinen auch für Schüler das oben
angedeutete Resultat der Kurzpause zu bestätigen. Allerdings muß
man sich mit der Konstatierung der Wahrscheinlichkeit begnügen,
denn die neue Stunde begann immer mit einer neuen Arbeit und
deshalb spielen sicher auch andere der von Kraepelin nach-
gewiesenen Arbeitsbedingungen eine Rolle. — Auch hier ist die Aus-
beute gering und muß der Wunsch nach weiteren Forschungen an die
Stelle sicherer Tatsachen gesetzt werden.
6. Dauer der Lektionen.
Auch hier muß man sich mit allgemeinen Hinweisen auf die
periodischen Energieschwankungen begnügen; Untersuchungen, die
die Frage vom Standpunkte der Ermüdungsmessungen aus zu ent-
scheiden trachten, sucht man leider vergebens.
7. Ermüdungskoeffizienten der Unterrichtsfächer.
Daß es Unterrichtsstoffe gibt, die den Durchschnitt einer Schüler-
gruppe besonders anstrengen, ist landläufige Erfahrung — und daß
ein Kanon, der eine genaue Bestimmung der Schwierigkeitsindizes
enthielte, für die praktische Pädagogik von unschätzbarem Werte
wäre, dürfte kaum auf Widerspruch stoßen. Der Versuch, eine Wert-
skala oder typische Wertskalen aufzustellen, gehört zu den denkbar
schwierigsten Untersuchungen; sie sind bis heute nicht gelungen.
Wir werden dementsprechend die vorliegenden Bemühungen
eben nur als interessante Versuche werten, die insoweit reale Be-
deutung haben als ihre Resultate mit der pädagogischen Erfahrung
übereinstimmen. Ich bescheide mich, die Resultate kurz zu
charakterisieren. Ebbinghaus bot sich Gelegenheit, in den unteren
Klassen eines Gymnasiums die Ermüdungswirkungen der alten Sprachen
mit denjenigen anderer Fächer zu vergleichen. In drei Klassen ging
jedesmal eine Stunde altsprachlichen Unterrichts einer Stunde Zeichnen,
Rechnen, Naturgeschichte, Erdkunde oder Religion voraus, in drei
678 A. Abhandlungen.
andern Klassen war die Anordnung die umgekehrte. Mittels der
Kombinationsmethode stellte er fest, daß die Leistungen nach den alt-
sprachlichen Unterrichtsstunden bessere waren als nach den andern,
zumal wenn das Zeichnen unberücksichtigt blieb. Griesbach fand,
daß Mathematik und Auswendiglernen mehr anstrengen als Geographie
und Zeichnen, Vannod und Vaschide, daß Mathematik und alte
Sprachen mehr ermüden als Geographie und Französisch, daß aber
Zeichnen einen sehr hohen Ermüdungswert habe. Nach ihrem
ergographischen Index ordnet Kemsies die Fächer in folgender
Reihenfolge: 1. Turnen; 2. Mathematik; 3. Fremdsprachen; 4. Religion;
5. Deutsch; 6. Naturwissenschaft und Geographie; 7. Geschichte;
8. Singen und Zeichnen. Ich selbst fand mittels der Lesemethode
folgende Reihenfolge: 1. Rechnen; 2. Geschichte; 3. Deutsch; 4. Religion ;
5. Naturbeschreibung; 6. Physik; 7. Geographie; 8. Raumlehre.
Ich habe absichtlich Resultate zusammengestellt, die aus ver-
schiedenartigen methodischen Untersuchungen hervorgegangen sind.
Obgleich sich in einzelnen Punkten Übereinstimmung zeigt, finden sich
andererseits erhebliche Abweichungen. »Daß die Forschungsergebnisse
nicht genauer übereinstimmen, sagt Offner mit Recht, kann nicht über-
raschen, wenn man die Ungleichheit des Unterrichtsbetriebes und der‘
Anforderungen der Schulen verschiedenen Ranges bedenkt und weiter-
hin erwägt, daß die Messungen nicht nach der gleichen Methode er-
folgten und zudem die zeitliche Lage der in Betracht kommenden
Unterrichtsstunden verschieden war, und — dürfen wir hinzufügen,
die nach Baade so eminent wichtige Gleichmäßigkeit in allen andern
Bedingungen in keiner Weise gewahrt ist.
Auf einen Unterrichtszweig aber muß noch kurz eingegangen
werden, weil für diesen sich teils überraschende und dabei sehr schön
übereinstimmende Beobachtungen haben gewinnen lassen: den Turn-
unterricht. Lange Zeit war man der Meinung, daß dieser lediglich
oder doch zur Hauptsache der Erholung diene. Die Experimente
haben das Lügen gestraft und Palmbergs Äußerung durchaus be-
stätigt: »Wenn man den Turnunterricht als eine Rekreation, als eine
Erholung von geistiger Arbeit betrachtet, so muß das als ein ver-
hängnisvoller Irrtum bezeichnet werden.« Die Turnstunde, die eine
intensive Inanspruchnahme der geistigen und leiblichen Kräfte fordert,
schafft relativ hohe Ermüdungswerte, und es ist unstatthaft, sie um
ihres vermeintlichen, schnellen Erholungswertes willen zwischen solche
Unterrichtsstunden einzuschieben, von denen man hohe geistige An-
spannung voraussetzt. Ganz anders, wenn man kurze turnerische
Übungen von wenigen Minuten Dauer (etwa zwei [Japan] bis fünf
Lobsien: Die experimentelle Ermüdungsforschung. 679
[bei uns]) einschiebt. Diese haben anregende, energiesteigende Wirkungen
von beträchtlicher Höhe, wie Holmes mit Hilfe der Addiermethode
und dem Linienhalbieren bereits 1895, ich selbst kürzlich, ohne daß
mir diese Arbeit bekannt war, bei dem unmittelbaren Behalten un-
zweifelhaft nachgewiesen habe für Knaben und Mädchen auf ver-
schiedenen Altersstufen.
8. Der Stundenplan.
Mußte schon den oben angeführten Rangordnungen mit Vorsicht
begegnet werden, so noch mehr, wo versucht wurde, einen Stunden-
plan auf der Grundlage der Ermüdungsexperimente aufzubauen. Ich
will nur erwähnen, daß Schiller im Jahre 1897 den ersten Versuch
machte, einen Stundenplan auf der Basis der experimentellen
Pädagogik zu konstruieren. Es sollte nur ein Versuch sein und konnte
es nur wegen der großen Zahl widerstreitender Voraussetzungen, die
unmöglich zu einem geschlossenen Ganzen zu vereinigen ist. Günstigen-
falls könnte ein solcher Plan für eine kleine Gruppe von Schülern
eine einigermaßen brauchbare Grundlage abgeben — wenn diese nicht
von Hause aus, dann unter dem Einfluß neuer Fächer, Methoden und
Lehrerpersönlichkeiten in ihren Interessen oft wandelbar wären. —
Auch meine stundenplanmäßige Fächeranordnung in der Arbeit:
Unterricht und Ermüdung ist lediglich als ein Versuch zu werten.
Ich verrechnete aufeinander die für die einzelnen Unterrichtsfächer
gefundenen Schwierigkeitsindizes und die unter Elimination der ver-
schiedenen Schwierigkeiten gewonnenen Durchschnittswerte für die
geistige Frische zu den verschiedenen Arbeitszeiten des Tages durch
Proportion. Die durchschnittliche normale Leistungsfähigkeit am
Morgen berechnete ich auf 20,982 Sekunden, d. h. innerhalb dieses
Zeitraumes konnte das Pensum der Legende bewältigt werden. Je
größer die Zeit, desto größer die fortschreitende Ermüdung. Ich
berechnete folgende Ermüdungskoeffizienten:
Zeit Rechnen ge- Deutsch Religion Naturbe- Physik Geo- Geo-
schichte schreibung graphie metrie
9h 26,146 24,837 24,605 24,438 23,982 23,897 23.890 23,663
10h 27,500 26,140 25,884 23,720 23,348 23,154 23,147 23.909
llh 28,372 26,229 26,058 25,906 25,523 25,314 25,306 25,057
12h 31,290 29,243 30,371 29,167 28,736 28,506 28,498 28,217
3h 30,441 28,059 28,477 27,467 27,053 26,839 26,830 26,566
Um eine wahre Durchschnittslinie zu zeichnen, müßte man ent-
weder eine gleichartige Arbeit den ganzen Tag treiben, die man durch
entsprechende Ruhepausen unterbricht, oder die Messungen an einem
Ruhetage vornehmen. — Die obige Tabelle zeigt die Arbeitsforderung
680 A. Abhandlungen.
der verschiedenen Unterrichtsgegenstände zu den durch den Stunden-
plan gewiesenen Tageszeiten. Sie offenbart einerseits bedeutende
Unterschiede. Eine Rechenstunde z. B. würde um 9h morgens bei
einer Normalfrische von 20,982 eine absolute Ermüdung von
26,146 Sekunden zeigen, um 3h aber 31,290, also um nicht weniger
als 33°/, höher stehen als die Normale. Andererseits zeigt der Plan
eine Übereinstimmung in dem Arbeitswert verschieden schwieriger
Fächer zu verschiedenen Zeiten, also relative Gleichheit. So würde
eine Religionsstunde von 9—10 Uhr eine ähnliche Anspannung fordern
wie eine Deutschstunde von 8—9 oder eine Naturgeschichtsstunde
von 2—3. (Bezüglich der einzelnen Fächer folgende Bemerkungen:
In den Religionsunterricht ist auch der Katechismusunterricht ein-
bezogen worden. — In der Naturlehre waren die meisten Stunden zu
einem großen Teile dem Experimentieren gewidmet. Raumlehre ist
hier als geometrisches Zeichnen zu denken, Geometrie i. e. S. ist mit
Rechnen zusammengefaßt worden; es vertritt zugleich die Stelle des
Schreibens und Zeichnens.. Turnen mußte leider unberücksichtigt
bleiben.)
9. Der Ermüdungswert der Lehrerpersönlichkeit und der Methode.
Der Ermüdungskoeffizient des Lehrers ist offenbar ein Faktor,
der die Möglichkeit, die Indizies der einzelnen Fächer zu berechnen,
ganz bedeutend erschwert. Mit den Mitteln des Experiments hat
meines Wissens nur Wagner versucht, hier genaueres zu erkunden.
Die ästhesiometrische Methode Wagners ist zwar unsicher, immer-
bin gelang ihm doch der Nachweis und die Bestätigung der all-
täglichen Erfahrung, daß, je anregender der Lehrer zu unterrichten
weiß, er seine Schüler desto intensiver ermüdet.
Auf die Ermüdungskoeffizienten der Methode ist man mit den
Mitteln des Experiments bis heute nicht näher eingegangen; hier
stecken Schwierigkeiten so verwickelter Art, daß eine experimentelle
Lösung derselben in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist.
Schluß.
Bei allen im letzten Kapitel angestellten Erörterungen liegt eine
Hauptschwierigkeit darin, eine Grenzregulierung vorzunehmen, zu
entscheiden, welches Maß von geistiger Anspannung und damit von
Ermüdung, man vom pädagogisch-hygienischen und lernökonomischem
Sinne aus als erlaubt, bezw. notwendig gelten dürfe. Vom päda-
gogischen Gesichtspunkte aus kann gar nicht bezweifelt werden, daß
1. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen. 681
man vom Schüler Arbeiten verlangen darf und muß, die seine Kräfte
tüchtig in Anspruch nehmen, man würde sich anders des großen er-
ziehlichen Wertes der Arbeit begeben. Vom hygienischen Stand-
punkte aus verbieten sich alle gesundheitsschädlichen Anstrengungen,
gebietet sich aber gleicherweise im Interesse gesunden geistigen und
leiblichen Wachstums eine zielbewußte Betätigung, die die Ermüdung
nicht scheut. Im Interesse der Lernökonomie lassen sich ganz ent-
sprechende Anforderungen mit gutem Grunde formulieren.
Aber wo liegt die Grenze? Wer soll sie bestimmen? Das muß
dem Takte, der Einsicht und der Erfahrung des Pädagogen überlassen
werden. Nur, wo es sich um die lernökonomische Entscheidung
handelt, liegen heute experimentelle Untersuchungen vor. Eine
große Gruppe derselben, ich erinnere an die Untersuchungen über
das Gedächtnis und die Ökonomie desselben von Ebbinghaus an,
steht aber nicht ausgesprochen im Dienste der Ermüdungsmessung,
obwohl sie von hier aus mancherlei Deutungen erfahren hat. Die einzige
Arbeit, die sich voll mit der Absicht einer Grenzregulierung experi-
mentell befaßt, verdanken wir, meines Wissens, Öehrvall. Hoffent-
lich findet sie eifrige Nacheiferer.
B. Mitteilungen.
1. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen.
Von Ernst Willich.
(Fortsetzung.)
Wir beginnen mit dem Sach-(Anschauungs-)unterricht.!) Gewöhn-
lich werden in der Praxis des elementaren Unterrichts mit den sach-
unterrichtlichen Besprechungen unmittelbar auch die grundlegenden Sprech-
und Sprachübungen verbunden. Bei O. erwies sich jedoch eine Trennung
der beiden Disziplinen (wenigstens für den Anfang) als zweckmäßiger.
Bei dem leisesten Versuch nämlich, in eine Unterhaltung sprachliche
Korrekturen einzuflechten, streikte O. sofort, d. h. seine anfänglich viel-
leicht vorhandene Lust zum Sprechen war im Augenblick verflogen. Des-
halb schien es ratsam, bei unterrichtlichen Unterhaltungen, deren Zweck
in erster Linie der Erwerb und die Kultivierung von Sachvorstellungen
1) Es ist Grundsatz, die ersten unterrichtlichen Einwirkungen auf schwach-
begabte und namentlich schwachsinnige Kinder an das Spiel anzuknüpfen. Da es
sich aber bei O., als er dem Verfasser übergeben wurde, um einen bereits »unter-
richtetene Knaben handelte und sein Spieltrieb auch sehr minimal war, erschien es
angezeigt, sofort an die Aufgaben eines regulären Unterrichtes heranzutreten.
682 B. Mitteilungen.
und Begriffen war, den Jungen vorläufig unbehindert in der ihm eigenen
und geläufigen Sprech- und Ausdrucksweise reden zu lassen, nur um das
momentan vorhandene Sachinteresse nicht zu verscheuchen.
Seinem Wesen nach bestand der Sachunterricht in möglichst un-
gezwungenen und aller schulmeisterlichen Tendenzen baren Unterhaltungen
über solche Gegenstände, Begebenheiten und Erlebnisse, die das Gemüt
des Jungen augenblicklich bewegten. Auf diese Weise sollte einerseits
der vorhandene Vorrat an Vorstellungen und Begriffen geklärt, vertieft
und erweitert, und andrerseits die Fähigkeiten des Beobachtens und
namentlich des Denkens angeregt und gefördert werden. Indes es gelang
nicht, in dem Jungen auf diesem Wege Unterrichtsinteresse zu wecken.
Sobald Anstalten zum Lernen getroffen wurden, d.h. sobald O. mit seinem
Erzieher zusammensitzen mußte, schlug seine Stimmung sofort um. Es
war, als ob seine Gehirnmaschine durch die Vorstellung »Ich muß lernen«
mit einem Schlage gehemmt würde An Stelle der Lebhaftigkeit und
Bereitwilligkeit, mit der er sich kurz vorher noch den ihm angenehmen
Vorstellungen hingab, traten urplötzlich die Affekte der Abneigung und des
Widerwillens auf, die sich gegen jede Beeinflussung von außen sträubten,
und jede Unterhaltung brachte weiter nichts als kurze, brockenweise, ver-
drießliche Antworten aus O. heraus. Nicht viel besser war es, wenn ver-
sucht wurde, unterrichtliche Gespräche unauffällig in den Gang gelegent-
licher Unterhaltungen (beim täglichen Zusammensein oder auf Spazier-
gängen) einzuflechten. Auch hier stockte die Unterhaltung, sobald O. nur
von ferne merkte, daß die Absicht bestand, seine Aufmerksamkeit an
einem bestimmten Punkte festzuhalten und ihn zu willkürlichem Nach-
denken zu veranlassen. Nur wenn der Lehrer ohne jeden eigenen Direktions-
versuch dem freien Vorstellungsverlauf des Zöglings folgte und auf jede
belehrende Bemerkung und anregende Frage verzichtete, kamen zusammen-
hängende Gespräche zustande. Aber wie sahen diese aus?
Entweder drehten sie sich um rein persönliche, egoistische Wünsche
und Begierden: Was machen wir heute mittag? Was morgen? Was essen
wir heute abend? Ich möchte etwas haben! Bekomme ich einen neuen
Stock? Ich möchte einen Ausflug machen! Mein Schirm ist kaput, ich
will einen neuen haben! usw. Nun sind das ja an und für sich im
Schwachbegabtenunterricht recht willkommene Anknüpfungspunkte für
elementare Unterrichtsgespräche Allein, einmal war O.s Interesse an
diesen Fragen und Wünschen mit der entscheidenden Antwort vollständig
erledigt (auch ließ er sich durch eine absichtliche Verzögerung der Ant-
wort durchaus nicht auf Zwischenvorstellungen hinlenken), und zum
andern kehrten dieselben Themen tagtäglich mit zur Verzweiflung
bringender Regelmäßigkeit wieder.
Oder aber die Unterhaltungen, bei denen dem Zögling die Führung
überlassen blieb, sprangen kaleidoskopartig von einem Gegenstand zum
andern: Die Mutter heute abend ins Theater. Milchmann Esel verkauft.
Morgen Sonntag, kein Unterricht! Bin froh! Auch mal Ruhe haben.
Brauche neuen Anzug, der alte schlecht. Gestern Loreley (Schiff) aus dem
Hafen gekommen. Onkel im Automobil gesehen. Tante gestern Kaffee-
1. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen. 683
kränzchen usw. Dabei war auch hier das Interesse an den einzelnen
Vorstellungen mit deren erstem Aufleuchten erloschen. Dieser sprung-
artige Ideenverlauf, der bekanntlich begründet ist einerseits in der abnorm
leichten Ansprechbarkeit und Ablenkbarkeit der Aufmerksamkeit bezw. in
der großen Labilität aller psychischen Gebilde und andrerseits in der ge-
ringen und lockeren assoziativen Verflechtung der Vorstellungen unter sich,
tritt besonders deutlich auf den Spaziergäugen im Getriebe der Großstadt
zutage, wo O.s Aufmerksamkeit durch die von allen Seiten einstürmenden
Sinnesreize und Eindrücke wie eine Wetterfahne hin- und hergerissen
wird. Daß bei einer solchen Bewußtseinslage unterrichtlich nichts anzu-
fangen ist, liegt auf der Hand.
Umgekehrt aber kann O.s Aufmerksamkeit auch mit zäher Beharr-
lichkeit an einem und demselben Vorstellungskomplex hängen bleiben,
nämlich dann, wenn der letztere von starken Gefühlstönen begleitet wird
und in das Gebiet der oben erwähnten exzentrischen Neigungen und
Leidenschaften O.s fällt. Man könnte nun meinen, daß damit im Grunde
eine günstige Unterrichtssituation gegeben wäre. Allein auch hier handelt es
sich um abnorme, bildungshemmende Seelenerscheinungen. Abgesehen da-
von, daß dabei nur ein paar isolierte Themen in Betracht kommen (Be-
erdigungen, Schiffe, Vergnügungen und alltägliche Gassenneuigkeiten),
werden diese stets nach dem gleichen unveränderlichen Schema erörtert.
Wird dem Jungen z. B. morgens ein für den Nachmittag geplanter Schiffs-
ausflug angekündet, so gerät sein Bewußtsein derart in den Bann der mit
diesem Vergnügen verbundenen Vorstellungen, daß er den ganzen Vor-
mittag von nichts anderem redet als nur von diesem Ereignis. Soviel er
aber auch darüber spricht und fragt, immer und immer bewegen sich
seine Gedanken in demselben engen, egozentrischen Kreise (Wohin fahren
wir? Mit welchem Schiff? Um wieviel Uhr? Ist auch Musik auf dem
Schiff? Wo trinken wir Kaffe? Wo steigen wir aus? Bekomme ich
auch ein Schinkenbrötchen? usw.), und keine List ist imstande, seine Auf-
merksamkeit von diesem Vorstellungskreise weg und auf naheliegende Ge-
biete des allgemein Wissenswerten zu locken. Versucht man aber, ihn
gewaltsam herüberzuziehen, so ist Unlust und Widerstreben das einzige
Resultat solcher Bemühungen.
Noch deutlicher zeigt sich das zähe Klebenbleiben der Aufmerk-
samkeit an einem Gegenstand bei der ebenfalls schon erwähnten leiden-
schaftlichen Neugierde O.s gegenüber Beerdigungen. Sobald seine Auf-
merksamkeit in dieser Richtung erregt ist, drängen sich Dutzende von
Fragen in überstürzender Hast über seine Lippen, die sich aber stets im
gleichen Gleise bewegen und endlos oft wiederholen: Wer gestorben ?
Ist es ein Mann? Hat Frau keinen Mann mehr? Haben Kinder keinen
Vater mehr? Sind Kinder zu Hause? Was tun dort? Weinen sie
auch? Kocht Mutter zu abend? Mann jetzt nicht mehr mitessen? Ist
der Sarg schwarz? Hat der Mann (Totengräber) ein Seil? Dieses lang?
Kriegen Kinder einen neuen Vater? Erde auf den Sarg geschaufelt? Muß
der Geistliche beten? Was betet er? Gebe ihm ewige Ruh! Mann jetzt
im Himmel? Hat Frau keinen Mann mehr? Weint die Frau? Fährt der
684 B. Mitteilungen.
Geistliche im Wagen? Männer Begräbnishüte und schwarze Handschuhe?
Kinder weinen? Tun einem leid? Mutter keinen Mann mehr? Vater im
Sarg? Viele Kränze? Seil hinabgelassen? Und dann? Und dann? Und
dann? — Es ist, als ob es O. Vergnügen machte, sich seine Beerdigungs-
kenntnisse recht oft bestätigen zu lassen. Oder aber sind diese Fragen
motorische Explosionen, in denen sieh O.s überstarke Gefühlserregung
endlädt?
Selbstverständlich kann bei einer solchen Unterhaltung, wenn der
Lehrer dem Gedankengange des Zöglings rein passiv folgt, von einem
pädagogischen Gewinn keine Rede sein. Der Lehrer wird darum ver-
suchen, auf die Arbeit des Totengräbers näher einzugehen oder dem Ur-
sprunge des Sarges nachzuforschen oder eine weltliche oder biblische Er-
zählung anzuknüpfen, die der augenblicklichen Gefühlslage des Zöglings
entgegenkommt. Allein die Rechnung ist jedesmal ohne O. gemacht.
Dieser stutzt einen Augenblick und springt dann entweder zu einem
andern Gegenstand über (um aber nach wenigen Augenblicken wieder zur
Beerdigung zurückzukehren), oder er schweigt ganz. Kurz, alle Versuche,
durch ein Eingehen auf das augenblickliche persönliche Interesse einen
unterrichtlichen Einfluß auf O.s Gedankenverlauf zu erlangen, scheiterten
und scheitern noch heute. Es ist, als bewegten sich die Vorstellungen
des Jungen in Bahnen, die mit eisernem Griffel in sein Gehirn ein-
gegraben sind und die dem Vorstellungsverlauf so wenig eine Ab-
weichung gestatten, so wenig die Schienenwege der Eisenbahn den Zügen
Bewegungsfreiheit lassen. Diese stereotypen Gedankenabläufe wirken auf
den Erzieher um so ermüdender, als sie sich ausschließlich nur um die
nichtssagendsten, gleichgültigsten und selbstverständlichsten Dinge drehen
und nicht die geringste Spur von weiterstrebender Wißbegierde erkennen
lassen. Die Ursache dieses Verhaltens ist natürlich in erster Linie in
einer angeborenen Abnormität der assoziativen Funktionen zu suchen. Da-
bei aber hat die Gewöhnung sicher viel zur Ausbildung dieses Zustandes
beigetragen. Die mütterliche Geduld ist unermüdlich im Anhören und
Weiterspinnen solch inhaltloser und platter Schwätzereien und Neuigkeits-
krämereien; sie bringt es fertig, sich stundenlang mit O. zu unterhalten,
ohne daß auch nur ein einziger pädagogisch wertvoller Gedanke berührt
oder ein an sich unwesentlicher Gedanke in pädagogisch ernsthafter, die
Denkkraft anregender und bildender Weise erörtert und fixiert würde; sie
ist zu schwach, um dem seichten Wortgeplätscher Einhalt zu tun und
den Jungen aus seiner Denkträgheit aufzurütteln; sie nimmt ihn, wie er
ist, verlangt nicht mehr von ihm, als er ohne Anstrengung geben kann,
begegnet seinen Schwächen mit nie versiegender Nachsicht und behandelt
ihn in allen Stücken wie ein Kind. Was wunder, wenn er sich darum
auch als Kind fühlt und gibt und alle Aufrüttelungsversuche als etwas
Störendes empfindet.
Alle Bemühungen, den Sachunterricht in ungezwungener Weise in
dem vorhandenen spontanen Sachinteresse zu verankern, waren also ge-
scheitert. Da blieb, wenn anders überhaupt unterrichtet werden sollte,
pur noch ein Weg übrig: der Zwang! Nicht als ob der Junge nun ge-
1. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen. 685
nötigt worden wäre, sich mit dem Erzieher über Dinge zu unterhalten,
die seinem Interessenkreis völlig fern lagen. Nach wie vor wurden die
sachunterrichtlichen Stoffe mit Rücksicht aut O.s allgemeine oder
momentane Interesserichtung ausgewählt. Aber war einmal ein Gegen-
stand in Angriff genommen, dann wurde seine Besprechung auch
prinzipiell zu Ende geführt, natürlich nicht nach dem Schema einer das
Thema in jeder Hinsicht erschöpfenden schulmäßigen Beschreibung (ob-
jektive Gründlichkeit und Allseitigkeit langweilt auch ein gesundes Kind),
sondern nach den Gesichtspunkten einer mehr subjektiven Betrachtungs-
weise, die sich mit der Klarlegung der Bedeutung eines Gegenstandes im
Haushalte des Menschen (des Kindes) begnügt. Diese Besprechungen
wurden in regelmäßigen Intervallen mit unerbittlicher Konsequenz wieder-
holt, womöglich in leicht variierender Weise, aber wenn es nicht anders
ging, auch genau in der Form der ersten Unterhaltung, Und hier trat
das Überraschende ein: Je konsequenter und häufiger mit dem Jungen ein
Stoff besprochen wurde, je öfter sich seine Aufmerksamkeit mit diesem
beschäftigte bezw. beschäftigen mußte, deso leichter und müheloser voll-
zog sich die Reproduktion der betreffenden Vorstellungen und desto mehr
schwand die Abneigung gegen eine unterrichtliche Behandlung der in
Frage stehenden Gegenstände.
So zeigte O., als er dem Verfasser übergeben wurde, nicht das ge-
ringste Interesse an Blumen. Diese Gleichgültigkeit gegenüber den
Kindern der Flora war durchaus erklärlich. O. wußte mit den Blumen
einfach nichts anzufangen. Er konnte sie weder essen noch trinken;
Spielobjekte waren sie ihm auch nicht, da seine ungeschickten Hände zum
Sträußchenbinden und Kränzewinden nicht taugten und ihm außerdem die
Resultate dieser Tätigkeit in keiner Hinsicht begehrenswert erschienen;
der feine Sinnengenuß, den die Farben und Düfte der Blumen dem
normalen Menschen bereiten, existierte für sein grob materielles Empfinden
nicht; der Mutter half er allerdings nicht ungern bei der Pflege einiger
Zimmerpflanzen, aber dieses Interesse beschränkte sich ausschließlich auf
die Tätigkeit des Wassertragens und Gießens an sich, ohne sich auf die
Gegenstände der Pflege zu übertragen.
Nun traten die Blumen aber doch sehr häufig in O.s Gesichtskreis:
auf den täglichen Spaziergängen durch die öffentlichen Gärten und
Parkanlagen, auf den Ausflügen in die ländliche Umgebung der Stadt,
namentlich aber während der jährlich wiederkehrenden Sommeraufenthalte
auf dem Lande. Dies legte auch eine unterrichtliche Beschäftigung mit
Pflanzen und Blumen nahe. Natürlich ging O. nur mit Widerstreben auf
diesen neuen Unterrichtsgegenstand ein. Aber je konsequenter seine Auf-
merksamkeit auf dieses Sachgebiet gelenkt wurde und je mehr Blumen
er kennen lernte (er weiß heute die Namen von ungefähr 20 Exemplaren),
desto mehr erlahmte sein Widerstreben, und wenn heute bei ihm auch
noch von keinem positiven Interesse für Pflanzen und Blumen die Rede
sein kann (aus eigenem Antrieb fängt er nie von Blumen zu sprechen
an, auch hat er noch nie aus eigener Initiative nach dem Namen einer
neuen Blume gefragt, wie ihm überhaupt Nichtstun und dösiges Hin-
686 B. Mitteilungen.
träumen bezw. das Schwätzen über Neuigkeiten oder bevorstehende Ver-
gnügen immer noch lieber bezw. wichtiger ist als das Betrachten und
Merken von Blumen), so sind ihm diese doch lange nicht mehr so gleich-
gültig wie früher. Einerseits bereitet es ihm einiges Vergnügen, seine
»botanischen Kenntnisse« zeigen zu dürfen, und andrerseits bindet er
hin und wieder aus eigenem Antrieb kleine Blumensträußchen, um damit
Personen seiner Bekanntschaft zu überraschen, wobei er namentlich die
ihm bekannten Damen bevorzugt.
Selbstverständlich darf man sich aber die »unterrichtliche Be-
schäftigung mit Blumen« nicht als botanischen Unterricht vorstellen.
Nicht einmal der Ausdruck botanischer Anschauungsunterricht wäre zu-
treffend. Botanische Begriffe kommen dahei fast gar nicht vor, und auch
die Kenntnis der bekanntesten Pflanzenarten ist nicht der Hauptzweck
dieser Beschäftigung. Sie soll nur dazu beitragen, O.s Beobachtungs-
und Unterscheidungsfähigkeit zu schärfen, seinen Vorstellungskreis zu er-
weitern, sein Interesse zu dehnen und seinem Geiste neue Nahrung zuzu-
führen. Darum wurden die einzelnen Blumen und Pflanzen auch nicht
in einer bestimmten, vorher festgelegten Reihenfolge in den Kreis der
Betrachtung gezogen, sondern ganz wie sie die Jahreszeiten, die lokalen
Verhältnisse oder der Zufall boten. Dabei verliefen die Besprechungen
stets ungefähr nach folgendem Schema: Sieh dir mal dies Blümchen an!
Was siehst du an ihm? Was gefällt dir an ihm? Welche Farbe?
Welches andere Blümcher sieht ähnlich aus? Hole dir mal ein solches!
Nun vergleiche! Nach Feststellung der auffallendsten charakteristischen
Merkmale wurde die Aufgabe gestellt, andere Exemplare des betrachteten
Blümleins zu suchen (zu pflücken oder nur zu zeigen. Mit deı Er-
füllung dieser Aufgabe war der Hauptakt des angestrebten und erwünschten
Lernprozesses erledigt. Der Name wurde erst gegeben, wenn sich im
Bewußtsein des Jungen ein einigermaßen scharfes Vorstellungsbild der be-
treffenden Blume gebildet hatte, wobei versucht wurde, diesen wenn auch in
noch so naiver Weise aus dem Wesen oder der Bedeutung oder aus hervor-
stechenden Eigenschaften seines Trägers abzuleiten. Für Blumengeschichten,
wie sie im elementaren Unterricht zur Erklärung der Pflanzennamen oder
zur Erheiterung der Kinder häufig eingestreut werden, zeigt O. kein
Interesse, Dagegen ist er für Vergleiche einzelner Pflanzenteile mit be-
kannten Gegenständen (Fingerhut, Glockenblume, Wucherblume als Körbchen
u. a.) nicht unempfänglich, besonders dann, wenn die Vergleichsobjekte
seinen speziellen Interessekreisen entstammen (Lerchenzweig als Flaschen-
putzer, Ginster als Besen).
In ähnlicher Weise konnte die interesseerzeugende Wirkung der
konsequenten Gewöhnung beim Besuch des Zoologischen Gartens beobachtet
werden. Auch hier zeigte O. ursprünglich kein oder nur sehr geringes
Interesse. Gleichgültig lief er an den einzelnen Tieren vorbei, höchstens
daß ein außergewöhnliches Verhalten des einen oder andern seine Auf-
merksamkeit flüchtig erregte. Sein ganzes Sinnen war stets nur auf das
im Gesellschaftshaus des Gartens alltäglich stattfindende Konzert sowie auf
die mit dem Besuch desselben verknüpften kulinarischen Genüsse ge-
1. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen.
687
richtet. Gegen diese O.s Bewußtsein mit überstarken Gefühlstönen
erfüllenden Vorstellungen konnten andere Vorstellungsgruppen nicht auf-
kommen. Es wurden darum zunächst bis auf weiteres die Besuche im
Restaurant ganz eingestellt und dafür um so fleißiger die einzelnen Tier-
häuser mit ihren Bewohnern besichtigt. Die Wirkung dieses Programm-
wechsels blieb nicht aus. Zunächst bäumte sich O.s unbefriedigte Be-
gierde zwar mächtig gegen diesen neuen Usus auf; der Besuch des
Gartens war ihm unter solchen Umständen direkt zuwider. Recht bald
aber machte sich der wohltätige Eiufluß der Gewöhnung geltend. Auf
der einen Seite verloren die Vorstellungen von den Genüssen des Ge-
sellschaftshauses immer mehr ihre sinnliche Vollkraft, und auf der andern
Seite fingen einzelne Tiere und Tiergruppen an, in O.s Bewußtsein die
Rollen wohlvertrauter Bekannter zu spielen. Damit war aber auch die
Grundlage geschaffen für die Entwicklung und Ausbildung eines neuen
Interessekreises.
Heute gehört der Besuch des Zoologischen Gartens zu O.s beliebtesten
Spaziergängen, auch wenn sich damit kein Besuch des Konzertes ver-
bindet. Dabei bevorzugt sein Interesse periodenweise bald die eine bald
die andere Tiergruppe. Gegenwärtig ist es hauptsächlich das Affenhaus,
das ihn anlockt; früher zog es ihn eine Zeitlang immer zuerst nach dem
Elefantenhaus, und wieder ein andermal waren die Seelöwen der bevorzugte
Gegenstand seiner Aufmerksamkeit. Wie bei den Blumen so war auch
im Zoologischen Garten die Gewohnheit die Wurzel des langsam auf-
keimenden Interesses. Man brauchte O. nur längere Zeit hindurch regel-
mäßig an eine bestimmte Tiergruppe zu führen und ihn durch konsequentes
Fragen zu einer schärferen Beobachtung derselben zu veranlassen, und
schon nach wenigen Wochen stellten sich die ersten Symptome eines
spontanen Interesses ein. Selbstverständlich konnte aber auch hier von
einer systematischen Beobachtung und Beschreibung der ins Auge ge-
faßten Anschauungsobjekte keine Rede sein. Eine um so größere Rolle
spielten bildliche Vergleiche: Das Känguruh, das seinen Schwanz als
Stock benutzt (der Stock, ein für O. besonders interessanter Gegenstand!),
der Mantel-Pavian, der sich in einen Mantel hüllt, die Yaks, die in Form
langer, zottiger Haare ihr Bett am Bauche mit herumtragen, der Schnee-
leopard, dessen Fell wie beschneit aussieht, der Bartgeier, der unter dem
Schnabel einen Bart trägt und dessen Beine mit schmutzig- weißen
(ungewaschenen!) Hosen bekleidet siud, die Flamingos mit ihren krummen
Schnäbeln, langen Stelzbeinen und ihrem dreifarbigen (schwarz-weiß-roten)
Gefieder, die Pelikane wit langen Säcken oder Fischnetzen unter dem
Schnabel usw. In dieser Weise wurde, soweit es sich ohne Zwang
machen ließ, O.s Aufmerksa:nkeit auf die charakteristischen Merkmale einzelner
Tiere gelenkt, und er pflegte diesen anschauungsunterrichtlichen Be-
trachtungen um so williger zu folgen, je vertrauter ihm die Vor-
stellungen waren, die zu dem bildlichen Vergleiche herangezogen wurden.
So löste die Vorstellung von den ungewaschenen Hosen des Geiers nicht
geringe Heiterkeit bei ihm aus.
Aber O.s langsam erwachendes Interesse an den Bewohnern des
688 B. Mitteilungen.
Zoologischen Gartens entsprang keineswegs nur der Macht der Gewöhnung.
Auch die humorvolle Tierbetrachtung bewirkte im großen Ganzen immer
nur ein augenblickliches und vorübergehendes Aufleuchten des Interesses.
Es kam noch ein wesentliches Moment dazu. Bekanntlich erregen Tiere
die menschliche Teilnahme und besonders diejenige der Kinder weit leb-
hafter und intensiver als z. B. Pflanzen, weil alles, was lebt und sich be-
wegt, die Aufmerksamkeit überhaupt energischer anzieht als das Un-
veränderliche und Tote. Dazu kommt, daß Tiere in ihren Lebens-
äußerungen und Bedürfnissen sehr viel Verwandtes zeigen gerade mit
denjenigen menschlichen Tätigkeiten und Gewohnheiten, die im kindlichen
Bewußtsein eine besonders wichtige Rolle spielen. Die Tiere geben Laute
von sich, sie laufen, springen, klettern, sie balgen miteinander, sie fressen
und werden gefüttert, kurz sie tun vieles, was das Kind auch tut. Diese
Momente verfehlten auch bei O. nicht, regere Teilnahme zu erwecken.
Noch mehr aber wurde O.s Aufmerksamkeit durch die Hantierungen
und Verrichtungen der Tierwärter angezogen und gefesselt, entsprechend
dem starken Interesse, das er für das Tun und Treiben seiner Neben-
menschen überhaupt besitzt. Wenn jene ihre Pfleglinge fütterten und
tränkten, ihre Ställe reinigten oder sie in Krankheitsfällen nach be-
sonderen Vorschriften behandelten, dann ließ O. kein Auge von ihnen,
er verfolgte jede ihrer Bewegungen mit spannender Aufmerksamkeit,
und hier löste die Wißbegierde auch nicht selten spontane Fragen nach
Grund und Zweckwäßigkeit des Beobachteten bei ihm aus. Als O. ge-
legentlich dazu kam, wie der Schimpanse von seinem Pfleger gewaschen
und gebadet wurde, da strampelte er vor Vergnügen. Selbstverständlich
übertrug sich dieses Interesse an der Tätigkeit der Wärter zum Teil auch
auf die von diesen gepflegten Tiere.
Aber noch in einer anderen Beziehung spielten die Wärter für O.s
Neugierde eine wichtige Rolle. Mehr noch als die Lebensäußerungen der
Tiere interessierte O. das, was man deren Schicksal nennen könnte.
Wenn z. B. eines der Tiere krank war und separat gepflegt werden
mußte, oder wenn eines verkauft war und verschickt werden sollte, oder
wenn ein neues Tier erwartet wurde (sei es von auswärts durch Ankauf
oder auf dem Wege der natürlichen Vermehrung, was für O. heute noch
gleichbedeutend ist), dann war O.s Interesse stets in hohem Maße mobil.
Das Bedürfnis, recht viel darüber zu erfahren, quälte ihn geradezu. Die
erwünschten Auskünfte konnten aber nur die Pfleger erteilen. O. selbst
war natürlich zu scheu, um zu fragen. Ließ sich dann aber der Ver-
fasser mit dem Wärter in eine Unterhaltung ein, so wich O. nicht von
der Stelle, er sperrte Mund und Augen auf und kein Wörtlein pflegte
ihm zu entfallen. Dabei haftete das, was er auf diesem Wege auffing,
stets besonders treu und fest in seinem Gedächtnis. Hier nur ein Bei-
spiel. Ein brauner Pavian war plötzlich erkrankt. Täglich äußerte O.
aus eigenem Antrieb den Wunsch, nach ihm zu sehen und sich nach ihm
zu erkundigen. Eines Tages war der Käfig leer, der Affe war ein-
gegangen. Nun ging bei O. das Fragen los. Ein »Todesfall« ist in O.s
Augen ja das allerwichtigste Ereignis. Schließlich wurde durch den
1. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen. 689
Wärter in Erfahrung gebracht, daß der Affe nach Göttingen geschickt
würde, um dort ausgestopft zu werden. Noch 1 Jahr später wußte O.
den Namen »Göttingen«, den er bei dieser Gelegenheit zum erstenmal ge-
hört hatte! — Da O. sich für die aus dem Munde der Wärter stammenden
Mitteilungen besonders empfänglich zeigte, versäumte Verfasser nicht, sich
in O.s Gegenwart möglichst oft mit den Wärtern über die Tiere zu
unterhalten. Schließlich sei auch noch erwähnt, daß sich O.s Interesse an
den einzelnen Tieren sofort um einen Grad erhöhte, sobald er deren Ruf-
namen kannte. Im Affenhaus z. B. stehen die Toni (Schimpanse) und
der Fips (Magot) besonders hoch in seiner Gunst.
Wie aus dem Vorstehenden hervorgeht, ist in dem Zoologischen
Garten für O. ein neues Interessegebiet erobert worden. Dabei darf aber
nicht verschwiegen werden, daß dieses neue Interesse, weil im wesent-
lichen auf künstlichem Wege erzeugt, hinsichtlich seiner Stärke und Be-
ständigkeit lange nicht an diejenigen Interesserichtungen heranreicht, die
in O.s spontaner Vorstellungswelt wurzeln. Zwar gehört der Besuch des
Zoologischen Gartens für O. heute zu denjenigen Spaziergängen, für die
er am leichtesten zu haben ist, aber lieber würde er zu Hause bleiben,
sich unter das Fenster legen und sich in träger Beschaulichkeit am An-
blick der Rheinschiffe und des Straßenverkehrs amüsieren. Und wenn
ihm bei einem Gang in den Zoologischen Garten von vornherein der Be-
such des Restaurants in Aussicht gestellt wird, existieren die Tiere für
ihn überhaupt nicht, sein Tierinteresse wird dann vollständig überwältigt
von den auf die realeren Genüsse gerichteten Erwartungsvorstellungen.
Auch bedarf es fortgesetzter »unterrichtlichere Beeinflussung, um O.s
»zoologisches Interesse« vor dem Einschlummern zu bewahren.
Nur einmal war der Zoologische Garten (ohne Konzertbesuch!) das
Ziel von O.s spontanem Begehren. Das war, als dort eine Samoaner-
truppe ihre Gebräuche und Sitten, Gesänge und Tänze vorführte. Diesen
Vorführungen konnte O. stundenlang ohne Zeichen der Ermüdung zu-
sehen. Namentlich die häuslichen Verrichtungen der fremdländischen
Gäste, das Zubereiten der Speisen, ihre Mahlzeiten, ihr Treiben in den
Zwischenpausen, zogen ihn mächtig an. Wenn sie aber gar ihr tägliches
Bad nahmen, sich kopfüber in das Bassin stürzten oder von ihrem hohen
Wasserfelsen herabrutschten, konnte sich O. vor Vergnügen kaum fassen.
Auch hier zeigte sich wieder, wie solche Vorgänge, die ihn an die von
ihm selbst mit Vorliebe betriebenen Tätigkeiten erinnern, seine Aufmerk-
samkeit in besonderem Maße erregen. Aber auch hier war sein Interesse
mit der Befriedigung der rein sinnlichen Neugierde erschöpft. Lehrhaften
Unterhaltungen gegenüber verhielt er sich abweisend. Über das Woher
und Wohin dieser sonderbaren Menschen, über den Grund ihrer eigen-
artigen Lebensweise, darüber, daß sie sich mit den Zuschauern nur durch
Zeichen verständigen konnten, und dergl. Dinge machte er sich keine Ge-
danken. Vielleicht reizte ihn auch bloß die nur leicht verhüllte Nackt-
heit dieser Naturkinder, und dann könnte man an die Wirkung erotischer
Gefühle denken. Letztere Vermutung gewinnt dadurch an Wahrschein-
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. , 44
690 B. Mitteilungen.
lichkeit, daß O. sich einer 2 Jahre später auftretenden weniger durch-
sichtig gekleideten Beduinentruppe gegenüber sehr indifferent verhielt.
(Schluß folgt.)
2. Ein deutsches Jugend-Museum.
Jahre hindurch arbeite ich an einer Geschichte des Kindes, die die gesamte
Kinderforschung umfassen sollte. Ich wollte schildern, welchen Einfluß das Kind
auf das öffentliche Leben, auf Handel und Gewerbe, auf Wissenschaft und Kunst,
auf die Geschichte aller Zeiten und Völker ausgeübt hat, wollte versuchen, die neu-
zeitlichen Bestrebungen auf dem Gebiete der Jugendfürsorge zu würdigen, um da-
durch Anregungen zu geben und den Eltern und Erziehern gangbare Wege zu
zeigen. Notizen und Material häuften sich, immer größer wurden die Kreise, die
meine Forschungen zogen, bis mir endlich die Überzeugung kam, daß eine Ge-
schichte des Kindes, wenn sie ernst und gewissenhaft sein sollte, eine kleine Biblio-
thek bilden würde. Daß aber gerade dadurch die Idee gefährdet würde, liegt wohl
auch klar zutage, denn nur Wenige könnten sich ein solches Werk zulegen und in
die Hände derjenigen, für die es bestimmt wäre, der Eitern und der angehenden
Lehrer und Erzieher, käme es nie.
So kam ich auf den Gedanken, die lebendige Anschauung an Stelle des toten
Wortes zu setzen und ein Jugend-Museum zu gründen. Vielleicht hat das Wort
Museum etwas dumpfes, staubiges. Aber muß denn ein Museum immer kalt und
nüchtern, eine lieblose, streng wissenschaftlich geordnete Anhäufung tausenderlei
Gegenstände sein? Ich kann mir ein Jugend-Museum sehr wohl als eine freundliche
und doch zweckmäßige Stätte denken, an der man gern ist. Und das ist es gerade,
das den Wert eines solchen Instituts ausmacht. Den angehenden Pädagogen muß
es eine Freude und kein Zwang, den Eltern eine Erholung nach Mühe und Arbeit
sein, in seinen Mauern zu weilen. Sie dürfen sich nicht in ein »Panoptikum« ver-
setzt fühlen, sondern sie müssen das Gefühl haben, in behaglichen und stimmungs-
vollen Räumen eine Stunde der Andacht zu verleben und mehr als nur Belehrung
mit nach Hause zu bringen.
Darum denke ich mir auch das Haus nicht als monumentales Gebäude inmitten
der Großstadt; irgendwo im Grünen und doch leicht zu erreichen; am Rande des
Waldes, inmitten eines von Kindern und Frauen gepflegten Gartens sollte es liegen,
ein idealer Ausflugsort und vielleicht mit einem Ferienheim für Kinder und Semina-
risten verbunden. Hier könnten junge Pädagogen am leichtesten lernen, daß das
Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler weniger das eines Vorgesetzten zum Unter-
gebenen sondern eines älteren zum jüngeren Freund ist, daß es nicht darauf an-
kommt, Wissen in die Kinderköpfchen hineinzunudeln, sondern die geistige und
seelische Entwicklung zu lenken und zu pflegen. Die Sammlung des Museums
selbst gliedere ich in fünf Abteilungen, die aber nicht streng voneinander getrennt
werden sollen. Die Entwicklung des gesamten Schul- und Erziehungswesens im In-
und Auslande, sowohl in guten als auch in schlechten Beispielen, an Modellen,
Plänen, Statistiken und Bildern soll die Abteilung »Schule und Erziehung« zeigen.
Die Geschichte des Jugendsports, der Spiele und des Spielzeugs soll die zweite Ab-
teilung vor Augen führen, und in der dritten sollen Jugendfürsorge und Hygiene
durch historische, statistische und bildliche Beispiele und Modelle aus den Waisen-
häusern, Kindersanatorien, Kinderhorten, Kindervolksküchen und Erholungsheimen
geschildert werden. Wichtig ist die Abteilung Kunst, Musik und Literatur. Was
Künstler, Musiker und Schriftsteller über das Kind und dem Kinde gesagt haben,
Gemälde, Noten und Bücher, wie das Kind durch Zeichnungen, Lieder und Äuße-
rungen sich selbst zur Kunst und zum Leben stellt, soll sie zeigen, und es freut
mich, daß ich gerade dafür unter den Künstlern und Lehrern lebhafte Gegenliebe
gefunden habe. Dieser Abteilung will ich auch eine »Beobachtungsstation für
Wunderkinder« und schlechte Schüler angliedern. An Hand von vielversprechenden
künstlerischen Arbeiten Jugendlicher soll die Weiterentwicklung dieser » Wunder-
kindere durch Eltern, Lehrer und Kinderfreunde beobachtet werden, ebenso die Ent-
wicklung der »Faulpelze«. Den Einfluß des Kindes auf Geschichte und Wirtschafts-
3. Zu der Frage der Formen der krankhaften moralischen Abartung. 691
leben will ich in der letzten Abteilung darzustellen versuchen, in ihr sollen Modelle
von Spielwarenfabriken, Arbeitstuben usw., Statistiken und graphische Darstellungen
erläutern, wie und wieviel Geld durch die Arbeit für das Kind umgesetzt wird.
Auf Einzelheiten einzugehen fehlt mir hier leider der Raum, ich muß mich
daher darauf beschränken, die weiteren Zwecke des Museums kurz zu erwähnen.
Die beweglichen Sammlungen sollen nicht an die Kette gelegt, sondern in der Art
von Wanderausstellungen allen deutschen Städten zugänglich gemacht werden.
Ferner sollen periodisch erscheinende illustrierte Mitteilungen über die Sammlungen
und Beobachtungen an sämtliche Schulen und Kinderfreunde abgegeben werden. +)
Inzwischen ist die Bildung eines Vereins zur Gründung des Deutschen Jugend-
Museums beschlossen worden. Dem Ehrenausschuß gehören bisher Eufemiä
von Adlersfeld-Ballestrem — Professor Peter Behrens — Prof. Dr. Burgass, Real-
schuldirektor — Clara Blüthgen — Victor Blüthgen — Lovis Corinth — Gustav
Falke — Ludwig Fulda — Julius Hart — Prof. Engelbert Humperdinck — Prof.
Dr. E. Kohlrausch (Zentralausschuß f. Volks- u. Jugendspiele) — Hofrat Alexander
Koch — Prof. Dr. med. et phil. Leo Langstein, Direktor des Kaiserin Auguste
Viktoria-Hauses zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit. — Prof. Dr. A. Pabst,
Seminardirektor a. D, — Stadtbaurat L. Schoenfelder, Kgl. Baurat, und Professor
Walter Schott an.
Berlin. Hans Bodenstedt.
3. Zu der Frage der Formen der krankhaften
moralischen Abartung.
In einer Besprechung meiner Schrift Ȇber die Formen der krankhaften
moralischen Abartung« (diese Zeitschrift, XIX, 8, Mai 1914, S. 511) wird irrtüm-
lich mitgeteilt, daß ich zu den krankhaft moralischen Abartungen auch rechne die
geistig Infantilen, die Imbezillen und die Psychopathen. Ich brauche wohl nicht
darzutun, daß diese Einteilung nicht zutrifft; es wurde vielmehr zum Ausdrucke
gebracht, daß es auch krankhafte Abartungen im Gefühlsleben geben könne, welche
in intellektueller Beziehung nicht oder nicht erhebliche Fehler erkennen lassen.
Ich nehme Gelegenheit, noch einmal darauf hinzuweisen, daß gerade die Kind-
gebliebenen, also Infantilen, die besten Chancen für die erziehliche Tätigkeit bringen
können. Die Kindgebliebenen stellen gewissermaßen den am wenigsten artfremden
Typus geistiger Eutwicklungsstörungen dar; sie wurden mehr als harmonische Störungen
in der Gesamtentwicklung bezeichnet. Bei ihnen trifft es zu, von einem Miniatur
der Seele des Erwachsenen zu sprechen. Es sind sehr verschieden gestaltige Pro-
zesse, welche ärztlich den körperlichen und geistigen Infantilismus hervorbringen
können. Allerdings scheint dabei besonders den Drüsen ein artbestimmender Ein-
fluß zuzukommen. Aber gerade bei der infantilen Form findet sich die krankhaft
moralische Abartung viel seltener.
Anders stellt sich die ärztliche Beurteilung zu jener interessanten Tatsache,
daß bei gewissen Gehirnerkrankungen (Paralyse, krankhaftes Greisenalter usw.) ge-
wissermaßen als Frühsymptom eine Rückverwandlung in den kindlichen
Geisteszustand veranlaßt wird. Bei solchen Krankgewordenen entsteht allerdings
nicht der Typus eines unerfahrenen Kindes, sondern eines Kindes, dem alle Ent-
gleisungen und üblen Eindrücke des Lebens bereits einverleibt sind. So sehen wir
bei krankhafter seniler Involution eigenartige kindlich-alberne Sexual-Delikte auf-
treten. In solchen Fällen aber gilt die ärztliche Erfahrung, daß bei gewissen
krankhaften Umartungen des Gehirnes zuerst das Gemüts- und Gefühlsleben
(Charakter) gestört wird, währenddem die intellektuellen Leistungen erst später
nachweisbar krankhaft werden.
Halle a. S. Prof. G. Anton.
1) Anmerkung der Schriftleitung: Wenn uns auch die hier entwickelten Pläne
zum Teil mit dem im deutschen Reichsschulmuseum zu Schaffenden zu kollidieren
scheinen, so bieten sie doch in mancher Hinsicht davon so abweichende Gedanken,
daß wir unseren Lesern diese Mitteilung nicht vorenthalten wollten. Wir möchten
damit aber keineswegs einer Zersplitterung und Dezentralisierung das Wort reden.
44*
692 B. Mitteilungen.
4. Zeitgeschichtliches.
Die diesjährige 2. Außentagung der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge
findet in Altona am 18. u. 19. September statt. Als Verhandlungsthema ist aus-
ersehen: Die Fürsorge für ortsfremde und wandernde Jugendliche. Dem
in der praktischen Arbeit der Jugendfürsorge Stehenden soll eine Gesamtübersicht
über den augenblicklichen Stand der Rechtslage, sowie über die Lücken der Gesetze
und ihrer Handhabung gegeben werden. In eingehenden Vorträgen soll die Lage
der ortsfremden Säuglinge und Kleinkinder sowie der ortsfremden weiblichen und
männlichen Schulentlassenen geschildert und daraus Mittel und Wege zur Abhilfe
gesucht werden. Anfragen sind an die Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge,
Berlin C. 19, Wallstr. 89 zu richten.
Der IV. Hilfsschulkursus in Breslau (30. April bis 20. Mai 1914) zählte
nach einem uns zugegangenen Bericht 40 Teilnehmer (29 aus Schlesien), die durch
ihn reiche Anregungen empfingen. Da der Kursus 170 Stunden umfaßte, wurde
der Wunsch ausgesprochen, diese in Zukunft auf vier Wochen zu verteilen.
Der IV. Deutsche Kongreß für Jugeudbildung und Jugendkunde
findet vom 1.—3. Oktober 1913 in Köln statt. Die Hauptthemen lauten: I. Das
Kind vor dem Eintritt in die Schule: seine Entwicklung und Erziehung und ihre
Bedeutung für die Reform der Schularbeit. II. Jugenäbewegung und Erziehungs-
reform. In einer öffentlichen Versammlung soll über Schulreform und Werkbund
gesprochen werden. In der Werkbundausstellung wird ein allen Anforderungen der
Hygiene und Pädagogik entsprechendes Schulzimmer sowie ein Kinderzimmer nach
Maria Montessori nebst deren Lehrmitteln und weiteren Qualitätslehrmitteln aus-
gestellt.
Der vierte internationale Kongreß für Volkserziehung und Volks-
bildung findet vom 25.—29. September unter Vorsitz des Leipziger Privatdozenten
Max Brahn in Leipzig statt. Der Kongreß wird sich in der Hauptsache mit der
Erziehung und Bildung der Jugendlichen befassen. Die Verhandlungen werden in
6 Sektionen geführt. Als Redner sind hervorragende Autoritäten gewonnen. Die
Teilnehmerkarte kostet (bei Bezug des Vorberichtes und des Hauptberichtes) 10 Mark
für Einzelpersonen, ohne Bezug der Schriften 5 Mark. Alle Anfragen und Anmel-
dungen sind an den Generalsekretär des Kongresses Paul Schlager, Leipzig,
Eutritzscher Straße 19/II, zu richten.
Auf der 44. Hauptversammlung der Gesellschaft für Verbreitung
von Volksbildung (Berlin, 1.—7. Oktober 1914) wird das Thema »Jugendpflege
in ihrer Bedeutung für die Volksbildungsarbeit« erörtert werden. Alles Nähere ist
zu erfahren durch die Geschäftsstelle der Gesellschaft in Berlin NW.52, Lüne-
burger Straße 21.
Die neunte Tagung des Verbandes der katholischen Anstalten
Deutschlands für Geistesschwache findet vom 4. bis 6. August 1914 in der
Anstalt St. Bernhardin bei Capellen, Kreis Geldern am Niederrhein, statt. Es wird
u. a. gesprochen über die Binet-Simon-Tests, über Feststellung und Behandlung der
Tuberkulose in Schwachsinnigenanstalten, über Turnen, Lesen usw. Anschriften an
Oberarzt Dr. Kleefisch, Franz Sales-Haus, Essen-Huttrop.
Auf dem VIII. internationalen Kongreß für Kriminalanthropologie,
der Mitte September 1914 in Pest stattfindet, soll ausführlich über die Ausbildung
der Jugendrichter, Jugendstaatsanwälte und Probation -Officers gesprochen werden.
Als Referenten sind dafür bestimmt: Professor Heimberger- Bonn, Prof. Nabokoff-
St. Petersburg und Professor Finkey-Klausenburg. Als weitere Themen stehen zur
Verhandlung: Die Gemeingefährlichkeit vom ärztlichen und juridischen Standpunkt;
die senilen Veränderungen der Psyche; die Schädeldifformitäten als Degenerations-
zeichen; die Schutzaufsicht. Alle Anfragen usw. sind zu richten an: Staatssekretär
Julius Rickl von Bellye, Pest, Justizministerium.
Ein erster internationaler Kongreß für Sexualforschung findet vom
31. Oktober bis zum 2. November 1914 in Berlin statt. Unter den verschiedenen
Sektionen ist auch eine philosophisch-psychologisch-pädagogische Sektion vorgesehen.
4. Zeitgeschichtliches. 693
Alle Anmeldungen und Anfragen sind möglichst bald zu richten an Dr. Max Mar-
cuse, Berlin W. 35, Lützowstraße 85. Nichtmitglieder der Internationalen Gesell-
schaft für Sexualforschung haben eine Einschreibegebühr von 10 Mark zu zahlen,
während die Teilnahme am Kongreß für Mitglieder frei ist.
‚Unter den Vorträgen der 86. Versammlung deutscher Naturforscher
und Arzte (Hannover, 20.—26. September 1914) ist der Professor Gaupps-Tübingen
Br Seele der Degeneration als für unsere Leser besonders wichtig hervor-
eben.
Vom 31. Mai bis 5. Juni 1915 wird in London der VI. Internationale
Kongreß für Armenpflege und Wohltätigkeit abgehalten werden. Der erste
dieser internationalen Kongresse fand im Jahre 1889 in Paris statt. Seit 1900 sind
sie zu einer ständigen, in fünfjährigem Zeitraum wiederkehrenden Einrichtung ge-
worden, mit deren Vorbereitung ein in Paris unter dem Vorsitz von Emile Loubet
tagender »Ständiger Ausschuß« beauftragt ist. Der letzte Kongreß wurde im Jahre
1910 in Kopenhagen abgehalten und erfreute sich einer starken Beteiligung, nament-
lich auch aus den Kreisen der deutschen Wohlfahrtspflege. Der Londoner Kongreß
wird ein außerordentlich reiches Programm darbieten. In den Hauptsitzungen sollen
folgende Fragen behandelt werden: 1. Welchen Einfluß muß nach modernen An-
schauungen der Gedanke der Vorbeugung auf die Armenpflege gewinnen? 2. Inter-
nationale Vereinbarungen in der Fürsorge für verlassene und sittlich verwahrloste
Kinder. 3. Fürsorge für die Familien von Gefangenen. 4. Fürsorge für geistig
minderwertige, nicht eigentlich geisteskranke Personen. — Dazu kommen noch
Sektionssitzungen, die folgenden Gegenständen gewidmet sein werden: 5. Einfluß
der staatlichen Versicherungssysteme auf Organisation und Verwaltung der Kranken-
häuser. 6. Das Verhältnis der Gemeindeverwaltung zur öffentlichen und privaten
Armenpflege. 7. Verwendung öffentlicher Mittel zur Verbesserung des Arbeiter-
wohnungswesens. 8. Organisation und Verwaltung der Schulfürsorge-Ausschüsse. —
Die Generalberichte über die 4 Hauptgegenstände haben die Herren van Overbergh-
Brüssel, Ferdinand Dreyfus-Paris, Prof. Dr. Klumker- Wilhelmsbad b. Hanau und
Sir Bryan Donkin-London übernommen; zur Erstattung von Spezialberichten über
die einzelnen Verhandlungsgegenstände sind sachverständige Persönlichkeiten aus
allen’ Ländern aufgefordert worden. Der Beitrag ist auf 20 sh. festgesetzt; er be-
rechtigt zur Teilnahme an allen Veranstaltungen des Kongresses sowie auch zum
Bezuge der sämtlichen von dem Kongreß herausgegebenen Druckschriften. Jede
Auskunft über den Kongreß erteilt für Deutschland die Geschäftsstelle des Deutschen
Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit, Berlin, Bernburgerstr. 24/25.
Ein Zusammenschluß aller auf dem Gebiete der Jugendfürsorge und Jugend-
pflege tätigen Ärzte in einen Ärzteverband für Jugendfürsorge und Jugend-
pflege ist im Werke. Alle sich dafür interessierenden Arzte werden um Mit-
teilung ihrer Adresse an Dr. Lewandowski, Berlin W., Magdeburgerstraße 5,
oder an Dr. Hanauer, Frankfurt a. M., Reuterweg 57, gebeten.
Eine große Ausstellung »Das Kind« soll in unserer ausstellungswütigen
Zeit im nächsten Jahre zu Breslau stattfinden. Sie soll 20 Abteilungen umfassen
und zählt einen großen Stab hervorragender Gelehrter zu ihren Vorbereitern.
Für die Errichtung eines großen Instituts zum Studium verbrecherischer,
armer und defekter Menschen tritt mit großem Eifer Artur MacDonald
ein. Zu diesem Zweck wurde an alle Justizministerien ein Anschreiben versandt,
in dem auf die große soziologische Bedeutung einer derartigen Einrichtung hin-
gewiesen wird. In einem weiteren Schreiben wendet sich MacDonald an die Stu-
dierenden selbst mit der Aufforderung, diesen Gebiete mehr Aufmerksamkeit zu
zollen. Zur Vorbereitung für die wissenschaftliche Arbeit schlägt er vor: Kurse in
Psychologie, besonders in Laboratoriumsarbeiten; tanatomische, physiologische, all-
gemein pathologische, neurologische und psychiatrische Studien, insbesondere in den
Kliniken; praktische Kurse in Kraniologie; Kenntnis der modernen Sprachen. Die
ganze Methode soll international einheitlich gestaltet werden. Der Verfasser über-
sendet seine kleine Schrift »Study of Man«, in der diese Fragen näher behandelt
sind, auf Verlangen kostenlos. Adresse: Arthur MacDonald, The Congressional,
Washington, D. C.
694 B. Mitteilungen.
Ein Institut für Arbeits-Physiologie und -Hygiene wird in Berlin
mit den Mitteln der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften
errichtet auf Anregung von Geheimrat Rubner. Über die Aufgaben und Ziele
unterrichtet ein Aufsatz ın »Die Pädagogische Forschung«, II, 3 (April 1914), S. 336
bis 339, in dem zum Schluß betont wird, daß auch die pädagogische Forschung und
die pädagogische Wissenschaft durch die Arbeit des neuen Instituts zweifellos
wichtige Förderung erfahren werden: »Es wird nicht vorübergehen können an den
relativ konstanten Arbeitsbedingungen und Arbeitsformen, unter denen Hundert-
tausende von Schulkindern und Lehrern täglich zu arbeiten gezwungen sind. Die
Hygiene des Schulmilieus und der geistigen Schularbeit birgt auch für das neue
Forschungsinstitut eine Fülle wichtiger Probleme.«
Der Kieler Vereinigung für alkoholfreie Jugenderziehung wurden von der
Stadtverwaltung 100 Mark zur Einrichtung einer alkoholgegnerischen Ausstellung
überwiesen, die in einem städtischen Schulgebäude untergebracht wird und Eigentum
der Stadt Kiel bleibt, also die erste städtische alkoholgegnerische Ausstellung
sein dürfte. Die Ausstellung ist für Lehrer, Schüler und deren Eltern bestimmt.
Die Ausstellungsgegenstände stehen den Schulen auch leihweise zur Verfügung.
Das ungarische Kultusministerium hat die Stadt Budapest aufgefordert,
alle Mittelschulen, Bürgerschulen, höheren Mädchenschulen, Handelsschulen zum
regelmäßigen Besuch des sozialen Museums zu veranlassen. Es finden täglich
antialkoholische Vorträge in diesem Museum statt, an die sich Führungen durch die
Ausstellung anschließen. Daran soll täglich je eine Klasse teilnehmen.
Zur Taubstummenstatistik in Preußen am 1. Januar 1914 findet sich
eine Mitteilung in den Medizinalstatischen Nachrichten, herausgeg. vom Kgl. Preuß.
Statistischen Landesamt, Jg. V, 1913/1914, Heft 4, S. 599—604. Danach wurden
in 48 Taubstummenanstalten und -schulen von 657 Lehrkräften (530 m., 127 w.)
5427 Schüler (2990 m., 2437 w.) unterrichtet. 303 Kinder wurden in Preußen
1913 ermittelt, die das schulpflichtige Alter zwar erreicht hatten, aber noch keiner
Taubstummenanstalt oder -schule überwiesen waren.
Aus dem Bericht der Berliner Schulärzte über das Schuljahr 1913
und 1914 entnehmen wir folgende Zahlen: untersucht wurden 36164 Schulanfänger.
9,98°/, von ihnen wurden wegen geistiger oder körperlicher Unzulänglichkeit vom
Schulbesuch zurückgestellt. 21,04°/, kamen unter ständige ärztliche Überwachung.
Den Hilfsschulen wurden 615 Kinder überwiesen, der Idiotenanstalt 50. — Schwimm-
unterricht erhielten 1460 Kinder. — In den Schulzahnkliniken behandelt wurden
45204 Kinder von 224187.
Zur Bekämpfung der Diphtherie dürfte eine Vorschrift der Münchener
Polizeidirektion wesentlich beitragen, nach der an Diphtherie erkrankt gewesene
Kinder erst die Schule wieder besuchen dürfen, nachdem eine zweimalige bakterio-
logische Untersuchung die Freiheit von Diphtheriekeimen nachgewiesen hat. Über-
tretungen werden mit Geld- oder Haftstrafen geahndet.
Klassen für Schwachsichtige sind in Straßburg und Mülhausen im Elsaß
eingerichtet. In ihnen wird besonders auf den Gehör- und den Tastsinn gewirkt.
Das Schreiben tritt stark in den Hintergrund.
Den ungünstigen Einfluß, den die Trunksucht mittelbar oder unmittelbar
auf die Fürsurgezöglinge ausübt, veranschlagt Dr. Schott auf Grund von Be-
obachtungen an 228 Fällen der württembergischen Statistik auf 60°/, (Vortrag auf
der Mitgliederversammlung des Landesverbandes für Jugendfürsorge in Württemberg).
Als Beilage zu Nr. 112 der Blätter für das Leipziger Armen- und Fürsorge-
wesen erschien soeben ein Bericht über die Durchführung der Fürsorge-
erziehung in Leipzig im Jahre 1913, aus dem hervorgeht, daß am 1. Januar
1914 1011 Fürsorgezöglinge beiderlei Geschlechts vorhanden waren. Es entfielen
also auf je 10000 Einwohner 16,28 Fürsorgeerziehungsfälle gegen 14,73 im Vor-
jahre. Anhangsweise sind einige Berichte aus den Anstalten mitgeteilt.
Für Kinder, denen es zu Hause an Licht und Raum zur Anfertigung ihrer
Schularbeiten fehlt, will die Königliche Regierung zu Oppeln Lernabende in der
Schule unter Aufsicht eines Lehrers einrichten.
4. Zeitgeschichtliches. 695
Stiftungen, Geschenke usw.: Zur Errichtung eines Waisenhauses in
Halberstadt 300000 Mark.
Die Berliner Gesellschaft für Rassenhygiene hat ihr Preisausschreiben
»Bringt materielles und soziales Aufsteigen den Familien Gefahren in rassen-
hygienischer Beziehung ?« erneuert unter Verdoppelung der ausgesetzten Preise.
Der erste Preis ist auf 800 Mark, der zweite auf 400 Mark festgesetzt. Unter
Umständen kommt nur ein Preis von 1200 Mark zur Verteilung. Die Arbeiten
sind bis zum 31. Dezember 1915 bei Dr. G. Heimann, Charlottenburg, Cauer-
straße 35, einzureichen, der auch die näheren Bedingungen für das Preisausschreiben
verschickt.
Mit der Frage Lehrerberuf und Tuberkulose befaßt sich Dr. Robert
Behla in den Medizinalstatistischen Nachrichten, herausgegeben v. Kgl. Preußischen
Statistischen Landesamt, Jg. V, 1913/1914, Heft 4, S. 627—633, im Anschluß an
die Schrift von Friedrich Lorentz-Berlin über »die Tuberkulosesterblichkeit der
Lehrer nach Erfahrungen der Sterbekasse deutscher Lehrer« (Charlottenburg, P.
Johannes Müller, 1913). Er kommt dabei zu folgenden Forderungen: »Es kann
daher nur eine Frage der Zeit sein, daß die schulärztliche Tätigkeit sich auch auf
die Beobachtung und Untersuchung der Lehrer erstreckt. .... Die Erfahrung, daß
die Kindertuberkulose eine so große Rolle spielt, fordert erst recht einen tuberkulose-
freien Lehrerstand, um zur Ausrottung der Tuberkulose weiter beizutragen.«
Der Verein abstinenter Lehrer und Lehrerinnen Österreichs
(Wien XVI/l, Hubergässe 15) hat im Jahre 1913 ein Anwachsen seiner Mitglieder
von 262 auf 428 zu verzeichnen.
Der neue Entwurf der Satzungen des Verbandes der Hilfsschulen
Deutschlands, sowie ein Entwurf der Geschäftsordnung sind im Maiheft 1914
der »Hilfsschule«, S. 117—121, zum Abdruck gebracht. Die Hilfsschullehrer seien
darauf hingewiesen.
In Weißenfels fand zu Pfingsten 1914 ein Guttempler-Jugendtag statt.
Aus diesem Anlaß erschien, herausgegeben von Lehrer R. Theuermeister- Weißenfels,
eine Festschrift (64 Seiten), die in der Hauptsache von Jugendlichen geschrieben
wurde. Man ersieht daraus, in welcher Weise im Guttemplerorden schon seit
langen Jahren erfolgreich Jugendpflege getrieben ist. Die schön ausgestattete Schrift
ist zum Preise von 50 Pfennig zu beziehen vom Ausschuß für den Jugendtag in
Weißenfels (Saale), Kugelberg 57. Ein Bericht erscheint zu gleichem Preise ebenda.
Unter dem Titel »Säemannskarten«gibt der Leiter der Wander- Wohlfahrts-
Ausstellung, Lehrer G. Temme in Nordhausen, Postkarten heraus, deren erste, uns
vorliegende, eine ganze Reihe wertvoller Daten aus dem Gebiete der Jugendfürsorge
enthält. Die Postkarten sind von der Buchdruckerei Oskar Ebert in Nordhausen a. H.
zu beziehen: 10 Stück kosten portofrei 50 Pfennig, 100 Stück 2,50 Mark, 1000 Stück
12,50 Mark.
Aus Anlaß ihres zehnjährigen Bestehens hat die Schulkommission des Arzt-
lichen Vereins in München eine Festschrift herausgegeben, die unter dem Titel
Arzt und Schule, Ziele und Erfolge der Schulkommission des Arztlichen Vereins
München auf dem Gebiete des Mittelschulwesens 1910—1914, kürzlich im Verlag
von J. F. Lehmann in München erschienen ist (96 Seiten, Preis geheftet 2 Mark).
Das bekannte Verzeichnis der bewährtesten Lehr- und Anschauungs-
mittel für höhere, mittlere und Elementarschulen, das der Verlag und
die Buchhandlung K. F. Koehler in Leipzig (Täubchenweg 21) unter dem Titel
Bibliotheca Paedagogica herausgibt, ist in 21. Ausgabe soeben erschienen. Aus
einem kleinen Hefte ist im Laufe der Jahre ein umfangreicher Katalog geworden,
der nahezu 1200 Seiten großoktav umfaßt und mit zahlreichen Illustrationen ver-
sehen ist. Dem Verzeichnis selbst ist ein kurzer Aufsatz Th. Frankes- Wurzen
über die Erweiterung der kindlichen Sinnestätigkeit durch Lehrmittel vorangeschickt.
Durch gute Register ist die Benutzung des wertvollen Kataloges wesentlich er-
leichter. Es ist wohl anzunehmen, daß keine Schule es unterlassen wird, sich
dieses Lehrmittelverzeichnis zu beschaffen, das wohl den besten Beweis bietet von
in vielseitigen Arbeit, die auf dem Gebiete der Lehr- und Anschauungsmittel ge-
eistet ist.
696 B. Mitteilungen.
Als Nr. 113/114 von Thomas’ Volksbücher (Theodor Thomas, Leipzig) erschien
ein 80 Seiten starkes Bändchen über »Das Auge und seine Erkrankungen«
von dem Augenarzt Dr. W. Klingelhöffer (Preis 40 Pfennig, geb. 65 Pfennig).
Das Buch will hauptsächlich prophylaktisch wirken. Eine Reihe guter Abbildungen
ergänzen den Text.
Im Verlag von E. 8. Mittler & Sohn-Berlin erschien soeben der zweite
Jahrgang der Jahrbücher der Philosophie, herausgegeben in Gemeinschaft mit
zahlreichen Fachgenossen von dem Berliner Universitätsprofessor Max Frischeisen-
Köhler (VI und 240 Seiten. Preis 6 Mark, gebunden 7,50 Mark). Die Jahrbücher
wollen eine kritische Übersicht der Philosophie der Gegenwart bieten, ohne Organ
einer bestimmten philosophischen Schule zu sein. Sie wollen im Gegenteil die Ver-
treter aller bedeutenden Richtungen zu Worte kommen lassen. Die einzelnen
Arbeiten beschränken sich nicht auf einen chronologisch festgelegten Zeitraum, wie
das meistens bei Jahrbüchern der Fall ist, sondern sie fassen größere Abschnitte
zusammen unter Berücksichtigung auch älterer Arbeiten. Im ersten Jahrgang
wurden so behandelt: Erkenntnistheorie und Psychologie, das Zeitproblem, die Philo-
sophie des Organischen, die Geschichtsphilosophie, die Soziologie, die Ästhetik und die
Kunstwissenschaft. Der vorliegende zweite Jahrgang ist der praktischen Philosophie
gewidmet, während der dritte Band vor allem die Religionsphilosophie und die Meta-
physik behandeln soll. Vom vierten Jahrgang an sollen die Berichte dann regel-
mäßig die drei letzten Jahre umfassen, wobei die Übersicht über das Gesamtgebiet
der Philosophie sich auf drei Bände verteilt. Der Inhalt des vorliegenden zweiten
Jahrgangs setzt sich aus folgenden Arbeiten zusammen: Die Grundlagen der Wert-
theorie (Oskar Kraus-Prag); Die Freiheit des Willens (Otto Braun-Münster); Ethik
(Max Scheler-Berlin); Soziologie (Othmar Spann-Brünn); Pädagogik (Rudolf
Lehmann-Posen); Die Bedeutung der Psychologie für Pädagogik, Medizin,
Jurisprudenz und Nationalökonomie (August Messer-Gießen). Ein Literatur-
verzeichnis und ein Namenverzeichnis sind dem Werke angefügt. Besonders hervor-
gehoben sei, daß bei aller wissenschaftlichen Strenge die Darstellung doch mit Recht
Anspruch auf Allgemeinverständlichkeit erheben darf. Der allgemeine Beifall, den
der erste Band fand, dürfte auch dem zweiten Jahrgang dieser Jahrbücher sicher sein.
Bereits zu Ostern, also außerordentlich und erfreulich früh, erschien im Ver-
lag von Friedrich Brandstetter in Leipzig der 66. Jahrgang des bekannten Päda-
gogischen Jahresberichts, herausgegeben von Paul Schlager. Von be-
sonderem Interesse für unsere Leser ist der erste Teil: Pädagogik, Poychäloeis und
Philosophie (73 Seiten. Preis 1,20 Mark. — Preis des aus acht Teilen bestehenden
Gesamtwerkes broschiert 7 Mark, gebunden 8 Mark). Die pädagogische Literatur
ist von Paul Barth-Leipzig, die Hochschulpädagogik von Hans Schmidkunz-Berlin-
Halensee, die Psychologie von Ernst Meumann (unter Mitwirkung von Th. Kehr-
Hamburg beim Literaturbericht) und die Philosophie von Max Frischeisen-Köhler-
Berlin bearbeitet worden. Die Literaturzusammenstellungen können auf Vollständig-
keit keinen Anspruch erheben, doch dürften keinerlei bedeutende Neuerscheinungen
außer acht geblieben sein. Gegen die Beurteilung läßt sich sicher hier und da
dieser und jener Einwand erheben. Sie verleugnen nicht das subjektive Gepräge
ihrer Autoren. Doch liegt auch gerade darin wieder ein größerer Reiz als in ganz
objektiv gehaltenen Referaten. Hoffentlich findet in späteren Jahresberichten auch
die Anormalen-Pädagogik und die Jugendpflege (welch letztere in Heft 7 bei der
staatsbürgerlichen Erziehung mit berücksichtigt wurde) die ihnen gebührende Be-
achtung durch bewährte Bearbeiter.
Ein Zentralblatt für Psychologie und psychologische Pädagogik
(mit Einschluß der Heilpädagogik), unter Mitwirkung namhafter Fachmänner
herausgegeben von dem Würzburger Privatdozenten Dr. W. Peters, beginnt bei
Curt Kabitzsch in Würzburg zu erscheinen (jährlich 10 Hefte = 1 Band von 30
bis 40 Druckbogen Stärke zum Preise von 8 Mark). Es »will seinen Lesern in
engem Rahmen einen Überblick über die gesamte psychologische und psychologisch-
pädagogische Arbeit der Gegenwart bieten,« es »will eine Sammelstelle sein, an der
man sich in knappen sachlichen Referaten rasch über Ziel und Ergebnisse aller neu
erschienenen Monographien und Gesamtdarstellungen, über das für den Psychologen
4. Zeitgeschichtliches. 697
und Pädagogen Wichtige aus den Nachbargebieten (Psychiatrie, Physiologie, Schul-
hygiene usw.) orientieren kann«. Die Referate sind zunächst nur informierend,
nicht kritisierend. Zur Erleichterung des Nachschlagens usw. sind sie fortlaufend
numeriert (das erste Heft enthält die Nummern 1—100, das zweite 101—265).
Seit April erscheint im Verlag von A. Markus & E. Weber in Bonn eine Zeit-
schrift für Sexualwissenschaft, internationales Zentralblatt für die Biologie,
Psychologie, Pathologie und Soziologie des Sexuallebens, offizielles Organ der Ärzt-
lichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Eugenik in Berlin, unter Mitarbeit
von Fachgelehrten herausgegeben von Professor Dr. A. Eulenburg-Berlin und
Dr. Iwan Bloch-Berlin. Monatlich erscheint ein Heft im Umfang von 48 Seiten.
Preis des Jahrgangs 16 Mark. Aus den ersten uns vorliegenden Heften ist be-
sonders ein Aufsatz von Prof. Dr. Erhard Riecke-Leipzig »Der Mediziner und
die sexuelle Frage« im dritten Heft (Juni 1914) für den Pädagogen beachtenswert,
in dem Stellung zur Frage der sexuellen Belehrung genommen wird. Riecke be-
tont in anerkennenswerter Deutlichkeit, daß es Aufgabe jeder sexuellen Erziehung
sein muß, den Bestand des Schamgefühls unangetastet zu lassen. Er schützt auch
nachdrücklich den Arzt gegen den oft erhobenen Vorwurf, als sei er nicht imstande,
die ethischen Momente in der sexuellen Jugenderziehung gehörig zu bewerten und
in Rücksicht zu ziehen.
Für den Pädagogen gleichfalls wichtig ist das Archiv für Frauenkunde
und Eugenik, herausgegeben von Dr. Max Hirsch-Berlin unter ständiger Mit-
arbeit einer Reihe hervorragender Gelehrter. Das erste Heft erschien am 25. März
1914. Drei bis vier Hefte bilden einen Band von etwa 30 Druckbogen zum Preise
von 16 Mark. Verlag von Curt Kabitzsch-Würzburg. Das Archiv will vor allem
zusammenfassender Arbeit dienen und ist daher schon freudig zu begrüßen.
Das dritte Heft der von Professor Klumker herausgegebenen Vierteljahrshefte
des Archivs deutscher Berufsvormünder, Fortschritte des Kinderschutzes
und der Jugendfürsorge, enthält einen Nachruf für Direktor Dr. Johannes
Petersen, der den ersten Aufsatz dieses Heftes über »Anstalts- und Familien-
erziehung« verfaßte. Auf die anderen Arbeiten kommen wir in unseren Literatur-
besprechungen noch zurück. (Die Hefte erscheinen im Verlag von Julius Springer-
Berlin zum Preis von 1,50 Mark für das Einzelheft.)
Grundsätze einer religionspsychologischen Biographienforschung
nebst einem umfangreichen Fragebogen und einer Biographienliste veröffentlicht das
»Archiv für Religionspsychologie«, das von Pfarrer Dr. W. Stählin in Egloffstein
(Bayern) seit diesem Jahre im Verlag von J. C. B. Mohr-Tübingen herausgegeben
wird. Sonderdrucke dieser Grundzüge sind zu beziehen durch Rektor J. Schlüter
in Goldberg (Mecklenburg). — Ebenda bittet der Herausgeber: 1. Bitte teilen Sie
mir mit, welche (höchstens 5) Kirchenlieder aus Ihrem Gesangbuch Ihre Lieblings-
lieder sind, desgleichen welche (höchstens 5) Lieder Sie besonders wenig lieben.
Geben Sie für jedes einzelne von Ihnen angeführte Lied ausführliche Be-
gründung Ihrer Neigung bezw. Abneigung, soweit Sie sich solcher Gründe be-
wußt sind. (Welche Rolle spielen etwa Form, einzelne Stellen, Gedankeninhalt.
Melodie, persönliche Erinnerungen und dergleichen?) — 2. Alter, Geschlecht. Stand,
Konfession? Welches Gesangbuch wurde in Betracht gezogen? (Bei der Auswahl
selbst soll das Gesangbuch nicht benutzt, sondern die Lieder aus dem Gedächtnis
aufgezählt werden.) Es genügt natürlich, die Anfangszeile des Liedes und die
Nummer, die es in dem betreffenden Gesangbuch hat, anzuführen. Die Zahl von
je 5 Liedern soll in keinem Falle überschritten werden. — 3. Sie werden gebeten,
möglichst viele Personen verschiedensten Standes und verschiedenster Geistesrichtung
zur Aufzeichnung und Mitteilung dieser doppelten Liederauswahl zu veranlassen
oder die Auswahl selbst nach mündlicher Angabe aufzuzeichnen; für jeden Fall ist
anzugeben, wie die Auswahl zustande gekommen ist. — Alle Mitteilungen sind an
die vorerwähnte Adresse des Herausgebers zu senden. Sie werden natürlich nur
zu wissenschaftlichen Zwecken benutzt.
698 C. Zeitschriftenschau.
C. Zeitschriftenschau.
Jugend- und Schulhygiene.
Strauch, August, Imitations- und Induktionskraukheiten der Kinder. Münchener
Med. Wochenschrift. 61, 11 (17. März 1914), S. 601—602.
»Die große Neigung der Kinder zum Nachahmen ist ein Ausdruck dafür, daß
die provokatorischen Reize durch das Zentralnervensystem ohne viel kortikale
Hemmungen gehen, so daß sofort Reaktionen hervorgerufen werden. [hr zwingender
Charakter ist darum besonders als Echomimie und Echolalie bei schwachsinnigen
Kindern, bei Dementia praecox und psychischem Infantilismus zu finden.« Epi-
demien, die besonders in Instituten auftreten, brauchen nicht immer hysterischer
Natur zu sein; sie können auch ganz gesunde Kinder befallen. Epidemien sind in
Amerika (der Verfasser lebt in Chicago) selten. Isolierten Fällen begegnet man
häufiger. Eine Reihe von solchen werden beschrieben. An den Störungen tragen
oft die Eltern Schuld (Unklugheit, Übersorge, unvernünftige Nachgiebigkeit, so daß
das Kind Vorteile aus dem Kranksein erstehen sieht).
Pape, Richard, Über augenärztliche Schuluntersuehungen im Fürstentum Lippe.
Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 27, 3 (März 1914), S. 241—252.
Bericht über den Versuch, alle augenkranken Kinder eines Landes zu er-
mitteln und zu behandeln. Als augenkrank wurden (von 25000 Volksschülern)
1296 Kinder ermittelt. In prophylaktischer Hinsicht kommt sehr viel auf die Mit-
arbeit der Lehrer an.
Klemm, Ernst, Unsere Schrift und Schreibung und die Gesundheit der Volks-
schüler. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 27, 4 (April 1914), S. 258—263.
Außer den Schäden, die aus den verschiedenen Schriftzeichen und ihrer An-
ordnung für die Gesundheit der Schüler erwachsen, entsteht nach des Verfassers
Ansicht ein gewaltiger Schaden durch die Herrschaft der jetzigen Orthographie. Er
plädiert für Vereinfachung unserer Rechtschreibung, die vorderhand nur alles Un-
nötige streichen soll (große Anfangsbuchstaben der Hauptwörter, unnötige Dehnungs-
zeichen und Doppelvokale und -konsonanten in einer Silbe, überflüssige Fremdbuch-
staben, das c in sch). Die Textprobe dieser »fereinfachten rechtshreibung« liest
sich unseres Erachtens viel schwerer als die gewöhnliche Orthographie. In einem
Nachwort (S. 263/264) meint der Chemnitzer Schularzt Thiele, daß durch diese
Reformen eine große Menge von Sitzarbeit unnötig werde; schon deshalb seien sie
zu begrüßen.
v. Ziegler, Der Augensport in den Schulen. Der Arzt als Erzieher. X, 1914, 1,
S. 8—9.
(Aus Intern. Archiv für Schulhygiene.) — Die Schule kann das Sehvermögen
wesentlich fördern durch besondere Übungen, die näher charakterisiert werden in
der Form, die sich dem Verfasser bewährte. Eine Störung des Stundenplans ist
dadurch nicht zu befürchten. Im Sommer braucht nur ein Nachmittag für Zeichen-
übungen im Gelände und für Turnen im Freien festgesetzt zu werden.
Kostnitz, Ernst, Die Waldschule. Zeitschrift für Kinderpflege. IX (Mai 1914),
Ss. 97—100.
Berichtet im wesentlichen über die Charlottenburger Waldschule auf Grund
älterer Publikationen. Andere Waldschulen werden nur kurz genannt.
C. Zeitschriftenschau. 699
Spitzy, Hans, Fortschritte und Lücken in der körperlichen Erziehung. Zeitschrift
für Kinderschutz und Jugendfürsorge. VI, 1/2 (Februar 1914), S. 29—32.
Die Schule muß in methodisch einwandfreier Weise die körperliche Ausbildung
aller Schüler übernehmen. Besonderer Wert ist auf das Vorhandensein eines Spiel-
platzes zu legen. Die Lehrer müssen dafür gründlich ausgebildet sein.
Crämer, Hygiene und Schule. Der Arzt als Erzieher. X, 1914, 1, 8. 1—7.
(Aus Intern. Archiv für Schulhygiene) — Die Arbeit behandelt nur das
Kapitel der Schülerhygiene. Besonders hingewiesen wird auf das Mißverhältnis
zwischen den Anforderungen der Schule an den Geist und der Pflege der körper-
lichen Erziehung, auf die oft übermäßig langen Hausarbeitszeiten (der Verfasser be-
dauert, daß das Kinderschutzgesetz, das Kindern über zwölf Jahren die Arbeit
zwischen 8 Uhr abends und 8 Uhr morgens verbietet, nicht auch auf Gymnasien
Anwendung findet), auf den dringend notwendigen hygienischen Unterricht, auf die
erforderliche Schonung in der Pubertätsperiode, auf die wünschenswerte Selbstver-
waltung der älteren Schüler usw. Auch die Lehramtskandidaten müssen in der
Schulhygiene ausgebildet werden. Schule, Ärzte und Elternhaus müssen zusammen
am Ausbau der Schülerhygiene mitwirken.
Juba, Adolf, Der staatliche Beirat für körperliche Erziehung in Ungarn. Zeit-
schrift für Schulgesundheitspflege. 27, 1 (Januar 1914), S. 10—15.
Er wurde 1913 mit zwei Abteilungen (für körperliche Erziehung in der Schule
und für Körperpflege außerhalb der Schule) begründet. Vertreten sind in ihm zwei
Schulärzte und vier Ärzte, aber kein Pädagoge. Die Geldmittel werden durch eine
Erhöhung der Totalisatorsteter aufgebracht.
Rasser, E. O., Jugendwandern und Volksschule. Körper-Kultur. IX, 3 (März
1914), 8. 51—55.
Der Aufsatz will zeigen, wie das Wandern die Hygiene des geistigen Lebens
fördert. Die Forderung, von Beginn des Schulbesuchs an täglich kleine (ein- bis
zweistündige) Wanderungen zu machen, wird sich aber kaum durchführen lassen.
Auch der obligatorischen Wanderwoche (oder sogar mehreren) wird viel entgegen-
zustellen sein. Sonst aber enthält die Arbeit manche Anregung, wenn sie auch im
Titel mit dem Wort »Volksschule« zu viel verspricht.
v. Drigalski, Wilhelm, Das Entwicklungsalter und seine Gefahren. Zeitschrift
für Pädagogische Psychologie. 15, 1 (Januar 1914), S. 17—25.
Einige Erörterungen der Gefahren, die in der Pubertätszeit dem ganzen
Nervensystem der Jugendlichen drohen. Man vermißt vielfach eine straffe Ge-
schlossenheit des Vorgetragenen, Der Verfasser betont u. a., daß es scheine, daß
die Gefahr der Erschöpfung oder Ermüdung bei körperlich schlecht ausgebildeten
Individuen auch in der Minderung der geistigen Leistungsfähigkeit ihren Ausdruck
finde. Anzustreben ist eine strenge, logische Schulung des menschlichen Hirns, ein
Training des gesamten Zentralnervensystems. Wie das geschehen kann, wird
wenigstens angedeutet.
Strauß, H., Die Pubertät ein Zeitpunkt besonderer Kräftigung für die Schuljugend.
Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 27, 3 (März 1914), S. 177—184.
Während der Pubertätszeit sind die Kinder zu schonen. Die Schule hat leider
bisher noch die hygienischen Forderungen in dieser Hinsicht zu wenig berücksichtigt.
Durch organisatorische Arbeit muß hier noch manches gebessert werden.
Doell, Matthäus, Sexualpädagogik und Elternhaus. Der Arzt als Erzieher.
9, 1913, 7, S. 85—88; 8, S. 99—103; 9, S. 115—119.
700 C. Zeitschriftenschau.
Die Sexualwissenschaft wendet bereits dem frühesten Kindesalter volle Auf-
merksamkeit zu, und das mit Recht. Über die Sexualpädagogik im Elternhause sind
aber die wenigsten Eltern orientiert. Im allgemeinen ist es Aufgabe der sexuellen
Erziehung, den jugendlichen Organismus zu normaler physischer und psychischer
Entwicklung zu entwickeln (Verhütung der Onanie, vorzeitigen Geschlechtsverkehrs).
Aufklärung werde dem Kinde in natürlicher Weise seinem Fassungsvermögen ent-
sprechend zuteil. Vor allem kommt es auf Willenserziehung an.
Pfenninger, W., Schule und sexuelle Aufklärung. Schweizerische Blätter für
Schulgesundheitspflege. XII, 2 (Februar 1914), S. 17—24.
Die allgemeine sexuelle Aufklärung sollte womöglich vor der Pubertät statt-
finden. Da die Eltern in dieser Frage meistens versagen, müssen besonders be-
fähigte Ärzte und Pädagogen diese schwierige Aufgabe übernehmen. Sie ist rein
individuell durchzuführen. Aufklärung über die Geschlechtskrankheiten soll beim
Übertritt in das Berufsleben in besonderen Kursen durch den Arzt vermittelt
werden. Zur Teilnahme an der sexuellen Belehrung ist schriftliche Einwilligungs-
erklärung der Eltern erforderlich.
Frank, L., Über sexuelle Aufklärung vom nervenärztlichen Standpunkt aus. Der
Arzt als Erzieher. X, 1914, 1, S. 9—12.
Man muß die Jugend so erziehen, daß sie sich allem Sexuellen von früh auf
richtig gegenüberzustellen vermag, daß sie sich von allem Häßlichen und Niedrigen
von selbst abwendet. Sie muß über die sexuellen Vorgänge auf naturwissenschaft-
licher Grundlage belehrt werden. Diese Belehrung soll einmal ganz individuell
sein; dann aber soll die Schule auch nicht vermeiden, im naturgeschichtlichen Unter-
richt über die Vorgänge bei Zeugung und Fortpflanzung aufzuklären in einer dem
kindlichen Fassungsvermögen angepaßten Weise. Dringend notwendig erscheinen
dem Verfasser auch Erörterungen der sexuellen Probleme an der Hochschule.
Wichtig ist es, die Trinksitten überall zu bekämpfen, da sie vor allem ein gegen-
seitiges richtiges Kennenlernen der Geschlechter verhindern.
Meltzer, Der Mißbrauch geistiger Getränke im Lichte der Wissenschaft. Die
Hilfsschule. VII, 3 (März 1914), S. 61—71.
Die Arbeit gibt in knapper allgemein verständlicher Form eine gute Übersicht
über die Schädigungen des Körpers infolge Alkoholmißbrauchs, bezw. -gebrauchs.
Preßler-Flohr, Der Mißbrauch des Alkohols und seine verderblichen Folgen.
Deutsche Elternzeitschrift. V, 2 (1. Nov. 1913), S. 25—27; 3 (1. Dez.), S. 46—49.
Beachtenswert als Beispiel für die Aufklärung der Oberklassen eines Mädchen-
lyzeums über die Alkoholschäden, wenn die Vortragende auch konventionelle Zu-
geständnisse nicht schlankweg ablehnt (Mäßigkeitsstandpunkt).
Trentzsch, O., Das Experiment im hygienischen Unterricht. Die Pädagogische
Praxis. II, 2 (November 1913), S. 88—93; 3 (Dezember), S. 140—148.
Eine Zusammenstellung von Experimenten für den hygienischen Unterricht,
die zur Belebung unentbehrlich sind.
Kemsies, F., Diapositiv und Film im biologisch-hygienischen Unterricht. Die
Pädagogische Praxis. II, 6 (März 1914), S. 289—299.
Der Verfasser tritt besonders für die von ihm schon öfter warm empfohlenen
hygienischen Films« ein, für solche, die die Schulzahnpflege, die schulärztliche
Untersuchung, die Tuberkulosebekämpfung usw. propagieren.
Langerhans, Hygienische Vorträge im Rahmen der schulärztlichen Tatigkeit.
Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. XXVI, 12 (Dezember 1913), S. 865—868.
C. Zeitschriftenschau. 701
Für die Leipziger Schulärzte sind belehrende Vorträge hygienischen Inhalts
vorgeschrieben. Die Vorträge richten sich an die Eltern der Kinder, aber auch an
Lehrer. Themen dafür werden vorgeschlagen. Für die Lehrer empfiehlt sich be-
sonders die Besprechung pathologischer Vorgänge und Erscheinungen beim Kinde.
Ponickau, Richard, Lehrerschaft und alkoholgegnerischer Unterricht. Zeitschrift
für Schulgesundheitspflege. 27, 1 (Januar 1914), S. 28—35.
Die Lehrerschaft steht einem solchen Unterricht noch ziemlich ablehnend
gegenüber. Man darf aber von ihr mindestens Wahrung einer wohlwollenden Neu-
tralität verlangen. Der künftige Volksschullehrer hat eher die Möglichkeit, die
Alkoholfrage kennen zu lernen. Für den akademisch gebildeten Lehrer ist gleich-
falls hygienische Unterweisung, in der die Alkoholfrage eingehend behandelt wird,
anzustreben.
Weinberg, Marg., Der Antialkoholismus im französischen Unterrichtswesen.
Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 27, 2 (Februar 1914), S. 143—146.
Referiert über eine französische Arbeit über die Maßnahmen der Schule gegen
den Alkoholismus, vor allem über die unterrichtlichen Anordnungen.
Adler, Vinzenz, Eine vergessene Aufgabe der Schulärzte. Österreichischer Schul-
bote. 63, 8 (September 1913), S. 297—298.
Es fehlt dem Lehrer bisher an einer Schulung im richtigen und rechten Ge-
brauch seiner Stimmittel. Der Schularzt müßte mit dem Unterricht in Physiologie
der Stimme und Sprache in den Lehrerbildungsanstalten betraut werden. Der Ver-
fasser hält das für durchführbar, wenn der Schularzt eines Teiles der »unnötigen
Schreibereien« entlastet werde.
Trösch, Ernst, Bernische Lehrerwohnungen. Zeitschrift für Jugenderziehung und
Jugendfürsorge. IV, 10 (1. Februar 1914), S. 285—291.
Die Lehrerwohnungen im Kanton Bern sprechen zum Teil allen Anforderungen
der Hygiene Hohn.
Ohlert, Annie, Hamburgische Milchküchen. Zeitschrift für Kinderpflege. IX,
Februar 1914, S. 33—35.
Leider wurde die Lieferung von Milch an die Schulen wieder eingestellt, teils
aus finanziellen Gründen, teils infolge der Schwierigkeit, den Bedarf voraus zu be-
stimmen.
Martell, Paul, Städtische Schulküchen in Italien. Zeitschrift für Schulgesund-
heitspflege. 27, 2 (Februar 1914), S. 134—138.
Die Zahl der Schulkinder, die in Italien kein Mittagessen bekommen, ist groß.
So gingen 1900 von 2503 Kindern der Elementarschule nur 25 zum warmen Mittag-
essen nach Hause. 251 Kinder blieben mittags überhaupt ohne Nahrung. Seit
1898 sind öffentliche Schulküchen eingerichtet. 1910 bestanden sie in 15 Gemeinden.
Am besten sind sie in Mailand eingerichtet. In den drei unteren Klassen nimmt
nicht ganz ein Drittel der Kinder an der Schulspeisung teil, in den oberen Klassen
etwas mehr als ein Fünftel. Wohlhabende Kinder können gegen Zahlung von
15 Centesimi für die Portion an dem Essen teilnehmen. Besonders die kleineren
Gemeinden wenden sich immer mehr der öffentlichen Schulspeisung zu. Auffallend
ist der große Verbrauch an Schokolade für die Kinder.
Weinberg, Marg., Schulhygienische Bestrebungen in Amerika. Zeitschrift für
Schulgesundheitspflege. 27, 1 (Januar 1914), S. 36—38.
Referat über einen Aufsatz Termans in der »North American Review« (Sep-
tember 1913), in dem ein frühes Einsetzen schulhygienischer Belehrung verlangt
702 D. Literatur.
wird. — Wie man die Waldschulen als »Erfindungen der experimentellen Pädagogik«
bezeichnen kann, wird der Verfasserin wohl selbst nicht klar geworden sein.
Caporali, Olga, und Fantini, Adolf, Medizin und Pädagogik. Eos. X, 2 (April
1914), S. 81—88.
Der Aufsatz läßt erkennen, wie man in Italien bemüht ist, die Ärzte für die
Pädagogik, insbesondere für den schulärztlichen Dienst, zu interessieren.
Lorentz, Friedrich, XI. internationale Tuberkulose-Konferenz. Zeitschrift für
Schulgesundheitspflege. 27. 1 (Januar 1914), S. 38—44.
Stephani, IV. internationaler Kongreß für Schulhygiene in Buffalo, NY. 1913.
Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 27, 1 (Januar 1914), S. 1—10; 2 (Februar),
S. 120—134; 3 (März), S. 200—221; 4 (April), S. 281—295.
Wohl der ausführlichste deutsche Bericht über diesen Kongreß. Vergl. diese
Zeitschrift, XIX, 4, S. 226—231; 5/6, S. 370—375.
anana
D. Literatur.
Bericht über die XIV. Konferenz des Vereins für Erziehung, Unter-
richt und Pflege Geistesschwacher vom 8.—11. September 1912 in Biele-
feld und Bethel. Erstattet von dem Schriftführer Direktor Schwenk-Idstein,
Halle a. S., Carl Marhold, 1913. 161 Seiten. 2,50 M.
Die Konferenz war nach der am Anfang des Berichtes stehenden Präsenzliste
besucht von 61 Mitgliedern und 66 Gästen. Die Leitung der Verhandlungen lag in
den Händen des Vorsitzenden, Erziehungsinspektors Piper in Dalldorf. In der Vor-
versammlung wurde Bericht erstattet über die beiden letzten Jahre (1910—1912).
Bei der am nächsten Tage stattfindenden Hauptversammlung hatte den ersten
Vortrag übernommen Dr. Heller-Wien über »Die erziehlichen Aufgaben des Heil-
pädagogen«e. Einleitend wurde betont der Aufschwung der modernen Pädagogik,
wobei sich leider auch ein »gewisses Streben nach pädagogischer Sensatione bemerk-
bar mache. Die Heilpädagogik hat sich jedoch von dieser »pädagogischen Exzen-
trizität« ferngehalten. Des weiteren wird dann eingegangen auf Anstalts- und Hilfs-
schulenverhältnis. Es müsse Einspruch erhoben werden, daß »gegenwärtig vielfach
das Hilfsschulprinzip über das Anstaltsprinzip gestellt wird. ... Wie den Anstalten
der Zeit nach die Priorität gebührt als den älteren, in Jahrzehnten bewährten In-
stitutionen, so auch ihrer Stellung der Schwachsinnigenfürsorge gegenüber. Die
entsprechend ausgestaltete Anstalt ist die unersetzliche Vorbedingung für eine voll-
kommen befriedigende heilpädagogische Wirksamkeit. Ihr wird sich die Hilfsschule
nur nähern, sie aber nie erreichen können.<e Die Versammlung konnte den Aus-
führungen nicht beipflichten. Bei Abwesenheit des Referenten wurde von einer
Debatte abgesehen, jedoch folgende Resolution angenommen: »Der Verein kann sich
mit den Ausführungen des Herrn Dr. Heller nicht durchweg einverstanden erklären
und verzichtet auf eine Debatte.« Darnach dürfte es auch hier nicht notwendig
erscheinen, noch weiteres darüber zu sagen.
Dann folgte ein Vortrag von Oberarzt Dr. Kleefisch-Essen-Huttrop über
»Mittel und Wege der Zustandserforschung schwachsinniger Kinder.«e Es wird ge-
sagt, daß die Feststellung und Bezeichnung der körperlichen und geistigen Störungen
bei schwachsinnigen Kindern viel zu ungenau formuliert sind, um ein richtiges Bild
des Zustandes zu bieten und eine entsprechende Behandlung zu ermöglichen. Die
bisher verwendete Klassifikation: Idiotie, Imbezillitätt und Debilität genügt heute
durchaus nicht mehr, weder für den Arzt noch für den Lehrer. Unbedingt not-
wendig erscheint es darum, daß eine Feststellung der aus dem Sammelbegriff Idiotie
abgegrenzten Krankheitsbilder nach pädiatrisch - psychiatrischen Gesichtspunkten er-
folgt. Dadurch kann jeder einzelne Fall klar und sicher analysiert werden, auch wird
D. Literatur. 703:
eine vorzügliche Grundlage für die Individualbehandlung geschaffen. Eine Schilde-
rung von Dr. Kleefisch selbst ausgearbeiteter Untersuchungsmethoden wird gegeben.
Sie erregen allgemeines Interesse. Zur Erreichung einer genauen Zustandserforschung.
ist es notwendig, folgende Forderungen zu berücksichtigen: a) Die Kinder sind bei
der Aufnahme zunächst einer besonderen Aufnahmestation zur Beobachtung zu
überweisen. b) Eine innigere Arbeitsgemeinschaft zwischen Arzt und Lehrerschaft.
ist zu ermöglichen durch periodische Aussprache (Konferenz), Vorführung von Neu-
lingen und besonderen Fällen und endlich Besprechung psychiatrisch-pädagogischer
Themen. c) Die Vorbildung der in Betracht kommenden Arzte und Erzieher ist so
zu gestalten, daß sie sich bei einem harmonischen Zusammenwirken besser als bisher
verstehen können. Wer wollte solchen Darlegungen nicht ungeteilten Beifall zollen ?
Und so war es auch in der Versammlung. Die Ausführungen zeugen von einer
reichen Erfahrung, von einer eingehenden Sach- und Fachkenntnis. Sie bieten allen
an Schwachsinnigen-Anstalten und -Schulen Beschäftigten vielseitige Anregung.
Das nächste Thema, »Der erste Rechenunterricht bei Schwachsinnigen«, wird
von Direktor Kölle-Möhringen behandelt. Er teilt einige Erfahrungen mit, wie er
die Elemente der Zahlbegriffe seinen Zöglingen beibringt. Er hält es für zweck-
mäßig, im ersten Zahlenunterricht nur die Zahleinheiten 1, 2, 3 in einfacher Reihe
durch sinnlich wahrnehmbare Objekte vorzuführen. Die Verwendung von Zahlen-
bildern hält er für geradezu schädlich. Zahlbegriffe dürfen nicht in Formen ge-
zwängt werden, dadurch wird die Aufmerksamkeit mebr der Form, als dem Begriffe
zugewandt. Und die Übung leidet not. Ebenso verhält sich’s auch mit der Ver-
wendung von Farben. Die Hauptsache ist, daß das Kind die Zahlbegriffe bis drei
sicher inne hat, dann wird es auch rechnen lernen. Die Ausführungen bieten
nichts besonderes Neues.
Bei der zweiten Hauptversammlung sprach als erster Redner Oberarzt Dr.
Blümcke über: »Krämpfe im Kindesalter, ihre Bedeutung und Beziehung zum
jugendlichen Schwachsinn.«e In den ersten Lebensjahren sind Krämpfe nicht
leicht zu nehmen, sind sie doch immer ein Zeichen von Reizen im Gehirn. Häufig
sind Krämpfe Begleiterscheinungen von Gehirnerkrankungen, veranlaßt durch Ver-
erbung (Alkoholismus, Syphilis) oder durch Ansteckungsstoffe (Masern, Scharlach usw.).
Bezüglich der Zahnkrämpfe ist man noch geteilter Ansicht, Die verschiedenen
Krämpfe können auch Schwachsinnsursachen sein, doch führen gewöhnliche Krämpfe
nicht so häufig dazu als vielmehr die epileptischen Krämpfe. In den ersten Lebens-
jahren auftretend, bleiben sie dann manchmal aus, um mit Schuleintritt durch
Schreck, Angst, Züchtigung usw. oder bei der Pubertät neu in Erscheinung zu
treten. Die Ausführungen wirken überaus anregend, und es ist darum auch zu
verstehen, wenn dem Redner am Schluß reicher Beifall gezollt wurde.
ber »Arbeitskolonien für Schwachsinnige« referierte Direktor Schwenk-
Idstein. Es wird die Bedeutung und Wichtigkeit derselben, insbesondere auch für
entlassene Hilfsschüler hervorgehoben, eingehend der landwirtschaftlichen Beschäfti-
gung das Wort geredet; natürlich sind Anleitungen für das Handwerk nicht zu ver-
gessen. Der Redner sprach aus der Praxis heraus für die Praxis. Möchten seine
Ausführungen warmen Widerhall finden und dazu beitragen, daß das so wichtige
Thema weitere Beachtung und Aufmerksamkeit finde.
Dann folgten noch zwei Vorträge über »Die verschiedenen Arbeitsgebiete der
Anstalten Bethel«a von Pastor v. Bodelschwingh und »Die Entwicklung der
Schwachsinnigenfürsorge Deutschlands mit Berücksichtigung der übrigen Länder«,
von Anstaltslehrer Kirmsse-Idstein, beides Ausführungen, welche allgemein mit
recht großem Interesse gelesen werden dürften.
Der Bericht schließt mit einem Nachtrag des Vortrages von Anstaltslehrer
Oskar Israel in Chemnitz-Altendorf über: »Beschäftigung und Spiel in der untersten
Vorschulklasse.«e Das Thema war seinerzeit für die Konferenz vorgesehen, mußte-
aber ausfallen. Von der Bedeutung des Spieles im allgemeinen und von seiner be-
sonderen Bedeutung für die schwachsinnigen Kinder ausgehend, wird gezeigt, wie
sich Spiel und Beschäftigung in der Vorschulklasse praktisch handhaben lassen
durch Gelegenheitsunterricht, Atemübungen, Artikulations- und Sprechübungen,
körperliche Übungen, Denk- und Anschauungsübungen, durch handliche Beschäfti-
gung usw. Den Ausführungen kann man nur voll und ganz beipflichten, müssen:
704 D. Literatur.
doch Spiel und Beschäftigung die Grundpfeiler bilden, wollen wir bei den Schwachen
-der Schwächsten Erziehungs- und Unterrichtsversuche vornehmen.
Wie die früheren Berichte, so legt auch dieser Bericht des Vereines wieder
Zeugnis dafür ab, wie viele nutzbringende Anregungen von solchen Konferenzen
ausgehen.
Worms. Georg Büttner.
Franke, Th., Die staats- und volkserzieherische Bedeutung der
deutschen Kriegsgeschichte. Ein Beitrag zum Ausbau der deutschen
Nationalpädagogik. Leipzig, K. F. Koehler, 1913. 77 Seiten.
Was das Buch bietet, geht aus dem folgenden Inhaltsverzeichnis deutlich
hervor: die Streitfrage; die Friedensbewegung; die Anklagen gegen den Krieg; der
Krieg als Kulturfaktor; das Recht zum Kriege; die Pflicht zum Kriege; Unerläßlich-
keit einer militärisch-nationalen Erziehung der Jugend und des Volkes; Mittel und
Wege, das vaterländische Bewußtsein und den mannhaften, soldatischen Geist in Jugend
und Volk zu pflegen. — Mit großem Interesse habe ich verfolgt, in welcher Weise
der Verfasser seine Aufgabe zu lösen versucht. Ich bin ihm dankbar, auf Grund
seines umfangreichen Materials über die »Streitfrage«: Kulturgeschichte oder Kriegs-
geschichte im Sinne des Verfassers, meine Auffassung vertieft zu haben. Hat es
nicht immer Krieg gegeben? Wird er einmal aus der Welt geschafft werden?
Ist nicht mancher Krieg die Ursache einer bedeutenden Periode kulturgeschichtlicher
Entwicklung gewesen? Darum ist die Ansicht des Verfassers: »Bitter not ist uns
eine echt deutsche, heeresfreudige, waffentüchtige Erziehung, nicht angekränkelt von
-des Friedensgedankens bleicher Blässe.« Daß sich der Verfasser nicht ins Extreme
versteigt, geht aus vielen Stellen hervor; daß er pädagogisch praktische Maßnahmen
anführt, ist beachtenswert.
Meuselwitz, S.-A. Hilfsschullehrer Oskar Zeißler.
'Stimpfl, Joseph, Der Wert der Kinderpsychologie für den Lehrer.
Gotha, F. Thienemann. 3. Aufl. 31 Seiten. 0,80 M.
Der bekannte Verfasser führt die Anschauungen namhafter Psychologen
-(Münsterberg, James u. a.) an, die den Wert bestreiten, und stellt ihnen die ent-
gegengesetzte Ansicht von Hall gegenüber, Er zeigt, welche Schwierigkeiten es
machte, »jenen Teil der Kinderforschung, welcher die krankhaften Erscheinungen
-des Seelenlebens behandelt, in die Pädagogik einzuführen«. Stimpfl bietet eine
kurze Einführung in das kinderpsychologische Studium; die Literaturangaben sind
zu diesem Zwecke umfassend. Die wichtigsten Werke werden angeführt. Persön-
lich erfreut mich der Abdruck einiger »Fragebogen«, die zum psychologischen Be-
obachten gut und gründlich anleiten. Dadurch dürfte der Lehrerpsycholog zu ähn-
lichen Untersuchungen angeregt werden. Wenn diese systematisch vorgenommen,
.gesammelt und verarbeitet würden,!) dann trüge auch der psychologisierende Lehrer
nach Kräften an dem Ausbau der Psychologie bei. Vielleicht müßte dann manches
Ergebnis der experimentellen Pädagogik korrigiert werden, wenn eine Verwertung
in der pädagogischen Praxis stattfinden sollte. In diesem Falle würde wohl der
Praktiker die Entscheidung fällen müssen und damit den »Wert der Kinderpsycho-
logie für den Lehrer« beweisen. Darum empfehle ich dies Büchlein; es erfüllt
seinen Zweck.
Meuselwitz, S.-A. Hilfsschullehrer Oskar Zeißler.
1) Vergl. Lehrer-Zeitung für Thüringen und Mitteldeutschland XXIV, 48/49.
Die Gründung »Pädagogischer Arbeitsgemeinschaften« von Oskar Zeißler.
Verantwortliche Schriftleitung für Abhandlungen und Mitteilungen: Dir. J. Trüper,
Sophienhöhe b. Jena; für Zeitgeschichtliches, Zeitschriftenschau und Literatur:
Dr. Karl Wilker, Jena, Weißenburgstraße 27.
Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
Otto Flügel }.
Am 9. Juli 1914 verschied zu Dölau bei Halle der als philo-
sophischer Schriftsteller wohlbekannte Pastor a. D., Dr. phil. hon.
caus. O. Flügel, im 73. Lebensjahre. Nach Prof. Cornelius’
Heimgange war Flügel lange Zeit der hervorragendste Herbartianer,
der erfolgreich die Lehren seines Meisters vertrat und unermüd-
lich in Wort und Schrift verteidigte — jene Lehren, die auch
der Kinder- und Völkerpsychologie trotz oft geäußerter Gegen-
ansicht ein wissenschaftliches Rückgrat gegeben haben. Überaus
zahlreich sind seine Veröffentlichungen, von denen manche um
ihrer volkstümlichen Darstellungsweise und Klarheit willen in
mehreren Auflagen erschienen sind und Flügels Namen so bald
nicht in Vergessenheit geraten lassen. Er war so recht ein
Fackelträger der Wissenschaft, der die Pflicht des Weitergebens
der Wissenschaftsfackel gern und ganz selbstlos erfüllte. Wie
oft wandten sich Doktoranden und seminarisch gebildete junge
Lehrer an den Verblichenen, um mit ihm ihre wissenschaftlichen
Arbeiten zu besprechen. Immer hatte der Vielbelesene Zeit und
das Geschick, Wege zur Lösung wissenschaftlicher Fragen zu
eröffnen. Es war zudem eine Freude, den mit der Gabe der
wissenschaftlichen Analyse reich bedachten menschenfreundlichen
und gastfreien Landpfarrer unter jungen strebsamen Lehrern
sitzen und wandeln zu sehen; sie hingen an seinen Augen und
an seinem beredten Munde, wenn er ihnen eine idealistische Welt-
anschauung sich aufbauen half. Man hat oft bedauert, daß Flügel
nicht ein akademischer Lehrstuhl übertragen worden ist. In der
Tat, er wäre ein Schule bildender, trefflicher Hochschullehrer ge-
worden. — In öffentlichen Versammlungen, die Erziehungsfragen
in das Licht der Wissenschaft stellen wollten, war er gern an-
wesend. Nur ungern beteiligte er sich an hitzigen Erörterungen.
Wenn er aber dabei sein mußte, dann wußte er aussöhnende
Wendungen zu finden, die dem wissenschaftlichen Gegner ge-
recht werden wollten. Mit welcher Sanftmut und Geduld hat er
z. B. das alte Feldgeschrei: »Hie Herbart — hie Wundt, hie
Intellektualismus — hie Voluntarismus« als unberechtigt zurück-
gewiesen! Wenn ihm aber die Geduld auszugehen schien,
dann stand ihm zuweilen noch köstlicher Humor zur Ver-
fügung, der besonders in den zwanglosen Nachsitzungen recht
willkommen war.
Eine religiös-sittliche Persönlichkeit, ein wahrhaft frommer
Mann und Freund aller, die »strebend sich bemühten«, ist mit
dem Heimgegangenen abberufen worden. Möge sein Vorbild
noch lange Schule bildend wirken; er war »ein Lehrer«, wie
selten einer. Dr. M.
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A. Abhandlungen.
1. Ein autobiographischer Brief und eine Schüler-
charakteristik von Dr. Ferdinand Kern.
Zu seinem 100. Geburtstage zum Abdruck gebracht
von
M. Kirmsse, Anstaltslehrer in Idstein i. Taunus.
Nicht wenige von den Bahnbrechern der Schwachsinnigenbildung
haben einen harten Kampf um ihre Existenz kämpfen müssen. Die
Biographien von Guggenmoos, Weise, Guggenbühl, Probst,
Bost, Katenkamp u. a.!) sind Zeugnis dafür, wie diese Männer
alle Kräfte anspannen mußten, um sowohl ihre Person, als auch ihre
Ideen auf einem, bis dahin kaum beachteten, Gebiete der KEachung
durchzusetzen.
Zu ihnen ist auch Karl Ferdinand Kern zu zählen, dessen
100. Geburtstag am 7. Juni 1914 Gelegenheit gibt, sich mit seinem
Leben und Wirken etwas näher zu befassen. Dieser seltene Päda-
goge, geboren in Eisenach, wo er auch zuerst als Lehrer der Ab-
normen tätig war, später in Leipzig, wo er als hervorragender Heil-
pädagoge und Arzt die Aufmerksamkeit aller Welt auf sich lenkte,
ist auf unserem engeren Fachgebiete eine einzigartige Erscheinung.
Trotzdem er die größten Mühsale zu bestehen hatte, gelang es ihm
dennoch, unter dem Beistande einer vorzüglichen Lebensgefährtin,
nicht nur alle Schwierigkeiten zu besiegen, sondern, schon in reiferem
1) Vergl. hierzu namentlich: Dannemann, Schober, Schulze, Enzyklo-
pädisches Handbuch der Heilpädagogik. Halle, Carl Marhold, 1911. — Die 10 Jahr-
gänge der Eos, Vierteljahrsschrift für die Erkenntnis und Behandlung jugendlicher
Abnormer. Wien 1905—1914.
Kirmsse: Ein autobiographischer Brief und eine Schülercharakteristik. 707
Alter stehend, noch den doctor medicinae zu erwerben, und daneben
eine private Musteranstalt für schwachsinnige Kinder zu errichten,
die gegenwärtig noch besteht.
Bezüglich einer eingehenden Würdigung Kerns sei auf eine
Arbeit verwiesen, die sich im vierten Hefte der Eos 1914 befindet.
Hier sollen nur zwei Belege dazu geboten werden, von denen der
eine die Jugendzeit des Gefeierten schildert, während der andere das
Individualbild eines seiner Eisenacher Zöglinge wiedergibt.
Der Brief ist gerichtet an Magister K. G. Reich!) einen
Schwiegersohn S. Heinickes, der am 14. April 1778 in Leipzig die
erste deutsche Bildungsanstalt für taubstumme Kinder eröffnet hatte.
Reich leitete dieses Institut von 1815—1852. Er hatte es verstanden,
Kern mit einer wahren Begeisterung für die Abnormenbildung zu
erfüllen, ihn dann aber auch, als der junge Pädagoge von seiner
Vaterstadt im Stiche gelassen wurde, an der unter seiner Direktion
stehenden Anstalt als Lehrer beschäftigt. Als solcher wirkte Kern
von 1836 bis 1839 in Leipzig. Aus dieser Zeit stammt das Schreiben, ?)
das als Charakteristikum für den Absender, wie auch für den Emp-
fänger mancherlei interessante Momente bietet, und darum für das
Verständnis beider Persönlichkeiten nicht unwichtig sein dürfte.
Es lautet: 3)
Hochgeehrtester Herr Direktor,
Sie werden sich wundern, oder es wenigstens für den ersten Augenblick
eigen finden, von mir einen Brief zu erhalten, allein haben Sie die Güte, diese
Zeilen zu lesen und Sie werden finden, daß ich mich nicht aus Mangel an Ver-
trauen schriftlich an Sie wende, sondern bloß um mein Inneres nicht ganz zu
verletzen.
Wie mein ganzes Auftreten in Leipzig gezeigt hat, bin ich der Sohn
armer, aber braver Leute, die durch ihrer Hände Arbeit für viele Kinder zu
sorgen hatten und dabei noch fortwährend von Krankheit, besonders in den
Kriegsjahren heimgesucht wurden; damals standen meine Eltern in dem Rufe
der Wohlhabenheit, weshaib sie auch, ohne Schonung, selbst als mein Vater an
den Folgen des Nervenfiebers krank lag ein ganzes Jahr, meine Mutter wartete
ihn und fremde Leute waren Herr im Haus und diese Jahre, denn nach der
Genesung meines Vaters legte sich meine Mutter, legten den Keim zum Ver-
derben unserer Familie. ein Unglück traf das andere, bis endlich einige Jahre
nach dem Kriege das Haus meiner Eltern verkauft wurde. Jetzt übernahmen
1) 1782—1852. Reich hatte Theologie studiert.
2?) Das Original befindet sich in der, dem Archive der Taubstummenanstalt in
Leipzig angehörenden, »Eichler-Bibliothek« unter Nr. 94, Stück IV, und wurde
uns durch das freundliche Entgegenkommen des Herrn Dr. P. Schumann in
Leipzig zugänglich gemacht, wofür ihm auch an dieser Stelle bestens gedankt sei.
3) Die Wiedergabe erfolgt ın jeder Hinsicht genau nach dem Originalbriefe.
45*
208 A. Abhandlungen.
sie ein kleineres, nämlich das meiner groß Eltern; das Glück schien sie ver-
lassen zu haben, es mehrten sich die Schulden und die Zahl der Kinder. Alles
ertrugen meine Eltern mit Geduld, oft hörte ich die Äußerung von meinem
Vater, wenn wir kleinern Kinder nach Brod verlangten: seyd ruhig, es kann
nicht immer so bleiben, Gott hilft gewiß. Meine zwei ältern Geschwister halfen
auch treulich, namentlich mein älterer Bruder, der von seinem 12ten Jahre an
die gefertigte Waare’) 16—20 Stunden weit trug, er hat meinen Eltern bei-
gestanden bis in sein 24stes Jahr. Auch ich suchte das Schicksal meiner Eltern
zu erleichtern, aber wie sollte ich dieses. Zu erst ging mein Streben dahin,
meinen guten Eltern nicht beschwerlich zu werden, ich hatte daher kaum mein
14. Jahr zurückgelegt, als ich sonderbarerweise.einige Kinder in den Unterricht
bekam. Hier begann nun mein Lehrer Leben, ich wurde in Stand gesetzt, für
meine Bedürfnisse zu sorgen, zwar nur durch eine Masse Stunde, so daß ich
das Wenige, was in der Schule von mir verlangt wurde, des Nacht arbeitete.
Nach und nach bekam ich bessere Stunden und ich konnte nun die Lage meiner
Geschwister in etwas erleichtern. Hatte ich einige Kinder soweit vorbereitet,
daß sie eine Anstalt besuchen konnten, so verlor ich sie und so kam es, das
meine Ausgaben, doch die Einnahmen in etwas überstiegen, was sich aber in
der Folge wieder ausglich; ich brauchte mir auch gar keinen Bekummer zu
machen, es borgte mir Jedermann gern, und dieses machte mir nachher traurige
Tage. Das Zutrauen der Menschen benutzte ich um die Noth der Meinigen zu
lindern, mein Bruder wurde von mir ganz erhalten; zwar raube ich mir durch
diese Äußerung, die edelste Freude, die mir noch war, aber ich habe ja Alles
verloren, als der Unglücklichste sage ich dieses, selbst die Liebe, die innige Liebe
zu meinen unglücklichen Eltern, sie ist mir gewaltsam aus meinem Herzen ge-
rissen. Verachten Sie mich deshalb nicht, es zeigen die Thränen, die ich weine,
daß ich es nicht verdiene, da mir das Wort schwer geworden ist, aber was
spricht nicht Verzweiflung! Um die Schulden zu decken, die durch meinen
Abgang von Eisenach entstanden sind, wo ich in Weimar !/, Jahr ohne Unter-
stützung lebte, da das Wenige was mir von Ober-Consistorium zu Theil wurde,
schon in Eisenach geblieben war, so schicke ich alle Monate so viel nach
Eisenach, als nur möglich. Da ich verschiedene Gläubiger zu befriedigen habe
so schickte ich das Geld an meine Eltern und schon zwei Briefe habe ich be-
kommen, daß die Leute nichts erhalten haben. Die Armuth und die Noth
meiner unglücklichen Eltern ist groß, aber hätten sie dieses thuen sollen. Aus
bei liegenden Briefe können Sie sehen wie weit es mit mir gekommen ist. ?)
Ertheilen Sie mir Ihren väterlichen Rath, verlassen Sie mich nicht, sonst
stehe ich ganz allein da; einst glaubte ich die Kraft zu besitzen, mein Schicksal
zu ertragen, ohne andern Menschen lästig zu werden, allein es geht nicht, sey
es auch nur um mich mitzutheilen, ich kann es nicht allein ertragen. Obgleich
mein Vertrauen so oft getäuscht worden ist, so haben Sie sich meiner doch
vom ersten Augenblicke unsers Zusammentreffens an, so herzlich angenommen,
daß Sie der Einzige sind, dem ich meine Noth klagen mag. Bei Ihnen treffe
ich ein mitfühlendes Herz an, und dieses gewährt mir schon einen Trost. Mein
Leben ist bisher nur eine Kette der traurigsten Ereignisse gewesen, erst jetzt
hat sich mir das Glück zugewendet, was aber nur dann erst befestigt wird,
1) Der Vater war Nadler. K.
?) Die Gläubiger scheinen Kern mit Exekution gedroht zu haben. K.
Kirmsse: Ein autobiographischer Brief und eine Schülercharakteristik. 709
wenn Sie mir Ihre Liebe schenken, was auch gewiß geschehen wird, wenn Sie
meinen Kummer kennen.
Das Schicksal scheint mir den heutigen Tag recht merkwürdig zu machen,
wie schon bei andern Gelegenheiten, mußte ich meine Armuth tief fühlen,
alles suchte unserer hochgeehrtesten Pflegemutter*) eine Freude zu machen, ich
konnte nicht, ich mußte in den Augen der Schüler als undankbar erscheinen
und das Geschenk preßte mir Thränen freudiger Rührung aus, ich sage meinen
innigsten Dank. Mit Gewißheit rechne ich auf Verzeihung meiner Kühnheit
Sie zum Mitwisser meiner Noth, meines Kummers zu machen, aber ich würde
der Last unterliegen und nicht fähig seyn, die Pflichten meines Berufes zu er-
füllen, was mich um so unglücklicher machen würde.
Darum bitte ich Sie theuerster Herr Direktor, ertheilen Sie mir Ihren
väterlichen Rath, damit mein Gemüth seine Ruhe wieder erhält. Mehr kann
ich nicht schreiben, mein ganzes Wesen ist zu heftig bewegt. Es verbleibt mit
aller Hochachtung:
Leipzig den 21 Mai Ihr
1837. dankbarer
Ferd. Kern.«
Die Schülercharakteristik stammt aus der Zeit, als Kern mit Er-
laubnis der Schulbehörde an die von ihm geleitete Taubstummenanstalt
in Eisenach eine »Abteilung für Schwach- und Blödsinnige« ange-
gliedert hatte. Der Bericht möge zugleich mit als Beleg dienen für
die damalige Auffassung und Kenntnis des jugendlichen Schwach-
sinns. Enthalten ist er in den »Acten des Großherzoglich Sächsischen
Oberconsistoriums zu Eisenach betreffend: Die Verbindung einer Ab-
theilung für Schwachsinnige mit dem hiesigen Taubstummeninstitute,
1842 bis 1844.«?)
»Hochpreißliches Ober-Consistorium.
Eisenach, den 6ten August 1843.
Ferd. Kern berichtet unterthänig
über den blödsinnigen Wilhelm
Ernst aus Hier.
Wilhelm Ernst, zweiter Sohn des verstorbenen Steinhauer Ernst, ist
bereits 16 Jahre alt. Von dem Verlauf der ersten Kindheit des Knaben und
von den muthmaßlichen Ursachen seines Blödsinns habe ich keine sicheren
Nachrichten einziehen können, doch soll die Mutter während ihrer Schwanger-
schaft mit Wilh. Ernst immer kränklich gewesen und in Folge dieser fort-
währenden Kränklichkeit auch drei Jahre nach Ernsts Geburt gestorben sein,
weshalb es auch zu vermuthen steht, daß der Blödsinn des Knaben in der
Geburt und in der Säugung bedingt ist, was noch dadurch bestätigt wird, daß
W. E. erst in seinem vierten Lebensjahre das Laufen gelernt haben soll.
Vom 6ten Lebensjahr an ist er beständig körperlich gesund gewesen.
1) Frau Direktor Amalie Regina Reich geb. Heinicke, 1783—1843, hatte
am 21. Mai ihren Geburtstag.
2) Rep.: Abt. VI. Loc. 75. Nr. 9. Blatt 37—38. — Die Akten befinden
sich im Archive des Kultusministeriums zu Weimar.
710 A. Abnanaiungen.
Im 11.ten Jahre ist Ernst in die Bürgerschule gekommen, hat aber dieselbe
nach einem l4monatlichen Besuche auf Anrathen der Direction wieder verlassen
müssen. Seit dieser Zeit ist Ernst zu Hause ganz unbeschäftigt, indem er
nach der Aussage seiner Stiefmutter zu keinerlei Verrichtung zu gebrauchen sey.
Sein Wuchs ist mit Ausnahme des Schädels regelmäßig, überhaupt scheint
sich sein leibliches Leben des besten Wohlseyns zu erfreuen. Die Schlaffheit
und Kraftlosigkeit ist zum Theil wol auch als Folge seiner unthätigen Lebens-
weise anzusehen.
Der Bau seines Schädels ist klein, dem eines etwa 8jährigen Kindes ent-
sprechend, aber doch in sich regelmäßig, so daß dem Knaben nach der »Neuen
Cranioscopie von Dr. Carus«!) alle drei Strahlen des Seelenlebens: Erkennen,
Fühlen und Wollen in gleich niedern Graden zu ertheilt wären.
Das Sensorium des Ernst ist vollkommen gesund, er hört und sieht.
Wenn auch keine Lebendigkeit in seinen Augen ist, so erkennt er doch das
ihm Vorgeführte, sobald er einiges Interesse an dem Gegenstande findet d. h.
sobald er sich auf einem andern Wege als durch das Gesicht Merkmale von
dem Gegenstande erworben hat, etwa durch den Tastsinn, die ihn nun befähigen
denselben zu sehen: denn es gehört schon eine gewisse Anzahl schon fertiger,
allgemeiner Begriffe zum richtigen Sehen eines Gegenstandes.
Ernst hat sich mannigfache Vorstellungen gebildet, oft von Dingen die
eben nicht in seiner nächsten Umgebung zu suchen sind, ja er erkannte sogar
im Bilde Gegenstände und gab deren Gebrauch an. An Reproduktionskraft fehlt
es auch nicht: denn da ich den Knaben zu verschiedenen Zeiten geprüft habe,
was auch der Grund ist, weshalb diese Bemerkungen erst jetzt Einem Hohen
Collegio vorgelegt werden, so habe ich diese Erfahrung gemacht, daß mir Ernst
die Bemerkungen mehr oder weniger wiedergeben konnte, welche ich früher an
Gegenstände angeknüpft hatte.
Die Sprache ist lallend, obgleich der Knabe hört und an seinen Sprech-
werkzeugen keinen Fehler hat.
Überhaupt dürfte der höhere Grad des Blödsinnes in vorliegendem Falle mehr
in der Vernachlässigung als in der physischen und psychischen Disposition des
Knaben zu suchen seyn, so daß man hoffen darf, Ernst werde sich noch so
weit geistig entwickeln können, daß er befähigt sey, ein einfaches Handwerk zu
erlernen.
In seiner jetzigen körperlichen und geistigen Beschaffenheit ist der Knabe
wirklich zu Nichts nütze, ja sein Zustand wird sich immer mehr verschlimmern,
wenn er noch länger ohne Beschäftigung bleibt. Der Zustand dieses Knaben
erregt aufs Neue den Wunsch, daß doch von keiner Seite die eigentliche Bildungs-
zeit Schwach- und Blödsinniger versäumt werden möchte, in der Hoffnung, daß
der gewöhnliche Unterricht in Volksschulen noch von Erfolg seyn dürfte.
Indem ich dies Einem Hochpreißlichen Ober-Consistorio unterthänig vor-
lege, verharret in tiefer Ehrfurcht
Eines Hochpreißlichen Ober - Consistoriums
ergebenst gehorsamster
Ferd. Kern.
1) 1789—1869. Vergl. auch von ihm: C. G. Carus, Psyche. Zur Entwick-
lungsgeschichte der Seele. II. Aufl. Stuttgart 1851. — C. G. Carus, Lebens-
erinnerungen und Denkwürdigkeiten. 4 Teile. Leipzig 1865—1866. K.
Prüfer: Das »Archiv für Erziehungserfahrungen« usw. TLI
2. Das »Archiv für Erziehungserfahrungen« an der
Hochschule für Frauen in Leipzig.
Von
Verwaltungsdirektor Dr. Prüfer, Leipzig.
Es ist eine der wichtigsten Aufgaben der Hochschule für Frauen
zu Leipzig — wenn auch nicht ihre einzige — den Erziehungsberuf
der Frau zu einem Kulturberuf zu erheben. Zu diesem Zwecke muß
sie besonders die Erziehungsarbeit der Familie vertiefen und fördern
helfen. Das tut die Hochschule durch intensive Pflege der allgemeinen
Erziehungslehre und der modernen Kinderpsychologie. Sie will aber
noch eine weitere Aufgabe ins Auge fassen, die für die praktisehe
Erziehungsarbeit der Familie von nicht geringerer Bedeutung ist. Auf
diesen Punkt wollen die folgenden Zeilen aufmerksam machen.
Das heranwachsende Individuum erfährt in seiner Entwicklung
mannigfache Beeinflussung von außen. Diese Beeinflussung erfolgt
unbeabsichtigt durch das Milieu, in dem das Kind aufwächst, und
beabsichtigt durch seine Eltern und Erzieher. Diese letztere, also
die bewußte Beeinflussung, ist die eigentliche Erziehung. Über Ziel,
Umfang, Art und Mittel der Erziehung sind im Laufe der Jahrhunderte
zahlreiche Theorien aufgestellt worden. Trotzdem aber muß die Tat-
sache konstatiert werden, daß man noch so viele Theorien beherrschen
und doch unfähig sein kann, konkrete Einzelfälle der praktischen
Erziehungsarbeit stets richtig entscheiden zu können. Da nun aber
die gesamte Erziehung des Menschen in Wirklichkeit aus konkreten
Einzelfällen besteht, die richtige Entscheidung des Erziehenden in
konkreten Einzelfällen also ungemein wichtig ist, muß gerade darauf
mehr Gewicht gelegt werden, als dies bisher geschieht. Das ist nur
möglich, wenn neben der pädagogischen Theorie die pädagogische
Erfahrung zu ihrem Recht kommt, freilich nicht die zufällige Er-
fahrung eines Einzelnen, sondern die mit den Mitteln der Wissen-
schaft gewonnene, systematisch verarbeitete pädagogische
Erfahrung im großen Stil. Auf sie beziehen sich die nachfolgen-
den Ausführungen.
Erziehung ist bewußte Beeinflussung der kindlichen Entwicklung.
Es kommt bei der Erziehung vor allem auf die Nachwirkungen
an, die bestimmte Einflüsse im Kinde hinterlassen. Wir sind aber in
den meisten Fällen nicht imstande, auch nur mit einiger Sicherheit
die Nachwirkung gewisser erziehlicher Maßnahmen, die wir in diesem
oder jenem praktischen Einzelfall anzuwenden geneigt sind, zu über-
schauen, weil wir nicht über eine genügend große Anzahl von wirk-
712 A. Abhandlungen.
lichen Erziehungserfahrungen verfügen. Für die praktische Erziehung
ist es z. B. wichtig, zu erfahren, welche Kinderfehler sich mit den
Jahren von selbst verlieren, also ohne besondere erzieherische Maß-
nahmen, welche dagegen von vornherein einer planmäßigen Be-
kämpfung bedürfen. Sie möchte wissen, welche Mittel man mit Erfolg
auf den verschiedenen Altersstufen zur Bekämpfung oder zur Förderung
dieser oder jener Erscheinung im kindlichen Seelenleben angewendet
hat. Sie möchte erfahren, an welchen Merkmalen man schon früh-
zeitig die ungünstige Entwicklung gewisser Triebe erkennt und dergl.
Wenn wir allmählich einen Schatz solcher tatsächlichen Erziehungs-
erfahrungen erwerben könnten, dann würde zweifellos in vieler Be-
ziehung mehr Klarheit und Sicherheit in der praktischen Erziehungs-
arbeit möglich sein, als dies jetzt der Fall ist. Es muß also einmal
versucht werden, eine solche systematische Sammlung konkreter Er-
ziehungserfahrungen im großen Stil vorzunehmen. Im folgenden soll
angedeutet werden, wie dies vielleicht geschehen könnte.
Die systematische Sammlung zahlreicher Erziehungserfahrungen
ist natürlich nur möglich, wenn eine größere Anzahl Kinder, die unter
den verschiedensten erzieherischen Maßnahmen und Einflüssen auf-
wachsen, viele Jahre hindurch nach bestimmten Prinzipien planmäßig
beobachtet werden und zwar möglichst vom ersten Lebensjahr bis
zum Alter der Reife; denn darauf ist besonderer Wert zu legen:
a) daß die Beobachtungen an demselben Kinde so lange als nur
irgend möglich fortgesetzt werden, damit eben die späteren Nach-
wirkungen gewisser Einflüsse nicht übersehen werden, und
b) daß die gesammelten Beobachtungen die größte Vergleichs-
möglichkeit bieten. Nur wenn zahlreiche nach gleichen Grundsätzen
bearbeitete Biographien von Kindern und Jugendlichen vorliegen, ist
dies in wünschenswerter Weise möglich.
Die Schwierigkeiten einer solchen systematischen Beobachtung
sind unverkennbar; trotzdem sind sie nicht unüberwindlich. Frei-
lich ein Einzelner kann die Arbeit unmöglich leisten, er sollte sie
daher auch nicht in Angriff nehmen. Nur ein Institut ist dazu in
der Lage; denn nur ein Institut kann genügend viel Erfahrungs-
tatsachen wissenschaftlich verarbeiten und allgemein zugänglich machen.
Nur ein Institut kann auch die Durchführung der Sammlung, unter
Berücksichtigung der aus der Arbeit selbst immer von neuem heraus-
wachsenden Probleme bis zu einem gewissen Grade garantieren.
Die Arbeit des gedachten Instituts könnte in folgender Weise
organisiert werden: Es müßten gebildete Mütter gewonnen werden.
die ihr Kind und ihre Erziehungserfahrungen zur Verfügung stellen.
Prüfer: Das »Archiv für Erziehungserfahrungen« usw. 713
Die eigentliche Sammlung und Verarbeitung der Erfahrungen aber
darf ihnen keinesfalls überlassen werden, sondern dies muß erfolgen
durch Assistentinnen des Instituts. Diese Assistentinnen müssen die
eigentlichen Trägerinnen der Sammelarbeit sein. Das Arbeitsgebiet
einer Assistentin könnte sich vielleicht auf 12—15 Mütter erstrecken.
Jeden Monat mindestens zweimal müßte die Assistentin jede Mutter
ihrer Gruppe besuchen — natürlich ohne daß das Kind den Zweck
dieses Besuches erfährt — und dabei alle Erziehungserfahrungen der
letzten Wochen, die sich auf das beobachtete Kind erstrecken, ein-
gehend mit ihr besprechen, das Wichtigste davon für das Institut
notieren, dann im Institut verarbeiten und in die Sammlungen des-
selben einordnen. Mehr als einen Fall könnte die Assistentin an
einem Tage wohl kaum erledigen, wenn alles mit Gründlichkeit und
Genauigkeit, die unbedingt nötig sind, vorgenommen werden soll;
muß doch allein auf den Besuch jedesmal 2—3 Stunden gerechnet
werden. — Wöchentlich mindestens einmal müßte eine Konferenz des
Institutsleiters mit sämtlichen Assistentinnen stattfinden, in der über
alle in der Woche gesammelten Erziehungserfahrungen zu berichten
wäre, bei der Ungeeignetes ausgeschieden, auf neue Gesichtspunkte
hingewiesen würde usw. — Die einzelnen Erziehungserfahrungen
müßten, um stets zugänglich und wissenschaftlich benutzbar zu sein,
doppelt katalogisiert werden,
a) chronologisch oder biographisch, d. h. alles, was sich auf
dasselbe Kind bezieht, muß zusammen stehen — für jedes Kind also
ein besonderer Kasten —,
b) sachlich, d. h. alles, was dieselbe Erscheinung betrifft, muß
zusammen stehen, also etwa alles, was über Gewöhnung, Strafen, Lüge,
Trotz, Scheu und dergl. gesammelt wurde.
Es bedarf wohl keiner weiteren Ausführungen, um zu erweisen,
daß nicht nur die Erziehungswissenschaft, sondern auch die Kinder-
psychologie wertvolles Material gewinnen würde, wenn jahrzehntelang
in dieser Weise gearbeitet werden könnte.
Das Archiv würde, nachdem es einige Jahre in dieser Weise
Erfahrungen gesammelt hätte, für viele Mütter Leipzigs, denen die
richtige Erziehung ihrer Kinder am Herzen liegt, eine ständige
Auskunftsstelle für praktische Erziehungsfragen werden können und
würde zweifellos bei der nötigen Vorsicht und Individuali-
sierung in vielen Fällen nutzbringend sein können.
Es hat sich bereits ein Komitee gebildet, das die Einrichtung
und Erhaltung dieses Archivs finanziell ermöglichen will.
714 B. Mitteilungen.
B. Mitteilungen.
1. Bericht über den Allgemeinen Fürsorge-Erziehungs-
tag vom 15.—17. Juni in Halle a.S.
Zwei bedeutungsvolle Organisationen, die die Frage der Jugendfürsorge
fördern sollen, tagten vor kurzem in Halle, der deutsche Kinderschutz-
tag und der Allgemeine Fürsorge-Erziehungstag. Halle ist für
diese Organisation ein wohlgeeigneter Kongreßort. Hier lebte und wirkte
August Hermann Francke, dessen Stiftungen Zeugen seines sozialen Sinnes
und seiner aufopfernden Arbeit für die Jugend sind. Halle steht unter
den Städten, die auf dem Gebiete der Kommunalpolitik alle sozialen Be-
strebungen fördern, mit obenan. Vor kurzer Zeit wurde hier ein städtisches
Jugendamt gegründet, das in dem Dienste des Jugendschutzes, der Jugend-
fürsorge und Jugendpflege arbeiten soll. Zu den beiden Versammlungen
waren zahlreiche Freunde des Jugendschutzes und der Jugendfürsorge ge-
kommen. Leider konnte sich die Lehrerschaft nicht in dem Maße beteiligen,
wie es im Interesse der öffentlichen Schule dringend zu wünschen war,
denn die auswärtigen Lehrer hatten keine Ferien und für die einheimischen
fanden die wichtigsten Vorträge in der Unterrichtszeit statt. Es ist das
recht zu bedauern, denn Schulerziehung und Kinderschutz und Jugend-
fürsorge gehören eng zusammen. Die Lehrerschaft steht in zahlreichen
Orten im Dienste der Jugendpflege. Es ist deshalb künftig anzustreben,
wenigstens die wichtigsten Vorträge oder den ganzen Kongreß in die
schulfreie Zeit zu legen. Von vornherein sei noch bemerkt, daß die Vor-
träge Ausgezeichnetes boten, das gerade für den Schulpädagogen sehr
wertvolle Ergänzungen bedeutet. Hier standen Männer am Rednerpult,
die ihre ganze Kraft in den Dienst der Jugend stellen. Dazu kam, daß
der Vorsitzende, Herr Pastor Backhausen, Anstaltsvorsteher am Stephans-
stift in Hannover, es vortrefflich verstand, die Verhandlungen zu leiten,
alles Unwesentliche auszuscheiden und stets das Augenmerk auf das
Wichtigste zu lenken.
I
Eingeleitet wurde die Tagung des Fürsorgekongresses in Halle durch
eine Versammlung des Deutschen Kinderschutztages, der zum ersten Male
an die Öffentlichkeit trat. Zwischen beiden Organisationen — dem Kinder-
schutztage und dem Fürsorgetage — hat bisher eine gewisse Spannung be-
standen, und wie der Vorsitzende des Erziehungstages in der Besprechung
über den Vortrag, der dort gehalten wurde, sagte, habe er nur zögernd
die Erlaubnis zur Tagung zu gleicher Zeit und am gleichen Orte erteilt.
Er freue sich aber nunmehr feststellen zu können, daß alle Bedenken be-
seitigt wären, und daß zwischen beiden Verbänden soviel innere Überein-
stimmung bestände, daß sie in Zukunft oft und gern gemeinsam arbeiten
könnten. Das ist zweifellos ein großer Erfolg der Tagung in Halle; denn
nur mit vereinten Kräften kann auf dem Gebiete des Kinderschutzes und
1. Bericht über den Allgemeineu Fürsorge - Erziehungstag. 715
der Jugendfürsorge etwas erreicht werden. Der Kinderschutzverband bildet
den Mittelpunkt der zahlreichen Vereine und sonstigen Korporationen, die seit
Jahren zum Schutzeder Kinder vor Verwahrlosung, Ausnutzung und Mißhand-
lung vorbeugend tätig sind. Im Mittelpunkte der Erörterung stand ein Vor-
trag von Dr. Franz Recke aus Breslau. Ausgehend von der Vereinsorganisation
und der überaus segensreichen Tätigkeit des Kinderschutzvereins in der Pro-
vinz Sachsen, der sechs Ortsgruppen umfaßt, charakterisierte der Redner die
Ziele und Bestrebungen der Kinderschutzvereine. Ihre Haupttätigkeit be-
steht in einer vorbeugenden Wirksamkeit, die das Eingreifen der Für-
sorgeerziehung zu einer ultima ratio machen will. Der Kinderschutz-
verband will es womöglich vermeiden, das Kind aus der Familie heraus-
zureißen, weil dadurch der Nachlässigkeit und Pflichtvergessenheit Vor-
schub geleistet werde. Der Kinderschutzverband will innerhalb der Familie
Erziehungsarbeit leisten. Das vielfach erleichterte Abnehmen der Kinder
zerstört zu leicht das Familienleben. Die Mitarbeit der Frau in den Ver-
bänden für Kinderschutz ist sehr segensreich. In allen Fällen, wo die
Armenpflege und die vormundschaftlichen Maßnahmen versagen, findet
der Kinderschutzverband Mittel und Wege, verwahrloste Kinder unter-
zubringen. Das Fürsorgegesetz für Preußen, das jetzt etwas abgeändert
worden ist, wird eine Erweiterung der staatlichen Fürsorge zur Folge
haben. —
Die auf reicher praktischer Erfahrung beruhenden Ausführungen
wurden mit großem Beifall aufgenommen. Die Besprechung brachte —
außer den bereits erwähnten Bemerkungen des Vorsitzenden des Fürsorge-
verbandes, Pastor Backhausen — wenig Neues. Der bekannte Förderer
der Jugendfürsorge, Lehrer a. D. Konrad Agahd-Neukölln, betonte, daß
der Kernpunkt des Kinderschutzes die Notwendigkeit einer Mutterkultur
sei. Sorgen wir, daß die Mutter im Hause, in der Familie, ihren Kindern
erhalten bleibt und nicht in die Fabriken geht! Diese Forderung, die er
auf allen Tagungen ausspricht, erhob er aufs neue. Ein Redner stellte das
Ersuchen an die Presse, bei Berichten über Gerichtsverhandlungen die
Erwähnung, daß die eines Verbrechens Angeklagten ehemalige Fürsorge-
zöglinge sind, zu unterlassen, um eine gute Sache nicht unverdienter-
maßen zu diskreditieren.
D.
Der Allgemeine Fürsorge-Erziehungstag wurde durch einen
Begrüßungsabend, den die Stadt den Teilnehmern bot, eröffnet. Be-
grüßungen, musikalische Darbietungen und Vorträge über »Ernstes und
Heiteres« aus dem Anstaltsleben wechselten miteinander ab. Der Raum
gestattet uns leider nicht, über diesen mehr unterhaltenden Teil der
Tagung zu berichten.
Den Höhepunkt des Kongresses bildete die erste Hauptversammlung
des Fürsorge-Erziehungstages am Dienstag den 16. Juni im Stadtschützen-
haus zu Halle. Der große Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt.
Zahlreiche Vertreter hoher Behörden, des Ministeriums des Innern, des
Oberpräsidiums der Provinz Sachen, der Landesverwaltung, der Regierung
716 B. Mitteilungen.
zu Merseburg, der Universität Halle u. a. waren erschienen. Der Vor-
sitzende der Hauptversammlung, Pastor Backhausen, wies in seiner Be-
grüßung darauf hin, daß die Verhandlungsgegenstände die Frage lösen
wollten: Wie befreien wir den Zögling von dem passiven
Widerstande, wie kommen wir an sein Inneres? Die Vertreter
der Behörden, die den Kongreß begrüßten, begnügten sich nicht, wie es
oft üblich ist, einige konventionelle Begrüßungsworte zu sagen, sondern
gingen materiell auf die Probleme der Fürsorgeerziehung ein und be-
kundeten damit ihr lebhaftes Interesse an diesen wichtigen Fragen, ein
Beweis, wie sehr die Sache der Fürsorgeerziehung gefördert worden ist
und noch weiter gefördert werden wird. Der Vertreter des Ministeriums
des Inneren, Geheimrat Schlosser, betonte, daß die Fürsorgeerziehung
nicht eine Strafe, sondern eine Wohltat sei; Exzellenz von Hegel, Ober-
präsident der Provinz Sachsen, wies auf die zahlreichen vorbildlichen An-
stalten in der Provinz hin; das tat auch der Landeshauptmann von Wil-
mowski-Merseburg; Stadtrat Dr. Tepelmann-Halle betonte die Notwendigkeit
der Mitwirkung der Schule und gab seiner Freude Ausdruck, daß das ab-
geänderte Fürsorgegesetz den Zwiespalt zwischen Oberverwaltungsgericht
und Kammergericht in Preußen beseitigt habe. Geheimrat Prof. Dr. Finger,
Ordinarius für Strafrecht an der Universität in Halle, kennzeichnete den
Wandel in der Auffassung von der Strafe: sie sollte zuerst der Rache,
dann der Abschreckung, später der Sühne, heute der Besserung dienen.
Ziel des Strafrechtes sei nicht Repression, sondern die Verhütung. Er
wies aber besonders darauf hin, daß die Maßnahmen, die bei Erwachsenen
angebracht sind, bei Kindern verfehlt wirken. Mit dem Worte: »Alles
wahrhaft Gute geht in der Welt nicht untere schloß er mit Bezug auf
die Fürsorgebestrebungen seine eindrucksvollen Worte. Geheimer Kon-
sistorialrat Martius begrüßte die Versammlung im Namen des provinzial-
sächsischen Konsistoriums und mahnte zur regen Mitarbeit der Geistlich-
keit an dem Werke der Jugendfürsorge. Den Hauptvortrag hielt Professor
Dr. F. W. Foerster-München über: »Autorität und Selbstregierung
bei der Leitung der Jugendlichen.« Da die Zeitschrift für Kinder-
forschung den Vortrag von Prof. Foerster im Wortlaut mit weiteren
Ergänzungen bringt, so können wir auf eine Wiedergabe des anregenden
Inhaltes hier verzichten. Die Absicht des Vortrages war erkenntlich aus
dem Satze, womit Foerster ihn schloß: Carlyle hat einmal gesagt, es sei
das höchste Problem der Zeit, die unvermeidliche Aristokratie mit der un-
vermeidlichen Demokratie zu versöhnen.
Lauter Beifall folgte den gedankenreichen Ausführungen des Vor-
tragenden, der folgende Leitsätze aufgestellt hatte:
Die möglichste Heranziehung der Jugendlichen zur Selbstregierung und Selbst-
verwaltung empfiehlt sich aus folgenden Gründen:
1. Als notwendige Anpassung an die psychologischen Bedingungen hochent-
wickelter wirtschaftlicher Kulturarbeit. (Qualitätsarbeit verlangt moralische
Selbsttätigkeit.)
2. Als eine wichtige Methode moralischer und staatsbürgerlicher Erziehung.
(Entwicklung von Selbstkontrolle, Gemeinsinn, Gerechtigkeitsgefühl.)
1. Bericht über den Allgemeinen Fürsorge- Erziehungstag. 717
3. Als allgemeine pädagogische Notwendigkeit. (Erst durch praktische Mitarbeit
und Verantwortlichkeit für geordnete Zustände werden junge Leute innerlich
für die Sache der Ordnung gewonnen und für freiwilligen Gehorsam er-
zogen. Die einseitige Autoritätspädagogik macht einen wirklich auto-
ritativen Einfluß auf die Jungen unmöglich.)
4. Als notwendige Anpassung an den besonderen psychologischen Zustand der
modernen Jugend. (Die anti-autoritäre Stimmung der modernen jungen
Leute macht einen möglichst geringen Gebrauch repressiver Methoden und
eine möglichst diszipilinarische Verwertung gerade der zur Re-
bellion tendierenden Charakterkräfte [Ehrgefühl, Bandeninstinkte,
Tätigkeitsdrang] sehr ratsam.)
5. Als heilpädagogische Notwendigkeit gegenüber Abnormen und Verwahrlosten.
(Die abnorm Indisziplinierten sind ganz. besonders explosiv gegenüber aller
bloß repressiv-autoritativen Leitung. Gegenüber ihrer großen Suggestibilität
bedürfen sie einer besonderen Stärkung ihrer Selbständigkeit. Ihr Ge-
wissensleben bedarf des kollektiven Haltes durch Übung in gemein-
samen sittlichen Entscheidungen und Verantwortlichkeiten.)
Erzieher-Disziplin und Selbstregierung sind beide gleich wichtige Faktoren der
Jugendbildung, die Jugend muß lernen, eine von höheren Instanzen ausgehende
Ordnung willig und exakt anzunehmen, und sie muß lernen, selber Ordnung hervor-
zubringen. Wo einer dieser beiden Faktoren fehlt, ist ein Mißlingen der Erziehung
zweiffellos.
Herr Direktor Remppis ergänzte Foersters Ausführungen, die mehr
theoretisch waren, durch zahlreiche Beispiele aus seiner praktischen Er-
fahrung als Anstaltsleiter. Er betonte die Gefahr des Anstaltslebens, die
Verkümmerung des Triebes nach Selbständigkeit. Deshalb habe man in
Amerika versucht, durch Heranziehung der Zöglinge zur Mitwirkung im
Familienleben ein Verantwortlichkeitsgefühl für den Geist des Hauses und
Verständnis für die Bedingungen des wirtschaftlichen Lebens zu wecken.
In England tritt das Familienleben zurück hinter dem gemeinsamen An-
staltsleben; durch die Übertragung von Aufsichts- und Ehrenämtern zum
Teil mit militärischen Rangstufen, besonderen Abzeichen und Belohnungen,
sowie durch intensive Pflege des Sports, wird der Selfrespekt in wirksamer
Weise belebt. Remppis warnte vor der Übertragung staatlicher Formen
auf das Anstaltsleben, da die Zöglinge dafür noch kein Verständnis haben.
Empfehlenswert ist die Übertragung von Vertrauens- und Ehrenämtern
auf die Zöglinge in der Haus-, Arbeits- und Spielgesellschaft. Die Wahl
der Inhaber der Ämter kann durch die Zöglinge erfolgen. Auch können
die Zöglinge zu Besprechungen herangezogen werden über äußere Anstalts-
einrichtungen, z. B. der Hausordnung. Bei Anstaltsfesten, in Vereinen
zur körperlichen Ausbildung sollen die Zöglinge mitbestimmen. Es handelt
sich aber überall nur um Versuche und Anregungen. Die Art und der
Grad der Selbstbetätigung müssen aus dem Geiste des Hauses heraus-
wachsen. Die Debatte brachte eigentlich nur Bedenken gegen die Selbst-
regierung der Schüler zum Ausdruck. Es wurde hervorgehoben, daß die
Schüler, besonders die sittlich Schwachen der starken Führung bedürfen,
718 B. Mitteilungen.
daß andere Anstalten die Selbstregierung nicht hätten, man sollte damit
nicht in den Fürsorgeanstalten beginnen. !)
Daß die Franckeschen Stiftungen besichtigt wurden und Herr Geheim-
rat Professor Dr. Fries, der Direktor der Stiftungen, einen Vortrag über
Aug. Hermann Franckes Bedeutung für die Pädagogik, namentlich für die
Anstaltspädagogik, hielt, sei nur kurz erwähnt. Vortrag wie Besichtigung
boten reiche Anregungen.
Es war ein vortrefflicher Gedanke der Leitung des Erziehungstages,
mit der Tagung einen Vortragsabend für die Öffentlichkeit zu veranstalten.
Herr Professor Dr. F. W. Foerster sprach über »Moderne Erziehungs-
lehren in kritischer Beleuchtung!« Die Thaliafestsäle waren bis auf
den letzten Platz besetzt. Der Deutsche Lehrerverein veranstaltet seit
Jahren derartige Volksversammlungen, um die Öffentlichkeit für Erziehungs-
fragen mehr zu interessieren. Es ist das gewiß ein großer Vorteil der
Vortragsabende, wenn es nach und nach gelingt, das pädagogische Inter-
esse im Volke zu steigern. Doch müssen an den Redner die höchsten
Anforderungen gestellt werden. Wissenschaftlichkeit und Volkstümlichkeit
müssen sich bei ihm vereinigen. Foerster ist nach beiden Seiten hin ein
ausgezeichneter Volksredner. Dennoch geht das Urteil über den Vortrag
weit auseinander. Die gespannte Aufmerksamkeit der großen Hörerschaft
und ihr lebhaftester Beifall und die gleiche Zustimmung einzelner auf
der einen Seite, angesehener Männer und Frauen, wirkte es doch für
andere etwas eigenartig, daß Foerster erhabene Dinge in trivialer Weise
behandelte. Wenn er den Rat gibt, bei gedämpften Kartoffeln vom ge-
dämpften Charakter zu sprechen, so wirkt das für manche lächerlich.
Auch die Darstellung des Kreuzes Christi entsprach für manchen Hörer
nicht der Würde und Heiligkeit dieses Gegenstandes. Foersters Mystizismus
und seine häufigen Schlagwörter im Vortrage verwischten oft nach Meinung
dieser den wissenschaftlichen Charakter des Vortrages. Ja es gibt
Männer, die Foerster aus diesem Grunde ablehnen. Wir bedauern das,
denn was hat doch dieser Mann uns in einer Zeit der Veräußerlichung
alles zu sagen! Er ist gegenwärtig der einzige Moralpädagog großen
Stiles; es ist deshalb eine Pflicht, auf diese Ausstellungen an Foersters
Vorträgen besonders hinzuweisen. Die Ausführungen Foersters waren, wie
das Thema andeutet, recht kritisch gehalten; doch war es positive Kritik;
die nicht niederreißt, sondern aufbaut. Foerster verlangte als Hauptpunkte
der Erziehung zwei Voraussetzungen. Der Erzieher muß ein wniverselles
Ziel vor Augen haben, aber nicht nur Idealist, sondern auch Realist sein.
Christus, der Stifter unserer Religion, vereinigte diese Eigenschaften; darin
lag die Ursache seines Erfolges. Ein Gleiches sagte er von Plato.
Foerster ging nun besonders auf drei Fragen der modernen Reformpäda-
1) Es fiel allgemein auf, daß Professor F. W. Foerster auf diese Einwände
nicht erwiderte; er war, wenn wir nicht irren, während der Besprechung überhaupt
nicht im Saale anwesend. Der Sache wäre gedient worden, wenn auf die Einwände,
die wir eingehend nicht darstellen wollen, von dem Hauptreferenten eingegangen
worden wäre.
1. Bericht über den Allgemeinen Fürsorge- Erziehungstag. 719%
gogik ein, auf die Forderung der Arbeitsschule, die Frage der körper-
lichen Erziehung und die moderne Sexualpädagogik. Er meinte die
moderne Pädagogik erfülle die obengenannten Bedingungen der Erziehung
nicht, deshalb entarten die besten Anregungen. Die Parole der Arbeits-
schule statt der Lernschule ist zwar gut, aber auch hier schadet die Ein-
seitigkeit. Das laborare hat das orare verdrängt. Unsere Schüler wollen
und können nicht immer produktiv sein, sie müssen auch zuhören lernen.
Neben der produktiven Haltung ist auch eine rezeptive notwendig.
Du mußt dein Werk nun lassen ab,
Daß Gott sein Arbeit in dir hab.
Nicht Anpassung des Erziehers an den Zögling, sondern das Um-
gekehrte ist richtig. Manneszucht! Was steckt nicht in diesem Worte
in pädagogischer Beziehung? Das Kind muß von Launen, Milieueinflüssen
erlöst werden. Es muß seine Pflicht und Schuldigkeit tun lernen. Es
muß Respekt vor der Norm erhalten. Eine Depressionspädagogik, die das
Kind mit Verachtung straft, ist unbedingt zu verwerfen. Die körperliche
Erziehung ist nicht nur hygienisch, sondern auch moralpädagogisch wert-
voll. Eine wohltätige Wirkung hat sie nur dann, wenn sie sich den
Interessen der Seele unterordnet. Physische Not ist nichts gegenüber:
moralischem Mut. Bei St. Privat hat nicht die Muskulatur unserer-
Truppen, sondern deutsche Sittlichkeit gesiegt. Der übertriebene Sport,
besonders bei den Frauen, ist unbedingt zu verwerfen. Als Gegen-
gewicht ist Charakterbildung unbedingt nötig. Man belehre z. B. die
Schüler im Turnunterrichte über Pünktlichkeit und eine gute Haltung.
Das ist ebensoviel wert wie körperliche Übungen.
Die Probleme der Sexualpädagogik will man durch Aufklärung
lösen. Bei der Aufklärung hört aber nicht nur der Verstand, sondern
auch die Phantasie zu. Es fehlt in den sexuellen Fragen aber heute ein
höherer Gedanke: Wie kann ich durch Überwindung Gott näher kommen?
Die alltäglichen Widerwärtigkeiten sind als Gewinn zu behandeln. Bei
der weiblichen Erziehung muß der Begriff des Frauenhaften mehr betont
werden. Neue Sitten sind notwendig, ein neuer Ehrenstaud. Wir müssen
den Begriff des wahren Mannes herausarbeiten. Der Mannesbegriff soll
eine Zwischenstufe sein, ein Übergangsstadium vom Naturzustand zum
Christentum. Die Koedukation ist zu verwerfen, weil im menschlichen
Leben naturgemäß eine Zeit kommt, in der sich das Mädchen stolz vom
Knaben reißt.
Bei allen unsern pädagogischen Maßnahmen — betonte Foerster zum
Schluß — ist Christus unser Vorbild; er ist aber Erzieher aller Erzieher.
Sein vollendetes Opfer erregt den Wunsch, alle Kräfte dem höchsten Gut
zu weihen. Christus ist auch für die moderne Pädagogik, und gerade für
diese, der Weg, die Wahrheit und das Leben.
Der Vortrag, dem zahlreiche Universitätsprofessoren, Lehrer aller
Schulgattungen und Geistliche beider Konfessionen beiwohnten, übte auf
die Zuhörer einen starken Eindruck aus. Eine Besprechung fand nicht
statt. — Am zweiten Tage des Kongresses wurde die Frage der prakti-
schen Arbeit an psychopathischen schulentlassenen Zöglingen behandelt.
72
B. Mitteilungen.
Herr Oberarzt Dr. Redepenning aus Göttingen hatte über diese Frage
folgende Leitsätze aufgestellt. (Er berücksichtigte nur die männlichen
Fürsorgezöglinge.)
1;
3a.
Die Voraussetzung für die praktische Arbeit an den psychopathischen Zöglingen
ist ihre Auffindung. Die Psychopathen erleichtern durch ihre Auffälligkeiten
schon selbst ihre Auffindung. Sache der Pflegeeltern, Dienst- oder Lehrherren
und Fürsorger bei den außerhalb der Anstalt Untergebrachten und Sache
der Erzieher, Anstaltsleiter, Anstaltsärzte und der zu gelegentlichen oder regel-
mäßigen Untersuchungen herangezogenen Irrenärzte bei den in Anstalten
Untergebrachten ist es, diese Auffälligkeiten fortlaufend zu beobachten, im Ver-
gleich mit dem Verhalten anderer und dem früheren Verhalten desselben Zög-
lings zu bewerten und gemeinsam das Urteil festzustellen. Bei einer Reihe
von Fällen ist zur Beseitigung von Zweifeln die Unterbringung des ver-
dächtigen Zöglings in der Beobachtungsabteilung einer Erziehungsanstalt
oder einer irrenärztlich geleiteten Beobachtungsabteilung nötig.
Nach dem Ergebnis dieser Feststellungen ist zu entscheiden, ob der Psycho-
path in seiner bisherigen Umgebung, sei es außerhalb oder innerhalb einer
Anstalt, bleiben kann oder ob eine andere Unterbringung versucht
werden muß. Dabei kommen alie Möglichkeiten in Frage: Wechsel der Dienst-
oder Lehrstelle, Wiederaufnahme in die frühere, Aufnahme in eine andere
Anstalt, Entlassung aus der Anstalt. Eine Reihe von Fällen ist den bei Er-
ziehungsanstalten bereits eingerichteten oder noch einzurichtenden Abteilungen
für Schwererziehbare zuzuführen. Eine andere Gruppe ist in Zwischen-
anstalten unterzubringen, seien dies nun Abteilungen im Anschluß an ander-
weitige Krankenanstalten wie z. B. in Potsdam oder neue Einrichtungen, nämlich
eigens für diesen Zweck eingerichtete unter ärztlicher Leitung stehende Heil-
und Erziehungsanstalten wie z. B. in Göttingen. In Irrenanstalten ge-
hören nur Geisteskranke. Ein länger dauernder Aufenthalt psychopathischer
Fürsorgezöglinge in Irrenanstalten ist nach den Göttinger Erfahrungen für die
Anstalt selbst und für die Zöglinge nachteilig, außerdem vom rechtlichen Stand-
punkt bedenklich.
Die Zwischenanstalten, deren Verschmelzung mit der eingangs erwähnten
irrenärztlichen Beobachtungsabteilung nach den Göttinger Erfahrungen
empfohlen werden muß, haben ihre praktische Arbeit nach den beiden Zielen
der Heilung und Erziehung einzurichten. Die Zwischenanstalten unter-
scheiden sich deshalb von anderen Erziehungsanstalten dadurch, daß in
ihnen der irrenärztlichen Tätigkeit der breiteste Raum gelassen werden
muß. Es soll sich nicht nur um eine beratende und hausärztliche Mitwirkung
handeln. Bei der Göttinger Zwischenanstalt ist der ärztliche Einfluß durch An-
stellung eines Arztes im Hauptamte, dem auch die äußere Leitung übertragen
ist, gewährleistet. Die Zwischenanstalten unterscheiden sich ferner von
anderen durch eine besondere Bauart, die weitgehende Bildung kleiner
Gruppen ermöglicht, und durch eine größere Zahl von Erziehern und
Gehilfen. Auch eine kleine Anstalt mit etwa 60 Plätzen muß im kleinen ein
Vorbild aller Anstaltsarten in sich vereinigen. Um den unsteten, schwankenden
Eigentümlichkeiten ihrer Insassen gerecht zu werden, muß sie über kleine Ab-
teilungen freiester, durchschnittlicher und strengster Art verfügen. Haupt-
grundsatz muß eine weitergehende Berücksichtigung der Einzel-
1. Bericht über den Allgemeinen Fürsorge - Erziehungstag. 721
persönlichkeit sein, als es in anderen Erziehungsanstalten möglich ist. Die
Zwischenanstalten werden dadurch kostspieliger.
3b. Der Hauptzweck, auch der Zwischenanstalten, soll aber die Erziehung
bleiben, die unbeschadet der Heilungsaufgaben möglichst ebenso ausgeführt
werden soll wie in anderen Anstalten, sowohl was Seelsorge, Unterricht, Be-
schäftigung und Spielen als auch Werkstätten-, Haus-, Garten- und Feldarbeit
betrifft. Auch Belohnungen und Bestrafungen haben sich — selbstverständlich
unter strengster Berücksichtigung der Einzelpersönlichkeit — im allgemeinen
dem Vorbilde der anderen Anstalten anzuschließen. Bei den aus der Anstalt
Entlassenen ist neben der Fürsorgetätigkeit eine weitere unmittelbare Beauf-
sichtigung durch die Anstalt nötiger als bei anderen Zöglingen,
4. Für einen Teil der Volljährigen ist bei der gegenwärtigen Rechtslage die
Entmündigung anzustreben, wenn sie auch auf Schwierigkeiten stößt, und
ihr Erfolg nicht immer den Erwartungen entsprechen wird. Für die Zukunft
wird immer mehr das Bedürfnis hervortreten, einen geringen Teil nicht geistes-
kranker Psychopathen, nämlich hilflose oder gefährliche, über die Voll-
jährigkeit hinaus ihrer Eigenart entsprechend zu ihrem oder der Allgemeinheit
Schutz unterzubringen, zum Teil jedenfalls in einer neuen Art von Zwischen-
anstalten.
5. Die bisherigen Erfahrungen mit Zwischenanstalten ermutigen zu ihrer
weiteren Verbreitung. Zweifellos haben sie die Arbeit in den anderen Er-
ziehungsanstalten erleichtert. Auch haben sie an solchen Zöglingen, auf deren
weitere Erziehung andere Anstalten oft mit Bedauern verzichten mußten, noch
unverkennbare Erfolge gebracht.
6. Behandlung und Erziehung, Heilung und Besserung lassen sich nur gewaltsam
oder durch Wortklauberei scharf voneinander trennen. Es ist deshalb für die
zu gemeinsamer praktischer Arbeit an den Psychopathen berufenen Ärzte
und Erzieher nur dann ein Zusammenarbeiten möglich. wenn sie das-
selbe Arbeitsziel haben. Das einzige für die Fürsorgeerziehung aber
aufzustellende Ziel ist das für alle Erziehung maßgebende sittlich-religiöse.
Der Mitberichterstatter Herr Pastor Disselhoff-Kaiserswerth, behandelte
die praktische Arbeit der psychopathischen schulentlassenen weiblichen
Fürsorgezöglinge. Die Hauptgedanken seines Vortrages hatte er in folgende
Leitsätze zusammengefaßt:
I. Die praktische Arbeit der Vergangenheit (seit 1901) hat die Grundlage der
Psychopathenfürsorge geschaffen durch Feststellung der Tatsache:
1. Unter den schulentlassenen weiblichen Fürsorgezöglingen befinden sich (ab-
gesehen von Geisteskranken, Idioten, Epiieptikern usw.) verhältnismäßig
zahlreiche Zöglinge (Psychopathen im engern Sinn und leichtere Schwach-
sinnsformen), die geistig so minderwertig sind, daß bei ihnen das Ziel der
Erziehung, Selbständigkeit in geordneter Lebensführung und in Erwerb des
Lebensunterhaltes, nicht zu erreichen ist.
2. Für diese geistig Minderwertigen sind sowohl um ihrer selbst als auch um
der Normalen willen Sonder-Erziehungsanstalten mit ständiger psychiatrischer
Beratung einzurichten, deren Aufgabe es ist, die Zöglinge zu dem erreich-
baren Grade von Selbständigkeit zu erziehen und ihnen für das spätere
Leben entsprechende Daseinsmöglichkeiten finden zu helfen,
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 46
722
B. Mitteilungen.
II. Die praktische Arbeit der Gegenwart vollzieht sich wesentlich in solchen
Sonderanstalten für geistig minderwertige schulentlassene weibliche Fürsorge-
zöglinge.
1.
v
In diesen Anstalten werden die Zöglinge zunächst psychiatrisch sorgfältig
gesichtet (Ausscheiden der noch vorhandenen Fälle von Geisteskrankheit,
Idiotie, Epilepsie usw.; Klassifizierung der Form der geistigen Minderwertig-
keit: Disharmonische, Hysterische, leicht Schwachsinnige usw.) und sodann
regelmäßig psychiatrisch beobachtet, wobei die Schulung der Erziehungs-
schwestern von wesentlicher Bedeutung ist.
Auch der allgemeinen ärztlichen Beaufsichtigung und gesundheitlichen Pflege
wird sorgfältige Aufmerksamkeit geschenkt.
Die technische Ausbildung, die durchaus im Dienst der Gesamterziehung zu
möglichster Selbständigkeit steht, bewegt sich in dem Rahmen einer Haus-
haltungsschule unter Beachtung und Entwicklung der vorhandenen indi-
vıduellen Fähigkeiten bei großer Mannigfaltigkeit der Arbeitsgelegenheit.
Die Arbeit ist Erziehungsmittel, nicht Selbstzweck.
Soweit die Entwicklung der Zöglinge in der Anstalt in Betracht kommt, ist
das Ergebnis im allgemeinen als günstig zu bezeichnen; solange der Aufent-
halt in der Anstalt dauert, namentlich bei den Psychopathen im engeren
Sinne, wird oft nicht unwesentliche Besserung erzielt.
Bei der Entlassung aus der Anstalt wird die neue Umgebung für den Zög-
ling sorgfältig ausgewählt, und die Verbindung mit der Anstalt in jeder
Weise gepflegt.
Die Entwicklung der Zöglinge nach der Entlassung aus der Anstalt ist im
allgemeinen nur solange erfreulich, als der Einfluß der Anstalt maßgebend
bleibt. Mit dem Aufhören dieses Einflusses ist namentlich bei den leicht
Schwachsinnigen, aber auch bei den Psychopathen im engeren Sinne, eine
Rückentwicklung sehr häufig verbunden.
Es ist Tatsache, daß ein beträchtlicher Teil der Zöglinge dauernd anstalts-
bedürftig bleibt.
IH. Die praktische Arbeit der Zukunft wird deshalb mit allem Nachdruck der
Fürsorge für die Zöglinge auch nach dem Aufhören der Fürsorgeerziehung sich
l.
2.
3.
zu widmen haben,
Notwendig ist die Schaffung von Heimstätten, die ihren Insassen lebens-
längliche Unterkunft gewähren,
Der Frage nach Stellung unter Pflegschaft oder Entmündigung ist für die
Heimstätten-Pfleglinge besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
Soweit die Heimstätten durch den Arbeitsertrag der Pfleglinge sich nicht
erhalten, werden die verpflichteten Armenverbände zur Unterstützung
heranzuziehen sein.
Die kurze Besprechung bestätigte die Erfahrungen und Vorschläge
der beiden wertvollen Vorträge. Damit hatten die Versammlungen des
Allgemeinen Fürsorge-Erziehungstages, die allen Teilnehmern reiche Be-
lehrungen und Anregungen zuteil werden ließen, ihr Ende erreicht. Die
nächste Hauptversammlung soll in zwei Jahren in Stuttgart stattfinden.
Halle. Saupe.
2. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen. 723
2. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen.
Von Ernst Willich.
(Fortsetzung.)
Am deutlichsten trat der Unterrichtsunlust mindernde und Interesse
weckende Einfluß der konsequenten Gewöhnung bei O.s Einführung in das
Verständnis des Kalenders zutage. O. war noch in seinem 13. Lebensjahr hin-
sichtlich der Zeitverhältnisse und Zeitbegriffe völlig unorientiert. Er kannte
zwar die Namen der Wochentage und zum Teil auch diejenigen der Monate,
aber ihre Bedeutung und Aufeinanderfolge waren ihm durchaus fremd. Zu
den Begriffen Tag, Woche, Monat, Jahr fehlte ihm jede Vorstellung. Tages-
daten konnte er zwar im Gedächtnis behalten, ihr Sinn aber war ihm
vollständig dunkel. Selbst die Begriffe gestern, heute, morgen verwechselte
er. Belehrungen und Übungen in dieser Richtung waren also dringend
nötig. Nun besaß O. trotz seiner absoluten Kalenderunwissenheit doch ein
gewisses spontanes Kalenderinteresse. Er bekam nämlich jedes Jahr zum
Weihnachtsfest einen Abreißkalender; das tägliche Abreißen desselben war
ihm nicht bloß zur festen Gewohnheit geworden, sondern die Tätigkeit
des Abreißens bereitete ihm auch sichtlich Vergnügen. Es lag nun natürlich
nahe, dieses Kalenderinteresse zum Anknüpfungspunkt der in Aussicht
genommenen Kalenderübungen zu machen. Allein bei dem ersten Versuch,
die Kalenderspielerei in eine rationelle Einführung in die Geheimnisse des
Kalenders überzuleiten, erwies sich das vorhandene Interesse als viel zu
oberflächlich und schwach. Sobald O. merkte, daß an die Stelle seines
bisherigen gedankenlosen Zettelabreißens eine ernste, mit Überlegung ver-
knüpfte Beschäftigung treten sollte, war sein Interesse am Kalender dahin
und jetzt blieb nichts anderes übrig, als ihm zwangweise (durch konse-
quente Übung) einiges Kalender- und Zeitverständnis beizubringen. Es
wurde zunächst ein Jahreskalender (Wandkalender) sowie ein Tageskalender
(Abreißkalender) im Unterrichtszimmer aufgehängt und an diesen beiden
Kalendern ein Jahr lang Tag für Tag beim Beginn des Unterrichts das
Datum des vergangenen, gegenwärtigen und kommenden Tages festgestellt.
Im zweiten Jahr gesellte sich zu den genannten Kalendern noch ein
Wochen- sowie ein Monatskalender, die nun ebenfalls in den Kreis der
täglichen Betrachtung gezogen wurden. Und auch das dritte Jahr wurde
an der Hand dieser vier Kalender durchwandert. Auf die dabei vor-
genommenen mannigfaltigen Übungen kann hier nicht näher ein-
gegangen werden. Zum Teil werden sie noch in den Abschnitten über
den Rechenunterricht und Leseunterricht Erwähnung finden. Nur das eine
sei bemerkt, daß die wirksamste Klärung und Befestigung von O.s Zeit-
sinn von der im Anschluß an den Wochenkalender vorgenommenen
Notierung wichtiger Tagesereignisse und deren häufiger Reproduktion aus-
ging. Sehr oft mußte O. rein gedächtnismäßig (vor- und rückwärts!) die
Namen, die Daten und die charakteristischen Ereignisse der zwei, drei
und vier letzten Tage feststellen. Der materielle Erfolg dieser 3 Jahre
lang mit zäher Konsequenz durchgeführten Übungen blieb nicht aus. O.
ist heute nicht nur im Besitz der geläufigsten Zeitbegriffe, soweit sie sich
46*
724 B. Mitteilungen.
ein Junge, der wohl zählen aber nicht rechnen kann, anzueignen vermag,
sondern er ist auch imstande, auf einem Kalender jedes Datum zu fixieren
und dessen Wochentagsnamen festzustellen, selbst wenn die Wochentage
nur mit den Anfangsbuchstaben markiert sind. Sogar Aufgaben wie diese:
»Heute haben wir Freitag den 13. Januar; was für ein Wochentag ist am
16. Januar?« vermag er bei einiger Mithilfe im Kopfe auszuführen. Das
wesentlichste Resultat bestand aber in dem freiwilligen Interesse, das O.
je länger je mehr den Kalenderübungen entgegenbrachte. Noch heute
trägt er jeden Morgen zum Anfang des Unterrichtes ganz von selbst seine
verschiedenen Kalender herbei, um sie durch Abreißen, Ausstreichen »in
Ordnung zu bringen«, wie der technische Ausdruck lautet. Das laufende
Datum hat er stets sicher im Kopfe. Besonderes Vergnügen bereitet es
ihm, die Namens- und Geburtstage seiner Verwandten und Bekannten
auf dem Kalender festzustellen. Geradezu erpicht aber ist er auf die
rotgedruckten Sonn- und Feiertage, denn da — fällt der Unterricht aus!
Hier kommt aber auch die Kehrseite wieder zum Vorschein. Wohl ge-
hören die Kalenderübungen zu denjenigen unterrichtlichen Baschäftigungen,
denen O. heute am meisten Sympathie entgegenbringt, aber viel lieber ist
ihm das Nichtstun. Von dem Abreißen der Tageszettel abgesehen, kümmert
sich O. an schulfreien Tagen und während der Ferien keinen Deut um
seine Kalender. Und so sehr er sich auch auf allgemeine Feier- und
familiäre und persönliche Festtage freut, aus eigenem Antrieb würde er
sich nie die kalendermäßige Lage dieser Tage klar machen.
Neben den Kalendern hängt in O.s Studierstube ein mit grüngefärbtem
Weingeist gefülltes Thermometer, das er jeden Morgen zur Feststellung
der Temperatur vor das Fenster hängt. Welche große Mühe nötig war,
ihm die Fähigkeit des Ablesens der Grade sowie das Verständnis für die
Begriffe unter und über Null beizubringen, und wie auch hier wieder nur
mit unerbittlicher Konsequenz etwas erreicht werden konnte, davon soll
nicht die Rede sein. Dagegen wird der Leser staunen, zu vernehmen,
daß es gewisse Zeiten gab und gibt, in denen O. tatsächlich aus ureigenstem
Impuls ohne jede fremde Aufforderung nach dem Thermometer schaut.
Dieses beinahe wunderbare psychologische Phänomen hat seine höchst
einfache Erklärung in der Tatsache, daß im Winter an das Sinken des
Thermometers unter Null der Ausfall des täglichen Turnunterrichtes ge-
knüpft ist. Der Turnunterricht aber ist für O. das größte Übel des Da-
seins. Deshalb pflegt in der kalten Jahreszeit sein erstes Tagesgeschäft
darin zu bestehen, festzustellen, ob das Thermometer die ersehnte Stellung
unter Null erreicht hat oder nicht.
Auf die Eroberung weiterer Sachgebiete für O.s Interesse (Bilder-
betrachtung, Erzählen von Geschichten, heimatkundlicher Anschauungs-
unterricht, Einführung in das Verständnis der Uhr usw.) näher einzugehen,
erscheint zwecklos. Immer und überall wiederholte sich derselbe psycho-
logische Vorgang. Nirgends fehlte es ganz an lustbetonten Vorstellungen,
die als unterrichtliche Anknüpfungspunkte benutzt werden konnten. Aber
jedem Versuche, die gegebenen Interesserichtungen zu vertiefen oder auf
Nachbargebiete überzuleiten, widersetzte sich ©. Und ein rein passives
2. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen. 725
Anschließen der sachunterrichtlichen Unterhaltungen an die augenblicklichen
persönlichen Launen und Gedankenrichtungen O.s führte stets nur im
Kreise herum und brachte die Bildungsarbeit keinen Fuß breit vorwärts.
Als einzig wirksames Mittel erwies sich der Zwang. Je regelmäßiger und
intensiver sich O. mit einer Sache beschäftigen mußte und je bekannter,
vertrauter und geläufiger sie ihm dadurch wurde, desto mehr machte seine
Unterrichtsabneigung einer freiwilligen Unterrichtsteilnahme Platz. In
keinem Falle aber erreichte das auf diesem Wege künstlich erzeugte Inter-
esse auch nur annähernd die Stärke und Konstanz des auf angeborenen
oder erworbenen natürlichen Neigungen beruhenden spontanen Interesses.
Ganz ähnliche Erfahrungen lieferte der Sprechunterricht. Auch
in dieser Disziplin war es unmöglich, O.s natürliches Sachinteresse als
Motorkraft für die nötigen unterrichtlichen Übungen zu benutzen. Daß
O. sehr schlecht und undeutlich sprach, wurde bereits erwähnt. Eigent-
liche Sprachfehler besaß er nicht. Er stotterte nicht, auch war er bei
einiger Aufmerksamkeit recht wohl imstande, jeden Laut richtig zu bilden,
selbst die Lautverbindungen (Konsonantenhäufungen) verursachten ihm keine
Schwierigkeit. Trotzdem sprach er im allgemeinen so schlecht, daß ihn die
Angehörigen nur schwer und Fremde überhaupt nicht verstanden. So z. B.
lauteten in seinen Gebeten die Worte des Kreuzzeichens »Imnamdevaso-
heigeisam«. Diese schlechte Sprechweise war das Produkt verschiedener
Ursachen. Zunächst stand er in seiner allgemeinen Sprachentwicklung
noch auf sehr niedriger Stufe, er redete nur in Worten und hatte für
Satzbildung nicht das geringste Gefühl. Sodann sprach er in unruhiger,
sich beständig überstürzender Hast, wobei er nicht nur alle Nachsilben,
sondern auch wesentliche Wortteile verschluckte. Mit dieser aufgeregten
Eile verband sich dann noch eine hochgradige Trägheit und Bequemlich-
keit im Artikulieren, der die Deutlichkeit fast aller Konsonanten zum
Opfer fiel. Ferner besaß er eine sehr mangelhafte Atemtechnik; er war
nicht imstande, auf Befehl tief Atem zu holen und nach einem angegebenen
Rhythmus regelmäßig zu atmen, noch viel weniger vermochte er beim
Ausatmen den Luftstrom willkürlich zu regulieren. Noch heute nach viel-
fachen Übungen ist O. unfähig, einen Vokal länger als 2—3 Sekunden
zu dehnen. Deshalb ist ihm auch das Singen eine völlig fremde Kunst.
Beim Lesen, im Unterricht, überhaupt wenn er auf Fragen antworten soll,
spricht O. sehr leise, im Fisteltone piepsend. Kräftige Brusttöne hört man
bei ihm nur, wenn er aus eigenem Antriebe spricht und namentlich wenn
er sich im Zustande unlustvoller oder lustvoller Erregung befindet. Im
letzteren Falle (namentlich bei freudiger Erregung) pflegt dann seine Stimme
aber sofort in solch unartikulierte Töne umzuschlagen, daß Fremde nicht
selten darüber erschrecken. Sein Lachen gleicht einem rohen Gröhlen; es
fehlen dabei völlig die charakteristischen intermittierenden Exspirationsstöße.
Bei dieser Sachlage war es absolut nötig, der sprachlichen Entwick-
lung O.s besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Er mußte vor allem zu
einem langsamen, ruhigen, scharfartikulierten Sprechen erzogen werden.
Nun wäre es das Nächstliegende gewesen, die Sprechübungen organisch
mit dem gesamten Unterricht, insbesondere mit den sachunterrichtlichen
726 B. Mitteilungen.
Disziplinen zu verbinden. Allein wie bereits angedeutet wurde, hatten
diese immanenten Sprechübungen nur den einen Erfolg, daß sie die an
sich schon sehr starke Lernunlust O.s noch mehr steigerten und den BeJ
mühungen, das Interesse des Jungen für die zur Behandlung stehenden
Sachen zu gewinnen, direkt entgegenwirkten. Es blieb also nichts anderes
übrig, als mit O. separate, vom übrigen Sachunterricht losgetrennte
Übungen anzustellen mit dem ausschließlichen Zweck der sprachlichen
Vervollkommnung. In Anbetracht des rein formalen Zweckes dieser
Übungen war auch die Auswahl des Übungsstoffes an keinerlei sachliche
Rücksichten gebunden, d. h. der Junge sollte einfach sprechen, was er
wollte, wozu ihn sein augenblickliches Interesse gerade trieb, einerlei ob
er dabei in oberflächlicher Weise von Gegenstand zu Gegenstand sprang
oder in gedankenarmen Wiederholungen ein Lieblingsthema zu Tode redete
oder sich in seichten Schwätzereien über allerhand Neuigkeiten erging oder
in Dutzenden von Fragen seine Neugierde zu befriedigen trachtete. Wenn
er nur redete, auf das Was kam es in diesem Falle nicht an. Je mächtiger
der Sprachtrieb ist und je zwangloser er sich seinem Inhalte nach ent-
falten kann, desto eher erträgt er die Belastung formaler Korrekturen, ohne
dadurch gehemmt oder gar zurückgedrängt zu werden.
Tatsächlich besitzt O. auch ein sehr starkes Bedürfnis zum Sprechen.
Nach jedem Erlebnis, sei es nun von außerordentlicher oder höchst all-
täglicher Bedeutung, drängt es ihn, seiner Mutter darüber ausführlichen
Bericht zu erstatten. O. erlebt und erfährt nichts, aber auch buchstäblich
nichts, von dem seine Mutter durch ihn nicht Kenntnis erhält. Dieser
Mitteilungstrieb ist so stark, daß O. nicht selten abends 1—2 Stunden
wach im Bette liegen bleibt, nur um der später heimkehrenden Mutter
seine neuesten Erfahrungen oder Erlebnisse noch vor dem Einschlafen
mitteilen zu können. Genau so verhält er sich gegenüber anderen Personen
seiner Umgebung, sofern sein Unterhaltungsbedürfnis und seine Neuigkeits-
sucht bei diesen Entgegenkommen findet. Auf Spaziergängen setzen sich
seine Wahrnehmungen unmittelbar in sprachliche Äußerungen um, noch
häufiger aber spricht er von dem, was ihn innerlich beschäftigt. Seine
Gedanken zurückzuhalten oder zu verbergen ist ihm unmöglich, sein augen-
blicklicher Bewußtseinsinhalt drängt sich ihm unwillkürlich auf die Zunge,
namentlich wenn dieser von starken gemütlichen Erregungen getragen ist,
was bei O.s leicht beeinflußbarer, stabiler Gefühlslage sehr häufig zutrifft.
Die leichte Erregbarkeit seiner sprachmotorischen Gehirnpartien tritt nament-
lich auch in der starken Neigung zu lauten und lebhaften Selbstgesprächen
zutage. Also an Redelust fehlt es O. nicht; aber der Versuch, diese
Redelust vor den Wagen des Sprechunterrichtes zu spannen, schlug
völlig fehl.
Wenn O. von einer Vorstellung sehr stark ergriffen war und er dann
seinem Rededrang zwanglos die Zügel schießen lassen durfte, so stürzten
ihm die Worte mit einer Hast und Leidenschaft über die Lippen, daß
es kaum möglich war, ihm zu folgen. Da gab es keine Ruhepause, un-
aufhaltsam jagte der Wortschwall dahin, und nur rücksichtsloses, energi-
sches Eingreifen brachte ihn zum Stillstand. Suchte man aber einen Satz
2. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen. 727
zur Übung herauszugreifen, so war O.s forteilende Aufmerksamkeit längst
bei einer anderen Gedankenstation angekommen, und das, was er jetzt
langsam und deutlich wiederholen sollte, besaß sein Interesse überhaupt
nicht mehr, er sprach die Worte gedankenlos und ohne innere Anteilnahme
nach, ihn erfüllte nur der eine Wunsch, von diesem Satze los und zu
einem andern zu kommen.
Eine nicht viel günstigere Situation ergab sich beim Anschluß der
Sprechübungen an solche Themen, die O. weniger lebhaft zum Reden
reizten, z. B. wenn er vom Zimmer aus dem vorbeiflutenden Straßenverkehr
zusah und durch seine Beobachtungen zu kurzen Bemerkungen, Fragen
u. dergl. veranlaßt wurde. Wohl litten diese Unterhaltungen infolge ihres
emotionell indifferenteren Inhaltes weniger unter der unruhigen Hast des
vorhin geschilderten Rededranges, dafür aber reichte hier die Lust zum
Reden bei weitem nicht aus, um die aus der Tätigkeit des Übens ent-
springenden Unlustgefühle zu überwinden. Mit andern Worten: O. besaß
wohl den Trieb, den seine Aufmerksamkeit erregenden Wahrnehmungen
sprachlichen Ausdruck zu geben, aber er hatte gar kein Interesse daran,
seine Außerungen in eine sprachlich einwandfreie Form zu bringen, und
wurde er doch dazu veranlaßt, so tat er das mit sichtlichem Widerstreben,
und im übrigen hörte er sofort auf, aus eigenem Antriebe zu reden.
Unter diesen Umständen blieb auch im Sprechunterricht nichts anderes
übrig, als sich prinzipiell auf den Standpunkt der Imperativ-Pädagogik zu
stellen, d. h. mit dem Jungen Sprachstoffe, deren Inhalt seinem Gedanken-
kreise nahe lagen, einfach systematisch und mit zäher Konsequenz zu üben,
ohne sich durch die Äußerungen [seiner Unlust darin beirren zu lassen.
Dabei wurde mit ganz einfachen Schulsätzchen (Das ist ein Tisch. Der
Tisch ist aus Holz. Er hat vier Beine. Er kommt vom Schreiner usw.)
der Anfang gemacht. Obgleich nun der gleichgültige Inhalt dieser Sätzchen
O.s starkem Bedürfnis nach interessanten Unterhaltungsstoffen direkt ent-
gegenstand, riefen diese Übungen doch nur relativ geringe Unlustgefühle
bei ihm hervor. Die angedeuteten Sätzchen bereiteten ihm nämlich sprach-
technisch weit geringere Schwierigkeiten als die komplizierteren, aus der
lebendigen Umgangssprache stammenden Satzformen. (Morgen hat die
Mutter Kaffeekränzchen. Sie hat viele Damen eingeladen. Auch die Tante
M. wird kommen.) Seine sprachliche Ungeschicklichkeit kam ihm dabei
weniger scharf zum Bewußtsein. Es stellten sich ganz leise die lustvollen
Gefühle des gelingenden Könnens ein. Im übrigen übte aber auch hier
in erster Linie die Macht der Gewöhnung ihren unlustmindernden Ein-
fluß aus.
Selbstverständlich war auch von Anfang an nicht versäumt worden,
mit O. systematische Atemübungen anzustellen. Diesen ließ sich ein
spontanes Interesse O.s als Triebkraft überhaupt nicht vorspannen. Hier
mußte einfach direkt an O.s guten Willen appelliert werden; aber das war
ja bei allen Unterrichtsversuchen der wunde Punkt. Tatsächlich ging O.
nur mit Widerstreben auf diese Übungen ein, und zu jeder Teilmanipulation
mußte er direkt gezwungen werden. Daran änderten auch nichts die Be-
mühungen, die Atemübungen mit spielerischen Beschäftigungen (Fortblasen
728 B. Mitteilungen.
von Papierschnitzeln usw.), mit turnerischen Bewegungen (Armheben usw.)
oder mit dem Marschtempo beim Spazierengehen zu verbinden. Nur
konsequentes Wiederholen der Übungen vermochte den Lernwiderstand
wenigstens etwas zu mindern. Dabei war der praktische Erfolg recht
gering.
Nachdem O. soweit gefördert war, daß er Aufforderungen zu sprach-
lichen Korrekturen einigermaßen selbständig und ohne allzuviel Aufenthalt
nachkommen konnte, wurde der systematische Sprechunterricht eingestellt,
Die Sprechübungen bildeten von da ab einen integrierenden Bestandteil aller
Unterrichtsdisziplinen, auch wurden sie in die zwanglosen Unterhaltungen
eingestreut. Bei jeder Gelegenheit wird O. dazu veranlaßt, langsam zu
sprechen, seine spontanen Äußerungen deutlich (energisch) zu artikulieren
und in grammatikalisch richtige Form zu bringen. Dieses fortwährende
Kritisieren und Korrigieren wirkt freilich auf Zögling wie Erzieher außer-
ordentlich ermüdend. Daß O.s Sprechfreudigkeit dadurch gehoben wurde,
läßt sich keineswegs behaupten. Gewöhnlich stoppt O. seinen Rededrang
in dem Moment, in dem das Gespenst des Korrigierenmüssens in Sicht ist.
Die Resultate der Sprechübungen blieben nicht aus, sie entsprachen aber
auch nicht der aufgewandten Mühe. Schuld daran ist einerseits die Tat-
sache, daß O.s sprachliche Zurückgebliebenheit hauptsächlich die Folge
seiner hochgradigen intellektuellen Schwäche und seiner krankhaften Energie-
losigkeit ist,!) und andrerseits der Umstand, daß O. in seinem Verkehre
außer von seinem Erzieher von niemand zu ruhigem, deutlichem Sprechen
angehalten wird.
Im Lesen war der Junge trotz des jahrelangen Unterrichtes noch
sehr weit zurück. Zwar hatte er die Fibelstufe bereits mehrmals absolviert,
aber er war nicht imstande, das allereinfachste und leichteste Lesestückchen
ohne vielfache Fehler und fortwährendes Stocken vom Blatt zu lesen. Nur
mit Mühe und Not quälte er sich mehr ratend als lesend durch den Lese-
stoff durch, nicht einmal alle Buchstaben karnte er mit absoluter Sicherheit.
Eigentlich hätte der Leseunterricht wieder mit den ersten Fibelübungen
beginnen müssen. Allein wäre dadurch O.s Unlust am Lesen nicht nur
noch mehr gesteigert worden? Gerade das sollte aber in erster Linie
vermieden werden. Aus diesem Grunde wurde von einer Generalrepetition
Abstand genommen, dafür aber wurde prinzipiell darnach gestrebt, dem
Jungen nur solchen Lesestoff vorzulegen, dessen Inhalt seiner momentanen
Gedankenrichtung entsprach. Dies schloß die Benutzung einer Fibel bezw.
eines Lesebuchs von vornherein aus. Denn auch die elementarsten Lese-
1) Diese Trägheit zeigt sich namentlich beim Artikulieren der harten Mitlaute
t, k, p. O. ist sehr wohl imstande, diese scharf und deutlich auszusprechen, aber
man hat endlose Mühe, ihn zur Hervorbringung eines energischen Luftstoßes
zu bewegen. Hierher gehört auch die eigenartige Tatsache, daß O. nach jeder Mahl-
zeit die letzten feinen Speisereste im Munde behält, bis sie von selbst verschwunden
sind. Entweder kommt ihm nicht zum Bewußtsein, daß sein Mund noch nicht rein
ist, oder er empfindet es wohl, aber es stört ihn nicht, oder aber er ist zu träg
und bequem, um die letzten Schluckbewegungen auszuführen.
2. Über das Interesse eines schwachbegabten Jungen. 729
bücher brachten nur sehr wenig Stoffe, für die O. sich interessierte, und
wenn sie solche brachten, so waren sie meist in einer Form abgefaßt, die
entweder O.s Denken und Fühlen völlig fremd war oder die seine Sprach-
fähigkeit überstieg. Deshalb wurden mit Hilfe eines speziell zu diesem
Zwecke konstruierten Leseapparates für O. extra Lesestückchen zusammen-
gesetzt, deren Inhalt aus seinem jeweiligen Interessenkreis geschöpft war
und deren sprachliche Form sich seiner Denk- und Ausdrucksweise eng
anschloß. Allein der erwartete Erfolg blieb aus. Hatte O. die Lesestücke
selbst miterarbeitet — und aus pädagogischen Gründen mußte er bei der
sprachlichen Formulierung der Lesestückchen und ihrer schriftlichen Fixie-
rung am Leseapparat häufig selbsttätig mithelfen —, so war ihm ja deren
Inhalt von Anfang an bekannt und dementsprechend übten sie, sobald es
ans regelrechte Leseüben ging, auf seine Aufmerksamkeit keine Anziehungs-
kraft mehr aus. Wurden ihm aber fertige Lesestückchen vorgelegt, so
war das etwa vorhandene sachliche Interesse mit dem erstmaligen Lesen
befriedigt und jede Wiederholung erfolgte unter den Zeichen der Unlust
und des Widerstrebens.
Nur einmal gelang es eine Zeitlang, O. spontan für das Lesen zu
erwärmen, so daß er tatsächlich aus eigenem Antriebe las. Es wurden
ihm nämlich alle bevorstehenden Vergnügungen (Ausflüge, Familienessen,
Besuch von Konzerten, von Theateraufführungen u. dergl.) nicht, wie ge-
wöhnlich üblich, mündlich angekündet, sondern in seinem Schreibheft oder
am Leseapparat mit ein paar kurzen einfachen Sätzchen schriftlich mit-
geteilt. Dieser Trick wirkte, und dies sogar derart, daß O. jeden Morgen
immer zuerst etwas »lesen« wollte. Als aber zum Zweck einer mannig-
faltigeren und ausgiebigeren Gestaltung des Lesestoffes die »Mitteilungen«
etwas weitschweifiger angelegt und auch Wendungen eingeschmuggelt
wurden, die mit den anzukündenden Vergnügungen nur in nebensächlichem
Zusammenhange standen, da ließ auch sofort der Leseeifer nach. Das,
worauf es O. allein ankam, war gewöhnlich mit ein paar Stichworten ge-
sagt, und diese entscheidenden Worte fand er regelmäßig mit einigen
wenigen Blicken heraus, worauf alles andere für ihn gleichgültig war.
Was über diese Worte hinausging, wollte er nicht wissen und darum
auch nicht lesen.
Also auch im Leseunterricht gelang es nicht, O.s Sachinteresse me-
thodisch nutzbar zu machen. Wie überall, so blieb auch hier als letztes
Mittel: Rein zwangmäßige konsequente Übung. War man aber einmal auf
diesem Punkte angelangt, dann lagen auch einem nochmaligen Zurück-
gehen auf die Abc-Stufe keine Bedenken mehr im Wege. Tatsächlich
erwies sich diese Maßnahme in der Folge als durchaus zweckmäßig. Je
konsequenter und rationeller mit O. jetzt von Grund auf geübt wurde,
desto weniger empfand er einerseits den bitteren Geschmack des Muß und
desto mehr wuchs andererseits seine Lesefertigkeit. Damit verminderten
sich aber auch die aus dem Bewußtsein des Nichtkönnens entspringenden
Gefühle der Unlust.
Zu einem völligen Verschwinden der Abneigung O.s gegen unter-
richtliche Leseübungen ist es aber bis heute nicht gekommen, obwohl, was
730 B. Mitteilungen.
kaum gesagt zu werden braucht, mit der langsam zunehmenden Lese-
fertigkeit auch das Prinzip der Berücksichtigung des persönlichen Sach-
interesses wieder mehr und mehr in sein Recht trat. Am liebsten ist es
O., wenn er überhaupt nicht zu lesen braucht: und wenn er einmal vor
diese Aufgabe gestellt wird, dann ist er redlich bemüht, sich in der
raschesten und bequemsten Weise aus der Affäre zu ziehen. Die idealste
Lektüre für ihn sind die auf den Tagesblättern seines Abreißkalenders
abgedruckten Küchenzettel. Dieser Lesestoff besitzt in seinen Augen drei
große Vorzüge: 1. sehr interessanter Inhalt, 2. keine langstieligen Sätze,
sondern nur Worte, die sich zudem häufig wiederholen und darum leicht
erraten werden können und 3. quantitative Kürze. Tatsächlich wird der
tägliche Küchenzettel jeden Morgen im Anschluß an die oben erwähnten
Kalenderübungen gelesen, und es kommt sogar vor, daß O. an ihn erinnert,
wenn ihm zufällig einmal droht, übergangen zu werden.
Nicht ganz so begehrenswert wie die Küchenzettellektüre aber doch
auch noch interessant erscheinen O. die an die Kalendernamen sich an-
schließenden Leseexerzitien. O. ist immer gespannt auf Namenstage. Da
er eine große Verwandtschaft besitzt und außerdem auch noch eine große
Anzahl von Brüdern in einem Kloster kennt, hat er fast jede Woche ein-
mal Gelegenheit, sich darüber zu freuen, daß jemand aus seiner Bekannt-
schaft Namenstag feiert. Deshalb entsprach es völlig seinem Interesse,
als auch die Tagesnamen in den Kreis seiner Leseübungen gezogen wurden.
Hier ist nun allerdings das Raten auf Grund geläufiger Wortbildervor-
stellungen vollständig ausgeschlossen. Da führt nur der Weg des Buch-
stabierens zum Ziel. Das ist zwar wenig nach O.s Geschmack, aber es
erhöht ganz wesentlich den Übungseffekt. Auch ist die Freude immer
recht groß, wenn sich als Resultat des Buchstabierens schließlich ein be-
kannter Name ergibt. Nebenbei bemerkt wurde O. hauptsächlich auf diese
Weise, d. h. also an Hand des Kalenders, ganz allmählich mit der lateini-
schen Druckschrift bekannt gemacht. (Forts. folgt.)
3. Der Lesetext als Kontrolle beim Lesevorgang.
Den Ausführungen des Herrn Kurt Tucholsky Ems unter der gleich-
namigen Überschrift in Heft 9/10, S. 613, dieser Zeitschrift erlaube ich mir einige
Bemerkungen hinzuzufügen.
Jeder Lehrer weiß, daß die Schüler beim Lesen eines zusammenhängenden
Stückes die Wörter fast nie Buchstabe an Buchstabe reihend lesen. Entweder lesen
sie nur ein Stück und ergänzen das andere durch die Phantasie, oder sie lesen ein
Wort überhaupt nicht, sondern erraten seine Bedeutung aus dem Zusammenhang.
Herr Tucholsky schlägt nun für den Leseunterricht Geschichten vor, deren Sprache
ältere und mithin außergewöhnliche, nicht erratbare Formen aufweist, die äber den
Kindern noch verständlich ist. Der übliche Lesestoff in der Volksschule weist aber
noch in anderer Hinsicht Worte auf, bei denen die Kinder einen Buchstaben lesend
an den andern reihen müssen. Zwischen »unsre« und »unsere« kann z. B. nur der
unterscheiden, der »die Augen aufsperrt«.
Fast jedes Lesebuch enthält Dichtungen in der Mundart. Diese sind — be-
sonders wenn die Mundart den Kindern fremd ist — ein treffliches Mittel, die zu
entlarven, die raten und nicht lesen. Zugleich wird durch solche Lektüre die Lese-
fertigkeit bedeutend gesteigert. Am wertvollsten ist das erstmalige Lesen, auch
4. Die jugendlichen Kriminellen 1912. 731
wenn es nur ein Zusammenstoppeln ist. Deshalb sollte der mustergültige Vortrag
der betreffenden Dichtung durch den Lehrer nicht am Anfang der Stunde erfolgen,
weil sich mancher Schüler den Klang einzelner Worte merkt und dann beim Lesen
das Klangbild mit Hilfe seines akustischen Gedächtnisses und nicht an der Hand des
Buchstabenbildes hervorruft.
Im erdkundlichen Unterricht darf der Lehrer keinen Namen sagen, den die
Schüler nicht von ihrer Handkarte ablesen können, *) während es sich in Geschichte,
Naturkunde und Formenlehre empfiehlt, die neu auftretenden Namen an die Wand-
tafel zu schreiben und dann von den Kindern lesen zu lassen. Verse, die ver-
schiedene für die betreffende biblische Geschichte nicht unbedingt nötige Namen
enthalten, werden beim Bibellesen gern übersprungen. Ich denke z. B. an Lukas III,
1 u. 2: »In dem fünfzehnten Jahr des Kaisertums Kaiser Tiberias, da Pontius Pilatus
Landpfleger in Judäa war, und Herodes ein Vierfürst in Galiläa, und sein Bruder
Philippus ein Vierfürst in Ituräa und in der Gegend Trachonitis, und Lysanias ein
Vierfürst zu Abilene, da Hannas und Kaiphas Hohepriester waren: da geschah der
Befehl Gottes zu Johannes, des Zacharias Sohn, in der Wüste.«e Wird dadurch,
daß Kinder, die sonst fließend lesen, an einzelnen Namen hängen bleiben, die Stunde
gestört, so ist das der beste Beweis dafür, daß sie nur ratend lesen.
Im Mittelalter lernten die Kinder das Lesen an Büchern in lateinischer Sprache.
Von dem, was sie lasen, verstanden sie natürlich kein Wort. Infolgedessen waren
sie darauf angewiesen, im wahren Sinne des Wortes die Buchstaben zusammen-
zulesen. Bei uns ist die Erlangung der Lesefertigkeit nur Mittel zum Zweck; die
Kinder sollen in den Inhalt des Gelesenen eindringen. Zur Steigerung der Lese-
fertigkeit und zur Kontrolle, ob die Kinder nicht etwa nur halb raten, dienen außer
den oben erwähnten zufälligen gewisse systematische Übungen, die ich, da durch sie
auch die orthographische Bildung der Schüler gefördert wird, Rechtschreib - Lese-
übungen nennen will. Folgende, sehr häufige Mängel, die ihren Grund in der un-
genügenden Erfassung eines Wortbildes durch Auge und Ohr haben, werden durch
sie wirksam bekämpft:
1. Wiedergabe der Laute in falscher Reihenfolge, 2. Weglassen von Buch-
staben, 3. Verwechslung ähnlich klingender Laute, 4. Unklarheit über Länge und
Kürze der Selbstlaute.
Schreibt ein Junge im 2. Schuljahr »Merkle« aufs Heft und denkt, es heiße
»Merkel«, so läßt man ihn und andere, die ähnliche Fehler machen, Silben wie kel,
lek, kle, elk lesen oder nach Diktat ins Tagebuch schreiben. Solche Übungen kann
man im Anschluß an ein falsch gelesenes Wort oder bei der Rückgabe der guten
Arbeiten anstellen. Wer einen Fehler hat, muß das falsch geschriebene Wort so lesen,
wie er es geschrieben hat. Man kann auch fragen: Straße. Wie heißt es, wenn
man das t, das r, das e vergißt; ss schreibt; r und a umstellt?
Doch erübrigt sich ein weiteres Eingehen hierauf; denn das sind alte päda-
gogische Hausmittel, die — wenn sie gegenwärtig auch etwas in Mißkredit stehen —
ihre Wirkung doch nicht verfehlen.
Chemnitz. Fritz Müller.
4. Die jugendlichen Kriminellen 1912.
Unter den im Jahre 1912 verurteilten 581185 Personen standen 54958 im
Alter von 12 bis unter 18 Jahren. Über die Hälfte der jugendlichen Ver-
urteilten, nämlich 29166, wurden wegen Diebstahls bestraft.
Wir entnehmen dem neuen Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich,
herausgegeben vom Kaiserlichen Statistischen Amt, Jg. 35, 1914 (Berlin, Putt-
kammer & Mühlbrecht, 1914) folgende Zahlen (S. 331):
1) Wie sich auch bei einem einzelnen Namen das ratende Lesen einschleichen
kann, habe ich erst in dieser Woche erlebt. Ich nannte den bekannten Berg in
den Alpen immer »Finsterahorn«, während er doch »Finsterarhorn« heißt. Vielleicht
ist es manchem Leser ähnlich ergangen!
732 B. Mitteilungen.
Verurteilt wurden wegen
Verbrechen und Vergehen im Alter von 12 bis von 100 Verurteilten
gegen Reichsgesetze unter 18 Jahren waren jugendlich
überhaupt . . « « 54958 95 92
a) gegen Staat, öffentl. Ordnung, Religion . . 2243 22 2,1
b) gegen die Person . . . . 11883 5,3 52
c) gegen das Vermögen . . . . . 40824 16,2 15,7
d) Verbrechen und Vergehen im Amte. . . 8 08 09
1. Gewalt und Drohung gegen Beamte . . 392 2,1 2,0
2. Hausfriedensbruch . . . . re L0B7 45 42
3. Arrestbruch . . u a fs 30 11 05
4. Verletzungen der Eidespflich . Ya 55 AU 46 3,740
5. Unzucht, Notzucht . . aaea 02 18.0 182
6. Beleidigung Ea 16 Er a g ALA 2,1 20
7. Mord und Tötschlag ER, 27 84 47
8. Leichte Körperverletzung . . » .. . 942 40 3,9
9. Gefährliche Körperverletzung . . . » . 6769 70 6,9
10. Nötigung und IE M A 365 2,8 2,7
11. Diebstahl . . £ 60 sat nd 251 2UT6D, 24,7 23,9
12. Unterschlagung . aiaa 2805 91 92
13. Raub und räuberische Erpressung h N 132 19,0 21,0
14. Hehlerei . . . i 28005 LOL 15,5 15,0
15. Betrug . . . . 1810 60 6,4
16. Fälschung öffentlicher usw. Urkunden . . 929 11,7 11,3
17. Sachbeschädigung . . . 2. . . . . 2827 14,2 14,2
18. Brandstiftung . . . reee 114 28,6 36,6
Wir haben nach dem vorjähriget statistischen Jahrbuch die Zahlen der letzten
Kolumne ergänzend zugefügt, um gewisse Vergleichsmöglichkeiten zu bieten: man
ersieht daraus, daß im allgemeinen der Anteil der Jugendlichen an den einzelnen
Verbrechen und Vergehen ziemlich konstant geblieben ist.
Absolut ist die Zahl der jugendlichen verurteilten Kriminellen von 50880 im
Jahre 1911 um 4078 auf 54958 im Jahre 1912 gestiegen. Es haben also diejenigen,
die aus dem Rückgang im Jahre 1911 (1910 betrug die Zahl der jugendlichen Ver-
urteilten 51325) auf weitere Rückgänge der Zahl der jugerdlichen Verbrecher
schließen zu dürfen glaubten, nicht Recht bekommen. Man kann also nicht ohne
weiteres aus dem Einsetzen der staatlichen Jugendpflege ein Abnehmen der jugend-
lichen Verbrecher als notwendig folgern, ebensowenig wie die Fürsorgeerziehung ein
solches Abnehmen unmittelbar nach sich ziehen kann und konnte. Jedenfalls zeigen
auch diese Zahlenreihen wieder, daß es auf dem Gebiete der Jugendfürsorge noch
unermüdlicher und ungeheurer Arbeit bedarf.
Jena. Karl Wilker.
5. Zur Bekämpfung des Kinderhandels
und der Abtreibung
richtete die Schweizerische Vereinigung für Kinder- und Frauenschutz
eine Eingabe an die Presseverleger, der wir folgende beachtenswerte Ausführungen
entnehmen:
»Wir gelangen hiedurch mit dem dringenden Gesuch an Sie, die Inserate von
Hebammen aus Genf und von an die Schweiz grenzenden französischen Ort-
schaften betreffend diskreter Entbindung, hygienischen Rat usw. nicht mehr in
Ihrem geschätzten Blatt aufzunehmen.
Obwohl es eigentlich ein öffentliches Geheimnis ist, was sich hinter diesen
Inseraten verbirgt, so wollen wir doch kurz anführen, was Feststellungen im ab-
gelaufenen Jahre 1913 in Genf und den angrenzenden französischen Ortschaften
selbst ergeben haben. Es gibt in Genf nicht weniger als 74 Hebammen, von denen,
wie gerichtlich festgestellt worden ist, 80°/,, also 60, Pensionärinnen aus der
6. Zeitgeschichtliches. 733
Schweiz, Deutschland und Österreich bei sich aufnehmen und sich mit Abtreibung
der Leibesfrucht befassen — und zwar so, daß häufig die betreffenden Frauen oder
Mädchen schwer erkranken und für lange Zeit krank und siech bleiben. Oft ver-
bringen sie auch ihre Klientinnen zur diskreten Entbindung über die Grenze nach
Frankreich. Diese Hebammen, die oft vorbestraft sind, lassen sich ihre Dienste
teuer — mit 200 bis 1000 Fr. per Fall — bezahlen, so daß das Einkommen jeder
Einzelnen mindestens 20000 bis 30000 Fr. per Jahr beträgt. Einige haben sich
nach wenigen Jahren als Rentnerinnen von ihrem traurigen Gewerbe zurückziehen
können. Eine Statistik über die Zahl der Klientinnen dieser Hebammen existiert
natürlich nicht, schätzungsweise werden aber auf jede 2—3 weibliche Personen per
Woche entfallen. In Annemasse, diesem kleinen Orte in der Nähe Genfs auf fran-
zösischem Boden, befinden sich sieben große Geburtskliniken, wohin die Frauen und
Mädchen von den Genfer Hebammen zu gelegener Zeit verbracht werden. Die hier
geborenen Kinder können gemäß dem Code Napoleon auf der Mairie ohne Nennung
des Namens der Eltern, als von unbekannten Eltern stammend, eingetragen werden
unter einem beliebigen Namen. Dadurch werden und bleiben sie aber französische
Staatsbürger. Außer Annemasse nehmen alle französischen Grenzortschaften Pen-
sionärinnen zur Entbindung auf, bald in eigenen Kliniken, bald in Privathäusern.
Die Entbindungen in den Privatkliniken sind sehr teuer, sie kosten mehrere hundert
Franken. In den Gewinn teilen sich die Genfer Hebammen und die Besitzerinnen
der Kliniken. Die in diesen Grenzorten geborenen und zurückgelassenen Kinder
fallen der öffentlichen Wohltätigkeit zur Last, die sie in Spezialasylen unterbringt;
oder sie werden von den Hebammen oder Klinik-Inhaberinnen bei Privaten versorgt
oder an Liebhaber verschachert. Die kleine Gemeinde Annemasse allein wird durch
diese fremden Kinder jährlich mit 12000 Fr. belastet.
Diese obengenannten Inserate qualifizieren sich also als eine versteckte An-
preisung der Abtreibung und tragen zur Vergrößerung des Frauen- und Kinder-
elends bei. Welch einem traurigen Los gehen doch die in diesen Grenzorten zurück-
gelassenen Kinder entgegen! Vater und Mutter kennen sie nicht, sie werden in der
Welt herumgestoßen. Wenn sie zu grimmigen Hassern der menschlichen Gesell-
schaft, zu Verbrechern werden, wer will es ihnen verargen?
Fort darum mit diesen Inseraten aus jeder Zeitung, die etwas auf sich hält!
Wir appellieren an Ihr Ehr- und Humanifätsgefühl! Sie werden gewiß nicht durch
weitere Aufnahme solcher Inserate indirekt der Unsittlichkeit Vorschub leisten und
das Elend von zahlreichen Frauen und Kindern verschulden wollen. Wir wieder-
holen darum unser Gesuch, Sie möchten bei Verpachtung der Inserate solche Heb-
ammen- und Privatklinik-Inserate vertraglich ausschließen oder sonstwie dafür
sorgen, daß sie für immer verschwinden.« Karl Wilker.
6. Zeitgeschichtliches.
Infolge des unserem deutschen Volke aufgezwungenen Krieges
mußten die meisten angekündigten Kongresse und Versammlungen
aufgeschoben oder aufgehoben werden. Auch zahlreiche Zeitschriften
stellten ihr Erscheinen ganz ein, während andere in vermindertem
Umfang auch während des Krieges weiter erscheinen sollen. Die
Schriftleitung und der Verlag der »Zeitschrift für Kinderforschung«
haben beschlossen, sich dieser letzten Gruppe anzuschließen. Sie bitten
in dieser großen und ernsten Zeit die Leser um Geduld und Nach-
sicht und vor allem um echte deutsche Treue.
Pastor Otto Flügel. einer der verdienstvollsten Herbartianer, dem auch
unsere Zeitschrift verschiedene wertvolle Beiträge verdankt, ist am 13. Juli in Dölau
bei Halle, seinem Ruhesitz, gestorben.
734 B. Mitteilungen.
In Bad Kösen verstarb am 14. September der ehemalige Direktor des Rauhen
Hauses in Hamburg, Johannes Wichern, bekannt als Herausgeber der Werke
seines unvergeßlichen Vaters.
In die Redaktion der Zeitschrift für die Behandlung Schwach-
sinniger (ehemalige Schrötersche Zeitschrift) ist an Stelle des verstorbenen Ober-
regierungsrates Müller mit der Juli-Nummer 1914 der bekannte und verdienstvolle
Direktor der Alsterdorfer Anstalten, Pastor Stritter, eingetreten.
Die Geschäftsstelle der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge
ist nach Berlin N. 24, Monbijouplatz 3/II, verlegt. Die Sprechstunde findet werk-
täglich von 9—1 Uhr statt.
Ein Museum für Säuglingshygiene ist im Kaiserin-Auguste-Viktoria-Haus
zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit in Berlin eingerichtet worden, das in
verschiedenen Abteilungen Belehrungen über das gesamte in Frage kommende Gebiet
ermöglicht.
Eine Reichsanstalt für Mutter- und Säuglingsfürsorge ist anläßlich
des sechzigjährigen Regierungsjubiläums des Kaisers in Wien errichtet. Sie ist
zugleich Lehr- und Pflegeanstalt. Die Pflege erstreckt sich zunächst auf mutter-
lose Säuglinge. Ausgebildet werden Kinderfürsorgerinnen und Berufskinder-
pflegerinnen. Der erste Kursus beginnt am 15. September 1914. Er dauert drei-
viertel Jahre und wird durch eine Prüfung abgeschlossen. Die Kosten betragen
(einschließlich Unterricht, Wohnung und Verpflegung) 900 Kronen. Anmeldungen
sind zu richten an den Kaiser-Jubiläunsfonds für Kinderschutz und Jugendfürsorge,
Wien I, Herrengasse 7.
Ein neues Gewichtsdoppelästhesiometer hat der Leiter des psycho-
logisch-pädagogischen Laboratoriums an der Lehrerakademie in Wien, Dr. Willibald
Kammel, konstruiert. Es soll vor allem für Ermüdungsmessungen an Schülern
dienen. Der Apparat ist mit allem Zubehör zum Preise von 20 Kronen durch
W. J. Rohrbecks Nachfolger in Wien V., Wehrgasse 18, zu beziehen. Eine aus-
führliche Beschreibung usw. wird unter dem Titel »Eine neue Methode der Be-
stimmung der Ermüdbarkeit mittels eines neuen Gewichtsdoppelästhesiometers« zum
Preise von 0,50 Kronen abgegeben.
Die Jahresversammlung der Deutschen Gesellschaft zur Be-
kämpfung der Geschlechtskrankheiten, die vom 19.—21. Juni 1914 in
Leipzig stattfand, nahm einstimmig folgende Resolution an: »Die deutsche Ge-
sellschaft zur Bekämpfung der Geschleehtskrankheiten möge die Herren Kultus-
minister ersuchen, sämtliche Schulbehörden zu beauftragen, alle Knaben und ins-
besondere Mädchen, die schon während der Schulzeit durch Liederlichkeit, Herum-
treiben, sexuelle Frühreife und Exzesse sich auffällig bemerkbar machen, den
zuständigen Behörden. Jugendpflege- und Jugendfürsorgevereinigungen spätestens
bei der Schulentlassung zu melden, um diese in den Stand zu setzen, diesen be-
sonders gefährdeten Personen ihre besondere Aufmerksamkeit zu schenken, sie zu
überwachen und für sie zu sorgen.«
Im preußischen Abgeordnetenhaus wie auch im Herrenhaus kam im Mai 1914
die Sexualpädagogik zur Erörterung. In ersterem forderte Dr. Münsterberg
die Einrichtung sexualpädagogischen Unterrichts an den Universitäten und Lehrer-
seminaren, in letzterem dehnte Freiherr von Bissing diese Forderung noch aus
auf die Einrichtung besonderer sexualpädagogischer Fortbildungskurse für Lehrer.
Professor von Grubers Schrift über »Ursachen und Bekämpfung des
Geburtenrückgangs im Deutschen Reiche liegt jetzt in zwei Ausgaben vor.
Die große Ausgabe (A) mit Leitsätzen kostet geheftet 2 Mark, gebunden 3 Mark,
die kleine Ausgabe (B: Sonderdruck aus der Münch. Med. Wochenschrift) kostet
geheftet 1,20 Mark, gebunden 2 Mark. Erschienen sind beide Ausgaben in J. F. Leh-
manns Verlag in München. Es sei nachdrücklich auf die bedeutsame Schrift hin-
gewiesen.
Eine Zusammenstellung der Gesetze und Erlasse, die die Eheschließung
und Ehescheidung Schwachsinniger, Epileptischer und Geisteskranker, die Sterili-
sierung und die Absonderung in besonderen Anstalten in den Vereinigten Staaten
4. Zeitgeschichtliches. 735
von Nordamerika betreffen, erschien als Nr. 82 des Bulletin of the University of
Washington im Mai 1914 bei The Bailey and Babette Gatzert Foundation for Child
Welfare. Das 88 Seiten starke Heft wurde herausgegeben von Stevenson Smith,
Madge W. Wilkinson und Lovisa C. Wagoner. Es geht daraus u. a. hervor, daß
Sterilisierung für 12 Staaten erlaubt ist. Die Übersicht ist außerordentlich interessant
und bietet ein erfreuliches Bild von der eugenischen Arbeit jenseits des Ozeans.
Die Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge (Berlin C. 19, Wall-
straße 89/II) lädt au ihrer diesjährigen Versammlung auf den 18. und 19. September
1914 nach Altona ein. Zur Verhandlung steht Die Fürsorge für ortsfremde und
wandeınde Jugendliche. Als Berichterstatter sind bisher gewonnen: Dr. Köhne-Berlin;
Dr. Polligkeit-Frankfurt; Fräulein Dr. Baum- Düsseldorf; Dr. Recke-Breslau; Dr.
Müller-Hamburg; Fräulein Pappenheim-Frankfurt.
Die XV. Konferenz des Vereins für Erziehung, Unterricht und
Pflege Geistesschwacher findet vom 21.—24. September in Stuttgart statt.
Es sind folgende Vorträge angekündigt: Dr. Schott-Stetten, Über mongoloide Idiotie
mit besonderer Berücksichtigung der Schulfähigkeit; Lehrer Ziegler-Köln, Die Auf-
merksamkeit Geistesschwacher im Lichte der modernen Psychologie; Anstaltslehrer
Gürtler- Chemnitz- Altendorf, Die Methode im Gesinnungsunterricht bei Geistes-
schwachen nach den Grundsätzen der modernen Psychologie; Pastor Broistedt-
Neuerkerode, Die Grundsätze der Arbeitsschule in Anwendung auf den ersten Lese-
unterricht; Anstaltslehrer Fritz-Stetten, Untersuchungen nach Binet-Simon an epi-
leptischen und schwachsinnigen Anstaltsschülern; Dr. Clemenz-Alsterdorf, Die
Prognose der einzelnen Schwachsinnsformen; Hilfsschullehrer Hennig-Leipzig, Ortho-
re und Hilfsschule bezw. Anstaltsschule für Schwachsinnige; Oberlehrer Thumm-
tetten, Die Entwicklung der Schwachsinnigenfürsorge in Württemberg. In einem
öffentlichen Abendvortrag spricht Pastor Stritter-Alsterdorf über Leben und Treiben
in einer Schwachsinnigenanstalt. — Besichtigt werden: die Gesundheitsausstellung
in Stuttgart, die Anstalt Schloß Stetten i. R., die Heilanstalt Mariaberg bei Reut-
lingen. Das Programm ist also außerordentlich reichhaltig. Preis der Teilnehmer-
karte für Vereinsmitglieder 2 Mark, für Nichtmitglieder 3 Mark.
Auf dem internationalen Kongreß für Sexualforschung in Berlin
(31. Oktober bis 2. November 1914) werden u. a. sprechen: Rektor Ufer-Elberfeld
über Spiele als Ausdruck des geschlechtlichen Seelenlebens; Professor Dessoir-Berlin
über Pubertät und sexuelle Aufklärung; Professor Doell-Passau über den Anteil von
Haus und Schule am sexuellen Entwicklungsgang; Jugendrichter Landsberg-Lennep
über sexuelle Verwahrlosung von Jugendlichen und ihre Behandlung; Lehrer Lorentz-
Berlin über Sexualhygiene und Schulgesundheitspflege; Dr. Moses-Mannheim über
die Wertung von Sexualdelikten im Kindesalter; Dr. Rosenberg-Czernowitz über
Masturbation und Erziehung. Professor Dück-Innsbruck wird die Tatsachengrund-
lage zu einer Sexualpädagogik geben. Alle Anfragen und Anmeldungen sind zu
richten an Dr. Max Marcuse, Berlin W. 35, Lützowstraße 85.
Der IV. deutsche Jugendgerichtstag soll in der Zeit vom 15. März bis
15. April 1915 in Berlin stattfinden. Die Verhandlungen sollen sich außer mit den
eigentlichen jugendgerichtlichen Fragen vor allem mit der Jugendgerichtshilfe
befassen.
Der diesjährige vom Sächsischen Lehrerverein veranstaltete akademische
Ferienkursus findet in der Zeit vom 26. September bis 10. Oktober statt. Die
Teilnahme steht allen Lehrern und Lehrerinnen ohne Unterschied der Staatszugehörig-
keit und Konfession, ausnahmsweise auch Angehörigen anderer Berufe, frei. Von
Sonnabend, den 26., bis Dienstag, den 29. September, ist für die Teilnehmer am
Ferienkursus der Besuch des IV. Internationalen Kongresses für Volkserziehung und
Volksbildung, der in der Zeit vom 25.—29. September in Leipzig abgehalten wird,
als 1. Punkt des Programms vorgesehen. Ferner werden folgende Übungen und
Vorlesungen abgehälten: 2. Psychologische Übungen. Privatdozent Dr. Brahn,
Lehrer Rud. Schulze und P. Schlager: Einführung in das psychologische Experi-
mentieren. Institut des Leipziger Lehrervereins für experimentelle Pädagogik und
Psychologie, Kramerstr. 4, II. 18 Stunden. 3. Die Altersstufen des Kindes. (Quer-
schnitte durch sein Seelenleben in Anknüpfung an einige psychologische Haupt-
736 B. Mitteilungen.
probleme.) Prof. Dr. Spranger. 8 Stunden. 4. Ziele und Wege der staatsbürger-
lichen Erziehung. Prof. Dr. Barth. 8 Stunden. 5. Friedrich Nietzsche. Privat-
dozent Dr. Brahn. 7 Stunden. 6. Die politischen Parteien, insbesondere Deutsch-
lands. Geh. Hufrat Prof. Dr. Brandenburg. 10 Stunden. 7. Deutsche Dramatiker
des neunzehnten Jahrhunderts. Prof. Dr. Witkowski. 10 Stunden. 8. Bau und
Entwicklung der Insekten. Mit Demonstrationen. Dr. Steche. Zoologisches Institut,
Talstr. 33. 10 Stunden. 9. Wichtige Fragen der Schulgesundheitspflege. Mit
Demonstrationen. Prof. Dr. Selter. Hygienisches Institut, Liebigstr. 34. 10 Stunden.
Das Honorar für sämtliche Vorlesungen und die Teilnahme am IV. Internationalen
Kongreß beträgt 20 Mark, für sämtliche Vorlesungen, die Teilnahme am IV. Inter-
nationalen Kongreß und die psychologischen Übungen (Nr.2 des Programms) 32 Mark,
einschließlich der Gebühren für Teilnehmerkarte und Besuchsbescheinigung. Einzelne
Vorlesungen und Übungen, sowie nur die Teilnahme am IV. Internationalen Kongreß
können auch belegt werden. Der Preis für die 10- und 8stündige Vorlesung be-
trägt 6, für die 7 stündige 5 Mark, für die psychologischen Übungen allein 12 Mark
und für die Teilnahme am Kongreß allein 3 Mark. Gebühren für Teilnehmerkarte
und Besuchsbescheinigung 4 Mark. Wohnungen werden den Teilnehmern in Leipzig
nachgewiesen. Nähere Auskunft und ausführliche Programme sind durch Lehrer
Paul Friedemann, den Vorsitzenden des Ausschusses für akademische Ferien-
kurse, Leipzig, Bayersche Str. 77 III, zu erhalten.
Über den Verlauf der 12. Jugendfürsorgekonferenz der Deutschen Zentrale für
Jugendfürsorge (25. April 1914), auf der über die Psyche der weiblichen
Großstadtjugend gesprochen wurde, berichten die Mitteilungen der Deutschen
Zentrale (Berlin C. 19, Wallstraße 89/2), Jg. IX, Nr. 3 vom 15. Juni 1914, S. 2—3.
Wir weisen auf diesen Bericht besonders hin. Die gleiche Nummer bringt auch
zwei verschiedene Auffassungen über Strafvollzug oder bedingte Begnadigung.
Eine Stimme aus Württemberg richtet sich gegen die zu umfangreiche bedingte
Begnadigung, mit der man in der Berliner Jugendgerichtshilfe aber gute Erfahrungen
gemacht hat.
Stiftungen, Schenkungen usw.: 28000 Mark für ein Kinderheim in
Steinach (vom verstorbenen Herzog Georg II. von Meiningen); 30000 Mark für
die Einrichtung und Unterhaltung eines Mädchenheims in Weißenfels (für die
Pflege der schulentlassenen Mädchen aber auch zur Fürsorge für die weibliche
Schuljugeng).
Ein beachtenswertes Büchlein ist unter dem Titel Schulkinderspeisung
herausgegeben vom Verein Jugendheim e, V. in Charlottenburg, Goethestraße 22,
im Verlag von Carl Habel (Berlin SW, Wilhelmstraße 33) erschienen. Es sind
Speisezettel, die auf Grund der in Charlottenburg bei einer Speisung von etwa
täglich 800 Kindern gesammelten Erfahrungen bearbeitet sind. Angestrebt ist: große
Abwechslung im Rahmen des geringsten Kostenaufwands. Für die Rohmaterialien
sind durchschnittlich 12 Pfennig für jedes Kind verfügbar. Außer den Preisen sind
jedesmal die Kalorien berechnet. Uns will es scheinen, als ob dem Fleisch eine
vielleicht etwas zu große Bedeutung beigelegt wäre. Im übrigen aber dürfte das
Büchlein allen denen gute Dienste leisten, die sich mit dem Gedanken tragen, Schul-
kinderspeisungen einzuführen, oder die sie bereits durchgeführt haben.
Der 25. Bericht der Anstalt Idstein läßt erkennen, daß Ende 1913 von
250 in der Anstalt untergebrachten Zöglingen 155 = 62°/, die Schule besuchten.
Besonders interessant sind die statistischen Daten über die Entwicklung der Anstalt
in den 25 Jahren ihres Bestehens. Außer den Berichten über die Feier des
25jährigen Bestehens der Anstalt finden wir einen Bericht Dr. Kleins »Über
Krämpfe der Schwachsinnigen im Kindesalter. Benutzt werden konnten für diese
Untersuchung die Krankengeschichten von 547 Kindern, von denen 144 = 25,1%,
in früher Jugend an Krämpfen gelitten hatten (Epilepsie oder epilepsieverdächtige
Erscheinungen sind dabei nicht mitgerechnet). In 61,80, der Fälle wurden Eltern
und Großeltern dieser Kinder als vollkommen gesund bezeichnet. — 20 Seiten Tafeln
ergänzen den Text, indem sie einen Einblick in das Anstaltsleben geben.
Eine neue Sammlung von zwanglosen Abhandlungen aus den Grenz-
gebieten der Pädagogik und Medizin, herausgegeben von Th. Heller- Wien
C. Zeitschriftenschau. 737
und G. Leubuscher-Meiningen, erscheint seit April 1914 im Verlag von Julius
Springer in Berlin. Wir werden auf die einzelnen Arbeiten noch ausführlich in
unseren Besprechungen zurückkommen, wollen aber nicht unterlassen, schon jetzt
an dieser Stelle auf die ganze Sammlung hinzuweisen.
Als Beiheft zur »Zeitschrift für Schulgesundheitspflege«, Jg. 27, Nr. 8 vom
August 1914, erschienen im Umfang von 280 Seiten die Verhandlungen der
XIV. Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Schulgesundheits-
pflege und der VI. Versammlung der Vereinigung der Schulärzte Deutschlands
vom 2. bis 5. Juni 1914 in Stuttgart, im Auftrage der beiden Vorstände heraus-
gegeben von Professor Dr. Selter und Dr. Stephani, mit 21 Abbildungen im
Text. Leipzig und Hamburg, Leopold Voß, 1914. Von besonderem Interesse ist
darin für die Leser unserer Zeitschrift der Vortrag Professor Ziehens über Heil-
erziehungsheime für psychopathische Kinder.
Ein Deutscher Volksparkbund, dessen Geschäftsstelle sich in Berlin-
Steglitz, Humboldtstr. 8, befindet, ist begründet worden, um für die Einrichtung
von Volksparken, die vor allem auch unserer Jugend zugute kommen sollen,
zu werben.
nanninannan
C. Zeitschriftenschau.
Psychopathologie.
Goddard, Henry H., Standard method for giving the Binet test. The Training
School. 10, 2 (April 1913), S. 23—30.
Allgemeingültige Anweisungen für die Untersuchung mit den Binet-Tests.
Goddard, Henry H., The Binet tests and the inexperienced teacher. The Trai-
ning School. X, 1 (March 1913), S. 9—11.
Anschließend an einen Fall, wo die Lehrerin die Tests gebrauchte, ohne bisher
mit ihnen gearbeitet zu haben, und die Resultate der Training School zur Be-
arbeitung überließ, kommt Goddard zu der Ansicht, daß die Tests auch für den
noch Unerfahrenen wertvolle Resultate zeitigen können, wenn auch daran fest-
gehalten werden muß, daß man zur Erlangung zuverlässiger und sauberer Resultate
nicht gut genug geschult sein kann in der Benutzung der Testreihen.
Chotzen, F., Über Intelligenzprüfungen an Kindern nach der Methode von Binet
und Simon. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge.. V, 2 (Februar
1913), S. 33—37.
Referiert über die Grundzüge. Die Größe des Defekts, die auf Schwachsinn
weist, ist bei Kindern verschiedenen Alters verschieden. 44°/, der untersuchten
Hilfsschulkinder im Alter von 8—13 Jahren hatten einen Defekt von 1, bezw,
2 Jahren (bei älteren Kindern). Ein Teil der Kinder gehört sicher nicht in die
Hilfsschule, bei einem Teil wird ihr Aufenthalt in der Hilfsschule sich erklären
lassen durch die Überlegung, daß die Schulfähigkeit nicht allein auf der Intelligenz
beruht, sondern auch auf der nervösen Konstitution und der ganzen psychischen
Leistungsfähigkeit überhaupt. — Die Methode von Binet-Simon ist für Intelligenz-
prüfungen besonders empfehlenswert.
Chotzen, F., Die Intelligenzprüfungsmethode von Binet und Simon und ihre Ver-
wertung für die Schule. Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des
jugendlichen Schwachsinns. 6, 1913, 5/6, S. 401—458.
Zeitschrift für Kinderforschung. 19. Jahrgang. 47
138 C. Zeitschriftenschau.
Beim Vergleich der Testanordnungen von 1908 und 1911 scheint die erste
Anordnung vorteilhafter zu sein. Jedenfalls sollte sich die weitere Ausgestaltung
enger an sie anschließen. Beide Testreihen werden mitgeteilt. Die Anwendung bei
Schwachsinnigen ermöglicht einen tieferen Einblick in die intellektuelle Entwicklung
bei Schwachsinn. Die Streuung (Ausbreitung der falschen und richtigen Lösungen)
ist bei anormalen Kindern größer als bei normalen. Die Anwendung des Tests bei
Schwachsinnigen wird neue Anordnungen angezeigt erscheinen lassen, bei denen vor
allem auf eine Vermehrung des Tests zu sehen ist. — Chotzen gibt seine Über-
sicht über 132 Knaben und 104 Mädchen im Alter von 7 bis 13 Jahren, die er
1910 untersuchte. Die Resultate werden eingehend besprochen. Bei der Be-
rechnung der Intelligenzquotienten für die verschiedenen Schwachsinnsformen er-
gab sich, daß die Quotienten zwar nicht für jede Form konstant sind, wohl aber,
daß sie innerhalb einer gewissen Breite schwanken, die für jede Schwachsinnsform
in der Hauptsache eine andere ist. 44°/, der untersuchten Kinder zeigten einen
Intelligenzrückstand von 1 bezw. 2 Jahren, der nach Binet noch nicht in die Wag-
schale fallen sollte, und waren doch der Hilfsschule überwiesen. Ein großer Teil
von ihnen (62 von 104) war nicht oder nicht sicher als schwachsinnig anzusehen.
Die normalen, aber verwahrlosten Kinder darunter hatten nach Binet-Simon normales
Intelligenzalter. (Die Kopfumfänge zeigen übrigens eine geringe, wenn auch nicht
regelmäßige Abnahme mit wachsendem Intelligenzrückstand.) Durch die Intelligenz-
prüfung wird der Schule die Auswahl der in die Hilfsschule gehörigen Kinder er-
leichtert. Auch werden die Ursachen der Schulunfähigkeit in genügendem Maße
aufgedeckt. Durch Bestimmung des Intelligenzalters erhält der Pädagoge ein gutes
Bild von der Leistungsfähigkeit des Kindes. Auch für forensische Zwecke ist die
Angabe des Intelligenzalters von größerem Werte, als etwa Angaben wie debil usw.
Lode, Artur, Die Intelligenzprüfungsmethode Binet-Simons nebst den wesentlichen
Abänderungsvorschlägen Dr. O. Bobertags. Zeitschrift für die Behandlung Schwach-
sinniger. 34, 6 (Juni 1914), S. 111—122.
Gute Darstellung und Mitteilung der Tests.
Bloch, Ernst, Die Intelligenzprüfung nach der Methode von Binet-Simon in ihrer
Bedeutung zur Erforschung des Schwachsinns bei Schulkindern. Zeitschrift für
die Erforschung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinuns. VII, 4, 1913,
8. 272—288.
Beschreibung der Methode und ihrer Anwendung bei Kattowitzer Hilfsschul-
kindern. Wir werden eine Arbeit desselben Autors darüber demnächst ver-
öffentlichen.
Bloch, Ernst, Über Intelligenzprüfungen nach der Methode von Binet und Simon
an 71 Hilfsschulkindern der Stadt Kattowitz. Die Hilfsschule. 6, 5 (Mai 1913),
8. 134—140.
Die Binet-Simon-Tests sind an Schwachsinnigen in Deutschland noch kaum er-
probt. Die Methode zeigt einwandfrei, daß die geistige Entwicklung beim Schwach-
sinn der des normalen Kindes folgt, nur um 2—4 Jahre verzögert ist. »Ein Rück-
stand von über zwei Jahren bedeutet in jedem Falle einen Schwachsinn.e Das be-
weisen auch die Untersuchungen Chotzens. Der Verfasser gibt weitere Bemerkungen
zu Chotzens und seinen eigenen Erfahrungen. Er betont u. a., daß man bei
schwachsinnigen Kindern nicht so sehr auf völliges Ungestörtsein zu achten hat.
Bloch, Ernst, und Lippa, Hedwig, Die Intelligenzprüfungsmethode von Binet-
Simon (1908) an schwachsinnigen Kindern. Zeitschrift für angewandte Psycho-
logie. VII, 4/5 (Juni 1913), S. 397—409.
C. Zeitschriftenschau. 739
Untersucht wurden 41 Knaben und 30 Mädchen der Hilfsschule in Kattowitz.
Die Methode bewährte sich. Die geistige Entwicklung beim Schwachsinn folgt
ziemlich genau der normalen Entwicklung, nur bleibt sie um 2—4 Jahre hinter ihr
zurück und bleibt auf einer niedrigeren Stufe stehen.
Renz, Emile, A study of the intelligence of delinquents and the eugenic signi-
ficance of mental defect. The Training School Bulletin. XI, 3 (Mai 1914),
S. 37—39.
Die Arbeit ist als vorläufige Mitteilung von Untersuchungen aufzufassen, die
die Verfasserin an 100 neuaufgenommenen Zöglingen im ersten Halbjahr 1912 in
Girls’ Reformatory of Ohio (Girls’ Industrial Home) angestellt hat nach der Binet-
Simon-Methode. Es handelt sich dabei um verwahrloste und verbrecherische
Mädchen verschiedener Altersklassen (11—18 Jahre alt). Sechs von ihnen lösten
die Tests ihrem Alter entsprechend oder besser. 79°/, blieben um mehr als drei
Jahre zurück. Nach einer weiteren Einschränkung sind 77°), als schwachsinnig zu
bezeichnen. Bei Goddards Begrenzung, also bei einem Zurückbleiben von 4 und
mehr Jahren, sind 58°/, als schwachsinnig zu bezeichnen. Vom praktisch kriminellen
Standpunkt würden bei weiterer Einschränkung noch immer mindestens 36°/, der
neuaufgenommenen Mädchen als schwachsinnig zu bezeichnen sein. Auf diese
müßten energische Maßnahmen angewandt werden.
Irwin, Elizabeth A., A study of the feeble-minded in a West Side School in
New York City. The Training School. X, 5 (September 1913), S. 65—76.
Geprüft wurden 201 Kinder aus schlechtem Milieu. Die Anwendung der
Binet-Tests ergab, daß 144 = 71,64°/, als normal, 25 = 12,44 ;, als zurückgeblieben
und 32—=15,92°;, als sohwachsinnig zu bezeichnen waren. Die schwachsinnigen
Kinder hatten meist auch schwachsinnige Geschwister. Die Arbeit bringt genauere
Angaben.
Bell, Catherine F., Another experience with the Binet Test. The Training
School. X, 5 (September 1913), S. 77 u. 78.
Geprüft wurden 38 schwachbefähigte Kinder einer Schule New Yorks (in
einem Stadtteil mit vorwiegend italienischer Bevölkerung). Nach Abzug eines nor-
malen Kindes, das die Brauchbarkeit der Binet-Tests für Normale beweisen sollte,
und dreier farbiger Kinder, läßt sich folgende Übersicht über die bleibenden
34 Fälle aufstellen:
Zahl der Intelligenz- Lebens-
Fälle alter alter
Epileptiker und Geisteskranke . . 3 7—9 10—14
Imbezile . . . ee + 2—6 7—16
Sieben Jahre zurückgeblieben 2 7—8 14—15
Sechs 6 7—9 13—15
Rünf:s a aas an a y SA E a 8—10 13—15
VOE ee ee ee 8—9 12—13
Drei . a Da aea 3 7—10 10—13
Zwei. 6 5—9 7—11
Kin es E ed 8 9
Nicht. 2 2: Su A Aa a2 care 6 6
Fürj, Paul, Das Gedächtnis schwachsinniger Kinder. A Gyermek. VI, 9/10,
1912, S. 519—522.
Auf Grund einzelner Erfahrungen an schwachsinnigen Kindern, bei denen
unseres Erachtens aber zum Teil einseitige Begabung zu konstatieren ist, glaubt der
47*
740 C. Zeitschriftenschau.
Verfasser feststellen zu dürfen, daß das Gedächtnis Schwachsinniger gegenüber
anderen Fähigkeiten durchaus gut entwickelt ist (was aber in dieser allgemeinen
Fassung sicher nicht zutrifft), daß eine einseitige Entfaltung häufig ist, und daß das
Ausgestaltungsverhältnis zwischen dem Gedächtnis und der allgemeinen Intelligenz
in noch größerer Disharmonie als bei normalen Kindern ist.
The A-test with the feeble minded. The Training School. 10, 4 (Mai 1913),
S. 49—57.
Untersucht wurden 252 Kinder. Der A-Test (Durchstreichen des a in einer
Druckprobe) ist für die Feststellung des Schwachsinns nicht von überragender Be-
deutung. Individual-psychologisch ist er natürlich immer wertvoll.
The De Sanctis Tests. The Training School. 10, 3 (May 1913), S. 34—36.
Beschreibung der Tests, wie sie in der Training School in Vineland angewandt
werden. ;
Lemaitre, Aug., Personnifications agissantes chez un garçon de 15 ans. Archives
de Psychologie. XIV, 53 (Fév. 1914), S. 92—100. l
Beschreibung zweier ganz eigenartiger Fälle, in denen mit den Ziffern ganz
bestimmte Persönlichkeitsdarstellungen kombiniert sind. Der zweite, nur kurz be-
schriebene Fall betrifft einen Jungen von 13'/, Jahren.
Weber, Rod., La faculté de lire est-elle localisée? Archives de Psychologie.
XII, 47 (Septembre 1912), S. 305—309. ;
An einem bestimmten Falle wird klargelegt, daß das Zentrum der Lesefähigkeit
nicht wohl ein anatomisches, sondern nur ein funktionelles sein kann, das je nach
der gewählten Lesemethode verschieden zu isolieren ist.
Büttner, Georg, Wortblinde Kinder. Heilpädagogische Schul- und Elternzeitung.
IV. 12 (Dezember 1913), S. 213—218.
Im wesentlichen Referat über die Arbeit Warburgs in dieser Zeitschrift, XVI, 4.
Opitz, Rudolf, Einige Fälle von Wortblindheit. Die Pädagogische Forschung.
I, 1 (Oktober 1913), S. 79—91.
Beschreibung der Wortblindheit auf Grund zweijähriger Beobachtung dreier
Zöglinge. Alle drei Knaben (Brüder) nehmen ihre Fehler nicht selber wahr. Psycho-
logisch erscheint als wesentliche Quelle des Übels die geringe Fähigkeit zur Analyse
des Wortbildes bezw. zur Synthese der analysierten Bestandteile. Die pathologische
Betrachtung (Entwicklungshemmung des Gehirns) ist aber der psychologischen vor-
zuziehen. Sie weist auch auf die Therapie (Linkskultur) hin. Dem Verfasser zeigte
sich ein Erfolg erst »nach unendlichem Aufwand von Geduld, Ruhe und Ausdauer«.
Ob er allein auf die Linkskultur zurückzuführen ist, bleibt zweifelhaft.
Kleist, Aphasie und Geisteskrankheit. Münchener Med. Wochenschrift. 51, 1
(6. Januar 1914), S. 8—12.
Der Fortschritt der Aphasieforschung wird vom Studium der Sprachstörungen
der Geisteskranken ausgehen. In Anlehnung an die Stufen des Sprachaufbaus
werden die Sprachstörungen Geisteskranker dargestellt. Auf jeder Stufe ist eine
engraphische (durch Verlust bestimmter Erinnerungsspuren bedingte) und eine
koordinatorische (auf fehlerhafter Entäußerung an sich vorhandener Engramme be-
ruhende) Sprachstörung zu erkennen. Es ergeben sich danach folgende beiden
Gruppeneinteilungen: 1. Engraphische (frontal lokalisierte) Sprachstörungen: Apraxie
der Lautbildung und der Lautfolgen, Wortschatzverarmung, Verarmung an Zu-
sammensetzungen und Ableitungen, Agrammatismus. 2, Koordinatorische (temporale)
Sprachstörungen: Paraphasie, Wortbildungsstörung, inkoordinierte Wortzusammen-
setzungen, Paragrammatismus,
D. Literatur. 741
D.. Literatur.
Echternach, H., Handbuch des orthopädischen Schulturnens Mit
192 Abbildungen im Text. Berlin, Weidmann, 1912. Preis geb. 5 M.
Das Schulleben übt manchen schädlichen Einfluß auf Körperhaltung und Ge-
sundheit der Kinder aus. Eine falsche Haltung beim Lesen und Schreiben, das an-
dauernde aufrechte Sitzen führt zur Erschlaffung der Rückenmuskeln, bei schwachem
Skelett schließlich zur Verkrümmung der Wirbelsäule. Die Bekämpfung dieser
Schädigungen macht sich die Schule in neuerer Zeit im orthopädischen Schulturnen
zur Aufgabe. Auf die Notwendigkeit dieser Bestrebungen ist von den verschiedensten
Seiten hingewiesen, das Unterrichtsministerium hat die Notwendigkeit der Einrich-
tung von Sonderturnkursen wiederholt hervorgehoben. Für solche Kurse bietet der
Verfasser in seinem überaus fesselnd und anregend geschriebenen Buche die Be-
obachtungen und Erfahrungen einer langjährigen Praxis. Echternach betont aus-
drücklich, daß das orthopädische Schulturnen nur für Kinder mit schlechter Haltung,
mit schwachen Rückenmuskeln und für die leichteren Formen von Verkrümmungen
der Wirbelsäule in Betracht kommen kann, während die Behandlung schwerer Fälle
dem Facharzte vorbehalten bleiben muß. Auch beim orthopädischen Schulturnen,
für dessen Erteilung nur erfahrene und orthopädisch vorgebildete Turnlehrer und
-lehrerinnen in Frage kommen, fordert er ein Hand-in-Hand-gehen mit dem Arzte,
dem die fachwissenschaftliche Überwachung obliegt. In der Hauptsache finden nur
Geräte Verwendung, die auch das deutsche Schulturnen fordert; außerdem wendet
E. noch den schwedischen Ribbstol und zwei Hilfsgeräte, den Echternachschen
Ribbstolwolm und seinen Barrengurt, an.
Die Ausnützung des im allgemeinen Schulturnen zur Verfügung stehenden
Materials an Geräten und Übungen ist von wesentlicher Bedeutung für die Ver-
breitung dieser Bestrebungen. Sie ermöglicht die Veranstaltung orthopädischer Turn-
kurse bei mäßigen Kosten, ein Umstand, der für Schul- und Stadtverwaltungen, die
derartige Kurse einzurichten beabsichtigen, von großem Werte sein wird. Wegen
dieses Umstandes hat auch der preußische Kultusminister empfehlend auf den Be-
trieb des orthopädischen Schulturnens in der Stadt Hagen i. W., dessen Ausgestal-
tung das Verdienst des Verfassers ist, aufmerksam gemacht.
Das Handbuch gliedert sich in drei Teile. Im ersten spricht Echternach über
Schule und Rückgratsverkrümmungen, über die Aufgabe der Schule, über die von
seiten der Fachorthopäden vorgeschlagenen Wege zur Bekämpfung der Rückgrats-
verkrümmungen, über die geschichtliche Entwicklung des orthopädischen Schul-
turnens, über die anatomischen Vorkenntnisse und das Erkennen des Schiefwuchses.
Der zweite Teil bietet praktische Hinweise über Turnanzug, Turnraum und Turn-
geräte, behandelt die Ausbildung der Lehrkräfte und das Verhältnis zwischen Arzt
und Turnlehrer, gibt-Winke für die Einrichtung orthopädischer Kurse in der Schule
und belehrt über die Einteilung einer orthopädischen Unterrichtsstunde. Im 3. Teil
(S. 109—248) behandelt der Verfasser die von ihm in jahrelanger praktischer Tätig-
keit erprobten Übungen mit großer Klarheit und Ausführlichkeit. Viele, sehr gut
ausgewählte und ausgeführte Abbildungen unterstützen wirksam die Auffassung des
im Worte Gebotenen. In einem Anhange findet die Rückenmassage eine ihrer Be-
deutung entsprechende Erwähnung.
Danzig-Langfuhr. Franz Matschkewitz.
Hilfsbuch für schriftstellerische Anfänger. Schriftstellerbibliothek, Band 4.
Herausgegeben von der Redaktion der »Feder«, Berlin, Goltzstr. 23. Preis 1,50 M,
geb. 2 M. Leipzig, C. Fr. Fleischer.
Geeignete Ratschläge und Adressen für das Anbringen von Manuskripten, den
Verkehr mit Redaktionen und Verlegern und die Herausgabe von Büchern, für
Forderung des Honorars nebst Honorarliste einer Reihe der wichtigsten Zeitungen
und Zeitschriften bietet dieses Buch, das auf Grund langjähriger fachmännischer
Erfahrungen geschrieben ist. Des weiteren enthält es die neuen Urheber- und Ver-
742 D. Literatur.
lagsgesetze, die wichtigsten Bestimmungen des österreichischen Urhebergesetzes und
eine Reihe nützlicher Fingerzeige.
Danzig-Langfuhr. Franz Matschkewitz.
Gerhardt, J. P., Die Schule der Alsterdorfer Anstalten. Mit 27 Ab-
bildungen. Jena, Gustav Fischer, 1913. 98 Seiten. Preis 3 M.
Vorliegendes Buch ist eine Jubiläumsschrift. Es gibt Rechenschaft über das
50jährige Werden, Wirken und Wollen der Anstaltsschule. Mit ganz kleinen An-
fängen, nur 4 Schüler zählend, trat sie 1863 ins Leben. Jedoch ihrem unermüd-
lichen Gründer, Pastor Sengelmann, und seinen ebenso unermüdlichen Helfern
und Gesinnungsgenossen gelang es, Anstalt und Schule zu bedeutendem Aufschwung
zu bringen. Zurzeit zählt die Schule 9 Klassen mit 115 Kindern, so daß die Durch-
schnittsfrequenz einer Klasse etwa 12 Kinder beträgt. Die zweı untersten Klassen
sind Vorbereitungsklassen, die 7 anderen bilden die eigentliche Schule. Der Unter-
richt wird von 3 seminarisch gebildeten und staatlich geprüften Lehrern und
7 Kindergärtnerinnen erteilt.
Nach diesem Abschnitt über »Die geschichtliche Entwicklung der
Schule« folgen längere Austührungen über »Das Schülermaterial«. Aufnahme
finden nur solche Kinder, »deren Verhalten ein derartiges ist, daß der Vorteil, den
sie selbst vom Schulbesuch haben, nicht etwa ausgeglichen wird durch den Schaden,
den sie durch Störungen im Unterrichte anderen zufügen«. 84 von ihnen sind aus
der Großstadt, 31 vom Lande. 44 haben noch keine Schule besucht, 28 gingen
schon vorher in eine Hilfsschule und 43 kamen direkt aus der Volksschule,
28 Kinder sind epileptisch. 24mal sind bei den Eltern Geisteskrankheiten fest-
gestellt. Dem Trunke ergebene Eltern oder Großeltern finden sich bei 27 Kindern
oder 23,48°,,. Aus den weiteren Darlegungen folgt, daß die Zahl der körperlichen
Leiden und Gebrechen recht groß ist. Zur Feststellung der geistigen Fähigkeiten
wurde bisher von den bekannten Intelligenzprüfungsmethoden von Ebbinghaus,
Masselon, Ziehen usw. Abstand genommen, die Bewertung meistens nur auf
Grund der Erfahrung vorgenommen. Doch ist man der Meinung, »daß uns eine
brauchbare Methode zur Bestimmung der einzelnen Intelligenzgruppen unter unseren
Kindern not tut, auf Grund deren wir besonders Behörden gegenüber unser Urteil
über ein Kind auch wissenschaftlich begründen können.«e Am geeignetsten erscheint
diejenige von Binet-Simon. Für einen Schulneubau ist ein Zimmer für psycho-
logische Untersuchungen vorgesehen, in welchem es erst ermöglicht werden wird,
einwandfreie Arbeiten auf diesem Gebiete vorzunehmen.
Weitere Darlegungen zeigen, was in einzelnen Klassen und in einzelnen
Fächern von den Kindern geleistet wird. Daran kann man nur seine helle Freude
haben, beweisen sie doch, was zielbewußtes Vorgehen, ernste Arbeit bei den Armen
im Geiste, bei den Stiefkindern des Glücks zu leisten vermag.
Nicht minder interessant ist der letzte Abschnitt über »Die Unterrichts-
methode«. Alle früheren Methoden (Spezialunterricht, Anlehnung an die Normal-
schule, Betonung des Artikulationsunterrichts usw.) für Behandlung Schwachsinniger
ablehnend, wird eingehend der beobachtend-darstellenden Methode das Wort ge-
redet. Grunderfordernis ist, »daß der Gegenstand nach Möglichkeit mit allen fünf
Sinnen wahrgenommen wirde. Nach dieser Sachvorstellung kommt die Sprach-
vorstellung, sich zusammensetzend aus Klangbild-, Sprechbewegungs-, Schriftbild-
und Schreibbewegungsvorstellung. Zu diesem Unterricht zu befähigen, das ist Auf-
gabe der Vorschule. Ausführlich wird nun gezeigt, wie dies hier erfolgt durch
Übung der fünf Sinne, Atemübungen, Tätigkeitsübungen, Artikulationsunterricht,
gymnastische Übungen, Bewegungsspiele usw. Beim Schulunterricht selbst in der
eigentlichen Schule werden zwei Momente mit Nachdruck hervorgehoben: »Die Be-
ziehung des Unterrichts zum täglichen Leben und die Auswahl des Stoffes nach
den Gesichtspunkten des Interesses.«< Wie nun diesen Prinzipien in den einzelnen
Disziplinen weitgehendst Rechnung getragen wird, das besagen weitere Darlegungen.
Sie enthalten eine Fundgrube praktischer Ratschläge, so daß sie nicht warm genug
empfohlen werden können. Nicht vergessen wird zuletzt, »daß für den Beruf eines
Lehrers geistesschwacher Kinder nur hervorragend befähigte und besonders vor-
D. Literatur. 743
gebildete Persönlichkeiten ausgewählt werden müssen«e. Die bisherige Ausbildung
in Kursen genüge nicht. »Die Anstaltsschulen aber könnten«, meint Gerhardt,
»unterstützt durch eine richtige Organisation, zu den besten Seminaren zunächst
für die Hilfsschullehrer werden; denn hier stünde dem Studierenden nicht nur ein
ganz hervorragendes Studienmaterial zur Verfügung, sondern auch die ärztliche Mit-
arbeit an seiner Ausbildung ließe sich auf die leichteste Weise bewerkstelligen.«
Unstreitig ist das vorliegende Buch eine wertvolle Neuerscheinung der Fach-
literatur. Es gibt reichliche Anregungen und mächt viele Mitteilungen über nicht
zu unterschätzende praktische Erfolge. Allen, welche es mit der Behandlung
Schwachsinniger zu tun haben, allen Heilpädagogen und allen edlen Menschen-
freunden wird es eine willkommene Gabe sein.
Worms. Georg Büttner.
Aronsohn, Oscar, Der psychologische Ursprung des Stotterns. Halle,
Carl Marhold, 1914. 24 Seiten. Preis 1 M.
Die Kußmaulsche Theorie, welche zurzeit die Anschauung der maßgebenden
wissenschaftlichen Kreise vollständig beherrscht, und worauf sich die übliche Be-
handlung des Leidens, die persönlich-ärztliche sowohl, wie der Stotterunterricht in
den Schulen aufbaut, besagt, daß das Stottern eine Koordinationsneurose sei, ver-
bunden mit Muskelkrämpfen oder Spasmen. Der Verfasser steht nun auf dem Stand-
punkte, daß eine kritische Würdigung dieser Spasmentheorie unschwer ergibt, »daß
sie trotz ihrer hohen Wertschätzung und Anerkennung als zutreffend nicht betrachtet
werden kann.« Es wird versucht, dies im einzelnen nachzuweisen, und dann die
Schlußfolgerung gezogen, »daß eine Stottertheorie nur dann Wesen und Bedeutung
der Sprachstörung in befriedigender Weise erklären könne, wenn sie den Ursprung
des Stotterns im Seelischen sucht.«
Nach seiner Meinung ist das Stottern, wie Verfasser am Schluß sich zu-
sammenfassend ausdrückt, »eine Sprachstörung, die ursprünglich, hauptsächlich, in
manchen Fällen ausschließlich, in Gegenwart Fremder, Respektspersonen oder Vor-
gesetzter auftritt. Ursprünglich ist es nur an den Anfang des Sprechens geknüpft
und ist hier stets am beträchtlichsten. Die Stottererscheinungen zu Anfang des
Sprechens sind deshalb als primär, die übrigen als sekundär zu bezeichnen. Die
sekundären Stottererscheinungen tragen zur Verschlimmerung des Leidens bei, haben
aber keine selbständige Bedeutung.«
Die unmittelbare Ursache dieser primären Stottererscheinungen ist zu suchen
in zwei allen Stotterern eignen Charaktereigenschaften, einmal in
dem »pflichtgemäßen Bestreben, das leicht erregbare Innenleben den kritischen Blicken
Fremder unter keinen Umständen preiszugeben,« und andererseits »in dem zumeist
ursprünglichen Drange, ir eiliger, überhastender, überstürzender Rede dem Gedanken
Ausdruck zu geben.«
Im Hinblick hierauf verwirft A. auch die auf ganz falschen Voraussetzungen
beruhende, überaus einseitige bisherige Behandlung. Er glaubt, daß eine von
ihm geübte Behandlung rascher zum Ziele führe und sicherer und gründlicher
das Leiden beseitige. Seine Stottertheorie und die darauf begründete Behandlungs-
weise, sagt er, stelle einen wissenschaftlichen Fortschritt dar. Der Schwerpunkt
bei der Behandlung des Leidens müsse von der sogenannten physiologischen Übungs-
therapie, wie bisher meist üblich, hinweg und auf die psychische Behandlung
gelegt werden.
Diese Behandlung, vom Verfasser jahrelang mit bestem Erfolg geübt, muß
sich zur Aufgabe stellen: 1. Die Stotterer über Wesen und Zustandekommen der
Sprachstörung aufzuklären. 2. Die beiden besagten Stotterereigenschaften zu zer-
stören bezw. unwirksam zu machen. 3. Übungen im freien Sprechen vorzunehmen
unter Zugrundelegung derselben psychischen Gesichtspunkte, wie bei der Um-
gestaltung der Charaktereigenschaften. 4. Leseübungen in demselben Sinne vor-
zunehmen, wenn beim Lesen gestottert wird. 5. Den Komplex der Dulderneurose
durch psychische Behandlung auszuschalten, wo Hysterie das Stottern kompliziert.
6. Die physikalischen Hilfsmittel regelmäßig, die medikamentösen nur unter be-
sonderen Umständen heranzuziehen.
Worms. Georg Büttner.
744 D. Literatur.
Gräfin Check /oseplüns, Fragen? Brixen, Verlagsanstalt Tyrolia, 1914. 124 S.
Ausgehend vom Zweck der Erziehung, »die Entwicklung und Ausbildung des
Einzelindividuums«, heißt es von der »christlichen Erziehung«, daß sie »die Ent-
wicklung und Ausbildung des Einzelindividuums mit Rücksicht sowohl auf seine
zeitliche Wohlfahrt wie insbesondere auch in erster Linie auf seine ewigen Ziele«
erstrebt, und wird von der »christlich-caritativen Erziehung« gesagt, daß sie diesen
Zweck an armen, verlassenen, schutz- und mittellosen Kindern ausübt, gleichsam
Vater- und Mutterstelle vertritt. Für diese Kinder, wie überhaupt für das ganze
Gebäude der Menschheit, menschlicher Wohlfahrt, ist unentbehrlich die Erziehung
durch die Familie für die Familie. Darum tritt die Verfasserin warm für die
Erneuerung der Familien im allgemeinen, sowie natürlich ganz besonders im Inter-
esse dieser armen, hilfsbedürftigen Kinder ein. Sie sagt: »Lehren wir das Volk,
was rechtes Familienleben bedeutet, retten wir die Familie, begründen wir sie neu,
wo sie verloren ist. — Geben wir gutes Beispiel, nicht nur in unseren eigenen
Familien, sondern dadurch, daß wir die Kinder, die wir caritativ erziehen, in der
Familie und für die Familie erziehen.«
Nun wird der Frage nachgegangen: Wie kann die Erziehung in der Familie,
für die Familie geschehen? Als idealste Lösung wird selbstverständlich bezeichnet
die Unterbringung caritativ aufgenommener Kinder in einzelne, verläßlich - tüchtige
Familien, was jedoch nur in beschränktem Maße möglich ist. Darum schreite man
zur Bildung »künstlicher Familien«. Es heißt S. 17: »Suchen wir, statt große
Anstalten ins Leben zu rufen, viele kleine Vereinigungen zu bilden; je einige
wenige Kinder unter der Obhut einer »Mutter«, einer zu diesem hehren Beruf frei
sich hingebenden Frau oder Jungfrau, weltlich oder geistlich.« »Wenig Kinder,
eine ‚Mutter‘, ein Heim, ein wirkliches Familienleben, Familıenarbeit, Familien-
sorge«, — das ist der Kern der Sache. Dies alles wird behandelt im ersten Teil,
betitelt: »Der große Zweck.«
Der II. Teil behandelt: »Die Mittel zur Erreichung des großen Zweckes.« Als
ein Beispiel aus der Praxis wird verwiesen auf die Einrichtungen in Rothenhof bei
Schüttenhofen, am Fuße des Böhmerwaldes. Auf Grund der hier gemachten Er-
fahrungen sind die weiteren Ausführungen aufgebaut. Über alle einschlägigen
Fragen gibt das Buch reichlich Aufschluß, z. B. über Bildung der Familie, über die
Wohnstätte, das Heim selbst, über Leitung und Ordnung in der Familie, über Er-
ziehung zu Sittsamkeit und Sittlichkeit, über religiöse Erziehung, über körperliche
Pflege, alles behandelt mit großem Ernste, mit großer Sach- und Fachkenntnis, ge-
tragen vom Geiste tiefer Religiosität, von echter, wahrer Menschenliebe und Gottesfurcht.
Zum Schlusse wird auch die Schwierigkeit nicht verkannt und gesagt: »Die
den Heimmüttern gestellte Aufgabe ist freilich eine große; leichter tut sich’s eine
Erzieherin mit 50 Kindern in einer Anstalt als mit 15 in der Familie.<
Worms. Georg Büttner.
Lorentz, Friedrich, Die Tuberkulosesterblichkeit der Lehrer. Nach den
Erfahrungen der »Sterbekasse deutscher Lehrer« bearbeite. Charlottenburg,
P. Johannes Müller, 1913. 248. Preis 75 Pf.
Lorentzs Name ist auf dem Gebiete der Schulhygiene und speziell auf dem
der Tuberkulosebekämpfung kein unbekannter. In dieser kleinen Schrift bietet er
eine Besprechung von Zahlen und Tabellen zur Tuberkulosesterblichkeit der Lehrer.
Es geht daraus u. a. hervor, daß diese nicht wesentlich höher ist als in anderen
Berufen, daß sie im letzten Jahrzehnt in der Abnahme begriffen ist, daß sie ihr
Maximum im frühesten erwerbsfähigen Aiter erreicht. Unter den von Lorentz vor-
geschlagenen prophylaktischen Maßnahmen ist vor allem die sorgfältigste Unter-
suchung der Lehramtskandidaten hervorzuheben. Man kommt auch auf Grund der
Lektüre dieser Schrift wieder zur Forderung eines weiteren Ausbaus der schulärzt-
lichen Tätigkeit. — Bei dem gegenwärtigen Interesse großer Bevölkerungsschichten an
der Tuberkulosebekämpfung usw. verdient diese Schrift Beachtung nicht nur in Lehrer-
kreisen, sondern darüber hinaus vor allem unter Medizinern und Nationalökonomen.
Jena. Karl Wilker.
Verantwortliche Schriftleitung für Abhandlungen und Mitteilungen: Dir. J. Trüper,
Sophienhöhe b. Jena; für Zeitgeschichtliches, Zeitschriftenschau und Literatur:
Dr. Karl Wilker, Jena, Weißenburgstraße 27.
Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
mein EEE 20 u
Zeitschrift für Kinderforschung |
mit besonderer Berücksichtigung
der pädagogischen Pathologie
Im Verein mit
Dr. G. Anton Dr. E. Martinak Chr. Ufer Karl Wilker
Och. Med.-Rat u. Prof. 0. 5. Prof. d. Philosophie Rektor d. Säd-Mädchen- Dr. phil.
an der Univ. Halle u. Pädag. a. d. Univ. Oraz Mittelschwiei. Fiberfeld im jena i Thür.
herausgegeben von
J. Trüper
Direktor des Erziehungsheims und Jugendsanatorkıms auf der Sophienhöhe bei jams
Neunzehnter Jahrgang, 12
September-Heft
Langensalza
Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann)
Herzogl. Sächs. Hofbuchhändler
Wien
Manz’sche k. u. k. Hof-, Verlags- u. Universitätsbuchhandlung
1914
Preis des Jahrgangs (12 Hefte von je 4 Bogen)
6 M oder 7 Kr.
Heft 12. Ausgegeben am 1. September 1914.
Inhalt.
Kä” Die im ersten Teile dieser Zeitschrift enthaltenen Aufsätze
verbleiben Eigentum der Verlagshandlung. "E
Seite
Otto: Fligelr Fr a7 #8. 2 A Er ar ar at 208
A. Abhandlungen:
1. Ein autobiographischer Brief und eine Schülercharakteristik von Dr. Ferdi-
nand Kern. Von M. Kirmsse . . 706
2. Das »Archiv für Krzishngserfährmngent. i an "der Hochschule "für Frauen
in Leipzig’: Von Dr, Prüfer s sem sius maa aia a war.’ MAA
B. Mitteilungen:
1. Bericht über den Allgemeinen NR vom 15.—17. Juni
in Halle a. S. Von Saupe . . 714
2. Über das Interesse eines schwachbegabten Fangen. "Ton Ernst Willich.
(Eorts.) . . . . 723
3. Der Lesetext als Kontrolle hei Lesevorgang, Von Fritz "Müller . . 730
4. Die jugendlichen Kriminellen 1912. Von Karl Wilker . .. 731
5. Zur Bekämpfung des Kinderhandels und der Abtreibung. Von Karl Wilker 732
6. Zeitgeschichtliches . + s » 2 w e = en nennen. 738
C. Zeitschriftensechau . . . . . 2 2 0 mn nennen. 737
D. Literatur:
Echternach, H., Handbuch des el a Schulturnens. Von Franz
Matschkowitz Ei u a a n ee FE Par can AEL
Hilfsbuch für schriftstellerische. Anfänger. "Von Franz Matschkewitz. . 741
Gerhardt, J. P., Die Schule der Alsterdorfer Anstalten. Von Georg Büttner 742
Aronsohn, Oscar, Der psychologische Ursprung des Stotterns. Von Georg
Büttner. . . Da ee re OAR
Gräfin Chotek, Josephine, Fragen? Von Georg Büttner. . . . . 744
Lorentz, Friedrich, Die Tuberkulosesterblichkeit der Lehrer. Von Karl
WIRE A, be mae ATA Fe re rest ac DA
Beiträge aus Österreich-Ungarn sind sämtlich an Universitätsprofessor Dr.
E. Martinak in Graz, Ruckerlberg, Polzergasse 19, zu senden, alle übrigen an
Direktor J. Trüper, Jena, Sophienhöhe.
Alle Beiträge werden vom Verleger mit 40 M. für den Druckbogen honoriert.
Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
In unserem Verlage ist erschienen:
Handbuch für Jugendpflege.
Herausgegeben von der
Deutschen Zentrale
für Jugendfürsorge.
Schriftleitung: Dr. jur. Fr. Duensing-Berlin,
Mitarbeiter:
Bayer, Major M., Charlottenburg.
v.Bissing, Frhr., Gen. d Kav., Exz., Rettkau.
Böhme, H., Deutsche Zentrale für Jugend-
fürsorge, Berlin. wald.
du Bois-Roymond, Univ.-Prof. R., Grune-
Borchert, W., Jugendpfleger, Stettin.
Boruttau, Prof. Dr. mod. H , Grunewald.
Burgaß, Realschuldir. Prof. Dr. E., Haspe i. W.
Caspari, Dr. H. (Farbenfabr. vorm. Fr. Bayer
& UCo.), Leverkusen bei Mülheim a. Rh,
Classen, Walth. F. (Volksheim Hammer-
brook), Hamburg.
Clemenz, Rektor, Liegnitz.
Coerper, Dr. F., Berlin.
Curtius, Univ.-Prof. Dr. L., Erlangen.
Dahl, Prof. Dr., Steglitz. [thık), Berlin.
Diem, Red. (Deutsche Sportbohördo f. Athle-
Eylau, W., Musikpädagoge, Berlin.
Foerster, Oberlehrer Dr. E., Hamburg.
v. Frankenberg, Stadtrat, Braunschweig.
Friedeberg, Amtsgerichts-Rat Dr. Edm.,
Weißensee.
Fuchs, Reg.-Rat Dr., Karlsruhe, Dozent für
sozialo Gesetzgebung an der Technisch. Hoch-
schule in Karlsruhe.
v. Gierke, Anna, Vorsitzende des Jugend-
heims Charlottenburg, daselbst.
v. d. Goltz, Generalfeidmarschall Dr. Frhr.,
Exz., Berlin, Vorsitzender des Jungdeutsch-
landbundes.
Gruhle, Privatdozent Dr., Heidelberg.
Haese, Fortbildungsschuldirektor A., Char-
lottenburg.
Hennes. Kakton, Köln.
v. Hentig, Staatsminister z. D. Dr. O., Exz.,
Berlin, Vors. d. D. Zentr. f. Jugendfürsorge.
Hielscher, Elsa, Panten. [Ottensen.
Hildebrand-Radczewill, Frau, Altona-
Hollmann, Liz. Pfarrer Dr. (Bund deutscher
Jugendvereine), Nikolassee.
Jaeger, Pfarrer M. (Wartburg - V.), Frank-
furt a. M.
Kayser, Anna, Frankfurt a. M.
Kempf, Dr. rer. pol. R., München.
Kirschner, M. (Verein Arbeiterinnenwohl),
Kißkalt, Prof. Dr. med., Berlin. Berlin.
Kohlrausch, Prof. Dr. (Zentralausschuß für
Volks- und Jugendspiele . Hannover.
Köhne, Amtsgerichtsrat Dr., Berlin.
Krakow, Direktor der staatlich. Fortbildungs-
schulen, Schneidomüh!. [Gladbach.
Kruchen, Pfarrer Dr., Hochneukirch b. M.-
Herausgeber und Mitarbeiter
Kürsten, Direktor, Dr., Erfurt.
Kurz, Lehrer, Friedrichshöhe, Kreis Znin.
Lembke, Schuldirektor a. D. Fr., Berlin.
Mallwitz, Dr. med. A., Berlin.
Martin, Oberlehrerin M., Friedenau.
Marx, Rektor, Morstein, Hamburg.
Maß, Bürgermeister Dr., Görlitz.
Matzdorf, Lehrer Paul, Cöthen (Mark).
Mentzel, Majora.D. (Ver. Jugendwehr), Berlin.
Neuendorff, Direktor Dr., Mühlheim a. R.
Pabst, Seminardirek:or Schulrat Dr., Leipzig.
Pathe, Pastor, Küpper O.-L.
Poensgen, Regierungsrat Dr. O., Berlin.
Preuß, M., Städt. Turnwart, Karlshorst-Berlin.
Raydt, Hofrat Studienrat Professor (Zentral-
ausschuß f. Volks- u. Jugendspiele), Hannover.
Roimers, Assessor Dr. Fr. (Zentralstelle für
Volkswohltahrt), Berlin.
Rein, Universitlitsprofessor Dr., Jena.
Rody, S. M., Pfarrer, Karnap.
Roeder, Hauptmann Dr. F., Berlin.
Rühl, Stadtschulrat Prof. Dr., Stettin.
Samter, Stadtrat, Charlottenburg.
Schmidt, Prof. San.-Rat Dr. J. A. (Zentral-
ansschuß für Volks- u Jugendspiele), Bonn.
Schmidt, Dr. W., Frankfurt a. 0.
Schneider, E., Abt.-Vorsteher im deutsch-
nationalen Handlungsgeh.-Vorband, Hamburg.
Schröer, Städt. Turnwart, Charlottenburg.
Schulz, P., Jugendpfleger. Köslin.
Seibert, Dr. Pfarrer, Kgl. Kreisschulinspekt.,
Panrod b. Zollhaus (Nassau).
Sierks, Fortbildungsschuldirektor, Schleswig.
Sievers, Dr. phil. J., Berlin.
Silbermann, Dr. A. (Kaufmiinn. Verband
für weibliche Angestellte), Berlin.
Sohnrey, Professor H. (Deutscher Verein für
ländliche Wohlfahrtspflege), Berlin.
Tews, Generalsekretär J (Gesellschaft f. Ver-
breitung von Volksbiidung), Berlin.
Uhsemann, Rektor, Stralsund.
Venus, Regierungsamtmann Dr., Dresden.
Vieregge, Landesrat, Berlin.
Witzmann, Semıinardirektor Dr., Gotha.
Wolff, Privatdozent Dr., Direktor des Statist.
Amts, Halle a. S.
Wüterich, G. Jugendgeistlicher, Stuttgart.
Wychgram, Schulrat Prof. Dr. J., Lübeck.
Ziehen, Geh. Medizinalrat Prof. Dr., Wiesbaden.
Ziehen, Oborstudienrat Dr., Frankfurt a. M.
Zimmermann, Privatdozent Dr. W., Redakt.
der „Sozialen Praxis‘‘, Berlin.
des »Handbuchs für Jugendpflege«
bieten die sichere Gewähr, daß wir es hier mit einer Erscheinung zu
tun haben, die einer besonderen Anpreisung nicht bedarf.
XIV und 874 Seiten.
Preis brosch. 15 M., eleg. geb. 17 M.
2
Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
Verlag von Hermann BEYER & SÖHNE (BEYER & Mann) in Langensalza.
J. G. Fichtes
Reden an die deutsche Nation.
Mit Fichtes Biographie
sowie mit erläuternden Anmerkungen versehen
von
Dr. Theodor Vogt,
Professor an der Wiener Universität.
Zweite Auflage.
VII und 288 Seiten. Preis 2,50 M, eleg. geb. 3,50 M.
Dichterklänge
aus Deutschlands grosser Zeit.
Patriotische Dichtungen
zur
Feier der nationalen Gedenktage in Schulen und Vereinen.
Vierte Auflage.
XII und 212 Seiten. Preis eleg. geb. 1,40 M.
Präparationen
vaterländisehen Diehtungen.
Bearbeitet von
Reinh. Zellmann.
Mit 56 Illustrationen.
X und 405 Seiten. Preis 5,40, geb. 6,40 M.
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