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Full text of "Zeitschrift für Kinderforschung 21.1916"

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THE UNIVERSITY 


OF ILLINOIS 

















Zeitschrift für Kinderforschung. 


XXI. 


Zeitschrift für Kinderforschung 


mit besonderer Berücksichtigung 
der pädagogischen Pathologie 


Im Verein mit 


Dr. G. Anton Dr. E. Martinak Chr. Ufer Karl Wilker 


Geh. Med -Rat u. Prof. o. ö. Prof. d. Philosophie Rektor d. Süd-Mädchen- Dr. phil. 
an der Univ. Halle u. Pädag. a. d. Univ. Graz Mittelschulei. Elberfeld in Jena i. Thür. 


herausgegeben von 


J. Trüper 


Direktor des Erziehungsheims und Jugendsanatoriums auf der Sophienhöhe bei jena 


Einundzwanzigster Jahrgang 





Langensalza 


Hermann Beyer & Söhne 
(Beyer & Mann) 
Herzogl. Sächs. Hofbuchhändleı 
1916 4 





Alle Rechte vorbehalten. 





Inhalt. 


A. Abhandlungen: 


Carrie, Sonderklassen für sprachkranke Schulkinder . . . . . . 133. 
Hanselmann-Heufemann, Die Arbeitslehrkolonie und Beobachtungsanstalt 
Steinmühle (Ubererlenbach, Kreis Friedberg i. H.) . . . . . 17. 


von Kärmän, Ein kriminalpädagogisches Institut . 3 

Kuhn-Kelly, Gewisses und Ungewisses über das Problem des sogenannten 
Versehens der Frauen (Muttermale) und Mutmaßliches über Vererbung 
und Beeinflussung des Kindes in DE und seelischer Beziehung 
vor der Geburt . 


Lehm, Über den Wert der Freikbongen im Hilfsschulturnen . . 47. 105. 

Pudor, Das Familienrecht und die deutsche Jugenderziehung . . . . 39, 

Sellmann, Ist die Verwirklichung der Zukunftsschule von Ellen Key er- 
wünscht? . 


Simon, Die Berufswahl hai. schwer ärsiehbaten ERR oder peychopathisch 
belasteten) Kindern 3 
Trüper, Der Weltkrieg und die Erziehungs- und Sohulreform ‘der Gegenwart 


B. Mitteilungen: 
Weltkrieg und Erziehung . ; 
a) Die Bedeutung der Linkehändigkeitsbewegung in . der heutigen "Zeit . 
b) Vorstellungsverlauf bei Kindern unter dem Einfluß des Krieges . . 
c) Die Ausländerei in der Pädagogik 
d) Belehrungen über die schädlichen Wirkungen des frühzeitigon Tabak- 
genusses . . 
e) Verbot der öffentlichen Anpröibung: und Ausstellung. in ` Schaufenstern 
von Feldpostpackungen mit alkoholischen Getränken oder Essenzen . 
f) Die Sorge um die unehelichen Kinder . arte ser 
Oswald Külpe + . ee hl 
Max Fiebig } . 
Die Bodenreform als Mittel zur a: Obarwindang der sozialen. Not und des darans 
hervorgehenden Kinderelends . y 
Zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen des Erzichungsheimes Sophieshöhe, ai 
1. November v. J. 
Die ersten Wortbedentungen, die Entwicklung der Wortarten und des Satzes 
bei meinem Sohn Rafael. . . . . 8 6 0 ar ADB: 
Statistisches über die Fürsorgeerziehung im Königreich Sachsen A 
Zum Lesenlernen der Schwachen . . . ; 
Das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin . 


298820 


193 


VI Inhalt. 


Der Deutsche Fröbelverband.. : 

Über den Ernährungszustand der Schulkinder ` im 2. Kriogsjahr 

Zum Lesenlernen der Schwachen . a 2 

Über das Zeichnen nach Vorlage A 

Analyse des- kindlichen Vorstellungskreises . . 

Erleichterung der Schulpflichten und Schullasten durch Vereinfachung $ 

Jugendliche Kriegsdichter und Heldenkinder e ATE 

Kriegsausstellung der Budapester Kommunalschulen . 

Psychische Indisposition bei Rachenmandelentzündung . 5 

Aus dem Psychologischen Institut des Leipziger Lehrervereins . 

Über die Täuschungen des Gesichtssinnes . 

Ein Kriegs-»Mann« von vier Jahren!. 

Geh. Sanitätsrat Dr. Pfeiffer in Wiesbaden 

Geheimrat Leubuscher 7 . 

- Über den Einfluß der kriegemäßig. veränderten Ernährung 

Fraktur oder Antıqua . 

Verhandlungen der außerordentlioben. Tagung der Deutschen Vereinigung für 
Krüppelfürsorge im Reichstagsgebäude am 7. Februar 1916 ; 

Ärztliche Beratungsstelle für Eltern und Angehörige NARSA Kinder, Geistes- 
kranker und seelisch Abnormer Ao ean 

Erziehungsheim für schwachbefähigte Mädchen, E. v. in Breslau y ; 

Wie ich Memorierstoffe behandle und wie ich sie verwerte. . . . . 404. 

Gegen das Fremdwort . 

Säuglingspflege und Kieintindereraichung.- _ Kinderkunde — als Unterrichts- 
fach in Mädchenschulen . sehe, Nur, AN a 

Freiwilliger Erziehungsbeirat für schulentiassene Weisen . 

Eine Ausstellung für Kleinkinder-Fürsorge . 

Erziehungsinspektor Piper. 


C. Zeitschriftensechau: . . . . . . 86. 181. 283. 354. 423, 


D. Literatar: 

Arzt und Schule . $ sia nn 

Baldrian, Methodischer Wegweiser im Sprachunterrichte: im künstlichen 
der Taubstummenschule und naturgemäßen in Schulen für Hörende 

Barucha, Meisterdarstellungen zur Kinderpsychologie 

Bertholet, Die Wirkung des chronischen Alkoholismus auf die: Organe des 
Menschen, insbesondere auf die Geschlechtsdrüsen . 

Binswanger, Die Epilepsie a 

Bluhm, Hygienische Fürsorge für Arbaltäktınan und deren Kinder. 

Böcker, Die Heimat und ihre Beziehungen zu Vaterland und Welt 

Bohn, Die neue Tierpsychologie . 

Braunshausen, Einführung in die iapenimentollë" Piychólogio 

Cellérier, Littérature Criminelle (romans d'aventures et cinématographe) 

Classen, Zucht und Freiheit . . . 

Der Jahresbericht der Deutschen Zentrale für Jogenäfünorge für die Jahre 
1913/14 20 ; ai T 

Der Neubau der Kgl. Taubstummenanstalt ; zu Taig, 

Die neue Königliche Taubstummenanstalt in Berlin-Neukölln 


Inhalt. 


Eckhardt und Lüllwitz, Fröhlicher Anfang Me 3 

Eingegangene Literatur . . ee 696.288. 368; 

Espey, Die Schule des neuen Deutschland r aatres ie iea > 

Fortschritte des Kinderschutzes und der Jugendfursorge . 

Fortschritte des Kinderschutzes und der Jugendfürsorge . 

Fortschritte des Kinderschutzes und der Jugendfürsorge . 

Goethes Besuch in der Taubstummenanstalt zu Leipzig am 7. Mai 1800 ünd 
sein Eintrag in das Fremdenbuch y E 

Hallgarten, Charles L. Hallgarten . . . f 

Handbuch der Jugendfürsorge der Stadt bag anf das Jahr 1915 ; 

von Hopffgarten, Das Pfadfinderbuch für junge Mädchen 

Hoppe, Deutsche Krüppelheime x z 

Keller, Wie ich Sozialistin wurde 

König, Ich hatt’ einen Kameraden . 

König und Wendling, Hilfsbücher für Kriegsstönden ; 

Königliche Taubstummenanstalt zu Leipzig . ; Re 

von Künssberg, und die Lehrer der Heidelberger Einsrmschule. Tinara- 
Fibel . -cres a 

Martinak, Welche großen ‘Aufgaben stellt die Zukunft dem Unterricht und 
der Erziehung De Dr En a a E A A aF 

Matter, Freie Jugend . 

Mosse und Tugendreich, Krankheit und aosiale iss: Br 

Müller, Die Ernährung und Pflege des Kindes im ersten Lebensjahre 

Nagy, Der Krieg und die Seele des Kindes . FEUER Dr 

Neter, Das einzige Kind und seine Erziehung . 

Neter, Das einzige Kind und seine Erziehung . . 

Pappenheim und Groß, Die Neurosen und Psychosen des Pubertätsalters . 

Peters, Die Beziehungen der Psychologie zur Medizin und die aa 
der Mediziner ä Er Rt Were 

Redlich und Lazar, Über ‘kindliche Selbstmörder. 

Riemann, Taubstumm und blind zugleich . 

Scheffer, Unsere zukünftige Volkserziehung 

Schneider, Der Kleingarten 3% 

Schulze, Aus der Werkstatt der éxpèrimentellen Psychologie "und Pädagogik 

Schweizerisches Jahrbuch für Jugendfürsorge 1914 . 

Simon, Die staatliche Aufzucht unehelicher Kinder als Mittel zur Bekämpfung 
des Landarbeitermangels im deutschen Osten 

Soland-Meier, Gedenkblatt zur Einweihung der kantonalen. Blinden- und 
Taubstummenanstalt Zürich-Wollishofen ; 

Sutermeister, Festnummer zur Einweihung der neuen "kantonalen. Blinden- 
und Taubstummenanstalt in Zürich-Wollishofen . 

Ulbricht, Die Alkoholfrage in der Schule ` 

Vaerting, Das günstigste elterliche Zeugungsalter tür die eisien Fähig- 
keiten der Nachkommen . è 

Wende, Fünf Bilder aus der Geschichte der Königlichen Taubstummenanstalt 


Würtz, Der Wille siegt . vg 
Würtz, Uwes Sendung, ein deütsches. Ersiöhongsbuh, "mit besonderer Be- 


rücksichtigung der Krüppel . 


BD E ee ö8 





{O9 tners 


A. Abhandlungen. 


1. Der Weltkrieg und die Erziehungs- und Schul- 
reform der Gegenwart. 
Nochmals ein paar ernste Fragen in großer Zeit. ') 
Vom Herausgeber. 


Die Punkte, auf die wir in Heft 3 vorigen Jahres nach der 
Kriegserklärung hingewiesen haben, bilden leider noch immer ein 
schwerwiegendes Programm für alle Reformbestrebungen auf erziehe- 
rischem Gebiete mit Einschluß des schulischen. 

Die meisten Betrachtungen dagegen, welche über »Schule und 
Krieg«, über »Schulreform«, »Zukunftsschule«, »Schule und Leben« usw. 
in vielen pädagogischen Blättern, in allerlei alten und neuen Ver- 
einigungen, wie in der Tagespresse — ich will nur an den »Tag« 
erinnern — angestellt werden, haben für die Zukunft unseres Volkes 
eine geringe Bedeutung gegenüber den Fragen nach der Erhaltung 
der sittlichen und der damit im Zusammenhang stehenden geistigen, 
ja auch körperlichen und wirtschaftlichen Gesundheit 
unseres Volkes. Auch sind die meisten, vielen Schulmännern erst 
im Schützengraben offenbarten, Schul- und Erziehungsziele in der 
Hauptsache solche, für die wir bereits länger als drei Jahrzehnte unter 
Mißachtung der Machthabenden kämpfen. Man lese doch jetzt im 
Kriege einmal mit Aufmerksamkeit Pestalozzis »Lienhard und 
Gertrud«, die Schriften von Wichern, Zillers Grundlegung zur 
Lehre vom erziehenden Unterricht (1865, 2. Aufl. 1884), Dörpfelds 
»Freie Schulgemeinde« (1863), »Die Grundgebrechen der herge- 
brachten Schulverfassung« (1869), »Die Leidensgeschichte der Volks- 


1) Vergl. Jahrgang XX: Heft 3, S. 97—100; Heft 5/6, S. 241—243; Heft 7/8, 
S. 364—369; Heft 9, S. 418—423; Heft 11/12, S. 558. 
Zeitschrift für Kinderforschung. 21. Jahrgang. 1 


2 A. Abhandlungen. 











schule« (1882), »Grundlinien zur Theorie eines Lehrplans« (1872), 
»Wider den didaktischen Materialismus« (1878) — alle neu erschienen 
in Dörpfelds gesammelten Schriften (XTI Bände, Gütersloh, Bertelsmann) 
—, Barth, »Reform der Gesellschaft,« die Schriften von Diesterweg 
wie die von Rein und seinen Schülern zur Schulreform — alles 
Quellen, aus denen der erzieherische Geist dieser Zeitschrift ent- 
sprungen. Auch ich selbst wüßte nicht, welche Anschauungen und 
Forderungen für Schule und Gesellschaft, die ich seit drei Jahr- 
zehnten vertrete, der Krieg bei mir wesentlich verändert hätte, so sehr 
er sie auch vertieft und mir ihre nationale Bedeutung aufs nationale 
Gewissen gebunden hat. Ich verweise dabei auf »Die Schule und 
die sozialen Fragen unserer Zeit« (Gütersloh 1891), »Schule und Ge- 
sellschaft«e (Jahrb. d. V. f. wiss. Pädagogik 1890), »Die Elternrechte 
an der öffentlichen Erziehung« (1889, 2. Auflage 1893), Friedrich 
Wilhelm Dörpfelds Soziale Erziehung (1901), Zur Frage der ethischen 
Hygiene (1904), »Psychopathische Minderwertigkeiten im Kindesalter« 
(Gütersloh 1893), Die Anfänge abnormer Erscheinungen im kindlichen 
Seelenleben (1902), »Das Erziehungsheim Sophienhöhe« (14. Aufl. 
1915) u.a.m. Auch das, was ich in den 21 Jahrgängen dieser Zeit- 
schrift, insbesondere in den Artikeln »Zeitfragen«, und in den »Beiträgen« 
(Heft 5, 8, 20, 45, 80, 84) gesagt habe, hat mir der Krieg als richtige 
nationale Zielsetzung bestätigt. Bei meiner Betrachtung der in der 
Überschrift gestellten Frage kann ich darum nur zunächst wesentliches 
von schon Gesagtem wiederholen. Aber die Wiederholung ist bis zur 
Erfüllung dringend notwendig. 

Das gilt vor allem von den Vorbedingungen einer nationalen 
Erziehung und Bildung. 

I. 

Zu diesen Vorbedingungen gehört zunächst der Schutz der 
Jugend und ihrer Eltern als Erzeuger und Erzieher gegen 
die Schädigungen durch alkoholische Getränke und durch 
die Art ihres Vertriebes. 

Daß wir seit langen Jahren weit mehr für diese schaden- 
bringenden Getränke und die Trinkunsitten verausgabt haben wie für 
Heer und Flotte zusammen und diese uns an Menschenmaterial 
alljährlich mehr Verluste bringen als wir in der größten Land- und 
Seeschlacht dieses Krieges opfern mußten, ist von Sachverständigen 
wiederholt dargetan worden. Jedoch die Machthabenden in Gemeinden, 
Bezirken und Staaten waren von Vorurteilen nicht zu reinigen und 
sind vor allem in den unteren Verwaltungsbehörden und -vertretungen 
allzusehr beeinflußt, wenn nicht geradezu bestimmt, von denjenigen, 


Trüper: Der Weltkrieg und die Erziehungs- und Schulreform der Gegenwart. 3 


die aus dem Unheil der einzelnen Menschen wie des ganzen 
Volkes, aus der Entwertung des jugendlichen Nachwuchses, 
sogar ihren Profit ziehen — um das Fremdwort zu gebrauchen, 
weil ein deutsches Wort erfreulicherweise noch nicht erfunden ist, um 
den unsauberen Geist dieses Wirtschaftslebens treffend zu bezeichnen. 
Doch ich will hier eine Erklärung von 133 Sachverständigen, wozu 
ich damals ungewollt den Anlaß gab, noch einmal zum Abdruck bringen, 
die zwar schon 16 Jahre alt ist, aber an ihrer Bedeutung leider nicht 
verloren, sondern weit mehr gewonnen hat. Denn diese Frage ist 
heute um so bedeutungsvoller, als wir durch den Krieg nach 
Millionen zählende Männer bester Güte für die Ergänzung 
wie Versorgung des Nachwuchses verlieren, während die 
durch eigenen und der Väter Alkoholismus und Syphilis De- 
generierten nicht an die Front kommen, sondern uns erhalten 
bleiben zur Fortpflanzung. Die Erklärung erschien zuerst im Jahre 
1899 in der »Internationalen Monatsschrift zur Erforschung des Al- 
koholismus und Bekämpfung der Trinksitten« (Heft 2, S. 33) und lautet: 


»Es ist wissenschaftlich erhärtete Tatsache, daß die alkoholischen Getränke 
mehr als irgend ein anderer von den unser Volksleben schädigenden Faktoren die 
leibliche und geistige Kraft unserer Rasse untergraben, sie mit erblichen Leiden 
imprägnieren und zur Entartung führen.‘) Mehr als die Hälfte der Insassen unserer 
Strafanstalten sind durch den Alkohol auf den Weg des Verbrechens geführt worden; 
etwa ein Viertel der männlichen Insassen unserer Irrenhäuser verdanken dem Alkohol 
ihr trauriges Schicksal; Familienelend, Verarmung und Verrohung ist in ungezählien 
Tausenden von Fällen die Folge dieses Volksgiftes. Bei einem Zehntel aller Todes- 
fälle erwachsener Männer läßt sich der Alkohol als Todesursache nachweisen, 1300 
Menschen verlieren allein durch Unfälle infolge von Trunkenheit in Deutschland 
jährlich ihr Leben. 1600 werden jährlich durch den Alkohol zum Selbstmord geführt 
und etwa 30000 erkranken jährlich an Säuferwahnsinn und anderen Geisteskrankheiten, 

Diese grauenvolle Summe von Elend bedeutet für unser Volk zugleich eine 
ganz enorme wirtschaftliche Belastung. Die direkten Ausgaben für alkoholische 
Getränke betragen zurzeit in Deutschland etwa 2'/, Milliarden Mark?), das ist zirka 
50 Mark auf den Kopf der Bevölkerung im Jahre®). Diese Summe übertrifft die 
Kosten von Heer und Flotte zusammengenommen ungefähr um das Dreifache. Dazu 
kommen die gleichfalls enormen indirekten Ausgaben, die durch die erwähnten 
Alkoholschädigungen bedingt sind. 

Der Verbrauch an alkoholischen Getränken ist in diesem) Jahrhundert infolge 
der technischen Erfindungen und des erhöhten Wohlstandes in ungeahnter Weise 


1) Vergl. auch: Fiebig, Dr. med., Rachitis als eine auf Alkoholisation und 
Produktionserschöpfung beruhende Entwicklungsanomalie der Bindesubstanzen. (Bei- 
träge zur Kinderforschung und Heilerziehung. Heft 28.) — Oort, Dr. A. H., Über 
den Einfluß des Alkoholgenusses der Eltern und Ahnen auf die Kinder. (Beiträge 
zur Kinderforschung und Heilerziehung. Heft 57.) Tr. 

2) In den Jahren vor Kriegsbeginn gegen 4 Milliarden Mark. 

3) Vor Kriegsbeginn 56 Mark. — *) d. h. im 19. 

1* 


4 A. Abhandlungen. 





angewachsen und ist in fortwährendem weiteren Steigen. — Eine Anpassung der 
menschlichen Rasse an den Alkoholgenuß findet erwiesenermaßen nicht statt, weil 
der Alkohol direkt schädigend auf die Fortpflanzungskeime wirkt. 

Es erhellt hieraus, daß es für diejenigen unter uns, die irgend welches Inter- 
esse für das Wohl des Volkes haben, eine der bedeutsamsten Pflichten ist, dieser 
ungeheuren Gefahr so schnell und so wirksam wie möglich entgegenzutreten. 

Es ist erwiesen, daß auch der wirklich mäßige Genuß geistiger Getränke, wie 
er übrigens bei deutschen Männern wohl die Ausnahme bildet, mindestens keinerlei 
Nutzen irgend welcher Art mit sich bringt. Alle die noch vielfach herrschenden 
Ansichten von der stärkenden, erwärmenden oder geistig anregenden Wirkung kleiner 
Alkoholmengen sind durch die wissenschaftliche Forschung als Irrtümer erwiesen. 
Die ‚landesübliche Mäßigkeit‘ wirkt in erheblichem Maße prädisponierend für Krank- 
heiten und lebenverkürzend. — Dem mäßigen Genuß der alkoholischen Getränke 
haftet der Fluch an, daß er für einen außerordentlich großen Teil unserer Volks- 
genossen einen Fallstrick bedeutet, daß er die Überleitung und Verführung zu dem 
von vornherein nicht erstrebten, ja verabscheuten unmäßigen Genuß bildet. Diese 
Tatsache ist eine naturnotwendige, da sie in der Wirkungsart des Alkohol- 
giftes und in der menschlichen Nervenbeschaffenheit begründet liegt. Wollte man 
nun auch optimistisch genug sein, anzunehmen, daß die letztere sich in absehbarer 
Zeit trotz der fortwährend in entgegengesetztem Sinne wirkenden Alkoholüberflutung 
wesentlich ändern und verbessern ließe, so bliebe doch der andere Faktor, die perfide 
Wirkungsart des Alkoholgiftes, unverändert, Somit ist die Sitte des mäßigen Ge- 
nießens alkoholischer Getränke die eigentliche Ursache zur Trunksucht. Die Hoff- 
nung, durch Ermahnung zur ‚Mäßigkeit‘ dem Alkoholelend auch nur 
irgendwie erheblichen Abbruch tun zu können, ist daher als utopisch 
zu bezeichnen. Diese Auffassung wird durch die Geschichte bestätigt; solange 
es geistige Getränke gibt, ist die Mäßigkeit gepriesen und vor der Unmäßigkeit 
gewarnt worden; mit welchem Erfolge, das zeigt ein Blick in das heutige Leben. 
Die Mäßigkeitsbestrebungen haben noch nie und nirgends die Alkoholflut eingedänmt. 
Dagegen sind die Erfolge der Enthaltsamkeitsbewegung schon jetzt in verschiedenen 
Kulturländern glänzende. Ihre Anhänger zählen in Amerika über 10 Millionen, in 
Europa gegen 7 Millionen; seit kurzem ist auch in Deutschland ein rasches Wachsen 
der Bewegung zu verzeichnen. Diese Bewegung ist eine notwendige, und da sie 
sowohl von den materiellen Interessen, wie von den idealen Kräften der Menschheit 
getragen wird, so ist ihr Sieg fest verbürgt.« 

Diese Erklärung war ursprünglich unterzeichnet von Dr. med. M. 
v. Pettenkofer, Professor in München (t); Dr. med. G. v. Bunge, 
Professor in Basel; Dr. med. Aug. Forel, ehem. Professor in Zürich; 
Dr. med. Alb. Mahaim, Professor in Lausanne; Dr. med. W. v. Speyr, 
Professor, Direktor der Irrenanstalt Waldau (jetzt Professor in Bern); 
Dr. med. A. Delbrück, Direktor der Irrenanstalt in Bremen; Dr. med. 
A. Fick, Professor in Würzburg (+); Dr. med. P. J. Möbius in 
Leipzig (t) Diesen sieben Hochschullehrern haben sich noch an- 
geschlossen: von Dozenten der Medizin 108, von Dozenten der Philo- 
sophie (im engeren Sinne) 17. 

Mit welchen raffinierten Mitteln nun aber diejenigen arbeiten, die 
mit der Verkommenheit und dem Unglück der Volksgenossen ihr 


Trüper: Der Weltkrieg und die Erziehungs- und Schulreform der Gegenwart. 5 





Geschäft machen, davon ein Beispiel, das ich jüngst erlebte, und das 
uns lehrt, warum wir nicht vorwärts können mit den volkserhalten- 
den Bestrebungen. 


In einer mir sonst nahestehenden Tageszeitung erschien ein Artikel 
mit der harmlosen Überschrift: »Genußmittel und Geschmacksstoffe 
im Kriege«, der Anlaß zu folgendem Briefwechsel gab. Ich schrieb 
am 5. Oktober d. J.: 


»In dem Artikel in der gestrigen Zeitung: ‚Genußmittel und Geschmacksstoffe 
im Kriege‘ wird behauptet: ‚Kein geringerer als von Pettenkofer hat den Genuß- 
mitteln hohes Lob gesungen‘ usw.; unter diesen Genußmitteln werden auch Bier 
und Wein genannt. Ich will den Wert oder Unwert dieser Genußmittel dahingestellt 
sein lassen. Es wird Ihnen aber noch wohl in Frinnerung sein, daß seinerzeit 
gerade Pettenkofer, dem sich ca. 130 Sachverständige anschlossen, eine direkt 
entgegengesetzte, sehr scharfe Erklärung gegen die Bestrebungen des hiesigen 
Bezirksausschusses in Hinblick ‘auf die Vermehrung des Konsums dieser Genuß- 
mittel gerichtet hat, eine Erklärung, deren Bedeutung leider erst der Krieg vielen 
hat begreiflich gemacht, vielen aber leider auch noch heute nicht. Haben Sie darum 
die Güte, den Verfasser des Artikels zu fragen, wo von Pettenkofer dieses Lob 
gesungen hat. Da es mit jener Erklärung in direktem Widerspruche steht, dürfte 
eine Aufklärung doch im Interesse des hervorragenden Hygienikers an sich sehr 
erwünscht sein.« 


Ich erhielt keine Antwort und schrieb wieder am 21. Oktober: 


>Auf meine Nachfrage, von Pettenkofer betreffend, bin ich leider bis heute 
ohne Antwort geblieben. Ich nehme an, daß die Beantwortung übersehen ist und 
keine Absicht darin liegt, was in einer so ernsten Angelegenheit für mich eine 
Kränkung bedeuten würde.« 


Darauf erhielt ich sofort folgende Antwort: 

»Die Notiz, in der Pettenkofers Name genannt war, entstammte einer Kor- 
respondenz. Nach Ihrer Anfrage habe ich nach dem Manuskript suchen lassen, es 
war aber nicht mehr vorhanden und ich kann beim besten Willen nicht mehr sagen, 
woher es kam. In dieser Zeit, da man doppelte Arbeit mit unzureichenden und 
ungeschulten Hülfskräften zu bewältigen hat, ist es garnicht zu vermeiden, daß 
einmal eine Notiz mit unterläuft, die bei einer Prüfung auf Herz und Nieren nicht 
standhält. Nur das glaube ich sagen zu können: daß eine absichtliche Verdrehung 
wohl nicht vorliegt, sondern eher ein Mißverständnis oder Irrtum. Denn ich pflege 
Einsendungen stets in erster Linie darauf anzusehen, ob sie von Interessenten aus- 
gehen und eine bestimmte Tendenz vertreten. Genaueres kann ich zu meinem 
Bedauern nicht mehr sagen.« 


Ich habe darauf erwidert: 

»Für Ihre Antwort vom 21. Oktober besten Dank. Wenn eine mir nicht 
genannte ‚Korrespondenz‘ den Artikel bei Ihnen eingeschmuggelt hat und dabei mit 
von Pettenkofers Namen alkoholistischen Unfug getrieben hat, so sind Sie eben arg 
damit hineingefallen, und immer wieder tritt uns in der Tagespresse die Unlauterkeit 
dieser Art Korrespondenz entgegen. .... Es gehört doch ein Anglo-Italienermut 
dazu, einer so hervorragenden Autorität wie von Pettenkofer das direkte Gegenteil 
in den Mund zu legen.« 


6 A. Abhandlungen. 





Ob es möglich sein wird, auch solche Aufsätze gegen Dirnentum 
und Alkoholmißbrauch einzuschmuggeln, lasse ich dahingestellt. Auf 
alle Fälle werden durch Artikel dieser Art aber Anzeigen wie die 
folgende wirksam unterstützt: 


»Feldpostpakete, 500 Gramm und 250 Gramm mit Kognak, Rum, Punsch, Stein- 
häger, ächtem Aromatik, Rotwein, Arrak usw. empfiehlt als geeigneteste Sendung 


ins Feld .... Bestellungen von Vereinen werden rechtzeitig erbeten. Geeignete 
Versand-Kartons für Weibnachtspakete vorrätig.« 
und: 


»Alle Landsturmmänner geben sich heute Freitag abend im Konzerthaus .... 
zur letzten frohen Stunde ein Stelldichein. Ein würdiges Programm! Anfang 6 Uhr. 
Zu ein paar erbaulichen Stunden ladet freundlichst ein.« 

Die Armee hat in Frankreich alle alkoholischen Getränke be- 
schlagnahmt. Unter der Mißdeutung und dem Mißbrauch eines ver- 
ständlichen Wunsches des deutschen Kronprinzen und — als dieser 
Humbug verboten wurde — unter Mißbrauch des Namens von Petten- 
kofer dürfen aber in zahllosen Paketen von je 500 g die konzen- 
triertesten Getränke jedem Soldaten ins Feld geschickt werden. Und 
die alten Landsturmmänner dürfen ungetadelt vor ihrem Abschiede 
anf vielleicht Nimmerwiedersehn von Weib und Kind fortgelockt 
werden bis nachts 1 Uhr in den Tingeltangel, wo saftige Lieder und 
Bier und Wein sie berauschen »zur letzten frohen Stundes, die 
zu einem paar, oder genau besehen zu sieben, »erbaulichen« werden 
können, im November 1915! Für Familienväter, die ins Feld ziehen 
müssen, ein »würdigere, »froher« Abschied! 

Dagegen darf nach acht Uhr abends der Bäcker kein Brot mehr 
verkaufen, und erst recht wird er bestraft, wenn er es am Sonntage 
tut, wo jene »erbaulichen« Stunden erst recht nicht verkürzt werden. 
Und ein Landgasthauswirt wurde bestraft, weil er einem Gaste von 
seinem überflüssigen Brote ein Butterbrot ohne Brotmarke verabreichte, 
obgleich jene Getränke, die für jeden Gast verkaufsfrei waren, mehr 
Brotkorn vernichteten, als zu einer Schnitte Brot nötig ist. 

Auf solche Widersinnigkeiten stößt man aber nicht bloß hier, sondern 
überall, bald mehr bald weniger, je nachdem die Einsicht und der Wille 
im Staats- und Kommunalregiment beschaffen ist. 

Mehr Verständnis herrscht erfreulicherweise in der Arbeiter- 
presse für diese so sehr ernste Volkserziehungsfrage. 

Auch dafür ein Beispiel: 

Die »Süddeutsche Arbeiterzeitung« schreibt: 

»Alkohol im Krieg. Was viele Friedensjahre nicht erreichten, das hat der 


Krieg mit einem Schlag erreicht: ein Alkoholverbot in fast allen kriegführenden 
Staaten. Das Wort des deutschen Kaisers: »Diejenige Nation gewinnt, die am 


Trüper: Der Weltkrieg und die Erziehungs- und Schulreform der Gegenwart. T 








wenigsten Alkohol genießt,« wenn es auch nicht buchstäblich in Erfüllung geht (das 
deutsche Volksheer ist eben auch einem enthaltsamen englischen Söldnerheer über- 
legen), ist doch der Ausdruck eines Wettkampfes um die größte Nüchternheit ge- 
worden, in dem selbst Rußland trotz Monopols und Frankreich trotz seines stark 
vorgeschrittenen Alkoholismus nicht zurückbleiben wollten. Völlige Alkoholfreiheit 
hat auch England keineswegs, am ehesten noch bei der Marine, aber für ganz alkohol- 
freie Haltung ist schon das Menschenmaterial des englischen Söldnerheeres nicht 
hochstehend genug. Die deutsche Manneszucht gleicht vieles an der noch unge- 
nügend vorhandenen Überzeugung aus. Die glänzende Mobilmachung ist ein schlagen- 
der Beweis dafür. Am weitesten in der Alkoholbekämpfung sind naturgemäß die- 
jenigen Staaten mit der entwickeltsten Enthaltsamkeit gegangen. 

Norwegen (1 organisierter Abstinent auf 8 Einwohner) hat ein völliges Staats- 
verbot auch für Bier erlassen. Es wird sogar berichtet, daß die Brauereien schon 
vor Erlaß des Verbotes ihre Gerste freiwillig zur Verfügung stellten. 

In Schweden (1:11) hat der Minister allen Behörden Verbotsmaßnahmen 
empfohlen, so daß auch hier die Praxis von einem völligen Alkoholverbot wohl nicht 
sehr weit entfernt ist. Der sozialdemokratische Parteitag verpflichtete seine Arbeiter 
zur völligen Enthaltsamkeit. 

Die Schweiz (1:35) hat — auf Verlangen des Bauernsekretariats — die 
Herstellung von Branntwein völlig verboten und die Abgabe von Monopolbranntwein 
eingestellt. 

In England (1:57) hat der Minister des Inneren ein Gesetz vorgelegt, das 
den Ortsbehörden die Schließung der Wirtschaften erlaubt. Verabreichung alkoho- 
licher Getränke an die Truppen wurde verboten. 

Deutschland (1:200) hat alkoholfreie Mobilmachung und Polizeistunde 
durchgeführt, an einzelnen Stellen auch weitergehende Verbote (z. B. Münster, Ein- 
schränkung der Branntweinerzeugung). Die strenge Durchführung hat inzwischen 
nachgelassen. 

Ungarn hat alkoholfreie Mobilmachung durchgeführt. 

Österreich (1: 200) hat keine Verfügung erlassen. 

Frankreich hat alkoholfreie Mobilmachung angeordnet und ein Absynth- 
verbot erlassen. 

Rußland hat während der Mobilmachung die Branntweinläden geschlossen 
und auch sonst energische Versuche gemacht, die allerdings wohl im wesentlichen 
auf dem Papier stehen blieben.') 

Übereinstimmung zwischen der Volksüberzeugung und den Re- 
gierungsanordnungen ist zweifellos die beste Sicherheit für eine 
alkoholfreie Kultur. Nur dieser Weg kann für Deutschland in Be- 
tracht kommen.« 


Wir lassen uns als Psychologen und Pädagogen grundsätzlich 
nicht ein auf den Streit über alkoholfreie Kultur oder mäßigen Genuß 
schlechthin. Wir haben nur einzutreten für die Erhaltung und Ge- 
sunderhaltung der Jugend, die ohne gesundes Familienleben nicht 


1) Nicht doch. Der »Tag« berichtete unlängst, daß die vielen Millionen, welche 
der Russische Staat durch den Ausfall im Alkoholmonopol eingebüßt, ihm wieder in 
fast derselben Höhe durch die Sparkassen zugeflossen seien! D.h. sie sind aufge- 
speichert für die Kultur des kommenden Geschlechts! Tr. 


8 A. Abhandlungen. 


möglich ist. Das Familienleben aber wird am meisten zerstört durch 
die Vorrechte des Alkoholvertriebes. Fallen die, so ist sehr viel 
gewonnen. Eine alkoholfreie Jugenderziehung ist übrigens für uns schon 
seit 25 Jahren etwas Selbstverständliches.!) Aber daß die Vertreter der 
Wissenschaft wie der Arbeiterschaft keinen anderen Ausweg als die 
volle Enthaltsamkeit aller sehen, das kennzeichnet uns den großen Ernst 
der Frage in Hinblick auf die Zukunft unseres Volkes, und nur ein 
Narr oder ein Ignorant oder ein gegen das Wohl und Weh 
der Mitmenschen wie der Nation Gleichgültiger kann sich 
über Enthaltsamkeit noch belustigen. 

Was nun aber diese Frage für die Jugend bedeutet, das habe 
ich bereits im Jahre 1899 in einem Vortrage auf dem Hilfsschul- 
verbandstage in Kassel, zum Teil unter spöttelnden Bemerkungen 
einiger Anwesender, ausgesprochen. Ich wiederhole die Leitsätze hier 
noch einmal. 

Sie sind übrigens damals bei Hermann Beyer & Söhne (Beyer 
& Mann) Langensalza im Sonderabdruck erschienen. Wer sie ver- 
breiten will, kann sie von dort beziehen. ?) 

>I. Die Physiologie und die Pathologie haben folgendes über die 
Wirkungen des Alkohols auf das Leibesleben unbestritten festgestellt: 

1. Bei jedem gesunden Menschen kann der Alkohol nicht als Nahrungsmittel 
gelten, weil Zucker, Pflanzenfette, Tierfette, Brot und Früchte allerlei Art als res- 
piratorische Nährmittel den angeblichen Zweck ebenso gut und billiger, zudem ohne 
Nachteil für den Organismus, erfüllen. (Wegen seiner fettbildenden sowie die 
Atmung und die Herztätigkeit beschleunigenden Wirkung bleibt der Alkohol gleich 
dem Arsenik und dem Phosphor in der Hand des Arztes ein Heil- oder Nährmittel, 
über dessen Wert die Mediziner sich noch uneinig sind und der Pädagogik keine 
Entscheidung zusteht.) 

2. Der Alkohol wärmt nicht, sondern täuscht nur ein Wärmegefühl vor. Er 
treibt das warme Blut an die Oberfläche des Körpers und entführt dadurch dem 
Körper die Wärme. ; 

3. Der Alkohol hat zwar zunächst eine günstige Wirkung auf die Arbeits- 
leistung sowohl des ermüdeten, wie auch des nicht ermüdeten Muskels. Diese 
günstige Wirkung erfolgt fast unmittelbar nach dem Genuß, ist aber nur von 
kurzer Dauer. Später wirkt der Alkohol ausgesprochen lähmend. Die Muskel- 
leistung reduziert sich ungefähr eine halbe Stunde nach Verabreichung des Alkohols 
auf ein Minimum, welche durch neue Alkoholdosen nur schwer wieder gehoben 


1) Vergl. Wilker, Dr. Karl, Alkohol und Jugendpflege. Hamburg 1913. — 
Trüper, Das Erziehungsheim u. Jugendsanatorium Sophienhöhe. 14. Aufl. Jena 1915. 

2) Vergl. auch: Wilker, Alkoholismus, Schwachsinn und Vererbung in ihrer 
Bedeutung für die Schule. Mit 3 Tab. und 2 Fig. im Text, sowie 22 mehrfarbigen 
Tafeln. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1911. 33 8. — 
Ebenso: König, Karl, Kreisschulinspektor, Der Alkohol in der Schule. Beiträge 
zur Persönlichkeitspädagogik für Schule und Haus. Straßburg i. Els., Friedr. Bull, 
1912. IV u. 345 S. 





Trüper: Der Weltkrieg und die Erziehungs- und Schulreform der Gogenwart. 9 


wird. Diese lähmende Wirkung des Alkohols gleicht den ihr vorhergehenden kurzen, 
anregenden Einfluß desselben bei weitem nicht wieder aus, und die Gesamtsumme 
der Arbeitsleistung ist nach Genuß von Alkohol kleiner, als bei Arbeitsleistung ohne 
Alkohol. Der Alkohol spendet also keine Kraft, sondern schwächt die Muskelkraft 
und vermindert die Widerstandsfähigkeit des Organismus bei anstrengenden Arbeiten. 

4. Der Alkohol wirkt bei verschiedenen Menschen verschieden. Neuropathische 
Erwachsene, Jugendliche und vor allem Kinder reagieren stärker als Erwachsene 
bezw. Nervengesunde auf Alkoholgenuß. 

5. Es ist physiologisch, ätiologisch, pathologisch und anatomisch erwiesen, und 
alle ernsten Forscher sind sich darüber einig, daß ein regelmäßiger Alkoholgenuß 
von mehr als 55 g täglich, das ist so viel, wie etwa 1 1 Bier enthält, jedem Menschen 
einen nicht auszugleichenden Schaden verursacht, daß für Kinder und nerven- 
schwache oder sonst leidende Erwachsene aber jeder Alkoholgenuß nachweisbar 
nachteilige Folgen hat. Eine Meinungsverschiedenheit herrscht unter den Forschern 
nur noch darüber, ob auch geringere Alkoholdosen gesunden Erwachsenen merk- 
lichen und dauernden Schaden bringen. 

6. Der Alkohol schwächt den Organismus in seiner Lebensfähigkeit, vermindert 
die Widerstandsfähigkeit und macht den Organismus allen Krankheitsursachen mehr 
zugänglich. Darum ist — wie die Krankheitsstatistik lehrt — der Alkoholgenuß die 
Ursache von einem Drittel aller Kraukheiten und Trinker haben 3 bis 4mal mehr 
Krankheitstage als Enthaltsame oder Mäßige. 

7. Der Alkoholgenuß verkürzt das Leben. Nach der Sterblichkeitsstatistik bringt 
er einem Neuntel der Trinker direkt und einem Drittel indirekt den Tod und es ver- 
hält sich die Sterblichkeit der Trinker zur allgemeinen Sterblichkeit wie 3 : 1. 

8. Der Alkohol ist unbestritten ein Genußmittel. Er verschafft uns euphorische 
Gefühle, indem er beschleunigend auf die Herztätigkeit, aber lähmend auf die 
Funktion der Gehirnzellen wirkt. 

9. Die größten Gefahren des Alkohols liegen darin, daß er aicht durststillend 
wirkt, sondern wie Morphium, Opium und ähnliche Rauschmittel, das immer stärkere 
Verlangen nach immer größeren Dosen weckt, so daß der regelmäßige Genuß, 
namentlich bei jugendlichen und neuropathischen Personen, in den meisten Fällen 
zur Sucht wird. 

II. Die psychologische Beobachtung wie experimentelle For- 
schung über den Einfluß des Alkoholgenusses auf das Seelenleben 
ergab als übereinstimmendes Resultat: Der Alkoholgenuß verdirbt wie die 
Gehirnzellen so auch die durch das Nervensystem vermittelten seelischen Funk- 
tionen, und zwar so, daß sie nicht auf einmal gänzlich erlöschen, sondern, gleich 
den in zerstreuter Lage zerfallenden Nervenzellen, allmählich abstumpfen oder ent- 
arten. Er verursacht so alle Arten von psychopathischen Minderwertigkeiten. Ins- 
besondere sind es folgende zum intellektuellen und moralischen Schwachsinn führende 
Abminderungen: 

1. Durch Alkoholgenuß wird die Auffassung erschwert und es werden die 
Sinnesorgane abgestumpft. 

2. Das Denken wird verlangsamt und das Auswendiglernen erschwert. 

3. Die Denkleistungen werden quantitativ herabgemindert und qualitativ ver- 
schlechtert. 

4. Die willkürliche Perzeption, die willkürliche Reproduktion und die willkür- 
liche Association werden gelähmt und damit wird die Überlegung gehemmt. Infolge- 
dessen nimmt die Fehlerhaftigkeit der geistigen Arbeit zu und die Zuverlässigkeit ab. 


10 A. Abhandlungen. 





5. Die Association der Vorstellungen erfolgt nach Alkoholgenuß mehr 
mechanisch nach rein äußern Zufälligkeiten und dem Klange der Worte und 
weniger nach innerem, logischem Zusammenhange der Sachen und Tatsachen. Nach 
Alkoholgenuß nimmt darum die Geschwätzigkeit zu und die Denkfähigkeit ab. 

6. Der Gefühlszustand bleibt mehr von Zufälligkeiten abhängig. Die feineren 
Gebilde des Gemütslebens werden zerstört. Namentlich schwindet das sittliche 
Taktgefühl, die Freude an allem Hohen und Edlen, das Interesse für die höchsten 
Ideale des Menschen. 

7. Die Wahl des Guten wird erschwert. Die sittlichen Begriffe werden konfuser. 
Recht und Unrecht wird schwerer unterschieden. Die Grundsätze für ein sittliches 
Handeln werden schwankender. Das ernste Wollen erschlafft. Der Mensch demoralisiert. 

8. Durch den Alkoholgenuß wird der Bewegungsdrang gesteigert, während die 
Wahl der Bewegungen nach Zweckmäßigkeit große Einbuße erleidet. Die Neigung 
zum unüberlegten und zwecklosen, impulsiven und gewalttätigen Handeln macht den 
Alkoholisten verbrecherfähig, und so werden die Feiertage, an weichen die Menschen 
den meisten Alkohol genießen, zu Verbrechertagen. 

II. Direkte Verderbnis der Jugend durch Alkohol: 

1. Der häufige oder gar regelmäßige Alkoholgenuß degeneriert Leib und Seele 
der Kinder noch in weit höherem Maße als bei Erwachsenen, und das um so mehr, 
je schwächer oder abnormer das Kind an Leib und Seele veranlagt ist. 

2. Es ist eine bedauerliche Tatsache, daß in den Familien weiter Volks- 
schichten den Kindern von der Wiege bis zum Jünglingsalter schädliche Quantitäten 
Schnaps, Bier und Wein verabreicht und damit die Kinder an Leib und Seele 
schwer geschädigt werden. 

3. Noch verderblicher für die Jugend wirkt der privilegierte (an keine Sonn- 
tags- wie Nachtruhe gesetzlich gebundene) Alkoholhandel in den Kneipen, Tanzlokalen 
und Tingeltangeln. Er schafft uns insbesondere das Heer jugendlicher Verbrecher. 
(Im Jahre 1893 waren es 43 776.)!) 

IV. Indirekte Jugendverderbnis durch die sozialen Verheerungen 
des Alkohols: 

1. Der Alkoholismus wirkt (nach I bis III) numerisch wie in seiner Folge ver- 
heerender als jede Volksseuche. Außerdem aber schafft er in unzählbaren Familien 
und Gemeinden Armut, Elend und moralische Zerrüttung, raubt damit den Kindern, 
was für ihre leibliche und seelische Entwicklung unbedingt notwendig ist. Infolge- 
dessen verkommen und verkümmern Tausende an Leib und Seele. 

2. Der Alkoholismus,verschlingt so viel vom Nationalvermögen (!/, des Gesamt- 
einkommens, fast viermal mehr als Flotte und Heer), daß infolgedessen die notwendigste 
Schulung der Jugend unterbleibt. (In Preußen allein fehlen 13570 Schulklassen.) °) 

V. Statistische und ätiologische Nachforschung über die Vererbung des 
Alkoholismus ergaben folgendes: 

1. Alle minderwertigen und degenerativen Zustände, welche der Alköholgenuß 
schafft, sind als Anlage in verschiedenen Variationen und Komplikationen auf die 
Nachkommenschaft übertragbar. Bei mindestens !/, aller im Leibes- oder Seelen- 
leben geschwächter oder regelwidrig veranlagter Kinder, d. i. im deutschen Reiche 
bei mindestens 33000 Kindern und Jugendlichen, ist der Alkoholgenuß der Eltern 
die Grund-, die Mit- oder die Gelegenheitsursache der Schwächen und Entartungen. 

2. Die alkoholistische erbliche Belastung wirkt um so folgenschwerer, je mehr 
Generationen schon dem Alkoholübergenuß ergeben waren. 


1) Im Jahre 1912 waren es 54949. — ?) Im Jahre 1899. 


Trüper: Der Weltkrieg und die Erziehungs- und Schulreform der Gegenwart. 11 








VI. Es ist Aufgabe eines jeden Vaterlandes- und Jugendfreundes, 
durch gutes Beispiel, durch Aufklärung, wie durch Erstrebung von 
gesetzgeberischen Schutzmaßregeln den verheerenden Wirkungen 
des Alkoholismus mit allen Kräften entgegenzuwirken und damit die 
Hauptursachen der Schwächen und Entartungen in Leibes- und Seelen- 
leben der werdenden Generation zu bekämpfen.« 

Der Krieg mit seinen Folgen wird hoffentlich jeden Leser gelehrt 
haben, wie ernst jetzt diese Frage zu nehmen ist. Wesentlich andere 
Ergebnisse haben seit der Zeit Wissenschaft wie Volksleben nicht ge- 
zeitig. Im übrigen verweise ich auf die umfangreichste und bedeut- 
samste Schrift über die Alkoholfrage: Hoppe, Die Tatsachen über den 
Alkohol. 4. Aufl. XVI. u. 746 S. München, Ernst Reinhardt, 1912.1) 


I. 

Die zweite, unsern Erziehungszielen entgegenstrebende, Volkskraft 
zerstörende und Volkszahl vermindernde Seuche ist die schon mit- 
erwähnte außereheliche geschlechtliche Genußsucht. Wie die 
verheerende Wirkung des Alkoholismus in dem bevorrechteten 
Schankstättengewerbe und Alkoholhandel in erster Linie seinen Aus- 
gangspunkt hat, so die Geschlechtskrankheiten in den Animierkneipen, 
den öffentlichen nächtlichen Tanzlokalen und den staatlich konzessio- 
nierten Bordells. Wer darüber Näheres lesen will, der wende sich an die 
»Zeitschrift des deutsch-evangelischen Vereins zur Förderung der Sitt- 
lichkeit« (Plötzensee, 12 Nummern jährlich 1 M postfrei). Jede Nummer 
erzählt uns haarsträubende Dinge. Es ist jetzt viel von Kriegsprofiten 
gesprochen worden wegen der damit zusammenhängenden Lebens- 
mittelverteuerung. Was bedeuten aber diese Profite gegen die hohen 
Dividenden, die die Besitzer von Bordellstraßen und Bordellhäusern 
einsäckeln? 200 Prozent ist nichts Außergewöhnliches. Und mit 
diesen hohen Gewinnen wird unser Volk in seinem Familienleben 
vergiftet und wird die Nachkommenschaft verschlechtert und ver- 
mindert. Wer aber dagegen auftritt, davon weiß u. a. der General- 
sekretär jenes Vereins, Pastor Lic. Bohn in Plötzensee, aber auch ich 
selbst ein Lied zu singen, der ist einflußreicher Leute und mancher 
Behörden Freund nicht. Wie faul es dabei bei den Aufsichtsbehörden 
der Bordelle aussieht, zeigt die folgende Notiz aus der Tagespresse: 


»‚Exkommissar Schmidt vor der Strafkammer. Am 1. September 1914 
wurde der ehemalige Frankfurter Kriminalkommissar Robert Schmidt von der Straf- 


1) Ferner: Wilker, Die Bedeutung und Stellung der Alkoholfrage in der Er- 
ziehungsschule (1908); Alkoholismus, Schwachsinn und Vererbung (1912); Jugend- 
pflege und Alkobol. Weitere Literatur in dem von Wilker herausgegebenen Jahr- 
buch für Alkoholgegner 1915 (Guttempler-Verlag, Hamburg). 


12 A. Abhandlungen. 








kammer zu zwei Jahren Zuchthaus und fünf Jahren Ehrverlust verurteilt, weil er 
als Sittenkommissar gegen Geldgeschenke und ‚Frühstückskörbchen‘ der Besitzerin 
eines öffentlichen Hauses sein besonderes Wohlwollen zugewendet und dabei Hand- 
lungen begangen hatte, die eine Verletzung der Amtspflicht darstellten. Damals 
wurden zwei Punkte der Anklage abgetrennt und vertagt, so daß jetzt eine Nach- 
lese an der Strafkammer stattfinden mußte. Schmidt erschien, aus dem Zuchthaus 
Wehlheiden vorgeführt, in Sträflingskleidung auf der Anklagebank. Es handelte sich 
um das seinerzeit erörterte Projekt des Bauunternehmers Fricke in Duisburg, die 
Gneisenaustraße in eine Straße mit öffentlichen Häusern umzuwandeln. Schmidt 
sollte dem Fricke mit Rat und Tat zur Hand gegangen sein und ihm insbesondere 
auch eine Käuferin zugeführt haben. Fricke hatte natürlich diese ‚Gefälligkeiten‘ 
nicht umsonst verlangt und, wie er vor der Strafkammer als Zeuge zugab, gelegent- 
lich zu Schmidt gesagt, es würden ein paar Tausend Mark für ihn abfallen, wenn 
das Projekt zustande komme. Jenes Vorhaben scheiterte am Widerspruch zahlreicher 
Bewohner des Bahnhofsviertels. Die Anklage warf Schmidt nun vor, daß cr sich 
für in sein Amt einschlagende, an sich nicht pflichtwidrige Handlungen Geschenke 
habe versprechen lassen. Das Urteil lautete auf Freisprechung. In dem Be- 
stechungsfall sei nicht festgestellt, daß sich der Angeklagte für bestimmte in 
sein Amt einschlagende Handlungen Geschenke habe versprechen lassen.« 

Jedes weitere Wort dazu ist überflüssig. 

Das ist aber nur ein Beispiel von vielen. 

Wo wir solche Seuchenherde im deutschen Volke haben, sind 
sie nie ohne Schuld der Stadt- und Kreisbehörden und -vertretungen ent- 
standen, auf alle Fälle trotz aller Proteste von diesen geduldet worden. 

Was bedeutet gegenüber solchen chronischen Volksverwüstungen 
eine Typhusseuche, wie wir sie in Jena eingeschleppt bekommen 
hatten! In Alldeutschland wurde hierüber ein Gelärm erhoben, als 
wenn Jena wegen dieses Typhusherdes wie die Pest gemieden werden 
müsse Und alle Jahre gehen doch fast in allen größeren Städten!) 
weit mehr Menschen zugrunde an Geschlechtskrankheiten und Alkoho- 
lismus als in Jena und an anderen Orten am Typhus, von der ent- 
arteten oder ausbleibenden Nachkommenschaft der so Verseuchten 
ganz abgesehen. Und diese Seuchenherde genießen städtischen Schutz. 
Und eine ganze Bevölkerung duldet das oder wird darüber in Un- 
kenntnis gehalten. ?) 

Ein auch über die Reichsgrenzen hinaus bekanntes Erziehungs- 
institut beschwerte sich über eine heimlich entstandene Animierkneipe 
in seiner Nachbarschaft und der einer Oberrealschule, wo die Dirnen am 


1) In Dortmund wurde während des Krieges eine zweite Bordellstraße einge- 
richtet im Mittelpunkte der Stadt und in der Nähe des Hauptbahnhofs, weil die bis- 
herige in der Vorstadt gelegene Bordellstraße für die Fremden zu schwer erreichbar 
sei. So berichtet jene Zeitschrift zur Förderung der Sittlichkeit. 

?) Vergl. hierzu den vortrefflichen Aufsatz von Dr. Max Joseph Metzger: 
Der Kampf gegen die Unsittlichkeit in und nach dem Kriege, in Kausens »All- 
gemeine Rundschau.«e Jahrg. 1915. Nr. 40. 


Trüper: Der Weltkrieg und die Erziehungs- und Schulreform der Gegenwart. 13 





hellen Tage Schüler anlockten, und wo sie auch sonst argen Anstoß an 
der verkehrsreichen Straße erregten. Die Erziehungsanstalt hat auf eine 
eindringliche, mit reichem Material begründete Beschwerde erst nach 
einem halben Jahr überhaupt eine Antwort bekommen und dann 
noch eine nichtssagende. Erst das Generalkommando dieses Bezirks hat 
die Hunderte von geschlechtsreifen Schülern von dieser Nachbarschaft 
erlöst und zugleich eine Bäckerei gestattet, die jene selbe Stadtbehörde 
in der Nachbarschaft jener Schule für schädlich hielt! 

Ich habe im vorigen Jahrgange dieser Zeitschrift, Heft 9, schon 
nachdrücklich genug auf diese Pestbeule unseres sozialen Organismus 
hingewiesen. Ich will hier nur noch einmal auf die Blindheit so 
vieler Verantwortlichen hinweisen. 

Wenn die Polizeichefs und die Kommunalverwaltungen und ein 
Teil der Ärzte Animierkneipen und Bordelle noch für nötig halten, 
dann möge man sie doch in den Rathäusern der Städte auf der Ab- 
teilung »Polizeiverwaltung« oder in den Medizinischen Kliniken, soweit 
hier diese Forderungen vertreten werden, unterbringen, nicht aber in 
der Nachbarschaft großer Schulen und Erziehungsanstalten, auch nicht, 
wie in zahlreichen Städten in der Nähe der Hauptbahnhöfe, wo die 
arglose Jugend der Provinz zum dauernden Schaden für sich und 
ihre Nachkommenschaft sofort nach der Ankunft in Versuchung ge- 
führt wird. Wir Vertreter der Jugend können auch nicht nachdrück- 
lich genug dagegen protestieren, daß Kleinstädte, und namentlich Uni- 
versitätsstädte, Bordelle haben oder mit Bordells wie mit Forts um- 
geben werden, damit die Jugend bei ihren »Exbummels« hineinfalle 
und an Leib und Seele dauernden Schaden nehme. 1) 

Auch diese »Schulreform« ist wichtiger als jede andere der viel 
erörterten. Aber wer diese Fragen anrührt, der greift in mehrere 
Wespennester zugleich. Ich weiß selbst davon aus langer Zeit zu er- 
zählen. Wer aber aus Furcht die Augen dagegen verschließt, macht 
sich einer vaterländischen Unterlassungssünde schuldig. 

Auch hat der Krieg nicht viel darin gebessert. Denn es ist noch 
im Kriegsjahr vorgekommen, daß Schüler im Pubertätsalter auf Schul- 
wanderungen bis zu 4 und 5 Glas Bier trinken und daß nach Ober- 
sekunda versetzte Schüler ihren Einjährigen mit Kneipgelagen bis weit 
nach Mitternacht feiern konnten, so daß es uns nicht wundern kann, 
wenn schließlich eine Prima schon bis zu 10°/, Geschlechtskranke 
zählt, denn der jugendliche Alkoholgenuß lockert die Sitte und den 

1) Eine Handbibliothek über diese wichtige Volksfrage versendet die Geschäfts- 


stelle des Deutschen Sittlichkeitsvereins für 1,20 M postfrei. Die schnell orientieren- 
den Hefte sollten auch in die Lehrer-Bibliotheken eingestellt werden. 


14 A. Abhandlungen. 





inneren Halt, und die nächtliche Jugendkneipe liegt nicht selten am 
Wege zur Dirne. Solange die Prostitution noch staatlich oder städtisch 
konzessioniert ist, bleibt alle sittliche Erziehungsarbeit an Volk und 
Jugend umsonst. 

Da begrüßen wir mit besonderer Freude unsere neuen und macht- 
vollen Kampfgenossen für wahre Schulreform und Jugendwohl, nämlich 
für die Erhaltung und Vermehrung der Volkskraft in leiblicher, seelischer 
und wirtschaftlicher Hinsicht: die Stellvertretenden General- 
kommandos. Sie fordern jetzt durch Verfügungen, was Pesta- 
lozzi, Dörpfeld und mit ihnen Hunderttausende von für Jugendwohl 
verantwortlichen Lehrern und Erziehern und was auch wir in 
der »Zeitschrift«e wie in den »Beiträgen« seit je erstrebten. Unser 
Mitarbeiter und Mitstreiter, Strafanstaltspfarrer Johannes Jäger, 
forderte aus der Erfahrung an den Sträflingen heraus z. B. schon 
1898 in seiner Schrift: »Zunahme der Verbrechen und Abhilfe Ein 
Beitrag zur Lösung der sozialen Frage (Leipzig, Deichert)«: 

»Die Lehrlinge unserer Tage sind im Besitze einer Freiheit, der 
sie sittlich nicht gewachsen sind, die ihr Unglück werden muß.« (S. 70.) 

»Vor dem 17. Jahre, noch besser vor dem 18. Jahre ist das Rauchen zu 
verbieten und das Schnupfen! Wo der Sinn für das Schöne, Wahre 
und Gute gepflegt werden soll, da darf vernünftigerweise nicht geduldet werden, 
daß die grobe Sinnlichkeit im Reiz durch Tabakrauchen und -schnupfen Befriedigung 
sucht. Wenn es Aufgabe der moralischen Erziehung ist, dahin zu wirken, daß die 
sinnlichen Begehrungen keine zu große Stärke erlangen und der Vernunft unter- 
worfen bleiben, dann lasse man "keinen Genuß, sofern er nicht von der Natur 
bleibend gefordert wird, zum Bedürfnisse werden, leite den Zögling vielmehr an, 
reizende Genüsse sich auch versagen zu lernen.« (S. 72.) 

»Ich gehe weiter und sage: Verbietet der heranwachsenden Jugend den Besuch 
von Spinnstuben, Wirtshäusern und Tanzmusiken bis zum 18. Lebensjahre. 
Es verträgt sich schlecht mit der gestellten Bildungs- und Erziehungsaufgabe der 
obligatorischen Fortbildungsschule, wenn nebenher der Schüler Orte und Gelegen- 
heiten aufsuchen darf, die alle Arbeit der Schule illusorisch machen können und 
leider schon oft gemacht haben. 

Die Jugend sucht Geselligkeit, Heiterkeit — und was bietet sich ihr in Spinn- 
stuben, Wirtshäusern, bei Tanzmusiken? Pflege des Geistes und des Körpers? Lernt 
man an diesen Orten die Herrschaft des Geistes über den Leib? Lernt man dort 
Anstand, das Benehmen, das auf dem inneren Wesen und sittlichen Gehalt 
des Menschen, seinem Feingefühl (Frauen) und seiner intellektuellen Bildung (Männer) 
beruht? Findet dort die Aufmerksamkeit der Jugend das Gute, Wahre und Schöne? 
Lernt sie dort. was wir im Chinesischen Liederbuch Schi-King (übersetzt von 
Friedr. Rückert) lesen, nicht in der Bibel: 

‚Trachte, daß dein Äuß'res werde 
Glänzend und Dein Innres rein; 
Jede Miene und Gebärde, 
Jedes Wort ein Edelstein! 


Um zu sein der Herr der Erde: 
Gatte Wesenheit und Schein.‘« (S. 73.) 





Trüper: Der Weltkrieg und die Erziehungs- und Schulreform der Gegenwart. 15 





I. 

Die dritte Jugendverbildungsstätte ist das Kino. 

Darüber haben zwar Götze,!) Delitsch?) u. a. schon mehrfach 
an diesem Orte ein ernstes Wort gesagt, und unser Mitarbeiter Ge- 
richtsassessor Dr. Albert Hellwig?) hat über »Kind und Kino« 
uns einen außerordentlich gründlichen und alle Seiten beleuchtenden 
»Beitrag« geliefert, den ich den nationalen Kämpfern gegen die Feinde 
im Innern nicht warm genug empfehlen kann. Aber mit Beispielen 
muß man leider auch hier die festen Stellungen unserer Volksverderber 
immer aufs neue deutlicher beleuchten, wenn man die Notwendig- 
keit eines Angriffes überzeugend dartun will. 

Ich habe vor zwei Jahren versucht, in einer Tageszeitung darüber 
zu Gehör zu kommen. Ich bekam aber meinen Artikel zurück mit 
der Bemerkung, daß die Zeitung geschädigt werden würde durch Ent- 
ziehung von Anzeigen beim Abdruck meines Aufsatzes. So geht der 
reiche Jüngling auch heute noch wie zu Jesu Zeiten betrübt, wenn 
nicht manchmal frivol von dannen, »dieweil er viele Güter hatte,« — 
d. h. den »Profit« durch Duldung oder Begünstigung von Volksver- 
wüstungen einheimst. — 

Nach einer Kinostatistik im Augustheft des »Türmers« von 1913 
werden in Deutschland tagaus, tagein 3000 Kinotheater von 1'/, Millionen 
Menschen besucht. Die Jahreseinnahme beträgt etwa 150 Millionen 
Mark. Jeder Deutsche vom 10. Jahr an gerechnet gibt also jährlich 
etwa 4 M für das Kino aus. Die internationale Wochenproduktion 
an Filmmetern beträgt 2373 000. 

Daß die Kinomatographie für Wissenschaft und Belehrung aus- 
gezeichnetes zu leisten vermag, hat mehr als einmal in Jena uns die 
Firma Zeiss bewiesen. Welche unsagbaren Schäden das Kino aber 
anrichtet und wie blind oder machtlos die Stadtverwaltungen gegen 
diese Gefahren sind, das haben uns Bremer Lehrerinnen unwiderleg- 
lich dargetan. 

Durch eine Nachfrage in ihrer Klasse hatte eine frühere Schülerin 
von mir, die Vorstadtlehrerin Fräulein Lucie Meyer, entdeckt, daß 
auch in den besonderen Kindervorstellungen zum Teil sehr bedenk- 
liche Vorführungen geboten wurden. Sie hielt infolgedessen einen 
Vortrag über »Kinomatograph und Kinderwelt«. Im Anschluß an 
diesen Vortrag erklärten sich 18 Lehrerinnen, 7 von höheren Schulen 
Schulen und 11 Volksschullehrerinnen, bereit, zwei Monate lang, 


1) Jugendpsyche und Kinomatographie. Jahrg. XVI, 1911, S. 416 f. 


2) Ursachen der Verwahrlosung Jugendlicher. Beiträge-Heft 75. 
$) Beiträge-Heft 119. 


16 A. Abhandlungen. 





Februar und März, Wochentags wie Sonntags die Kinderaufführungen 
in allen Stadtteilen und in den Vorstädten zu beobachten. Jede 
Lehrerin hatte dabei eine Woche lang ein bestimmtes Theater zu 
beobachten. So wurden über jedes der 11 Theater in jeder Woche 
genaue Aufzeichnungen gemacht. Mit großer Gewissenhaftigkeit haben 
die beteiligten Lehrerinnen ihre Beobachtungen aufgezeichnet, und 
das von ihnen gesammelte Material ist vom Verein Bremischer 
Lehrerinnen und vom Verbande Bremischer Volksschullehrerinnen der 
Behörde unterbreitet worden mit der Bitte, nach Prüfung der vor- 
liegenden Ergebnisse geeignete Maßregeln für den ferneren Besuch 
der Kinder in den Lichtspielhäusern zu treffen. 

Auch wurde der Bericht veröffentlicht in der » Lehrerin « (30. Jahrg, 
Nr. 20 u. 21). Mit Erlaubnis derselben und mit Zustimmung von 
Frl. Meyer bringen wir ihn hier noch einmal zum Abdruck, denn er 
enthält Dokumente, die in einer »Zeitschrift« und in »Beiträgen« 
für Kinderforschung nicht fehlen dürfen, obgleich durch meine Ver- 
mittelung Hellwig das Material für seinen »Beitrag« (Heft 119) schon 
zur Verfügung stand und auch von ihm mit verarbeitet wurde. Dem 
Bericht waren noch acht Anlagen beigegeben, von denen des Raumes 
wegen einige leider auch wir nur im Auszuge wiedergeben können. 
Statt dessen fügen wir noch die behördlichen Erklärungen hinzu, die 
die »Lehrerin« nicht brachte. 


Bericht über die Besuche der Kindervorstellungen in den 
Bremischen Kinematographentheatern. 


In den Monaten Februar und März besuchten wir die Kindervorstellungen in 
sämtlichen 11 Kinematographentheatern der Stadt: Lichtspielhaus, Kaiser-, Hansa-, 
Metropol-, Opera-, Apollo-, Zentral-, Palasttheater, Odeon (Vorstadt Hastedt), Luna 
(Vorstadt Walle), in den letzten Wochen auch das erst eröffnete Theater im 
Schützenhof. 

Die Verteilung der Arbeit wurde so gemacht, daß jede Lehrerin eine Woche 
lang ein bestimmtes Theater zu beobachten hatte. Auf diese Weise war es möglich, 
über jedes Theater in jeder Woche Aufzeichnungen zu machen. 

Die Vorführungen wurden bezeichnet als Kinder- und Familienvor- 
stellung. 

Die Zeit der Vorstellungen 
war in den verschiedenen Theatern verschieden; an den Wochentagen gewöhnlich 
von 4--6!/, oder 7 Uhr, am Sonntag von 2—6 oder 6'/ Uhr. In verschiedenen 
Fällen blieben Kinder über den Schluß der Kindervorstellung hinaus oder kamen in 
Begleitung Erwachsener zur Abendvorstellung hinein (beobachtet im Lichtspielhaus, 
Obernstraße am 24. Februar [siehe Anlage A] und 4. März, im Luna- Walle am 
12. Februar und 13. März [siehe Anlage B]). 

Es wird ein Fall berichtet, daß Schulmädchen lange Kleider angezogen haben, 
um in die Abendvorstellung gelangen zu können. 


Trüper: Der Weltkrieg und die Erziehungs- und Schulreform der Gegenwart. 17 


Luft und Licht. 


Die Luft war im allgemeinen verbraucht und voll von Staub. Im Hansatheater 
(Tannenstraße) und Zentraltheater (Nordstraße) Rauch und Biergeruch. Mangeihafte 
Lüftung; wo sie erfolgt (Luna), starker Zug. 

Licht. Starkes Flimmern der Films, besonders in den Vorstadtkinos. 


Aufsicht. 


Teils gut, teils der großen Kindermenge gegenüber machtlos. (Odeon faßt 
1000 Personen, Luna 500 Personen, dafür drei oder vier Aufsichtführende.) Im 
Metropol-, Apollo- und Palasttheater wurde eine Trennung der Geschlechter ver- 
sucht, aber nicht immer streng durchgeführt. In andern Theatern findet sie nicht 
statt. Es kommen Unzuträglichkeiten vor. Die Mädchen bezeichneten einmal das 
Benehmen der Knaben als unanständig (siehe auch Anlage C). In einzelnen Fällen 
ist Überfüllung beobachtet worden, z. B. in Luna saßen einmal auf 14 Klapp- 
stühlen 21 Kinder. 


Benehmen der Kinder. 


a) Während der Pausen: in den Theatern Obernstraße und Sögestraße 
einwandfrei, in andern Theatern mehr oder weniger unruhig, zum Teil wüst. 
Umberlaufen, Schreien, Werfen mit Apfelsinenschalen, leeren Bonbonschachteln 
(siehe Anlage C). Prügelszenen finden statt. Ein Junge in Luna erzählt, daß ein 
Knabe im Kino einen andern Knaben mit dem Messer gestochen habe und hinaus- 
geworfen worden sei. Knaben rauchen heimlich. Durch fortwährendes Anbieten 
von Süßigkeiten wird die Neigung zum Naschen gefördert, wie überhaupt das Kino 
die Jugend zu leichtfertigen Ausgaben verleitet. 

b) Während der Vorstellung: Während der Vorführungen belehrenden 
Inhalts durchweg mangelhaftes Interesse, daher große Unruhe, teilweise lärmender 
Protest. Tier- und Jagdgeschichten erregen hin und wieder Beifall. Geographische 
Bilder werden gleichgültig und verächtlich aufgenommen. Bilder aus dem Gebiet 
der Technik finden etwas mehr Gegenliebe, sobald sie den Kindern verständlich 
sind. Bei Liebesdramen und Stücken sensationellen Inhalts gespannteste Auf- 
merksamkeit. 

Inhalt der Kindervorstellungen. 


Films belehrenden Inhaltes: Die oft wertvollen Naturaufnahmen werden 
wegen der Ungeduld der Kinder zu schnell abgerollt, so daß die Eindrücke zu 
flüchtig und zu vielseitig sind, um wirken zu können. (Küsten der Nord- und 
Ostsee: in 5 Minuten 23 Bilder; Aufnahmen von Hamburg: in 3 Minuten 14 Bilder; 
die Donau von Wien bis Preßburg: in 3 Minuten 17 Bilder.) Durch die Schnelligkeit 
können falsche Vorstellungen erweckt werden (siehe Anlage D). Es fehlt das er- 
klärende und belehrende Wort; daher viele Bilder unverständlich und ohne Interesse. 

Humoristische Dramen: Grobe Situationskomik ; abstoßende, widerliche 
Grimassen. Starke Übertreibung, noch unterstützt durch die Handlung begleitende 
Geräusche: Autohupe, Zerschlagen von Porzellan, Häusereinsturz usw. (siehe 
Anlage E). 

Diese und die folgende Gruppe der Bilder nehmen etwa °/, der Zeit in Anspruch. 

Liebesdramen und sensationelle Stücke: spotten jeder Beschreibung!!! 
Vergleiche das reiche Material (Anlagen E und G [Kinderaufsätze)). 

Zeitschrift für Kinderforschung. 21. Jahrgang. 2 


18 A. Abhandlungen. 








Einwirkung auf die Kinder. 


a) Gesundheitliche Schädigungen. Das stundenlange Sitzen (Kinder- 
vorstellung von 2—6'/, Uhr!) in Dunkelheit und schlechter Luft schädigt den 
ganzen Organismus der Kinder aufs schwerste. Die Augen werden durch das schnell 
wechselnde, stark flimmernde Bild entsetzlich gequält. Der Geist kommt nie zur 
Ruhe; die schreckhaften und aufregenden Bilder verfolgen manche Kinder bis in 
den Traum (siehe Anlagen H, 1 und 2). Die bei den Beobachtungen beteiligten 
Lehrerinnen empfanden nach den Besuchen starke Ermüdung oder auch Nerven- 
anspannung. Wieviel größer muß die schädliche Einwirkung auf den zarten Orga- 
nismus der Kinder sein, von denen viele im unterschulpflichtigen Alter waren! 
(Nachforschungen in den Schulen haben ergeben, daß sehr viele Kinder regelmäßige 
Besucher der Kinos sind, besonders des Sonntags). 

b) Sittliche Schädigungen. Das Ärgste, was den Kindern im Kino ge- 
boten wird, sind die sog. »Dramen«, meistens mit erotischem oder kriminellem Inhalt. 
Sie müssen in erschreckender Weise das Kindergemüt vergiften und die sittlichen 
Begriffe verwirren. Die Kinder verlieren den Geschmack am Natürlichen und Wert- 
vollen (siehe auch das Benehmen der Kinder bei den Films mit belehrendem Inhalt; 
auch Anlage H 2). 

Die Darstellungen von abenteuerlichen und wildphantastischen Szenen, sowie 
die Vorführungen von Zauberei- und Verwandlungskunststücken erzeugen in den 
Köpfen der Kinder eine völlige Verzerrung des tatsächlichen Weltbildes. Gelungene 
Betrügerei und Diebstahlsversuche werden mit Beifall aufgenommen; zweifelhafte 
Liebesaffären und Ehebrüche erregen höchstes Entzücken ! Das Gefühl für Anstand, 
Recht und Sitte wird gefährdet (siehe Anlage H 3). 

Die Schundfilms richten viel mehr Unheil an als die Schundbücher; denn 
sie wirken viel tiefer und nachhaltiger als das geschriebene Wort. 

Die schädigende Wirkung auf das ästhetische Gefühl der Kinder bedarf 
keiner weiteren Erörterung. 

Diese bedenklichen Erscheinungen machen es uns zur Pflicht, unsere Be- 
obachtungen der Schulbehörde zu unterbreiten mit der Bitte, möglichst weit- 
gehende Maßnahmen zur Beseitigung der Mißstände zu treffen. 

Im Namen der Kommission: 
Lucie Meyer. 


Anlage A. 
Eine Mädchenschulklasse im Kino nach Schluß der Kindervorstellung. 


Eine Klasse von etwa 20 Schülerinnen im Alter von 12—14 Jahren ist an- 
wesend, ein Jüngling dabei als Hahn im Korbe, der die Bilder mit lauten Er- 
klärungen begleitet, besonders die Gaumontbilder, deren Ankündigung mit gelang- 
weiltem »oh« aufgenommen wird. 

Da die Klasse bei Schluß der Kindervorstellung keine Neigung zeigt, sich zu 
entfernen — »Sind wir denn Kinder? findet Ihr, daß wir noch Kinder sind?« — 
so gestattet die aufsichtführende Frau: »Ihr dürft noch bleiben, ihr habt ja 
vollen Preis!« 

Es wird ihnen aber Ruhe befohlen. die denn auch prompt eintritt bei Beginn 
des spannenden Ehebıuchsdramas »Die dunkle Stunde«, dessen Vorführung eine 
gute halbe Stunde in Anspruch nimmt. 

Die »dunkle Stunde« von »ihm und ihre wird bis an die Grenzen des In- 
timsten vorgeführt mit der rührenden Schlußmoral: »Du hast eine dunkle Stunde 


Trüper: Der Weltkrieg und die Erziehungs- und Schulreform der Gegenwart. 19 





— ich ebenfalls — folglich vertragen wir uns! Du küßt mein Kind, ich küsse 
deins usw. nsw. — — 

Die Plätze füllen sich. Ich gebe gespannt acht, wer die erste Einwendung 
gegen die Anwesenheit der Kinder bei diesem Stück erheben wird. Ein Arbeiter, 
der nach dem ersten Akt erscheint, brummt bei den ersten Bildern: »Kindervor- 
stellung? — da braucht man sich ja nicht zu wundern!« — Eine einfache Frau 
neben mir flüstert mir zu: »Das ist doch eigentlich nichts vor den Kindern !« 

Es fehlt an Platz, neue Gäste meinen, sie wollten hinten stehen bleiben, »Die 
Kinder müssen ja doch heraus.« — Antwort einer zweiten aufsichtführenden Frau: 
»Das sind keine Kinder, die bleiben bis Schluß.« 

Die Kinder hatten aber doch inzwischen wohl selbst gefühlt, daß sie noch 
»Kinder« wären. Bei Schluß des Dramas wandeln sie geschlossen ab, alle an mir 
vorbei. — Es war der Mühe wert, den verschiedenen Ausdruck der Gesichter zu sehen. 


Anlage B. 
Mittwoch, den 12. Februar 1912. Luna (Vereinigte Lichtspiele). 

Zwei Mütter, die eine mit zwei, die andre mit drei Kindern im Alter von 
2 bis 6 Jahren, bleiben nach Schluß der Kindervorstellung auf ihren Plätzen. Bei 
Beginn der Abendvorstellung erscheint eine Frau mit einem Mädchen von zirka 
9 Jahren. 

4. März 1913. Lichtspielhaus Obernstraße. 

Drei junge Mädchen sind mit einer Kleinen von 6—7 Jahren im Parkett. Nach 
Schluß der Kindervorstellung werden die Eintrittskarten revidiert; für die Kleine 
ist voll bezahlt, daher darf sie bleiben. Die Wartefrau läßt sich noch einmal die 
Karten zeigen und veranlaßt dann einen der Backfische, sich mit der Kleinen ganz 
nach vorn zu setzen. Dort wohnen sie der Aufführung des großen Detektivschau- 
spiels »Das verschwundene Vermächtnis« bei. 


Eine Kindervorstellung im Kino. Anlage C. 


Ein Februarsonntag; 4 Uhr nachmittags. Die Kartenverkäuferin an der Kasse 
macht mich freundlich aufmerksam, daß jetzt Kindervorstellung sei, und bittet, den 
Abend um 7 Uhr wiederzukommen. Auf meine Erklärung, daß ich die Nachmittags- 
vorstellung sehen möchte, rät sie dringend davon ab: »Nein, das geht doch nicht! 
Das ganze Theater ist voll Kinder; es ist ein schrecklicher Lärm. Das können Sie 
doch nicht vertragen.« Als ich doch auf meinem Vorhaben bestehe, gibt sie mir, 
verwundert mich anstarrend, die Karte mit dem gutgemeinten Rat: »Kommen Sie 
aber gern wieder heraus; ich tausche Ihnen die Karte gern um für die Abend- 
vorstellung.« 

Ich trete ein. Es ist gerade Pause. Eine schwüle, dunstige Luft schlägt mir 
entgegen, trotzdem die Türen geöffnet sind. Der ganze weite Raum (500 Personen) 
ist mit Kindern gefüllt bis auf den letzten Platz. Ein unbeschreiblicher Lärm 
herrscht; Laufen, Rufen, Schreien, Lachen, Plaudern. Knaben balgen sich. Apfel- 
:sinenschalen und leere Bonbonschachteln fliegen durch die Luft. Der Fußboden 
st besät mit Näschereiabfällen. Auf den Fensterbänken und den Heizkörpern 
rangeln Knaben herum. Mädchen und Knaben sitzen dichtgedrängt durcheinander. 
l4jährige Mädchen und 14jährige Knaben mit heißen, erregten Gesichtern necken 
sich in unkindlicher Weise gegenseitig (auch während der nächsten Vorführungen 
bis zum Schluß). Kinder jeden Alters, sogar 3- und 2jährige, sitzen da mit 
glühenden Backen. Frauen gehen mit Näschereien dazwischen herum und ver- 
kaufen. Viele Kinder naschen, trinken Brause; Knaben rauchen heimlich. 

2* 


20 A. Abhandlungen. 





Die Vorstellung beginnt. 

1. Bild: »Ein Fischfang«. Interessante Aufnahme. Aber die Kinder sind 
durchaus unaufmerksam. Die Unterhaltung ist fast so lebhaft wie in der Pause. 
Die Gruppe der 14 jährigen wendet keinen Blick zum Bilde. Kleine Kinder dösen 
vor sich hin. Kein Wunder; sie haben bereits zwei Stunden in diesem halbdunklen, 
heißen Raume zugebraeht. 

Ein andres Bild: »Rostow am Don«, Naturaufnahme, liest man. Auf einmal 
erhebt sich ein ohrenbetäubender Lärm. Mit lautem Johlen, Schreien, Pfeifen, 
J!-Rufen lehnen alle Kinder dieses Bild ab. Ein 2jähriges Kind neben mir auf 
dem Schoße der Schwester kräht schlaftrunken auch sein J! in die Menge hinein. 
Die wenigen aufsichtführenden Frauen sind völlig machtlos gegenüber diesem 
lärmenden Protest. Der Erfolg dieser Methode zeigt sich sofort. Der Film wird 
sehr schnell abgespielt. Man sieht in rasch wechselnder Folge den Don, eine Brücke 
einige Straßen, Gebäude, alles ohne ein erklärendes Wort. Der Lärm hält an, so- 
lange das Bild dauert. Rostow am Don konnte das Interesse der Kinder nicht erwecken 

3. Bild: »Ein Liebesdrama.« Endlich! Die protestierenden Gemüter beruhigen 
sich; es wird ganz still! »Ein Interview.« Inhalt: Eine französische Sängerin ver- 
traut ihrem Besucher an, welche Mittel sie anwendet, um ewig jung und schön zu 
bleiben. Inzwischen erscheinen zwei sehr junge Liebhaber, die aber erst im Neben- 
zimmer warten müssen. Als der Besuch fortgeht, kommt ein alter, zitteriger Lebe- 
mann widerlichster Sorte und tauscht mit der Diva Zärtlichkeiten aus. Häßlicher 
Anblick! Die Kinder glühen vor Interesse! Dankbares Klatschen. 

4. Bild: Sogenannter »humoristischer Filme. Eine Indianergesellschaft stiehlt 
Melonen und verzehrt dann den Raub. In höchst unästhetischer Weise mit greu. 
lichem Grimassenschneiden kauen sie die saftigen Früchte. Um den Kindern diesen 
widerlichen »humorvollen« Anblick recht deutlich zu machen, erscheinen extra vorn 
auf der Bildfläche, stark vergrößert, zwei kauende, schmatzende Indianerköpfe. Am 
Schlusse wird ein Tanz aufgeführt mit sehr sinnlichen, häßlichen Bewegungen. 

Das 5. Bild: »An Bord eines Lloyddampfers« wird wieder laut schreiend und 
pfeifend abgelehnt. 

Müde, heiß und abgespannt verlassen die Kinder nach 4!/, Stunden um 
1/„° Uhr das Theater. 

Es ist ein Jammer, daß so Tausende von Kindern viele Stunden ihrer freien 
Zeit in der dunstigen Luft der halbdunklen Kinos im Anschauen fragwürdiger Bilder 
verbringen. Wieviel gesunder wäre es für Körper und Seele der Jugend, wenn sie 
sich statt dessen beim kindlichen Spiele im Freien betätigte! 


Südpolexpedition Scotts. Anlage D. 

Prachtvolle Aufnahmen zeigten die Polarnatur und die wissenschaftliche 
Tätigkeit der Forscher, aber die fliegende Hast, mit der die Bilder abgerollt wurden, 
ließ manche Szenen überhaupt nicht erkennen und gab bei andern ganz falsche 
Eindrücke. Z. B. müssen die wenigen Kinder, die der Vorführung mit Interesse 
folgten, der Meinung sein, daß Robben und Pinguinen besonders lebhafte Geschöpfe 
von affenähnlicher Gewandtheit seien und daß man Seehunde mit Leichtigkeit blitz- 
schnell über Packeis ziehen und auf das Schiff bringen könne. 


Humoristische Dramen. Anlage El, 


Ein riesenhafter Mensch mietet ein Zimmer, das zu seinen Dimensionen im 
Mißverhältnis steht. Im Bette liegend, stößt er andauernd mit den Füßen gegen 





Trüper: Der Weltkrieg und die Erziehungs- und Schulreform der Gegenwart. 21 





die Wand, die in schwingende Bewegung gerät und endlich durchbrochen wird. Als 
er sich aufrichtet und mit dem Kopf gegen die Decke stößt, geraten im darüber- 
gelegenen Zimmer alle Möbel in tanzende Bewegung und wüstes Durcheinander. 
Es folgt ein tolles Bombardement mit Möbelstücken zwischen dem dort wohnenden 
Ehepaar und dem Eindringling. In Verzweiflung springt der Riese im Nachtgewand 
aus dem Hause, steigt in eine Droschke, deren Verdeck er auch bald mit dem 
Kopfe durchstößt, und bleibt bei der rasenden Fahrt an einem Baum hängen. Von 
Herzueilenden werden ihm die Beine abgerissen, als er glücklich frei ist, auch Arme 
und Kopf. Die groteske Häßlichkeit dieser Szene, sowie der folgenden, in der dem 
Rumpf die Arme angesetzt und der Kopf aufgeschraubt wird, spottet jeder Be- 
schreibung. Daß man dem langen Kerl die Beine nicht wieder ansetzt, ist seine 
»letzte Rettung« ; er fährt auf Rädern durch die Stadt und bettelt. 


Das Duell. Anlage E2. 


Um einer Dame willen, der ein karrierter Geck sich zu nähern gesucht hat, 
kommt es zwischen ihm und dem Beschützer dieser Dame zum Duell. Ein Pistolen- 
duell vollzieht sich in den üblichen Formen, ohne daß einer verwundet wird. 
Dann werden beiden Gegnern mit Dynamit gefüllte Blechbüchsen angeschnallt und 
Fackeln als Waffen in die Hand gegeben. Nach einer endlosen Jagd mit affen- 
artigen Sprüngen gelingt es dem einen, den Gegner in die Luft zu sprengen. Die 
Glieder fallen einzeln herunter und werden wieder zusammengelegt. Der Tote er- 
hebt sich neubelebt, und die Feinde fallen einander gerührt in die Arme. 


Überschlau. Anlage E3. 


Ein lebenslustiger Neffe bittet seinen alten Onkel um Geld. Als er nichts 
bekommt, versucht er mit viel Geschick, den Schreibtisch zu öffnen, wobei er zu 
seinem Bedauern ertappt wird. Um doch das Geld zu erlangen, plant er mit einem 
Freunde eine List: Dieser verkleidet sich und bringt als vermeintliche Dame durch 
schamlos-widerwärtige Koketterie den Onkel dazu, ein Diner zu Zweien zu bestellen. 
Trotz seiner angeheiterten Stimmung sieht der Onkel die Diebstahlsversuche seiner 
zärtlichen Freundin; aber durch plumpe Zärtlichkeit gewinnt sie ihn wieder. Nach 
einem letzten erfolgreichen Versuch flieht sie; es folgt eine wüste Verfolgung, in 
deren Verlauf verschiedene Türen einfallen, Schränke umfallen. Tische und Stühle 
zertrümmert werden. Das Ganze endet in einer tollen Prügelei; wer als Sieger 
daraus hervorgeht, ist schwer zu erkennen. 


Anlage E4. 

Ein Mann verfolgt irgendein bestimmtes Ziel, welches, blieb mir unverständ- 
lich. Zur Erreichung desselben ist ihm kein Hindernis zu groß. Menschen, die 
ihm in den Weg kommen, werden umgestoßen, Zäune, Hecken, Mauern überstiegen, 
verschlossene Türen und Fenster zertrümmert. Zu jedem Um- und Einsturz wird 
hinter der Szene das entsprechende Geräusch gemacht zum Entzücken der Kinder. 
Schließlich ist ihm ein Kanal im Wege: Er legt sich zu Boden und säuft ihn 
leer! Zusehends schwillt der Mann auf und geht wie eine wandelnde Tonne weiter. 
Häßliche Grimassen! Als ihm wieder ein Mensch entgegenkommt and nicht aus- 
weichen will, bohrt er sich selbst mit seinem Spazierstock ein Loch in den Bauch, 
und ein dicker Wasserstrahl spritzt dem Gegner ins Gesicht, so lange, bis der Mann 
wieder seine normale Gestalt hat. 


22 A Abhandlungen. 





Nunne. Anlage E5. 


Nunne ist ein Knabe von 8 Jahren und soll Schularbeiten machen. 

Nunne reißt einer Fliege die Flügel aus und veranstaltet einen Wettlauf 
zwischen ihr und einer verfolgenden Spinne, an dem sich zuletzt auch die leblosen 
Dinge beteiligen. 

Die Kinder begleiteten das Flügelausreißen mit so interessierten Bemerkungen, 
daß sie es zu Hause sicher auch versuchen werden. 

Anlage E7. 


Ein größerer Junge soll seine Schularbeiten machen. Er zerreißt das Heft, 
begießt eine Büste mit Tinte und zerschmettert sie dann. Er zersägt mit seiner 
Schwester einen Baum, klettert dann durchs Fenster in die Küche. Die beiden spielen: 

1. Betrunkener Ehemann: Alles Geschirr, Stühle, Tische werden zerbrochen. 

2. Einbruch: Die Schwester liegt im Bett, der Bruder kommt als Dieb. 
Wildes Stechen und Schießen. Das Bett wird zerbrochen. 

3. Aufhängen: Der Kronleuchter wird zerschlagen, einer großen Figur wird 
ein Strick um den Hals gebunden, die Figur an dem Lampenring aufgehängt, dann 
zerschmettert, 

4. Schlittenbahn im Zimmer: Auf einem umgekehrten Bücherregal rutschen 
die beiden herunter, prallen gegen die Wand, die zertrümmert. Die Kinder fliegen 
in das nächste Zimmer. Dort sind zwei Männer beschäftigt; ein Schutzmann führt 
die Kinder ab. : 

Liebesdramen und Sensationsstücke. Anlage F1. 


In der Verlobungszeit sitzen Max und Jane in dezenter Entfernung, und er 
küßt ihr innig die Hand. Am ersten Tage nach der Hochzeit küßt er sie in lang 
andauernder, innigster Umschlingung wiederholt auf Hals und Schultern. Ein Jahr 
später zieht er Zeitunglesen der Unterhaltung mit ihr vor, und sie sucht bei einem 
alten Arzt ein Heilmittel gegen diese Kälte. Das Rezept lautet: »Blau unter die 
Augen, rote Lippen, starkes Parfüm, früh ausgehen, spät heimkommen, durch ein 
vermeintliches Rendezvous Eifersucht erregen.« 

Nachdem der erste Teil der Vorschrift den Gatten in eine gewisse Unruhe 
versetzt hat, wird durch einen Brief seine Eifersucht aufs höchste gesteigert. Durch 
das Schlüsselloch beobachtet er das Schlafzimmer, wo Jane selbst als vermeintlicher 
Liebhaber in grotesker Verkleidung aus dem Kamin hervorkommt. Nach Drohung 
mit Pistole und Messer folgt ein Säbelduell, bei dem sich Jane zu erkennen gibt. 
Nachdem sich beide eine Zeitlang vor Entzücken auf dem Boden gewälzt haben, 
zieht er ihr die Kissen aus der Verkleidung, mit denen sie sich ein sehr unästhetisches 
Embonpoint verschafft hatte. 


Viel Geschrei und wenig Wolle. Anlage F2. 


Ein Ehemann (Rechtsanwalt) erhält einen Brief von seiner Freundin Lotte; 
sie bestellt ihn für den Abend in ein Hotel. Es kommt ein Freund zu Besuch, der 
hinter dem Rücken des Gatten mit der Frau des Hauses zärtliche Blicke wechselt 
und sie für denselben Abend zum gleichen Hotel einladet. Im nächsten Bilde sieht 
man die beiden Paare im Hotel, jedes in einem chambre séparée, nur durch die 
Wand getrennt. Vor den Augen der Kinder entrollt sich jetzt ein widerliches 
Liebesspiel. Plötzlich erkrankt die Freundin des Gatten beim Champagner. Ein 
Hoteldiener muß ein Auto besorgen, ein Schutzmann erscheint auch, die Erkrankte 
wird ins Hospital geschafft. Der Arzt erkennt in ihr seine frühere Geliebte. Er 
konstatiert mit der Geberde des Schreckens eine ansteckende Krankheit, und die 








Trüper: Der Weltkrieg und die Erziehungs- und Schulreform der Gegenwart. 23 





Kranke wird in eine Isolierzelle geschafft. Sie erwacht hier aus ihrer Ohnmach 
und sieht fragend in das Gesicht des sich über sie beugenden Arztes. Zum weiteren 
Verständnis erscheint das geschriebene Wort. Die Kinder lesen alle laut im Chor: 
>Da ich mit Dir allein sein wollte, habe ich vorgeschützt, du habest eine an- 
steckende Krankheit.« 

Jetzt sieht man eine scheußliche Liebesszene zwischen der im Bette liegenden 
Pseudokranken und dem jungen Arzte. (Schmähung des ärztlichen Berufes!) 

Von der Polizei werden am andern Tage alle Personen, die am Abend vorher 
in dem betreffenden Hotel gewesen sind, aufgefordert, sich wegen der Ansteckungs- 
gefahr im Krankenhause untersuchen zu lassen. Dabei kommen die Liebesfahrten 
der beiden Gatten an den Tag. Da aber der polizeiliche Bote, der Schutzmann, 
sich selber auch an dem Dienstmädchen des Hauses vergriffen hat, so sind schließ- 
lich alle in gleicher Weise schuldig, und die Sache verläuft im Sande. 


Ein Ehrenwort. Anlage F3. 


Ein Offizier lockt die Braut seines Freundes in seine Wohnung. Mit vor- 
gehaltener Pistole versucht sie, sich den Ausgang zu erzwingen. Ein überlebens- 
großes Brustbild des Offiziers erscheint, damit man den Anblick der in Leiden- 
schaft sich verzerrenden Züge recht genießen kann. Am Schluß erschießt das junge 
Mädchen den Offizier. Ehe er stirbt, reißt der Film. 


Herzenskühnheit? Anlage F4. 
(Der Titel wird zu schnell abgerollt, um deutlich lesbar zu sein.) 

Ein junger Kavalier im Rokokokostüm verliebt sich in die Frau eines Be- 
kannten und beschließt mit ihrer Einwilligung, sie zu entführen. Eine Verwandte, 
die beide belauscht hat und den Jüngling ebenfalls liebt, kommt ihrer Cousine, in 
deren Mantel gehüllt, zuvor und besteigt den Wagen. Er fährt mit ihr davon und 
erwidert im nächtlichen Dunkel ihre innigen Liebesbezeugungen ohne Argwohn. 
Erst an einem Rastorte klärt sie den betrogenen Entführer auf und bittet ihn flehent- 
lich, sie als Ersatz gelten zu lassen. 


Vom Regen in die Traufe. Anlage F7. 


Ein Schauspieler flüchtet vor seinen Anbeterinnen in ein Seebad, wird aber 
hier von einigen Backfischen entdeckt und in raffinierter Weise gestellt. Die eine 
präsentiert sich ihm, scheinbar schlafend, in der Hängematte, eine andere löst ihr 
Haar bei seinem Nahen; schließlich bringen zwei ihr Boot zum Kentern, um sich 
retten zu lassen. — Unsre Backfische können und werden aus diesem Benehmen 


viel für ihr Leben lernen! 
Anlage F9. 


An die Schule waren Bons geschickt zu einer Vorführung der Küsten der 
Nord- und Ostsee. 

Am Mittwoch, den 5. März, begab ich mich nach dem Metropol- Theater, und 
zwar genau zu der angegebenen Zeit. Ich habe aber nichts von der angezeigten 
Vorführung gesehen. Ein junges Mädchen, das schon eine ganze Stunde früher als 
ich gekommen war, erzählte mir, daß auch sie noch immer auf die geographischen 
Bilder warte. Nachher hörten wir, dieselben wären schon früh am Nachmittag, zirka 
zwei Stunden vor der angesetzten Zeit, in ganz vorübergehender Weise vorgeführt 
worden. Ich blieb und hatte nun das zweifelhafte Vergnügen, einige Stücke zu 
sehen, die für die Kinder so unpassend wie möglich waren. 

Zunächst: »Der Lebemann.« Eine tolle Artisten-Komödie in 2 Akten. Ein 


24 A. Abhandlungen. 





junger Mann besucht eine Bar und ladet eines der Barmädchen zu einem sog. 
Bummel ein. Sie besuchen die verschiedensten Lokale, und der junge Mann wirft 
dabei das Geld mit vollen Händen um sich. Er läßt z. B. eine große Vase, die auf 
dem Büffet steht, mit Champagner füllen und trinkt dem Büffetfräulein zu. Beim 
Fortgehen läßt er eine Flasche Brause in die Gesichter der Anwesenden aus- 
spritzen usw. Schließlich landet er mit seinem Barmädchen im Zirkus. Beide sind 
schon sehr angetrunken und stören die Vorstellung durch ihre Verrücktheiten. Sie 
werden von der Bedienung an die Luft gesetzt und torkeln nun weiter. 

Damit endet der 1. Teil dieser »göttlichen Komödie«. 

Im 2. Teil steht der junge Mann an seiner Gartenpforte und müht sich ver- 
geblich, diese zu öffnen. Ein Vorübergehender kommt ihm zu Hilfe, und er ladet 
denselben zu einem Glase Wein in seinem Hause ein. Sie suchen zunächst das 
Dienstmädchen zu wecken. Da dieses aber zu fest schläft, ist es nur durch einen 
kalten Guß aus der Gießkanne zu ermuntern. Das Mädchen springt erschrocken 
aus dem Bette und erhält den Befehl, für ein Nachtessen zu sorgen. Inzwischen 
läßt der junge Mann seinem Gaste Champagner vorsetzen, und derselbe trinkt eine 
Flasche nach der andern leer, und zwar gießt er alles mit unglaublicher Geschwindig- 
keit hinunter. Dann trägt das Mädchen ein Gericht Fische auf. Der Gast weist 
sie aber entschieden zurück, Er äße keine toten, sondern nur lebendige Fische. 
Er holt das Zimmer-Aquarium herbei, schluckt alle darin befindlichen Fische, 
Frösche usw. lebendig über und trinkt zuletzt auch das ganze Fischwasser aus. Sein 
Wirt schüttelt sich vor Entsetzen. Schließlich muß der sonderbare Gast alles wieder 
von sich geben, und zwar in dicken Strahlen ins Fischglas, über die Schüssel und 
auch seinem Wirt ins Gesicht. Und dabei kommen alle die verschluckten Fischlein, 
Fröschlein usw. wieder lebendig hervor und gelangen ins Aquarium, wo sie wieder 
lustig herumschwimmen. Zum Schluß stellt sich der Gast als Artist aus dem Zirkus 
vor: genannt das menschliche Aquarium. Dann machte sich der Wirt mit seinem 
Gaste auf den Weg, um neue Abenteuer aufzusuchen. 


Mercedes. Anlage F11. 


Mercedes vertreibt die Zigeunerin, die von ihrem Bräutigam ein Almosen er- 
bettelt. Diese lieblose Handlungsweise muß sie büßen. Traumhafte Schreckbilder 
verfolgen sie, Zigeuner entführen ihren Liebsten auf einem Pferd, eine wilde Hetz- 
jagd entsteht, als andre Reiter vergeblich versuchen, die Zigeuner einzufangen. Vor 
einer Höhle angelangt, entführen vermummte Gestalten den Bräutigam, dem die 
Augen verbunden, die Hände gefesselt sind. Auf allerhand Irrwegen gelangt er 
schließlich durch eine Luke im Fußboden in ein geräumiges, wunderliches, altes 
Zimmer. Die Gestalten verschwinden, die Luke wird geschlossen, er löst seine 
Fesseln. Plötzlich fangen auf rätselhafte Weise rundum von den Wänden Glocken 
an zu läuten, aus jedem Schrank, den er öffnet, grinsen ihm Totengebeine und aller- 
hand Spuk an. Als er erschöpft mitten im Zimmer steht, erscheint die Zigeunerin 
vor ihm mit Liebesbeteuerungen. — Mercedes erwacht aus dem Traum, Versöhnung 
mit der Zigeunerin. 

Um die traumhafte Vision anzudeuten, scheint das immer stärker vergrößerte 
Bild auf die Zuschauer heranzurücken. Mehrere Kinder wenden sich in maßloser 
Angst ab. 

Die wiedergefundene Praxis. Anlage F15. 


Um seine Praxis zu heben, läßt ein alter Arzt seinen Neffen kommen. So- 
fort bricht eine Epidemie unter den jungen Damen der Stadt aus. Sie empfangen 


Trüper: Der Weltkrieg und die Erziehungs- und Schulreform der Gegenwart. 25 





ihn in koketten Negliges im Bett, strecken ihm sehnsuchtsvoll die Hände entgegen 
und lächeln verzückt, wenn er sie streichelt oder ihnen den Puls fühlt. Das Warte- 
zimmer ist übervoll. Auf einem Ball wird er umringt; man fällt in Ohnmacht, um 
Hilfeleistungen von ihm zu erlangen. Seine Frau, die denselben Abend ankommt, 
wird als seine Schwester eingeführt. Bald hat sie die Männer in demselben Maße 
hinter sich her wie er die Frauen. Schon spüren beide Eifersucht. 

[Schluß. Vermutlich riß der Film.] 


Sozial! Anlage 16. 
Der Werkmeister. 


Im ersten Bilde tadelt der Werkmeister die Arbeit eines Arbeiters, der sich 
dadurch sehr beleidigt fühlt und dem Vorgesetzten Drohungen nachruft. Der 
Werkmeister wird dann von seinem Frühstück fort zum Direktor gerufen, der ge- 
rade mit seiner Familie speist, und die Pracht und Vornehmheit erweckt den Neid 
des Angestellten. Zurückgekehrt in sein Bureau, läßt er sein einfaches, inzwischen 
kalt gewordenes Frühstück forttragen, indem er haßerfüllt nach der Direktor- 
wohnung hinübersieht. 

Bei Fabrikschluß gerät er in einen Wortwechsel mit dem am Morgen getadelten 
Arbeiter, der dem Werkmeister eine Ohrfeige| versetzt. Darauf wird der Arbeiter 
vom Direktor entlassen. In der folgenden Nacht verübt der Werkmeister einen 
Einbruch, klettert über die Mauer, schleicht über den Fabrikhof, steigt ins Fenster, 
erbricht den Geldschrank und flieht. Darauf legt er Feuer an und alarmiert selbst 
die Feuerwehr. Der Brand, das Anrücken der Feuerwehr, die Löscharbeiten folgen. 
Das Bureau, wo der Einbruch verübt wurde, bleibt ziemlich verschont. Man be- 
merkt den Einbruch und findet eine Mütze. Der herbeigerufene Werkmeister be- 
schuldigt den entlassenen Arbeiter, wird aber durch die Mütze selbst als Täter verraten. 

Die Bilder sind so naturgetreu und anschaulich, daß man wirklich daraus 
lernen kann. 

Kinderaufsätze. “Anlagen G 1—14. 

Die Kinderaufsätze sind von 11—12 jährigen Mädchen geschrieben worden in 
der Aufsatzstunde am letzten Schultage vor Semesterschluß (daher manche unfertig). 

Es sind rohe, nicht korrigierte Niederschriften, die nur zeigen sollten, 
was die Mädchen gesehen und wie sie es aufgefaßt haben. 


Aus dem Kino. Anlage G1. 

Gestern war ich zum Kino. Es sollte hier Königin Luise zu sehen seien. 
Aber sie hatten uns nur heranlocken wollen; denn das erste Bild hieß: »Die viel 
Begehrte.< Es war ein Liebesdrama. Zwei Verliebte saßen in einer Hängematte. 
Plötzlich bewegte sich etwas hinter dem Laube. Das Fräulein hörte bekannte Tritte, 
Sie wußte wer es ist. Schnell sagte sie ihrem Verliebten Adieu, küßte noch einmal 
seine Hand, verspricht baldiges Wiederkommen, und eilt davon; denn ein anderer 
Verliebter wartet. Mit diesem kann sie aber auch nicht mehr lange zusammen 
bleiben; denn ein dritter Verliebter naht. So geht denn weiter und weiter bis end- 
lich glücklich sieben auf sie warteten! 


Aus dem Kino. Anlage G2. 


Das erste Anzeichen nach dem furchtbaren Leiden. 


Ich besuchte am Sonntag das Kino. Dort sahen wir lehrreiche Bilder und 
Liebesstücken: »Ein Mann, welcher schon verheiratet war, und deren Frau einen 


26 A. Abhandlungen. 





anderen Mann liebte, wurde von der Krankheit blind. Nun freute sich die Frau, 
daß ihr Mann blind war, und der andere auch. Jeden Tag kam der andere in ihrem 
Hause. Dann setzten sie sich in die beste Stube, schlossen aber die Tür ab, damit 
nicht ihr richtiger Mann hineinkam. Sie tranken zusammen Kaffee kitzelten sich 
und küßten sich. So ging es viele Wochen. Mit einem Male konnte der Mann 
wiedersehen. Das sagte 'er aber nicht seiner Frau. Eines Tages schrieb die Frau 
einen Brief nach ihren Geliebten. Als sie fertig war mit dem Schreiben, kommt 
ihr Mann zur Tür herein, und bittet‘ »Die Frau möge ihm seinen Kaffee bringen.« 
Die Frau geht hin und laßt den Brief dort liegen, ahnt nicht, daß ihr Mann schon 
wiedersehen konnte. Da nimmt er den Brief und liest ihn. 


Aus dem Kino. Anlage G7. 


Vor ein paar Monate bin ich zum Kino gewesen. Als wir hier versammelt 
waren, sahen wir nur ein lehrreiches Bild und die andern waren lauter Liebesdrama. 
Eins davon will ich erzählen: »Ein Fräulein ging mit ihrem Verliebten spazieren, 
denn dieser mußte weg, als Andenken gab sie ihm eine Kette. Er ging nun weg, 
da sah sie einen andern Mann diesen mochten sie auch gern leiden und mit diesem 
verheiratete sie sich daher weil dieser Mann sehr reich war. Eines Tages bekam 
sie einen Brief von ihrer Freundin die lud sie ein zum Reiten. Sie fuhr auch hin 
nach ein paar Tagen war sie da, nun begann das Reiten sie ritt mit ihrer Freundin 
alleine in dem Wald hier lag ihr Verliebter und schlief. Er träumte von dem 
Fräulein diese erschien ihn im Traum. Die Braut sah den Verlobten auch und 
nach einigen Tagen reiste sie ab. Nun mußte sie wieder durch den Wald. Der 
Verlobte sah sie und schlich hinter nach, da brach der Wagen und sie mußte ab- 
steigen, da kam der Verlobte und nahm sie weg. Beide kamen an einen Berg hier 
stürzten sie hin ab und beide waren tot. 


Aus dem Kino. Anlage G9. 


Irma war mit Max verlobt und sie hatten sich einander sehr lieb und führten 
ein zufriedenes Leben. Zuweilen küßten sie sich einander. »Das war nicht schöne! 
Ein Jahr später. Eines Tages kam Irma zu ihm und fragte Max um etwas. Dieser 
ließ sich gar nicht stören, denn er war mit der Zeitung beschäftigt. Sie ging 
weinend davon, hinaus zum Herrn Doktor. Dieser schrieb Irma krank. Am anderen 
Tage ging sie früh spazieren schrieb aber erst einen Brief. In dem stand: »Liebe 
Irma erwarte mich heute Abend um 9 Uhr wenn dein Mann fort ist. Es grüßt 
Moritz. 

Diesen Brief legte sie in das Zimmer ihres Mannes und ging davon. Am 
Abend verkleidete sie sich und stieg durchs Fenster. Wie Max das Geräusch ver- 
nahm, nahm er eine Pistole uud ging in das nebenanliegende Zimmer wo Sie herein- 
kletterte. Dann schoß er, traf sie aber nicht. Wie er den vermeinten Moritz den 
Hut ab nahm und sah das es Irma war, fing er an zu lachen und küßte sie. 


Aus dem Kino. Anlage G10. 
Auf der Hochzeitsreise. 


Als ich eines Tages zum Kino ging, wurde das Stück, auf der Hochzeitsreise 
vorgeführt. Zwei Eheleute hatten sich vor kurzer Zeit verheiratet. Nun wollten 
sie eine Hochzeitsreise unternehmen. Sie nahmen Abschied von der Schwieger- 
mutter, und stiegen in eine Eisenbahn. Nun freuten sie sich das sie allein waren. 
Sie küßten und herzten sich. Da trat ein Leutnant herein und setzte sich zu ihnen. 


Trüper: Der Weltkrieg und die Erziehungs- und Schulreform der Gegenwart. 27 








Des Frau Mannes, wollte es gar nicht leiden, daß ein anderer darin saß. Der Mann 
ging zum Wächter und beschwerte sich. Der aber lachte, denn der Wächter sah, 
daß der Zug langsam weiter fuhr, sagte aber nichts. Als der Zug im schnelsten 
sausen war, merkter der Mann es. Schnell lief er hinterdrein, aber er konnte den 
Zug nicht wieder ein und mußte zurückbleiben. Als nun eine Station kam, stiegen 
der Leutnant und die Frau aus. Der Mann und die Frau telefonierten sich. Der 
Leutnant sprach zu der Frau: »Haben Sie die Ehre, mit mir im Hotel zugehen? 


Anlage Hl. 
Einige Beiträge zu dem Punkte: »Gesundheitliche Schädigungen durch 
den Kinobesuch«. 

Eine Schülerin meiner Klasse verschlechterte sich auffallend in ihren Leistungen. 
Das Kind kam mir sehr nervös vor, ich bemerkte veitstanzähnliches Gesichter- 
schneiden und fortwährende Unruhe in der ganzen Körperhaltung. Bei der geringsten 
Ermahnung gebärdete sie sich förmlich hysterisch. Die übrigen Mädchen erzählten 
mir, daß dieses Kind (kaum zwölf Jahre alt) viel mit Knaben unterwegs sei, auch 
abends noch. Als ich dann mit dem Vater Rücksprache nahm, gestand er ein, daß 
seine Frau die Kinder nicht nur Sonntags, sondern auch häufig in der Woche zum 
Kino schicke, um sie los zu sein. Er erzählte mir, seine Tochter könne oft gar 
nicht einschlafen, oder sie stehe nachts im Schlafe auf, gehe umher und wache 
ganz erschrocken auf, wenn man sie anrede. Am Tage habe sie dann immer Kopf- 
schmerzen. Die kleine Schwester von fünf Jahren, die auch manchmal mitgehe, 
könne darnach überhaupt nicht schlafen und weine halbe Nächte lang über all das 
Schreckliche und Rührends, das sie im Kino gesehen habe. 

Ich beschwor natürlich den Mann, seiner Frau eindringlich vorzustellen, wie 
schwer die Gesundheit der Kinder geschädigt würde, wenn sie nicht vom Kino- 
besuch abließen. Er versprach es mir und scheint auch Wort gehalten zu haben. 
Das Mädchen ist jetzt viel wohler und kommt auch regelmäßig zur Schule, seit sie 
das Kino meidet. 

Neulich Montags erhielt ich von einer gut begabten Schülerin solch verworrene 
und dumme Antworten, wie ich es gar nicht von ihr gewohnt war. Als ich sie 
darzufhin näher beobachtete, fiel es mir auf, daß sie sehr elend und angegriffen 
aussah. Auf mein Befragen erklärte sie, heftige Kopfschmerzen zu haben. Und 
dann kam es heraus, daß sie am Sonntag im Kino gewesen sei und sich darnach 
so schlecht befunden habe, daß ihr zu Hause schon gesagt wäre, sie dürfe nicht 
wieder zum Kino. 

Ein Knabe von 10—11 Jahren, mit dem ich mich im Kino angefreundet hatte, 
erzählte mir, er wäre jeden Sonntag im Theater. Aber neulich hätten seine Augen 
so geschmerzt, da hätte er es nicht aushalten können, hinzusehen; aber jetzt ginge 
es wieder. 

Anlage H2. 

In der 5. Knabenklasse, wo ich seit Ostern Naturgeschichte und Erdkunde 
unterrichte, fiel mir neben einer großen Unruhe der Kinder auf, daß die Jungen 
bei allen möglichen Gelegenheiten Gesichter schnitten. Besonders erinnerlich 
sind mir Fälle, wo ich Knaben bestrafte, die dann in der Meinung, ich sähe es 
nicht, ihre Gesichter zu lächerlichen Grimassen verzogen. Am Freitag der vorigen 
Woche geschah es, daß ein Junge, ehe er auf meine Frage antwortete, sich um- 
drehte und die hinter ihm sitzenden Kinder durch Gesichterschneiden ins Lachen 
brachte. Ich ließ ihn vorkommen und versuchte, ihm begreiflich zu machen, wie 
häßlich das sei und daß es nicht in die Schule gehöre, und schloß mit den Worten: 


28 A. Abhandlungen. 





»Ich möchte wissen, wo du das lernst.« Zwanzig und mehr Finger flogen in die 
Höhe, und einer der Jungen rief mir entgegen: »Fräulein, im Theater!e Darauf 
stellte ich fest, daß etwa die Hälfte der Knaben sonntäglich Stammgäste eines Kino- 
theaters waren. Ich ließ mir einiges erzählen von dem Gesehenen, und als ich den 
Kindern sagte, es seien viele schlechte Bilder darunter, meinte einer: »Ja, be- 
sonders die Naturbilder.« Das Schlechte hatten sie sich angeeignet und dabei 
verlernt, das Gute als solches zu erkennen, 


Sittliche Schädigungen. Anlage H3. 

Einige Mädchen meiner Klasse zeigten im letzten Winterhalbjahr ein auffallend 
viel schlechteres Betragen als früher. Im Unterricht waren sie trotz guter Be- 
gabung unaufmerksam und zerfahren. Ihr Benehmen gegen die Lehrenden war 
nicht mehr so bescheiden und sittsam wie sonst. Ich mußte sie wegen ihres vor- 
lauten, dreisten Wesens oft tadeln. Auch die Mitschülerinnen beklagten sich über 
ihre Roheit. Diese Mädchen besuchten jeden Sonntag das Odeon in Hastedt 
(vorigen Herbst eröffnet). So glaubte ich, darin den Grund für die Verschlechterung 
in ihrem Betragen suchen zu dürfen. 

Ich habe den zwölfjährigen Mädchen dann die Kinogefahren eindringlich vor 
Augen gestellt und auch die Mütter gebeten, ihre Kinder davon fernzuhalten. 

Seit zwei Monaten hat der Kinobesuch dieser Mädchen aufgehört, und sie 
führen sich jetzt wieder gut und anständig. 


So weit unsere tapferen Bremer Freundinnen. Sie erklärten 
einen Krieg, der nicht minder notwendig zu führen ist, als der in 
den Schützengräben. 

In Bremen hat diese Arbeit etwas gefruchtet. Infolge des Berichtes 
der Lehrerinnen wurde eine Kommission eingesetzt, in der das Jugend- 
amt, die Schulbehörde, die Schulleitung, die Lehrerschaft, die Polizei- 
behörde und die Kinotheaterbesitzer vertreten waren, die Vorschläge zur 
Beseitigung von Mißständen im Kinowesen machen sollte. Sie beriet 
im Winter im Semester 1913/14 in mehreren Sitzungen unter Vor- 
sitz eines Senators. Das Ergebnis ihrer Beratungen waren folgende 
Anträge und Wünsche: 


»1. Die Kontrolle der Kindervorstellungen ist umfassender zu gestalten. Dazu 
hält die Kommission die Einstellung eines zweiten Kontrollbeamten für erforderlich. 

2. Die Kommission wünscht Prüfung der Frage, ob nicht ein Verbot des 
Verkaufs von Näschereien während der Kindervorstellung erlassen werden kann. 

3. Die Vorstellungsdauer sollte in der Regel ein Höchstmaß von 2 bis 
21/, Stunden nicht überschreiten. Es wird zunächst abzuwarten sein, wieweit die 
Kinobesitzer diesem Wunsche der Kommission in Zukunft Rechnung tragen, 

4. Kinder unter 6 Jahren sollten den Kinovorstellungen ferngehalten werden. 
Die Kommission empfiehlt abzuwarten, welche Wirkung das von den Kinobesitzern 
in Aussicht gestellte Bemühen, die Kinder fernzuhalten, haben wird. Falls ein ge- 
nügender Erfolg nicht eintreten sollte, hält die Kommission gegen den Wunsch der 
Kinobesitzer ein Verbot des Kinobesuchs durch kleine Kinder für nötig. 

5. Die Programme der Kindervorstellungen sollen im wesentlichen in sich 
abgeschlossene Einheiten bilden. Neben dem lebenden Bilde muß auch das ruhende 


Trüper: Der Weltkrieg und die Erziehungs- und Schulreform der Gegenwart. 29 








zur Geltung kommen. Die Kommission ist sich bewußt, daß sie bei dieser Forderung 
durchaus auf das Entgegenkommen der Kinounternehmer angewiesen ist.« 


Beachtenswert ist, daß in dieser Kommission die Kinobesitzer 
mitarbeiteten. Nach dem Urteil von anderen Beteiligten mit erziehe- 
rischem Sachverständnis hatten sie den besten Willen, aber es fehlte 
ihnen durchaus die Einsicht und das pädagogische Verständnis. Jeden- 
falls aber war es sehr klug gehandelt, dieselben zur Mitarbeit heran- 
zuziehen. Der Bericht ging an die Polizeidirektion, die Unterrichts- 
verwaltung und an das Jugendamt. Wichtig war es, daß die Vor- 
schläge und Wünsche der Kommission im wesentlichen die Zustimmung 
der Kinobesitzer gefunden haben und das Letztere sich bereit er- 
klärten, ihrerseits an den von der Kommission vorgetragenen Maß- 
nahmen mitzuwirken. Nur den Verkauf der Näschereien wollten sie 
beibehalten wissen. Aber was das Geschäftsinteresse verspricht und 
hält, sind gewöhnlich zwei verschiedene Dinge. Interessant und nach 
der rechtlichen Seite lehrreich ist aber die Stellung, die die polizei- 
liche Verwaltung dazu genommen hat. Sie erklärte am 1. Septernber 
1913 u. a.: 


»Was der Verkauf von Getränken und Näschereien anlangt, so nehme ich wegen 
der Getränke auf D. Ziffer 26 der Kinomatographenverordnung vom 15. 8. 1911 
bezug. Dem Verkauf von Näschereien, dessen Verbot für die Kindervorstellungen 
angeregt wird, steht gewerbepolizeilich nichts im Wege, soweit der Verkauf Werktags 
stattfindet, da die Kindervorstellungen um 7 Uhr abends beendet sein müssen und 
der Ladenschluß frühestens um 8 Uhr abends ist. Was der Sonntagsverkauf von 
Näschereien in den Kinos anlangt, so ist er gewerberechtlich ohne die Erlaubnis 
des $ 55a Gewerbeordnung unzulässig und nach § 146a Gewerbeordnung strafbar, 
sofern er zum Mitnehmen der Näschereien stattfindet, nicht zum Genusse an Ort 
und Stelle. Der im Kinotheater eingerichtete Verkauf der Näschereien zum Genusse 
an Ort und Stelle ist, in gleicher Weise wie die Speisewirtschaften und Kon- 
ditoreien, den Sonntagsruhebestimmungen der Gewerbeordnung nicht unterworfen 
(vgl. Landmanns Kommentar zur Gewerbeordnung, B. I. S. 387, 5. Auflage) also 
gewerbepolizeilich nicht zu beanstanden. Werden dagegen die Näschereien seitens 
ambulanter Händler in den Kinos zum Genusse an Ort und Stelle verkauft, so 
braucher diese ambulanten Händler besondere Erlaubnis nach § 55a Gewerbeordnung. 

Soweit der fragliche Verkauf von Näschereien gewerberechtlich nicht beanstandet 
werden kann, könnte er nur aus allgemeinpolizeilichen Gesichtspunkten verboten, 
bezw. beschränkt werden. Der vom Jugendamt angeführte Grund (Interesse der 
Erziehung) ist kein polizeilicher Grund. Die Erziehung ist nicht Aufgabe "der 
Polizei, sondern der Familie und der Schule. Denkbar wäre indes, daß aus 
sicherheitspolizeilichen Gründen der Verkauf von Näschereien beanstandet werden 
könnte, nur müßte solchenfalls die polizeiliche Beschränkung bezw. das polizeiliche 
Verbot sich nicht auf die Näschereien beschränken, sondern auch auf sonstige 
Waren erstrecken. Es kann wohl sicherheitspolizeilich angezeigt sein, das Feilbieten 
zwischen den besetzten Zuschauerreihen oder die Ansammlung von Menschen an 
einer Verkaufsstelle im Kinotheater, vornehmlich im Zuschauerraum zu verhüten.« 


30 A. Abhandlungen. 





Wenn diese großen Fragen für das Jugendwohl nicht Sache der 
Polizei sind, dann soll man auch die Polizei nicht damit betrauen. Ja, 
es ist geradezu niederdrückend und entehrend, wenn ein Lehrerverein 
in einer anderen Stadt aus freiem Interesse unter Aufopferung von 
Zeit und Kraft und selbstverständlich ohne lohnende Entschädigung 
ähnliches versuchte wie die Bremer Lehrerinnen, Forderungen auf- 
stellte, die unbedingt notwendig zu erfüllen seien, und dann schließlich 
ein Polizeigehilfe über alle diese Dinge verfügte, also in 
ihm die höchste volkserzieherische und volkserhaltende Weis- 
heit und die größten Machtbefugnisse sich personifizierten. 
Ja, diesen Lehrern wurde sogar von den Kinobesitzern öffentlich die 
Klage wegen Interessenschädigung angedroht und sie mußten den 
Kampf einstellen. Doch ein Mächtigerer hat ihn auch hier jetzt er- 
folgreich aufgenommen, durch folgende Bekanntmachungen vom 
1. Oktober, die wir Vertreter des Jugendwohles als eine erste 
Hindenburgschlacht im Innern bewerten müssen. 

Die Verfügungen für den hiesigen Bezirk lauten: 


Stellvertretendes 
Generalkommando XI. Armeekorps Cassel, den 1. Oktober 1915. 


Die mehrfach beobachtete Zuchtlosigkeit der Jugendlichen bedeutet eine in der 
jetzigen Kriegszeit doppelt ernste Gefahr für unser Vaterland. Ihr zu steuern, muß 
mit allen zu Gebote stehenden Mitteln versucht werden. 

Anlage 1. 

Ich habe zu diesem Zweck am heutigen Tage die beiliegende Verordnung er- 
lassen, verkenne jedoch nicht, daß sie allein nicht imstande sein kann, vorhandene 
Schäden auszumerzen. Dazu bedarf es vielmehr der freiwilligen und selbstlosen 
Mitarbeit der Jugendlichen selbst, wie der gesamten Bevölkerung. 


Anlage 2. 
Ich habe mich daher in dem beiliegenden Aufruf an die Jugend gewendet, 
und wende mich nun an die Eltern — besonders die Mütter —, an die Vormünder 


und deren Stellvertreter, daß sie ihrer Pflicht gegen das Vaterland eingedenk bleiben 
und das heranwachsende Geschlecht in Gottesfurcht, Zucht und Arbeitsamkeit er- 
ziehen, ohne ihm dabei die Frische und Lebensfreude zu verkümmern, derer die 
Jugend zu ihrem Gedeihen nicht entraten kann. 

Ich wende mich ferner an die Jugenderzieher und an die Beamten der öffent- 
lichen Sicherheit mit dem Ersuchen, in sorgsamer Überwachung der Jugend nicht 
nachzulassen. Es gilt, wirkliche Verfehlungen der verdienten Bestrafung zuzuführen 
und zu verhindern, daß unter den Jugendlichen die Zungengewandten und die 
körperlich Starken, aber sittlich Unbekümmerten die Führerrolle an sich reißen, wie 
es leider nur allzuoft geschieht. 

Das Hauptgewicht bei dem Kampf gegen die Jugendverwahrlosung muß aber 
nicht auf Abwehrverbote gelegt werden, sondern auf aufbauende Maßnahmen. Es 
führt zu nichts, der Jugend lediglich eine Anzahl verderblicher, aber bei ihr all- 
gemein beliebter Vergnügungen zu versagen, wenn man ihr dafür einen guten Er- 


Trüper: Der Weltkrieg und die Erziehungs- und Schulreform der Gegenwart. 31 





satz nicht bietet. Man muß die Jugend nicht nur von Schädlichem fernhalten, 
sondern ihr auch Wertvolles nahebringen. 

Ich richte deshalb das dringende Ersuchen an die Schulverwaltungen und die 
Dienststellen der Selbstverwaltungsverbände, sich der heranwachsenden Jugend in 
weitgehendem Maße dadurch anzunehmen, daß sie feste Einrichtungen schaffen für 
Turnen, Spiel und Wanderung, für belehrende und unterhaltende Veranstaltungen. 
Es ist notwendig, daß Spielplätze und Jugendheime in hinreichender Zahl und 
Größe zu beliebiger, unentgeltlicher Benutzung offen stehen. Die Aufsicht kann 
wenigen Personen aus allen Kreisen der Bevölkerung ehrenamtlich übertragen 
werden, wenn sie nur für den Umgang mit der Jugend Verständnis, Geschick und 
ein warmes Herz mitbringen. Ihnen wird es ein leichtes sein, bei der Verwaltung 
gemeinnütziger Güter die Mitverantwortlichkeit der Jugend zu wecken. 

In größeren Städten würde es mit Dank zu begrüßen sein, wenn in den 
Schaubühnen und Musiksälen recht viele Volksdarbietungen für die Jugend statt- 
finden könnten — entweder unentgeltlich oder doch zu einem niedrigen Preise, etwa 
dem Einheitssatz von 10 Pfennigen. 

Die Geldmittel, deren es für die Jugendpflege bedarf, sind unverhältnismäßig 
gering; auch darf man vertrauen, daß in der jetzigen Zeit sich jugendfreundlich ge- 
sinnte Geber finden werden, für dieses wertvolle, vaterländische Werk zu spenden. 

Die Aufgabe, um die es sich hier handelt, ist groß. 

Es handelt sich um unseres deutschen Volkes Zukunft. 


Der Kommandierende General. 
gez. von Haugwitz. 


Geht zu: 

I. Den Oberpräsidien zur gefälligen Kenntnisnahme. 

I. Den Staatsministerien, Ministerien, Landesregierung Greiz, Landasdirektion 
Arolsen und Regierungen zur gefälligen Kenntnisnahme und mit der Bitte, die Be- 
strebungen der Jugendpflege in möglichst weitgehendem Maße unterstützen zu wollen. 

Empfohlen wird die Schaffung von Jugendpflege - Ausschüssen, in denen Bürger 
aller Kreise in gemeinsamer Zusammenarbeit wirken. — Schon bestehende Verbände 
sollen nicht beeinträchtigt werden; vielmehr wäre es zu begrüßen, wenn sie zu ge- 
meinsamer Arbeit auf allgemein varterländischer Grundlage die Hand bieten und ihre 
Erfahrung in den Dienst der Sache stellen. 

Das stellvertretende Generalkommando erbittet zum 1. 12. 1915 eine Mitteilung 
darüber, was im dortigen Verwaltungsbereich ins Werk gesetzt werden konnte. 

Zum gleichen Zeitpunkt wird eine Mitteilung darüber erbeten, in welcher 
Weise die Jugendlichen - Vorstellungen an den Lichtspiel-Schaubühnen geregelt 
wurden. Erwünscht ist, daß damit niedere Beamte nicht befaßt werden, und daß 
man dabei ohne engherzige Zimperlichkeit — aber auch ohne schwächliche Nach- 
sicht verfahre. 

Besondere Maßnahmen zur Unterdrückung der Schundmachwerke des Bücher- 
marktes bleiben vorbehalten. 

Der Erlaß Seiner Exzellenz, des Kommandierenden Herrn Generals an die 
Jugend würde zweckmäßig durch geeignete Personen den Jugendlichen unmittelbar 
und mündlich in einer angemessen erscheinenden, eindringlichen Weise mitzuteilen 
sein; erst dann wäre er Öffentlich bekannt zu machen durch Anschlag in den 
Schulen, Turnhallen, Jugendheimen. Nachdem eine solche Belehrung der Jugend- 
lichen stattgefunden hat, ist der vorstehende Erlaß des Kommandierenden Herrn 
Generals nebst Anlagen der Presse zur Veröffentlichung zu übergeben. 


32 A. Abhandlungen. 





III. Den Garnisonkommandos zur Kenntnis und Mitteilung an die höheren 
Stäbe, Truppenteile und Militärbehörden. Soweit der Dienst es zuläßt, sind die Be- 
strebungen der Jugendpflege mit allen Mitteln zu unterstützen, insbesondere durch 
Hergabe von Exerzierplätzen, Turnhallen, Speisesälen. 

IV. Den Oberlandesgerichten, Landgerichten und Amtsgerichten zur Kenntnis. 

V. Den Oberstaatsanwälten bei den Öberlandesgerichten Cassel, Celle, Jena 
und Naumburg an der Saale mit der Bitte, die nachgeordneten Dienststellen ent- 
sprechend anweisen zu wollen. 

Von seiten des stellv. Generalkommandos. 
Der Chef des Stabes. 
gez. Frhr. von Tettau. 
Oberst. 
Stellvertretendes 
Generalkommando XI. Armeekorps. Cassel, den 1. Oktober 1915. 


Die an manchen Orten zutage getretene 


Zuchtlosigkeit der Jugendlichen 
bedeutet bei weiterem Umsichgreifen eine ernste Gefahr für die öffentliche Ordnung 
und Sicherheit sowie für die Zukunft unserer Jugend. Deshalb erlasse ich auf 
Grund des Art. 68 der Reichsverfassung in Verbindung mit $$ 4 und 9 des 
Preußischen Gesetzes über den Belagerungszustand vom 4. Juni folgende 


Verordnung. 


1. 
Unter Jugendlichen im Sinne der nachstehenden Bestimmungen sind Personen 
beiderlei Geschlechts zu verstehen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet 
haben, soweit sie nicht dem Heere oder der Flotte angehören. 


2. 
Jugendliche dürfen in den Abendstunden keine Wirtshäuser besuchen. 
Gastwirte oder deren Vertreter dürfen abendlichen Wirtshausbesuch nicht dulden. 
Unter Abendstunden wird bis auf weiteres die Zeit von 6 Uhr an ver- 
standen ; ändernde Festsetzung bleibt vorbehalten. 
Besuch von Wirtshäusern in Begleitung der Eltern, Erzieher oder 
deren Vertreter, sowie eine notwendige Einkehr auf Reisen und Wanderungen 
fällt nicht unter das Verbot. 


Jugendliche dürfen nur mit Genehmigung ihrer Eltern, Erzieher oder deren 
Vertreter und außerhalb der Wohnung nur in deren Beisein alkoholenthaltende Ge- 
tränke zu sich nehmen oder rauchen. 

Die Verabfoigung von alkoholenthaltenden Getränken und Tabak an Jugend- 
liche zu verbotenem Genusse ist untersagt. 


4. 
Jugendliche dürfen keine Lichtspiel-Schaubühnen besuchen. 
Die Inhaber von Lichtspielhäusern und deren Vertreter dürfen den Besuch 
Jugendlicher nicht dulden. 

Vom Verbot ausgenommen bleiben besondere Jugendvorstellungen, die 
als solche von Polizei- und Schulbehörden vorher geprüft und genehmigt 
wurden. Das Nähere über diese Vorprüfung regeln die obersten Ver- 
waltungsbehörden innerhalb des Korpsbereichs. 


Trüper: Der Weltkrieg und die Erziehungs- und Schulreform der Gegenwart. 33 





5. 

Zuwiderhandlungen werden bestraft mit Geldstrafe bis zu 100 M, an deren 
Stelle, falls sie nicht beigetrieben werden kann, Haftstrafe bis zu 6 Wochen tritt, 
oder mit Gefängnis bis zu einem Jahre. Gleiche Strafe trifft den, der in schuld- 
hafter Weise verabsäumt, seiner Beaufsichtigung unterstehende Jugendliche zur Be- 
folgung der Befehle hinreichend anzuhalten. 

Eine Strafverfolgung gegen Jugendliche, die das 14. Lebensjahr noch nicht 
vollendet haben, findet nicht statt. 


Der Kommandierende General. 
gez. v. Haugwitz. 


Anlage 2, 
Stellvertretendes 


Generalkommando XI. Armeekorps Cassel, den 1. Oktober 1915. 


An die Jugendlichen des Korpsbereichs! 

Eure Väter stehen im Dienste des Vaterlandes und vor dem Feinde. Für 
Euch opfern sie Gesundheit, Blut und Leben. Wollt Ihr Euch ihrer unwert er- 
weisen und keine Opfer bringen ? 

Deutschland erwartet Opfer auch von Euch. Ihr sollt verzichten auf leere 
Zerstreuungen und rohe Vergnügungen, verzichten auf ungeeignete Bücher, wie sie 
Eure Eltern Euch nicht geben würden, verzichten auf alles unsaubere Treiben, das 
Ihr vor den Augen Eurer Eltern verheimlichen müßtet. Dafür sollt ihr lernen 
und arbeiten, damit Ihr Euren Müttern eine Stütze, Euren jüngeren Geschwistern 
ein Vorbild, dem Vaterlande dermaleinst wertvolle Bürger werdet. 

Wenn Eure Väter heimkehren aus dem Kriege, sollen sie eine tätige und 
tüchtige Jugend vorfinden, nicht eine entartete und zuchtlose! Ihr aber, deren 
Väter den Heldentod starben, Ihr sollt doppelt eingedenk bleiben, Euch ihnen dankbar 
zu erweisen durch fleckenlose Sittenreinheit, Willensstärke und Pflichttreue! 

Ich weiß wohl, daß es unter Euch manche gibt, die nicht gehorchen, nicht 
arbeiten, nicht helfen, sondern nur gegen Ältere unehrerbietig sein, möglichst viel 
bummeln und sich großtun wollen. Gegen diese habe ich heute eine Verordnung 
erlassen und strenge Strafen angedroht bei Zuwiderhandlungen. Ich hoffe jedoch, 
daß es dieser Strafen nur selten bedürfen wird. 

Deshalb wende ich mich an die Tüchtigen unter Euch, an die, die ihre Eltern, 
ihre Verwandten, ihr deutsches Vaterland in Ehren halten wollen. Diese sind ohne 
jeden Zweifel unter Euch in der überwiegenden Mehrzahl. Wenn die Tüchtigen 
zusammenhalten, wird der Faule und Liederliche nicht aufkommen! 

Haltet also selbst untereinander auf Fleiß und Zucht und Ordnung; dann leistet 
auch Ihr Jugendlichen Kriegsdienste für unser deutsches Vaterland! 

Ihr seid das kommende Geschlecht unseres Volkes! 


Der Kommandierende General 
gez. von Haugwitz. 


IV. 

Die vierte Reform, die allen Schulreformen nach den Grundsätzen 
des für viele noch immer alleinseligmachenden klassischen, wenn auch 
schon vor 1900 Jahren überholten »Idealismus« vorangehen muß, 

Zeitschrift für Kinderforschung. 21. Jahrgang. 3 


34 A. Abhandlungen. 


weil sie nicht durch tote Bücher und durch trockene, die Schüler oft 
zur Abneigung reizende Kathederworte, sondern durch lebendige Sinn- 
lichkeit und Phantasie anfeuernde Darstellung wirkt, ist die Theater- 
reform als Schul- und Volksbildungsreform. 

Wie es mit dieser Bildungsstätte für »Menschenwürde« bestellt 
ist, ist allgemein bekannt. Aber wehe, wer da ein öffentliches Wort 
wagt! Das wissen z. B. die Berliner Zeitungen, die rechts von den 
Nurgeschäftsblättern stehen. Und hier hat der Krieg am allerwenigsten 
läuternd gewirkt, und meines Wissens hat auch noch kein General- 
kommando hier befehlend eingegriffen. Nur Beispiele können hier 
lehren. Darum eins aus einer deutschen Universitätsstadt, die doch 
etwas auf Bildung und edle Denkungsart geben muß, jedoch mit dem 
Bemerken, daß es anderswo kaum anders ist, wie man in jeder Tages- 
zeitung aus den abgedruckten Theateranzeigen ersehen kann. Diese 
Zustände lassen sich nicht treffender kennzeichnen als durch ein 
»Auch eine Feier des Bußtages!« überschriebenes »Eingesandt« 
einer Zeitung der Stadt von zwei mit vollem Namen unterzeichneten 
Herren. Darin heißt es u. a.: 


»Buß- und Bettag ist ein ernster, stiller Tag, der uns mahnt, den Zu- 
sammenhang dieser sichtbaren Welt mit einer unsichtbaren zu suchen, an dem sich 
das Volk als Ganzes sammeln soll zur Läuterung und Vertiefung seines christlichen 
Lebens. — Bußtag im Kriege! Lauter denn je rufen wir den allgerechten Lenker 
der Dinge an, flehen um seine Barmherzigkeit und sehnen uns nach seiner Liebe. — 
Bußtag im Kriege! Was erwarten wir denn vom Kriege? Eine geistige Wieder- 
geburt unseres Volkes, eine Verjüngung unserer gesamten Kultur. Ein Hauptfaktor 
aller Kultur ist die künstlerische Erziehung des Menschen. In diesem Sinne zu 
wirken ist besonders auch die Pflicht der Theaterleiter. Was bot am vergangenen 
Bußtag Herr Direktor ...? ‚Sodoms Ende‘, ein gemeines Bordellstück, durchsetzt 
von ‚abscheulichen Brutalitäten‘ (Adolf Bartels), ohne irgend welchen künstlerischen 
Wert; ein Stück, das uns in eine Welt raffinierter Sinnlichkeit und egoistischer 
Genießerei versetzt, in der die dumpfen Nachtseiten geschlechtlicher Verfehlungen 
ans Licht gezogen werden und die Reinheit ehelichen Zusammenlebens frivol in den 
Kot gezerrt wird. 

Ist sich Herr ... seiner verantwortlichen Stellung als Theaterleiter bewußt 
und handelt er nach dem Schillerschen Wort: 


‚Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, 
Bewahret sie! 
Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben! 


Ist sich Herr Direktor ... darüber klar, welches ungeheure geistige Verbrechen 
er an einem Teile des deutschen Volkes mit der Aufführung von ‚Sodoms Ende‘ 
am Bußtage begangen hat? Sollen wir uns das bieten lassen?! Sollen unsere 
Helden, die im grauenhaften Kampfe jetzt ihr Blut dem Vaterlande opfern, 
sagen: Weinet nicht über uns, sondern weinet über euch selbst und eure Kinder? 
Wollen wir, daß sie die Welt erlösen, während wir versinken? 

Was überhaupt hat uns Direktor ... bisher geboten? Drei Operetten in 


Trüper: Der Weltkrieg und die Erziehungs- und Schulreform der Gegenwart. 35 





14 Vorstellungen, sechs Lustspiele in 12 Vorstellungen, zwei Dramen in 4 Vor- 
stellungen und ein Trauerspiel in 1 Vorstellung. Diese Zusammenstellung spricht 
für sich selbst und zeigt, in welchem Geiste unser Theater geleitet wird; zeigt, daß 
die verantwortliche Stelle bei der Gestaltung des Spielplanes sich nicht im künst- 
lerischen Sinne fragt: was erzieht, sondern was zieht!! Und wenn eine Auf- 
führung noch so lauten Beifall weckt und die Theaterleitung in den Mitteilungen 
„Aus der Geschäftsstelle des Stadttheaters‘ mit dem Brustton der Überzeugung in 
bezug auf den künstlerischen Wert der Stücke ausruft: ‚Der glänzende Erfolg beweist 
es!-, so ist das noch lange kein Gradmesser für die Güte der Dramen und der Auf- 
führung. Denn jede Theaterleitung bildet sich ihr Publikum selbst ... .« 


Und darauf gibt nun der Theaterdirektor am Totenfest eine in 
einer der Tageszeitungen direkt neben den Gottesdienstanzeigen 
abgedruckten nur den gekennzeichneten Theatergeist verstärkend be- 
stätigende Antwort, worin es u. a. heißt: 


»Sachlich viel zu erwidern, will ich mir versagen, ich könnte das Lügen- 
hafte einzelner Angaben über Spielfolge leicht nachweisen, ich könnte sagen, daß 
einzig die Operettenaafführungen es überhaupt möglich machen, 
andere Werke aufzuführen, das hieße aber schon oft Gesagtes wiederholen 
und ihrem Geschreibsel zu viel Ehre antun. — Hat sich einerseits jeder einzelne 
Besucher der Vorstellung sein Urteil gebildet (war nicht tosender Beifall nach den 
Aktschlüssen zu hören, herrschte weihevolle Ergriffenheit vor) — sind ferner die 
Kritiker der beiden anderen .... Zeitungen wohl nicht von weniger feinem 
künstlerischen und ethischen Empfinden, als die Einsender — siehe deren glänzend 
anerkennenden Berichte über Stück und Darstellung —, so hat außerdem die Polizei- 
behörde (!) das ‚Bordellstück‘ (Sudermann höre und erschaudere!), für den Bußtag 
besonders (!) genehmigt, und es ist doch anzunehmen, daß dieser Behörde das Werk 
nicht ganz unbekannt ist und sie wohl das ‚Geeignet oder nicht‘ mindestens so gut 
beurteilen kann, als die Herren ... und ..., die Kunstrichter! — Nein, der 
springende Punkt ist nur: Dem Reinen ist alles rein ...« 

Und ebenso läßt er diese Anschauungen noch als in Theater- 
kreisen allgemeingültige bestätigen durch eine veröffentlichte Zu- 
schrift von Geheimrat Max Grube (früher Intendant des Hoftheaters 
Meiningen): 

»Sehr verehrter Herr Kollege! Ich weiß nicht, ob Sie klug daran tun, sich 
mit jemand anzulegen, dessen literarische Bildung doch offenbar auf keiner großen 
Höhe steht. Denn über Wert oder Unwert von Sudermanns »Sodoms Ende« sind 
doch wohl die Akten schon längst geschlossen. Bei solchen Fehden zieht erfahrungs- 
gemäß meist der Höherstehende den Kürzeren.« 

Zu diesen Zugstücken der Bußtags- und Totenfestzeit im großen 
Kriege,'!) dem großen »Volkserneuerer«, gehört auch der »Weibsteufel« 
von Schönherr. Nachdem der Dorfbußprediger Gustav Frenssen 


1) Doch nicht überall ist es so. »Am Buß- und Bettage sind bei uns überhaupt 
keine Theatervorstellungen oder andere Vergnügungen, wie Konzerte, Tanz usw. er- 
laubt, nur geistliche Konzerte. Und das in unserm »unheiligen religionslosen 
Bremen!« schreibt man mir von dort zu dieser Frage. 

3* 


36 A. Abhandlungen. 





von seinen guten »Dorfpredigten« und seinen »Drei Getreuen« zu dem 
die sexuelle Begierde, die man der guten Sitte nach mit Scham verhüllt, 
dramatisch schildernden »Hilligenleice und noch kräftigeren Romanen 
»fortgeschritten« ist, gleichviel aus welchen Beweggründen, hat auch 
der Dichter von »Glaube und Heimat« denselben Weg beschritten 
und uns in seinem »Weibsteufele das scheußliche Ehebruch- und 
Verbrecherdrama geschaffen, das uns nun zur Kriegszeit Lebensziele 
vor die Augen führt, die für jedes Volk den Untergang bedeuten 
müssen. Und wo wird der »Weibsteufel«e neben Sudermanns »Sodoms 
Ende« jetzt nicht gespielt? 

Was nun aber gar in Lustpielen und Possen an »Menschheits- 
würde« auf den »Brettern, so die Welt bedeuten,« geboten wird, 
auch dafür ein Beispiel, das wir im Gegensatz zu jener kritischen 
einer lobenden Besprechung der Leistungen jenes Direktors, »Dr. W.P.« 
unterzeichnet, einem andern Blatte derselben Stadt und zur selben 
Zeit entnehmen, also nicht gesucht ist: 


»Das kommt davon !« 
Musikalischer Schwank in 3 Akten von Otto Härting. Musik von Martin Knopf. 


Man weiß: wenn man sich Schwänke von der Art des vorliegenden ansehen 
will, muß man vorher erst seine gewohnte Ästhetik korrigieren.) Sie sind 
wie Dantes Höllentor, über den in feurigen Lettern geschrieben steht: Laßt 
alle Hoffnung fahren, ihr, die ihr eintretet. Alle Hoffnung auf Wahr- 
scheinlichkeit, auf Vernunft, auf Witz in landesüblichem Sinne. Wenn man 
dann die vielen höchstbelustigten Gesichter um sich herum sieht, das laut- 
schallende Gelächter anhört, dann muß man neidvoll und doch wieder recht betrübt 
einsehen, wie wenig doch noch dazu gehört. um so viele Menschen glücklich zu 
machen. Der musikalische Schwank »Das kommt davon!« fällt seiner Entstehungs- 
zeit nach gleich in den Beginn des Weltkrieges und steht wenigstens mit seinem 
noch so blödsinnigen Inhalt in gewisser Beziehung zum Krieg. Über den Inhalt 
nur so viel: Hans Bergfeld hat nur dadurch die Tochter Wally des Stadtrats Tymian 
zur Frau bekommen, daß er sich für einen Reserveleutnant ausgab, in 
Wirklichkeit aber die vom Schwiegervater zu den Übungen erhaltenen Gelder 
zu großen Reisen verwendet hat. Bei Kriegsausbruch kommt dieser Schwindel 
an den Tag. In seiner Angst fährt er auf Rat seines Arztes Dr. Schmittlein in die 
Sommerfrische Karstädt. Der Zufall will es, daß ein Eisenbahnunglück in der 
Nähe dieses Ortes seine ganze Verwandten, seine Schwiegereltern, seine Frau, seine 
hübsche junge Schwägerin Hedy und deren Verehrer, Hans’ Jugendfreund, Leopold 
Hallers, im Gasthofe zusammenführt. Wie sich die ganze Geschichte löst, wie sich 
dieser Wirrwarr, den schließlich noch das Auftreten eines Privatdetektivs er- 
höht, entwirrt, das muß man sich selbst ansehen. Ich persönlich habe vom 
ersten Male genug. 

Während man mit der Rechten drei Kreuze über diesen Schwank macht, 


!) Die Sperrungen sind von mir veranlaßt. 


Trüper: Der Weltkrieg und die Erziehungs- und Schulreform der Gegenwart. 37 





überreicht man mit der Linken dem Spielleiter und den Darstellern die Lorbeeren, 
die sie für den Eifer, mit der sie sich dieser mehr oder weniger dankbaren Sache 
widmeten, verdienen.« 

Wir wollen uns nicht mit Max Grube um die Höhe der literari- 
schen Bildung streiten, da über den Geschmack sich ja überhaupt 
schwer streiten läßt. Nur das sei gesagt: Wir haben es mit der 
Kultur des werdenden Geschlechts zu tun. Und da muß man schon 
ein völlig Unwissender in der Psychologie des menschlichen, und 
namentlich des jugendlichen Gefühls- und Willenslebens wie in der 
Literatur der theoretischen wie praktischen Erziehung sein, deren 
Kenntnis doch wohl auch zur »literarischen Bildung« gehört, um 
nicht zu wissen, daß man mit der Vorführung solcher Bildungs- 
stoffe moralisch Entartete, ja geradezu Verbrecher züchtet. Mindestens 
in der Hälfte der von uns herausgegebenen 130 Hefte der »Beiträge 
zur Kinderforschung und Heilerziehung« ist dafür theoretisch wie 
statistisch und an Einzelbeispielen erläutert der Beweis geführt worden. 
Außerdem wird in einem der nächsten Hefte ein Eingeweihterer uns 
aus dem Jugendgefängnis feststellen, welche Jugendverwüstungen 
die »mit tosendem Beifalle und »weihevoller Ergriffenheit« auf- 
genommene Kunst in Wort, Bild und Darstellung anrichteten. Ich 
gehe darum hier nicht weiter auf die Frage der Bekämpfung der 
schädlich wirkenden Literatur ein. 

Was die allgemeine wie die höhere Schule, gleichviel ob nach 
griechisch-heidnischen oder nach christlich -deutschem »Idealismuse«, 
mühsam in die Jugendherzen hineingepflanzt, das darf nicht länger 
durch Kino und Theater mit sittenpolizeilicher Genehmigung frivol in 
dramatischer Weise in ein paar Vorstellungen vernichtet werden! 

Hier verlangen wir unbedingt sicheren Schutz der Bildungs- 
güter. Im andern Falle schließe man Schule und Kirche als Volks- 
erziehungsstätten und setze Kneipen, Tingeltangel, Kino und Possen- 
theater öffentlich dafür ein! 

Sexuell-sittliche wie treulose und betrügerische Verfehlungen 
innerhalb und außerhalb des Familienlebens werden immer vorkommen. 
Darüber sind auch wir uns klar. Aber das mag für die Heran- 
wachsenden durch Nacht und Grauen verhüllt bleiben. Der Jugend 
muß das Familienleben als Ideal unangetastet bleiben, oder 
um den Untergang unseres Volkes ist es geschehen. Und darum ver- 
langen wir vor aller Schulreform eine radikale Reform der Er- 
ziehung durch alle öffentlichen Schaustellungen. 

Die Stastistik, welche wir im letzten Heft über das jugend- 
liche Verbrechertum veröffentlichten, sagt uns, welche Verlust- 


38 A. Abhandlungen. 
ziffern wir auf der großen Rechnung der Wehrkraft unseres 
Volkes, aber auch der Nährkraft und der Vermehrungskraft 
für sittlich, geistig, körperlich und wirtschaftlich gesunden Nachwuchs 
finden. Die Statistik über schwachsinnige und epileptische und rachi- 
tische und tuberkulose Kinder multipliziert noch jene Verlustziffer. 
Was bedeutet nun diesem gegenüber die Frage, ob humanistisches 
oder Realgymnasium oder Oberrealschule? ob altes System oder Frank- 
furter Reformsystem? zumal wenn aus manchen Primen schon 10°, 
geschlechtskrank abgehen und noch weit mehr alkoholisch verseucht 
sind! Es ist ja außerordentlich bequem, wenn sogar von Kultus- 
ministerien herab der Rat gegeben wird, doch von den Höheren 
Schulen mehr »abzuschieben«, woran allerdings nur an die minderen 
intellektuellen Leistungen gedacht wird, obgleich die gegen die 
moralische Minderwertigkeit doch nur eine untergeordnete Rolle spielen, 
und wenn man sich dann nicht weiter darum zu kümmern braucht, 
was aus diesen Abgeschobenen wird, die doch mehr wie die andern 
um ihret wie um der Familie und des Vaterlandes willen der Vor- 
und Fürsorge auch durch die Schule bedürfen. Ja, so kann es vor- 
kommen, wie mir ein junger Oberlehrer einer Großstadt erzählte, daß 
ihm ein älterer Kollege den Rat gegeben habe, von den 40 Schülern 
seiner Sexta solle er sich doch nur um 20 kümmern; denn nur 10 
davon würden das Einjährige und die andern 10 das Abitur erreichen. 
Wenn man hierbei noch vom Idealismus der Humanisten spricht, so 
besitzt der einfachste Bauer mehr Idealismus, der das Wort des 
Heilandes begriffen hat und darnach handelt: »Was ihr getan habt 
einem meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan!« Oder 
das andre Wort dieses größten Idealisten aller Zeiten und aller Völker, 
wenigstens der germanischen: »Die Gesunden bedürfen des Arztes 
nicht, sondern die Kranken« und »des Menschen Sohn ist gekommen, 
zu suchen und selig zu machen, was verloren ist«e. Wer dieses 
nicht mit in seinen Idealismus aufnimmt, dessen Idealismus hat keinen 
nationalen Wert, geschweige denn einen allgemein menschlichen. 
Das ist vor allen Dingen die große Lehre des Krieges. 
(Forts. folgt.) 


Pudor: Das Familienrecht und die deutsche Jugenderziehung. 39 


2. Das Familienrecht 
und die deutsche Jugenderziehung. 
Von 
Dr. Heinrich Pudor. 


Wir möchten wie Dörpfeld vor 30 Jahren noch heute jeden 
fragen, wo, wann und wie oft ihm in irgend einem pädagogischen, 
kirchlichen oder politischen Blatte — mit Ausnahme des Schein- 
manövers in den Wahlaufrufen der Zentrumspartei — in den Schul- 
debatten der Parlamente usw. ein kräftiges Zeugnis für den Anspruch, 
welchen die Familie an die Schule, und über die Bedeutung, welche 
sie für die Schule hat, vor Augen gekommen ist. Er wird sich ohne 
Zweifel lange, vielleicht vergebens auf ein Beispiel besinnen müssen. 
Und doch sind die Eltern in erster Linie für die Erziehung der 
Kinder verantwortlich; doch haben sie das volle Herzeleid und die 
größte Last zu tragen, wenn jene mißraten. 

So schrieb J. Trüper, der ausgezeichnete Leiter des Erziehungs- 
heims auf der Sophienhöhe bei Jena vor dreizehn Jahren. Und auch 
heute ist es noch nicht anders geworden. Ja, während früher nur 
die Mittelschulen unter dem bureaukratischen System der Staatsschule 
zu leiden hatten, ergreift dieses letztere heute auch die Universitäten, 
die vermeintlichen freien Hochschulen. 

Wir wollen die Frage, ob Staatsschule oder Familienschule, zu- 
nächst geschichtlich verfolgen. Schon früher haben wir, dargetan, 
daß seit Luther — abgesehen vom herrlichen Pestalozzi, nach dessen 
Meinung die Wohnstube die wahre Rettungsanstalt werden sollte!) 


1) In »Lienhard und Gertrude heißt es: »In der Wohnstube geschieht alles 
Bildende, in Rücksicht auf das Kind durch den Glauben des Kindes an Vater 
und Mutter und durch eine ihrer sinnlichen Natur unauslöschlich innewohnende 
Sorgfalt und treue Liebe für ihr Kind. Dieses Beides hat im Verhältnis zwischen 
Schulmeister und Schulkindern durchaus nicht mit eben dieser Belebung und mit 
eben dieser Kraft statt. Der Schulmeister ist dem Kinde nicht Vater und nicht 
Mutter und kann es nicht sein. Die Ursachen, welche das Kind von der Wiege 
an zum Glauben, zur Liebe und zum Gehorsam gegen Vater und Mutter er- 
heben, sind in der Schulstube nicht da, und es ist unmöglich zu denken, daß die 
sittlichen, geistigen und Kunstanlagen unseres Geschlechtes sich in dieser Stube 
durch den Glauben der Kinder an den Schulmeister so einfach entfalten und 
sich gleichsam von selbst ergeben, wie dieses in der Wohnstube bei Vater und 
Mutter der Fall ist. — Prof. Natorp hat kürzlich in Leipzig in der Dürrschen Buch- 
handlung ein Buch erscheinen lassen »Pestalozzi und die Frauenbildung«, in welchem 
er u.a. die folgenden Pestalozzischen Worte anführt betr. die Familienerziehung: 
»Die Natur ruft dich, dein Kind mit eigner Hand zu besorgen, wirf es nicht weg, 
gib es in keines Menschen Hand, kein Mensch ist ihm, was du ihm bist, und es ist 
dir, was dir kein Mensch ist.« 


40 A. Abhandlungen. 





und etwa von A. H. Francke — Jahrhunderte vergingen, ehe das 
Familienprinzip in der Erziehung wenigstens vorläufig theoretisch 
wieder als maßgebend erachtet wurde. Selbst Männer wie Fichte, 
Jahn und Freiherr vom Stein traten auf Seite der Staatsschule Und 
über der Schule wehte, wie Harnisch es treffend sarkastisch ausdrückt, 
wie der Geist Gottes über dem Volke der Lebenshauch der Behörde! 

Die erste Erwähnung der Rechte der Eltern erfolgte im Jahre 
1810 seitens des Philosophen Herbart in dessen Vortrag Ȇber Er- 
ziehung unter öffentlicher Mitwirkung«e. Es heißt da: die Staats- 
männer hätten selbst allen Grund zu sagen: Wollt Ihr denn uns, die 
wir alles Einzelne unter gemeinsame Regeln bergen, uns, die wir den 
vorgeschriebenen Formen die Herrschaft sichern, die wir eine Form 
höchstens darum verlassen, um eine neue Form an deren Stelle zu 
setzen, die wir keine Selbständigkeit anerkennen, als nur in dem 
Ganzen, und in jedem Teile nur einen Ausdruck des Ganzen, oder ein 
Mittel zum Ganzen erblicken; — uns wollt ihr den weichsten aller 
Stoffe, das menschliche Kind, zur Ausbildung empfehlen? Zur lang- 
samen, durch kaum unterscheidbare Stufen fortgehenden, durch die 
zarteste Liebe allein und durch den feinsten Kunstsinn möglichen 
Ausbildung? Wir dachten doch, ihr hättet einen klareren Begriff von 
einer Kunst und von einer künstlerischen Sorgfalt! Wollt ihr uns 
nicht etwa auch fürs Gedeihen der Musik und der Plastik — auch 
dies Unerhörte ist mittlerweile geschehen — und der Dichtkunst ver- 
antwortlich machen? ... Zwischen dem Staat und dem Hause stehen 
die Städte, die kleineren Kommunen, die sich unmittelbar aus den 
Familien zusammensetzen und die, zusammengenommen, wieder den 
Körper des Staates ausmachen. An diese habe ich mich in Gedanken 
gewendet. Mehrere Familien könnten sich vereinigen, einem solchen 
Erzieher den größten Teil seiner Einnahme zu sichern, ohne ihn 
darum ganz an sich zu binden.« 

Weiter sei erwähnt die Rede Schleiermachers »Über den Beruf 
des Staates zur Erziehung« gehalten in der Kgl. Pr. Akademie der 
Wissenschaften 1814. Schleiermacher war der Überzeugung, daß der 
Staat die Erziehung in die Hände des Volkes zurückzugeben habe: 
»Wie kann der Staat, wenn er an der Grenze seines Berufes ange- 
kommen ist, die Erziehung, die er solange verwaltet hat, in die Hände 
des Volkes zurückgeben, ohne wenigstens vorübergehend eine Art von 
Auflösung und Verwirrung zu verursachen, und wie soll sich über- 
haupt nach dieser Rückgabe die Erziehung gestalten? offenbar kann 
sie nie wieder Privaterziehung werden. ... An die Kommunalversamm- 
lung geht die Erziehung über und bleibt so auch mit der Regierung 


Pudor: Das Familienrecht und die deutsche Jugenderziehung. 41 








in dem indirekten Zusammenhang, in welchem alles, was das Volk 
betrifft, mit ihr stehen muß, nur daß diejenigen, die ihn vermitteln, 
nicht ınehr eigentlich als Staatsbehörde, sondern nur die einen als 
Vertreter des Volkes bei der Regierung, die andern als Vertreter der 
Regierung beim Volk anzusehen sind.« 

Aber es dauerte 38 Jahre, ehe. dem Familienprinzip in dem Päda- 
gogen Mager ein neuer Anwalt entstand. Mager ist der erste, welcher 
das, was Herbart philosophisch entwickelt hatte, pädagogisch systemati- 
sierte; er bereitete Dörpfeld den Weg. In seinen Bruchstücken aus 
der deutschen Scholastik, erschienen 1848, sagt er: die Sorge für die 
Gründung, Unterhaltung und Regierung des Landesschulwesens darf 
nicht der Staatsregierung überlassen sein: das Landesschulwesen sei 
kein Staatsschulwesen. ... Weil es nun einmal ein Gesetz der sozialen 
Physik ist, daß Unterricht vom Staate gegeben entweder kein er- 
ziehender oder auch gar ein demoralisierender ist.c In demselben 
Jahre veröffentlichte Mager in seiner Revue drei Abhandlungen von 
Humboldt, Schleiermacher und Herbart über die Frage: »ob es wohl- 
getan ist, die Erziehung und den Unterricht der Jugend der politi- 
schen Gesellschaft — dem Staate — zu überlassen. In einer An- 
merkung sagt Mager dazu treffend: Die Unfähigkeit der politischen 
Gesellschaft resp. des Staates, zur gedeihlichen Besorgung der Seel- 
sorge und des Unterrichts der Jugend hat nicht so sehr zum Teil der 
allerdings unglücklichen bisherigen Besetzung des Kirchen- und Schul- 
regiments als in der bleibenden Natur des Staates ihren Grund. 

Die Magerschen Ideen wurden weiter entwickelt von F. W. 
Dörpfeld, diesem wiederauferstandenen Pestalozzi, diesem Reformator, 
den das deutsche Volk in der Zukunft erst noch zu verstehen und zu 
würdigen hat, diesem überaus vielseitigen, scharf kritischen, dabei 
schöpferischen, und mit tiefem Gemüte veranlagten Geiste, diesem 
großen Sozialpädagogen, dies Wort im weitesten Umfang genommen.!) 

Er trat ziemlich zu gleicher Zeit mit dem vorerwähnten Mager 
auf. Bereits im Jahre 1848 rief er seine Schulgemeinden?) ins Leben, 
die heute noch als »Elternabende« fortleben. Ibm ist die Familie der 
Urorganismus eines gesunden Volks- und Staatslebens, mit deren Ge- 
sundheit die des ganzen Volkes steigt und fällt. 


1) Vergl. das vortreffliche Buch »F. W. Dörpfelds soziale Erziehung in Theorie 
und Praxis«e von J. Trüper. Gütersloh, C. Bertelsmann, 1901. 

1) »In seiner bergischen Heimat fand Dörpfeld Anfänge selbständiger Schul- 
gemeinden vor, deren Rechte nicht einma! durch Napoleon angetastet waren, und 
die sich dann durch die zweijährige ganz vortreffliche Schulverwaltung von Justus 
Gruner, dem Freunde Steins, besonders günstig entwickelt hatten« (vergl. Dr. L. 
Bornemann, »Schule, Familie, Freiheit. Hamburg 1900). 


42 A. Abhandlungen. 

Aber der Vorteil der Familienerziehung liegt nicht am wenigsten 
in der ideal-harmonischen Erziehung, die sie gewährt. Natürliches 
und Geistiges sind verbunden, alle Theorie ist zugleich Praxis und 
erprobt sich sofort in der Praxis. In der Familie allein wird nicht 
nur gelehrt, sondern das Gelehrte zugleich und sofort gelebt. Das 
Wissen erprobt sich am Können. Hierauf macht Dörpfeld in seiner 
1863 in Barmen erschienenen »Freien Schulgemeinder aufmerksam. 
Er sagt: »Die Schule soll möglichst enge mit der Familie verbunden 
sein, möglichst in ihrem Sinne und in ihrer Arbeit eingerichtet und 
geleitet werden; der Charakterzug der Familienhaftigkeit muß in der 
Einrichtung und im Leben der einzelnen Schulanstalten deutlich aus- 
geprägt, und durch die Verfassung und Leitung des gesamten Schul- 
wesens anerkannt und geschützt werden. In der bergischen Schul- 
ordnung am Niederrhein ist der Familiencharakter in der Schule noch 
erhalten. Die Schulgemeinde fällt dort nicht mit der kirchlichen, auch 
nicht mit der bürgerlichen Gemeinde zusammen. Was in der Familie 
zusammengefügt ist, wird auch in der Schule nicht geschieden; die 
Geschlechter sind vereinigt.!) 

Dörpfeld fragt nun, wie die wahre Schulgemeinde herzustellen 
ist, und antwortet: »Als Lokalgemeinde auf die einfachste Weise von 
der Welt, nämlich dadurch, daß man der Familie gibt, was ihr ge- 
bührt, daß für jede Schule aus den dabei beteiligten Familien eine 
eigene Genossenschaft gebildet wird mit bestimmten Pflichten und 
Rechten. Es ist ein Verband von Familien und zwar zu gemeinsamer 
Sorge für die Bildung ihrer Kinder. Diese Schulgenossenschaft kann 
zufälligerweise mit der bürgerlichen Gemeinde räumlich genau zu- 
sammenfallen, nichtsdestoweniger ist sie von dieser verschieden. Und 
weiter sagt er in dem Kapitel »Das Familienrecht« in seinem Schwanen- 
gesang »Das Fundamentstück einer gerechten, gesunden, freien und 
friedlichen Schulverfassung«e: »Sollen die Interessen der Familie bei 
der Schulerziehung und die daraus fließenden Pflichten und Rechte 
zur Betätigung kommen, so muß jede Schulanstalt ihre besondere 
Schulgemeinde besitzen, d. h. sie muß getragen sein von einem Ver- 
bande von Familien, welche sich zur gemeinsamen Schulerziehung 
ihrer Kinder vereinigt haben.« 

Es ist kein Zweifel, daß die Schule, welche heute den Boden 
des Volkstums verlassen hat und gewissermaßen in der Luft schwebt, 
zumal sie auch an der Religion keinen rechten Halt mehr hat, zu 


1) Ein andermal sagt er: »Es ist die Schule vor allem eine Hilfsanstalt der 
Familie und der Lehrer ein Gehilfe der Eltern am Werke der Erziehung.« Vergl. 
F. W. Dörpfeld von seiner Tochter Anna Carnap geb. Dörpfeld. Güterloh 1903. S. 87. 


Pudor: Das Familienrecht und die deutsche Jugenderziehung. 43 
einer Volkssache wieder werden kann nur dadurch, daß sie Familien- 
angelegenheit wird. Wer hat denn ein größeres Interesse an der Er- 
ziehung der Kinder als die Eltern? Heute aber ist die Verbindung 
der Schule mit dem Elternhause nicht nur gelockert, sondern über- 
baupt nicht mehr vorhanden. »Die Volksschule wird schwach, un- 
kräftig, ungesund und bringt ungesunde Frucht, sobald sie sich dem 
Volksleben entfremdet,« sagt Dörpfeld treffend. »Sie wird stark und 
verjüngt sich, sobald sie wieder in unmittelbare Berührung mit dem 
Volke und seinen praktischen Bedürfnissen tritt.« »Jede provinziale 
und landschaftliche Eigenart geht durch das Uniformieren verloren, 
und dadurch büßt das Schulwesen auch seinen volktümlichen Charakter 
ein. Jeder gesunde Fortschritt der Methoden und Lehrbücher wird 
gehemmt. Bei dem Bücherzwang herrscht eine reine Sinekurenwirt- 
schaft, die man sogar auf Privatschulen auszudehnen strebt.« Das gilt 
leider noch heute. 

An dieser Stelle können wir nicht umhin, die herrlichen Worte 
Dörpfelds über deutsches Volksleben in Ansehung der Familienidee 
wiederzugeben: »Des Deutschen Vaterlandsliebe wurzelt nicht in einem 
abstrakten, halbphantastischen Gedanken, wie bei den Franzosen in der 
»gloire«, auch nicht wie bei den Engländern in dem Gemeingefühl, 
einer unüberwindlichen See-, Geld- und Weltmacht anzugehören. Der 
deutsche Mann liebt sein Vaterland, weil er in der gemeinsamen 
Muttersprache eine Gemüts- und Geblütsverwandtschaft spürt; er 
nennt das Vaterland sein Heim und liebt es in einem gewissen Grade, 
weil es sein engeres Heim, das er noch mehr liebt, einschließt. An 
der engeren Heimat, der Landschaft, dem Dörfchen, dem Weiler hängt 
er darum stärker, weil er noch reiner, stärker an seiner Familie, an 
seinem Hause hängt. Bei dem Deutschen folgt die Liebe dem Geblüt 
und Gemüt. Nur wo er nach diesen beiden Seiten mit dem größeren 
Ganzen verwachsen ist und solches fühlt, da ist man seines Festhaltens 
an diesem einigermaßen gewiß. So ist die Festigung an den kleinsten 
und kleinen Kreis die erste und Hauptbedingung zur Festigung an 
den größeren und größten. Daraus folgt viel, auch für unsere Haupt- 
frage. Hier nur die eine Folgerung: Im Interesse einer gesunden 
Volksbildung, im Interesse eines gesunden Volkslebens, zum Heile 
des einzelnen Staates wie des gesamten deutschen Vaterlandes muß 
jede Volkstümlichkeit — hafte sie nun an Familie, Sprache, Sitte, 
Schule oder Kirche usw. — sofern sie die Ausgestaltung des Volks- 
lebens nach den Grundsätzen des Himmelreichs nicht aufhält, mit 
Eifer und Eifersucht bewacht, bewahrt und gepflegt werden.« 

Die Frage, wie in der Praxis das Familienprinzip in der Schul- 


44 A. Abhandlungen. 

erziehung zur Geltung kommen soll, beantwortet nun Dörpfeld in der 
Weise, daß die Familien, soweit sie gleiche ethische Anschauungen 
haben,. sich zu Schulgenossenschaften verbinden, und daß weiter die 
Lokalgemeinden derselben zu landschaftlichen Genossenschaften und 
diese sich territorial zusammenschließen. Dieser Vorschlag ist später 
von Fröhlich (siehe weiter oben) wieder aufgenommen worden. 


Der Staat dagegen, sagt Dörpfeld, >kann nicht Schulhalter und 
Schulherr sein. Er hat keinen Beruf dazu. Seine Aufgaben liegen 
anderswo. Die reine Staatsschule ist um der gesunden Volkserziehung 
willen ebenso zu verwerfen, wie die reine Kirchenschule.« !) 


In den Kreisen der Comeniusgesellschaft, zu deren Gründern er 
gehörte, fand Dörpfeld in den letzten Jahren weitgehendes Verständ- 
nis. Nach seinem Tode brachten die Comeniusblätter aus der Feder 
Pastor D. Hackenbergs unter der Inschrift »Eines Schulmeisters 
Testament« eine treffende Darstellung der Bestrebungen Dörpfelds. 

Ungefähr gleichzeitig mit Dörpfeld finden wir eine andere wichtige 
Auslassung gegen die Staatsschule: Georg Waitz sagt in seinen »Grund- 
zügen der Politik« (Kiel 1862) » Wenn der Staat das Bedürfnis fühlt, 
den Unterricht ganz in die Hand zu nehmen, ist es ein Zeichen, daß 
er sich von seiner natürlichen Grundlage, dem Bewußtsein des Volkes 
entfernt.« 

Ein Jahr vorher war Prof. Stoys Enzyklopädie, Methodologie 
und Literatur der Pädagogik erschienen, in der es heißt: »Die Schul- 
verfassung entspricht nur dann ihrer großen Aufgabe, wenn sie auf 
dem Grundsatze auferbaut ist, daß die Familien als die natürlichen 
Träger der ersten und heiligsten Interessen der Erziehung diejenigen 
Kräfte seien, aus deren geordnetem Zusammenwirken das Schulregiment 
hervorgehen müsse. Nur dann, wenn das ganze Prinzip des Staats- 


1) Erwähnt sei, daß der Pädagog Diesterweg in seinen späteren Jahren durch 
Dörpfeld stark beeinflußt wurde und meinte: wer auf dem Gebiet mitreden wollte, 
müsse die Dörpfeldschen Schriften gelesen haben. Er sagte ferner: »Die natürliche 
Verbindung, welche die Schule eingehen kann, ist die mit den Familien. Und in 
den Rhein. Blättern schrieb er 1865: »Die Volksschule hat einen selbständigen, all- 
gemeinen Zweck: Bildung, Menschenbildung. Sie geht von dem Volke aus und ge- 
hört dem Volke. Über sie haben zuoberst diejenigen zu verfügen, welche sie er- 
richten, die Mitglieder der Schulgemeinde, d. h. die Eltern der ihr übergebenen Kinder!« 
Auch Prof. Holtzmann-Straßburg sagte über jene Forderung Dörpfelds: » Was 
den eigentlichen Gehalt der von Herrn Dörpfeld gestellten Forderungen betrifft, so 
halte ich die Durchführung einer Schulreform nach den Prinzipien der Selbstver- 
waltung und der Interessen-Vertretung nur noch für eine Frage der Zeit. Es ist 
dies der einzige Weg, auf welchem man sich und Preußen aus dem vitiösen Zirkel, 
worin man sich seit 50 Jahren nahezu resultatlous bewegt hat, wird retten können.« 


=- 


Pudor: Das Familienrecht und die deutsche Jugenderziehung. 45 





schulwesens aufgehen wird, kann die Schule zum Heil der Familie 
wie des Staates wahrhaft gedeihen.« 

Nunmehr vergehen wiederum nahe an zwanzig Jahre, ehe dem 
Familienprinzip in der Erziehung ein neuer Anwalt erstand. Der 
nächste war G. Fröhlich, welcher im Jahre 1879 eine Schrift unter 
dem bemerkenswerten Titel veröffentlichte »Gestaltung der Zucht und 
des Lebens einer erziehenden Schule, sowie des vereinten Wirkens 
von Eltern und Lehrern«. Aber freilich steht Fröhlich auf dem Boden 
der (Zwangs-)Simultanschule und kommt deshalb für uns hier weniger in 
Betracht. Im Übrigen hat er sich Dörpfelds Thesen zu eigen gemacht, 
auch wenn er sich nicht immer auf sie beruft. So spricht z. B. auch 
er von »Schulgemeinden, d. h. denjenigen Genossenschaften, welche 
Erziehung und der Unterricht ihrer Kinder verbindet«. 

Gewichtiger in die Wagschale fällt die Stimme Prof. T. Zillers 
und dessen »Grundlegung zur Lehre vom erziehenden Unterricht« 
(2. Aufl. von Prof. Vogt. Leipzig 1884) Auch Ziler nimmt die 
Mager-Dörpfeldsche Idee der Bildung von selbständigen Erziehungs- 
schulgemeinden auf. Er sagt: Die Erziehungsschule ist zur gesell- 
schaftlichen Fachschule herabgesunken, die höhere Sorge für den Zög- 
ling als einzelnen wie das Verhältnis der Erziehungsschule zur Familie 
muß demnach in den Hintergrund zurücktreten. Wo daher nicht aus- 
gezeichnete Pädagogen wirken, ist die gemütliche Teilnahme der 
Familien für öffentliche Schulen beispiellos gering.!) Es müssen 
nämlich die Familien, deren Angehörige der Erziehungsschule ange- 
hören, zu selbständigen Erziehungsschulgemeinden und deren Vertreter 
müssen unter der Mitwirkung von Lehrern zu mannigfachen Organen 
zusammentreten, welch letzteren zur Leitung der Schule berufen, aber 
von den Organen der bürgerlichen und kirchlichen Gemeinden ge- 
sondert sind, weiterhin aber zu Kreis- und Provinzial-Erziehungsschul- 
gemeinden und ihren Organen zusammentreten, um alle außerhalb der 
Methodik liegenden Funktionen zu übernehmen, welche gegenwärtig 
die weltlichen und kirchlichen Behörden über Erziehungsschule und 
Erziehungslehrer ausüben.?) Es ist auch nicht zu vergessen, daß die 
Schultätigkeit niemals anders als im innigen Zusammenwirken mit der 
Familie und in fortgesetzter Verständigung mit derselben über den 
gemeinsamen Zögling, am besten auf Grund gemeinsamer Erfahrungen 
und Überzeugungen annähernd sicher gedeihen kann, weil nur so der 
Verlust an Einheit und Innigkeit, welche bei einer Erziehung möglich 


1) Siehe a. o. W. S. 52. 
2) Ebenda S. 189. 


46 A. Abhandlungen. 


ist, sich einigermaßen ersetzen läßt.!) Leider ist in beiden Teilen, in 
den Lehrern wie in den Familien, das Gefühl der Zusammengehörig- 
keit durch das herrschende Schulregiment gar sehr geschwächt, ja bis 
zu einer verschwindenden Größe herabgedrückt worden. 

Sehr bemerkenswert ist auch die Schrift »Die Reform der Gesell- 
schaft durch Neubelebung des Gemeindewesens in Staat, Schule und 
Kirche« von Dr. Ernst Barth-Leipzig. Georg Reichardts Verlag 
1886. (Zuerst in der Zeitschrift »Erziehungsschule« 1884 und 1885 
veröffentlicht.) Es heißt da: In dem Maße, als sich Staat und Kom- 
munen für die Schulen interessierten, schwand das Interesse der 
Familie für die Erziehung dahin. Immer mehr selbständig wurde die 
Schule und emanzipierte sich vollständig von der Familie. Die Familie 
ihrerseits verlor alles Interesse an der Familie. Bebel (»Die Frau«) 
wollte die Kinder in staatliche Versorgungsanstalten stecken. Statt 
daß die Schule der Familie wegen da ist, scheint heute die Familie 
der Schule wegen da zu sein.« 

Die protestantische Kirchenzeitung stellte Barths Schrift mit Pesta- 
lozzis Lienhard und Gertrud und Platos Staatslehre in Parallele. 

Nicht minder wichtig ist das Eintreten W. Reins für unsere 
hier verfochtenen Ideen. Im Jahre 1890 erschien seine Pädagogik 
im Grundriß, in welcher er die Familie als die natürliche Grundlage 
der Erziehung erklärt und die Anerkennung der Familienrechte in 
der Erziehung fordert. 

Aus dem pädagogischen Seminar der Universität Jena, deren 
Direktor W. Rein ist, ging auch die ausgezeichnete gleich näher zu 
besprechende Schrift hervor. »Die Familienrechte an der öffentlichen 
Erziehung«e von J. Trüper (Langensalza, Hermann Beyer & Söhne 
[Beyer & Mann], 1892). Ferner erschien in Reins Pädagogischen 
Studien die Abhandlung Rolles »Die Selbständigkeit der Schule in- 
mitten von Staat und Kirche«, in welcher ebenfalls die Selbständig- 
keit der Schule und eine nähere Fühlung von Lehrern und Eltern 
gefordert wird. 

Endlich sei, ehe wir zu Trüper übergehen, noch der Schrift des 
Prof. Ferd. Tönnies, Kiel gedacht: »Fünfzehn Thesen über die Er- 
neuerung des Familienlebens.« Vortrag gehalten am 14. August 1893 
auf der Eisenacher Zusammenkunft der Förderung und Ausbreitung 
der ethischen Bewegung. Auch Tönnies knüpft an die Mager- 
Dörpfeldsche Idee der Bildung von Genossenschaften wahlverwandter 
Familien an. (Schluß folgt.) 


1) Siehe a. o. W. S. 289. 





Lehm: Über den Wert der Freiübungen im Hilfsschulturnen. 47 


3. Über den Wert der Freiübungen im Hilfsschulturnen. 


Von 
Kurt Lehm, Dresden. 


Erziehung zur Selbständigkeit: auch die Hilfsschule strebt diesem 
Ziele zu. Doch wird es in Anbetracht der physischen, geistigen und 
auch moralischen Schwäche der Kinder bisweilen in recht weite Fernen 
gerückt, noch weit ab vom Ziel kann plötzlich Stillstand eintreten, 
sodaß das Ziel unerreicht bleibt. 

Steht man zu Ostern vor einer Anfängerschar der Hilfsschule 
und will man aus den Augen der Kinder die Frage lesen: »Kannst 
du mich selbständig machen?« so möchte man im Hinblick auf die 
große Aufgabe, die plötzlich wie eine ungeheure dunkle Wand am 
Schulhimmel aufsteigt, laß werden. 

Doch der Hilfsschullehrer läßt sich so leicht nicht schrecken. Er 
ist an Schwierigkeiten gewöhnt. Wie in unausgesprochenem Aus- 
tausch der Gedanken blitzt es aus seinen Augen den Kindern zu: 
»Besser wird es werden mit euch, ob ganz gut, das weiß ich nicht: 
Aber zeigt einmal her, wie seid ihr denn eigentlich beschaffen, wie 
steht’s um euch?« 

Einer hat sich ganz hinten gesetzt. Er ist es so gewöhnt von 
der »andern« Schule her. Da hat er immer hinten gesessen. 

Auch zu Hause ist er immer hintendran gewesen, und es ist 
noch so. Eine Arbeit, die er leisten will, wird nicht schnell genug 
erledigt. Vater, Mutter, Geschwister nehmen sie ihm aus der Hand. 
»Gib her, das geht viel zu langsam, das kannst du nicht.« Jetzt 
verlangt er nach keiner Arbeit mehr, untätig bummelt er umher. 
Er weiß, er bringt nichts — er fühlt seiħe eigene Minderwertigkeit 
— sein großer, großer Lebensschmerz. 

In der Schule ging es nun wieder so: Was die anderen Kinder 
leisteten, schien ihm groß, so groß, daß er sich kleiner und immer 
kleiner vorkam. Sein Mut verwandelte sich in Mutlosigkeit. 

Da sitzt nun das schwache Kind: »Kannst du mich selbständig 
machen ?« 

Diese Frage! — Sie tropft wie flüssiges Feuer aufs Lehrerherz. 
— Sie ist die Grund- und Zielfrage aller Hilfsschulpädagogik — 
Kannst du mich selbständig machen? 

Bisher stellte man in Laienkreisen und auch von der Hilfsschule 
aus die Frage so: »Kann die Hilfsschule die Kinder wirtschaftlich 
selbständig machen?« und durch Statistiken suchte man diese Frage 
zu beantworten. 


48 A. Abhandlungen. 





Ich verkenne die Wichtigkeit dieser Frage nicht, kann sie aber 
doch nicht als Ziel der Hilfsschularbeit gelten lassen. Die wirtschaft- 
liche Selbständigkeit wird sich als eine willkommene Begleiterscheinung 
von selbst einstellen, wenn wir dem Kinde zu den dazu nötigen Vor- 
aussetzungen verhelfen, und diese sind: 

a) Herrschaft über den eigenen Körper. 

b) Ein dem normalen Zustand sich näherndes Fühlen, Denken, 

Wollen, Handeln. 

Es sind somit zunächst alle Stoffragen von untergeordneter Be- 
deutung. Wesentlicher ist die Frage: 

Wie muß ich die Stoffe an die Hilfsschulkinder 
heranbringen, damit ich einen ausgleichenden Erfolg 
erziele in bezug auf sein von der Norm abweichendes 
Fühlen, Denken, Wollen? 

In Beantwortung dieser Frage sei nachstehend das Turnen in ' 
der Hilfsschule einer Betrachtung unterzogen, und besonders sei 
das Augenmerk auf die Freiübungen gerichtet. 


* * 
* 


Physiologen und Heilpädagogen erkennen heute alle die hohe 
Bedeutung des Turnunterrichts bei der Erziehung der Hilfsschul- 
jugend an. 

Im Hilfsschullehrplan der Stadt Bremen heißt es Seite 32: »Der 
Turnunterricht soll die leibliche Entwicklung fördern, den Körper an 
eine naturgemäße, schöne Haltung in allen seinen Stellungen und Be- 
wegungen gewöhnen, durch Steigerung der Kraft und Gewandtheit 
des Leibes auch Frische des Geistes, Entschlossenheit des Willens, 
Besonnenheit und Mut weeken und stärken und zu Ordnung, Gehor- 
sam und Gemeinsinn erziehen.« 

Kielhorn sagt in seinem Lehrplan!) Seite 98 folgendes über die 
Aufgabe des Turnunterrichts in der Hilfsschule: »Der Turnunterricht 
soll die trägen und schwerfälligen Kinder ermuntern, die un- 
ruhigen und zerfahrenen zügeln, also beide Gruppen gewöhnen, 
auf Befehle zu achten und dieselben zu befolgen (Bildung der Merk- 
fähigkeit); er soll den Willen bilden, Trieb und Lust zum Handeln 
hervorrufen, an Ordnung und Gehorsam gewöhnen, Besonnenheit und 
Mut wecken. 

Er hat sich hervorragend in den Dienst der Gesundheitspflege 


1) Erziehung und Unterricht schwachbefähigter Kinder. Hilfsschul-Lehrplan 
von Heinrich Kielhorn, Schulinspektor, Leiter der Hilfsschule in Braunschweig. 
Halle a. S., Carl Marhold, 1909. 


Lehm: Über den Wert der Freiübungen im Hilfsschulturnen. 49 





zu stellen, hat also dahin zu streben, daß der meistens schwächliche 
und ungelenke Körper der Kinder allseitig gekräftigt wird, daß die 
Kinder gelenkig und gewandt werden. 

Kunst- und Kraftleistungen sollen nicht erzielt werden; es ist 
vielmehr dahin zu wirken, daß alle Kinder einfache Übungen ge- 
schickt, freudig und pünktlich ausführen.« 

Aus dem Zwiekauer Lehrplan!) für die Hilfsschule sei eine Stelle 
von Seite 108 nachstehend angeführt: »Der Turnunterricht ist für die 
Hilfsschule noch wichtiger als in Schulen für Normale Er wird 
hier, richtig verwendet, zu einem Heilmittel und ist als solches schon 
seit vielen Jahrzehnten verwendet worden. i 

Sein hoher Wert besteht darin, daß er sich an einen Sinn wendet, 
der sonst im Unterrichte nicht so gepflegt werden kann, wie das 
eigentlich notwendig wäre, nämlich an die innere Sensibilität und 
ihre Reaktion durch Bewegungen. Die Tast- und Muskelempfindungen 
aber sind die Grundempfindungen für die Entstehung des geistigen 
Lebens, weil von der Bewegung des Körpers und seiner Glieder die 
ersten und vielfachsten Anregungen durch funktionelle Reize aus- 
gehen zur Bildung von Vorstellungen. Die Körperfühlsphäre, welche 
im Gehirne dem Muskel-, Sehnen- und Gelenksystem als Zentralorgan 
zugeordnet ist, nimmt den größten Teil der mittleren Hirnrinde ein 
und ist mit allen übrigen Teilen derselben aufs innigste durch Leitungs- 
bahnen verbunden. Es ist daher möglich, durch gymnastische Übungen 
weithin anregend einzuwirken.«s 

Von den drei angeführten Lehrplänen ist jeder charakteristisch 
in seiner Stellung zum Hilfsschulturnen. Der Bremer Lehrplan?) gibt 
eine allgemeine Zweckbestimmung des Turnens. Der Kielhornsche 
Plan weist auf besondere Merkmale der Kinder hin und gibt damit 
Richtlinien für den Unterricht. Der Zwickauer Lehrplan zeigt, wie 
die Arbeit des Turnlehrers der Hilfsschule zur heilenden Tätigkeit 
werden kann und ordnet sich somit der Frage unter, die zu Ende 
des ersten Abschnittes dieser Abhandlung als grundlegend für die 
Hilfsschularbeit erwähnt wurde. 


* * 
* 


1) Lehrpläne für den Unterricht in der Hilfsschule nebst methodischer An- 
weisung. Von Rudolf Weiß, Direktor der Hilfsschule in Zwickau i. Sa. Langen- 
salza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1911. Beiträge zur Kinderforschung 
und Heilerziehung, Heft 82. 

?) Lehrplan für die Hilfsschule für schwachbefähigte Kinder in Bremen. Druck 
von J. D. Pröhl, Bremen 1901. 
Zeitschrift für Kinderforschung. 21. Jahrgang. 4 


50 A. Abhandlungen. 





In künftigen Hilfsschullehrplänen wird jedenfalls das Turnen als 
Einzelfach nicht mehr aufgeführt werden. Es wird nur als Unter- 
abteilung einer umfassenderen Überschrift erscheinen und unter 
»Körperliche Erziehung« einbegriffen werden. 

Man will damit zum Ausdruck bringen, daß das Wort Turnen 
allein nicht alles das umfaßt, was die Hilfsschule an ihren Kindern 
tut, um sie körperlich zu fördern. Turnen begreift nicht in sich Eis- 
lauf, Schwimmen, Wanderungen, Schulbäder, Milchspende, Mittags- 
speisungen, Entsendung in Ferienkolonien, orthopädische Übungen. 
Es umschließt auch nicht die Übungen, die das planmäßige Turnen 
vorbereiten, aber zurzeit noch nicht in besonderen Stunden vorge- 
nommen werden. 

Somit könnte es scheinen, als würde in Zukunft dem Turnen 
neben anderen Maßnahmen der körperlichen Erziehung eine unter- 
geordnete Stellung zugewiesen werden. Das wird aber nicht ge- 
schehen, wie auch nie der Fall eintreten kann, daß man das Turnen 
ganz fallen ließe. 

Der Nichtfachmann wird ja vielleicht der Meinung sein, daß das 
Turnen bei Hilfsschülern »nicht weit her« sein werde. Gewiß: große 
glänzende Turnvorführungen können wir mit Hilfsschülern nicht bieten, 
wie es auch bei Kielhorn angedeutet ist. Vom Standpunkt des 
Hilfsschulpädagogen und Physiologen aus bietet das Hilfsschulturnen 
ein ganz anderes Bild und darf mit vollem Recht als eins der 
wichtigsten Fächer in der Hilfsschularbeit bezeichnet werden. 

Warum ? 

Nimmt man mit einer Normalklasse eine Freiübung vor, so haben 
die Kinder bald Freude an der Bewegung überhaupt. Nicht so die 
Hilfsschulkinder: Für die ersten Minuten behagt ihnen die Tätigkeit 
des Turnens. Es erscheint ihnen zunächst als Spiel. Dann aber stellt 
sich, auch bei Wechsel der Übungen, Interesselosigkeit ein. Die 
Übung als solche vermag die Kinder nicht auf die Dauer zu fesseln. 
Die Übung muß den Charakter des Spieles bekommen, dann 
weckt sie Freude im Kinde und wir können auf sein Mittun rechnen. 
Auch in der Hilfsschule ist die Freude der Götterfunke, der zündet 
und Kräfte frei macht. Mit Nachdruck weist Kielhorn darauf hin, 
daß alle Kinder einfache Übungen geschickt, freudig und pünktlich 
ausführen. 

Wie soll nun aber eine Freiübung als Spiel dargestellt werden, 
wo es sich um feste Ordnung in der Aufstellung und um festes Zeit- 
maß handelt? 

Ein Spiel ist ein inhaltvolles Tun, eine Freiübung an sich für 


Lehm: Über den Wert der Freiübungen im Hilfsschulturnen. 51 








Hilfsschulkinder eine inhaltleere Tätigkeit. Bei einem Spiel denkt 
sich das Kind etwas, bei der Freiübung wird dem Geist nicht solche 
Nahrung geboten. Die Geistesnahrung des Spieles braucht das Hilfs- 
schulkind, also müssen wir sie ihm auch in der Freiübung bieten. 
Wir müssen ihm ein Turnen mit Nachdenken, ein Denk-Turnen 
ermöglichen. Die Rumpfbeuge wird zu einer Verbeugung, wir ver- 
beugen uns wie ein Herr. Wir hüpfen in die Grätschstellung. Ein 
Ball läuft zwischen den Beinen hindurch. Das könnte auch ein Tier 
sein, eine Katze, ein kleiner Hund. Wir könnten auch mit den Füßen 
auf den Ufern eines schmalen Baches aufstehen, das Wasser liefe 
zwischen den Füßen hindurch usw. 

Das würde die Vorbereitung sein zur Einübung einer Freiübung. 
Das Turnen sei Denk-Turnen, es habe den Charakter des 
Spieles. 

Jetzt ist das Kind gewonnen, sein Innenleben ist geweckt. 
Das Kind führt die Bewegung aus, als ob es sich in die Notwendig- 
keit versetzt fühlte, es tun zu müssen. Es wird eine Übung aus 
lebendiger Kraft. Das Mechanische ist ausgeschaltet. 

Und das Mechanische ist bekanntlich einer der wenig erfreulichen 
Wesenszüge der Schwachsinnigen. Wie oft sieht man sie einher- 
schlendern, als ob sie ein seelenloser Mechanismus wären. Schlechte 
Haltung, schiebender oder schleppender Gang, Schleudern der Arme, 
ein allgemeines Sichgehenlassen, Energielosigkeit werden recht oft be- 
merkt. Und hier muß das Turnen wieder ausgleichend eingreifen. 

Wie läßt sich hier Wandel schaffen ? 

Es ist zunächst festzustellen, daß sich die Hilfsschulkinder ge- 
wöhnlich ihrer Energielosigkeit in der Körperhaltung, in ihren Be- 
wegungen nicht bewußt sind. Es ist andrerseits aber auch sicher, 
daß ein derartiges Sichgehenlassen die Kräfte der einzelnen Glieder 
wie des Gesamtorganismus schädigt und daß bei einer entsprechenden 
heilpädagogischen Behandlung eine Hebung der Arbeitsfähigkeit der 
Organe eintreten muß. Also wird es nötig sein, um den offenbaren 
Mangel an Arbeitsfähigkeit auszugleichen, den Hilfsschulkindern aus 
ihrer Energielosigkeit herauszuhelfen. 

Wie eine Leistung zustande kommt, ist ihnen zu diesem Zweck 
zunächst klar zu machen, aber nicht nur durch Worte, sie fruchten 
nichts. Aus ihrem eigenen Empfinden heraus müssen sie eine Leistung 
des Armes, des Beines, des Rumpfes beurteilen lernen. Sie müssen 
z. B. am nackten Arm die Muskel arbeiten spüren und sehen, 
sie müssen die Muskel durch Muskeltätigkeit fühlen. Der Muskel- 
sinn muß im Hilfsschulkinde wachgerufen werden. Wenn 

4* 


52 A. Abhandlungen. 








ich nun den Schülern zurufe: »Arme — beugt!« so führen sie den 
Befehl wohl aus. Ob sich dabei aber eine Kraftentfaltung vollzieht, 
weiß ich nicht. Zunächst fehlt mir die Kontrolle, die Muskeln sind 
ja durch die Kleidung verdeckt. Wäre die Kleidung dünn und an- 
liegend, wäre eine Überwachung der Muskeltätigkeit nicht ausge- 
schlossen. Am besten würde jedenfalls das Nacktturnen diesem Zwecke 
entsprechen. Da aus andern Gründen aber doch mancherlei Bedenken 
gegen das Nacktturnen sprechen, so dürfte es jedenfalls ein begrüßens- 
werter Zustand sein, wenn wir die Kinder im Trikot turnen lassen 
könnten. Wie bei den Mädchen die Turnhose sich eingeführt hat, 
würde sich auch diese Art der Turnkleidung Geltung verschaffen. Bei 
den meist ärmlichen häuslichen Verhältnissen der Hilfsschüler ist aber 
an eine solche Anschaffung wahrscheinlich nicht zu denken. So 
müssen wir uns einstweilen begnügen, einige Übungen bei entblößtem 
Oberarm vorzunehmen —- Hinaufschieben des Ärmels — dann aber 
mit den gegebenen Verhältnissen uns abfinden. 

Es könnte nun auch der Fall eintreten, daß trotz der Möglich- 
keit einer völligen Kontrolle eine Kraftaufwendung bei der Übung 
nicht stattfindet und die Übung doch schlaff ausgeführt wird. Ge- 
schieht das, so liegt, von Lähmungen und ähnlichen Krankheiten ab- 
gesehen, der Fehler darin, daß die Muskelkraft nicht von innen aus 
angeregt worden ist. Es hat eine Innervation der Muskeln nicht 
stattgefunden. 

Dieser Einfluß der Nerven auf die Organe ist wieder nur durch 
Einwirkung von außen her zu erreichen. Nehmen wir an, Hochstoß 
und Rückbewegung sollen geübt werden. In der Normalklasse wird 
die Übung einfach vorgeturnt, dann erfolgt der Befehl. In der Hilfs- 
schule müssen wir anders verfahren, um die Übung wirklich erfolg- 
reich nennen zu können. 

Der Ballkorb wird schräg gelegt, nach Befinden auch mit einem 
Ball beschwert. Die Kinder üben ihre Kraft, indem sie den Korb 
mit seiner Last nach oben stoßen. Oder ein Schleuderball wird am 
Ringseil aufgehängt und die Kinder stoßen ihn mit der Faust hoch. 
Es ist dann zu erwarten, daß der Hochstoß nicht nur ein schwaches 
Armheben wird, denn es hat die Übung nun eine Zweckbestimmung. 

Die Rückbewegung wird auch oft laß ausgeführt, die Arme fallen 
schlaff herunter. Das kann auch anders werden. Wir lassen die 
Ringe herunter, die Kinder versuchen die Ringe noch tiefer zu reißen. 
Nach genügender Anstrengung geben wir nach. Die Schüler müssen 
empfunden haben, daß Kraftaufwand nötig war. Bei der Freiübung 
wird dann die Rückbewegung kräftig ausgeführt. In den Muskeln 


Lehm: Über den Wert der Freiübungen im Hilfsschulturnen. 53 





zittert die Erregung noch nach. Ich brauche nur zu sagen: »Denkt, 
ihr wolltet die Ringe herunterreißen!« 

Zu diesen wieder mehr spielartigen Vorbereitungsübungen muß 
nun noch ein Hinweis kommen: Wo hast du beim Ziehen im Arm 
etwas gemerkt? — Im Oberarm? — Das sind Muskel. — Die können 
immer so arbeiten, wenn du es willst. — Sagt dem Muskel, er soll 
sich zusammenziehen! Sagt es laut: Zieh dich zusammen! — Seht, 
wie stark er aufschwillt. — Tut es dann auch bei den Übungen so. 
— Da, von deinem Kopf aus kannst du es dem Muskel auch ganz 
leise sagen, daß es gar niemand hört! — Ich mache es euch vor! — 
So, nun seid ihr dran! — Ja, das nenne ich Muskel. — Seht, wie 
sie folgen, wenn ihr wollt. 

Also: Wir müssen versuchen, den Willen anzuregen, wir müssen, 
man grolle dem Neuwort nicht, eine Innervationsmethode befolgen. 

Freilich darf man nicht mit einigen Übungen einen dauernden 
Erfolg erwarten wollen. Nur nach und nach wird der Muskelsinn sich 
heben, das Willensleben sich entfalten. Aber merken wird man es 
bald, daß die Übung nicht mehr ein nur mechanisches Tun ist, sondern 
daß vom Geist aus die Direktion erfolgt. Man wird es spüren, wie 
sich die Arbeits-, die Leistungsfähigkeit der Organe steigert, wie der 
ganze Organismus unter die Disziplin des Willens kommt. Dann 
werden solche Fälle immer seltener werden, daß ein Glied dem Gebot 
des Willens nicht entspricht, daß ein Arm sich beugt, wenn er sich 
strecken soll usw. Aber wie gesagt, die Entwicklung geht langsam 
vor sich, Mutter Natur macht auch hier keine Sprünge, und mannig- 
fach sind die Mittel, die noch angewendet werden können und müssen, 
um das schwache Willensleben zu heben. Der Verwendung eines 
dieser Mittel sei noch gedacht: es ist die Musik. 

* * 
* 

Der Musik jetzt ein Loblied singen zu wollen, wäre ein ver- 
spätetes Unterfangen. Eins nur sei erwähnt, daß sie auf Kranke 
wunderbare Wirkung haben kann, man denke an Saul und Davids 
Saitenspiel. Dieselbe wundersame Kraft hat sie auch heute noch. 
Wer in Krankenhäuser, Pflegeanstalten usw. geschaut hat, wird dies 
bestätigen. Und auch auf die Schwachsinnigen hat die Musik heil- 
samen Einfluß. Wie gern singen z. B. die Hilfsschulkinder. Ob sie 
das, was sie singen, ganz oder nur teilweise verstehen, tut bei ihnen 
nichts zur Sache, aber singen, singen müssen sie. 

Aus diesem Grunde hat man auch den Versuch angestellt, das 
Singen dem Turnen dienstbar zu machen. Da erklingt die Turnhalle 
von Marschliedern und Singespielen. 


54 A. Abhandlungen. 





Vom Singen in der Turnhalle beim Marsch und beim Spiel bin 
ich kein Freund. Staubbildung ist beim Marschieren und bei Be- 
wegungsspielen nicht zu vermeiden, und der Staub dringt dann in die 
durch das Singen stark in Anspruch genommenen Lungen ein. Wenn 
beim Marsch im Freien gesungen wird, so ist diese Gepflogenheit nur 
zu begrüßen. 

Darin, daß auch bei Freiübungen Volkslieder gesungen werden, 
erblicke ich eine Härte. Die Lieder sind wohl kaum im Hinblick 
auf das Turnen entstanden. Darum hat auch ihr Inhalt mit dem 
Turnen gar nichts zu tun. Es wird daher auch nicht erzielt, was 
man durch das Singen herbeiführen wollte, ein taktgemäßes Turnen. 
Und es ist dies leicht erklärlich auch aus anderm Grunde Die 
Kinder achten auf den Inhalt des Liedes und versäumen dabei die 
Übung. Es ist eben von einem Schwachsinnigen viel verlangt, auf 
Inhalt, Rhythmus und Übungsfolge zu achten. Ganz ausgeschlossen 
halte ich ja die Möglichkeit nicht, daß dem Bestreben, eine Übung 
mit Gesang turnen zu lassen, einmal ein voller Erfolg beschieden sein 
könnte, wir streben ja danach, die Übungen alle so durchzunehmen, 
daß der Wille frei werden und sich auch einer andren Tätig- 
keit zu gleicher Zeit widmen kann, aber dann möchten doch 
Lied- und Übungsinhalt immerhin in einem gewissen Zusammenhange 
stehen. Wir stecken uns in der Hilfsschule gewiß nicht das Ziel, 
den musikalischen oder textlichen Inhalt eines Tiedes turnerisch- 
plastisch darstellen zu wollen. Wenn aber auf den Text des Liedes 
»Taler, Taler, du mußt wandern« Seitgrätschstellung und Kniebeuge 
geturnt wird, dies nur als Beispiel, so liegt darin ein Widerspruch. 
Auch ist bei Pausen und halben Noten das Gefühl für Zeitdauer nicht 
da. Die Kinder gehen darüber hin, und die Übung kommt außer Takt. 
Am besten entspricht wohl dem Zweck, in den Schülern das 
Empfinden für Takt, für die Zeitdauer lebendig zu machen 
und zu stärken, Musik ohne Text, Instrumentalmusik, und 
allgemein hat sich das Klavier bewährt. 

Hilfsschulkinder an gleich oder verschieden lange Zeitdauern zu ge- 
wöhnen, ist nicht so einfach. Man kann nicht ohne weiteres mit einem 
Marsch beginnen. Es sind auch zur Weckung des Empfindens für 
Zeitdauer Vorübungen nötig. Und das sind wieder Willensübungen, 
Übungen der Selbstbeherrschung und schnellen Reaktion. Es gilt die 
Nervenbahnen vom motorischen Zentrum zu den Gliedern hin auszu- 
schleifen und für schnellen Verkehr wegbar zu machen. Dazu dienen 
mancherlei Übungen: Der Lauf beginnt. Ich zähle bis vier: einmal 
schnell, einmal langsam, einmal in gleichem, dann in ungleichem 


Lehm: Über den Wert der Freiübungen im Hilfsschulturnen. 55 
Rhythmus. Während des Laufes rufe ich: halt! Dann kommt der 
Befehl »lauft.. Dann rufe ich wieder: halt! Dann stelle ich den 
Schülern frei, beim Einzellauf sich selbst das Halt zuzurufen. Die 
Hauptsache ist immer, daß der Befehl augenblickliche Wirkung tut 
und der Schüler still steht, regungslos wie eine Säule. 

Ein sehr gutes Mittel, an Zeitdauer zu gewöhnen, ist der langsame 
Marsch, bei dem von einem Schritt zum andern fünf, und nach Be- 
lieben mehr Sekunden vergehen können. Bei dieser Übung trägt das 
Muskelempfinden der Schenkel nicht unwesentlich dazu bei, das Zeit- 
empfinden anregen zu helfen. 

Nach solchen und ähnlichen Übungen kommen wir zu dem gleich- 
taktigen Marsch, und von da an tritt uns die Musik als Helferin zur 
Seite. »Jetzt zähle ich nicht mehr mit, jetzt zählt ihr mit dem Klavier. 
Bei ‚eins‘ zählt das Klavier stark, bei zwei, drei, vier nicht so stark!« 
Eine leicht ins Gehör fallende Musik wird angeschlagen, und wir be- 
gleiten nun ständig die Marsch- und Freiübungen am Klavier. Die 
Musik muß scharfe Akzente haben, damit sie den schwachen Willen 
zur Betätigung aufreiz. Man komponiert so kleine Sachen selbst 
und improvisiert am Klavier oder man bereitet sich geeignete, schon 
vorhandene Musik in entsprechender Weise zu, wie es die Musik- 
stücke, die dem Turnplan beigegeben sind, zeigen. Auch ein Kinder- 
lied ist mit eingeflochten, aber es wird nicht gesungen beim 
Turnen, es ist lediglich als Klaviermusik gedacht. Wer in dieser 
Weise (ohne Gesang) verfahren wollte, fände eine große Anzahl 
solcher Melodien in jedem Liederheft. Es kämen für den */, Takt 
etwa noch in Betracht für diese Stufe 

1. Taler, Taler, du mußt wandern ... 
. Als ich einmal reiste... 
. Hans hat Hosen an... 
. Fuchs, du hast die Gans gestohlen ... 
. Wer hat die Blumen nur erdacht ... 
6. Meine Blümchen haben Durst... 

Sind die Kinder an den Takt gewöhnt und beherrschen eine 
Reihe einfacher Übungen, so darf man ihnen zu weiterer Befreiung 
des Willens die Kontrastbewegungen nicht ersparen, die das Ziel 
haben, daß die Glieder möglichst unabhängig voneinander 
werden. 

Es wird damit zugleich der Kampf gegen die automatischen Be- 
gleitbewegungen aufgenommen. Ein schwerer Kampf! Aber er darf 
uns nicht schrecken, muß uns vielmehr immer wieder anspornen, die 
Kinder solche Schwierigkeiten beheben zu lehren. Wenn der linke 





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56 A. Abhandlungen. 





Arm eine Beugung, der rechte Arm eine Streckung ausführt zur 
selben Zeit, ist das für Hilfsschüler nicht so schnell gedacht und auch 
nicht so schnell ausführbar. Aber in den meisten Fällen kommt man 
doch zum Ziele. 

In den dieser Arbeit beigegebenen Freiübungen für die dritte 
Klasse einer sechsstufigen Hilfsschule, sind solche Übungen vorzu- 
finden unter: 


Aal 7.—14. Übung. A f a IT 3—4. Übung. 
A b 10.—13. Übung. A f a IV 3.—4. Übung. 
AcH 6—9. Übung.|A f a V 3—4. Übung. 
A fal 4.—5. Übung. A f a VI 4—8. Übung. 
A fa I 4—5. Übung. 


Im allgemeinen habe ich bei Aufstellung der Gruppen den Satz 
zu befolgen gesucht: Vom Leichten zum Schweren, und so ergab 
sich folgender Aufbau: 

A. Freiübungen ohne Belastung. 

a) Übungen mit einem Arm. 
b) Übungen mit beiden Armen. 
c) Übungen mit einem Bein. 
d) Übungen mit beiden Beinen. 
e) Übungen mit dem Rumpf. 
f) Übungen für Arme und Beine. 
a) Übungen für einen Arm und ein Bein. 
p) Übungen für beide Arme und beide Beine. 
g) Übungen für Rumpf, Arme und Beine. 

B. Freiübungen mit Belastung. Stabübungen. 

Die Übungen sollen nicht ein vollständiges System darbieten. 
Sie wollen nur zeigen, was in einer Jahresarbeit erreichbar war. 


Ein Jahrgang Freiübungen im Hilfssehulturnen. 


A. Freiübungen ohne Belastung. 
a) Freiibungen mit einem Arm. 
I. Gruppe: Armheben und Senken. 
1. Übung: 
1—4 : 1)Seitheben des linken Armes. 
5—8 : Senken des linken Armes. 


1) Seithebhalte: Handteller nach unten. Vor- und Hochhebehalte: Handteller 
nach innen. 











Lehm: Über den Wert der Freiübungen im Hilfsschulturnen. 57 


9—12: Seitheben des rechten Armes. 
1)13—16: Senken des rechten Armes. 


Achttaktiger Satz zur I. Gruppe. 
(Zusammenfassung der 1. und 2. Übung.) 











Nach Flotow-Strauß: Martha. 


2. Übung: 
1—4 : Vorheben des linken Armes. 
5—8 : Senken des linken Armes. 
9—12: Vorheben des rechten Armes. 
13—16: Senken des rechten Armes. 


3. Übung: 
1. und 3. Rotte turnen die erste Übung. 
2. und 4. Rotte turnen die zweite Übung. 


4. Übung: 
1—4 : Vorhochheben des linken Armes. 
5—8 : Senken des linken Armes. 
9—12: Vorhochheben des rechten Armes. 
13—16: Senken des rechten Armes. 


5. Übung: 
1. und 3. Rotte turnen 2. Übung. 
2. und 4. Rotte turnen 4. Übung. 


1) Gezählt wird viermal 1—4. Bei »eins« wird die Übung ausgeführt. 2, 3, 
4 sind Verharrungszeiten. 





58 A. Abhandlungen. 





6. Übung: 
1. und 4. Reihe turnen 1. Übung. 
2. und 5. Reihe turnen 2. Übung. 
3. und 6. Reihe turnen 3. Übung. 


7. Übung: 
1—4 : Seitheben des linken Armes. 
5—8 : Seitheben des rechten Armes und Senken des linken Armes. 
9—12: Seitheben des linken Armes und Senken des rechten Armes. 
13—16: Senken des linken Armes. 


8. Übung: 
1—4 : Seitheben des rechten Armes. 
5—8 : Seitheben des linken Armes und Senken des rechten Armes. 
9—12: Seitheben des rechten Armes und Senken des linken Armes. 
13—16: Senken des rechten Armes. 


9. Übung: 
1—4 : Vorheben des linken Armes. 
5—8 : Vorheben des rechten Armes und Senken des linken Armes. 
9—12: Vorheben des linken Armes und Senken des rechten Armes. 
13—16: Senken des linken Armes. 

10. Übung: 
1—4 : Vorheben des rechten Armes. 
5—8 : Vorheben des linken Armes und Senken des rechten Armes. 
9—12: Vorheben des rechten Armes und Senken des linken Armes. 
13—16: Senken des rechten Armes. 

11. Übung: 
1—4 : Vorhochheben des linken Armes. 
5—8 : Vorhochheben des rechten Armes und Senken des linken Armes. 
9—12: Vorhochheben des linken Armes und Senken des rechten Armes. 
13—16: Senken des linken Armes. 


12. Übung: 
1—4 : Vorhochheben des rechten Armes. 
5—8 : Vorhochheben des linken Armes und Senken des rechten Armes. 
9—12: Vorhochheben des rechten Armes und Senken des linken Armes. 
13—16: Senken des rechten Armes. 


13. Übung: 
1—4 : Seithochheben des linken Armes. 
5—8 : Seithochheben des rechten Armes und Senken des linken Armes. 
9—12: Seithochheben des linken Armes und Senken des rechten Armes. 
13—16: Senken des linken Armes. 

















Lehm: Über den Wert der Freiübungen im Hilfsschulturnen. 59 


14. Übung: 
1—4 : Seithochheben des rechten Armes. 
5—8 : Seithochheben des linken Armes und Senken des rechten Armes. 
9—12: Seithochheben des rechten Armes und Senken des linken Armes. 
13—16: Senken des rechten Armes. 


I. Gruppe: Armbeugen und Strecken. 

1. Übung: 
1—4 : Seitheben des linken Armes. 
5—8 : Beugen des linken Armes. 
9—12: Strecken des linken Armes. 
13—16: Senken des linken Armes. 

2. Übung: 
1—4 : Seitheben des rechten Armes. 
5—8 : Beugen des rechten Armes. 
9—12: Strecken des rechten Armes. 
13—16: Senken des rechten Armes. 


Achttaktiger Satz zur II. Gruppe. 
(Zusammenfassung zu Übung 1 und 2, Übung 3 und 4.) 
1 


2 8 4 











Nach Donizetti: Regimentstochter. 





60 
3 

1—4 

5—8 
9—12 
13—16 
4 

1—4 

5—8 
9—12 
13—16 
1 

154 

5—8 
9—12 
13—16 
2 

1—4 

5—8 
9—12 
13—16 
3 

i 

5—8 
9—12 
13—16 
4 

1-4 
1 

1-4 

5—8 
9—12 
13—16 
2 

14 

5—8 


A. Abhandlungen. 





. Übung: 
: Vorheben des linken Armes. 
: Beugen des linken Armes. 

: Strecken des linken Armes. 
: Senken des linken Armes. 

. Übung: 
: Vorheben des rechten Armes. 
: Beugen des rechten Armes. 

: Strecken des rechten Armes. 
: Senken des rechten Armes. 


IH. Gruppe: Armstoßen. 


. Übung: 
Arme zum Stoß gebeugt. 

: Seitstoßen links. 

: Senken des linken Armes. 
: Seitstoßen rechts. 

: Senken des rechten Armes. 
. Übung: 
: Vorstoßen links. 
: Senken des linken Armes. 
: Vorstoßen rechts. 
: Senken des rechten Armes. 
. Übung: 

: Hochstoßen links. 

: Senken des linken Armes. 
: Hochstoßen rechts. 

: Senken des rechten Armes. 


. Übung: 
: Seitstoßen links. 





| 5—8 
9—12 
13—16 
5. 

1—4 
5—8 
9—12 
| 13—16 
6. 
1—4 
5—8 
9—12 
13—16 
7. 

| 1—4 
| 5—8 
9—12 
13—16 


: Beugen zum Stoß. 
: Vorstoßen links. 
: Beugen zum Stoß. 


Übung: 

: Seitstoßen rechts. 

: Beugen zum Stoß. 
: Vorstoßen rechts. 
: Beugen zum Stoß. 
Übung: 

: Vorstoßen links. 

: Beugen zum Stoß. 
: Hochstoßen links. 
: Beugen zum Stoß. 
Übung: 

: Vorstoßen rechts. 

: Beugen zum Stoß. 
: Hochstoßen rechts. 
: Beugen zum Stoß. 


b) Freiübungen mit beiden Armen. 


. Übung: 
: Seitheben zur Seithebhalte. 

: Hochheben zur Hochhebhalte. 
: Senken zur Seithebhalte. 
: Tiefsenken. 
. Übung: 

: Vorheben zur Vorhebhalte. 

: Hochheben zur Hochhebbhalte. 


9—12: Ausbreiten zur Seithebhalte. 
13—16: Senken der Arme. 

4. Übung: 
1—4 : Vorheben zur Vorhebhalte. 
5—8 : Ausbreiten zur Seithebhalte. 
9—12: Vorschwingen zur Vorhebhalte. 
13—16: Senken der Arme. 

5. Übung: 
1—4 : Vorhochheben zur Hochhebhalte. 
5—8 : Ausbreiten zur Seithebhalte. 
9—12: Seithochheben zur Hochhebhalte. 
13—16: Senken der Arme nach vorn. 

6. Übung: 
1—4 : Seitheben der Arme zur Seithebhalte. 
5—8 : Beugen: Unterarm bildet mit dem Oberarm einen rechten Winkel. 
9—12: Strecken der Arme. 
13—16: Senken der Arme. 

7. Übung: 
1—4 : Vorheben der Arme zur Vorhebhalte. 
5—8 : Beugen: Unterarm bildet mit dem Oberarm einen rechten Winkel. 
9—12: Strecken der Arme. 
13—16: Senken der Arme. 

8. Übung: 9. Übung: 

Arme zum Stoß gebeugt. 1—4 : Vorstoßen. 

1—4 : Seitstoßen. 5—8 : Beugen zum Stoß. 
5—8 : Beugen zum Stoß. 9—12: Hochstoßen. 
9—12: Vorstoßen 13—16: Beugen zum Stoß. 
13—16: Beugen zum Stoß. 

10. Übung: 
1—4 : Seitstoßen links und Vorstoßen rechts. 
5—8 : Beugen zum Stoß. 
9—12: Seitstoßen rechts und Vorstoßen links. 
13—16: Beugen zum Stoß. 


Lehm: Über den Wert der Freiübungen im Hilfsschulturnen. 61 





: Senken zur Vorhebhalte. 

: Tiefsenken. 

. Übung: 

: Seitheben zur Seithebhalte. 

: Vorschwingen zur Vorhebhalte. 


62 A. Abhandlungen. 





11. Übung: 
1—4 : Seitstoßen links und Hochstoßen rechts. 
5—8 : Beugen zum Stoß. 
9—12: Seitstoßen rechts und Hochstoßen links. 
13—16: Beugen zum Stoß. 

12. Übung: 
1—4 : Seitstoßen und Seithebhalte. 
5—8 : Linker Arm gestreckt, rechter Arm gebeugt. Siehe 6. und 

7. Übung 5—8. 

9—12: Linker Arm gebeugt, rechter Arm gestreckt. 
13—16: Senken der Arme. 


13. Übung: 
1—4 : Vorstoßen und Vorhebhalte. 
5—8 : Linker Arm gestreckt, rechter Arm gebeugt. S. 6. Übung 5—8. 
9—12: Linker Arm gebeugt, rechter Arm gestreckt. 
13—16: Senken der Arme. 


c) Übungen mit einem Bein. 
. I. Gruppe: Stellen. !) 
1. Übung: 
1—4 : Seitstellen des linken Beines. 
5—8 : Schlußtritt. 
9—12: Seitstellen des rechten Beines. 
13—16: Schlußtritt. 
2. Übung: 
1—4 : Vorstellen des linken Beines. 
5—8 : Schlußtritt. 
9—12: Vorstellen des rechten Beines. 
13—16: Schlußtritt. 
3. Übung. 
1—4 : Rückstellen des linken Beines. 
5—8 : Schlußtritt. 
9—12: Rückstellen des rechten Beines. 
13—16: Schlußtritt. 
4. Übung: 
1—4 : Kreuzschritt links vor dem rechten Fuß vorüber. 
5—8 : Grundstellung. 
9—12: Kreuzschritt rechts vor dem linken Fuß vorüber. 
13—16: Grundstellung. 


1) Fußspitze wird auf den Boden aufgesetzt. Knie bleibt gestreckt. 


































Lehm: Über den Wert der Freiübungen im Hilfsschulturnen. 63 


5. Übung: 
1—4 : Kreuzschritt links, hinter dem rechten Fuß her kreuzend. 
5—8 : Grundstellung. 
9—12: Kreuzschritt rechts, hinter dem linken Fuß her kreuzend. 
13—16: Grundstellung. 





DO. Gruppe: Schreiten. 
1. Übung. 
1—4 : Seitschreiten links in die Seitgrätschstellung. | 
5—8 : Grundstellung. | 
: Seitschreiten rechts in die Seitgrätschstellung. 
: Grundstellung. 


. Übung. 

: Vorschreiten links in die Quergrätschstellung. 
: Grundstellung. 

: Vorschreiten rechts in die Quergrätschstellung. 
: Grundstellnng. 


. Übung. 

: Rückschreiten links in die Quergrätschstellung. 
: Grundstellung. 

: Rückschreiten rechts in die Quergrätschstellung. 
: Grundstellung. 





Zwölftakter zur Il. Gruppe. 
(Zusammenfassung der 1. bis 3. Übung.) 





Hopp, hopp; Kinderlied, 


A. Abhandlungen. 





. Übung. 

: Seitschreiten links in die Seitgrätschstellung. 

: Grundstellung. 

: Vorschreiten rechts in die Quergrätschstellung. 
: Grundstellung. 


. Übung. 

: Seitschreiten rechts in Seitgrätschstellung. 

: Grundstellung. 

: Rückschreiten links in die Quergrätschstellung. 
: Grundstellung. 


II. Gruppe: Heben und Senken. 


. Übung. 6. Übung: 
: Knieheben links. 1—4 : Knieheben links. 
: Grundstellung. 5—8 : Grundstellung. 
: Knieheben rechts. 9—12: Fersenheben rechts. 
: Grundstellung. 13—16: Grundstellung. 
. Übung. 7. Übung: 
: Fersenheben links. 1—4 : Knieheben rechts. 
: Grundstellung. 5—8 : Grundstellung. 
: Fersenheben rechts. 9—12: Fersenheben links. 
: Grundstellung. 13—16: Grundstellung. 
. Übung. 8. Übung: 
: Seitspreizen links. 1—4 : Seitspreizen links. 
: Grundstellung. 5—8 : Grundstellung. 
: Seitspreizen rechts. 9—12: Vorspreizen rechts. 
: Grundstellung. 13—16: Grundstellung. 
. Übung. 9. Übung: 
: Vorspreizen links. 1—4 : Vorspreizen links. 
: Grundstellung. 5—8 : Grundstellung. 
: Vorspreizen rechts. 9—12: Rückspreizen rechts. 
: Grundstellung. 13—16: Grundstellung. 
. Übung: 
: Rückspreizen links. 
: Grundstellung. 


: Rückspreizen rechts. 
: Grundstellung. 





Lehm: Über den Wert der Freiübungen im Hilfsschulturnen. 65 


d) Übungen mit beiden Beinen. 


1. Übung: 2. Übung: 
1—4 : Zehenstand. 1—4 : Hüpfen in die Seitgrätschstellung. 
5—8 : Grundstellung. 5—8 : Grundstellung. 
9—12: Fersenstand. 9—12: wie 1—4. 
13—16: Grundstellung. 13—16: wie 5—8. 
3. Übung: 
1—4 : Hüpfen in die Quergrätschstellung. Linkes Bein vorgestellt, 
rechtes Bein zurück. 
5—8 : Hüpfen in die Grundstellung. 
9—12: Hüpfen in die Quergrätschstellung. Rechtes Bein vorgestellt, 
linkes Bein zurück. 
13—16: Grundstellung. 
Achttaktiger Satz zu Gruppe d. 
(Zusammenfassung der 2. und 3. Übung.) 
Vortakt d = 


















































Nach Donizetti: Regimentstochter. 


4. Übung: 
1—4: Hockstand. 
5—5: Grundstellung. 


9—12: 
13—16: 


Kniebeuge. 
Grundstellung. 


Zeitschrift für Kinderforschung. 21. Jahrgang. 5 


66 


A. Abhandlungen. 





e) Übungen mit dem Rumpf. 


I. Gruppe: Rumpfbejugen. 
. Übung: 

: Rumpfbeugen seitwärts links. 

: Grundstellung. 

: Rumpfbeugen seitwärts rechts. 
: Grundstellung. 

. Übung: 

: Rumpfbeugen vorwärts. 

: Grundstellung. 

: Rumpfbeugen rückwärts. 

: Grundstellung. 


. Übung: 

: Rumpfbeugen seitwärts links. 
: Grundstellung. 

: Rumpfbeugen vorwärts. 

: Grundstellung. 

. Übung: 

: Rumpfbeugen seitwärts rechts. 
: Grundstellung. 

: Rumpfbeugen rückwärts. 

: Grundstellung. 


I. Gruppe: Rumpfdrehen. 
. Übung: 

: Rumpfdrehen seitwärts links. 

: Grundstellung. 

: Rumpfdrehen seitwärts rechts. 

: Grundstellung. 


. Übung: 

: Rumpfdrehen seitwärts links. 
: Grundstellung. 

: Rumpfbeugen vorwärts. 

: Grundstellung. 

. Übung: 

: Rumpfbeugen rückwärts. 

: Grundstellung. 

: Rumpfdrehen seitwärts rechts. 
: Grundstellung. 





(Schluß folgt.) 


1. Weltkrieg und Erziehung. 67 





B. Mitteilungen. 


1. Weltkrieg und Erziehung. 


a) Die Bedeutung der Linkshändigkeitsbewegung in der heutigen Zeit. 


Die heilige Not unseres Vaterlandes lehrte uns, auf allen Gebieten 
die Kräfte in Bewegung zu setzen, die bisher brach lagen oder doch nur 
teilweise Beachtung fanden; zu diesen verkannten Machtmitteln ge- 
hörte auch die linke Hand. 

Heute ist sie ein vollwertiger und geschätzter Mitarbeiter 
geworden für alle, die ihre rechte Hand im Opferdienste für das Vater- 
land einbüßten. In den Arbeitsstätten für Kriegsverletzte wird mit echt 
deutscher Gründlichkeit auch die linke Hand geübt in allen Fertigkeiten, 
in denen sie sonst der rechten nur Helferdienste leisten durfte. Und das 
Ergebnis ist überall dasselbe: Die Linke ist der Rechten ebenbürtig, 
oft ihr an Geschicklichkeit überlegen. 

Diese Erkenntnis wird täglich weitere Kreise ziehen und aus ihr 
wird die Frage erstehen: warum erst warten, bis die herbe Notwendigkeit 
uns zwingt, unsere gesamten Kräfte zum Wohle der Menschheit auszu- 
bilden? — Sie wird aufstehen, diese Frage, und sie möge nicht zu der 
Anklage werden: Warum lehrtet Ihr uns nicht den Wert unserer linken 
Hand erkennen in der Jugend? — 

Ja Warum? Weil alle dringenden Mahnungen zur Erlernung der 
Linksschrift bisher ungehört verhallten; weil die wissenschaftlichen 
Forschungsergebnisse unserer Mediziner und Psychiater (ich nenne nur 
das wichtige, lehrreiche Buch vom Werte der doppelhändigen Ausbildung 
von Dr. med. Manfred Fraenkel 1910 und die Urteile von Prof. Liep- 
mann und Gutzmann) nicht durchdrangen und es darum zu prak- 
tischen Versuchen in Schulen nur ausnahmsweise kam, wie in 
Königsberg (1908—1909). Ein geringschätziges Achselzucken oder eine 
Warnung vor Überbürdung, das waren die Antworten auf alle Bemühungen, 
in den Schulen zunächst wenigstens beidhändige Schrift zu üben. 

Heute steht sie anders im Kurs, die linkshändige Schrift. — Viel- 
fach sind ihre einstigen Gegner zu eifrigen Lehrern geworden in Ver- 
wundetenkursen und in Kollegenkreisen. Das ist gut so — niemand ist 
sicherlich mehr befriedigt von dieser Tatsache als die treulichen Verfechter 
der Linksschriftsache, die an ihr festhielten, trotzdem man sie eine schäd- 
liche Belastung der Jugend nannte! Unsere Genesenden in den Lazaretten, 
die aus strapazenreichen Kämpfen heimkamen und nach monatelangen Ent- 
behrungen jeder Art — ihre linkshändigen Übungen tapfer aufnehmen, be- 
weisen, daß diese Linksarbeit nicht schadet — daß sie im Gegen- 
teil ihnen hilft, ihnen nützt, nicht nur praktisch, auch geistig; die Übenden 
merken, daß sie froher, frischer und zuversichtlicher und arbeitsfähiger 
werden — und diese Übungen sollten der Jugend schaden? Der Irrtum 
wird bald für immer beseitigt sein. Darum gebt der linken Hand ihr 
Recht, sie wird helfen, doppelte Leistungen hervorzubringen! 

5* 


68 B. Mitteilungen. 


Diese Mahnung fällt auf längst vorbereiteten Boden, wie Dr. M. 
Fraenkel in seinem Buche eingehend dargestellt hat, trotzdem Vorurteile 
eine ausgiebige praktische Erprobung in Schulen bisher unmöglich machten. 

Unserem unvergeßlichen Direktor Friedrich Fitschen (ehem. Leiter 
der Luisenschule: Lyzeum und Oberlyzeum Essen-R.) der auch in diesem 
Kriege dem Vaterlande sein Leben zum Opfer brachte, bin ich herzlich 
dankbar dafür, daß er mit weitschauendem, pädagogischem Blick den Wert 
der doppelhändigen Ausbildung klar erkannte und mir seit 1910 die weit- 
gehendste Erlaubnis erteilte zu beidhändigen Schriftübungen mit den 
Schülerinnen meiner Klassen. Ich danke an dieser Stelle auch den 
Kolleginnen, die seitdem ebenfalls linkshändige Schreibübungen machen 
ließen und damit die Frage weiterbrachten. 

So kann ich jetzt mit einer fünfjährigen Erfahrung im beidhändigen 
Schreiben beim Unterricht von 40—45 Schülern im Alter von 9—13 
Jahren vielleicht dazu beitragen, Fragen lösen zu helfen, die einer Ein- 
führung in die Schulen noch im Wege stehen. Einige meiner Beob- 
achtungen, sowie praktische Winke zur leichten Erlernung linkshändiger 
Schrift, nebst Übungsfolge und Schriftproben meiner Schülerinnen habe 
ich in meinem kleinen Buche (20 Druckseiten) gegeben: Übe deine 
linke Hand. (Preis 30 Pf. im Kommissions-Verlag v. O. Schmemann, 
Essen-Ruhr.) Ich schrieb es für rechtsarmig Verwundete und sende das 
Heftchen kostenlos an alle Arbeitsstätten und Lazarette (auch 
an Einzeladressen) zur Verteilung an Kriegsverletzte, die Nutzen 
daraus ziehen können. (Angabe meiner Adresse siehe untenstehend.) Die 
in dem Buch befindlichen Schriftproben sind von meinen Schülerinnen 
linkshändig geschrieben und gezeichnet. Die Federzeichnungen stammen 
aus einer Briefschmucksammlung, die zu Weihnachten ins Feld gesandt 
wurde, von den Mädchen also ohne jede Übungsvorbereitung freiwillig an- 
gefertigt sind 

Auch in der Ausstellung: Unsere Jugend, Mai—Juli 1914, hier in 
Essen lagen die Arbeiten (Übungshefte) und Schriftproben meiner Schüler 
aus (jetzt zum Teil im Essener Schulmuseum). Diese beidhändigen 
Schreibübungen wurden innerhalb des vorgeschriebenen Klassen- 
pensums und ohne jede Vermehrung der Stundenzahl (1 Schreib- 
stunde wöchentlich) ausgeführt, lediglich nach dem Grundsatz der 
Arbeitsteilung; z. B. alle häuslichen schriftlichen Aufgaben halb rechts- 
händig, halb linkshändig angefertigt, desgleichen in der Klasse bei den 
schriftlichen Übungen in allen Fächern, auch an der Wandtafel. Der 
geistige und moralische Gewinn, der mit der beidhändigen Erziehung ver- 
bunden ist, läßt sich nicht in praktischen Proben so aufzeigen, wie die 
technischen Leistungen. Dazu fehlen noch zu sehr die wissenschaftlichen 
Grundmaße und Erkennungsmerkmale der Einzelbegabung, die in ihrer 
unübersehbar mannigfachen Zusammensetzung und Ursächlichkeit eine Ver- 
allgemeinerung nicht zuläßt und darum wird vorläufig dies Gebiet an- 
fechtbar bleiben. 

Aber eine von unseren bedeutendsten Medizinern und Psycho- 
logen betonte Tatsache habe ich auch bestätigt gefunden: daß irgend 


1. Weltkrieg und Erziehung. 69 








welche Schädigung des kindlichen Organismus durch beid- 
händige Ausbildung ausgeschlossen ist. Im Gegenteil: Haltung 
des Rückgrates — bessere Atmung, dadurch leichtere Durchblutung des 
Gehirns -— gleichmäßiger Gebrauch der Augen — bessere Ausbildung der 
oft schlaffen linksseitigen Arm- und Handmuskeln, überhaupt der linken 
Körperhälfte — das sind Vorteile, wenn auch scheinbar rein äußerlicher 
Natur, die allein schon links- und rechtsseitige Ausbildung rechtfertigen 
würden. Die Willensleistungen aber, die mit den Übungen verbunden 
sind, in ihrem Einfluß auf das gesamte Seelenleben des Kindes wie auch 
des Erwachsenen, können gar nicht hoch genug gewertet werden. 

Zu den längst erkannten Vorteilen beidhändiger Schulung neue hinzu- 
zufügen, konnte mein Ziel nicht sein, weil mein Übungsgebiet nur be- 
schränkt war und die bisherigen Ansichten über Linksschrift, auch in 
Pädagogenkreisen, eine umfassende praktische Mitarbeit nicht aufkommen 
ließen. 

Ich hoffe, daß die jetzigen Zeitforderungen auch darin Wandel schaffen 
und bin zu gemeinsamen Forschungen und zum Meinungsaustausch 
über die Frage der Beidhandschulung jederzeit gern bereit. Die Mög- 
lichkeit einer beidhändigen Ausbildung innerhalb der gegen- 
wärtigen Schulforderungen, glaube ich aber erwiesen zu haben. 
Daß der Lehrende erst selbst üben muß, kommt bei der Wichtigkeit 
dieser Zukunftsfrage für unser Volk gar nicht in Betracht; besonders 
darum nicht, weil keinerlei Kosten mit dieser Erlernung verbunden sind. 
Jeder ist sein eigener Lehrer. 

Die natürliche Neigung der linken Hand zur Gegenbewegung (vergl. 
die lehrreichen Beobachtungen von Martin Buchner, Passau, im Heft 115 
der Beiträge für Kinderforschung u. Heilerziehung. Langensalza, Hermann 
Beyer & Söhne [Beyer & Mann], 1914), läßt unsere Schrift (von links 
nach rechts laufend) als ungeeignet erscheinen für die linke Hand. 
M. Buchner sagt S. 14: Die Linkskultur würde gut tun in ihrer 
Methode der Naturanlage der linken Hand zur Gegenbewegung 
Rechnung zu tragen. Daß trotz dieser Widernatürlichkeit die 
9—10 jährigen Kinder ebenso wie die erwachsenen Kriegsinvaliden nicht 
Spiegelschrift schreiben — und auch auf Aufforderung nur mit mehr 
Mühe als die gewohnte, von links nach rechts laufende Schrift — ist wohl 
ein Beweis mehr für die Richtigkeit der Liepmannschen Untersuchungen 
(Deutsche Mediz. Wochenschrift 1911, Nr. 28, S. 1308): Daß alles, was 
wir mit der rechten Hand gelernt haben eben Eigentum der linken 
Hemisphäre ist und somit die rechte Hirnhälfte erst unter dem Einfluß 
der linken Hemisphäre die Bewegungsakte der linken Hand leitet. Aus 
diesem Grunde lernen nach meiner Erfahrung auch die Kinder leichter 
linkshändige Schrift, die schon rechtshändig vorher geübt hatten. 
(Wahrscheinlich ist, daß das umgekehrte Verfahren dieselben Ergebnisse 
zeigt) Doch wie sollen wir der Naturanlage der Gegenbewegung Rech- 
nung tragen, die ja im Schreiben und Zeichnen bei zehnjährigen Kindern 
durch die 3—4jährige rechtshändige Übung überwältigt wurde? (Vergl. 
Buchner S. 17.) Vielleicht am besten durch Einüben einer Schrift, die 


70 B. Mitteilungen. 


auch von unseren Schriftreformern als Anfangsübung für die Sechsjährigen 
geübt wird: Die sogenannte Stäbchenschrift, die in ihren einfachen Formen 
mit Leichtigkeit auch in der Gegenbewegung geschrieben und gelesen 
werden kann. 


Zum Beispiel: 
linke Hand rechte Hand 


UVWMTHA AHTMWVU 
7130134 FEDER 
SUAH HAUS 


und so mehr, bis alle Formen geübt sind mit beiden Händen. (Gelesen 
wird dann auch von links nach rechts bei Rechtsschrift und von rechts 
nach links bei Linksschrift, im Hefte stets die linke Heftseite links, die 
rechte rechts beschreiben.) Die aus diesen einfachen Formen leicht ab- 
zuleitenden eigentlichen deutschen und lateinischen Schriftzeichen wären 
dann im 3. Übungsjahre (also mit 9—10 Jahren) allerdings auch mit der 
linken Hand von links nach rechts zu schreiben, der Leserlichkeit halber. 

Ich sehe noch keinen anderen Ausweg. 

Aber vielleicht wäre auf diesem Wege eine eigentliche rechts- oder 
linksseitige Veranlagung der Kinder zu erkennen und zu berücksichtigen, 
sodann die ja nur mittelbare Gebundenheit der linken Hand an die 
rechte, also auch an das linke Sprachzentrum gelockert, und die Aus- 
bildungsmöglichkeit der linken Hand und ihrer gesamten Nerven-Zentren 
und Bahnen gefördert. 

Daß es linksseitig beanlagte Menschen gibt, wie auch rechtsseitig be- 
vorzugte, ist eine Tatsache (vergl. hierzu die Untersuchungen von Prof. Carl 
von Bardeleben, Jena), die uns nur davon überzeugen kann, daß eine 
einseitig rechtshändige Schulung eine Benachteiligung bedeutet. Dazu 
möchte ich eine Beobachtung erwähnen; alle die Schülerinnen, deren linke 
Gesichtshälfte deutlich größer ist, als die rechte, sind zur linkshändigen 
Schrift leichter begabt, als diejenigen, bei denen das umgekehrte der Fall 
ist; manche von ihnen sind auch sonst ausgesprochene Linkser. Die 
leichte Erlernbarkeit der Schrift macht sie den Kindern stets lieb. Schwer 
lernenden Mädchen — besonders in Sprachen — hat doppelhändige 
Abschrift das Behalten erleichtert — auch die Aussprachefähigkeit ver- 
mehrt. Eine Schülerin »vertreibt sich den Kopfschmerz durch einige 
Minuten linkshändigen Schreibens,« wie sie mir mitteilte. 

Beidhändig arbeitende Menschen hat es stets gegeben und Dr. Fraenkel 
hat in seinem Buche eine stattliche Reihe bedeutender Ambiderter ange- 
geben. Möge dazu hier noch das Selbstbekenntnis von Wilhelm Jordan 
stehen, dem Dichter der Nibelungen aus seinen Episteln: Nach 14 Tagen 
bei täglich einhalbstündiger linkshändiger Übung hatte ich eine brauch- 
bare zweite Schreibhand. Außer anderen Beobachtungen fand Jordan: 
Die ausgebildete Fertigkeit des Gehirnes, die rechte Hand schreiben zu 
lassen, erleichtert das linkshändige Schreiben ungemein, überträgt sich 


1. Weltkrieg und Erziehung. 71 








aber nicht unmittelbar auf die entsprechenden Bewegungsnerven; für die 
linke Hand muß eine andere Abteilung des Gehirns in Tätigkeit treten, 
und so wird das Spiel der Nerven überhaupt reicher, behender und kraft- 
voller. Jordan hatte die Empfindung, daß seine Gedankenwerkstatt um 
einen bisher unbenutzten Raum erweitert sei. 

Dieser Hinweis auf größere Frische und vermehrte geistige Regsam- 
keit bei linkshändigem Schreibenkönnen hat wohl bisher den meisten 
Widerspruch erfahren. Hier wird die jetzt notwendig gewordene große 
Verbreitung linkshändigen Übens bald eine Antwort bringen aus den 
Kreisen derer, die als Ersatz für die verlorenen rechtshändigen Fähig- 
keiten sich mit ihrer linken Schreibhand auch ein neues Gebiet 
ihrer Gehirn- und Nervenbahnen erobern. Ich möchte den Übenden 
vorschlagen, derartige Selbstbeobachtungen zu beschreiben und bin 
bereit, diese Berichte zu sammeln und zu ordnen, um sie an die Prüfungs- 
stellen für psychologische Forschungen weiterzugeben. — (Meine Adresse 
steht unten.) Sollte doch alle Arbeit, die der Einzelne zum eigenen 
Nutzen verrichtet, zugleich der Gesamtheit zur Förderung dienen 
— und hier gilt es, den Boden bereiten zu helfen für das Erziehungs- 
problem der Zukunft: beidhändige Ausbildung. 

Als ein Ergebnis der Selbstbeobachtung und der Selbsterfahrungen 
ist das Buch des Einarmigen von Graf Zichy (Ungarn) als Trost 
hinausgewandert in die Welt der Kriegsverletzten, die mit ihrem einen 
Arm nun sich zunächst als Krüppel hilflos wähnten. Zichys Buch ruft 
ihnen zu: Mut — Ihr seid brauchbare Menschen wie zuvor — seht — 
wie ich es machte, der ich in meinem 15. Lebensjahre meinen rechten 
Arm verloren habe. — 

In zahlreichen lehrreichen Abbildungen veranschaulicht Graf Zichy, 
wie er linkshändig die vielfachen täglichen Hantierungen ausführt: vom 
Anknöpfen der Kragenschleife bis zum Schälen des Apfels und zum Ab- 
feuern des Gewehres; auch wie er linkshändig schreibt; er schildert in 
launiger Weise die notwendigen »Kniffe« seines einen linken Armes und 
der linken Hand, denen Kinn, Zähne, Knie uud Füße helfen müssen, je 
nach der verlangten Arbeit. Graf Zichy lehnte alle Ersatzstücke und 
Hilfen (z. B. Bestecke zum Essen) ab; er setzte seinen Stolz daran, keine 
anderen Hilfsmittel zu brauchen, wie seine zweiarmigen Mitmenschen. 
Unsere heutigen Errungenschaften auf diesem Gebiete der Ersatzstücke 
aber sind derartig vervollkommnet, daß sie wohl allen eine willkommene 
Hilfe bilden werden bei ihren trotzdem noch große Willenskraft fordernden 
Übungen. Ich verweise hier auch auf das Buch von Bergrat Flemming, 
Saarbrücken: »Wie Kriegsbeschädigte bei Verstümmelung ihr Los ver- 
bessern können.« 

Daß der einarmige Klavier-Virtuose, Graf Zichy, der vor einiger 
Zeit den Verwundeten in Wien ein Klavierkonzert gab, mit seiner einen 
linken Hand, der vielbewunderte Held derer wurde, die ihn oder sein 
Buch kennen lernten, ist nur natürlich. Möge das Buch des Einarmigen 
allen bekannt werden, die Trost und Hilfe daraus holen können! 

Ein lehrreiches Beispiel für den heutigen Stand der Linkshand- 


72 B. Mitteilungen. 





bewertung liefert auch die mir vorliegende Einarm-Fibel von Dr. Eberh. 
Frh. von Künssberg, des Leiters der Einarm-Schule zu Heidel- 
berg (jetzt in Ettlingen bei Karlsruhe). Die selbstlose treue Arbeit 
des Verfassers und seiner Helfer wird den herzlichen Dank 
ernten, den sie verdient; nur die begeisterte Gewißheit des Gelingen- 
müssens konnte so deutlich klare Sprache reden, so anschauliche Winke 
geben, wie die Einarm-Fibel; sie wird bald der Freund aller derer sein, 
denen sie zugedacht ist als ein Lehr-, Lese- und Bilderbuch. 

Einen unschätzbar großen Dienst hat Herr Professor Dr. Karl von 
Bardeleben, Jena — der Linkshändigkeitsbewegung geleistet durch seine: 
»Messungen an Kopf und Gliedmaßen bei Schulkindern.«e (Als 
Separat- Abdruck erschienen in der E. Schweizerhartschen Verlagsbuchh. 
Stuttgart 1914.) Über Rechts- und Linkshändigkeit beim Menschen hat 
Prof. von Bardeleben seit Jahren schon Untersuchungen, Messungen und 
Vergleiche aller Art angestellt (vergl. dazu seine Vorträge auf der 
24. Versamml. in Brüssel 1910 u. d. 25. Versamml. der Anatomischen 
Gesellschaft in Leipzig 1911) und sein Hauptergebnis: Daß »offenkundige 
und versteckte Linkshändigkeit beim Menschen in viel größerem 
Maße vorhanden sei, als bisher geahnt wurde,« ist die sicherste 
Grundlage für die Bewegung, die eine doppelhändige Ausbildung erstrebt. 

Besonderen Wert haben dabei die Messungsergebnisse an Schulkindern. 
Mit großem Danke stehen wir vor den übersichtlichen Tabellen, die den 
unermüdlichen Fleiß und die schöpferische Begeisterung des Forschers be- 
kunden. Prof. von Bardeleben untersuchte die Schüler der verschiedensten 
Schularten (die Hilfsschulen, Volksschulen und höheren Knaben- und 
Mädchenschulen Jenas wie die des Trüperschen Erziehungsheimes Sophien- 
höhe) und seine Untersuchungsmethoden sind wohl bisher einzig dastehend. 

Wie die üblichen Fragemethoden von ihm vertieft und nachgeprüft 
wurden durch seine Messungen und das Durchtasten des Kopfes nach der 
Lage und dem Überwiegen des Sprachzentrums bei Rechtsern und Linksern 
oder Ambidextern — ist sehr lehrreich, aber wohl ohne anatomische ver- 
tiefte Kenntnisse auf diesem Gebiete kaum möglich, so daß eine allgemein 
brauchbare Anweisung für Lehrer zur Untersuchung von Linkshändigkeit 
wohl vorläufig noch nicht zu erwarten, vielleicht auch nicht zu wünschen ist. 

Mit Dank anerkennt von Bardeleben die Unterstützung seiner 
Forschungen durch die Leiter und Lehrer der Schulen, deren Schüler er 
untersucht hat. 

Möchten doch in weiten Kreisen die Lehrer durch die Wichtig- 
keit der Sache zu Mitarbeitern des Forschers gewonnen und von den 
Behörden seine Untersuchungen gern gestattet werden. 

Aus den Ergebnissen der Forschungsmessungen, die von Bardeleben 
seinen Tabellen voranstellt, möchte ich die folgenden herausnehmen: 

1. Es gibt (wie schon oben gesagt ist) viel mehr Linkshänder als auch 
nur annähernd geschätzt wird. 

2. Stammeln und Stottern ist nicht Beweis für Linkshändigkeit. 

3. Gerade unter den Linkshändern befinden sich auffallend viele, be- 
sonders intelligente Kinder. 


1. Weltkrieg und Erziehung. 73 





4. Das Überwiegen der rechten Schädelhälfte über die linke (58: 24°/,) 
bei normalen Kindern (also mit linksseitigem Sprachzentrum?). 

5. Vollkommene Symmetrie ist ein Zeichen mangelhafter körperlicher 
vielfach auch geistiger Entwicklung. 

Diese Fragen beschäftigen mich am meisten, seit ich (Nov. 1910) die 
ersten Anregungen zu der Frage der Beidhändigkeitserziehung erhielt durch 
Dr. M. Fraen kels Buch vom Werte der Doppelhändigkeit. — Vollkommen laien- 
mäßig fing ich an zu beobachten — meine Schülerinnen waren 9—13 jährig. 

Zu Punkt 1 fand ich leicht die Bestätigung — viel mehr »Links- 
begabte«e waren in der Klasse, als ich angenommen hatte (zahlenmäßige 
Tabellen legte ich leider nicht an). 

Zu Punkt 2 nenne ich eine Beobachtung: Ein schwer sprechendes, 
fast unleserlich schreibendes Mädchen von 10 Jahren, das aber geistig be- 
sonders in seiner Einbildungskraft sehr rege war, doch sehr schwer »be- 
hielte — übte mit mir linkshändig schreiben — und seine Ausdrucks- 
fähigkeit mündlich und schriftlich wurde in kurzer Zeit merklich besser; 
ich konnte die Kleine leider nicht weiter beobachten, da sie die Schule 
verließ. Ich will durchaus nicht dies eine Beispiel als Beweis hinstellen, 
(trotzdem auch andere Beobachtungen mir den Wert der linkshändigen 
Schrift bewiesen), zumal ich meist die Gegenerklärung erhielt — »das 
wäre wohl auch gekommen ohne Linksschrift — Kinder tuen oft plötzlich 
solch geistigen Sprung«. — Diesem Einwande gegenüber habe ich aller- 
dings auch meine eigene Meinung. 

Zu Punkt 3 muß ich auch sagen, daß meine »Linkser« entschieden 
zu den begabteren, oft den begabtesten der Klassen gehören; ich schrieb 
auch hier ein oft leicht festzustellendes Plus auf den Einfluß der beid- 
händigen Schrift, die ich vom 9. Jahre ab mit den Schülerinnen übte. 
Jedenfalls hat sich mir mehrfach eine auffallende Leichtigkeit im Erlernen 
von Sprachen bei den Schülerinnen gezeigt, die links und rechts gleich 
gut schreiben. (Leider störte der Lehrer- und Klassenwechsel meine 
weiteren Beobachtungen.) 

Zu Frage 4 — über die Asymmetrie der Schädelhälfte habe ich eben- 
falls (allerdings nur nach dem Augenmaß) gefunden, daß normale Rechtser 
die rechte Gesichtshälfte, Linkser aber die linke Gesichtshälfte — schein- 
bar größer haben — jedenfalls liegt die Augenachse bei Linksern meist 
nach links oben (also linkes Auge steht höher), bei Rechsern oft umge- 
kehrt, dadurch erscheint die betreffende Gesichtshälfte größer. Doch kommt 
auch hier das Gegenteil vor — aber ich glaube, dann liegt Belastung 
durch krankhafte Ablagerungsstoffe an der betreffenden größer 
erscheinenden Hälfte des Körpers vor, weniger anatomischer 
Bau. Doch auch dies sind nur meine Mutmaßungen, die ich gern durch 
überzeugende Gegenbeweise berichtigen lassen will. Prof. Wilh. Fliess, 
Berlin (Verfasser des Buches vom Leben und vom Tode) wird meine Be- 
obachtung (über die Verschiedenheit der Gesichtshälften) nicht belanglos 
finden, desgleichen die Entdeckung, daß diese Linksermädchen (mit der 
größeren linken Gesichtshälfte) lieber »Jungenspiele« üben als Mädchen- 
beschäftigungen, auch oft künstlerische Begabung zeigen. 


74 B. Mitteilungen. 





Daß fünftens vollkommene Symmetrie der Schädelhälften oft Mangel 
an geistiger und körperlicher Entwicklung bekundet, habe ich mit Sicher- 
heit nicht feststellen können bisher, weil ich nur die Gesichtshälften (dem 
Augenschein nach) prüfte und dabei eine vollkommene Symmetrie nicht 
fand; auch ist wohl durch das Versetzungssystem (ich erhielt die Schüle- 
rinnen erst im 4. Schuljahre) schon jedes geistig unternormale Kind in 
früheren Klassen ausgeschaltet worden. 

Aber bei Aufnahmeprüfungen (nach 3—4 Volksschuljahren) für das 
Lyzeum (Kl. VII) habe ich meine Prüflinge mehrfach, beim ersten Sehen 
der Kinder, vor der Prüfung richtig eingeschätzt: ob sie bestehen oder 
nicht bestehen würden (ich hatte dabei übrigens nur teilweise die Prüfung 
zu leiten). Ich beobachtete die Gesichtsbildung und fand dann oft, daß 
die Kinder mit sogenannten regelmäßigen Gesichtern sich als die Minder- 
begabten herausstellten (d. h. immer relativ mit dem Maßstab des für das 
Alter vorgeschriebenen Pensums gerechnet; — eigentliche Intelligenz- 
prüfungen wurden nicht vorgenommen). 

Diese Andeutungen über Möglichkeiten der Beobachtung sollen selbst- 
verständlich in keiner Weise Urteile sein, die etwa der wissenschaftlichen 
Forschungsergebnisse und Nachprüfungen entbehren konnten. Nur eine 
freudige Genugtuung wollen sie ausdrücken über Prof. von Bardelebens 
Wort, das er seinen: Tabellen voranstellt: 

»Neue Probleme sind aufgetaucht, und es scheint hier noch ein 
weites Feld für weitere Forschungen brach zu liegen.« Dies Wort tröstet 
mich auch über den Satz aus dem Vortrage Prof. von Bardelebens in 
Brüssel 1911: »Daß wohl auch fernerhin die zahlreichen Linkshänder ver- 
anlaßt werden sollen (in den Schulen) rechts zu schreiben und ihr rechts 
(oder gleichmäßig rechts und links) gelegenes Sprachzentrum auf die linke 
Seite zu verlegen,« aber: »wenn ein Kind trotz aller Bemühungen Links- 
händer bleibt und unter dem Zwange des Rechtsschreibens leidet, 
so sollte ein sachverständiger, also theoretisch genügend vorgebildeter Arzt 
zur Entscheidung berufen werden, ob linkshändiges Schreiben und links- 
händige Erziehung an der Stelle ist«. Warum denn erst das Kind diesen 
»Bemühungen, durch die es leiden muß,« aussetzen? Die praktische Folge- 
rung des Berliner Schularztes Dr. med. Schaefer, daß: alle Links- 
händer links schreiben, zeichnen, handarbeiten sollten, ebenso wie die 
Rechtshänder rechts, sagt mir nach meinen Erfahrungen mehr zu. 
Sie erscheint mir als eine Annäherung an das Ziel der Beidhand- 
bewegung — die beide Hände eines Menschen (ob er nun rechts 
oder links veranlagt ist) ausbilden möchte, dabei dann der natürlich 
begabteren Hand stets den Vorrang lassend in dem ihr gerade »besser 
liegenden« Gebiete der Ausbildung, denn, daß bei demselben Menschen 
bald die rechte, bald die linke Hand besser die Feder führt — leichter 
den Pinsel handhabt — schneller zugreift — hebt — falls man beiden 
Händen Freiheit der Ausbildung gewährt, ist so sicher, wie überhaupt 
rechts und links in der gesamten Natur deutlich unterscheidbar ist und 
bleiben wird. 

Aber ganz ausschalten aus dem Übungsgebiete der Fertig- 


1. Weltkrieg und Erziehung. 75 





keiten sollte man von heute ab die linke Hand nicht mehr — das 
ist ein Irrtum, der Erziehung und Kultur nicht länger hemmen 
darf. 

Die Möglichkeit der Ausbildung beider Hände in Haus, Schule und 
Beruf wird heute tausenfach bewiesen, sobald eiserne Notwendigkeit die 
linke Hand als Ersatz fordert. Der vollkommen rechtshändig ausgebildete 
Erwachsene mit seinem linksseitig gelegenen Sprachzentrum lernt ohne 
jede Sprachstörung linkshändig schreiben — leider technisch oft nur 
mit großer Mühe die mehr als 20 Jahre hindurch vernachlässigte Linke 
seinem Willen unterwerfend.. Auch bei diesen Erwachsenen zeigt sich 
bald, ob Linksveranlagung da war oder nicht. In den zahlreichen Ver- 
wundeten-Schulen wird heute vor allem auch der Linksschrift besondere 
Beachtung geschenkt und es zeigt sich, wie man auf »getrennten« methodi- 
schen Wegen demselben Ziele zustrebt: der linken Hand dieselbe Schreib- 
fertigkeit zu erringen, wie sie die rechte hatte. Daß die steile (senkrechte) 
Richtung des Buchstaben dem Erwachsenen ebenso wie dem Kinde die 
leichteste Erlernbarkeit und die leserlichsten und klarsten Formen 
der Schrift sichert — erwähne ich hier nur, weil immer noch — leider 
— die rechtsliegende Schrägschrift besonders in den Verwundeten-Kursen 
geübt wird. (Ich verweise auf die Untersuchungen von Dir. Trüper »Zur 
Vereinfachung der Schrift« in den »Kinderfehlern«, Zeitschrift für Päda- 
gogische Pathologie und Therapie, Jahrgang III, 1898, S. 44 ff.) 

Die bewundernswerten Leistungen und die unermüdliche Ausdauer 
der tapferen Linksschreiber durfte auch ich erfahren in dem Kursus, den 
ich leite. Manche Beobachtung und Erfahrung, die ich in meinem Schul- 
unterricht beim Linksschreiben machte, finde ich bestätigt, und manche 
neue Entdeckung bei den Erwachsenen spornt zu neuem Forschen an auf 
dem Gebiete der Rechts- und Links-Begabung. 

Aber je tiefer man es miterlebt in den Verwundeten-Kursen, dies 
Ringen und Mühen um ein Stück Leben, das in der Jugend brach liegen 
blieb, — um so heißer ersteht der Wunsch: für unsere Kinder auch diese 
Lehre des Krieges allgemein nutzbar gemacht zu sehen. 

Mit großer Freude las ich darum in der Thüringer Lehrer-Zeitung 
(Nr. 45, November 1915) die warme Fürsprache für die Einführung der 
Linksschrift in die Volksschulen; und ich bin mit dem Verfasser: 
E. Göhring in Zedersdorf der Meinung: »Jedenfalls wäre mit wenig 
Änderung der bisherige Rechtsschreibunterricht in einen Rechts-Links- 
Schreibunterricht umzuwandeln.« 

Dasselbe Blatt bringt auch eineBesprechung von Dr. Manfred Fraenkels 
Buch: Vom Werte der Doppelhändigkeit (das in einer Neuauflage von 1915 
vor uns liegt). In dem Verfasser des Aufsatzes: K. Friedel, Saalfeld 
(Saale) steht ebenfalls ein überzeugter Verteidiger der beidhändigen Aus- 
bildung vor uns. Mit ihm wünsche ich »daß sich recht viele eifrige Leser 
und Verfechter finden werden, damit der Ruf nach doppelhändiger Aus- 
bildung baldigst Gehör und Erfüllung finde«. 

Um einen fördernden Meinungsaustausch anzubahnen, bitte ich um 
Zuschriften an meine Adresse. 


76 B. Mitteilungen. 


»Aber die Schule hat schon übergenug an dem, was sie leisten muß 
— nun noch doppelte Arbeit — die linke Hand auch?« So höre ich viel- 
fach sagen. — Nur Geduld! Erst zusehen, ob das wirklich Ver- 
mehrung ist — oder vielleicht gerade Erleichterung bedeuten wird! 


Erleichterung für Schüler und Lehrer! 


Auch diese Frage kann aber erst ausreichende praktische Erfahrung 
aus allen Schularten endgültig beantworten. Daß wir aber dazu auf dem 
Wege sind beweist die Bekundung der Thüringer Lehrerschaft. So können 
wir denn auch in der Linkshändigkeitsbewegung der heutigen 
Zeit ein »Vorwärts« begrüßen. 

Darum hier auch vor allem nochmals Dank an Herrn Prof. von Barde- 
leben, der, wenn auch selbst noch Zweifler, uns durch seine Unter- 
suchungen den Weg bereiten hilft für die Zukunftspädagogik, die mit dem 
Recht auf Ausbildung, das sie beiden Händen gewähren wird, auch 
ihrem eigensten Ziele näher kommt: Dem Erforschen und Heraufbilden 
der persönlichen Eigenart und Anlage des jungen Menschen. 


Essen-Ruhr. Elisabeth Dahlmann. 
Langenbeckstraße 291 Luisenlyzeum. 


b) Vorstellungsverlauf bei Kindern unter dem Einfluß des Krieges. 
Von Rudolf Schulze, Leipzig. 


»Frisch, ihr Mädchen, an die Arbeit! Ja, es hilft nichts, sowie der 
Schneider auch jetzt in der großen Zeit seine Nadeln fädeln und die 
Knöpfe gewissenhaft setzen muß, so müssen wir eben jetzt Eigenschafts- 
wörter steigern. Also los. Wir nehmen das Wort gut. Nicht wahr: 
gut, guter, am gutsten?« »Ach nein, man sagt doch: gut, besser, am 
besten.e »Recht so! Seht, das geht nicht nach der Regel, das nennt 
man unregelmäßige Steigerung. Nun die Feder zur Hand: Jetzt schreibt 
ihr mir auf: Wer ist gut, wer ist besser, wer ist am ‘besten? Nachher 
sehe ich’s mir an. Ich bin doch neugierig, wer bei euch gut, wer besser 
und wer am besten ist?« Und als ich nun die Bücher durchsah, da fand 
ich bei einem meiner Schäfchen die denkwürdigen Sätze: »Ich bin gut, 
der Engel ist besser, der Kaiser ist am besten.«e — 

Dieses kleine Erlebnis zeigte mir von neuem, was ja natürlich jeder 
Lehrer weiß und in Hunderten von Fällen selbst erlebt hat: daß die 
Vorstellungswelt auch der Kleinen im hohen Maße von den großen Ereig- 
nissen der Zeit erfüllt ist, daß keine Brücke verschmäht wird, um von 
dem, was die Schule lehrplanmäßig fordert, hinüberzugleiten nach dem, 
was von Verstand und Gemüt jetzt nun einmal am begierigsten ergriffen 
wird. Und es hieße wohl Eulen nach Athen tragen, wenn man einen 
Appell an die deutsche Lehrerschaft richten wollte, dieser Tatsache Rech- 
nung zu tragen. 

Mir war die lustige Geschichte aber der Anlaß, der Frage des Vor- 
stellungsverlaufs der Kinder unter dem Einfluß der Kriegsereignisse etwas 
genauer nachzugehen. 


1. Weltkrieg und Erziehung. 177 


Zu dem Zwecke stellte ich folgenden Versuch an.!) Ich nannte den 
Kindern ein Anfangswort, etwa »Apfel« und forderte sie auf, das nächste 
Wort zu sagen, das ihnen gerade einfiel. An das zweite wurde ein neues 
Wort geknüpft und so fort. Auf diese Weise entstanden Reihen wie etwa: 

Apfel, Birne, Pflaume, Kirsche, Obst, Garten, Bäume, Wiesen, Wälder, 
grün, Frühling usf. Als Anfangswörter gab ich entweder neutrale 
Wörter (Apfel) oder solche mit Beziehung zum Kriege (Säbel). 

Dabei war es nun sehr häufig zu beobachten, wie die Kinder aus 
einer Reihe von neutralen Wörtern durch sinnvolle Beziehungen zu Kriegs- 
wörtern (so will ich sie kurz bezeichnen) übergingen. Ein besonders in- 
teressantes Beispiel will ich voranstellen. Von dem Wort »Blatt« gelangte 
ein 12jähriges Mädchen zu dem Wort »Wunde« auf folgendem Wege: 
Blatt, Adern, Blut, Wunde. 

Sehr charakteristisch ist auch die folgende Verbindung: Klasse, Name, 
Zeppelin, Luftschiff, Kaiser, König, Hindenburg, Krieger. Von dem Wort 
Klasse kommt das Mädchen auf Name, wobei es an die Namentafel denkt, 
die in jeder Klasse aufgehängt ist. Und nun knüpft sie an das Wort 
Name die Namen, die jetzt aller Herzen erfüllen. Damit ist die Kriegs- 
richtung ohne weiteres gegeben. 

Der umgekehrte Fall, das Zurückkehren vom Kriegswort zum neutra- 
len Gebiet vollzieht sich unter ganz anderen Bedingungen. Nur in einem 
einzigen Falle konnte ich da eine sinnvolle Beziehung finden. Der Ver- 
lauf ist vielmehr der folgende: Das Kriegsgebiet ist erschöpft, der Vor- 
stellungsgang stockt und wenn das Kind nun ein weiteres Wort anfügt, 
so folgt es damit nicht dem Gebot der Stunde, sondern dem leidigen 
Zwange, und ohne Verbindung taucht irgend ein Wort auf. So trat z. B. 
bei einem Kinde nach der Folge: »Wunde, Binde« eine solche Stockung 
ein, und es folgt: »Ohren, hören, schreien, Kinder«. Zwischen den Wör- 
tern »Binde — Ohren« ist keine Beziehung zu finden, das Kind wußte 
keine anzugeben. Außerdem ist bemerkenswert, daß bei einem vorher- 
gehenden Versuch die Reihe »Ohren, hören, Gesang, Kinder« zu finden ist. 
Die neue Reihe ist also nichts als eine Perseveration, eine Wiederholung, 
die minderwertigste Art von Vorstellungsverlauf, die sich denken läßt. 

Bei einem anderen Kinde endet das Kriegsgebiet mit den Worten: 
»verwundet — Vater — Mutter — Sohn — Tochter — mutig — freudig.« 
Da reißt der Faden ab, und es folgt: »Baum — Fritz.« Diese Beispiele 
mögen genügen. 

Bei dem letzten der angeführten Beispiele ist aber noch ein zweites 
zu beobachten. Die Kriegsworte sind in sehr viel Fällen viel reicher an 
sinnvollen Beziehungen als die aus dem neutralen Gebiet. Der nichts- 
sagenden Verbindung: »Baum — Fritz« steht beispielsweise eine Reihe: 
»Soldaten — tragen — schwer — scharf — bang« gegenüber. 


1) Die Anstellung der Versuche wurde mir ermöglicht durch das liebenswürdige 
Entgegenkommen meines Vorgesetzten des Herrn Dir. Engel von der 8. Bezirks- 
schule, sowie meiner Kollegen an derselben Schule, der Herren Borgmann, Fritz- 
sche, Kempf, Lange. 


78 B. Mitteilungen. 





Ja, der Vorstellungsverlauf zeigt im Kriegsgebiet in vielen Fällen ein 
prinzipiell ganz anderes Gepräge wie im neutralen. 

An das Anfangswort Leipzig schloß sich bei einem Kinde folgende 
Reihe: »Leipiig — Connewitz — Gautzch — Lindenau — Ötzsch — 
Chemnitz — Görlitz — Bank — Stuhl — Kasten — Zwirn — Rolle 
— Holz — Kohle — schwarz — breit — mittel — Schrank — Buch 
— Fach — Schlüssel — Kalender — Zettel — Tag — Stunde — Lese- 
buch — Singebuch.« 

Ganz abgesehen von der Wertlosigkeit, ja vollständigen Beziehungs- 
losigkeit einzelner Verbindungen zeigt sich hier ein plan- und zielloses 
Umherirren der Vorstellungen, das Kind kommt vom Hundertsten ins 
Tausendste. 

Dem ist folgende Kriegsreihe gegenüberzustellen: »Krieg — Schlacht- 
feld — Soldaten — Anzug — verwundeter Soldat — gefallener Krieger 


— Flagge — schwarz — weiß — rot — Franzosen — rotes Feld — 
Blut — Engländer — Franzosen — Uniform — Soldatenblut — langer 
Krieg.« 


Das ist eine einheitliche Vorstellungsmasse, zusammengehalten durch 
den einen Gesichtspunkt: Krieg. 

Bei einigen Kindern trat dieser Unterschied auch in die Erscheinung, 
wenn nicht ein Sammelbegriff, wie »Krieg«, sondern ein einzelner konkreter 
Begriff den Ausgangspunkt bildete. 

So folgt bei einem 12 jährigen Mädchen auf das Anfangswort »Apfel« 
die Reihe »Apfel — essen — süß — sauer — Kern — Stein — Erde 
— Pflanzen — Baum — Blätter — Adern — Blut — Wunde — Binde 
— Ohren — hören — schreien — Kinder — Wald — Wasser — 
Kähne — Menschen — Decke.« 

Dagegen schließt sich an das Wort »Säbel« die Reihe: »Säbel — 
streiten — Feind — schlagen — Kinder stricken — Strümpfe — Wolle 
— Soldaten — Feindesland.« 

Ein anderes Beispiel. 

Auf Pflanze folgt: 

Wurzel — groß — schön — fein — klein — Feder — spitz — 
glatt — schlüpfrig — Seife — viereckig — Tisch — Tischkasten — 
Tischdecke — glatt — Marmor — im Hause — Dächer — rot — Essen 
— Rauch — schwarz — Decke — weiß — Gans — Federn — gelb 
— Butter — läuft — Hund — Schwanz — lang — Lineal — Zahlen 
— klein — Zwerg -— Wald — groß. 

Dagegen reproduziert derselbe Knabe bei dem Anfangswort Krieg: 
»Krieg — schwer — lange — Männer fechten — streiten — kämpfen 
— bluten — fürs Vaterland — groß — das Reich — Bewohner — 
reich und arm — der Soldat — tapfer — der Feind — verlor den Sieg 
— jeden Tag und Nacht — Verluste — viel gefangen — viel gefallen 


— viel hungern — dursten — schwitzen — plagen — feig — hinter- 
listig — Angst — Erobern von Festungen — Burgen — Schützengräben 
— Feinde — viel — Russen — Franzosen -— Engländer — Japaner 


— Gurkhas — sehr räuberisch — Belgier — verhauen werden sie — 


| ee 


1. Weltkrieg und Erziehung. 79 





Italiener feig — Österreich gewinnt — bald Schluß — freuen wir uns 
— Krieg schwer — Vater — Sohn — Onkels. 

Ich könnte leicht noch mehr ähnliche Beispiele anführen. Besonders 
auffällig ist der Kriegszusammenhang bei den besseren Schülern, das ist 
so deutlich ausgesprochen, daß man derartige Untersuchungen beinahe als 
Intelligenzprüfungen empfehlen möchte. 

Der Drang nach allgemeinen Zusammenhalt der Kriegsreihe war bei 
einem Kinde so stark, daß es den Zwang der Versuchsvorschrift durch- 
brach und die Wörter in einem beinahe ganz regelrechten syntaktischen 
Zusammenhang brachte: Also: Krieg bringt viel Schaden, darum wünsche 
ich gern Frieden mit den Russen, denn sie sind böse usf. 

Die Verbindungsart färbt dann auf den nachfolgenden Versuch aus 
neutralem Gebiet ab, so daß sich an das Wort Apfel das ganze niedliche 
Geschichtchen anknüpft: 

Apfel Baum fällt er herunter dem kleinen Jungen der darunter steht 
gerade auf die Nase schreit das tut weh aber der Apfel schmeckt mir so 
gut Mutter gib mir eiu Butterbrot dazu das schmeckt dann noch ein biß- 
chen besser. — 

Das gute Kind, das so unvorschriftsmäßig arbeitete, hat natürlich nicht 
geahnt, daß es mir, seinem Lehrer, damit einen feinen pädagogischen 
Wink gab. Man lasse die Kinder im Kriegsgebiet reproduzieren, soweit 
das Interesse reicht. Es kann seinem natürlichen Drange folgen, und der 
Lehrer erntet nebenbei — ganz abgesehen von der hohen vaterländischen 
Bedeutung solcher Beschäftigung — eine wertvollere, geschlossenere Art 
der Ideenverknüpfung, die dann auch auf das neutrale Gebiet hinüberwirkt. 
Ich sage ausdrücklich: Nebenbei erntet das der Lehrer. Denn etwa die 
Beschäftigung mit den Kriegsereignissen gewissermaßen rein als psycho- 
logisch-pädagogischen Kunstgriff anzusehen, das entspricht nicht der Würde 
des Gegenstands. 

Aber man wird sich fragen dürfen: Was ist denn nun eigentlich die 
Ursache dieses fundamentalen Unterschieds der Reproduktion? Ich glaube, 
man wird nicht fehl gehen, wenn man die starken Gefühlswerte, die sich 
mit den Kriegsreihen verbinden, für den festen Zusammenhalt in Anspruch 
nimmt. Bei einigen Klassen ging ein leises »Oh!« durch die Reihen, als 
ich das Wort Krieg aussprach. Die seelische Erregung war von Anfang 
an gegeben. Wer sich aber einmal auf das stürmische Meer dieser gewal- 
tigsten Erregungen hinausbegeben hat, der kann nicht lustig flatternd von 
tausend Blüten Honig naschen, er muß sich langsam und zielbewußt von 
Woge zu Woge durcharbeiten, kommt dabei vorwärts, aber nur schwer 
wieder aufs feste Land. 

Die einzige Rettung vor den überwuchernden, starken Gefühlen scheint 
zu sein, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben, die Gefühlswerte durch 
andere, ähnlich starke, abzulösen. Auf solche Weise ist tatsächlich in dem 
einzigen Falle, den ich bereits andeutete, das Zurückfinden vom Kriegs- 
gebiet aufs neutrale — und zwar auf sinnlose Weise — erfolgt. 

Die Reihe lautet: Krieg — böse Menschen — töten — zerschossene 
Häuser — Ostpreußen — Tannenberg — Memel — Lichtspielvortrag — 


82 B. Mitteilungen. 





Pädagogik liegt vor, wenn die Ärztin mit der angeborenen Güte der menschlichen 
Natur rechnet. Sie vertritt die Vriessche Mutationslehre, nach der eine Entwick- 
lung des Menschen in physischer und psychischer Hinsicht aus unvollkommenen 
niederen Stufen zu höheren vollkommeneren naturgemäß von innen heraus und 
ganz von selbst erfolge, wie aus einem Samenkorn sich Wurzel und Stengel, Blatt, 
Blüte und Frucht nach den in der Pflanze steckenden Gesetzen bilden. 

Ob diese naturhafte Güte und aufsteigende Entwicklungsnotwendigkeit wirk- 
lich »in der Richtung der Erhöhung des menschlichen Typus« liegt, werden an- 
gesichts der Vorgänge auf der italienischen Halbinsel, die wir in den jüngsten 
Monaten erlebten, manche Montessorischwärmer hüben und drüben vielleicht be- 
zweifeln; für uns aber wird das italienische »Erlebnis« wohl gründlich mit dem 
Kultus der Montessori-Reform aufgeräumt und eine Selbstbesinnung auf das Ver- 
mächtnis deutscher Denker und Erzieher über Geistesbildung, Menschentum und 
Bildungsaufgaben zur Folge haben. 

Um nicht unbillig zu erscheinen, mag schließlich ausdrücklich anerkannt 
sein, daß Maria Montessori auch Anregungen zu geben hat; Dr. Sallwürk erkennt 
das z. B. in seiner Arbeit über die »Pädagogische Methode der Dottoressa Montes- 
sori« (Pädagogisches Magazin Heft 543. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne 
[Beyer & Mann]) anstandslos an. Die Anleitung der Kinder zu scharfem Beob- 
achten, die Selbsttätigkeit in der Ausbildung und eine organisch sich aufbauende 
(innere) Disziplin gehören vor allem dahin. Aber das sind Gedanken, an deren 
Durchführung wir auch in Deutschland angestrengt arbeiten; sie sind weder 
schöpferisch in der Erfassung noch neu in der praktischen Verwirklichung. Im 
ganzen muß es zweifelsohne bei dem Ergebnis Dr. Prüfers bleiben, das er be- 
herzigenswert wahr so ausspricht: 

»Gerade die deutsche Pädagogik hat es nicht nötig, bewundernd vor den 
Werken der römischen Ärztin zu stehen, am wenigsten die Vertreter des deutschen 
Kindergartens. ... Aus der Tiefe der deutschen Volksseele muß es herausgewachsen 
sein, was uns den Weg in die Zukunft weisen soll. Zur Erziehung und Höher- 
bildung unseres deutschen Volkes bedürfen wir keiner romanischen Ärztin; nur 
echt deutsche Denker können uns dabei Führer sein.« E. 


Soweit die Sache selbst in Betracht kommt, haben wir ein gleiches 
Urteil bereits niedergeschrieben ver dem Kriege, wenn es auch erst nach 
Kriegsausbruch in Druck gehen konnte. (Vergl. Heft 3 des XX. Jahr- 
ganges!) Jetzt aber möchte ich hinzufügen, daß hier ein nationaler Irrtum 
vorliegt. Die Dottoressa Montessori ist gar keine Italienerin, sondern ein 
Berliner Kind und nur au den Italiener Montessori verheiratet; sie ist 
semitischer Abstammung, was auch wohl mit zu der Verwechslung Anlaß 
gegeben hat. Die geborene und erzogene Berlinerin ist auch ihrem 
Vaterlande durchaus nicht fremd geworden. Sie steht z. B. zu Geheimrat 
Binswanger in Jena seit langem in Beziehungen, ist u. a. oft in Jena 
gewesen und hat auch schon vor mehreren Jahren die Sophienhöhe besucht. 


Ich möchte also hiermit noch einmal das, was Frau Montessori bringt, 
als deutsches Geistesgut beanspruchen, und zwar einmal, soweit es vor 
ihr bereits Comenius, Pestalozzi und vor allen Dingen Fröbel und seine 
Schule, die Anstalten für Schwachsinnige (vergl. den 50. Jahresbericht der 
Württemb. Anstalt Stetten) wie auch später der Vlaeme Dr. Demoor in 
seiner Schrift: Die anormalen Kinder (Altenburg 1912), wie auch wir 


1. Weltkrieg und Erziehung. 83 





selbst in »Zeitschrift« und »Beiträgen«!) zum Ausdruck gebracht haben, 
zum andern auch insofern, als die gesamte grundlegende Bildung der 
Frau Montessori doch wohl eine deutsche ist; denn darüber sind er- 
fahrene Pädagogen mit Fr. Paulsen sich wohl einig, daß man in der 
Jugend das Wichtigste lernt und seine Geistesrichtung bekommt. Außer- 
dem hat Frau Montessori nicht bloß durch ihre Jugenderziehung, sondern 
auch noch bis zur Gegenwart von deutschem Geiste genommen durch 
ihren Aufenthalt in Deutschland wie durch ihre Verbindung mit der 
deutschen Kultur und Wissenschaft. Das übrige hat sie in der Haupt- 
sache, wie wir schon dargelegt haben (Heft 3 v.J.), nicht von einem Italiener, 
sondern von einem internationalen Wissenschaftler Söguin erworben. Das 
Frische und Unmittelbare der Schrift der Montessori bleibt wohl ihr persön- 
liches Eigentum, aber das Eigentum der Deutschen, nicht nur der Italienerin. 
Und daß sie diese deutschen Ideen so geschickt auf die verkommenen 
italienischen Verhältnisse angewandt hat, bleibt wiederum deutsches 
Verdienst. So fern wir uns halten wollen von Mißachtung des Ausländer- 
tums — das Inhaltsverzeichnis unserer Mitarbeiter zeugt davon und der 
Krieg hat bei uns meines Wissens noch zu keiner wissenschaftlichen Ent- 
fremdung beigetragen, eben weil wir nicht das Fremdländische bei Miß- 
achtung des Deutschen suchten, sondern nur die Wahrheit und das Gute?) 
— so sehr ist es doch unsere Pflicht, gerade gegenüber diesen italieni- 
schen Treubrechern und Krämerseelen deutsches Geisteseigentum für den 
Germanismus zu reklamieren. Trüper. 


d) Belehrungen über die schädlichen Wirkungen des frühzeitigen 
abakgenusses. 

Der Regierungspräsident Kruse in Düsseldorf erließ an die Herren 
Landräte und Oberbürgermeister folgendes: 

Bei Schulkindern und Jugendlichen hat das Zigarettenrauchen in den 
letzten Jahren in so erheblichem Maße zugenommen, daß hierdurch ernste 
Gefahren für die Volksgesundheit drohen. 

Auf den jugendlichen Organismus wirkt das Rauchen von Tabak in 
besonders hohem Grade schädlich. 

Neben den akuten Erscheinungen von Übelkeit, Kopfschmerz, Er- 
brechen, Herzklopfen usw. werden bei häufigerem Rauchen Jugendlicher 

1) Vergl. Egenbergeir, Die reine Kinderleistung. (Mit 32 Tafeln.) Beiträge 
zur Kinderforschung und Heilerziehung. Heft 86. Tr. 

?) Ein Beispiel. Der erste telegraphische Morgengruß zum 25jährigen Be- 
stehen des Erziehungsheims Sophienhöhe kam aus dem englandfreundlichen Norwegen 
und lautete: »Herzlichste Jubiläumswünsche von ihren getreuen norwegischen 
Freunden. Es lebe Deutschland. Immer vorwärts wie bis jetzt! Hagens. 

Woher diese Freundschaft zu uns, der Sophienhöhe und der Zeitschrift stammt, 
wolle man nachlesen in der Zeitschrift, Jahrg. IX, S. 34 ff. (Auszug aus der Schrift: 
Beretning om en i 1899 med offentligt stipendium foretaget reise til udenlandske 
anstalten of J. Chr. Hagen, bestyrer. Trondhjem, Ile & Sundts, 1900). Derartige 
Beispiele könnte ich mehrere anführen. Das war die stille nationale Arbeit unserer 
Zeitschrift. 

6* 


84 B. Mitteilungen. 





Verdauungsstörungen und Erregungen des Nervensystems hervorgerufen, 
die zur Blutarmut und Nervenschwäche führen und die körperliche und 
geistige Entwicklung hemmen. 

Auch der bei dem Verbrennen des Zigarettenpapiers entstehende 
Rauch äußert seine schädigenden Wirkungen, indem er die Augen reizt 
und Rachenkatarrhe hervorruft. 

Neben der gesundheitlichen Schädigung entsteht aber durch den vor- 
zeitigen Tabakgenuß die weitere Wirkung, daß die jugendlichen Menschen 
zu einer übermäßigen Wertschätzung äußerer auf Nervenreizung beruhenden 
und nur mit Geldaufwand zu erzielender Genüsse gelangen, anstatt sich 
der natürlichen Lust und Freude an ausgiebiger Körperbewegung in freier 
Luft harmlos hinzugeben. 

Gegenüber diesen Gefahren ist es die Pflicht aller Kreise, denen die 
Erziehung und Pflege der Jugend obliegt, durch Belehrung der Jugend 
und die ihnen sonst zur Verfügung stehenden Mittel gegen dieses Übel 
anzukäinpfen und zwar in der jetzigen Zeit um so mehr, als es gilt, die 
heranwachsende männliche Jugend gesund und kräftig zu erhalten und 
dadurch die Verluste, die der Krieg unserer Volkskraft zufügt, möglichst 
schnell zu überwinden. 


e) Verbot der öffentlichen Anpreisung und Ausstellung in Schaufenstern 
von Feldpostpackungen mit alkoholischen Getränken oder Essenzen. 


Stellv. Genkdo. XI. A. K. Cassel, den 27. 11. 1915. 
Ila. Nr. 83866/8877. 


Auf Grund des Artikels 68 der Reichsverfassung in Verbindung mit 
den $$ 4 und 9 des Preußischen Gesetzes über den Belagerungszustand 
vom 4. Juni 1851 wird für die Dauer des Kriegszustandes für den Be- 
zirk des XI. Armeekorps folgendes Verbot erlassen: 

Die Ausstellung in Schaufenstern und Läden und öffentliche An- 
preisung feldpostversandfähiger Pakete und Doppelbriefe mit alkoholischen 
Getränken oder Essenzen zur Herstellung alkoholischer Getränke oder die 
allgemeine öffentliche Anpreisung derartiger Erzeugnisse mit dem Zusatz 
»fürs Feld« oder »Feldversand« oder »für unsere Feldtruppen« oder mit 
ähnlichen Wendungen wird untersagt. 

Zuwiderhandlungen werden mit Gefängnis bis zu einem Jahre bestraft. 

Cassel, den 27. November 1915. Der Kommandierende General 
von Haugwitz, 
General der Infanterie. 


f) Die Sorge um die unehelichen Kinder. 

An den Reichstag richten eine Reihe von Behörden, Vereinen und 
Einzelpersonen die Bitte, bei der Änderung des Militär - Hinterbliebenen- 
gesetzes überall, wo von den ehelichen oder legitimierten Kindern die Rede 
ist, den Zusatz »ehelichen oder legitimierten« zu streichen. Diese Bitte 
wird wie folgt begründet: 

»In der denkwürdigen Sitzung des Reichstages vom 4. August 1914 
wurde auf Anregung des Archivs deutscher Berufsvormünder beschlossen, 


1. Weltkrieg und Erziehung. 85 





den unehelichen Kindern, deren Väter vor dem Feind stehen, dieselbe 
Kriegsunterstützung wie den ehelichen zu gewähren. Man beabsichtigte 
dabei keineswegs, an der Rechtsstellung der unehelichen Kinder gegen- 
über den ehelichen etwas zu ändern — davon ist nie die Rede gewesen —; 
man wollte nur auch ihnen gegenüber die Pflicht des Vaterlandes erfüllen, 
das die Angehörigen der Krieger vor Not und Elend zu schützen ent- 
schlossen war. Dazu lag bei den unehelichen besonderer Anlaß vor, weil 
sie nach Sterblichkeit, körperlicher und geistiger Entwicklung wie Ver- 
wahrlosung und Gefährdung den ehelichen gegenüber stark im Nachteile 
sind und der Schutz für sie bei uns im Deutschen Reiche noch unge- 
nügend entwickelt ist. 

Nachdem viele der unehelichen Väter bereits gefallen sind, und noch 
mehr fallen werden, erscheint es geboten, die weitere Frage zu regeln, ob 
man nach dem Krieg diese Kinder, die bisher die Kriegsunterstützung be- 
ziehen, sich wieder selbst überlassen soll. Die Pflicht der Dankbarkeit und 
Gerechtigkeit gebietet es, ihnen wie den Familienangehörigen verheirateter 
Gefallener weiterhin behülflich zu sein und ihnen auch die Kriegswaisen- 
rente zu gewähren. Vertreter verschiedener Parteien wie der beteiligten 
Abteilungen der Reichsregierung haben bereits ihr Einverständnis damit 
erklärt. Bei der hohen Wichtigkeit indessen, die eine zweckmäßige Regelung 
der Angelegenheit für das Gedeihen tausender von schutzbedürftigen 
Kindern hat und bei der Bedeutung, die einer einfachen und übersicht- 
lichen gesetzlichen Regelung zukommt, schlagen wir vor, in den Gesetzen 
über die Witwen- und Waisenversorgung 

statt des Wortes »ehelicher oder legitimierter Kinder« zu setzen 
»Kinder« und in den Verhandlungen klar zu legen, daß damit die 
unehelichen Kinder, soweit sie eben gesetzlich als Kinder des Be- 
treffenden anzusehen sind, also im Rahmen der Bestimmung über 
die Kriegsunterstützung berücksichtigt werden sollen. 
Damit würde auch am einfachsten dargelegt, daß an keine Änderung der 
Bestimmung des BGB. über die unehelichen Kinder gedacht ist und 
keinerlei Bedenken nach dieser Richtung erhoben werden können. 

Das uneheliche Kind hat nach dem Tode seines Vaters nicht den- 
selben Schutz wie das eheliche, das seinen Vater verlor, denn ihm fehlt 
dann auch eine feste, gesellschaftlich anerkannte und gesicherte Familie, 
die es schützen würde. Selbst wo ihm zufällig, wie so vielen ehelichen, 
aus dem Erbe des Vaters einiges Geld zufallen sollte, bliebe es immer 
viel schlechter gestellt als das eheliche; stets ist es viel größeren Gefahren 
ausgesetzt und wird leichter zu Grunde gehen und verwahrlosen. Es 
wäre daher im Interesse des Staates und der Gesellschaft höchst verderb- 
lich, ihm eine geringere Rente als dem ehelichen Kinde auszusetzen. Ab- 
weichende Bestimmungen für uneheliche zu treffen, würde nicht nur un- 
nötige Schwierigkeiten ins Gesetz und seine Anwendung hineintragen, 
sondern auch dazu führen, daß die Unehelichkeit des Kindes durch diese 
Abweichungen ihrer Rente von der der ehelichen bei jeder Gelegenheit 
besonders betont und so die Entwickelung des Kindes häufig gefährdet 
und oft geschädigt würde. Hat doch die Regierung aus diesem Grunde 


86 C. Zeitschriftenschau. 


schon lange Vorkehrungen getroffen, die Geburtsurkunden der unehelichen 
denen der ehelichen auszugleichen, weil allein schon die Erinnerung an 
die Unehelichkeit seiner Geburt dem Kinde schaden kann. 

Ein Grund dazu könnte doch höchstens darin liegen, daß man das 
uneheliche Kind für den Fehltritt seiner Mutter strafen wollte. Das wäre 
aber nicht nur im höchsten Maße ungerecht, wo es sich um einen Fehler 
der Mutter, nicht des Kindes, handelte, sondern es wäre auch Unrecht 
gegen den Vater. Hat dieser doch in derselben Weise sein Leben für 
das Volk gelassen wie der eheliche Vater, so sollte die Gesellschaft nicht 
noch nachträglich bestrebt sein, statt seiner, den sie doch nicht mehr er- 
reicht, sein Kind zu strafen und zurückzusetzen. 

Im Interesse der Gesellschaft, des ganzen Volkes, für das auch ihre 
Väter in den Tod gingen, kann man den unehelichen Kindern um so 
eher diese Hilfe gewähren, als der bisherige Rechtszustand bereits Vor- 
kehrungen getroffen hat, daß die Rente nur dem Kinde, nicht aber der 
Mutter zugute kommt. Die Verwaltung dieser Gelder steht nach dem 
Gesetz nicht der Mutter, sondern dem Vormunde des Kindes zu; dadurch 
besteht eine starke Gewähr, daß diese Gelder wirklich allein dem Ziel 
dienen, dem Vaterland ein tüchtiges Glied zu erziehen. 

Wir sind gewiß, daß die vaterländische Gesinnung und gerechte 
Menschlichkeit, von der der Hohe Reichstag bei der ersten Bestimmung 
über die Kriegsunterstützung sich leiten ließ, ihn zu der gleichartigen 
Anwendung der Bestimmung über die Kriegswaisenrente in dieser Hinsicht 
bestimmen werden.« 

Unterschriften und Zustimmungserklärungen werden baldigst erbeten 
an Archiv Deutscher Berufsvormünder Frankfurt a. M. - 


C. Zeitschriftenschau, 


Beobachtende und angewandte Psychologie. 


Pfister, Johanna, Individualitäten aus meinem Kindergarten. Zeitschrift für 
Kinderpflege. 8 (September 1913), S. 224—227. 

Einige allgemeine Bemerkungen über das Studium der Kindesindividualität und 
Beobachtungen der Verfasserin. 

Psychische Alterstypen. Das proletarische Kind. März 1914. 

Eine kurze Darstellung an der Hand der wichtigsten Literatur. Es wird bedauert, 
daß die bisherigen Untersuchungen nur das bürgerliche Normalkind betreffen. »An 
eine systematische Erforschung der Zusammenhänge zwischen physischer und psy- 
chischer Entwicklung unter veränderten sozialen Bedingungen ist die bürgerliche 
Kindespsychologie noch nicht herangetreten. Das proletarische Kind wartet immer 
noch seines Erforschers und Biographen.« 

Müller-Freienfels, Richard, Über Denk- und Phantasietypen. Zeitschrift für 
angewandte Psychologie. VII, 2/3 (März 1913), S. 121—184. 

Untersuchungen zur differentiellen Psychologie auf vorwiegend historischer 

Methode aufbauend. 


C. Zeitschriftenschau. 87 





Bauer, Kurt, Das italienische Kind. Zeitschrift für Jugenderziehung und Jugend- 
fürsorge. 3, 24 (1. September 1913), S. 717—720. 
Beitrag zur Psychologie des italienischen Kindes im Volksganzen. 


Henning, Karl L., Zur Psychologie der amerikanischen Jugend. Neue Bahnen. 
24, 10 (Juli 1913), S. 435—449. 

An dem Entstehen ganz ungesunder Zustände in Amerika trägt die Jugend die 
Schuld mit. Frühe Heiraten, ungeordnetes Familienleben, Kinderhandel, zunehmendes 
Selbstbewußtsein der Jugendlichen schon im frühesten Alter, ungezügelte Eigen- 
willigkeit, die nicht selten zu Verbrechen führt, der weitverbreitete Zeitungsverkauf 
durch Kinder, schlechte Schulverhältnisse, Coedukation (unter allen Umständen zu 
verwerfen!) usw. führen zur Entartung der Jugend und damit des ganzen Volkes. 
Nötig erscheint nach den Ausführungen des Verfassers, der sich selbst in Amerika 
aufhält, allerdings eine gründliche Umgestaltung der »jämmerlichen« amerikanischen 
Jugenderziehung. Eine Reformbewegung besteht; sie wird wohl hauptsächlich durch 
Stanley-Hall beeinflußt. 


Furtmüller, Carl, Alltägliches aus dem Kinderleben. Zeitschrift für Individual- 
psychologie. I, 2 (Mai 1914), S. 53—58. 

Die Arbeit liefert zwei einfache Beiträge zur Frage: Welche Rolle spielt das 
Problem des Geschlechtsunterschiedes im kindlichen Seelenleben? Es soll damit zur 
Sammelforschung über dieses Gebiet angeregt werden. Die vorurteilslose Betrach- 
tung der beiden Fälle führt nach dem Verfasser eng heran an das von Alfred Adler 
aufgerollte Problem des »männlichen Protestes«. 


Laube, Emil, Zur Psychologie der Beobachtungen. Der Säemann. 1913, 3 
(18. März), S. 133—134. 

Einige Aufzeichnungen über Schulinzipienten Dresdens aus den sozialen 
Unterschichten. Der Verfasser teilt mit, wieviel richtige Antworten er auf die 
zwölf von ihm an die 148 Kinder gerichteten Fragen erhielt. Die Art der Aus- 
kunfterteilung ließ »die Verschiedenheit der kleinen Personen nach Temperament, 
Phantasiebegabung, häuslichem Milieu und Intelligenz im allgemeinen sehr wohl 
erkennen«. 

Rössel, F., Ein Versuch zur Ermittelung der psychischen Differenzen zwischen 
Knaben und Mädchen der Hilfsschule. Zeitschrift für pädagogische Psychologie. 
14, 10 (Oktober 1913), S. 534—535. 

Eine tabellarische Darstellung der Ergebnisse einer Untersuchung, der die Frage 
zugrunde lag: Was würde; ich an einem freien Schultage mit 10 Mark anfangen? 
Grosse, H., Über die Beanlagung der Mädchen für Rechnen und Mathematik. 

Deutsche Blätter für erziehenden Unterricht. 40, 35 (23. Mai 1913), S. 347—348. 

Informationen des Verfassers in Norddeutschland ergaben, daß im allgemeinen 
den Mädchen das Zeugnis, für Mathematik qualifiziert zu sein, nicht vorenthalten 
wird. Bisweilen begegnet man der Ansicht, daß Raum- und Zahlvorstellungen den 
Mädchen leicht spröde Begriffe seien. Auch das korrekte Zeichnen im Geometrie- 
unterricht verursache ihnen größere Mühe. 

Grünbaum, Rose, Die Siebzehnjährige. Zeitschrift für Kinderpflege. IX (Januar 
1914), S. 3—6. 

Versuch einer psychologischen Studie des siebzehnjährigen Mädchens der 
höheren Schichten. Betont wird u. a. das scheinbar komplizierte Gefühlsleben, der 
starke Egoismus, eine gewisse Hochmütigkeit, wenig wirkliches Interesse für soziale 
Fragen, leichte Beeinflußbarkeit. 


88 C. Zeitschriftenschau. 





Bodenheimer-Biram, Else, Die jugendliche Arbeiterin. Zeitschrift für Kinder- 
pflege. 1X (Juli 1914), S. 129—132. 

Die jugendliche Arbeiterin ist besonders durch ihren Realismus charakterisiert, 
der ihr ganzes Verhalten bestimmt. Sie besitzt eine starke Begehrlichkeit, große 
Freude am Putz aus Selbstbefriedigung (weniger aus erotischen Motiven). In der 
Arbeit ist sie stumpf und triebhaft. Für die Kulturerrungenschaften hat sie wenig 
Sinn. Sie ist altbacken, romantisch und sentimental. Aus der äußeren Freiheit, die 
unbegrenzt geworden ist, erwachsen soziale Jugendfürsorgeaufgaben. 

Hirsch, Anton, Die Frau in der bildenden Kunst. Archiv für Frauenkunde und 
Eugenik. I, 2 (15. Mai 1914), S. 155—162. 

Die moderne Begabungsforschung hat ihre systematischen Untersuchungen auf 
die Ergründung der künstlerischen Veranlagung noch sehr wenig ausgedehnt. Die 
bisherigen Untersuchungen und Beobachtungen zeigen, daß in betreff der Vor- 
bedingungen für die günstige Entwicklung der bildnerischen Funktion in den An- 
fangsstadien wenigstens von einer Bevorzugung eines Geschlechts nicht die Rede 
sein kann. 

Szidon, K. G., Hebbels Jugend. Zeitschrift für Individualpsychologie. I, 4/5 
(Juli/August 1914), S. 115—130. 

Der Verfasser glaubt mit seiner Studie auch den Beweis zu erbringen, daß die 
Kinderforschung als exakte Wissenschaft nunmehr auch bei der Lösung des Problems 
des Genies Anwendung finden könne. Er hält sich in seiner Studie stark an Nagys 
Lehre von den Interessen. Wesentlich neue Gedanken enthält die Studie eigent- 
lich nicht. 

Zergiebel, Max, Der Einfluß des häuslichen Milieus auf das Schulkind. Zeit- 
schrift für Pädagogische Psychologie. XIV, 9 (September 1913), S. 443—458. 

Die sozialen Verhältnisse des Elternhauses beeinflussen die körperliche und 
geistige Leistungsfähigkeit des Schulkindes; hoher Bildungsgrad begünstigt die in- 
tellektuelle Entwicklung; die Weltanschauung der Eltern überträgt sich meist auf die 
Kinder und läßt sich schwer verdrängen von der in der Schule erarbeiteten; das 
Vorbild der Eltern bestimmt die Gefühlslage der kindlichen Seele und damit zu 
einem großen Teile die Richtung des Willens; die Erziehungsarbeit des Elternhauses 
unterstützt, wenn sie parallel der Schulerziehung geht, die Tätigkeit des Lehrers be- 
deutend; am besten ist es, wenn die Eltern die Erziehungsgewalt allein in der Hand 
haben und das Kind mit ungefähr gleichaltrigen Geschwistern aufwachsen lassen 
können. Hinsichtlich der sonstigen Milieuverhältnisse fällt besonders der Wohnungs- 
wechsel der unteren Volksschichten sehr auf. In den Öberklassen in Chemnitz 
blieben von durchschnittlich 40 Schülern nur etwa 20—50 °/, im gleichen Klassen- 
verband während des Besuchs der Volksschule. Der Lehrer muß sich mühen, die 
Familienverhältnisse seiner Zöglinge kennen zu lernen. Ein Personalbogen gibt über 
alles Wichtige Auskunft. Für die Verteilung in die verschiedenen Schulsysteme 
sollte die Begabung der Kinder allein ausschlaggend sein, nicht die finanzielle Lage 
der Eltern. 

Hein, H., Geht mit euren Kindern spazieren! Zeitschrift für Kinderpflege. IX 
(Januar 1914), S. 18—19, 

Empfiehlt das Spazierengehen vor allem deshalb, weil das Kind dabei oft tiefere 
Einblicke in sein Seelenleben gewährt als sonst. Beispiele dafür. 

Karstädt, O., Meine fünfjährige Pädagogin. Der Säemann. 1913, 4 (15. April 
1913), S. 180—185. 
»Ohne Studium der speziellen Kinderpsychologie nützt einem Lehrer und Er- 


C. Zeitschriftenschau. 89 





zieher die allgemeine Psychologie nur theoretisch, für die Praxis aber gar wenig.« 
— Die geistige Entwicklung des 5jährigen Mädchens ist äußerst produktiv. Be- 
sonders interessant sind die Beispiele, wie einzelne Vokabeln zum Ausdeuten 
seelischer Inhalte gezwungen werden. — Für die Praxis stellt der Verfasser die 
Kinderkunde über die rein theoretische Fibelkunde. 

Knauf, Hans, Sprachpsychologische Beobachtungen bei der Entwicklung meines 

Kindes. Blätter für Taubstummenbildung. 26, 6 (15. März 1913), S. 91—92. 
Nach Tagebuchnotizen über ein am 29. Mai 1911 geborenes Mädchen. 


Dermont, Arthur, The vocabulary of a three-year-old girl. The Pedagogical 
Seminary. XXI, 1 (march 1914), S. 125—142. 

Die Arbeit berichtet über die Worte, die ein Mädchen aus sehr guter Familie 
innerhalb sechs Monaten (2!/,—3 Jahren) gebrauchte, und zwar mit einem bestimmten 
Sinn (also sind alle bloß nachgeplapperten Worte nicht berücksichtigt). Der Wort- 
schatz weist 1944 Worte auf. Der Vertasser stellt folgende Tabelle auf, die seine 
Ergebnisse mit denen von Whipples dreijährigem Jungen vergleicht: 


















s g 
>, anea a a| g| a 
Alter Im 3 Z| |s|£ |,.2])2383 
Be- des G6- ganzen s s:s|# E | S 2.382838 
obachter Kindes schlecht 2ı5|5|£8|8 45 “= IE 
3 H | <d © o 
a & a g - 





Whipple .| 3 Jahr | männlich | 1771 {993| 33 209 |391| 89 | 24 | 8 | 24 
%= 156,1) 1,8 11,7]22,1| 5,0| 1,3 
Bush . . .| 3 Jahr | weiblich | 1944 {1042| 50 |214|506 | 75 33 | 11 | 14 
%= 1535| 2,6 í 10,9/26,0 | 3,9| 1,7 | 0,5| 0,7 

Gemeinsam sind den beiden Kindern etwa 1200 Worte, etwa 570 Worte ge- 
brauchte der Knabe, die das Mädchen nicht hatte, während dieses 750 dem Knaben 
nicht verfügbare Worte gebrauchte. 

Boyd, William, The development of a child’s vocabulary. The Pedagogical 
Seminary. XXI, 1 (march. 1914), S. 95—124. 

Die Arbeit bringt sorgfältige Aufzeichnungen über den Wortschatz eines in 
ländlicher Umgebung aufgewachsenen Mädchens, die in mehreren Tabellen zusammen- 
gestellt sind. Wir geben hier nur die Schlußtabelle wieder, die den Wortschatz des 
Kindes mit 3 und mit 4 Jahren zahlenmäßig angibt: 

















3 Jahr 4 Jahr 3 Jahr 4 Jahr 

Substantiva. . . . 918 1441 55,4%, 55,5% 
Pronomina . . . . 30 38 1,8 „ 1,5.;; 
Adjektiva, qualitative 165 294 10,0 „, 11,3 „ 
m andere. . 35 70 2:1. DI 
Verba. > .» .......344 541 20,8 .. 20,8 „. 
Adverba. . ... . 109 140 6,6 „, 54 n 
Konjunktionen. . . 21 31 13%; 12. 
Präpositionen . . . 29 33 18. 13 . 
Interjektin. . . . 6 10 0,3 „ 0,4 „ 
Summe 1657 2598 100,1 %, 100,1 % 


Krause, Paul, Das 6. Lebensjahr, ein Beitrag zur vergleichend -biographischen 
Kinderpsychologie. Deutsche Schulpraxis. 33, 42 (18. Oktober 1913), S. 329 bis 
334; 43 (26. Oktober), S. 341—343. 


90 C. Zeitschriftenschau. 








Außer den Beobachtungen wird der Wortschatz des Jungen mitgeteilt, der sich 
aus ungefähr 1700 Wörtern zusammensetzt. Der Verfasser bietet in dieser Arbeit 
den Abschluß seiner Aufzeichnungen, da er sich nur vornahm, die Entwicklung 
seines Kindes bis zum Eintritt in die Schule darzustellen. 


Neugebauer, Hanna, Über die Entwieklung der Frage in der frühen Kindheit. 

Zeitschrift für angewandte Psychologie. VIII, 1/2 (September 1913), S. 145—153. 

Die Verfasserin vergleicht ihren Sohn mit den Kindern Sterns und Scupins. 

Die Frage entwickelt sich gleich, nur Zeitverschiedenheiten treten auf. Die Warum- 

Frage war bei ihrem Sohn trotz frühen Auftretens Zeichen theoretischer Wißbegierde. 

Scupins Sohn und Eva Stern zeichnen sich durch frühzeitige Anwendung und Be- 
herrschung von Zeitfragen aus. 


Wirtz, Heinrich, Psychologische Beobachtungen aus dem Gebiet der Schreib- 
fehler. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 27, 8 (August 1914), S. 545—553. 
Nach einem kurzen Bericht über die Untersuchungen von Jakob Stoll be- 
richtet der Verfasser über seine Beobachtungen an vier Knaben. Die Beobachtung 
der Schreibfehler ist sehr wichtig; oft kann durch rechtzeitiges Eingreifen des Lehrers 
das Kind vor schädlichem Studium bewahrt bleiben. Zum Schluß fordert der Ver- 
fasser die Einrichtung von Hilfsschulen im Anschluß an höhere Schulen, weil »reiche 
Eltern nie in eine Hilfsschule senden werden<. Wir meinen: sie müssen es eben 
lernen, oder aber: sie müssen ihre Kinder den Heilerziehungsheimen anvertrauen. 
Dück, Johannes, Zur Psychologie und Pädagogik des freien Vortrags in der 
Schule. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie. XV, 3 (März 1914), S. 177 
bis 183, 
Die freien Vorträge lassen den Schüler sich produktiv betätigen, sie bieten 
aber dem Lehrer auch Gelegenheit, wertvolle psychologische Aufschlüsse über die 
Eigenart seiner Schüler zu bekommen. — Pädagogische Winke für Veranstaltung usw. 


Lüttge, Ernst, Über den Erfolg unseres Leseunterrichts. Die Deutsche Schule. 
17, 2 (Februar 1913), S. 84—94. 

Von 38 zehnjährigen Mädchen (der Leipziger Volksschule) war für 29 das 
Lesen Lieblingsbeschäftigung, 17 von ihnen waren bereits der »Lesewut verfallen«. 
Als unangenehme Folgen des Lesens wurden angegeben: Doppeltsehen 23 mal, 
Schwarzwerden vor den Augen 14mal, Kopfschmerzen 10 mal, überreizte Phantasie- 
tätigkeit (Träumen) 18 mal. Lange Geschichten wurden von 16 Kindern bevorzugt; 
22 waren für die kürzeren (z. T. recht bezeichnonde Begründungen). Es folgen noch 
etliche Angaben über die Robinsonlektüre. — Die Gefahren der Lesewut sind kaum 
geringer als die der Schundliteratur; mit äußeren Mitteln kann sie nicht bekämpft 
werden. Durch die Einführung guter und billiger Jugendschriften hat nach des 
Verfassers Ansicht die Lesewut mancher Kinder noch mehr Nahrung bekommen. 
Es kommt vor allem in der Großstadt darauf an, durch körperliche Tätigkeit die Ge- 
fahren eines einseitigen Phantasielebens zu verringern. In den meisten Fällen 
nehmen die Kinder freundliche Ratschläge in bezug auf die Benutzung der (Biblio- 
theks-)Bücher willig auf. Wo das nicht der Fall ist, sollte man versuchen, die 
Eltern zu beeinflussen. 

Meyer, Major, Beiträge zur Psychologie des kleinen Einmaleins. Zeitschrift für 
Pädagogische Psychologie. 14, 4 (April 1913), S. 206—210. 

Der Verfasser beschreibt, wie er selbst beim Rechnen verfährt (bei visuellem 
Typus kommt auch akustische Reproduktion vor), und sodann, wie eine Versuchs- 
person, die er befragte, verfuhr. 


C. Zeitschriftenschau. 91 





Decroly, O., et Degand, J., Observations relatives au développement de la notion 
du temps chez une petite fille de la naissance à 5 ans '/,. Archives de Psycho- 
logie. XII, 50 (Juin 1913), S. 113—161. 

Die sorgfältigsten Aufzeichnungen, die zugleich einen wertvollen Beitrag zur 
Kindersprache bieten, zeigen, daß sich (wenigstens bei dem beobachteten Kinde) die 
Zeitbegriffe ebenso langsam entwickeln wie die Zahlbegriffe. Im Alter von 5!/, Jahren 
war der Begriff der Zeitdauer noch ein recht unklarer, zum mindesten nicht genau 
ausgedrückter. 

Decroly et Degand, Julia, Observations relatives à l’&volution des notions de 
quantités continues et discontinues chez l’enfant, Archives de Psychologie. XII, 
46 (Mai 1912), 8. 81—121. 

Die Arbeit gibt einen kurzen chronologischen Überblick über die bisherigen 
Untersuchungen zu dieser Frage. Daran schließt sich die Mitteilung eines reichen 
Beobachtungsmaterials an einem Kinde aus der Zeit des 14. bis 57. Monats. Die 
Hauptstadien in der Entwicklung gibt eine Tabelle (in Anlehnung an Stern) wieder. 
Claparède, Le jeu de l'enfant. Les Annales Pedologiques. IV, 1 (Octobre 1912), 

S. 8—20. 

Die erste wissenschaftliche Theorie über den Nutzen des Spiels rührt von 
Groos her. Sie wurde teilweise ergänzt von Carr. Die Frage des Kinderspiels ist 
Fundamentalfrage jeder Kinderpsychologie. Cl. bringt einige kleine eigene Beobach- 
tungen zur Ergänzung seiner allgemein gehaltenen Erörterungen und betont zum 
Schluß die Notwendigkeit der Schaffung eines kinderpsychologischen Instituts. 
Delitsch, Johannes, Entwicklung der Bewegungen. Blicke in das Seelenleben 

des kleinen Kindes. Deutsche Elternzeitschrift. IV, 2 (1. November 1912), S. 19 
bis 22; 3 (1. Dezember 1912), S. 39—41; 4 (1. Januar 1913), S. 55—57. 

Auf Grund bisher vorliegender Untersuchungen gibt der Verfasser einen an- 
regend geschriebenen Überblick über die Entwicklung der Bewegungen des kleinen 
Kindes unter Einbeziehung aller möglichen anderen Züge aus dem Seelenleben des 
Kindes. 

Dix, Kurt Walther, Nachahmen und seine Bedeutung für das Entwickeln der 
Kindesseele. Deutsche Elternzeitschritt. V, 7 (1. April 1914), S. 105—109. 

Unbewußtes Nachahmen beobachtete Dix an seinem Kinde im vierten Monat; 
doch beschränkte es sich auf Laute, die das Kind selbst schon lallte. Vom 8. Monat 
wurden auch noch nicht beherrschte Lautverbindungen nachgeahmt, vom 9. Monat 
an auch Gesten und Bewegungen. Allmählich wird das Nachahmen dem Kinde be- 
wußt und zur bewußten Handlung. Begehren, Liebe und Suggestion unterstützen 
es. Aus der Suggestibilität erwachsen für die Erziehung wichtige Aufgaben. 
Steinberg, S. D., Kinderzeichnen. Zeitschrift für Jugenderziehung und Jugend- 

fürsorge. IV, 11 (15. Februar 1914), S. 316—319. 

Einige flüchtige Angaben, die vor allem darauf hinweisen, daß das Kind »vom 
Kritzelstadium über den Ideoplastizismus zum Phisioplastizismus« gelangt. Praktische 
Folgerung: der Lehrer soll die Kinder zeichnen lassen, d. h. durch Bilder erzählen 
lassen. 

Peter, Rudolf, Beiträge zur Analyse der zeichnerischen Begabung. Zeitschrift 
für Pädagogische Psychologie. 15, 2 (Februar 1914), S. 96—104. 

Nach einer rein theoretischen Einleitung folgt eine Besprechung der Tiefen- 
wahrnehmung des Kindes, der Mittel der Tiefendarstellung beim Zeichnen und der 
Tiefenvorstellungen beim Bildbetrachten. 


92 D. Literatur. 





D. Literatur. 


Ulbricht, W., Die Alkoholfrage in der Schule. Berlin W. 15, Mäßigkeits- 
verlag, 1913. XII und 166 S. Preis 2,50 M (gebunden 3 M). 

Wer die Bedeutung alkoholgegnerischer Unterweisung im Schulunterricht er- 
kannt hat und das dafür nötige Tatsachenmaterial gern in zuverlässiger Bearbeitung 
und passender Zusammenstellung zur Hand haben möchte, der wird in diesem 
Buche finden, was er sucht und was er nötig hat. In einigen Lektionen für die 
Volksschule und für die Fortbildungsschule sowie für höhere Lehranstalten hat 
Ulbricht wohl alles zusammengetragen, was der Lehrer gebrauchen kann, um wirk- 
lich nicht mit bloßen Phrasen, sondern mit überzeugenden und einwandfreien Tat- 
sachen die Jugend von der Schädlichkeit des Alkoholgenusses zu überzeugen. Er 
hat dem noch ein Wort an die Lehrer voraufgeschickt, das hoffentlich auf die 
weitesten Kreise überzeugend wirkt, und ein Wort an die Eltern, das sich ihm 
bereits mehrfach erprobt hat. Ein Abschiedswort an die Fortbildungsschüler bildet 
den Schluß des Buches, das man wohl als unbestritten besten und reichhaltigsten 
Leitfaden für die Hand des Lehrers bezeichnen und empfehlen darf. 

Als Sonderabdrucke aus diesem Buche liegen vor: 

W. Ulbricht, Vortrag für Elternabende (Ein billiges Mittel, um unsere Kinder 
gesünder, glücklicher und besser zu machen. Ebenda. 15 8. 0,40 M. 

Derselbe, Ein Feind Eures Glücks! Ein Abschiedswort an die Schüler der Fort- 
bildungsschule. Ebenda. 0,40 M. 

Derselbe, Die Alkoholfrage in Fortbildungsschulen und in höheren Lehranstalten. 
Mit vorausgeschickter allgemeiner Grundlegung: Die Bekämpfung des 
Alkoholismus — eine Pflicht der Schule? Ein Wort an die deutschen 
Lehrer. Ebenda. 87 S. 1,50 M. 

Ferner ist hinzuweisen auf 

W. Uibricht, Wandtafelwerk zur Alkoholfrage. Erläuterungen nebst 18 ver- 

kleinerten Tafeln. Ebenda. 24 S. 1,20 M. 

Das Wandtafelwerk, das auf Grund neuerer wissenschaftlicher Forschungen 
herausgegeben ist, bildet eine notwendige Ergänzung zu dem an erster Stelle ge- 
nannten und besprochenen Buche. Die Tafeln sind für die Schule vorzüglich brauch- 
bar; sie sollen aber auch an Elternabenden benutzt werden. Für die Benutzung 
sind natürlich Erläuterungen unentbehrlich. Die beigegebenen verkleinerten Ab- 
bildungen der Tafeln sind sauber und deutlich. In späteren Auflagen ließe sich 
vielleicht Tafel 9 durch eine andere mit Ergebnissen deutscher Untersuchungen er- 
Setzen. 

H. Hoffmann, Alkohol und Erziehung mit besonderer Berücksichtigung der 
höheren Schule. 2. Auflage. Ebenda. 26 S. 0,30 M. 

Diese Arbeit erschien zuerst als Beilage zum Jahresbericht des Kgl. St. 
Matthiasgymnasiums zu Breslau 1913. Es wendet sich vor allem an die Eltern 
und an die Lehrer, die dem Problem noch nicht nachgegangen sind. Die Arbeit 
fordert völlig alkoholfreie Erziehung der Jugend bis zum Abschluß der Entwicklung, 
also etwa bis zu zwanzig Jahren. Wir begrüßen ihr Erscheinen vor allem, weil 
dadurch endlich einmal das hergebrachte Schema hochwissenschaftlicher Programm- 
beilagen durchbrochen wird zugunsten der so notwendigen Zusammenarbeit von 
Schule und Haus, die dadurch angestrebt werden sollte. 

Jena. Karl Wilker. 


Bertholet, Eduard, Die Wirkung des chronischen Alkoholismus auf 
die Organe des Menschen, insbesondere auf die Geschlechtsdrüsen. 
Autorisierte Übersetzung mit Ergänzungen von Alfred Pfleiderer. Mit einem Vor- 
wort von August Forel. Stuttgart, Mimir- Verlag G. m. b. H., 1913. 101 S. Mit 

33 Abbildungen und 6 Zahlentabellen. Preis 3 M. 
Die Untersuchung stützt sich auf 163 Fälle, die als Trinker zu bezeichnen 
sind, und auf 100 Fälle, die als Nichttrinker bezeichnet werden (Menschen, die 


D. Literatur. 93 





niemals mehr als 80 bis höchstens 100 ccm reinen Alkohols am Tage zu sich ge- 
nommen haben). Als Ergebnisse lassen sich u. a. folgende Thesen aufstellen: 

»Die Organe der chronischen Alkoholiker sind stärker und häufiger verändert, 
als diejenigen der Nichtalkoholiker.« 

»Die Hoden der Alkoholiker sind diejenigen Organe, die im größten Prozent- 
satz Entartungserscheinungen aufweisen, nämlich in 86°/,.< 

Die Entartung tritt sehr früh ein. Die Keimschädigung läßt sich auch auf 
tier-experimentellem Wege beweisen. 

Die Keimschädigung durch Vergiftung, von Forel als Blastophthorie bezeich- 
net, ist für den Heilpädagogen keine unbekannte Erscheinung, wenn man auch oft 
genug Zweifel dazu geäußert hat. Bertholets Arbeit wird diese Zweifel zerstreuen. 

Ganz besonders sei auf die trefflichen Abbildungen und graphischen Dar- 
stellungen hingewiesen. 

Jena. Karl Wilker. 


Fortschritte des Kinderschutzes und der Jugendfürsorge. Vierteljahrs- 
heft des Archivs deutscher Berufsvormünder. Jg. I, 1913/1914. Heft 3. Berlin, 
Julius Springer, 1914. 32 S. Preis 1,50 M. 

Außer einem Nachruf auf den Direktor der öffentlichen Jugendfürsorge in 
Hamburg, Johannes Petersen, vom Herausgeber der Vierteljahrshefte, Chr. 
J. Klumker, enthält dieses Heft drei Arbeiten. In der ersten referiert Petersen 
über Anstalts- und Familienerziehung mit zahlreichen Quellenangaben in kurzer 
treffender Weise. In der zweiten liefert Hugo Heller-Prag eine Übersicht über 
die deutsche Jugendfürsorge in Böhmen an der Hand zahlreicher zuverlässiger 
Zahlen. Besonders gewürdigt wird die Tätigkeit der Deutschen Landeskommission 
für Kinderschutz und Jugendfürsorge in Böhmen. Aus der Literatur sind anhangs- 
weise die bedeutenderen Arbeiten angeführt. In der dritten Arbeit referiert Klum- 
ker über geschichtliche Untersuchungen zur Kinder- und Jugendfürsorge in sehr 
kritischer Weise; er gibt damit zugleich aber auch Fingerzeige für künftige wünschens- 
werte Arbeiten aus diesem Gebiet. 

Jena. Karl Wilker. 


Schulze, Rudolf, Aus der Werkstatt der experimentellen Psychologie 
und Pädagogik. Dritte, wesentlich erweiterte Auflage, mit 511 Abbildungen. 
Leipzig, R. Voigtländer, 1913. XII und 356 Seiten. Preis geheftet 6 M, ge- 
bunden 7 M. 

Während Meumanns Werk sich an die Kreise der Fachgelehrten wendet, 
war es Schulzes Bestreben, weiteren Kreisen die experimentelle Methode der 
Psychologie und Pädagogik zugänglich zu machen. Und das.ist ihm aufs beste schon 
mit den beiden ersten Auflagen seines Buches gelungen; und es wird ihm noch 
besser mit dieser bedeutend vermehrten dritten Auflage gelingen, deren Bilder- 
material allein um etwa das Doppelte erweitert wurde. Vor allem hat sich der Ver- 
fasser, wie man aus dieser Angabe schon entnehmen kann, bemüht, anschaulich zu 
sein. Er hat aber auch die Forschungen auf seinem besonderen Arbeitsgebiete mit 
stets regem Interesse verfolgt, so daß man ihm nirgends den Vorwurf des Zurück- 
gebliebenseins machen kann. Verschiedene Kapitel wurden in diese dritte Auflage 
neu eingeschoben, andere umgearbeitet. Um wenigstens kurz ein Bild vom Inhalt 
des Buches zu geben, seien die Hauptkapitel angegeben: Die mathematische Be- 
handlung der Kinderpsychologie und Pädagogik; die Empfindungsmessung; die 
Vorstellung; die Gefühle; die Willensvorgänge; Bewußtsein und Aufmerksamkeit; 
Assimilationen; das Gedächtnis; Apperzeptionsverbindungen; die Sprache; körperliche 
Arbeit; geistige Arbeit; die psychischen Korrelationen. Ein ausführliches Register 
schließt das stattliche Buch ab. 

Schon durch das reiche Bildermaterial steht Schulzes Buch einzig da. Der 
Verlag hat es aufs beste ausgestattet; jeder Leser wird sich dem im Vorwort aus- 
gesprochenen Dank des Verfassers an seinen Verleger anschließen, der zu diesem 
geringen Preise ein derartiges, hinsichtlich Inhalt und Ausstattung gleich hervor- 
ragendes Werk dem modernen Pädagogen zugänglich macht. 

Jena. Karl Wilker. 


94 D. Literatur. 





Barucha, J., Meisterdarstellungen zur Kinderpsychologie. Für den 
Schulgebrauch herausgegeben. Paderborn, Ferdinand Schöningh, 1913. X und 
265 Seiten. Preis 1,90 M, gebunden 2,50 M. 

Die Sammlung ist vor allem gedacht für den Gebrauch an Lehrer- und 
Lehrerinnenseminaren, an Frauenschulen und an ähnlichen Anstalten, um den Unter- 
richt in der Psychologie zu vertiefen und zu ergänzen. In einer kurzen Einführung 
werden die Methoden der Kinderpsychologie und ihr Wert dargestellt. Das Material 
selbst ist in zwei Teile gesondert: der erste bringt Beiträge aus der Kinderpsycho- 
logie (Sigismund, Ufer, Meumann, Lange, Sikorsky, Gaupp, Strümpell, Compayré, 
Wulfen, Stanley-Hall, Preyer, Groos, Claparède, Ament, Stern, Sully, Binet, Tracy, 
Matthias, Münch, Dyroff, Lombroso), der zweite aus der neueren belletristischen 
Literatur (Frenssen, Keller, Otto Ernst, Rosegger, Châtelain, Goltz, Stolz, Thoma, 
Storm, Hebbel, Kügelgen, Jensen, Raabe, Scupin, Habberton, Voigt- Diederichs, 
Kowalewsky). Man erkennt aus den mitgeteilten Namen bereits die außerordentliche 
Reichhaltigkeit. Die Auswahl und die Anordnung ist sehr geschickt. 

Streiten ließe sich vielleicht darüber, ob der zweite Teil nicht noch eine 
Sonderung in Biographisches und rein Belletristisches hätte erfahren sollen, oder 
auch einfacher: ob statt der Bezeichnung »Erzählliteratur« in der Überschrift nicht 
eine erweiterte Bezeichnung vorzuziehen gewesen wäre. Das Literaturverzeichnis 
könnte in einer neuen Auflage noch eine bedeutende Erweiterung und Ergänzung 
erfahren, insbesondere die Literatur zur Pathologie, die nur sieben Schriften umfaßt. 
Die große Bedeutung pathologischer Kenntnisse wird den heranwachsenden Lehrern 
nie klar werden, wenn gerade in derartigen Büchern wie diesem nicht mehr Wert 
darauf gelegt wird. — In manchen Angaben bedarf das Literaturverzeichnis der 
Durchsicht und Richtigstellung. Vorteilhaft wäre es vielleicht, gerade wegen der 
Bestimmung des Buches, Seitenzahl und Preis der verschiedenen Arbeiten im 
Literaturverzeichnis anzugeben. 


Jena. Karl Wilker. 


Cellerier, Lucien, Littérature Criminelle (romans d’aventures et ciné- ` 
matographe). Extrait de l Année Pédagogique, 1913. 38 8. 

Die kleine Schrift stellt in übersichtlicher knapper Anordnung das Tatsachen- 
material zusammen. Vorausgeschickt ist dem eine kurze Analyse der psychischen 
Wirkungen von Lektüre und Schauspiel. Die deutsche Literatur ist dem Verfasser 
sehr vertraut; er hat sıe überall berücksichtigt. Der zweite Teil behandelt die 
Abwehrmaßnahmen: die von Cell&rier vorgeschlagenen sind auch in Deutschland 
schon realisiert. — Die Arbeit ist äußerst flott geschrieben und klar disponiert. 


Jena, Karl Wilker. 


Peters, W., Die Beziehungen der Psychologie zur Medizin und die 
Vorbildung der Mediziner. Würzburg, Curt Kabitzsch, 1913. IV und 33 
Seiten. Preis 1,20 M. 

In der letzten Zeit ist verschiedentlich und mit großem Eifer die psycho- 
logische Ausbildung der Mediziner gefordert worden (Külpe, Marbe). Peters unter- 
nimmt es, in dieser Arbeit das Bestehen enger Beziehungen zwischen Psychologie 
und Medizin nachzuweisen, indem er aus den verschiedensten Gebieten der theo- 
retischen und praktischen Medizin Material dafür zusammenstellt. Er kommt dabei 
zu dem Ergebnis, daß man die Psychologie unter die medizinischen Prüfungsfächer 
aufnehmen müsse, wenn man den Mediziner — wie ja dringend notwendig — ver- 
anlassen wolle, sich mit der Psychologie überhanpt zu beschäftigen. Trotz der 
starken Belastung der Studienzeit der Mediziner dürfte eine derartige dringende 
Reform möglich sein, wenn man sich zu kleinen Modifikationen in den propädeu- 
tischen Fächern entschließen würde, wie sie hier und da schon vorgenommen 
wurden. — Die Peterssche Schrift ist sicher als ein erfreuliches Zeichen unserer 
Zeit anzusprechen! 


Jena. Karl Wilker. 


D. Literatur. 95 





Braunshausen, N., Einführung in die experimentelle Psychologie. (»Aus 
Natur und Geisteswelt,« Bd. 484.) Leipzig und Berlin 1915. 1,25 M. 

Dem Zwecke der Sammlung folgend, den Leser in selbst dem Laien ablegene 
Gebiete moderner Wissenschaft einzuführen, gibt der Verfasser in sehr geschickter 
Weise einen Überblick über eine Wissenschaft, der Philosophie wie Medizin wie 
Rechtswissenschaft wichtige Anregungen verdanken, so daß jetzt immer mehr die 
Vertreter verschiedener Wissensgebiete und Berufe den Wunsch und die Pflicht 
haben, sich darüber zu orientieren, was die experimentelle Psychologie ist und was 
sie will. Diesem Zwecke kann das Büchlein mit seiner kurzen, scharfen Darstellungs- 
art in angenehmer Weise dienen. Anhebend mit der Geschichte dieser Wissenschaft 
gibt es dem Arzt wie dem Juristen wie dem Erzieher erste Aufschlüsse und weiteste 
Ausblicke. Sein Wert wird erhöht durch eine Angabe der bedeutendsten Literatur 
und kurze Kennzeichnung der bedeutendsten Vertreter dieses Gebietes, ebenso durch 
eine Anzahl von Abbildungen, die die beschriebenen Maschinen und Apparate und 
ihre Anwendung veranschaulichen. Besonders angenehm wirkt bei verschiedenen 
heiß umstrittenen Teilgebieten die parteilose Darstellung des Pro und Contra. 

Höper. 


Der Jahresbericht der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge für die 
Jahre 1913/14 ist im Verlag der Geschäftsführung der Deutschen Zentrale für 
Jugendfürsorge Berlin N 24, Monbijouplatz 3 II erhältlich. Preis 0,50 M. 

Er gibt ein anschauliches Bild ihrer Tätigkeit. Von einem kräftig einsetzenden 
und in der Kriegszeit besonders intensiven Leben und Arbeiten geben die Einzel- 
berichte ebenso wie der Gesamtbericht Zeugnis. 4994 Fälle im Jahre 1913, 
7194 Fälle im Jahre 1914, — schon diese Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. 
Bei den Einzelberichten interessiert ebenso die Beratungsstelle mit der Fülle der 
hier im Verkehr mit dem verschiedenartigsten Publikum und aus den Akten sich 
ergebenden Problemen, wie die Jugendgerichtshilfe, die von einem auffallenden 
Sinken der Straffälligkeit zurzeit der großen Erhebung zu Anfang des Krieges be- 
richtet, dem ein ebenso starkes Anschwellen der Kriminalität im weiteren Verlauf 
folgte. Die Fürsorgestelle beim Kgl. Polizeipräsidium nahm nach dem Be- 
richt besonders tatkräftigen Anteil an allen durch den Krieg besonders hervor- 
gerufenen Notständen im Zusammenhang mit der Polizeibehörde. Das Adoptions- 
und Pflegewesen weiß von einer erfreulichen Steigerung der Hilfsbereitschaft 
der Besitzenden durch häufige unentgeltliche Unterbringung heimatloser Kinder zu 
erzählen. Der Bericht über das im Jahre 1913 eröffnete Heilerziehungsheim für 
psychopathische Knaben in Templin, über das Kriegsmädchenheim und den Kriegs- 
Kindergarten zeigen, daß die Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge nicht nur die 
Notstände und Probleme zu finden und in Konferenzen und Versammlungen zu er- 
örtern weiß, sondern allen Fragen auch praktisch zu begegnen sucht. Der als Anhang 
gedruckte Bericht der zehnjährigen Tätigkeit gibt ein anschauliches Bild des stets 
gesteigerten Interesses, das dem ganzen Gebiet der Jugendfürsorge in unserer Zeit 
zu Teil wird. Die Vorarbeit unserer Zeitschrift und unserer Beiträge, die wohl zu- 
erst am nachdrücklichsten auf dieses pädagogische Brachland hingewiesen haben, wie 
auch das bahnbrechende Vorbild, das seit 25 Jahren die Sophienhöhe gegeben, sind 
also nicht vergeblich gewesen, wenn sie auch in all diesen erfreulichen Berichten 
totgeschwiegen werden. Höper. 


Handbuch der Jugendfürsorge der Stadt Leipzig auf das Jahr 1915. 
Das Buch will offensichtlich zunächst einem örtlichen Zwecke dienen, nämlich 
den an der Jugendpflege Beteiligten die mannigfaltigen Wege und Organisationen 
weisen und Auskunft Suchenden das rechte Ziel finder helfen, zumal durch das 
dem Buch angehängte Verzeichnis aller Wohlfahrtseinrichtungen der Stadt Leipzig. 
Aber darüber hinaus hat das Handbuch insofern Bedeutung, als es einen Blick in 
eine feine, musterhafte Organisation der Jugendfürsorge blicken läßt, wie man sie 
recht vielen Gemeinden wünschen möchte. Erfreulich ist besonders die lückenlose 
Fürsorge für Jugendliche bis zum 21. vollendeten Lebensjahre und die planmäßige 
Zusammenarbeit aller Faktoren. Recht herzhaft nimmt sich die Stadt Leipzig der 
Ziehkinderpflege und der Säuglingsfürsorge an. Sehr segenbringend für das Wohl 


96 D. Literatur. 





der Waisenkinder — deshalb nachahmenswert — erscheinen die »Leipziger Waisen- 
kolonien«, die eine Anzahl Orte unter einem Kolonievorsteher — zumeist Pfarrer 
kleinerer Landstädte oder ländlicher Kirchspiele — zusammenfassen, und die im 
Anschluß daran bestimmte Überwachung konfirmierter Waisenpfleglinge. Diese und 
andere Einrichtungen lassen das Buch recht wertvoll erscheinen. 


Fortschritte des Kinderschutzes und der JUgERAtUraDEgE: Vierteljahrs- 
hefte des Archivs deutscher Berufsvormünder. erausgegeben von Prof. Dr. 
Klumker- Wilhelmsbad. Berlin, Verlag von Julius Springer. 

Ein Einblick in die Jugendfürsorgeveranstaltungen zeigt dem Einsichtigen ein 
buntes Bild von Behörden, Organen, Vereinen usf., die meist nebeneinander nahe 
verwandte Ziele verfolgen, ohne daß sie zu einer einheitlichen Arbeit an den 
Jugendlichen von der Geburt bis zur Berufsfähigkeit führen. Und doch ist es für 
alle Arbeiter auf dem Gebiete wesentlich, über die Fortschritte unterrichtet zu sein. 
Diesem Gedanken wollen die vorliegenden Vierteljahrshefte dienen. Sie wollen 
jährlich die Fortschritte der Fürsorgearbeit vorlegen und so gleichzeitig mit der 
Kenntnis dieser Entwicklung auch eine größere Einbeitlichkeit und Gemeinsamkeit 
fördern. In Heft I behandelt Amtsgerichtsrat Landsberg »Vormundschaftsgericht 
und Ersatzerziehung«, in Heft II Dr. Bender »Schutz der gewerblichen Kinder und 
der jugendlichen Arbeiter«. Diese Arbeiten sind außerordentlich wichtig, weil sie 
neben dem erwähnten Zwecke vor allem zeigen, wo die Fürsorgebestrebungen weiter 
einsetzen müssen, um ein dem Volksganzen wertvolles Geschlecht heranzuziehen. 

Jena. Otto Götze. 


Müller, Dr. Fritz, Die Ernährung und Pflege des Kindes im ersten 
Lebensjahre. Wien und Leipzig, Alfred Hölder Verlag, 1908. 77 S. 

Der erfahrene Arzt und warmherzige Mensch bemüht sich mit seiner Schrift, 
jungen Müttern einen kleinen Wegweiser in die Hand zu geben. Er bekämpft bei 
den wohlhabenden das Ammenunwesen, bei den minderbömittelten und weniger auf- 
geklärten Unverstand, Aberglauben und Charlatanerie. Bei flotter Darstellung und 
überzeugender Sprache im besten Sinne ein Buch »aus der Praxis für die Praxis«. 

Höper. 


Eingegangene Literatur. 


Biesalski, Prof. Dr. Konrad, Die Fürsorge für unsere heimkehrenden 
Krieger, insbesondere die Kriegskrüppelfürsorge. Leipzig u. Hamburg, 
Leopold Voß, 1915. 32 8. 

Ders., Kriegskıüppelfürsorge. Ein Aufklärungswort zum Troste und zur 
Mahnung. 101.—120. Tausend. Ebenda. 44 S. 0,35 M. Bei Mehrabnahme 
billiger. 

Ders. Die ethische und wirtschaftliche Bedeutung der Kriegskrüppel- 
fürsorge. Ebenda. 23 8. 

Schanoff, Botjn, Die Vorgänge des Rechnens. (Ein experimenteller Beitrag 
zur Psychologie des Rechnens.) Leipzig, Nemnich Verlag, 1911. 120 S. Geh. 
2,80 M, geb. 4,30 M. (Pädag. Monographien, XI. Band.) 

Kappert, Dr. Hermann, Psychologische Grundlagen des neusprach- 
lichen Unterrichts. Ebenda 1915. 112 S. (Pädag. Monographien, XV. Bd.) 

Prüfer, Dr. Johannes, Kleinkinderpädagogik. Ebenda 1913. 251 S. (»Die 
Pädagogik der Gegenwart«, VIII. Band.) Geb. 5,40 M, im Abonnement auf die 
ganze Sammlung 3 M. 

Göbelbecker, L. F., Unterrichtspraxis für das Gesamtgebiet des ersten 
Schuljahres. I. Teil: Methodologische Monographien. Ebenda 1904. 354 S. 
Geh. 3,80 M, geb. 4,50 M. 

Ders., Wie ich meine Kleinen in die Heimatkunde, ins Lesen, Schreiben 
und Rechnen einführe. Mit vielen Bildern und Tafeln. Ebenda 1914. 
448 S. Geb. 8M. 


Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 





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A. Abhandlungen. 


1. Das Familienrecht 
und die deutsche Jugenderziehung. 
Von 
Dr. Heinrich Pudor. 
(Schluß.) 


Wir kommen nun zu Trüper, in dem der Pestalozzi-Dörpfeldsche 
Geist des geistigen Protestantismus wieder lebendig geworden ist. 
Trüper war auch persönlich durch die Bande der Freundschaft mit 
Dörpfeld verbunden und ist wohl heute der genaueste Kenner der 
Dörpfeldschen Werke. Im Jahre 1901 erschien sein Buch: F. W. 
Dörpfelds soziale Erziehung,!) vorher im Jahre 1892 »Die Familien- 
rechte an der öffentlichen Erziehung« mit einem Be von W. Rein 
(Langensalza, Hermann Beyer & Söhne [Beyer & Mann]. 2. Aufl. 1892. 

Trüper ist ebenso wie Dörpfeld der Meinung, daß »nicht das 
Prinzip der Kirchen-, noch das der bureaukratisch-regierten Staats- 
schule mit farblosem religiös-ethischem Charakter unser Ideal sein 
kann, sondern nur die Durchführung des Familienprinzips in der Ver- 
fassung des gesamten öffentlichen Erziehungswesens zu einem der 
Schule als Volkserziehungsanstalt frommenden Ziele führen kanne. 
Willmann hatte die Familie als das Protoplasma aller sozialen Organi- 
sation bezeichnet, Trüper nennt sie den Urorganismus aller sozialen 
Gemeinschaften. In seinen Grundlinien für eine zweckmäßige und 
gerechte, auf dem Familienprinzip beruhende Schulverfassung erklärt 
Trüper: 1. Die ursprünglichsten und natürlichsten Rechte wie Pflichten 


1) Gütersloh, Bertelsmann, 1901. 
Zeitschrift für Kinderforschung. 21. Jahrgang. 7 








98 A. Abhandlungen. 





der Jugenderziehung hat die Familie. 2. Eine gesunde Schulver- 
fassung betrachtet darum die Schule zunächst als eine Veranstaltung 
von Familien zu einer gemeinsamen Erziehung der Jugend. Und eine 
Genossenschaft von Familien, die eine gemeinsame Schule besitzt, 
bildet die rechte Schulgemeinde. 3. In einer gesunden Schulverfassung 
müssen die Familienrechte darum zu oberst in allen Instanzen volle 
Anerkennung finden und den Familien genügende Gelegenheit ge- 
boten werden für die Vertretung ihrer Interessen. 

Gegen die reine Staatsschule spricht sich Trüper in ähnlicher 
Weise wie Dörpfeld aus. In der Natur des Staates liege es, daß er für 
Schulangelegenheiten nicht das richtige Verständnis hat.!) Ähnlich 
sagte Wilhelm von Humboldt: »Öffentliche Erziehung scheint mir 
ganz außerhalb der Schranken zu liegen, in welchen der Staat seine 
Wirksamkeit halten muß«e. Und Alexander von Humboldt wagte 
den folgenden Ausspruch: »Wäre ich der jetzigen Schulbildung in die 
Hände gefallen, so würde ich leiblich und geistig zugrunde gegangen 
sein.« ; 

Daß das Familienprinzip grade in der Privatschule zur Geltung 
gebracht werden kann, dafür bietet folgende Schilderung Trüpers 
aus seiner eigenen Erziehungsanstalt (Sophienhöhe bei Jena) den besten 
Beweis. Trüper schreibt: »Darum bilden wir in unserem Erziehungs- 
heim selbständige familiäre Gruppen, denen die wirklichen Familien 
in unserer Erziehungsgemeinde bestimmend, führend und schützend 
zur Seite stehen und mit denen sie sich zu einer zu einem Geiste 
beseelten Gemeinschaft, zu einer Anstalts- oder Erziehungsgemeinde 
mit vielen familienartigen Gliedern, vereinen. Jede Gruppe bildet 
darin gewissermaßen wieder eine kleine Familie für sich. Unsere 
Zöglinge wohnen, nach ihrer Zusammengehörigkeit im Hinblick auf 
Alter, Charakteranlage, Erziehungs- und Pflegebedürftigkeit verteilt, 
in verschiedenen Häusern. Die Zöglinge sind ebenso im Unterricht, 
bei den Mahlzeiten, auf Spaziergängen und Schülerreisen, bei Arbeit, 
Spiel und Ruhe in kleinere familiäre Gruppen verteilt und stehen 
stets unter fürsorgender und zuverlässiger Aufsicht gebildeter und ge- 
schulter Hausmütter, Lehrer, Lehrerinnen, Kindergärtnerinnen, Pflege- 
rinnen, Gärtner und Gärtnerinnen. Grundsätzlich führen wir aber 
eine strenge Abschließung der verschiedenen familienartigen Gruppen 


!) In seinem Aufsatz »Realpolitik und Massenvergiftung« (Zeitschrift für Kinder- 
forschung, Jahrg. XVII, Heft 5, S. 225—228) sagt Trüper: »Die Privatschulen 
sind in den meisten Fällen rechtlos. Ich habe drastische Belege dafür, ja auch 
selbst erfahren müssen, wie man Schankstätten weit mehr Interesse und Förderung 
als Erziehungsanstalten angedeihen ließ.« 


Pudor: Das Familienrecht und die deutsche Jugenderziehung. 99 








nicht durch.« In einer kleinen durchsichtigen Gemeinde verkehren 
ja auch die einzelnen Familien wieder zwanglos miteinander. 

Einen ähnlich begeisterten Anwalt hat das Familienprinzip in 
der Erziehung in dem Hamburgischen Privatschulvorsteher Dr. L. 
Bornemann gefunden. Auf der 22. Generalversammlung des Evan- 
gelischen Lehrerbundes hielt derselbe im Anschluß an die gleich zu 
erwähnenden Thesen Hogewegs einen Vortrag: »Das Familienprinzip 
in der Schulverfassung.« In Hamburg ist überhaupt der Boden für 
unsere Idee aufs beste vorbereitet, schon durch das Gesetz vom Jahre 
1870, welches die Beteiligung der Familien bei der Schulverwaltung 
fordert. Auch die Hamburger Lehrer-Schulsynode nahm im Jahre 
1899 den Antrag Rolff an, wonach »zur Verwaltung der einzelnen 
Schule ein aus dem Hauptlehrer, einem Klassenlehrer und drei 
Familienvertretern gebildeter Schulvorstand gefordert wird« 
(vergl. Dr. L. Bornemanns a. o. W. S. 11). Weniger überraschend ist 
das Programm des Allgemeinen deutschen Privatschulvorstehervereins, 
nach welchem »das Recht der Familie an der Mitverwaltung der 
Schule gegenüber der wachsenden Reglementierung und Zentralisierung 
standhaft und treu vertreten werden solle. Endlich lauten die ersten 
beiden Thesen Hogeweg-Broichs: »Familienrecht. 1. Die Familie 
hat nach natürlichem und göttlichem Recht die nächste Verpflichtung 
der Erziehung der Jugend, hat das größte Interesse daran, wie die 
Kinder heranwachsen, und ist darum der natürliche Boden und Träger 
der Schule. Bei ihrer großen pädagogischen und sozialen Bedeutung 
ist eine innige Verbindung zwischen ihr und der Schule herzustellen 
und dafür zu sorgen, daß die Rechte der Familie an der Erziehung 
gewahrt und ihr demgemäß der gebührende Einfluß auf die Verwal- 
tung und Pflege der Schule zuteil werde. 2. Soll dies geschehen, so 
gibt es dafür nur einen Weg! Jede Schule muß von einer eigenen 
Schulgemeinde, d. i. von einem Verbande von Familien, die in den 
wesentlichen Stücken der Erziehung einig sind — also derselben Kon- 
fession angehören — getragen werden.« 

Wenn man aber heute so oft behauptet, die Sozialdemokratie sei 
für die immer mehr um sich greifenden familienfeindlichen Tendenzen 
wesentlich verantwortlich zu machen, so übersieht man den großen 
Gegensatz zwischen der älteren und jüngeren Sozialdemokratie. Die 
letztere ist durchaus nicht blind für die kulturaufbauende Macht des 
Familienprinzipes. Beispielsweise war im Juniheft v. J. der »Sozia- 
listischen Monatshefte« ein Artikel Edmund Fischers »Die Familie« 
enthalten, in welchem es hieß: »Die Zahl der produktiv tätigen Frauen 
ist heute eine weit geringere als früher. In dem Maße wie es dem 

7* 


100 A. Abhandlungen. 





Manne gelingt, eine höhere wirtschaftliche Stufe zu erklimmen, gibt 
die Frau ihre gewohnte produktive Tätigkeit auf, um sich ganz ihrer 
natürlichen Berufstätigkeit zu widmen; der Pflege und Erziehung ihrer 
Kinder, der schönen Gestaltung und Befestigung des Familienlebens. 
Während die sorgfältigere Pflege und Erziehung der Kinder mehr 
Zeit und Wissen erfordert, werden der Frau durch berufliche Er- 
ledigung einer ganzen Anzahl bisher häuslicher Arbeiten viele Lasten 
des Haushaltes abgenommen, und sie kann sich dann um so inten- 
siver ihren Kindern und der Ausgestaltung des Heims widmen.e — 
Solche Auffassungen breiten sich heute in dem besseren und jüngeren 
Teil der Sozialdemokratie mehr und mehr aus, und so überraschend 
es Vielen vielleicht klingt — der Wahrheit die Ehre: Ideale sind 
heute in den bureaukratisch verseuchten oberen Ständen immer weniger 
und in den sozialdemokratischen Kreisen immer häufiger zu finden. 
Nur so ist es zu verstehen, wenn sich nämlich Philipp Stein in der 
»Christlichen Welte zu dem an sich unhaltbarem Satz verstieg: »Es 
gilt nicht, die Sozialdemokratie zu bekämpfen, weder mit polizeilichen 
noch mit den sogenannten geistigen Waffen, sondern mit der Sozial- 
demokratie zu arbeiten.« 

Ehe wir nun der Frage, wie sich die Verwirklichung der Familien- 
schule in der Praxis ermöglichen läßt, näher treten, wollen wir noch 
des Vorschlages der Dreifamilienorganisation seitens Heinrich Dries- 
manns in dessen »Menschenreform und Bodenreform«e Erwähnung 
tun (Leipzig, Felix Dietrich, 1904). Es heißt da S. 51 (siehe in der 
Anmerkung).!) 


Nebenbei erwähnen möchten wir die Literatur der sich mit dem 
vorliegenden Gegenstande engberührenden Frage, inwieweit die Familien- 


1) Dergestalt würden je solche drei Familien im Laufe der Geschlechterfolge 
zu einem Stammbaum zusammenwachsen, der einen tüchtigen, in sich gefestigten 
Schlag zu erzeugen verspräche. mit gesunden, sicheren Lebensinstinkten. Die Drei- 
fachheit der Blutmischung würde den schädlichen Folgen andauernder Inzucht die 
Wage zu halten vermögen, nämlich der physiologischen Verarmung und Idiotisierung. 
Geschlechtsregister, urkundliche Aufzeichnungen biographischer Natur über jedes 
Familienglied, Familienwappen, Familientage, Pflege aller Familieninteressen, Feiern 
und Andachten im Sinne eines phylogenetischen Kultes, welche Taufe und Konfir- 
mation zu ersetzen hätten: alles dies unter der Leitung eines gemeinsamen, er- 
wählten Familienoberhauptes, das einer regelrechten Familienpolitik obläge, würde 
einer jeden solchen dreiteiligen Gruppe den psychophysischen Zusammenhalt schaffen 
neben dem materiellen, der in dem Stammfonds gegeben wäre. Eine gemeinsame 
private Erziehung der Nachkommenschaft hätte dahin zu streben, die Schulerziehung 
zu ergänzen und soviel wie möglich überhaupt zu ersetzen; die beiden Geschlechter 
von früh auf durch gemeinsamen Unterricht aneinander zu gewöhnen. 


Pudor: Das Familienrecht und die deutsche Jugenderziehung. 101 





schule und die auf der Familienorganisation aufgebaute Privatschule 
auch auf die psychopathisch belasteten Kinder ausgedehnt werden muß, 
deren sich der Staat seinerseits wiederum ganz und gar nicht an- 
nimmt. Diese wichtige pädagogische Frage erscheint in der Literatur 
erst seit dem Jahre 1890, vorbereitet seit 1880. Einigermaßen grund- 
legend wirkte die im Jahre 1890 bei E. Ungleich in Leipzig er- 
schienene »Pädagogische Pathologie oder die Lehre von den Fehlern 
der Kinder: von Ludwig Strümpell, Professor an der Universität 
in Leipzig. Und in demselben Jahre veröffentlichte Ufer, damals 
Konrektor einer höheren Mädchenschule in Altenburg bei F. W. Berg- 
mann in Wiesbaden eine Schrift über »Nervosität und Mädchen- 
erziehung in Haus und Schule«. Im folgenden Jahre erschien dann 
die wichtige Schrift eines Mediziners »Die psychopathischen Minder- 
wertigkeiten«e von Dr. F. L. H. Koch, Direktor der Kgl. Württ. Staats- 
nervenanstalt Zwiefalten (Ravensburg, Otto Meyer. Und nunmehr 
trat Trüper in die Literatur dieser bedeutsamen Bewegung ein. 
Trüper, der später 1912 die bekannte Schrift Dr. Friedrich Scholz’s 
»Die Charakterfehler des Kindes«, eine Erziehungslehre für Haus und 
Schule neu bearbeitete und bei E. H. Mayer (Jäger & Einhorn) in 
Leipzig herausgab, trat im Jahre 1893 mit der wichtigen Schrift hervor 
»Psychopathische Minderwertigkeiten im Kindesalter« (Güterloh, C. 
Bertelsmann). Trüper hatte den durch nichts zu ersetzenden Vorteil, 
daß er in seiner eigenen Erziehungsanstalt beobachten und Erfahrungen 
sammeln und Theorien praktisch erproben konnte, und dies individuell 
und organisch, nicht schematisch und mechanisch. Er sagt selbst in 
einer neuen im Druck befindlichen Schrift: »Hand in Hand mit jenen 
praktischen Versuchen gingen theoretische Studien und eine Ver- 
arbeitung des Beobachteten für die pädagogische Wissenschaft, um es 
nutzbar zu machen für die große Zahl der abnormen Kinder, für die 
die Eltern nicht durch eine Individualerziehung sorgen können und 
für die auch die Staaten, Gemeinden, Kirchen und Wohltätigkeits- 
vereine erst dann einzutreten pflegten, wenn sie für die Öffentlichkeit 
durch strafbare Handlungen gefährlich wurden oder durch starke 
Krämpfe, Blödsinn und Kretinismus öffentlichen Anstoß erregten. Nur 
in ein paar Städten hatte man für Schwachsinnige besondere Schulen, 
die später die Bezeichnung »Hilfsschulen« erhielten, errichtet. Das 
breite Übergangsgebiet von völliger geistiger Gesundheit zum Psycho- 
pathischen wurde gar nicht oder nur von sehr wenigen gesehen. Wer 
in der Schule nicht mitkam, war eben dumm und wurde abgeschoben. 
Wer mit starker nervöser Unruhe behaftet war, galt für ungezogen 
und wurde bestraft. Das gab meiner praktischen und theoretischen 


102 A. Abhandlungen. 





Neigung zugleich einen starken sozialpädagogischen Antrieb, der mir 
außerdem von befreundeter Seite noch zu einer Christenpflicht ge- 
macht wurde.« 


Im Jahre 1896 wurde von Trüper ein selbständiges Organ für 
pädagogische Pathologie unter dem Titel »Die Kinderfehler« begründet, 
wobei ihm Ufer, Koch uud Strümpell, auch Prof. Dr. Zimmer 
zur Seite standen. Die Zeitschrift wurde später zur Zeitschrift für 
Kinderforschung mit besonderer Berücksichtigung der pädagogischen 
Pathologie erweitert und fand eine Ergänzung in der encyklopädischen 
Sammlung von »Beiträgen zur Kinderforschung und Heilerziehung«. 
Ferner gründete Trüper im Jahre 1899 den »Allgemeinen deutschen 
Verein für Kinderforschung«; er war ferner Mitbegründer des vom 
1.—4. Oktober 1906 in Berlin abgehaltenen »Kongresses für Kinder- 
forschung und Jugendfürsorge«, der eine sehr wertvolle, gediegene 
und umfangreiche Arbeit leistete und von dem sehr zu bedauern ist, 
daß er keine Nachfolger gefunden hat. Betont werden muß, daß diese 
ganze Bewegung der Fürsorge psychopathisch belasteter Kinder ab- 
seits vom Staate und dem Staatsschulwesen erfolgte. 

Wir meinen, die geschichtliche Betrachtung der Bestrebungen zur 
Organisation der Familienerziehung im Gegensatz zur Staatserziehung 
wird im Leser das Gefühl geweckt haben, daß wir es hier mit einer 
Reform zu tun haben, die die Vertreter des Staates mit Unrecht für 
überflüssig, unklar, unberechtigt halten. !) 


In der Erziehung ist das Vorbilden und Vorleben alles. In der 
Schule fällt das fort, weil der Lehrer nur unterrichtet und in keinerlei 
persönliche Berührung mit dem einzelnen Schüler tritt. Statt Cha- 
rakterbildung gibt die Schule Wissen, statt Erziehung gibt sie Unterricht. 
Sie beeinträchtigt leicht das Seelische, das Gemüt, das Herz, die Phantasie 
und zudem den Leib und drillt einseitig Verstand und Gedächtnis. 
In der Staatsschule kann das nie anders werden. Denn es liegt in 
der Natur des Staates, daß er bureaukratisiert, nicht organisiert, daß 
er schematisiert, nicht individualisiert. Die Reformen auf dem Boden 
der Staatsschule können daher auch das Übel nicht beseitigen, das 
System muß geändert werden, die Erziehung muß aufhören, in erster 
Linie Staatsangelegenheit zu sein, und sie muß wieder zur dringlichsten 


1) Der Staat seinerseits mag sich doch bei Beurteilung der Erfolge seines 
Staatsschulsystems die Zusammenstellung der Schülerselbstmorde vor Augen halten, 
die kürzlich Prof. Eulenburg in der Umschau veröffentlichte, Darnach beträgt 
die Gesamtzahl dieser Selbstmorde in Deutschland von 1893 bis 1900 nicht weniger 
als 950. 


Pudor: Das Familienrecht und die deutsche Jugenderziehung. 103 








Familienangelegenheit werden.!) Und zunächst muß sich dies in- 
tellektuell vollziehen, die Einsicht in diese Lage der Dinge muß überall 
verbreitet werden. Jeder Familienvater muß einsehen lernen, daß die 
Erziehung, welche die Familie gibt, durch nichts zu ersetzen ist, am 
wenigsten durch staatliche Erziehung. Freilich muß das Erziehen 
auch wieder erst gelernt werden. Es ist Sitte geworden, daß die 
Eltern sich um die Erziehung ihrer Kinder gar nicht kümmern und 
sich bei dem Gedanken beruhigen, daß die Schule ihre Kinder er- 
ziehe. Infolgedessen ist die schwierigste aller Künste, die der Kinder- 
erziehung verlernt worden. Die meisten Eltern verstehen gar nicht 
mehr die Kinderzucht, sie geben sich gar nicht die Mühe dazu. 
Lernen sie erst einsehen, daß sie allein die berufenen Erzieher sind, 
und daß der Staat ihre Kinder im Charakter und Gemüt verpfuscht, 
werden sie sich, da ihnen ja das Wohl ihrer Kinder am Herzen liegt, 
auch wieder bemühen, ihre Kinder selbst zu erziehen. 

Bei den heutigen sozialen Verhältnissen ist es nun allerdings in 
den seltensten Fällen möglich, daß die Eltern die Erziehung ihrer 
Kinder selbst leiten und soweit die Unterweisung in den Wissen- 
schaften in Betracht kommt, ist dies auch nicht durchführbar. Aber 
es kommt vor allem darauf an, daß sich die Eltern sagen, daß sie 
allein, soweit nur möglich, ihre Kinder zu erziehen die Pflicht haben. 
Sie allein haben doch auch zu entscheiden, wie die Kinder erzogen 
werden sollen. Bei der Staatsschule kümmern sie sich um dieses’ Wie 
gar nicht. Aber sollten nicht Eltern, die ihre Kinder lieben, den 
Wunsch haben, daß ihre Kinder nach ihren Überzeugungen, nach 
ihren Empfindungen, nach ihren Auffassungen vom Leben erzogen 
werden? Daß ihre Kinder gemäß ihren körperlichen, geistigen und 
seelischen Anlagen individuell erzogen werden? 

Soweit also als nur möglich hat 'Familienerziehung Platz zu 
greifen. Da, wo eine Familie mehrere Kinder hat, darf ein Haus- 
lehrer zugezogen werden. Reichen die materiellen Bedingungen nicht 
dazu hin, mögen sich Familien, welche auf ethisch-religiösem Gebiet 
und in den wichtigsten Lebensfragen übereinstimmende Überzeugungen 
haben, vereinigen und eine Dörpfeldsche Familiengenossenschaft und 
Erziehungsgemeinde gründen und gemeinsam einen Lehrer (nicht wie 
in der Staatsschule einen Lehrer für jedes Fach) anstellen und eine 


1) Treffend sagt H. Wigge in seinem Artikel »Die soziale Bedeutung der 
Familie« (Päd. Monatsbl. Heft I, 1899, S. 3): Die heutige Wirtschaftsordnung hat die 
Entwicklung des Familienlebens in eine verhängnisvolle Bahn gedrängt; anstatt 
die Familie um jeden Preis zu erhalten, nimmt der Staat ihr mehr und mehr ihre 
Aufgaben ab und beraubt sich so seiner sichersten Stütze. 


104 A. Abhandlungen. 





Familienschule gründen. Mehrere solcher Familiengenossenschaften 
können sich vereinigen und Familien-Hochschulen organisieren. !) 

Für die Übergangszeit muß aber dafür gesorgt werden, daß auch 
innerhalb der Staatsschule das Familienprinzip wieder in Geltung 
kommt. Elternabende, die man schon hier und da eingerichtet hat, 
genügen nicht, sind aber ein Anfang. Vor allem aber müssen wieder 
Synoden abgehalten werden, bei denen Eltern und Lehrer zusammen- 
kommen und beraten. Etwa jeden zweiten Sonntag sind gemeinsame 
Andachten von Lehrern, Eltern und Schülern abzuhalten. Nicht nur 
bei den Abschiedsfeierlichkeiten der Abiturienten sind die Eltern zu- 
zulassen, sondern auch bei anderen Gelegenheiten oder diese letzteren 
müssen geschaffen werden. Eltern und Lehrer müssen sich gegen- 
seitig kennen lernen, und für einen regelmäßigen, häufigen Meinungs- 
austausch muß Gelegenheit gegeben werden.?2) Statt der Zensur- 
bücher sind Tagebücher einzuführen, in welchen der Lehrer über den 
einzelnen Schüler sich äußert und die Kinder darauf antworten. Ferner 
sind gemeinsame Ausflüge von Eltern, Lehrern und S..nülern zu ver- 
anstalten, und endlich sind die Eltern, wenn nur möglich, beim Unter- 
richt als Zuschauer zuzulassen, so beim Turn- und Spielunterricht, 
beim Handarbeit- und Gartenunterricht, beim Gesangunterricht und 
in der Gesundheitslehre. — 

Zum Schluß mag noch darauf hingewiesen werden, daß die im 
Vorsfehenden behandelten Fragen im gegenwärtigen Zeitpunkt des 
Weltkrieges 1914/15/16, wie auch namentlich für die Zeit nach dem 
Kriege von ganz erheblicher Bedeutung sind. Denn wie auch das 
Kriegsergebnis für Deutschland lauten wird, wird es nach dem Kriege 
ganz besonders darauf ankommen für einen kräftigen, tüchtig durch- 
gebildeten und erzogenen Nachwuchs zu sorgen, der leiblich, wie 
geistig und energetisch befähigt ist, die errungenen Güter festzuhalten. 
Die Familienerziehung bietet bei dieser Aufgabe die wertvollste Hand- 
habe und unser Streben muß dahin gehen, diese Familienerziehung 
im Dörpfeldschen Sinne in die gesamte Erziehung einfließen zu lassen 
und zum mindesten sie zu fruchten. Dann wird Deutschland auch 
in Zukunft fest stehen und bleiben. 





1) Dörpfeld und ich wollen nicht wie Pudor in diesem Maße den Einfluß 
des Staates ausschalten. Uns kommt es vor allem darauf an, daß auch in der Schul- 
organisation zum Ausdruck komme, daß die Familie ein stärkeres und reineres Inter- 
esse an dem Gedeihen der Kinder in der Schule haben sollten, als die Staatsbeamten, 
welche sich nicht selten Staat nennen. Wo es anders ist, da ist ein Volk in der 
Entartung begriffen. Trüper. 

2) In dem Verein evangelischer Lehrer und Schulfreunde am Niederrhein 
wurden unter Dörpfeld Verhandlungen über Hausbesuche des Lehrers gepflogen, 
die unter allen Umständen zu empfehlen sind. 





Lehm: Über den Wert der Freiübungen im Hilfsschulturnen. 105 





2. Über den Wert der Freiübungen im Hilfsschulturnen. 
Von 
Kurt Lehm, Dresden. 
(Fortsetzung.) 


f) Übungen für Arme und Beine. 
a) Übungen für einen Arm und ein Bein. 
L Gruppe: Armheben. Seit-, Vor-, Rückstellen. 
1. Übung: 
1—4 : Seitheben des linken Armes und Seitstellen des linken Beines. 
5—8 : Grundstellung. 
9—12: Seitheben des rechten Armes und Seitstellen des rechten Beines. 
13—16: Grundstellung. 
2. Übung: 
1—4 : Vorheben des linken Armes und Vorstellen des linken Beines. 
5—8 : Grundstellung. 
9—12: Vorheben des rechten Armes und Vorstellen des rechten Beines. 
13—16: Grundstellung. 
3. Übung: 
1—4 : Vorhochheben deslinken Armesund Rückstellen des linken Beines. 
5—8 : Grundstellung. 
9—12: Vorhochheben des rechten Armes und Rückstellen des rechten 
Beines. 
13—16: Grundstellung. 
4. Übung: 
1—4 : Seitheben des linken Armes und Seitstellen des rechten Beines. 
5—8 : Grundstellung. 
9-12: Seitheben des rechten Armes und Seitstellen des linken Beines. 
13—16: Grundstellung. 
5. Übung: 
1—4 : Vorheben des linken Armes und Rückstellen des rechten Beines. 
5—8 : Grundstellung. 
9—12: Vorheben des rechten Armes und Rückstellen des linken Beines. 
13—16: Grundstellung. 


I. Gruppe: Armstoßen, Schreiten. 
1. Übung: 
1—4 : Seitschreiten links und Seitstoßen links. 
5—8 : Grundstellung. 
9—12: Seitschreiten rechts und Seitstoßen rechts. 
13—16: Grundstellung. 





A. Abhandlungen. 





2 
1—4 
5—8 
9—12 
13—16 
3 
1—4 
5—8 
9—12 
13—16 
4 
1—4 
5—8 
9—12 
13—16 
5 
1—4 
5-—8 
9—12: 
13—16: 
Il. 
1. 
1—4 


. Übung: 


: Vorstoßen links und Vorschreiten links. 

: Grundstellung. 

: Vorstoßen rechts und Vorschreiten rechts. 
: Grundstellung. 


. Übung: 


: Rückschreiten links und Tiefstoßen links. 


: Grundstellung. 
: Rückschreiten rechts und Tiefstoßen rechts. 
: Grundstellung. 


. Übung: 


: Seitschreiten links und Seitstoßen rechts. 


: Grundstellung. 

: Seitschreiten rechts und Seitstoßen links. 
: Grundstellung. 

. Übung: 

: Vorschreiten links und Vorstoßen rechts. 
: Grundstellung. 


Rückschreiten rechts und Hochstoßen links. 
Grundstellung. 


Gruppe: Armbeugen und -strecken, Schreiten. 
Übung: 


: Seitschreiten links, Seitheben und Beugen des linken Armes. 


5—8 : Schlußtritt, Strecken und Senken des linken Armes. 
9—12: Seitschreiten rechts, Seitheben und Beugen des rechten Armes. 


13—16: 
2 

1—4 
5—8 : 
9—12: 
13—16: 
3 

1—4 

5—8 
9--12: 
13—16: 


Schlußtritt, Strecken und Senken des rechten Armes. 


. Übung: 
: Rückschreiten links, Vorheben und Beugen des linken Armes. 


Schlußtritt, Strecken und Senken des linken Armes. 
Rückschreiten rechts, Vorheben und Beugen des rechten Armes. 
Schlußtritt, Strecken und Senken des rechten Armes. 


. Übung: 
: Seitschreiten links, Seitheben und Beugen des rechten Armes. 
: Schlußtritt, Strecken und Senken des rechten Armes. 


Seitschreiten rechts, Seitheben und Beugen des linken Armes. 
Schlußtritt, Strecken und Senken des linken Armes. 


Lehm: Über den Wert der Freiübungen im Hilfsschulturnen. 107 





Achttaktiger Satz zu Gruppe III. 
(Zusammenfassung der 3. und 4. Übung.) 















































4 

1—4 

5—8 
9—12 
13—16 
1 

1—4 

5—8 
9—12 
13—16 
2 

1—4 

5—8 
4—12 
13—16 

















Nach Auber: Die Stumme von Portici. 


. Übung: 

: Rückschreiten links, Vorheben und Beugen des rechten Armes. 
: Schlußtritt, Strecken und Senken des rechten Armes. 

: Rückschreiten rechts, Vorheben und Beugen des linken Armes. 
: Schlußtritt, Strecken und Senken des linken Armes. 


IV. Gruppe: Armheben, Knieheben. 


. Übung: 

: Vorhebhalte links und Knieheben links. 

: Grundstellung. 

: Vorhebhalte rechts und Knieheben rechts. 

: Grundstellung. 

. Übung: 

: Vorhochhebhalte links und Knieheben links. 

: Grundstellung. 

: Vorhochhebhalte rechts und Knieheben rechts. 
: Grundstellung. 


A. Abhandlungen. 





. Übung: 

: Seitheben links und Knieheben rechts. 
: Grundstellung. 

: Seitheben rechts und Knieheben links. 
: Grundstellung. 


. Übung: 

: Vorhochheben links und Knieheben rechts. 
: Grundstellung. 

: Vorhochheben rechts und Knieheben links. 
: Grundstellung. 


V. Gruppe: Armheben, Fersenheben. 
. Übung: 

: Fersenheben links und Vorhebhalte links. 

: Grundstellung. 

: Fersenheben rechts und Vorhebhalte rechts. 

: Grundstellung. 


. Übung: 

: Fersenheben links und Vorhochheben links. 

: Grundstellung. 

: Fersenheben rechts und Vorhochheben rechts. 
: Grundstellung. 


. Übung: 

: Fersenheben links und Seitheben rechts. 
: Grundstellung. 

: Fersenheben rechts und Seitheben links. 
: Grundstellung. 


. Übung: 

: Fersenheben links und Vorhochheben rechts. 
: Grundstellung. 

: Fersenheben rechts und Vorhochheben links. 
: Grundstellung. 


VI. Gruppe: Armheben, Spreizen. 


. Übung: 
: Seitspreizen links und Seitheben links. 
: Grundstellung. 


9—12 
13—16 
2 

1—4 

5—8 
9—12 
13—16 
3 

1—4 

5—8 
9—12 
13—16 
4 

1—4 

5—8 
9—12 
13—16 
5 

1—4 

5—8 
9—12 
13—16 
6 

1—4 

5—8 
9—12 
13—16 
7 

1—4 

5—8 
9—12 
13—16 
8 

1—4 

5—8 
9—12 
13—16 


Lehm: Über den Wert der Freiübungen im Hilfsschulturnen. 


: Seitspreizen rechts und Seitheben rechts. 
: Grundstellung. 


. Übung: 
: Vorspreizen links und Vorheben links. 
: Grundstellung. 


109 


: Vorspreizen rechts und Vorheben rechts. 

: Grundstellung. 

. Übung: 

: Rückspreizen links und Vorhochheben links. 
: Grundstellung. 

: Rückspreizen rechts und Vorhochheben rechts. 
: Grundstellung. 
. Übung: 

: Seitspreizen links und Seitheben rechts. 

: Grundstellung. r 
: Seitspreizen rechts und Seitheben links. 

: Grundstellung. 
. Übung: 

: Vorspreizen links und Vorheben rechts. 

: Grundstellung. 

: Vorspreizen rechts und Vorheben links. 

: Grundstellung. 

. Übung: 

: Rückspreizen links und Vorhochheben rechts. 
: Grundstellung. 

: Rückspreizen rechts und Vorhochheben links. 
: Grundstellung. 
. Übung: 

: Seitspreizen links und Seitheben rechts. 

: Vorspreizen links und Vorschwingen rechts. 

: Rückspreizen links und Hochheben rechts. 

: Grundstellung. 
. Übung: 

: Rückspreizen rechts und Hochheben rechts. 

: Seitspreizen rechts und Senken zur Seithebhalte rechts. 
: Vorspreizen rechts und Vorschwingen zur Vorhebhalte rechts. 
: Grundstellung. 


110 


A. Abhandlungen. 





#) Übungen für beide Arme und beide Beine. 
I. Gruppe: Zehenstand, Kniebeuge. 


. Übung: 

: Zehenstand und Vorhochheben der Arme. 
: Sohlenstand, Tiefsenken. 

: wie 1—4. 

: wie 5—8. 

. Übung: 

: Hockstand und Vorhebhalte beide Arme. 
: Grundstellung. 

: wie 1—4. 

: wie 5—8. 

. Übung: 

: Kniebeuge und Vorhochheben der Arme. 
: Grundstellung. 

: wie 1—4. 

: wie 5—8. 

. Übung: 

: Zehenstand und Vorhochheben der Arme. 
: Grundstellung. 

: Kniebeuge und Vorheben der Arme. 

: Grundstellung. 


I. Gruppe: Seit-, Vor-, Rückschrittstellung. 


. Übung: 

: Seitschrittstellung links und Seithebhalte der Arme. 
: Schlußtritt links und Armsenken. 

: Seitschrittstellung rechts und Seithebhalte der Arme. 
: Schlußtritt rechts und Armsenken. 

. Übung: 

: Vorstellen links und Vorheben der Arme. 

: Schlußtritt und Armsenken. 

: Vorstellen rechts und Vorheben der Arme. 

: Schlußtritt rechts und Armsenken. 

. Übung: 

: Rückstellen links und Hochheben der Arme. 

: Schlußtritt und Armsenken. 

: Rückstellen rechts und Hochheben der Arme. 

: Schlußtritt und Armsenken. 


Lehm: Über den Wert der Freiübungen im Hilfsschulturnen. lit 








4. Übung: 
1—4 : Seitstellen links und Seitheben der Arme. 
5—8 : Grundstellung. 
9—12: Vorstellen links und Vorheben der Arme. 
13—16: Grundstellung. 


Achttaktiger Satz zu Gruppe II. 
(Zusammenfassung der 4. und 5. Übung.) 
















































































Nach Lanner: Einleitung zum Pesther Walzer. 


5. Übung: 
1—4 : Rückstellen rechts und Vorhochheben der Arme. 
5—8 : Grundstellung. 
9—12: Vorstellen links und Vorheben der Arme. 
13—16: Grundstellung. 


II. Gruppe: Hüpfen in die Grätschstellung. 
1. Übung: 
1—4 : Hüpfen in die Seitgrätschstellung und Seitheben der Arme. 
5—8 : Grundstellung. 
9—12: wie 1—4. 
13—16: wie 5—8. 


112 
2 
1—4 
5—8 : 
9—12 
13—16 
1 
1—4 
5—8 
9—12 
13—16 
2 
1—4 
5—8 
9—12 
13—16 
3 
1—4 
5—8 
9—12 
13—16 
4 
1—4 
5—8 
9—12 
13—16 
5 
1—4 
5—8 
9—12 
13—16 
6 
1—4 
5—8 


A. Abhandlungen. 





. Übung: 
: Hüpfen in die Quergrätschstellung, linkes Bein spreizt vor, 


und Vorhochheben der Arme. 
Hüpfen in die Grundstellung, Tiefsenken der Arme. 


: Hüpfen in die Quergrätschstellung, rechtes Bein spreizt vor, 


und Vorhochheben der Arme. 


: Hüpfen in die Grundstellung, Tiefsenken der Arme. 


g) Übungen für Rumpf, Arme und Beine. 


. Übung: 

: Hüpfen in die Seitgrätschstellung und Seithochheben der Arme. 

: Rumpfvorbeugen und Tiefschwingen der Arme. 

: Aufrichten und Hochschwingen der Arme. 

: Hüpfen in die Grundstellung und Seitsenken der Arme. 

. Übung: 
: Hüpfen in die Seitgrätschstellung und Vorschwingen der Arme. 
: Rumpfrückbeugen und Hochschwingen der Arme, schräg auf- 


wärts nach hinten. 


: Aufrichten und Abschwingen zur Vorhebhalte. 

: Hüpfen in die Grundstellung und Vorsenken der Arme. 

. Übung: 

: Hüpfen in die Seitgrätschstellung und Vorschwingen der Arme. 
: Rumpfvorbeugen und Seitschwingen der Arme. 

: Aufrichten und Vorschwingen der Arme. 

: Hüpfen in die Grundstellung und Armsenken. 

. Übung: 

: Hüpfen in die Seitgrätschstellung und Vorschwingen der Arme, 
: Rumpfrückbeugen und Seitschwingen der Arme. 

: Aufrichten und Vorschwingen der Arme. 

: Hüpfen in die Grundstellung und Armsenken. 

. Übung: 

: Hüpfen in die Seitgrätschstelluug und Seithochschwingen 


der Arme. 


: Rumpfseitbeugen links und Seitschwingen der Arme. 

: Aufrichten und Seithochschwingen der Arme. 

: Hüpfen in die Grundstellung und Armsenken. 

. Übung: 

: Hüpfen in die Seitgrätschstellung und Seithochschwingen 


der Arme. 


: Rumpfseitbeugen rechts und Seitschwingen der Arme. 


Lehm: Über den Wert der Freiübungen im Hilfsschulturnen. 113, 





9—12: Aufrichten und Seithochschwingen der Arme. 
13—16: Hüpfen in die Grundstellung und Armsenken. 
7. Übung: 

1—4 : Hüpfen — links vorspreizen — in die Quergrätschstellung 
und Armbeugen zum Stoß. 

5—8 : Rumpfvorbeugen und Tiefstoßen. 

9—12: Aufrichten und Armbeugen. 

13—16: Hüpfen in die Grundstellung und Armsenken. 


8. Übung: 
1—4 : Rückschreiten rechts zur Quergrätschstellung und Armbeugen 
zum Stoß. 


5—8 : Rumpfvorbeugen und Tiefstoßen. 
9—12: Aufrichten und Armbeugen. 
13—16: Schlußtritt rechts und Armsenken. 


B. Freiübungen mit Belastung. 
Stabübungen. 


I. Gruppe: Vor-, Hoch-Seitstoßen. Seitstellen, Knie- 
beuge, Zehenstand. 


1. Übung: 
1—4 : Vorstoßen mit beiden Armen und Zehenstand. 
5—8 : Rückbewegung, Senken in den Sohlenstand. 


9—12: Hochstoßen und Zehenstand. 
13—16: Abschwingen, Grundstellung. 

2. Übung: 
1—4 : Vorstoßen und Hockstand. 
5—8 : Stab vor die Brust, Grundstellung. 
9—12: Hochstoßen und Kniebeuge. 
13—16: Rückbewegungen, Grundstellung. 

3. Übung: 
1—4: Seitstellenlinks und Seitstoßen links. Der linkeArm bleibt gestreckt. 
5—8: Schlußtritt und Stab vor die Brust. 
9—12: Seitstellen rechts und Seitstoßen rechts. 
13-—-16: Schlußtritt, Stab vor die Brust. 


i I. Gruppe: Knieheben. 
1. Übung: 
1—4 : Vorheben des Stabes — Arme gestreckt — und Knieheben links. 
5—8 : Stabsenken und Kniesenken, 
9—12: Vorheben des Stabes und Knieheben rechts. 
13—16: Stabsenken und Kniesenken. 
Zeitschrift für Kinderforschung. 21. Jahrgang. 8 


114 A. Abhandlungen. 





2. Übung: 
1—4 : Vorhochheben des Stabes und Knieheben links. 
5—8 : Stabtiefsenken, Kniesenken. 
9—12: Vorhochheben des Stabes und Knieheben rechts. 
13—16: Stabtiefsenken, Kniesenken. 


III. Gruppe: Spreizen. 
1. Übung: 


1—4 : Vorspreizen links und Vorheben des Stabes. 
5—8 : Schlußtritt, Stabsenken. 
9—12: Vorspreizen rechts und Vorheben des Stabes. 
13—16: Schlußtritt, Stabsenken. 


Sechzehntaktiger Satz zu Gruppe III. 


(Zusammenfassung der 1.—4. Übung.) 






















































































--- 















Nach Donizetti: Regimentstoehter. 


1—4 : Rückspreizen links und Vorhochheben des Stabes. 
5—8 : Schlußtritt, Stabtiefsenken. 

9—12: Rückspreizen rechts und Vorhochheben des Stabes. 
13—16: Schlußtritt, Stabsenken. 


Lehm: Über den Wert der Freiübungen im Hilfsschulturnen. 115 





3 
1—4 : 
5—8 : 
9—12 
13—16 
4 
1—4 
5—8 
9—12 
13—16 
1 
1—4 
5—8 
9—12 
13—16 
2 
1—4 
5—8 
9—12 
13—16 


5—8 
9—12: 
13—16: 


. Übung: 


Seitspreizen links und Stabstoßen seitwärts links. 
Schlußtritt, Stab vor die Brust. 


: Seitspreizen rechts und Stabstoßen seitwärts rechts. 
: Schlußtritt, Stab vor die Brust. 

. Übung: 

: Seitspreizen links und Stabstoßen seitwärts rechts. 
: Schlußtritt, Stab vor die Brust. 

: Seitspreizen rechts und Stabstoßen seitwärts links. 
: Schlußtritt, Stab vor die Brust. 


IV. Gruppe: Fersenheben. 


. Übung: 

: Fersenheben links, Vorheben des Stabes. 

: Schlußtritt, Senken des Stabes. 

: Fersenheben rechts, Vorheben des Stabes. 

: Schlußtritt, Senken des Stabes. 

. Übung: 

: Fersenheben links und Vorhochheben des Stubes. 
: Schlußtritt, Senken des Stabes. 

: Fersenheben rechts und Vorhochheben des Stabes. 
: Schlußtritt, Senken des Stabes. 


V. Gruppe: Seitgrätschstellung. Rumpfbeuge. 


. Übung: 
: Seitschreiten links in die Seitgrätschstellung und Vorheben 


des Stabes. 


: Rumpfbeugen vorwärts und Tiefschwingen des Stabes. 
: Aufrichten und Vorheben des Stabes. 
: Schlußtritt, Senken des Stabes. 


Übung: 


: Seitschreiten rechts in die Seitgrätschstellung und Vorheben 


des Stabes. 


: Rumpfbeugen vorwärts und Tiefschwingen des Stabes. 


Aufrichten und Vorheben des Stabes. 
Schlußtritt, Senken des Stabes. 


VI. Gruppe: Quergrätschstellung, Rumpfbeuge. 


1. 
1—4 : 


Übung: 
Vorschreiten links in die Quergrätschstellung und Vorhoch- 
heben des Stabes. 
8r 


116 A. Abhandlungen. 





5—8 : Rumpfbeuge vorwärts und Tiefschwingen des Stabes. 
9—12: Aufrichten und Vorhochheben des Stabes. 
13—16: Schlußtritt links, Senken des Stabes. 
2. Übung: 
1—4 : Vorschreiten rechts in die Quergrätschstellung und Vorhoch- 
heben des Stabes. 
5—8 : Rumpfbeuge vorwärts und Tiefschwingen des Stabes. 
9—12: Aufrichten und Vorhochheben des Stabes. 
13—16: Schlußtritt rechts, Senken des Stabes. 


VII. Gruppe: Quergrätschstellung, Rumpfbeuge, Überheben. 
1. Übung: 
1—4 : Rückschreiten links in die Quergrätschstellung und Vorhoch- 
heben des Stabes. 
5—8 : Rumpfbeuge rückwärts und Überheben des Stabes über den 
Kopf zu wagerechter Haltung hinter den Schultern. 
9—12: Aufrichten und Hochheben des Stabes. 
13—16: Schlußtritt, Senken des Stabes. 
2. Übung: 
1—4 : Rückschreiten rechts in die Quergrätschstellung und Vorhoch- 
heben des Stabes. 
5—8 : Rumpfbeuge rückwärts und Überheben des Stabes. 
9—12: Aufrichten und Hochheben des Stabes. 
13—16: Schlußtritt, Senken des Stabes. 


Es ist nun nicht gesagt, daß eine Turnstunde in der Hauptsache 
den Freiübungen gewidmet sein müßte, weil in Rücksicht auf Körper- 
schwäche und Ungeschicklichkeit der Hilfsschulkinder die Gerätübungen 
nur in ganz beschränktem Maße Anwendung finden können. Gleich- 
wohl dürfen die Freiübungen etwa um des Spieles willen nicht in Weg- 
fall kommen, da ihr Wert für Ausgleichung der Denk-, Gefühls-, Willens- 
schwäche der Hilfsschüler einwandfrei feststeht. Und wenn es richtig 
ist, wie die Theorie lehrt, daß durch äußere Anregungen gewisse Ge- 
hirnteile in ihrer Entwicklung gefördert werden können, so müssen 
die Freiübungen zu den wirksamsten Heilmitteln in dieser Beziehung 
gezählt werden, namentlich die Kontrastübungen. 

Mit wöchentlich zweimaliger Übung ist freilich nicht allzuviel zu 
erreichen. Die Übungen, insbesondere Kontrastübungen, 
müssen täglich vorgenommen werden. Dann erlangt der Geist 
eine gewisse Herrschaft über die Glieder, und die Glieder werden 
unabhängig voneinander. Zum Teil ist diese Forderung durchführbar 


Hanselmann: Die Arbeitslehrkolonie und Beobachtungsanstalt Steinmühle. 117 








beim Pausenturnen. Und kommen auch nur in der Hauptsache in- 
folge der räumlichen Beschränkung vorwiegend .Armübungen in Be- 
tracht, so wird doch die Anregung des Gehirns täglich wiederholt 
erneut. Würden die Klassenzimmer der Hilfsschulen genügend Raum 
bieten, dann könnten auch Beinübungen ausgeführt werden, und es 
könnte auch durch das Zimmerturnen zum Ausdruck gebracht werden: 
Das Turnen ist ein Hauptfach des Lehrplanes der Hilfsschule. Ich 
halte das Turnen für das Hauptfach in bezug auf den alten Satz: Sit 
mens sana in corpore sano. Dadurch daß viel nach jeder Stunde ge- 
turnt wird, sollte sich die Hilfsschule von andern Schulen abheben. 
Viel Turnen, ein charakteristisches Merkzeichen der Hilfsschule. 
Erfreulich ist es, daß die Erkenntnis vom Wert des Tumens für 
Hilfsschüler mehr und mehr wächst, und daß dieser Erkenntnis auch 
in Hilfsschullehrplänen Ausdruck verliehen wird. Der Turnunterricht 
als Fach wird in allen Klassen durchgeführt bis herunter in die 
unterste Klasse, z. B. in Berlin, Hamburg, Leipzig, Frankfurt a. M. 
Auch in Dresden-Löbtau sollten wir diese Vergünstigung erhalten, da 
kam der Krieg. Doch wir hoffen, daß nach dem Krieg alle Klassen 
Turnunterricht haben werden. (Schluß folgt.) 


8. Die Arbeitslehrkolonie und Beobachtungsanstalt 
Steinmühle (Obererlenbach, Kreis Friedberg i. H.). 
Erzieherische Aufgaben und grundsätzliche Bedeutung der Organisation. 


Vortrag 
(gehalten anläßlich des IX. Fortbildungskursus in der Kinderfürsorge, 3.—13. Juni 
1914, veranstaltet durch die Zentrale für private Fürsorge in Frankfurt a. M.) 
von 
Dr. H. Hanselmann-Heufemann. 


Unsere Anstalt ist eingerichtet zur Erziehung von schulentlassenen, 
männlichen Jugendlichen, welche oft, aber nicht immer zur Fürsorge- 
erziehung untergebracht sind. Unsere Zöglinge sind schwachbegabt 
und zeigen neben einzelnen klar erkennbaren Defekten im Gefühls- 
und Willensleben ein unklares Wesen, sie sind aus diesen Gründen 
schwererziehbar. 

Für die Bezeichnung der verschiedenen Grade der intellektuellen 
Entwicklung sind die Begriffe normal, debil, imbezill, idiotisch heute 
fast ganz allgemein gebräuchlich. Wir möchten sie aber bei der 
Charakteristik unserer Zöglinge doch tunlichst meiden. Ein Haupt- 
grund dafür liegt in dem Umstande, daß diese Begriffe gewöhnlich 


118 A. Abhandlungen. 





als ein summarisch ausgedrücktes Ergebnis einer Intelligenzprüfung 
aufgefaßt werden. Diese Intelligenzprüfung nennt man bescheidener 
und richtiger eine Prüfung der Schulkenntnisse. Es besteht zwar 
vielerorts das anerkennenswerte Bestreben, nicht nur etwa nach Schul- 
kenntnissen zu fragen, sondern auch das »kausale Denken«, das »Lebens- 
wissen« u. dergl. zu prüfen. Trotzdem aber bleibt es dabei, daß dieses 
Unternehmen eben immer ein Examen ist. Es birgt als solches alle 
die wohlbekannten Nachteile in sich. Wir erinnern daran, daß tat- 
sächlicher Intelligenzbesitz und Repräsentationsfähigkeit desselben sich 
auch bei »normalen« Kindern selten decken und daß wir schon bei 
leichteren Gefühlsanomalien ein starkes Mißverhältnis finden zwischen 
dem, was das Kind wirklich weiß und dem, was es uns zu einer ganz 
bestimmten Zeit und unter ganz bestimmten Umständen davon aus- 
sagen kann. Genau genommen müßten wir zur besseren Urteils- 
gewinnung mindestens nicht nur den Prüfungsbogen des Zöglings, 
sondern auch einen Prüfungsbogen über den zur Hand haben, der 
die Prüfung angestellt hat. — 

Die bisher gepflogene Art der Intelligenzprüfung mag für wissen- 
schaftlich-statistische Zwecke genügen, sie genügt aber zu Erziehungs- 
zwecken niemals. Was wissenschaftlich, in diesem Falle experimentell- 
psychologisch interessant ist,- braucht darum noch nicht praktisch be- 
deutsam zu sein. Erforschen und Erziehen des Kindes sind zwei 
grundverschiedene Bestrebungen. Es ist unbedingt notwendig, dies 
zu sagen, selbst auf die Gefahr hin, als unmodern zu gelten. Mancher- 
orts ist durch eine verfrühte Übertragung sogenannter wissenschaft- 
licher Tatsachen auf das durchaus praktische Geschäft der Erziehung 
viel Unruhe, Verwirrung, ja Schaden gestiftet worden. Erstens aber 
verbietet die wahre Wertschätzung der Wissenschaft, sie zur Dienerin 
der Praxis zu machen; anderseits wäre es geradezu lächerlich, zu ver- 
langen, daß die Praxis jeweils auf die Fortschritte der Wissenschaft 
warten solle. Drittens hat man vergessen, daß Erziehen als Tätigkeit 
nicht eine Wissenschaft ist, sondern eine Kunst. Damit wird ja nicht 
bestritten, daß die Ausübung dieser Kunst durch gründliche wissen- 
schaftliche Bildung verbessert werden kann; die fachwissenschaftliche 
Bildung kann aber immer nur eine Technik der Kunst des Er- 
ziehens sein. 

Wenn wir nun gesagt haben, daß die meisten unserer Zöglinge 
schwachbegabt sind, so meinen wir damit, sie seien in bezug auf die 
intellektuelle Entwicklung zurückgeblieben. Wir kommen mit dieser 
einfachen Bezeichnung aus, um anzudeuten, daß ein die Erziehung 
erschwerendes Moment vorliegt. Damit soll ferner implizite die be- 


Hanselmann: Die Arbeitslehrkolonie und Beobachtungsanstalt Steinmühle. 119 








kannte Tatsache angedeutet werden, daß die Schwäche der Begabung 
graduell die verschiedensten Abstufungen zeigt. Es gibt genau so- 
viele Formen des Schwachsinns, als es Schwachbegabte gibt. Für die 
Zwecke der Erziehung aber kann immer nur die individuelle Form 
des Schwachsinns von Interesse sein. Für Erziehungszwecke genügt 
darum auch nicht eine allgemeine Feststellung über den Grad des 
Schwachsinns. Viel wichtiger ist es, zu wissen, welche bestimmten 
Erscheinungen der Intelligenz unentwickelt oder zurückgeblieben sind. 
Wir möchten nun ganz grob zwei Hauptarten des Schwachsinns 
unterscheiden und betonen noch einmal, daß wir diese Unterscheidung 
treffen in Hinsicht auf die Erziehung. Einmal bezieht sich der 
Schwachsinn mehr auf die theoretische, ein andermal mehr auf die 
praktische Intelligenz. Es ist nicht unbedingt notwendig, daß ein 
Hilfsschüler auch »unpraktisch« oder »lebensdumm« ist, sowenig wie 
etwa irgend ein bestandenes Staatsexamen für genügende Lebensklug- 
heit immer garantiert. Das Sprüchlein vom zerstreuten, unpraktischen, 
unselbständigen Gelehrten ist mindestens ebenso bekannt, wie die Tat- 
sache, daß manch einer, der sich als wenig schulgescheit zeigte, sich 
im Leben ausgezeichnet zurecht gefunden hat. — Man kommt übrigens 
in der »heute so hochentwickelten Kulturwelt« tatsächlich mit einem 
erstaunlich bescheidenen Minimum von Schulwissen aus. Ich habe 
mit einem vielgebrauchten Intelligenzprüfungsbogen Menschen geprüft, 
die mitten im Leben stehen und bin teilweise zu ganz kläglichen 
Resultaten gekommen. Leute, die es zu Wohlstand und Ansehen ge- 
bracht haben, wären danach zum mindesten als Schwachsinnige 
mittleren Grades zu bezeichnen, ja sie haben manchmal (nach Binet) 
noch nicht die Intelligenzstufe des sechsjährigen Kindes erreicht. 
Hieraus dürfte schon deutlicher werden, was wir mit der Schei- 
dung in praktische und theoretische Intelligenz meinen. Selbstver- 
ständlich hängt die soziale Brauchbarkeit eines Menschen nicht nur 
von dem Grade der intellektuellen Entwicklung ab. Vielmehr wird 
das, was wir Lebensklugheit genannt haben, ebensosehr durch Faktoren 
des Gefühls- und Willenslebens bestimmt. Diese Zusammenhänge sind 
einer besonderen Untersuchung wert, wir werden in anderm Zu- 
sammenhang noch einmal kurz darauf zu sprechen kommen. Hier 
kam es uns nur auf zweierlei an, erstens davor zu warnen, den Aus- 
druck Intelligenz in Fragen der Erziehung so eng zu fassen, wie er 
gefaßt ist zu Zwecken rein experimentell-psychologischer Feststellungen 
und zweitens ausdrücklich zu betonen, daß darum die Intelligenz- 
prüfung in der Form, wie sie heute so oft angestellt wird, für die 
Zwecke der Erziehung kaum eine größere Bedeutung haben kann. 


120 A. Abhandlungen. 





Ob das, was uns in erzieherischer Hinsicht von der Begabung inter- 
essiert, in einem Examen überhaupt festgestellt werden kann? Wir 
bestreiten es, wir bedürfen zu einer solchen Feststellung einer längeren 
Zeit von Wochen und Monaten und eines besonders dazu hergerichteten 
Milieus. 

Die schwache Begabung unserer Zöglinge äußert sich nun aller- 
meist darin, daß ihre Intelligenz nicht ausreicht zur Erfassung der 
Lebenslage, der verschiedenartigsten Konstellationen und Konjunkturen 
des Lebens. Sie vermögen nicht, ihr eigenes Ich zweckmäßig und 
folgerichtig in die Umwelt und Mitwelt einzustellen. Es mangelt ihnen 
die Fähigkeit zu einer praktischen und sozialen Orientierung. Sie denken 
durchaus antropomorph und egozentrisch. Ich gebe einige Beispiele. 

Ein Geselle bleibt von der Gesellenprüfung weg, zu der er sich 
auf unsere Veranlassung hin gemeldet hatte. Bevor die Prüfungen 
begannen, wurde er volljährig und meinte nun: »Jetzt hat mir nie- 
mand mehr etwas zu sagen«. 

Ein Lehrling, der eines Nachts erst gegen zwei Uhr nach Hause 
kam, in die Wohnung des Meisters einstieg und durch Erbrechen das 
Bett verunreinigte und seinen Sonntagsanzug verdarb, wurde am 
am andern Morgen vom Meister tüchtig gescholten. Der Junge lief 
aus der Stelle und kam zu uns; er erzählte mit großer Ungeniertheit, 
was vorgefallen war und meinte dann: »Ein Meister, der mir Lausbub 
sagt, ist kein Mann für mich, er hat keinen Anstand gelernt.c Man 
vergleiche die so verschiedenartige Wertung seiner eigenen Hand- 
lungen und der Handlungen des Meisters. — 

Ein junger Kaufmann, der nota bene das Schlußexamen eines 
Gymnasiums mit Erfolg absolviert hatte und auf die Fragen des 
Intelligenzprüfungsbogens gut antwortete, wurde durch uns in einem 
Geschäft untergebracht. Er unterließ es, sich bei der Wohnungspolizei 
zu melden. Nach vier Monaten mußte er wegen geschwächter Gesund- 
heit die Stelle aufgeben, er kam wieder zu uns. Als er nochmals in 
sein Logis zurückkehrte, um seine Kleider zu holen, fand er dort eine 
polizeiliche Vorladung. Nun schrieb er unter den Vermerk, daß diese 
Vorladung zum Termine mitzubringen sei, folgendes: »Die Polizei 
kann mir nun den Buckel runterrutschen,« und sandte den Schein an 
die Polizei zurück. 

Man wird uns nun entgegenhalten wollen, daß die angeführten 
Beispiele nicht nur Zeichen eines Schwachsinns seien, sondern viel 
eher Defekte im Gefühls- und Willensleben verraten. Wir geben diese 
gemeinten Komplikationen ohne weiteres zu. Anderseits aber müssen 
wir um so bestimmter geltend machen, daß sich der Intelligenzdefekt 


Hanselmann: Die Arbeitslehrkolonie und Beobachtungsanstalt Steinmühle 121 





eben ganz besonders deutlich auch darin äußert, daß die Intelligenz 
so wenig bestimmende und regulierende Wirkung auf das Handeln hat. 

Damit kommen wir sogleich auf etwas neues. Der psychische 
Gesamthabitus unserer Zöglinge, wie er als Objekt der Erziehung in 
Betracht kommt, zeigt auffallend wenig Einheitlichkeit und Geschlossen- 
heit und Harmonie. Eine erste Bedingung für die soziale Brauchbar- 
keit eines Menschen aber ist die, daß die einzelnen Erscheinungen 
seines Seelenlebens determiniert sind, daß fleißige Wechselbeziehungen 
bestehen zwischen Denken, Fühlen und Wollen. mi 

Diese Erkenntnis, daß solche Wechselbeziehungen statthaben 
müssen, ist uralt und wir finden sie in vielen Redewendungen der 
Umgangssprache deutlich ausgedrückt: Man darf sich nicht hinreißen 
lassen, man muß sich beherrschen können, man muß überlegt, be- 
sonnen und maßvoll sein. Die Forderung: sei Herr über Dich! möchte 
andeuten, daß zum Denken, Fühlen und Wollen noch etwas gleichsam 
Dahinterstehendes hinzukommen müsse, wenn der Mensch darauf An- 
spruch erheben will, erzogen und sozial brauchbar zu sein. Dieses 
Neue, das Ich, müßte dann das ganze psychische Geschehen dirigieren, 
da zurückhalten, dort umleiten, kurz dafür sorgen, daß stets eine 
Harmonie in der Auswirkung der verschiedensten seelischen Erschei- 
nungen besteht. Ist diese Harmonie hergestellt, dann gewinnt der 
Mitmensch den Eindruck, daß der Andere »klar und geordnet« ist, 
daß er einen »festen Charaktere hat und, daß »er weiß, was er will«. 

Wer bei solcher naiver Einstellung unsere Zöglinge schalten und 
walten sieht, wird bald zu der Erkenntnis gelangen, daß sie keines- 
wegs ein harmonisches Seelenleben äußern. Vielmehr fällt als hervor- 
stechendes Merkmal auf, daß ihnen die Geschlossenheit und die Festig- 
keit der Selbstführung abgeht. Täglich tun sie Äußerungen, begehen 
sie wichtige Handlungen, welche uns deshalb auffällig sind, weil sie 
nicht mit frühern Äußerungen und Handlungen desselben Individuums 
in Einklang zu bringen sind. 

Diese Disharmonie, diese Dissoziation haben wir nun eingangs 
als unklares Wesen bezeichnet. Zusammenfassend sagen wir also 
darüber: Es fehlt bei unseren Zöglingen eine zu verschiedenen Zeiten 
und unter verschiedenen Umständen gleichmäßig bestimmende Wirkung 
einzelner psychischer Inhalte auf andere. 

Nun lassen sich verschiedene Grade der Unklarheit des Wesens 
wohl unterscheiden, ebenso könnte man von verschiedenen Arten des 
unklaren Wesens sprechen. Als Charakteristikum aber bleibt immer 
die Tatsache bestehen, daß die einzelnen seelischen Erscheinungen 
mangelhaft zueinander orientiert sind. 


122 s A. Abhandlungen. 








Neben diesem unklaren Wesen treten nun sehr oft klar und 
deutlich erkennbare Defekte namentlich im Gefühls- und Willensleben 
zutage. Von der schwachen Begabung haben wir ja schon gesprochen. 
Im Gefühlsleben zeigt sich vor allem eine Armut in qualitativer und 
in gewissem Sinne auch in quantitativer Hinsicht. Die Stimmung 
schwankt in kleinen Zeiten mit weiten Ausschlägen, das Affekt- 
leben ist besonders durch hohe und ungehemmte Affekte nach gering- 
fügiger Reizung ausgezeichnet. — Im Willensleben fällt auf eine große 
Willensschwäche von verschiedenen Gradabstufungen, die psychologisch 
immer wieder als eine mangelhaft entwickelte willkürliche Aufmerk- 
samkeit anzusprechen ist. Es fehlt erstens oft an klaren Zielvor- 
stellungen, besonders aber auch an der Kraft, einmal gefaßte Ziele 
gegenüber dem Ansturm neuer Reize und Vorstellungen wirksam zu 
verteidigen. Statt der willkürlichen Aufmerksamkeit, das heißt einer 
bewußten Zuwendung zu einem ganz bestimmten Inhalte, finden wir 
die unwillkürliche Aufmerksamkeit vorherrschen. Der Willensschwache 
ist allen Reizen, die ihn erreichen können, ganz ausgeliefert. Die 
Folge davon ist in erster Linie eine Untüchtigkeit zur Arbeit, gleich- 
viel, ob sich dieses unwillkürliche Aufmerken als vielgeschäftige 
Tändelei oder als stumpfes, passives Hingegebensein äußert. — 

Wir haben es nun bis jetzt absichtlich vermieden, den Begriff 
der psychopathischen Konstitution bei der Charakteristik unserer Zög- 
linge zu verwenden. Der Grund hierfür liegt darin, daß als ein 
wesentliches Merkmal immer wieder geltend gemacht wird, daß mit 
der psychopathischen Konstitution kein Intelligenzdefekt verknüpft sei. 

Ziehen sagt (in seiner Schrift »Die Erkennung der psychopathi- 
schen Konstitution usw.«, Berlin, S. Karger, 1912, S. 3): »Es handelt 
sich um jene Kinder, die keine ausgeprägte Geisteskrankheit, vor allem 
auch keinen Schwachsinn (Idiotie, Imbezillität, Debilität) leichteren 
oder schwereren Grades zeigen, bei denen aber doch zahlreiche krank- 
hafte seelische Erscheinungen, namentlich auf dem Gebiete des Ge- 
fühlslebens, vorliegen. Willensschwäche, heftiger Stimmungswechsel, 
starke unbeherrschte Affekte lassen in ihnen gesellschaftsfeindliche 
Neigungen zur Entwicklung gelangen, die sie ohne rechtzeitiges Ein- 
greifen fast ausnahmslos dem Verbrechen, dem Landstreichertum, der 
Prostitution in die Arme treiben oder dem Irrsinn anheimfallen lassen. 
Wissenschaftlich bezeichnet man diese Zustände als psychopathische 
Konstitutionen.« 

Wir müssen ausdrücklich und des bestimmtesten betonen, daß 
wir bei unseren Zöglingen neben diesen von Ziehen angedeuteten 
krankhaften Erscheinungen im Gefühls- und Willensleben fast immer 





noch zwei komplizierende Momente finden: die schwache Begabung 
und das unklare Wesen. 

Wir wiederholen, daß der von uns sogenannte praktische Schwach- 
sinn auch dann vorhanden sein kann, wenn die Prüfung der Schul- 
kenntnisse ein relativ günstiges Resultat zeitigt. 

Bezüglich des unklaren Wesens sei noch einmal hervorgehoben, 
daß wir behaupten, dasselbe bestehe gleichzeitig neben den genauer er- 
kennbaren Defekten im Gefühls- und Willensleben, wie man sie als Sym- 
ptome einer psychopathischen Konstitution ähnlich Ziehen zusammen- 
faßt. Wir würden nicht zugeben, daß dieser charakteristische Ge- 
samtzustand, den wir unklares Wesen genannt haben, etwa nur allein 
eine Folgeerscheinung oder ein Zustandsbild der genauer erkennbaren 
Einzeldefekte sei. Das ist schon deshalb nicht möglich, weil man das 
unklare Wesen auch dann konstatieren kann, wenn es nicht möglich 
ist, bestimmte und gleichbleibende Defekte im Gefühls- und Willens- 
leben zu erkennen. Wir könnten zum Vergleich jene unerquicklichen 
Zustände heranziehen, die wohl fast jeder zur Zeit der jugendlichen 
Gärung, während der Pubertätszeit, an sich selbst erlebt hat. Der 
Unterschied zwischen dem unklaren Wesen und jener ungeklärten Zu- 
stände ist neben der Verschiedenheit der Stärkegrade vor allem freilich 
der, daß die jugendliche Gärung mit der erreichten Pubertät bald ver- 
schwindet. 

Mit dieser bescheidenen Bezeichnung »unklares Wesen« können 
wir zur Not praktisch auskommen, um ein die Erziehung erschwerendes 
Moment hinreichend anzudeuten. Wir sind dann genötigt, in jedem 
Einzelfalle ein ausführliches Bild aller uns aufgefallenen seelischen 
Störungen einzeln zu entwerfen. Diese Nötigung erscheint uns bei 
der auch unter den Psychiatern so schwankend gehandhabten Termino- 
logie doppelt wünschenswert für die Pädagogen. Es will uns zudem 
scheinen, daß weder mit der psychopathischen Konstitution noch mit 
der dementia praecox klinische Einheiten, sondern nur Krankheits- 
gruppen gemeint sein können. Jedenfalls handelt es sich nicht um 
Endzustände eindeutig bestimmter Krankheitsformen, sondern vielmehr 
um bloße Gegenwarts- oder Zustandsbilder, die sich, wenn wir die 
Literatur recht verstehen, sogar häufig in eine nicht erwartete, 
klassische Geisteskrankheit erst viel später verwandeln. 

Wenn wir also die Summe jener schleichenden, nicht immer sehr 
auffälligen krankhaften seelischen Erscheinungen, welche ja noch die 
differentesten Geisteskrankheiten einleiten können, durch den Päda- 
gogen am liebsten mit dem unverbindlichen Ausdruck »unklares 
Wesens bezeichnet wissen möchten, so geschieht dies aus rein prakti- 


124 A. Abhandlungen. 





schen Gründen. Wir fördern so am ehesten das Zustandekommen 
einer großen Zahl einzelner Beobachtungsbilder, einer eingehenden, 
abgrenzenden Kasuistik. Diese Kleinarbeit erscheint uns vorläufig 
das Notwendigste zu sein. — 

Das unklare Wesen stellt somit nach unserer Meinung einen 
spezifischen Gesamtzustand dar. Die Anerkenntnis dieser Tatsache ist 
für die Zwecke der Erziehung von größter Bedeutung. Der Erzieher 
hat es eben nie z. B. mit einem Affektausbruch schlechthin zu tun, 
sondern immer mit dem Affektausbruch bei seinem ganz bestimmten 
Jögling X. Die experimentierenden Wissenschaften mit ihren rein 
analytischen Methoden haben weder zu einer solchen genetischen Be- 
trachtung noch zum synthetischen Verfahren direkt einen Anlaß. Das 
praktische Geschäft der Erziehung aber bedarf stets der Synthesis. — 

Aus allem, was bisher zur Charakterisierung unserer Zöglinge 
gesagt wurde, erhellt zur Genüge ihre Schwererziehbarkeit. Der Sinn 
des Wortes schwererziehbar ist allgemein verständlich; dennoch möchte 
ich mich auch mit diesem Begriff in Hinsicht auf das unklare Wesen 
noch mit zwei Worten beschäftigen. Wenn ich einen Defekt auf 
irgend einem bestimmten Gebiet des Seelenlebens klar erkannt habe, 
dann ist es so schwer nicht, entsprechende Erziehungsmittel zu finden 
oder aber die Grenzen der Erziehungsmöglichkeit festzustellen. Anders 
aber verhält es sich, wenn ich ein unklares Wesen mit einer weit- 
gehenden Dissoziation vorfinde. Dann ist die weit schwerere Aufgabe 
die, zwischen den fast getrennt und zueinander unabhängig sich aus- 
lebenden psychischen Funktionen wirksame Beziehungen zu schaffen, 
sie zu determinieren. — Die Tatsache, daß die Beziehungen zwischen 
der intellektuellen und der ethisch-moralischen Entwicklung auch beim 
normalen Kinde bis jetzt kaum Gegenstand der wissenschaftlichen 
Untersuchung gewesen sind, verrät neben anderm genügend die 
Schwierigkeit dieser Materie überhaupt. 

Bevor wir dazu übergehen, von unseren Erziehungsmitteln einiges 
zu sagen, müssen wir uns über das Ziel unseres Erziehungsversuches 
klar werden. Ich will versuchen, etwas ungemein Wichtiges mit ein- 
fachen Worten zu sagen: unser Ziel ist, unsere Zöglinge sozial brauch- 
bar zu machen. 

Der Begriff der sozialen Brauchbarkeit hat weite Grenzen. Ich 
habe mehr darüber mich zu verwundern Anlaß gehabt, wie wenig es 
braucht, um einigermaßen von der Gesellschaft geduldet zu werden, 
als über das Gegenteil. Unsere Erfahrungen mit der Unterbringung 
der Zöglinge, der Verkehr mit den Untergebrachten, ihren Meistern 
und Arbeitgebern, mit jungen Leuten, die nicht in einer Erziehungs- 


Hanselmann: Die Arbeitslehrkolonie und Beobachtungsanstalt Steinmühle. 125 





anstalt waren und so weiter haben uns zuversichtlicher zu stimmen 
vermocht, als viele Erfahrungen im internen Anstaltsleben. Bei der 
Erörterung der Frage der schwachen Begabung sprachen wir davon, daß 
sich ein Minimum betreffend die theoretische Intelligenz, die unum- 
gänglich notwendig ist, aufstellen ließe und, daß dieses Minimum recht 
klein sei. Diesen Begriff des notwendigen Minimum möchten wir 
verallgemeinern und sagen: es gibt hinsichtlich der gesamten psychi- 
schen Anlage und deren Entwicklung ein Minimum, welche die soziale 
Brauchbarkeit dessen einigermaßen garantiert, der es erreicht. 

Durch die Aufstellung der Forderung: Erziehung zu sozialer 
Brauchbarkeit haben wir unser Erziehungsziel nun aber nur nach 
unten abgegrenzt. Eine obere Grenze festzulegen ist unseres Er- 
achtens weder möglich, noch notwendig, Daß wir in jedem Falle 
und mit jedem Zögling mehr anstreben als eben dieses Minimum, 
wollen wir aber ausdrücklich erwähnen, um Mißverständnissen vorzu- 
beugen. Wir dürfen in aller Bescheidenheit behaupten, daß wir alles 
nach bestem Wissen und Können und mit aller Kraft tun, um mehr 
als diese untere Grenze zu erreichen. 

Die Feststellung der unteren Grenze des Erziehungszieles hat 
nun wichtige Konsequenzen. Erstens sind wir durch das Streben 
nach einer solchen Feststellung in der Lage, darüber ein Urteil zu 
finden, ob ein Zögling überhaupt sozial brauchbar werden wird; das 
heißt, wir können mit einiger Wahrscheinlichkeit die Grenze der Er- 
ziehungsmöglichkeit erkennen. Wir werden weiter unten hören, von 
welch großer Wichtigkeit eine derartige Feststellung ist und welche 
Tragweite sie hat. 

Die zweite Konsequenz ist eine neue Einstellung bezüglich der 
Erziehung von Menschen, wie wir sie eingangs zu charakterisieren 
versuchten. Wir müssen bescheiden werden und lernen, das Unmög- 
liche nicht zu wollen. Wir gewinnen damit Zeit und Kraft für das 
Mögliche. Es ist besser, sich zu der harten Wahrheit zu bekennen, 
daß unsere Erziehungsmittel in einzelnen Fällen versagen und andere, 
bessere wir nicht kennen, es ist besser, die Tatsache einer Grenze 
der Erziehungsmöglichkeit zuzugeben, als seine Kraft und Gesundheit 
in dem Wahne zu verschwenden, daß endlich einmal jeder Zögling 
zu retten und zu erlösen sei. Gerade diese verkehrte Einstellung 
zeitigte schon da und dort einen heiligen aber wütigen Eifer, der zu 
schweren Mißgriffen geführt und der Sache viel geschadet hat. — 

Wir haben nun unser Erziehungsziel genannt und gehen jetzt 
dazu über, von unseren Erziehungsmitteln und ihren Voraussetzungen 
einiges zu sagen. 


126 A. Abhandlungen. 





Als oberster Grundsatz alles Unterrichts gilt das Prinzip der 
Anschaulichkeit; wir möchten diesen Grundsatz auch für die Erziehung 
in Anspruch nehmen und obenan stellen. Wir fordern daher als 
Erstes: alle Erziehung sei anschaulich. Der Zögling muß wissen, was 
wir mit ihm wollen; er muß es auch wissen, nicht nur wir. Unsere 
Anstalt muß daher so eingerichtet sein, daß wir ihm unsere Absicht 
mit ihm jederzeit deutlich zeigen. veranschaulichen können. 

Nun stellen sich uns aber bei diesem Streben nach Anschaulich- 
keit große Hindernisse in den Weg. Sie liegen in der schwachen 
Begabung, in dem unklaren Wesen und in den damit meist ver- 
bundenen, erkennbaren krankhaften Erscheinungen im Gefühls- und 
Willensleben. Indem wir nun versuchen, auf diese Hindernisse die 
gebührende Rücksicht zu nehmen, geben wir dem Begriff der An- 
schaulichkeit eine neue Wendung. Wir sagen: alle Erziehung muß 
der besonderen Anlage gemäß, entsprechend, adäquat sein. Diese auf 
den ersten Anschein so altmodische Forderung hat unerbittlich not- 
wendige Konsequenzen hinsichtlich der Einrichtung der Anstalt. Wir 
wollen versuchen, klar zu machen, wie wir ihnen gerecht werden 
können. 

Wenn uns ein Junge gebracht wird, so wird er in eine offene 
Abteilung des Handwerks oder der Landwirtschaft eingestellt. Wir 
greifen nur in den seltensten Fällen und wenn es die Vorgeschichte 
unbedingt notwendig erscheinen läßt, zu einer andern Maßnahme. 
Dort in der offenen Anstalt wird versucht, ihm die Wege zu zeigen, 
die er gehen kann. Und solcher Wege sind für ihn zwei. Der eine 
führt nach nicht allzulanger Zeit wieder hinaus in die große Welt, 
in eine Lehr- oder Arbeitsstelle. Der andere Weg heißt: in der An- 
stalt bleiben. Wir gewähren zu seiner Entscheidung, welchen Weg 
er gehen will, eine durchschnittliche Frist von neun Monaten. Nach 
Ablauf derselben müssen drei Bedingungen sicher erfüllt sein. Zwei 
davon liegen bei dem Zögling selbst: er muß sich im großen und 
ganzen ordentlich und kameradschaftlich betragen und zweitens in der 
von ihm gewählten Arbeitsgattung etwas gelernt und geleistet haben. 
Die dritte Bedingung liegt nicht direkt bei ihm: wir müssen einen 
geeigneten Meister oder Arbeitgeber für ihn gefunden haben. 

An diese drei Bedingungen erinnern wir unseren Jungen jeden 
Tag und immer noch besonders dann, wenn sein Verhalten irgendwie 
zu der Befürchtung Anlaß gibt, daß er die nur bei ihm liegenden 
Bedingungen in dieser Frist nicht erfüllen könnte. Sind aber alle 
drei Bedingungen erfüllt, dann geschieht die Unterbringung so sicher, 
wie es Tag und Nacht wird. Und wir haben es so weit gebracht, 


Hanselmann: Die Arbeitslehrkolonie und Beobachtungsanstalt Steinmühle. 127 





daß uns auch die neuen Zöglinge schon nach wenigen Tagen glauben, 
weil die alten und an Sonntagnachmittagen auch die bereits draußen 
untergebrachten ihnen erzählen, daß wir Wort halten. Ohne dieses 
Vertrauen der Zöglinge wären wir freilich müßige Schwätzer, und wir 
würden es verlieren, wenn wir wagen wollten, es zu mißbrauchen. 

Auf der anderen Seite aber müssen wir so eingerichtet sein, daß 
wir unserer Rede, dem Versprechen, aber auch der Drohung den not- 
wendigen Nachdruck zu verschaffen vermögen. Wir müssen also den 
Jungen solange in der Anstalt behalten können, bis er die beiden bei 
ihm liegenden Bedingungen einigermaßen erfüllt hat. Wenn er mit 
den gewöhnlichen Erziehungsmitteln unserer offenen Abteilungen nicht 
so weit gefördert werden kann, dann müssen wir notwendig andere 
Mittel suchen, andere zur Verfügung haben. 

In vielen Erziehungsanstalten wird dem Zögling nun aber unter 
diesen Umständen einfach gedroht: dann muß ich dich eben fort in 
eine strengere Anstalt tun. Wir hatten diese Drohung früher leider 
auch etwa anwenden und in seltenen Fällen auch ausführen müssen. 
Jetzt aber werden wir ihm sagen, daß er solange bei uns in der An- 
stalt bleiben muß, bis er seine Bedingungen erfüllt hat und wir sind 
in der Lage ihn auch gegen seinen Willen tatsächlich in der Anstalt. 
zu behalten. — 

In diesem Zusammenhang möchte ich übrigens auf eine Tatsache 
aufmerksam machen, deren Kenntnis meines Erachtens recht wohl ge- 
eignet sein muß, davor zu bewahren, daß man einzelne amerikanische 
Anstaltseinrichtungen mit naiver Unbedenklichkeit auf unsere Ver- 
bältnisse überträgt oder gar einfach kopiert. Wir haben notwendig, 
das Verbleiben in der Anstalt dem Zögling wenn auch nicht als Strafe, 
so doch als einen Zustand hinzustellen, aus dem er sich mit aller 
Kraft selbst wieder herausarbeiten soll und muß. In der sogenannten 
Junior Republic der Amerikaner aber ist die höchste und letzte Strafe 
die Ausweisung eben aus der Anstalt. — 


Wir sagten vorhin, daß wir beim Versagen der alten bewährten 
Erziehungsmittel neue suchen müssen. Man merke nun aber wohl, 
daß damit ja nicht behauptet wird, daß diese neuen Erziehungsmittel 
nun etwa gleich das Gegenteil der alten sein müßten. Ja, es ist sogar 
recht wenig wahrscheinlich, daß zum Beispiel Strenge oder gar Ge- 
walt gewinnt, wo Milde verloren hatte. Die Mittel können auch in 
diesem Falle nicht wesensverschieden von den bereits vorgeschlagenen 
sein. Sie müssen wie diese der Anlage entsprechend, adäquat sein, 
sie müssen diese Eigenschaft der Adäquatheit unter allen Umständen 


128 A. Abhandlungen. 





und in ganz besonderem Maße besitzen. Diese Erziehung muß in- 
dividuell sein. 

Individualisieren ist nun aber immer nur bis zu einem gewissen 
Grade praktisch überhaupt möglich, sicher auch lange nicht immer in 
dem Maße wünschenswert, wie etwa behauptet wird. Ich möchte 
sagen, daß das letzte Ziel der Erziehung in unseren Anstalten eher 
nivellieren ist. Unsere Zöglinge sind zuviel Individuum, zu ausge- 
prägt, eigenartig und wir müssen versuchen auszugleichen, anzupassen 
und anzugleichen. 

Man erlebt es oft, daß in der Forderung, man müsse individuali- 
sieren, Zweck und Mittel verwechselt werden; das heißt, man hat ver- 
gessen, daß man immer nur zu einem ganz bestimmten Zweck und 
eine ganz bestimmte Zeit lang individualisieren soll und darf. Man 
hat verkannt, daß man Schaden stiftet, wenn man während der ganzen 
Dauer der Erziehung nur Rücksicht auf die Eigenart der Zöglinge 
nimmt, weil das Leben, in das wir den Zögling doch früher oder 
später wieder stellen müssen, nicht seine Eigenart, sondern das gerade 
Gegenteil, die Anpassung seiner Eigenart an Vieles, Objektives, Anders- 
artiges mit unerbittlicher Härte fordert. Die tägliche Mahnung: Du 
bist nicht allein auf der Welt! ist täglich und stündlich notwendig 
in unserer Erziehung, und wir setzen meist erklärend auch hinzu: 
Wärest Du allein, dann dürftest Du dies und das. 

So sagen wir es noch einmal: wir wollen und dürfen nur in- 
dividualisieren in unserer Anstalt, wenn wir auch die Gelegenheit 
und das stets bewußte Bestreben zu dem Versuche haben, nivellieren 
zu können. 

Die Gelegenheit zu eingehendster Individualisierung nun ist uns 
geboten in der Beobachtungsabteilung. Schon aus diesem Grunde ist 
sie das Gegenteil einer strengen Anstalt. Hier ist manches erlaubt, 
was in der offenen Abteilung nicht geduldet werden kann. Liegt das 
Bedürfnis vor, so ist es möglich, einen Zögling so zu halten und zu 
behandeln, als wäre diese Abteilung eigens nur für ihn da, als wäre 
er allein auf der Welt, um im vorher angedeuteten Bilde zu bleiben. 

Es wäre geradezu unsinnig, zu erwarten, daß ein Zögling, für 
den die Hausordnung der offenen Abteilung schon zu eng war, in 
einer strengeren Hausordnung sich dann zurecht finden würde. Es 
liegt durchaus im Interesse der Beobachtung, daß uns der Zögling 
seine Anlage vorlebt, damit wir ein genaues Bild von ihr erhalten 
und auf Grund dieses Bildes die Grenzen der Erziehungsmöglichkeit 
mit einiger Wahrscheinlichkeit feststellen können. Man sieht den 
Unterschied des Begriffes »beobachten« als Terminus gegenüber jenem 


Hanselmann: Die Arbeitslehrkolonie und Beobachtungsanstalt Steinmühle. 129 





andern Sinn des Wortes »beobachten«, der schon lange erkannt ist. 
Keine Erziehung nämlich ist möglich, ohne Beobachtung der Wirkung 
einer versuchten Beeinflussung. 

Beobachten als Terminus verlangt aber einmal: den Zögling 
machen lassen, »sich ausleben« lassen, Hieraus erhellt, daß die Be- 
obachtungsabteilung erstens durchaus freien Charakter hat, zweitens 
muß sie klein sein. Wir haben angenommen, daß bei einer Gesamt- 
zahl von rund 80 Zöglingen diese Abteilung 15 Plätze haben soll. 
Natürlich schließt die Forderung, daß sie klein sei, die andere nicht 
aus, daß sie zur freien Bewegung genügend Raum hat. 

Wir wollen aber in der Beobachtungsabteilung zweifellos nicht 
nur beobachten. Wir kommen damit zu einer Frage, die mir die be- 
deutsamste von allen Fragen zu sein scheint, die bezüglich der Psycho- 
pathen, ihrer Erziehung und ihrer Versorgung gestellt werden können. 
Nach manchen Äußerungen der Psychiater möchte man meinen, daß 
deren Antwort eine prinzipiell andere sei, als die, welche die Päda- 
gogen geben müssen. Die Beobachtung im vorerwähnten engeren 
Sinne ist vom erzieherischen Standpunkt aus nie nur Selbstzweck, 
sondern immer nur ein Mittel zu einem Zweck, zum Zwecke eben der 
Erziehung. Wir beobachten also, indem wir versuchen, zu erziehen. 
Diese Forderung ist durchaus eine prinzipielle Stellungnahme. Wollten 
wir in der Beobachtungsabteilung nur die Anlage kennen lernen, nur 
beobachten, dann müßte die Einrichtung zum Teil eine andere sein 
und wir würden wahrscheinlich ein Laboratorium für experimentelle 
Psychopathologie schaffen. Die notwendige Konsequenz wäre weiter, 
daß dabei die Zielstellung eine experimentell-wissenschaftliche sei. 
Damit fiele auch weg jegliche ethische oder soziologische Wertung 
dessen, was beobachtet wird, solche Wertungen haben für die experi- 
mentelle Psychologie gar keinen Sinn, wenn sie nicht selbst etwa 
Objekt der Untersuchung sind. In streng wissenschaftlicher Hinsicht 
ist jede Reaktion, jede Assoziation, kurz jeder psychische Inhalt als 
soleher genau gleichviel wer. Wenn ich von einem Zögling den 
Gruß verlange und er verweigert ihn, so ist das, psychologisch ge- 
wertet, genau soviel, als wenn er ihn erwidert. Beidemale handelt 
es sich um Reaktionen. 

Ohne daß ich weiter hierauf eingehe oder Beispiele sage, wird 
man einsehen, wie weittragend die erwähnte Konsequenz ist. 

Wenn also die Beobachtung für uns nicht ausschließlich die 
Wissenschaft zum Zweck haben kann, so bleibt nur noch der Zweck 
der Erziehung. Denn wenige werden sich mit jener bequemen Lösung 
der Psychopathenfrage, d. h. der Frage nach der zukünftigen Unter- 

Zeitschrift für Kinderforschung. 21. Jahrgang. 9 


130 A. Abhandlungen. 





bringung der Psychopatben, abfinden können, welche einer bloßen 
Bewahrung und Verpflegung gleichkommt. Wir wiederholen noch 
einmal: wir beobachten, indem wir versuchen zu erziehen. 

Von der Beobachtungsabteilung ist nun weiter noch zu sagen, 
daß sie eine geschlossene Abteilung sein muß. Zwar wird diese 
Forderung gelegentlich wohl angefochten, weil falsch verstanden. 
Man sagt, es sei ein Widerspruch in sich, in einer geschlossenen Ab- 
teilung beobachten zu wollen. Wir können diesen Widerspruch nicht 
recht einsehen, machen aber erstens dagegen geltend, daß wir unter 
dem Geschlossensein nicht ein Zellensystem verstehen, sondern eine 
nur nach außen abgeschlossene Abteilung. In vielem gleicht ihre 
Einrichtung einer Wachstation der Irrenanstalt. Sie kann in sich 
volle Bewegungsfreiheit in Haus und Garten eventuell gewähren und 
hat zur Wahrung ihrer Einheitlichkeit auch eigene Verpflegungsräume. 

Zweitens müssen wir entgegnen, daß der Abschluß nach außen 
aus nicht zu unterschätzenden praktischen Gründen gerechtfertigt 
erscheint. Wenn wir hier versuchen zu erziehen, das heißt durch 
bestimmte Einwirkungen bestimmte Reaktionen erzielen wollen, so 
dürfte bei vielen dieser Zöglinge die einzige überhaupt auslösbare 
Reaktion die Entweichung sein. Wenn aber ein Zögling nicht an- 
wesend ist, kann ich ihn wohl am wenigsten beobachten. Man ver- 
stehe uns recht. Der Verdacht einer Entweichung allein würde uns 
nie veranlassen, den Zögling einzuschließen. Im Gegenteil, wir haben 
viele gerade dadurch zu halten vermocht, daß wir sie auf die Tag 
und Nacht offenstehenden Türen ausdrücklich aufmerksam gemacht 
haben. 

Hier ist aber noch ein anderer Gesichtspunkt mitbestimmend. 
Gerade unter denjenigen Zöglingen, bei denen eine Beobachtung 
wünschenswert oder notwendig wird, finden sich mit der krankhaften 
seelischen Verfassung häufig kriminelle Tendenzen derartig verknüpft, 
daß der Schutz der Gesellschaft und nicht die Rücksichtnahme auf 
das Individuum vorläufig die erste Forderung ist. 

Nur selten aber wird es möglich sein, innerhalb kurzer Zeit die 
Frage mit wünschenswerter Exaktheit zu entscheiden, ob eine dauernde 
soziale Unbrauchbarkeit vorliegt. Vielmehr ist zu einer so wichtigen 
Entscheidung eine ziemlich langwierige Beobachtungszeit notwendig. 

Anderseits müssen wir freilich mit Nachdruck verlangen, daß 
man uns dann diese Elemente unter allen Umständen abnimmt, wenn 
der Zeitpunkt für eine derartige Entscheidung gekommen ist. Es liegt 
entschieden im Interesse des Erziehungsversuches mit den anderen 
Zöglingen dieser Abteilung, daß wir diese nach bestmöglichem Wissen 


Hanselmann: Die Arbeitslehrkolonie und Beobachtungsanstalt Steinmühle. 131 





voraussichtlich dauernd sozial Unbrauchbaren nicht bis zu ihrer Voll- 
jährigkeit mitschleppen müssen. Sie gehören ja auch nicht mehr zu 
uns, da sie nicht erzogen werden können, und wir sind weder eine 
Bewahr- noch eine Pflegeanstalt, sondern auch unsere Beobachtungs- 
abteilung steht mitten in der Erziehungsanstalt. 

Wenn auch die Frage der Versorgung dieser Elemente nicht 
mehr durch den Pädagogen beantwortet zu werden braucht, so sei 
mir doch noch ein Wort hierüber gestattet. Man wird sie bewahren 
müssen aus Rücksicht auf die Gesellschaft und zum Schutze ihrer 
eigenen Person. Eine solche Bewahranstalt könnte man nach unserer 
Meinung am ehesten eine Zwischenanstalt nennen. Darin liegt die 
Andeutung, daß sie zwischen der Irrenanstalt und dem Arbeitshaus 
stehen und bezüglich ihrer innern Organisation von beiden etwas haben 
muß, vielleicht ist sie eine Heilanstalt mit vorherrschender Arbeits- 
therapie. Inwieweit sich aber bei einer Häufung dieses schwierigen 
Materials eine derartige Anstalt praktisch durchführen läßt, bleibt 
zweifelhaft und nur die Erfahrung kann eine sichere Entscheidung 
bringen. 

Damit haben wir, ausgehend von dem Grundsatz, daß alle Er- 
ziehung anschaulich sein müsse, die erzieherische Organisation unserer 
Anstalt dargetan. Wir meinen, daß neben der Anschaulichkeit der- 
selben ein weiterer großer Vorzug die Möglichkeit zu sofortiger Ver- 
setzung und Verschiebung der Zöglinge sei. Wir können einen Zög- 
ling behalten, solange wir es für notwendig erachten. Das ist für 
ihn von großer Bedeutung, er bleibt möglichst lange unter einer 
Leitung, unter einer pädagogischen Direktive. Würde er zum Beispiel 
wegen »schlechterer Führung« usw. einfach einer anderen Anstalt zu- 
geführt, so sind mindestens zwei Nachteile damit sicher verbunden. 
Erstens kennt man den Zögling in der neuen Anstalt dann wieder 
nicht und bis man ihn kennen gelernt hat, geht wertvolle Zeit ver- 
loren; ganz abgesehen davon, daß die Versetzung in eine andere An- 
stalt nie mit der aus Gründen der Anschaulichkeit notwendigen 
Promptheit geschieht. Zweitens liegt die Gefahr nahe, daß dieser 
anderen Anstalt nur die schlechten Zöglinge zugeführt werden, so daß 
eine derartige Zusammenstellung von nur Schwererziehbaren kaum 
noch in erster Linie erzieherisch behandelt werden kann. Die dort 
notwendig werdende straffe Disziplinierung würde die besten Er- 
ziehungsmittel unverwendbar machen. 

Hierin liegt auch der Grund dafür, daß wir die Errichtung einer 
Beobachtungsanstalt in dem bisher genannten Sinne für sich allein 
unbedingt ablehnen müssen. Das »Beobachtungshaus«, das als erste 

9* 


132 A. Abhandlungen. 





Sichtungs- und Siebungsgelegenheit etwa von größeren Kommunal- 
verbänden für sämtliche zur Fürsorgeerziehung unterzubringenden 
Kinder geplant wird, dient natürlich anderen Zwecken, als unsere Be- 
obachtungsabteilung. Ein solches Beobachtungshaus kann räumlich 
sehr wohl für sich allein stehen, da es ja sachlich im engsten Zu- 
sammenhang mit allen andern Anstalten (Schul-, Erziehungs-Pflege- 
anstalten und noch andern) ist. — — 

In diesem Zusammenhang wollen wir endlich noch auf eine un- 
umgängliche Folgerung aus dem von uns immer wieder betonten 
Prinzip der Anschaulichkeit aller Erziehung hinweisen. Wir ver- 
langen nichts Geringeres, als Überweisung des Zöglings in unsere 
Hände auf unbestimmte Zeit. Wenn wir nun vorhin sagten, daß wir 
den Zögling am liebsten solange behalten, als wir überhaupt dürfen, 
nämlich bis zur Volljährigkeit, so meinen wir damit natürlich nicht, 
daß er solange in der internen Anstalt bleiben solle. Wir rechnen 
es uns im Gegenteil zur besondern Pflicht an, dafür zu sorgen, daß 
er keinen Tag länger in der Anstalt bleiben muß, als er es unbedingt 
notwendig hat. 

Aber er soll auch unter uns und bei uns bleiben, wenn wir ihn 
wieder an das »freie« Leben abgeben; denn er hat auch dann noch 
oder dann erst recht unsere Hilfe nötig. Wir sind so sehr von der 
großen Bedeutung, von der Notwendigkeit der Unterbringung der 
voraussichtlich sozial brauchbaren Zöglinge und der Pflege dieser 
Untergebrachten durch uns selbst überzeugt, daß wir für diese unsere 
schwere Arbeit auch einen besondern Namen unter uns haben. Wir 
nennen dieses Arbeitsfeld die externe Arbeitslehrkolonie. Wir haben 
einen besondern Beamten eigens angestellt, dessen Aufgabe eine 
doppelte ist. Indem er die Untergebrachten in ihren kleinen und 
großen Nöten pflegt, wird er zum eigentlichen Berufsfürsorger. Seine 
andere Aufgabe besteht darin, die Meister und Aıbeitgeber zu be- 
lehren und zu beraten über das Besondere der Aufgabe gerade an 
ihrem Schützling. Wir bestreben uns aber weiter, durch Versamm- 
lungen und Vorträge usw. in und außerhalb der Anstalt die Meister 
und Arbeitgeber allmählich zu einer bewußt für uns arbeitenden Ge- 
meinde zusammenzuschließen. 

Mit diesen wenigen Worten haben wir eine Fülle von Arbeit, 
verborgener und sorgenreicher Arbeit, nur angedeutet. Nehmen wir 
sie jedoch nicht auf uns, dann haben wir unsere Aufgabe an den 
Zöglingen kaum halb getan. (Schluß folgt.) 


Carrie: Sonderklassen für sprachkranke Schulkinder. 133 


4. Sonderklassen für sprachkranke Schulkinder. 


Von 
W. Carrie, Hamburg. 


Die Oberschulbehörde in Hamburg hat im Jahre 1912 für 
solche Kinder, die in erheblichem Maße mit Sprachgebrechen (Stottern, 
Stammeln, Lispeln, Näseln, Hörstummheit, Agrammatismus usw.) be- 
haftet sind, in ähnlicher Weise, wie das bereits früher hier für die 
schwerhörigen Kinder geschehen ist, einen gesonderten Schulunter- 
richt eingerichtet, der nach dem allgemeinen Lehrplan der Volks- 
schule erteilt wird, aber zugleich in individualisierender heilpäda- 
gogischer Behandlung der einzelnen Schüler auf systematische Be- 
kämpfung des Leidens gerichtet ist. Die Therapie geht in diesen 
Klassen mit dem lehrplanmäßigen Unterrichte Hand in Hand. In der 
Regel sollen die Kinder bis zu zwei Jahren in diesen Klassen ver- 
bleiben und dann nach erfolgter Heilung wieder den Normalklassen 
zugeführt werden. Die Zeitdauer, welche die Heilung in den einzelnen 
Fällen beansprucht, ist natürlich verschieden; einzelne Kinder konnten 
schon nach einem halben Jahre als geheilt zurückgeschult werden; 
die Mehrzahl der Schüler aber bedurfte 11/,—2 Jahre, bis ihre Sprache 
als einwandfrei erklärt werden konnte. Die mit rein peripheren 
Sprachgebrechen behafteten Schüler bedurften nur einer verhältnis- 
mäßig kurzen Behandlungszeit, bis ihr Leiden restlos verschwunden 
war; ein halbes Jahr genügte in den allermeisten Fällen. Am hart- 
näckigsten in der Bekämpfung zeigten sich natürlich die wirklichen 
Sprachkrankheiten zentraler Natur, namentlich die schwersten Fälle 
des Stotterns. Ich teile nicht den Standpunkt des Spezialarztes für 
Sprachgebrechen Dr. Abt, der vor Jahren auf einer Ärzteversamm- 
lung in Breslau erklärte, daß das Stottern überhaupt nicht restlos zu 
beseitigen sei, sondern nur zu bessern. Wer aber äls Lehrer jahre- 
lang vor einer Sonderklasse sprachkranker Schüler gestanden hat, 
wird bald zu der Überzeugung kommen, daß, wie das bisher fast 
überall noch geschieht, in privaten Kursen von wenigen Wochen und 
Monaten in der Regel keine dauernden Erfolge, sondern nur Schein- 
erfolge in der Bekämpfung‘ des Stotterns erzielt werden können. 
Elders, der bekannte Sprachtherapeut in Crefeld, schreibt in diesem 
Sinne:!) »Leider ist die falsche Meinung weit verbreitet, das Stottern 
könnte durch die Teilnahme an einem Lehrgang von einigen Wochen 
für immer beseitigt werden, und diese Meinung, die auf Unkenntnis 
der Ursache des Stotterns beruht, wird von Sprachheilanstalten und 


1) Vergl. Eiders, Heilung des Stotterns. 


134 A. Abhandlungen. 





umherreisenden Stotterheillehrern gründlich ausgebeutet. Das Stottern 
rührt her von einer Funktionsstörung in den Sprachnerven, die durch 
stimmtechnische Übungen bekämpft, aber nicht völlig beseitigt werden 
kann; demnach ist der Stotterer wie die Schauspieler und Sänger ge- 
zwungen, sein ganzes Leben hindurch täglich Stimmübungen auszu- 
führen und zwar wenigstens 10—15 Minuten, damit die Fertigkeit 
der Sprachnerven und Sprachmuskeln bewahrt wird. In einem Lehr- 
gang kann nur die Übungsweise erlernt, aber kein dauernder Heil- 
erfolg erzielt werden.«e Das rein mechanische Sprechen läßt sich in 
manchen Fällen in den Kursen einigermaßen fließend gestalten, da 
die Schüler unter Anwendung von Einsicht und Energie gelernt 
haben, das Übel zu unterdrücken; die krankhafte Beschaffenheit der 
Nervenbahnen besteht aber nach wie vor. Solange aber der Schüler 
noch mit Einsicht und Energie das Übel unterdrücken muß, solange 
besteht auch die Funktionsstörung in den Sprachnerven weiter, und 
von einer Heilung kann noch lange keine Rede sein. Der Schüler 
hat nur gelernt zu verhindern, daß das Übel an den peripheren 
Stellen in die Erscheinung tritt; er ist immer noch ein innerlicher 
Stotterer. Sobald der Schüler dann außerhalb des Kursus das Sprechen 
mit dem Denken in Koordination bringen will, namentlich wenn mit 
dem Sprechen ein Wechsel der Gemütslage verbunden ist, oder irgend 
eine körperliche Indisposition hinzutritt, reicht seine psychische Kraft 
in der Beherrrschung der Sprachnerven nicht mehr aus, und das 
Übel tritt dann oft gleich wieder in der ursprünglichen Heftigkeit 
in die Erscheinung. Im Kursus war es nur scheinbar verschwunden, 
aber es war bereits gelungen, die Sprache unter die Herrschaft des 
Willens zu bringen. Es ist nämlich durchaus kein seltener Fall, daß 
Leute von großer Energie nach einiger Übung in der Lage sind, ihre 
Sprache so vollständig zu beherrschen, daß der Laie von ihrem Übel 
gar nichts merkt. Der Spracharzt und der erfahrene Sprachheillehrer 
werden in solchen Fällen aber gleich feststellen können, daß hier 
eine Maschine mit gefährlichem Überdruck an der Überwindung 
innerer Schwierigkeiten arbeitet. Vor längerer Zeit wurde mir von 
dem Rektor einer Hamburger Volksschule eine hochbegabte, aber 
sehr stark stotternde Schülerin aus der obersten Klasse (Selekta) mit 
der Bitte zugeführt, diese in meinen Heilkursus aufzunehmen. Die 
Schülerin litt offensichtlich stark unter ihrem Übel; sie war nicht 
imstande, auch nur die allereinfachsten Sätze ohne Anstoßen zu 
sprechen; fast nach jedem Worte saß sie fest. Ich nahm mich dieser 
Schülerin, die bereits nach einem halben Jahre ins Berufsleben ein- 
treten sollte, ganz besonders an und hatte auch die Freude, sie zu 


Carrie: Sonderklassen für sprachkranke Schulkinder. 135 





einem einigermaßen fließenden Sprechen zu bringen; seitens der 
Schule wurden meine Bemühungen in anerkennenswerter Weise unter- 
stützt. Die Schülerin beteiligte sich mit großem Eifer an den Übungen; 
die angeborene weibliche Eitelkeit, sowie die Sorge um ihr späteres 
Fortkommen im Berufsleben steigerten ihre Energie noch ganz be- 
sonders. Ihr Übel schien nach Beendigung des Kursus verschwunden 
zu Sein. Vor kurzem begegnete sie mir auf der Straße. Ich ließ 
mich absichtlich in ein Gespräch mit ihr ein, um feststellen zu können 
ob die Therapie auch von dauerndem Erfolg gewesen war. Die nun- 
mehr junge Dame sprach zu meiner lebhaften Freude auch ohne 
jegliches Anstoßen; dem geübten Auge des Fachmannes aber konnte 
es nicht entgehen, daß noch starke Reste des Sprachleidens zurück- 
geblieben waren. Sie hatte aber gelernt, das Stottern unter normalen 
Verhältnissen und im normalen Verkehr zu unterdrücken. Auf Be- 
fragen erklärte sie mir auch offen, daß sie auch heute noch unter 
täglichen Übungen mit Einsicht und Energie das Stottern bekämpfen 
müsse, aber es gelinge ihr. Nur am Telephon fühle sie sich noch 
durchaus unsicher; dort könne sie oft das Stottern nicht unterdrücken. 
Ich gab ihr den Rat, nach Möglichkeit sich recht oft telephonisch 
mit einer Freundin zu unterhalten, da in diesem Falle die psychi- 
schen Hemmungen, die das Stottern in die Erscheinung treten lassen, 
weniger stark zur Geltung kommen. Auf diese Weise wird sich all- 
mäblich das Gefühl der Sicherheit entwickeln, und es steht zu höffen, 
daß das junge Mädchen dann nach einiger Zeit auch fremden Personen 
gegenüber am Telephon Rede und Antwort stehen kann. Der krank- 
hafte Zustand der Sprachnerven, der die Neigung zum Stottern hervor- 
ruft, bestand in diesem Falle weiter, von einer völligen Heilung 
konnte also noch nicht die Rede sein, wenn auch das Stottern in 
der Umgangssprache für den Laien äußerlich kaum noch zu erkennen 
war. Coën nennt diesen für den Betreffenden äußerst peinlichen 
Zustand »inneres Stottern«. Solche Schüler aber, die auch nach Be- 
endigung eines Heilkursus die Bekämpfung ihres Leidens energisch 
unter Anwendung der erlernten Regeln in die Hand nehmen, sind 
äußerst selten, die meisten Absolventen der Heilkurse stottern nach 
kurzer Zeit genau so wie früher. Zahlreiche erwachsene Stotterer, 
sowie Lehrer, deren Schüler den Heilkursen zugewiesen wurden, 
haben mir dies bestätigt. Die falsche Ansicht, daß das Stottern in 
Kursen von wenigen Monaten restlos zu beseitigen sei, ist wohl zu- 
rückzuführen auf die früher weit verbreitete Annahme, daß das 
Stottern nur eine üble Angewohnheit sei, die man dem Schüler nur 
abzugewöhnen brauche. Mit dieser Ansicht ist leider viel Unheil 


136 A. Abhandlungen. 





angerichtet worden; die Strenge, die von seiten unverständiger Eltern 
und auch Lehrer in der Bekämpfung der vermeintlichen » Angewohn- 
heit« angewandt wurde, führte nur zu einer noch schwereren Schädi- 
gung der Sprechfunktion. Nachdem man aber jetzt erkannt hat, daß 
das Stottern eine mehr oder minder schwere Erkrankung zentraler 
Natur ist, die sich an den peripheren Stellen durch Eintreten von 
Krämpfen in der Atmungs-, Stimm- und Artikulationsmuskulatur zeigt, 
liegt es auf der Hand, daß es sich bei stotternden Kindern um durch- 
aus ernst zu nehmende Patienten handelt, deren heilpädagogische 
Behandlung mit gründlicher Sachkenntnis, großer Umsicht und Ge- 
duld in Angriff genommen werden muß, wenn Erfolge nicht aus- 
bleiben sollen. Nach Kußmauls grundlegendem Werk ist das Stottern 
eine »spastische Koordinationsneurose«, eine Ansicht, die auch von 
Professor Gutzmann bestätigt wird. Der letztere kommt in seiner 
Sprachheilkunde zu dem Schlusse: »Stottern ist eine unwillkürliche, 
krampfartige Muskelkontraktion in irgend einem der drei Gebiete des 
Sprechorganismus: Artikulation, Stimme, Atmung, oder in zweien von 
ihnen, oder auch in allen dreien zugleich. Daraus folgt auch: daß das 
Stottern ein zentrales Übel ist.« Außer diesen Krämpfen finden wir 
beim Stotterer noch eine Erscheinung, die auf die zentrale Natur des 
Leidens hinweist: die abnormen Mitbewegungen, die an sich mit der 
Funktion des Sprechens in gar keinem Zusammenhange stehen, die 
unwillkürlich in beim Sprechen ganz unbeteiligten Muskelgebieten 
auftreten. Nach ueueren Anschauungen soll das Stottern keine ein- 
heitliche, für sich bestehende Sprachstörung sein, sondern ein Sammel- 
begriff für verschiedene Erkrankungsformen der Sprache. Nach 
O. Maas lassen in vielen Fällen gewisse Symptome auch auf eine 
organische Veränderung im Bereich des Sprachzentrums schließen. 
Im voraus für alle sprachkranken Schüler die gleiche Zeitdauer für 
die erforderliche Therapie festzulegen, wie das bis jetzt in den Heil- 
kursen geschieht, ist deshalb auch eine ganz unsinnige Schablonisierung, 
die sich durch nichts rechtfertigen läßt, die auf völliger Unkenntnis 
von Ursache und Wesen des Stotterns beruht, das als eine nervöse 
Erkrankung ernsthafter Art zu betrachten ist. Was würde man bei- 
spielsweise wohl dazu sagen, wenn in einem Krankenhause einem 
Arzte am gleichen Tage eine bestimmte Anzahl nervenkranker und 
blutarmer Patienten mit der Aufgabe überwiesen würde, diese nach 
Ablauf einer bestimmten Frist zugleich als geheilt zu entlassen? 
Wie bei jeder Krankheit, so wird auch die Therapie der Sprachkrank- 
heiten — ich denke dabei nicht allein an Stottern — je nach dem 
Grade und der Art des Leidens von verschiedener Dauer sein müssen; 


Carrie: Sonderklassen für sprachkranke Schulkinder. 137 





ja, es darf nach obigen Ausführungen nicht überraschen, wenn sich 
auch hier besonders schwere und hartnäckige Erkrankungsformen 
finden, die sich nur bessern, aber nicht restlos beseitigen lassen. 
Jede Krankheit zeigt solche Fälle, die Sprachkrankheiten bilden keine 
Ausnahme. 

Über die Verbreitung des Stotterns bringt Albert Gutzmann 
einige recht interessante Angaben auf Grund von statistischen Er- 
hebungen, die in einzelnen Ländern, deutschen Bundesstaaten und 
Städten gemacht wurden. Daraus geht hervor, daß durchschnittlich 
mehr als 1°/, aller Schulkinder stottert, in Dresden sollen es sogar 
2°/, sein. Außerdem geht aus diesen statistischen Angaben die be- 
klagenswerte Tatsache hervor, daß das Stottern im Gegensatz zum 
Stammeln in der Schule noch zunimmt. In Berlin fand man bei- 
spielsweise trotz der dort bestehenden Heilkurse in den Ober- 
klassen dreimal soviel Stotterer als in den Unterklassen bei den 
Lernanfängern. In den Berliner Unterklassen stotterten 0,52 %/,, 
in den Oberklassen 1,62 °/,. Daraus könnte man den Schluß ziehen, 
daß durch die Schule die Entstehung des Stotterns ungemein be- 
günstigt wird. Die Möglichkeit hierfür ist auch nicht von der 
Hand zu weisen. Die psychische Ansteckung spielt ja, wie ich 
noch an anderer Stelle ausführen werde, bei der Verbreitung des 
Stotterns eine große Rolle. Jedoch glaube ich, daß auch K. C. Rothe, 
der Leiter der ersten Wiener Sprachheilklasse, Recht hat, wenn er 
in bezug auf diese Zahlen schreibt:!) »In diese Statistik wurde so- 
genanntes »schweres« Stottern aufgenommen, also Fälle, die dem 
Laien besonders auffallen, die er leicht und sicher diagnostizieren 
kann. Die vulgäre Unterscheidung in »leichte« und »schwere« Fälle 
ist aber unrichtig. Entweder stottern die Kinder oder sie stottern 
nicht. Das Stottern ist keine Krankheit, die mit einem Tage plötzlich 
voll ausbricht. Sie beginnt mit geringen, leicht zu übersehenden Er- 
scheinungen, besteht aber dann bereits, nur entwickelt sie sich 
in verschiedenen Stadien. Diese Anfangsstadien einfach auszuschalten, 
wäre so verfehlt, als wollte jemand die ersten Erscheinungen der 
Lues als eine »leichte« Form diagnostizieren. Aus der bei Gutz- 
mann angeführten Statistik erkenne ich — ohne damit das Auftreten 
neuer Fälle leugnen zu wollen — daß in den unteren Klassen die Zahl 
der Stotterer größer sein müßte als angegeben, daß unter den unter 
13—14 Jahren angeführten 1,62 °/, sich Kinder befanden, die schon 
in der Elementarklasse stotterten, deren Krankheit aber nicht erkannt 


1) K. C. Rothe, Sonderklassen für Sprachkranke. 


138 A. Abhandlungen. 





wurde. Wäre sie erkannt, behandelt und geheilt worden, dann wäre 
die Zahl der 13—14 jährigen Stotterer bedeutend geringer.« Die von 
Gutzmann gegebenen Zahlen über die Verbreitung und Zunahme 
des Stotterns im schulpflichtigen Alter erscheinen mir für Nord- 
deutschland etwas zu hoch gegriffen zu sein; ob dieses auf die geo- 
graphische Lage oder auf das Idiom der Sprache oder auf beide 
Umstände zurückzuführen ist, möchte ich dahingestellt sein lassen. 
Indessen betont auch Chervin, der in seiner Schrift »Statistique du 
B6gaiement« eingehende Erhebungen über die Verbreitung des Stotterns 
in Frankreich macht, daß das Stottern in weiter nördlich gelegenen 
Gegenden etwas weniger häufig auftritt. Immerhin aber ist die Zahl 
der stotternden Schulkinder bedeutend höher als gewöhnlich ange- 
nommen wird. Im 6. Heft des »Internationalen Zentralblattes für 
experimentelle Phonetik, Vox« 1913 liefert H. Zumsteg zahlreiche 
Daten über die Verbreitung des Stotterns und der Taubstummheit. 
Danach ist die Zahl der wegen Stotterns zum Militärdienst Untaug- 
lichen fast doppelt so groß wie die Zahl derer, die als Taubstumme 
untauglich erklärt wurden. Diese unerfreulichen Tatsachen zwingen 
uns notgedrungen die Pflicht auf, nach Mitteln und Wegen Umschau 
zu halten, das Stotterübel wirksamer zu bekämpfen, als es bisher 
durch die Heilkurse geschehen konnte. Die letzteren haben nur in 
den wenigen Fällen Zweck, in denen es sich um einsichtige 
Schüler handelt, die auch auf die Dauer die Willenskraft 
haben, an der Bekämpfung ihres Übels zu arbeiten und 
darin in sachverständiger Weise von Elternhaus und Schule 
unterstützt werden. Daß aber solche Fälle höchst seltener Art 
sind, daß sie zu den Ausnahmen gehören, liegt bei Volksschulkindern 
auf der Hand. Den Kindern fehlt es meist an Energie, dem Eltern- 
hause an Einsicht und der Schule an Zeit, die überaus mühevolle 
und zeitraubende Therapie mit Erfolg in Anwendung zu bringen, die 
manche Sprachstörungen nach Beendigung des Kursus und nach 
scheinbar erfolgter Heilung noch erfordern. Die Rückfälle und Miß- 
erfolge in den Heilkursen haben manche Städte veranlaßt, sogenannte 
Nach- oder Wiederholungskurse einzurichten, in denen die Kinder 
wöchentlich etwa eine Stunde einer Nachprüfung und Nachübung 
unterzogen werden. Ich bin mit Dr. Liebmann der Ansicht, daß 
derartige Kontrollen, für die doch nur wenig Zeit in Frage kommen 
kann, nur geringen Wert haben. Auch verliert der sprachkranke 
Schüler und noch mehr die Umgebung das Gefühl der Verantwortlich- 
keit, die erreichte Sprechfertigkeit weiter zu pflegen; dafür ist ja der 
Heillebrer da. Auch ein wiederholter Besuch der Hauptkurse hat 


Carrie: Sonderklassen für sprachkranke Schulkinder. 139 





wenig Zweck. Dr. Liebmann urteilt darüber wie folgt:!) »Ein Schüler, 
der in einem Unterrichtsfache das vorher gesteckte Ziel nicht er- 
reicht hat, wird im allgemeinen durch eine Wiederholung des Kursus 
mehr erreichen. Beim Stotterer ist es gerade umgekehrt. Je öfter 
dieser einen Kursus wiederholt, sei es bei demselben oder bei anderen 
Therapeuten, desto geringer ist seine Aussicht auf ein gutes Resultat.« 
Das Publikum schreibt dann die Schuld an Mißerfolgen meist stets 
dem Therapeuten zu, dabei vergessend, daß der Heillehrer nur die 
Übungsweise zeigen kann, der Stotterer sich aber selber heilen muß, 
die Heilung läßt sich nicht erkaufen. 

Die nach Beendigung der Kurse scheinbar geheilten Schüler 
werden mit der Aufgabe entlassen, auch fernerhin mit Bewußtsein 
und Konsequenz auf ihre Sprechtätigkeit zu achten. Die Lösung 
dieser Aufgabe aber erfordert einen festen Willen, den wohl er- 
wachsene Personen besitzen, der in Kindern aber erst angebahnt 
werden soll. Solange das normale Sprechen nicht zur bleibenden 
Gewohnheit geworden ist, bedarf darum auch ein Kind immer noch 
der Führung und Unterstützung. Eltern und Lehrern erwächst 
daraus die Pflicht, die aus den Heilkursen entlassenen Schüler hin- 
sichtlich ihrer Sprechtätigkeit in besondere Obhut zu nehmen. Fehlt 
diese aus irgend einem Grunde, so bleibt das Kind sich selbst über- 
lassen in der Überwachung seines Sprechens; nach längerer oder 
kürzerer Zeit tritt ein Sichgehenlassen ein, und der frühere Fehler 
zeigt sich erst schüchtern, dann aber bald stärker, bis sich schließlich 
das Übel in seiner alten Stärke wieder eingestellt hat. Ein anderer 
Übelstand der Kurse, die sich bekanntlich aus Schülern aller Alters- 
und Klassenstufen zusammensetzen, besteht darin, daß den Kindern 
bei den Sprechübungen nicht Stoffe geboten werden können, die alle 
gleichmäßig interessieren. Die Folge davon ist, daß der Unterricht 
dort vielfach für Lehrer und Schüler einen langweiligen Charakter an- 
nehmen muß. Auch nehmen die Schüler der Oberstufen oft Anstoß 
daran, daß sie in den Heilkursen mit Lernanfängern zusammensitzen 
müssen; daher kommen manche recht unregelmäßig zum Unterricht 
und bleiben schließlich den Kursen ganz fern; die angewandte Mühe 
und die entstandenen Kosten sind dann vergeblich aufgewandt. Ein 
Zwang zum regelmäßigen und dauernden Besuche der Kurse kann 
nicht ausgeübt werden, da die Teilnahme am Sprachheilunterricht in 
Kursen nicht obligatorisch gemacht werden kann. Auch vom ge- 
sundheitlichen Standpunkte läßt sich ein gewichtiger Grund gegen 


1) Dr. Albert Liebmann, Die psychische Behandlung der Sprachstörungen. 


140 A. Abhandlungen. 


die Einrichtung dieser Kurse ins Feld führen. Stotterer sind be- 
kanntlich alle mehr oder minder nervös. Blutarmut, Skrofulose und 
allgemeine Körperschwäche trifft man ebenfalls nur zu häufig bei 
ihnen an. Bei der letzten schulärztlichen Untersuchung der Schüler 
der Hamburger Sonderklassen für Sprachkranke erklärte der betreffende 
Schularzt, daß sämtliche Kinder dieser Klassen in gesundheitlicher 
Hinsicht als Überwachungskinder zu gelten hätten. Es leuchtet 
ein, daß es höchst bedenklich erscheinen muß, diese Kinder durch 
gesonderte Unterrichtsstunden an den Nachmittagen und Abenden 
noch mehr zu belasten. Ein fernerer Übelstand der Heilkurse be- 
steht darin, daß die Kursusarbeit mit dem Schulunterrichte nicht in 
dem notwendigen Zusammenhange steht. Der Lehrer im Kursus kann 
nicht kontrollieren, ob seine Schüler auch im Klassenunterrichte sich 
befleißigen, die erlernte Sprechweise anzuwenden. 

Der neuen Hamburger Schuleinrichtung ist mit Recht die Be- 
zeichnung »Sonderklassen für Sprachkranke« beigelegt, wodurch 
gezeigt werden soll, daß sie nicht lediglich für Stotterer, sondern für 
Sprachkranke jeder Art geschaffen sind. Gleichzeitig soll diese Be- 
zeichnung aber auch dartun, daß diese Sondereinrichtung nicht für 
Kinder mit leichten nur peripheren Sprachgebrechen bestimmt sin; 
derartige Sprachdefekte können schon durch einen guten auf phunetischer 
Grundlage erteilten Sprech- und Leseunterricht in den Normalschul- 
klassen beseitigt werden. Namentlich Stammler befinden sich in den 
Elementarklassen der Normalschulen in nicht geringer Zahl; die 
Sprachentwicklung reicht bekanntlich bei vielen Kindern bis weit in 
das schulpflichtige Alter hinein; wir alle sind einmal Stammler ge- 
wesen. Alle Kinder aber, die sich sprachlich langsam entwickeln, 
als Sprachkranke zu bezeichnen, wäre eine Entstellung und arge 
Übertreibung. Ihr Sprachdefekt verschwindet auch, wenn es sich 
nicht um eine wirkliche Sprachkrankheit handelt oder auf organische 
Fehler im Bau der Sprachorgane zurückzuführen ist, meistens von 
selbst. Dies beweist die Tatsache, daß sich schon in den Mittelklassen 
unserer Normalschulen und selbst in den Oberklassen der Hilfsschulen, 
wie ich auf Grund langjähriger Erfahrung feststellen kann, nur ver- 
hältnismäßig selten Kinder mit wesentlichen peripheren Sprachgebrechen 
befinden. Die Differenzierung würde viel zu weit gehen, wollte man 
auch solche Kinder den Sonderklassen für Sprachkranke überweisen. 
Die letzteren würden dann die ihnen beigelegte Bezeichnung nicht 
mehr mit Recht führen können. Die Lehrkräfte an den Hamburger 
Sonderklassen haben sich einer Prüfung in der Heilpädagogik, speziell 
in der Sprachheilkunde, zu unterziehen, die im Anschluß an die 


Carrie: Sonderklassen für sprachkranke Schulkinder. 141 





Prüfung für Mittelschullehrer abgelegt wird. Der Prüfungskommission 
gehören u. a. auch ein Nervenarzt und ein Spezialarzt für Sprach- 
gebrechen an. Der widerlichen Charlatanerie, die sich seit vielen 
Jahren gerade auf dem Gebiete der Sprachheilkunde zum Schaden 
von Publikum und Sprachkranken breit macht, wird durch diese Maß- 
nahme ein äußerst wirksamer Riegel vorgeschoben, und zugleich wird 
der Heilpädagogik dadurch auch offiziell die Bedeutung beigelegt, die 
ihr nach dem heutigen Stande der Wissenschaft schon längst gebührte. 
Der frühere langjährige Leiter der Hamburger Stottererkurse, 
Rektor Harbeck, stellte für die Einrichtung von Sonderklassen für 
stotternde Schüler folgende höchst beachtenswerte Forderungen auf: 
a) Der Stotterer bedarf in viel höherem Maße der inneren An- 
lehnung an seinen Lehrer als der Normalschüler. Die vielfachen 
Bloßstellungen, die ihm sein Übel — und nicht am wenigsten 
in der Schule — eingetragen hat, haben sein Selbstvertrauen 
stark geschwächt. Er zieht sich mehr oder minder scheu zurück. 
Das hilfsbereite, freundliche Entgegenkommen der Sprachheil- 
pädagogen ist daher geradezu Balsam für seine wunde Seele. 
Das Erwachen eines neuen Vertrauens ist für die Bekämpfung 
des Gebrechens überaus wichtig. Der Stotterer hat nur aus- 
nahmsweise organische Fehler. Ihm ist nur die Herrschaft über 
an sich normale Sprachwerkzeuge verloren gegangen. Vertrauen 
in die eigene Kraft, Vertrauen in jeder Form zu dem helfenden 
Lehrer ist eine wichtige Voraussetzung für einen erfolgreichen 
Kampf gegen das Übel. Daß in dieser Hinsicht der Lehrer in 
einer Schulklasse, die den gesamten Unterrichtsstoff vermittelt, 
viel mehr erreichen kann, als wenn er seine Schüler wöchent- 
lich nur viermal je eine Stunde unter Händen hat, ist ohne 
weiteres klar. 
Die Heilkurse nehmen vielfach — nicht aus Prinzip, sondern 
notgedrungen — Kinder recht verschiedenen Alters und von 
recht ungleicher geistiger Reife auf. Dadurch wird es dem 
Lehrer sehr erschwert, seine Schützlinge in den schulgemäßen 
Gebrauch der neu erworbenen oder noch zu erwerbenden Sprech- 
fertigkeit einzugewöhnen. Es ist offenbar ein großer Unter- 
schied, ob jemand nur Vorgesprochenes oder Auswendiggelerntes 
wiederholt, oder ob er auf einfachste, rein gedächtnismäßig zu 
beantwortende Fragen Antwort gibt, oder ob er, wie es der 
strenge Schulunterricht fordert, nicht nur Wörter zu bilden und 
aneinanderzureihen, sondern zuvor und zugleich deren geistigen 
Inhalt zu suchen und kritisch zu prüfen hat. In den Heil- 


b 


— 


142 A. Abhandlungen. 





kursen steht die rein physiologische Seite des Sprechens natur- 

gemäß im Vordergrunde. Und doch braucht der Stotterer seinen 

Sprachheillehrer nie nötiger, als wenn er auch schwierigeren 

Denkprozessen gerecht werden soll. 

c) Die eben so angedeutete Eigenart der Heilkurse, sich wesentlich 
auf die heiltechnischen Übungen zu beschränken, birgt die Ge- 
fahr einer gewissen, ermüdenden Einseitigkeit. Nicht jedem 
Lehrer wird es gelingen, unter diesen Umständen seinen Schülern 
die so sehr erwünschte Freudigkeit in der Mitarbeit dauernd 
zu erhalten. 

Eine etwaige Erhöhung der wöchentlichen Stundenzahl verbietet 
sich von selbst. Es darf nicht übersehen werden, daß die 
Kursisten täglich auch ihrer normalen Schulpflicht zu genügen 
haben. Die Kurse bedeuten eine Extra-Belastung für sie, für 
die vielen, die sich nicht einer normalen Körperkonstitution 
erfreuen, eine kaum zu rechtfertigende Überlastung. 
Gerade unter den Stotterern findet sich manches nervöse Kind, 
dem eine kräftige Ernährung und viel Bewegung im Freien vor 
allen Dingen not täte. Die übermäßige Inanspruchnahme 
während des Besuches der Heilkurse kann zu einem direkten 
Hindernis für den beabsichtigten Erfolg werden. 

e) Manche Eltern halten ihre sprachgebrechlichen Kinder tatsächlich 
den Kursen fern, weil sie eine Überanstrengung befürchten. 
Wieder andere halten sie zurück, weil die Kinder in den 
Nachmittagsstunden im eigenen Haushalt helfen oder auf Erwerb 
ausgehen sollen. 

Das ist das höchst beachtenswerte Urteil eines Sprachheilpäda- 
gogen, dem auf Grund seiner langjährigen Tätigkeit als Lehrer und 
späterhin als Leiter der Hamburger Sprachheilkurse eine gründliche 
Sachkenntnis sicherlich nicht abgesprochen werden kann. Besonders 
die unter a geforderte psychische Beeinflussung und Behandlung ist 
bei der Bekämpfung eines psychischen Leidens, dem Stottern, unerläß- 
lich, wird aber von den meisten Autoren viel zu wenig betont. 
Erst neuerdings hat der Berliner Spezialarzt für Sprachstörungen 
Dr. Liebmann mit Recht auf die Wichtigkeit und Unerläßlichkeit 
der psychischen Behandlung in der Bekämpfung von Sprachstörungen 
hingewiesen.!) Sie kann aus naheliegenden Gründen in den Heilkursen 
nicht hinreichend in Anwendung gebracht werden; hier muß viel- 
mehr die rein mechanische Seite der Behandlung vorzugsweise im 


d 


~ 





1) Dr. Liebmann, Die psychisehe Behandlung von Sprachstörungen. 


Carrie: Sonderklassen für sprachkranke Schulkinder. 143 





Vordergrunde stehen, die aber in der Hauptsache nur zu Schein- 
erfolgen führen kann. Von überall her tönen daher auch die Klagen, 
daß trotz der bestehenden Heilkurse das Stotterübel unter der Schul- 
jugend nicht abnehmen will. Noch vor einiger Zeit berichtete Elders 
in der »Zeitschrift für Kinderforschung!)«, daß ihm ein Kreisschul- 
inspektor mitgeteilt habe, die Kurse hätten nach seiner Erfahrung in 
seinem Inspektionsbezirk überhaupt keine Resultate gezeitigt; sie 
hätten sich als völlig zwecklos erwiesen. Derartige und ähnliche 
Urteile sind mir dutzendweise zu Ohren gegekommen. 

Da die Verbreitung des Stotterübels zum Teil auch auf psychischer 
Ansteckung beruht, ist schon aus rein prophylaktischen Gründen die 
Unterbringung stotternder Kinder in Sonderklassen zu fordern. Oft 
genügt es schon, daß ein Kind nur einen Tag oder selbst nur wenige 
Stunden eine stotternde Person um sich hat, um diesen auffallenden 
Fehler sofort mit großer Naturtreue nachzuahmen. Diese Nachahmung 
spielt auch in der Schule noch eine große Rolle. Professor Baginski 
forderte daher schon früher mit Recht, daß stotternde Kinder nach 
Möglichkeit nicht in die Gesellschaft anderer Kinder zu bringen sind, 
daß sie aus der Schule entfernt und besonders unterrichtet werden 
sollen, aus dem gewichtigen Grunde, weil sie für ihre gut sprechenden 
Mitschüler eine ständige Gefahr bilden. Dieselbe Forderung erhebt 
der bekannte Neurologe Dr. Emil Villiger in seinem höchst be- 
achtenswerten Werke über »Sprachentwicklung und Sprachstörungen 
beim Kinde«. Er sagt dort u. a.: »Wie sich das Stottern mit dem 
Eintritt in die Schule plötzlich mit Macht entwickeln kann, so ist 
auch erwiesen, daß das Leiden nur zu leicht durch Nachahmung 
bei andern Kindern auftreten kann. Und mit Rücksicht darauf wäre 
es sehr zu wünschen, daß stotternde Kinder aus der Schule ent- 
fernt und besonders unterrichtet würden, und das nicht allein des- 
halb, sondern auch in Rücksicht darauf, einmal weil solche Kinder 
in ihrer geistigen Entwicklung ganz ungerechterweise zurückbleiben, 
und zweitens, weil man einem Lehrer nicht zumuten kann, sich 
mit solchen Kindern eingehender zu beschäftigen, da dadurch nicht 
nur eine Vernachlässigung der andern resultieren, sondern geradezu 
die Bedingung gegeben würde, daß das Übel sich verschlimmern 
und auch bei andern einnisten kann.«e Professor Dr. Gutzmann, 
eine Autorität auf dem Gebiete der Sprachheilkunde, führt ein 
treffendes Beispiel an, welches beweist, wie schnell das Stottern um 
sich greift, wenn es geeigneten Boden unter den Kindern findet: ?) 





1) Jahrg. 1914/15, Heft3. — °) Gutzmann, Sprache u. Sprachfehler d. Kindes. 


144 A. Abhandlungen. 

Der Lehrer einer Volksschulklasse, welche mit 60 Kindern besetzt 
war, hatte am Anfang des Schuljahres einen Stotterer in der Klasse, 
nach einem halben Jahre stotterten aber bereits fünf seiner Schüler. 
Ein Lehrer, der mich im vorigen Jahre wegen eines stotternden 
Schülers aufsuchte, berichtete mir einen noch krasseren Fall aus 
seiner Heimat. Dort soll es eine Ortschaft geben, — der Name tut 
nichts zur Sache — wo fast in jeder Familie ein Stotterer vorhanden 
ist. Dem Orte ist daher in dortiger Gegend die wenig schmeichel- 
hafte Bezeichnung »Stotter-L..... « beigelegt worden. Die Ursache 
dieser auffälligen Erscheinung vermutet man in dem Umstande, daß 
der Ort einen stotternden Lehrer hat, durch den das Übel mutmaßlich 
auf die Schüler übertragen wurde. Wie gefährlich die Nachahmung 
des Stotterns ist. kann jeder an sich selber erfahren. Man versuche 
einmal, «las Stottern mit größtmöglichster Naturtreue nachzuahmen. 
Ein eigenartiges Gefühl in der Sprachmuskulatur wird uns dann bald 
davon überzeugen, daß vom gewollten zum krankhaften Stottern 
der Weg garnicht soweit ist. Ich warne daher davor, dieses gefähr- 
liche Experiment zu oft zu wiederholen; es könnte verhängnisvolle 
Folgen haben. 

Vor allem liegt aber die Einrichtung von Sprachheilklassen im 
Interesse der Sprachkranken selbst. Dort, wo jede Unterrichtsstunde 
zu einer Sprachübungsstunde wird, können günstige Erfolge kaum 
ausbleiben; in jeder Stunde werden dort die Kinder von sachkundigen 
und erfahrenen Lehrern angeleitet, unausgesetzt mit Einsicht und 
Energie an der Bekämpfung des Übels mitzuarbeiten. Diejenigen 
Ursachen, welche in der Normalschule so sehr zur Verschlimmerung 
des Stotterns beitragen, nämlich die Scheu vor dem Lehrer und die 
Scham vor den Mitschülern, können hier nicht weiter in Betracht 
kommen. Stärkung des Willens, zielbewußte Hebung des Selbst- 
vertrauens und das Fernhalten aller Faktoren, die das Leiden ungünstig 
beeinflussen können, sind Bedingungen, welche bei der Behandlung 
von Stotterern unerläßlich sind, die aber nirgends so konsequent ge- 
boten und durchgeführt werden können als in Sonderklassen. 

Auch aus unterrichtlichen und erziehlichen Gründen bietet diese 
neue Schuleinrichtung große Vorteile. Es ist eine unter Schulmänxern 
bekannte Tatsache, daß Stotterer in intellektueller Hinsicht oft weit 
hinter ihren Altersgenossen zurückbleiben, eine Tatsache, die in 
früherer Zeit zu der falschen Annahme führte, daß Stotterer auch 
gleichzeitig geistig beschränkt seien. Aber gerade unter den Stotterern 
findet man oft außerordentlich gut begabte Individuen, denn gerade 
diese werden in der Zeit der Sprachentwickelung viel eher dazu 


Carrie: Sonderklassen für sprachkranke Schulkinder. 145 








kommen, daß sich bei ihnen ein Mißverhältnis zwischen der Ge- 
schicklichkeit in der Beherrschung der Sprachmuskulatur und der 
Denkfähigkeit ausbildet. So wurde vor drei Jahren aus den Hamburger 
Sonderklassen ein Stotterer schwersten Grades konfirmiert, der es nur 
bis zur 4. Klasse gebracht hatte. Nach halbjährigem Besuch der 
Sonderklassen mußte er leider schon entlassen werden, weil er in- 
zwischen das schulpflichtige Alter überschritten hatte. Dabei war der 
Knabe in intellektueller Hinsicht außerordentlich gut veranlagt, so gut 
veranlagt, daß er nach meiner Überzeugung sehr wohl die erste 
Klasse, wenn nicht gar die Selekta, hätte erreichen können. Sein 
Gebrechen hatte ihn zurückgehalten; selbst der wiederholte Besuch 
der Heilkurse hatte sein Leiden nicht einmal zu bessern vermocht. 
Hätte er rechtzeitig einer Sonderklasse überwiesen werden können, 
so würde er das Ziel der Volksschule mit hoher Wahrscheinlichkeit 
erreicht haben. Geistige Minderwertigkeit erzeugt, wenn sie über- 
haupt eine Sprachstörung zur Folge hat, in der Regel Stammeln. 
Auch der folgende viel umstrittene Satz Blumes spricht dafür, daß 
Stottern mit geistiger Minderwertigkeit nichts zu tun hat: »Mehr- 
jährige und vielfach angestellte Beobachtungen und Nachforschungen 
haben den Verfasser zu der Überzeugung gebracht, daß das Stottern 
seinen nächsten unmittelbaren Grund in dem Mißverhältnisse zwischen 
dem Denkgeschäfte und dem Sprachgeschäfte habe, und zwar auf 
doppelte Weise. In dem einen Fall ist die Operation des Denkens 
im Verhältnisse zu der Tätigkeit der Sprachwerkzeuge zu schnell, so 
daß letztere ihre Funktion nicht in einer der Entwickelung der Ge- 
danken gleichen Geschwindigkeit verrichten und nicht mit dem Ideen- 
gange gleichen Schritt halten. Der andere ist derjenige Fall, in 
welchem die Operation des Denkens im Verhältnisse zu der Tätigkeit 
der Sprachwerkzeuge zu langsam ist, so daß diese schon fungieren 
wollen, ehe die Gedanken sich entwickelt haben, zur Reife und zum 
Bewußtsein gekommen sind, mithin dem Ideengange vorauseilen. 
Durch das Bestreben, dessen man sich mehr oder weniger, oft gar 
nicht bewußt ist, dieses Mißverhältnis aufzuheben, werden dann die 
Muskeln der Sprachwerkzeuge so gereizt, daß sie entweder in einen 
Zustand von Erstarrung oder in einen Zustand von Verrenkungen, 
Konvulsion und Zittern versetzt werden. Dieses Mißverhältnis kann 
nun teils durch einen besonderen Seelenzustand, teils durch die eigen- 
tümliche Beschaffenheit oder den falschen Gebrauch der Sprach- 
werkzeuge herbeigeführt werden.e Auf Grund meiner Erfahrungen 
muß auch ich entschieden behaupten, daß die Stotterer sich wenig- 
stens prozentual nicht häufiger unter den Schwachbegabten und 
| 4}. Zeitschrift für Kinderforschung. 21. Jahrgang. 10 


146 A. Abhandlungen. 





Schwachsinnigen befinden als unter den Normalbegabten. In den vier 
Jahren des Bestehens der Hamburger Sonderklassen konnten bisher 
noch alle Schüler derselben am Schlusse des Schuljahres als ver- 
setzungsfähig bezeichnet werden; dabei waren die Klassen mit 17 bis 
20 Kindern besetzt. 

Auch auf die Charakterbildung ist das Stotterübel von großem 
Einfluß. Dehnhardt sagt inbezug hierauf sehr treffend:!) »Belastet 
durch das drückende Bewußtsein, hinter glücklicheren Genossen trotz 
aller Mühen zurückstehen zu müssen, weil die Zunge dem Gedanken 
das erläuternde Wort versagt, preisgegeben der Spottlust übermütiger 
Mitschüler, im späteren Alter bedrängt durch die Vorahnung künftiger 
Schwierigkeiten für die Berufswahl, legen viele Stotterer schon in 
der Jugend den Grund zu einer dauernden Verstimmung des Ge- 
mütes, die sich zu vollkommener Melancholie und krankhaftem Lebens- 
überdruß steigern kann.«e Die Erfahrungen, die dann der Eintritt 
ins Berufsleben mit sich bringt, sind meist nur geeignet, dieser 
seelischen Verstimmung neue Nahrung zuzuführen. 

Aus dem Vorstehenden dürfte zur Genüge hervorgehen, daß 
die Behandlung stotternder Kinder nicht nur von der physischen, 
sondern auch von der psychischen Seite in Angriff genommen werden 
muß, daß man auch ihr Seelenleben kennen und verstehen muß, wenn 
alle Nachteile beseitigt werden sollen, die dem Stotterer in unterricht- 
licher und erziehlicher Hinsicht drohen. Denn Sprechen ist nicht 
nur ein physischer, sondern auch ein psychischer Vorgang. Dieser 
Forderung kann aber aus naheliegenden Gründen in Heilkursen, die 
ihre Tätigkeit auf wenige rein mechanisch betriebene Übungsstunden 
beschränken, nicht hinreichend Rechnung getragen werden; dazu ist 
ein gesonderter heilpädagogischer Unterricht in Sonderklassen er- 
forderlich, wo Unterricht, Erziehung und heilpädagogische Behandlung 
Hand in Hand gehen. 

Bei der Eigenart des Leidens ist kein Verfahren denkbar, nach 
dessen längerer oder kürzerer Anwendung man den Stotterer ganz 
sich selbst überlassen könnte, wenn der Rückfälligkeit sicher vor- 
gebeugt werden soll. Bei stotternden Kindern, deren Willenskraft 
ohnehin bekanntlich sehr schwach ist, deren Energie aber ganz be- 
sonderer Stärkung bedarf, um das Sprachgebrechen nach erfolgter 
Behandlung für immer fernhalten zu können, ist daher eine längere 
Überwachungszeit nötig, die aber wiederum sich nur in Sonderklassen 
sachgemäß durchführen läßt. Mit der Einführung solcher Klassen, 


1) Dehnhardt, Das Stottern, eine Psychose. 


Carrie: Sonderklassen für sprachkranke Schulkinder. 147 








die meines Wissens zurzeit nur in Hamburg und Wien, das ein Jahr 
später dem Hamburger Vorbilde folgte, bestehen — in einigen anderen 
Städten soll die Einführung bevorstehen — dürfte daher das Ideal in 
der Behandlung des Stotterns erreicht sein. Nur hier ist es möglich, 
eine wirksame Therapie nicht nur von der physischen, sondern 
auch von der psychischen Seite individuell in Anwendung zu bringen, 
eine Therapie, die schädigende Einflüsse namentlich auch von seiten 
der Schule von dem Kinde fernzuhalten, die es vor Nachteilen in 
unterrichtlicher und erziehlicher Hinsicht vollkommen zu schützen 
vermag. 

Die Pflege der mündlichen Rede ist zweifelsohne auch eine 
nationale Bildungsaufgabe von ganz eminenter Bedeutung, der sich 
die Schule nicht entziehen kann. Albert Gutzmann schreibt in 
bezug auf diesen Punkt sehr treffend:!) »Jeder vollwichtige Staats- 
bürger, ganz gleich, an welchem Platze er steht, bedarf der Fähigkeit, 
fließend reden zu können. Eine schwere Zunge, wie Moses sie 
hatte, ist heute nicht erst ein Mangel für die Aufgabe, nötigenfalls 
‘sein Volk zu befreien, sondern auch die Ursache der Unfähigkeit, 
sich und seinem Volke in bescheidener Stellung vollgiltig zu dienen; 
sie ist ein Fehler für die bürgerliche und soziale Brauchbarkeit des 
betreffenden Individuums, sie stellt den Mann zurück gegen andere, 
sonst nicht bessere und begabtere, häufig sogar an Wissen und 
Kenntnissen ihm weit nachstehende Standes- und Berufsgenossen; ja, 
dieser Mangel an Redekraft und Redefertigkeit ist leider sogar oft die 
Ursache, daß die Unvernunft über die Vernunft, der Unverstand über 
den Verstand, der Verrat über die Treue, die Lüge über die Wahr- 
heit, der Umsturz über die Ordnung wenigstens vorübergehend den 
Sieg davon trägt zum Unglück ganzer Nationen.« Ein Sprachgebrechen 
führt nicht nur zu mangelhafter Befähigung für den Militärdienst, 
sondern auch zu sozialer Minderwertigkeit; die vornehmste Aufgabe 
der modernen Schule besteht aber darin, das Kind für seinen späteren 
Existenzkampf möglichst gut vorzubereiten. Für zahlreiche Berufe 
aber ist der Stotterer überhaupt nicht oder doch nur höchst mangel- 
haft geeignet. An seinem Fortkommen wird er durch seinen Sprach- 
defekt unter allen Umständen stark beeinträchtigt sein, mag er auch 
noch so Tüchtiges leisten. (Schluß folgt.) 


` 


1) A. Gutzmann, Das Stottern und seine Beseitigung. 


148 B. Mitteilungen. 





B. Mitteilungen. 


1. Oswald Külpe t, 
der Begründer der »Würzburger Schule«. 


Von Dr. Wilhelm Ament, Bamberg. 


Der Boden, der uns beide trug, war die 
Psychologie, von der aus seine Neigungen 
mehr in die ästhetische, meine mehr in 
die erkenntnistheoretische Sphäre sich ver- 
zweigten. 

Külpe 
über Meumann und sich. 

Külpe verschieden! Das war eine schmerzliche Kunde zum Beschluß 
des alten Jahres für alle seine Schüler und Freunde, die gewiß ohne Aus- 
nahme Verehrer des Meisters und seiner gewinnenden Persönlichkeit im 
höchsten und edelsten Sinne waren. 

Sein äußerer Lebensgang ist schnell erzählt: Es ist der einfache 
Lebensgang eines deutschen Gelehrten, dem äußere Ruhe und gesicherte, 
nach gewissen Normen sich abwickelnde Lebensstellung Grundbedingung 

> ; 
en 1862 zu Candau, 
einem Flecken Kurlands, geboren. Er wurde zunächst zu Hause, dann im 
Gymnasium zu Libau unterrichtet, wo er im Juni 1879 seine Reife-Prüfung 
ablegte. Darauf war er 1!/, Jahre als Hauslehrer tätig und hatte schon 
in dieser Zeit den Schwerpunkt seiner Interessen in philosophischen Studien 
gefunden. Von Ostern 1881 ab besuchte er 3 Semester lang die Uni- 
versität Leipzig, wo er sich neben der Philosophie unter Wilhelm Wundt 
namentlich geschichtlichen Arbeiten unter Karl v. Noorden widmete, 
das Winter-Semester 1882/83 Berlin, wo er an erster Stelle geschichtliche 
und philosophische Vorlesungen hörte, die darauf folgenden 2 Jahre 
Göttingen, wo er u.a. 1!/ Jahre in der psychologischen Societät von 
Georg Elias Müller tätig war, hierauf Dorpat, wo er den Grad eines 
Kandidaten der Geschichte erwarb, der in Rußland für das höhere Lehramt 
berechtigt. Im Oktober 1886 kehrte er nach Leipzig zurück, um sich 
in Wundts Seminar für experimentelle Psychologie vorzugsweise mit psy- 
chophysischen Arbeiten vertraut zu machen, und erwarb hier 1887 auf 
Grund der Abhandlung »Zur Theorie der sinnlichen Gefühle«, einer 
Külpes Eigenart in der Aufgreifung und Behandlung von Problemen 
schon sichtlich widerspiegelnden Arbeit, die Würde des Doktors der Philo- 
sophie, im Herbst 1888 daselbst durch die Abhandlung »Die Lehre vom 
Willen in der neueren Psychologiee die venia legendi und war gleich- 
zeitig 1887—1894 als Assistent an Wundts Psychologischem Institut 


für geistiges Schaffen ist.) Külpe ist am 


1) Ich folge bis zur Promotion der seiner Dissertation angefügten »Vita«. 


1. Oswald Külpe t. 149 





tätig.!) Anfang 1894 wurde er in Leipzig zum außerordentlichen Professor 
ernannt und folgte im Herbst desselben Jahres einem Rufe als ordentlicher 
Professor der Philosophie und Ästhetik an die Universität Würzburg als 
Nachfolger Johannes Volkelts. Hier richtete er seit Oktober 1896, aus 
kleinsten Anfängen in Jahren allmählich erwachsend, ein Psychologisches 
Institut ein, das unter seiner meisterhaften Leitung als Geburtsort der so- 
genannten » Würzburger Schule« bekannt und berühmt wurde.?2) 1907 
ernannte ihn die Universität Gießen bei Gelegenheit ihrer dritten Jahr- 
hundert-Feier zum Dr. med. honoris causa. 1909 folgte er einem Ruf an 
die Universität Bonn als Nachfolger Benno Erdmanns, 1913 einem 
ebensolchen an die Universität München als Nachfolger Theodor Lipps. 
An beiden Orten wurde seiner in Würzburg erprobten organisatorischen 
Begabung die Einrichtung bezw. der Ausbau (experimentell-) psychologi- 
scher Institute als Aufgabe gestellt, in München auch die Mit-Direktion 
des Philosophischen Seminars übertragen. In München wurde er ferner 
durch die Aufnahme als o. Mitglied in die K. B. Akademie der Wissen- 
schaften, sowie 1915 durch die Verleihung des Titels eines Geh. Hofrats 
ausgezeichnet. Ehrenvolle Rufe von Würzburg nach Münster und Stanford 
und von München nach Wien hatte er abgelehnt. 

Dje Zahl seiner Schriften, die seiner selbständigen Werke noch 
weniger als die seiner in Fach-Zeitschriften zerstreuten Abhandlungen, sind 
nicht sehr groß, weil die seltene Art, wie er seine Lehrtätigkeit auffaßte, 
es mit sich brachte, daß ein wesentlicher Teil seiner eigenen geistigen 
Arbeit in den Arbeiten seiner Schüler zu suchen ist und so nicht direkt 
seinen Namen trägt. Er schrieb außer den genannten u. a. Abhandlungen: 
Grundriß der Psychologie auf experimenteller Grundlage dargestellt. Leipzig 
1893. Einleitung in die Philosophie 1895. 7. Aufl. Leipzig 1915. 
Die Philosophie der Gegenwart in Deutschland. Eine Charakteristik ihrer 
Hauptrichtungen nach Vorträgen. Aus Natur und Geisteswelt. 41. Bänd- 
chen. 1902. 6. Aufl. Leipzig 1914. Immanuel Kant. Darstellung und 
Würdigung. Daselbst. 146. Bändchen. 1907. 3. Aufl. Leipzig 1912. 
Erkenntnistheorie und Naturwissenschaft. Vortrag. 1910. Psychologie 
Medizin. Leipzig 1912. Die Realisierung. Ein Beitrag zur Gruudlegung 
der Realwissenschaften. 1. Bd. Leipzig 1912. Die Ethik und der Krieg. 
Nach einem Kriegsvortrag. Zwischen Krieg und Frieden. 20. Heft. 1915. 
Für Kants gesammelte Schriften, herausgegeben von der Kgl. Preuß. 
Akademie der Wissenschaften, bearbeitete er die »Anthropologie«, Bd. VII, 
1907, jenes Werk, das durch eine Reihe Bemerkungen über die Natur des 
Kindes auch einen Platz in der Geschichte der Kinderforschung einnimmt. 


1) Erinnerungen aus seiner Assistenten-Zeit berührt er in dem Nachruf »Ernst 
Meumann und die Ästhetik«. Zeitschrift für pädagogische Psychologie. XVI. Jahrg. 
1915. S. 232—238. Hieraus (S. 233) das an die Spitze meines Nachrufs gesetzte 
Selbst-Urteil Külpes. 

2) Vergl. Karl Marbe, Das Psychologische Institut der Universität Würz- 
burg. Fortschritte der Psychologie und ihre Anwendungen. II. Bd. 1914. S. 302 
bis 320. Mit einem Verzeichnis der im Institut angefertigten Arbeiter. 


150 B. Mitteilungen. 


Külpes Schaffen ist nur aus der Natur wirklicher und ganz außer- 
ordentlich gesteigerter wissenschaftlicher Veranlagung heraus zu verstehen. 
Zwar hatte auch er dem Drang der Jugend, die schriftstellerische Tätig- 
keit gleich mit zusammenfassenden »Lehrbüchern« zu beginnen, Tribut 
gezollt und mit einem »Grundriß der Psychologie« begonnen, aber bald 
hatte er sich selbst gefunden und stellte nunmehr seine ganze Tätigkeit 
und Entwicklung unter einem gewissen Abrücken von jenem Jugend- 
versuch (»leider auf experimenteller Grundlage dargestellt« sagte er ge- 
legentlich einmal zur Kritik der Einseitigkeit des Standpunktes) vorerst 
auf eine breiteste Durchforschung seiner erwählten Arbeitsgebiete ein, im 
Ganzen wie im Besonderen methodisch die zusammenfassenden Bearbei- 
tungen der Zukunft vorbehaltend. So hielt er ohne Rücksicht auf sich 
selbst und die ihm etwa beschiedene Lebenszeit jahrzehntelang psycho- 
logische, ästhetische, philosophische Versuche, Übungen und Spezial-Vor- 
lesungen, wobei er sich seine eigene Gedankenwelt in Wechselbeziehung 
mit seinen Schülern, die nicht immer auch das »Thema« vom Lehrer er- 
bitten mußten, sondern mit eigenen Arbeiten zu ihm kamen und nur seine 
bewährte Führung suchten, von Problem zu Problem bis zu den letzten 
Folgerungen erweiterte, und verlegte die Umschreibung seines »Grund- 
risses der Psychologie«, die Abfassung einer Ästhetik auf psychologischer 
Grundlage und ein philosophisches Jebenswerk auf die Zeit, die er reif 
dafür erachten werde: Nur zu einem ersten Band des letzteren ist er 
leider gelangt — dann gebot ihm an der Schwelle des Höchsten, was er 
werden wollte und sein konnte, ein höherer Wille, den wir nicht ver- 
stehen können, Halt. 

Die stoffliche Grundlage seines Schaffens ruhte in erster Linie in der 
Psychologie. Ob er sie selbst gesucht oder ob er durch den zufälligen 
Umstand, Schüler von Wundt zu werden, auf sie verwiesen wurde, weiß 
ich nicht. Jedenfalls war sie, nachdem er sie kennen gelernt und in ihr 
ausgebildet worden war, sein »Boden«, wie er selbst in einer gelegent- 
lichen Bemerkung zum Ausdruck brachte (siehe an der Spitze dieses Nach- 
rufs).. Die Anfänge seiner eigenen Betätigung veırieten bei aller Selb- 
ständigkeit die Wundtsche Schule. Der »Grundriß der Psychologie« ist 
sowohl da, wo er mit dem Meister übereinstimmt, wie da, wo er sich 
schon von ihm zu entfernen beginnt, zunächst noch immer nach diesem 
gerichtet. In dem ersten selbstbegründeten Institut ist die erste selbst- 
gegebene Arbeit eine psychophysische (des Verfassers Dissertation Ȇber 
das Verhältnis der ebenmerklichen zu den übermerklichen Unterschieden 
bei Licht- und Schallintensitäten), an die sich noch eine Reihe verwandter 
Untersuchungen anschließen. Aber er blieb dabei nicht stehen. Die 
Weiterarbeit brachte von selbst mannigfaltige Anregungen, in denen sich 
sein scharfer Blick rasch zurechtfand und neue Richtlinien aufgriff. Von 
solchen Neuerungen sind es besonders zwei, die nachhaltig die Aufmerk- 
samkeit der Fachgenossen auf sich lenkten, Zustimmung und Widerspruch 
erfuhren, und an die man zuerst denkt, wenn von der » Würzburger 
Schule« des Meisters gesprochen wird: Die eine liegt im Bereiche der 
Seelenforschuug selbst, nämlich in ihrer Ausdehnung von den niedereren 


aa 


1. Oswald Külpe t- 151 


(sinnesphysiologischen, associativen und reproduktiven) Funktionen auf die 
höheren Funktionen der Denk-Vorgänge, die andere in der An- 
wendung der Seelenforschung auf ein Gebiet des praktischen 
Lebens, nämlich der Erziehung und des Unterrichts, auf Fragen 
der pädagogischen Psychologie. 

Der Anstoß zu experimentellen Untersuchungen der Denk- 
Vorgänge wurde von dem als Privatdozent im Institut Külpes tätigen 
Karl Marbe (Experimentell-psychologische Untersuchungen über das Urteil, 
1901) und dem vorübergehend im Institut arbeitenden Narziß Ach (Über 
die Willenstätigkeit und das Denken, 1900—1904 ausgeführt, 1905 er- 
schienen) anscheinend selbständig und unabhängig voneinander gegeben. 
Nachdem sie unter Külpes Leitung besonders in Untersuchungen Henry 
J. Watts (1905) und August Messers (1906) fortgesetzt waren, er- 
hielten sie in Karl Bühlers Habilitationsschrift (Tatsachen und Probleme zu 
einer Psychologie der Denkvorgänge, I. Über Gedanken, 1907) jene Ge- 
staltung, welche die allgemeine Aufmerksamkeit zustimmend oder ablehnend 
auf die Neuerungen lenkte. Methodisch bestehen dieselben aus einer 
neuerlichen Heranziehung der Selbstbeobachtung, die man durch die bisher 
gültige, auch von Wundt vertretene Auffassung vom Experiment über- 
wunden wähnte, sachlich in dem Ergebnis, daß das Denken nicht etwa 
nur ein Ablauf von Vorstellungen, sondern seine Elemente »Gedanken«, 
d. h. selbständige seelische Gebilde seien. Obwohl die Erweiterung der 
Forschung methodisch wie sachlich unzweifelhaft ein namhaftes Verdienst 
darstellte, wandte sich die ältere Generation, Wundt und G. E. Müller, 
gegen eine solche Verschiebung des Begriffs von Experiment und indirekt 
auch gegen die Ergebnisse. Der Streit, der Külpe in seinen Gefühlen 
schwer traf, wogte unentschieden hin und her, als ihn der Tod vom Kampf- 
felde abrief. Es bleibt abzuwarten, ob sich die junge Richtung ohne den 
bewährten Führer und seine Autorität gegenüber den andern Autoritäten 
durchzusetzen vermag. 

Den Anstoß zu den experimentellen Untersuchungen von 
Fragen der pädagogischen Psychologie wurde von Würzburger 
Lehrern gegeben, die für ihre selbstgewählten Arbeiten die Führung Külpes 
erbaten. Sein praktisches Eintreten für das akademische Studium der 
Lehrer, das zu jener Zeit noch namhafte formelle Schwierigkeiten hatte, 
war eine Tat, sein Verständnis für diese Bestrebungen entsprang ohne 
Zweifel seinem eigenen, ursprünglich dem Lehrfach zugewandten Entwick- 
lungsgang. Nach Johann Friedrich (Untersuchungen über die Einflüsse 
der Arbeitsdauer und der Arbeitspausen auf die geistige Leistungsfähigkeit 
der Schulkinder, 1897) bilden die ersten Marksteine dieser Richtung 
August Mayer (Über Einzel- und Gesamtleistung des Schulkindes, 1903), 
Friedrich Schmidt (Experimentelle Untersuchungen über die Haus- 
aufgaben des Schulkindes, 1904) und Ludwig Pfeiffer (Experimentelle 
Untersuchungen über qualitative Arbeitstypen, 1908). Die Zugehörigkeit 
dieser Arbeiten zu Külpes Schule sei ebenso betont wie der Umstand, 
daß die 1901 erstmals umschriebene Idee einer »experimentellen Päda- 
gogik<e Meumanns erst richtig in Fluß kam, als Küipe ihm seine 


152 B. Mitteilungen. 








Schüler Mayer und Schmidt und andere mit ihren Arbeiten seit 1902 
aus formalen Gründen nach Zürich zur Doktor-Promotion sandte. Diese 
Anregungen der Würzburger Schule bezeugt Meumann indessen nicht 
(vergl. das Vorwort zur ersten Auflage, 1907, seiner » Vorlesungen zur 
Einführung in die experimentelle Pädagogik«, S. X f.), wie er ja so gerne 
seiner Einflüsse und Quellen sich nicht erinnert. Im Gegenteil er ver- 
sucht sich nachträglich Mayer gegenüber »gleichzeitig«e die Priorität zu 
sichern (Haus und Schularbeit, 1904, S. 7 f.), was mangels nachprüfbarer 
zeitlicher Angaben bei seinem oft bekundeten Egoismus zunächst ver- 
dächtig erscheint. 

Hier darf der Verfasser auch des Einflusses gedenken, den sein 
Lehrer Külpe auf die Durchführung seiner ersten Untersuchungen über 
die Entwicklung von Sprechen und Denken beim Kinde (1899) nahm. Als 
ich meine Studien bei Külpe begann, befand ich mich bereits im Besitze 
von vier Tagebüchern über Kinder, die Führung des letzten stand gerade 
vor Beginn der Sprachentwicklung, und so ersuchte ich denn Külpe um 
Hilfeleistung bei der wissenschaftlichen Verarbeitung. Dieser war es, 
welcher mir zunächst die sich im Verlauf der Arbeit mehr und mehr er- 
weiternde Frage der Begriffsbildung und als Methode die Sonder-Beobach- 
tung jedes der ersten erlernten Worte vorschlug, ein Zeugnis dafür, mit 
welchem Verständnis Külpe auch solche Arbeitsgebiete beurteilte, die 
dem seinigen zunächst ferner lagen. 

Die » Würzburger Schule« darf also nicht etwa so aufgefaßt werden, 
als ob ihre leitenden Gedanken ausnahmslos auch von. ihrem Meister 
ausgegangen wären. Sie ist vielmehr als eine Sammlung verschiedener 
und doch wieder gleichgerichteter Bestrebungen unter einem führen- 
den Mittelpunkt zu verstehen. Die Größe der Leistung, die kleineren 
Bächlein zu einem größeren Strome zusammengeführt und gemehrt zu 
haben, ist mindestens ebenso groß als etwa die alleinige Ausgabe aller 
leitenden Gedanken durch den Führer. Setzte sie doch einen ganz be- 
sonders gearteten Menschen voraus, wie es nur Külpe war! Er besaß die 
seltene Gabe, strebende Menschen anzuziehen und zu fesseln, das be- 
deutende Wissen und den weitherzigen Willen, deren Gedanken zu achten 
und zu fördern, und die menschliche Größe, die auch den Tüchtigsten 
immer noch zu ihm emporblicken ließ. Selten wohl hat sich in der Ge- 
schichte der Wissenschaft die menschliche Veranlagung eines Mannes so 
glänzend bewährt wie die Külpes in der »Würzburger Schule«! 

Auf dem Boden der Psychologie erwuchs Külpe das Hauptziel seines 
Lebens: seine Erkenntnis-Theorie. Früh zogen ihn seine Neigungen 
dahin und in der Würzburger Zeit fand er die Gedankengänge, bezüglich 
deren er einmal sagte: er wisse nun, warum er lebe An nichts Ge- 
ringeres dachte er, als dem idealistischen Zeitalter der deutschen Philo- 
sophie gegenüber ein realistisches zu beginnen. Seine »Philosophie der 
Gegenwart in Deutschland« schließt er mit den Worten: »In dem ‚patho- 
logischen Zwischenzustande‘ einer philosophischen Anarchie, die zurzeit 
noch vorzuherrschen scheint, weckt und stärkt unsere Hoffnung und Tat- 
kraft der Blick in eine mögliche fruchtbare Einheit philosophischer Be- 


2. Max Fiebig t. 153 


strebungen und Leistungen. Ein neues Reich erhebt sich bereits langsam, 
aber sicher aus dem zurückweichenden Meere der Zukunft. Seine Vorbe- 
reitung haben wir auf diesen Blättern zu schildern versucht. Auf der 
Schwelle dieser Philosophie der Zukunft aber steht das Problem der 
Realität.«e In seiner vorsichtigen und bescheidenen Art weist er 
hier auf das eigene kommende große Werk hin. Den ersten Band von 
vieren hat er uns noch zu schenken vermocht, dann trat das unfaßbare 
Ereignis ein, dessen Sinn wir nicht verstehen können. 

Külpe war ein Mann, der die Mitstrebenden ohne Zweifel in be- 
trächtlichem Abstande hinter sich zurückließ, er war ein vollkommener 
Forscher und ein Führer, als Mensch aber ein vornehmer und doch 
schlichter Charakter. Die Geschichte der Wissenschaft wird seinen Namen 
fernen Zeiten überliefern. 


2. Max Fiebig t. 


Am 21. November d. J. starb in Tübingen unser Mitarbeiter Dr. med. 
Max Fiebig, Direktor a. D. des Deutschen Instituts für ärztliche Mission, 
Generaloberarzt a. D. der Niederländisch-Ostindischen Armee. 

Nach einer 25jährigen ärztlichen Tätigkeit in Niederländisch - Ost- 
indien ließ Fiebig sich in Jena als Arzt nieder. Für eine solch »abnorme«, 
der Schulwissenschaft nicht immer parallel laufende Erfahrung fand er 
hier aber leider nicht das volle Verständnis. Dankbar aber wollen wir 
dafür seiner gedenken, denn manches davon hat sich mit unseren Be- 
strebungen vereinigt zum Segen der heranwachsenden Jugend. 

Es ist begreiflich, daß der aus der Fremde zugezogene Arzt keine 
ausgedehnte Privatpraxis in der Universitätsstadt fand. Seinem sozialen 
Interesse entsprechend bot er sich darum als Schularzt an, nachdem kurz 
zuvor die Schularztfrage durch den jetzigen Regierungs- und Geheimen 
Medizinalrat Prof. Dr. Leubnscher in Meiningen,!) vordem Universitäts- 
professor in Jena und 7 Jahre Anstaltsarzt der Sophienhöhe, im Herzog- 
tum Meiningen, im Verein für Kinderforschung in Jena und weiter in 
ganz Deutschland durch den Verein für Schulgesundheitspflege in Fluß 
gebracht worden war. Fiebig nahm diese Aufgabe innerlich ernst, wie 
auch Leubuscher sie erfaßt hatte. Die Klagen gegen manche Schulärzte, 


1) Mit der Korrektur dieses Nachrufes kam zugleich die Todesanzeige, daß 
nach langem, schwerem Leiden Regierungs- und Geh. Medizinalrat Professor 
Dr. Georg Leubuscher am 27. Februar 1916 sanft entschlafen ist. Heute am 
1. März haben wir ihn in Meiningen zur letzten Ruhe begleitet, nach der sein letztes 
Sehnen ging. Auch Prof. Theodor Ziehen aus Wiesbaden fehlte nicht in dem 
Zuge. Eine längere Reihe von Nachrufen sind mir. zu Gesicht gekommen. Sie alle 
heben die Erfolge, Ehrungen und Anerkennungen hervor, welche gewöhnlich ein 
Professor der Medizin und ein Regierungsrat sich in der Staatskarriere zu erwerben 
pflegt. Die Leistungen und Verdienste, welche auch in Wissenschaft und Leben »der 
holde Reiz der Menschlichkeit« Leubuschers sich erworben, sind jedoch leider auch 
dort unerwähnt geblieben, wo man sie kennen und anerkennen sollte. Wir werden 
im nächsten Heft versuchen, das in einem besonderen Nachrufe nachzuholen. 


154 B. Mitteilungen. 





die in wenigen Stunden maßgebende Urteile über Hunderte von Kindern 
sich bilden können, traf für Fiebig nicht zu. Sein sozial gerichteter Sinn 
auf Grund tiefer Religiosität wies ihm auch als Schularzt höhere Ziele 
und Aufgaben. So entsinne ich mich noch, eine wie reiche Ernte er vom 
internationalen schulhygienischen Kongreß in Nürnberg für die Schule mit 
heimbrachte und in einem sehr wertvollen umfangreichen Schriftstücke 
dem hiesigen Gemeindevorstande ans Herz legte. Was und ob etwas da- 
von beherzigt worden ist, habe ich jedoch nicht erfahren. 

Fiebig fand als Schularzt bald Verständnis und Interesse für die von 
mir betonte Notwendigkeit einer Bildungsanstalt für die Lehrer und Er- 
zieher der abnormen Jugend. Diese Einrichtung war in Jena schon teil- 
weise gegeben durch die Universitäts-Übungsschule von Prof. Rein wie 
durch die Sophienhöhe und durch die Vorlesungen über die Psycho- 
pathologie des Kindesalters, wie sie auf Theodor Ziehens und meine 
Anregungen hier in Jena wohl zuerst an deutschen Universitäten erfolgten. 
Fiebig folgte gerne meinen Anregungen und suchte u. a. auch den Verein 
für Innere Mission im Großherzogtum Sachsen dafür zu interessieren, dem 
diese Frage ja eigentlich sehr nahe liegen mußte. Auf einer Versammlung 
in Weida hielt er darüber einen Vortrag, leider ohne auch dort in den 
Kreisen der Geistlichen das nötige Verständnis für eine so bedeutsame Frage 
zu finden, so dankbar sie auch seine Ausführungen entgegen nahmen. Und 
doch können Vorsorge und Fürsorge gegenüber all dem Kinderelend die 
Psychologen und Pädagogen und Mediziner allein nicht treffen. Eine 
solche Frage muß von dem Interesse weitgehendster Kreise getragen werden, 
auch von den Geistlichen und den Juristen. Das erkannte auch Fiebig. 

Einen Teil des von uns Geforderten und von Fiebig näher Um- 
schriebenen (in Heft 22 der »Beiträge für Kinderforschung u. Heilerziehung« 
[Hermann Beyer & Söhne, Beyer & Mann]: Über Vorsorge und Fürsorge 
für die intellektuell schwache und sittlich gefährdete Jugend) 
ist später verwirklicht worden durch die Ausbildungskurse und Prüfungen 
für Hilfsschullehrer in Essen und an anderen Orten, durch die Gründung der 
Beobachtungshäuser!) in Hamburg wie auf der Steinmühle bei Frankfurt a. M., 
durch innere Umbildung der Rettungshäuser und Fürsorgeerziehungs- 
anstalten usw. Ein anderes aber harrt noch der Erfüllung. Der Krieg 
bringt den Machthabenden hoffentlich endlich das Verständnis dafür. 

In Jena stand ihm vor allem ein Hemmnis im Wege: seine Stellung 
zur Alkoholfrage. 

Als Generalarzt der Armee, so erzählte Fiebig mir, hatte er oft mit 
der Begutachtung krimineller Fälle unter den Soldaten zu tun. Unter 
diesen war einer, der oft zu ihm geschickt wurde. Ein gutmütiger Bursche, 
der aber jedesmal im Alkoholrausch sich zu Gesetzesübertretungen hin- 
reißen ließ. Er hatte Fiebig versprochen, keinen Alkohol mehr zu trinken, 


1) Vergl. Johs. Petersen, Das Beobachtungshaus der Erziehungsanstalten. 
Beiträge z. Kinderforschung u. Heilerziehung. Heft 64. — Ebenso Dr. H. Hansel- 
mann-Heufemann, »Die Arbeitslehrkolonie und Beobachtungsanstalt Steinmühle 
(Obererlenbach, Kreis Friedberg i. H.).« Ebenda. Hoft 134. (Unter der Presse.) 


3. Die Bodenreform als Mittel zur Überwindung der sozialen Not usw. 155 





und doch kam er wieder. Als Fiebig ihm nun ernstlich ins Gewissen 
redete, sagte er, er würde das wohl lassen können, wenn er nur einen 
einzigen unter seinen Kameraden hätte, der auch nicht mittränke. Darauf 
erklärte Fiebig ihm, daß er sein Kamerad sein wolle und auch keinen 
Tropfen alkoholischer Getränke zu sich nehmen würde. Das hat gefruchtet, 
und zwar so sehr, daß es Fiebig gelungen ist, einen großen Teil der 
Armee zur vollen Enthaltsamkeit zu erziehen und damit die Leistungs- 
fähigkeit des Heeres zu erhöhen und die Krankheits- und Straffälle er- 
heblich herabzudrücken. Die Folgen der Enthaltsamkeit für ihn selbst 
aber brachte er mit nach Jena: er war 25 Jahre ununterbrochen im Tropen- 
klima gewesen und gesund und rüstig geblieben und hatte dazu vier im 
Tropenklima geborene Jungen, die noch im November in Jena kalte Fluß- 
bäder ertragen konnten und die jetzt an der Front stehen. 

Neben der gesundheitlichen Seite der Alkoholfrage lernte er auf 
Sumatra auch die soziale verstehen, und als Schularzt in Jena auch die 
Folgen für die Nachkommenschaft. Er gründete darum mit einer Anzahl 
Männern und Frauen in Jena das alkoholfreie Gasthaus »Jungbrunnen« 
wie auch den »Amethystischen Bund«, der eine Reihe von Jahren hin- 
durch der Hauptträger des Mäßigkeits- und Enthaltsamkeitsgedankens in 
Jena war, bis später die Sonderbündelei auch in dieser Frage die Fiebig- 
sche Gründung ablöste und die Wirkung der Bestrebungen schwächte. 
Seine Studien über die Wirkungen des Alkohols bei den verschiedenen 
Individuen und Völkerrassen und auf ihre Nachkommenschaft hat er ver- 
öffentlicht in unseren »Beiträgen«, Heft 28: »Rachitis als eine auf 
Alkoholisation und Produktionserschöpfung beruhende Entwick- 
lungsanomalie der Bindesubstanzen«, eine Abhandlung, die vor allem 
für Heer und Flotte ihre besondere Bedeutung hat. 

Selbstverständlich war es, daß Fiebig als Enthaltsamer in Jena, wo 
damals die Interessenten und Freunde der Brauereien und der Schank- 
stätten die Machthabenden in der Verwaltung in Stadt und Bezirk bildeten, 
kein entsprechendes Verständnis und keine richtige Beurteilung finden konnte. 

Um so lieber folgte er dem Rufe pach der Universitätsstadt Tübingen, 
wo ihm das Direktorat des neubegründeten Deutschen Instituts für 
ärztliche Mission übertragen wurde. Leider wurde er nach wenigen 
Jahren durch Krankheit genötigt, auch diese Tätigkeit wieder aufzugeben. 
Nach langem, schweren Leiden starb er im 64. Lebensjahr. 

Mit seinen medizinisch-sozialen Erfahrungen und Reformbestrebungen 
kam er leider zu früh nach Deutschland zurück. Erst der Krieg hat 
vielen Kreisen über die Bedeutung derselben die Augen geöffnet. Heute 
würde man ihn wegen seiner Bestrebungen nicht mehr verspotten, sondern 
segnen. Trüper. 


3. Die Bodenreform 
als Mittel zur Überwindung der sozialen Not und des 
daraus hervorgehenden Kinderelends. 
Als Vorbedingungen der Schul- und Erziehungsreform hätte ich 
in der ersten Abhandlung (Heft 1/2 d. J.) auch noch die Beseitigung der 


156 B. Mitteilungen. 


Wohnungsnot mit erörtern sollen.!) Erfreulicherweise findet diese Frage 
aber in weiten Kreisen je länger, je mehr Verständnis. Ein großer Verein 
hat sich gebildet, der sich mit der Lösung dieser Frage befaßt: Der Bund 
Deutscher Bodenreformer (Berlin, Lessingstr. 11). Ein anderer Um- 
stand gibt jedoch Anlaß zu folgendem Hinweis. 

Der verdienstvollste Vorkämpfer ist Adolf Damaschke, der am 24. No- 
vember vorigen Jahres seinen 50. Geburtstag feierte, und dem wir mit diesen 
Zeilen auch noch nachträglich einen besonderen Gruß darbringen möchten. 
Wir haben mehr als einen Grund dazu, denn er ist einer von den Unsern. 

Damaschke entstammt aus einfachen Verhältnissen und war früher 
Berliner Volksschullehrer, bis er dann die Schulklasse mit einer weit 
zahlreicheren Schülerzahl vertauschte, indem er zunächst Schriftleiter einer 
Tageszeitung wurde und dann sich lediglich mit der Wohnungsfrage 
als Bodenreform beschäftigte. Als Fachlehrer auf diesem Gebiete hat 
er oft in großen vollbesetzten Hörsälen das soziale Elend an seinem eigenen 
Lebensschicksale veranschaulicht: wie er in dem engen Raume im dunkeln 
Hof in der Rosenthalerstraße in Berlin seine Kiudheit verlebte, und wie 
innerlich armselig und freudlos das Dasein so vieler Kinder war, die er 
als Berliner Gemeindeschullehrer kennen gelernt hat. Er hat diese voll- 
gefüllten Klassen oder Hörsäle aber nicht bloß in Berlin, sondern in All- 
deutschland und weit darüber hinaus gefunden. 

So ist er denn zurzeit die Seele der großen Bewegung für Krieger- 
heimstätten. »Männer in den höchsten Staats- und Gemeindeämtern, 
Universitätsprofessoren und andere Gelehrte, Leiter großer Verbände, 
Politiker aller Parteien, Vertreter der verschiedenen religiösen Bekennt- 
nisse, Leute aller Berufe scharen sich um ihn und arbeiten mit ihm zum 
Wohl des Volkes unter seiner Führung,« wie mit Recht die »Päd. Ztg.« 
betont. So war es z. B. noch zuletzt auf der Versammlung des Bundes 
für Bodenreform in Bielefeld, worüber man das Nähere in den Ver- 
saminlungsberichten nachlesen wolle. 

Aber Adolf Damaschke hat nicht bloß durch das mündliche Wort 
bekundet, daß er ein Lehrer von Alldeutschland geworden ist, sondern in 
dem gleichen Maße auch durch die Feder. Auch für unsere Bestrebungen 
ist er kein Unbekannter. Er hat sein Sondergebiet auch dem Problem 
der Kinderforschung und Heilerziehung eingereiht mit seinem Beitrage: 
»Wohnungsnot und Kinderelend« (Beiträge zur Kinderforschung und 
Heilerziehung, Heft 40). Ich möchte dieses Heft unsern Lesern gerade 
jetzt, wo der Krieg uns doppelt vor diese Aufgabe stellt, ganz besonders 
empfehlen, noch mehr aber seine umfangreiche Schrift »Die Boden- 
reform. Grundsätzliches und Geschichtliches zur Überwindung 
der sozialer Note (XVI, 500 S., Preis 3,25 M). Sie ist in Jena bei 
Gustav Fischer in der 11. Auflage neu erschienen als 36.—40. Tausend. 


1) Wegen Raummangel und Zeitmangel (infolge außergewöhnlicher Verpflich- 
tungen, die der Krieg für Anstalt und Zeitschrift mit sich bringt) kann die Fort- 
setzung erst im nächsten Heft erfolgen und erscheint auch dieses Doppelheft ver- 
spätet. Ich bitte die Leser, das zu entschuldigen. 


4. Zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen des Erziehungsheimes Sophienhöhe. 157 








Daß sie die 11. Auflage erlebt hat, sagt schon genug. Denn die Bücher 
wissenschaftlichen Charakters, die es in so kurzer Zeit zu einer solchen 
Auflage bringen, sind sehr selten. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, 
an dieser Stelle in eine Besprechung derselben einzutreten. Wohl aber 
möchte ich sie allen Lesern angelegentlich zum eifrigen aber auch zum 
kritischen Studium empfehlen. Schon das letzte Kapitel Seite 421 bis 
472: »Der Weltkrieg im Lichte der Bodenreform« dürfte allein 
dazu anregen. Denn hier begründet Damaschke die Forderung der 
Kriegerheimstätten, für die er in letzter Zeit mit außerordentlicher Rührigkeit 
und Zähigkeit tätig ist. Und auch im Hinblick auf diese Frage muß 
ich wiederholen: erst wenn dieselbe in der Theorie klargelegt ist, ist die 
Zeit gekommen, uns mit den sogenannten Schulreformfragen zu befassen. 
Sonst schweben diese Reformfragen in der Luft, wie u. a. sich auch zur 
Genüge aus der Abhandlung von Dr. Pudor und aus den von ihm an- 
geführten Schriften ergibt. 

Seine Freunde haben Damaschke zum 50. Geburtstag eine große 
Summe für Stiftungen überreicht. Wir möchten ihm unseren Glückwunsch 
auf diesem Wege darbringen, indem wir ihm noch lange körperliche und 
geistige Frische wünschen, damit er weiterhin die Widerstände überwinde, 
die in Überlieferungen, machtvollem Eigennutz, Vorurteile — insbesondere 
bei der Schulwissenschaft, die zunächst immer nur nach dem Stempel des 
Gelehrten sieht, anstatt nach dem Inhalt — und nicht zuletzt in der 
Trägheit des Denkens und Wollens so vieler Machthabenden im Volke 
wurzelt. Trüper. 


4. Zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen des 
Erziehungsheimes Sophienhöhe, am 1. November v. J., 


sind uns aus allen Gegenden unseres deutschen Vaterlandes und darüber 
hinaus so zahlreiche briefliche und telegraphische Glückwünsche sowie 
andere Zeichen der Treue, Anhänglichkeit und Dankbarkeit auch aus den 
Kreisen unserer Leser und Mitarbeiter gesandt worden, daß es mir ganz 
unmöglich war, brieflich für jeden einzelnen Gruß zu danken. Ich muß 
darum bitten, unsern Dankesgruß auf diesem Wege entgegennehmen zu 
wollen. 

Ich hatte die Absicht, zu diesem Tage unsern Freunden eine Zu- 
sammenfassung meiner Erfahrungen und Gedanken zu geben, anstatt zu 
nehmen. Der Krieg mit seinen dringenderen Arbeitsverpflichtungen hat 
es verhindert. Doch einige der Aufsätze dieses Heftes sollen den Anfang 
bilden. Nur ein schlichtes Bilderbuch aus der Geschichte der Anstalt 
habe ich in den letzten Wochen vor dem Festtage noch eiligst zusammen- 
stellen können. Es führt den Titel: »Alte und neue Bilder aus 
Trüpers Erziehungsheim auf der Sophienhöhe zu Jena. Ein 
Festesgruß zum 25. Jahrestage seines Bestehens am 1. No- 
vember 1915.« (80 S.) Auf Wunsch sende ich es Freunden zum Dank 
gerne, soweit der Vorrat noch reicht. Trüper. 


158 B. Mitteilungen. 





5. Die ersten Wortbedeutungen, die Entwicklung der 
Wortarten und des Satzes bei meinem Sohn Rafael. 


Von Hanna Neugebauer, Kostenblut. 


Mein Sohn Rafael gebrauchte, übereinstimmend mit anderen be- 
obachteten Kindern (Aments Base, Hilde Stern, Günther Stern, Frau Wert- 
heimers Tochter, Majors Sohn R., Devilles Tochter, Baronin Benz’ Tochter, 
Goldens drei Töchter. Vergl. Ament, Die Entwicklung von Sprechen und 
Denken beim Kinde, S. 120, 163, C. W. Stern, Die Kindersprache, S. 217, 
218) zuerst vorwiegend Dingwörter. Von den 24 Wörtern, die er von 
0; 11 bis 1; 31) erlernte, waren 19 Namen für Dinge, 3 verbartige Worte 
und 2 Empfindungswörter. Das erste Dingwort und sinnvoll gebrauchte Wort 
überhaupt war kl-ta. 0; 11 Es hieß ticktack. Er wendete es zuerst für 
die Küchenuhr an, die ein langes Pendel hat, dann für die Wohnzimmer- 
uhr und sehr bald für alle Uhren, auch in fremden Räumen, aber auch 
für Barometer, Hängelampen und andre Dinge, die hoch hingen und in 
seinen Augen besonders schön waren. Allmählich beschränkte sich der 
Begriff wieder auf nur Uhren; Taschenuhren wurden ziemlich viel später 
dazu gerechnet. Das kl in kl-ta stammte vielleicht von dem Laut kl her, 
mit dem er im Alter von 10 Monaten Freude ausdrückte; Uhren waren 
von da an 1/, Jahr lang seine größte Freude. — Das ża in kl-ta wird 
unserm ticktack nachgesprochen gewesen sein. 

Es verging mehr als 1 Monat, ehe neue Dingwörter hinzutraten: 

1; 1/, bimbim = die Klingel an den Ladentüren beim Bäcker und beim 
Fleischer. 

buhm = Blume. 

wawa = Enten und Gänse, eine Nachahmung des vorgesagten Kinder- 
wortes » Waatschel«. 

brumbrum = Kühe. Das Wort ist selbständige Schallnachahmung, denn 
von mir hatte er immer »Muh« gehört als Bezeichnung für Kühe. 
brumbrum wurde 4 Wochen lang täglich gebraucht, namentlich für 
wirkliche Kühe; dann wurde es durch mmm, noch später durch das 
gehörte mu ersetzt. 

Mit 0; 7!/, waren kta hta brum brum seine liebsten sinnlosen Plauder- 
silben. 

leh = Licht. 

schsch. Die arbeitende Lokomobile nannte er selbständig schschh Am 
Tage darauf nannte er so das Feuer im Ofen. Wahrscheinlich er- 
innerte er sich beim ÖOfenfeuer an das Feuerloch der Maschine, das er 
schon oft mit Wonne offen und glühend gesehen hatte. Der Name 
schsch blieb bis um 2; 5 vorherrschend für alle Dampfmaschinen und 
wurde häufig von uns Erwachsenen mitgebraucht. 


1) Das Alter gebe ich nach C. und W. Sterns Muster wie folgt an: Die 
Ziffer vor dem Strichpunkt bezeichnet die Zahl der Jahre, die nach dem Strich- 
punkt die Zahl der Monate, die zu der betreffenden Zeit vom Leben des Kindes 
verflossen sind. 


5. Die ersten Wortbedeutungen, die Entwicklung der Wortarten usw. 159 





1; 2 gocklgockl = Licht. Er sprach es sehr schnell und flüsternd. Es 
war eine Nachahmung des vorgesprochnen »@uckelichtel« und ver- 
drängte bald vollständig das früher gelernte Ich. 

phphph = Schwein. Es war wahrscheinlich dem Schniefen oder Schnaufen 
der Schweine nachgeahmt, wurde dauernd gebraucht und ging später 
in ein scharfes ff über. 

1; 21), Pappa. Pappa sagte Rafael zum ersten Mal als der Vater mit 
ihm gespielt hatte, dann zur Tür hinausging und Rafael ihm bedauernd 
nachsah. Sehr merkwürdig war und ist es uns, daß er pappa sagte, 
obgleich wir ihm absichtlich nie pappa oder auch » Papds vorgesagt 
hatten, weil es mir, besonders mit der Betonung der ersten Silbe, miß- 
fiel. Er sollte lieber ohne einen Namen für den Vater bleiben, bis 
er würde »Vater« sprechen können. Pápa kann er nur ab und zu 
von Fremden gehört haben, die ihn beim Spazierenfahren mit mir oder 
dem Mädchen fragten: »Wo ist denn der Papa?« (Pápa ist die orts- 
übliche Betonung) Da muß wohl der Vater zuweilen zugegen ge- 
wesen, es muß auf ihn gezeigt worden sein, sonst hätte doch das 
Kind unmöglich eine Verbindung zwischen der Person des Vaters und 
dem Worte Päpa herstellen können. — Noch ist es möglich, daß Rafael 
mit jenem ersten pappa nicht den Vater, sondern sein Hinausgehn be- 
zeichnen wollte; in Schlesien wird ja vielfach abä, bā oder pā beim 
Fortgehn zu den Kindern gesagt. Doch glaube ich nicht, Rafaels erstes 
päpa so deuten zu sollen, da es in unsrer Familie durchaus nicht 
üblich ist und es Rafael auch nie wieder beim Fortgehn sagte, es da- 
gegen als Bezeichnung für den Vater beibehielt. Er wendete es dann 
auch für alle Bilder von fremden Männern an, aber nie für wirkliche 
fremde Männer. — Kurz darauf nannte er aber nicht nur den Vater, 
sondern auch mich, die Mutter, und das Dienstmädchen päppa. 
Ich erkläre mir das so: Wenn er deu Vater pappa nannte, so 
machte uns das große Freude. Ich als Mutter hätte nun natürlich 
gern auch meinen Namen von ihm gehört, daher fragten wir ihn 
indem wir auf mich zeigten: »wer ist denn das?« Da wir nun bei 
seinem pdppa für den Vater uns laut gefreut und ihn wahrschein- 
lich stürmisch geliebkost hatten, gab er auf dieselbe Frage: »wer ist 
das?« dieselbe Antwort, die natürlich großen Jubel hervorrief. Das 
bestärkte ihn darin, auf erneutes Fragen auch das Dienstmädchen pappa 
zu nennen. — Lange Zeit nannte er dann Vater und Mutter pappa, 
später verwechselte er pdppa und mdmma. Noch mit 1; 51/, ist 
im Tagebuch notiert: »pdppa und mämma unterscheidet er jetzt besser. 
Oft zeigt er abwechselnd auf den Vater und mich und sagt richtig 


dazu: pappa — mamma — pappa — mamma.« 

brr — Pferd. 

mimimimimi in den höchsten Quietschtünen —= Katze, Nachahmung von 
Miezekatze. 

tein = Stein. 


kich = stich für Nadeln und alles Spitzige, auch Blitzableiter, Dachver- 
zierungen, die in eine Spitze ausliefen und ähnliches. 


- 


160 B. Mitteilungen. 





mä-m-ä-m-ä für Schaf, Ziege, Reh und alle ähnlichen abgebildeten Tiere. 

pu = putput für Hühner. 

pi = piepiep für kleinere Vögel. 

b und bu für Bürste und Kamm. 

pëlě = Knöppele (Knöpfe) und Strümpele (Strümpfe). 

Die ersten 3 wie Zeitwörter gebrauchten Wörter waren: 

1; 1/ pappen = essen. Rafael sagte es zum erstenmal, als er das 
Schüsselchen mit seinem Brei sah, den er gleich bekommen sollte. 
Es konnte ebensogut heißen: Da ist mein Essen, wie: ich will das 
Essen haben. 

ph = blasen. Er hatte eine kleine Pfeife. Die steckte er mir oft in den 
Mund und machte eifrig ph ph. Er forderte mich damit auf, zu 
pfeifen. 

1; 2!/, auf = nimm mich auf, wenn er auf den Arm genommen werden 
wollte. Das f sprach er nicht scharf aus, sondern zwischen f und k. 
Die beiden Empfindungswörter dieses Vierteljahrs waren: bumbum 

und knkn: 

1; 21), bumbum für jedes klopfende Geräusch; mit knkn suchte er 
»guckucks beim Verstecken nachzuahmen. 

Im neuen Vierteljahr (1; 3 bis 1; 6) erwirbt Rafael zwei neue 
Wortarten: Das Eigenschaftswort und das Umstandswort. Die Eigen- 
schaftswörter sind: 

1; 41/, hss, hass oder heiß = heiß. 
mu = schmutzig. 
wi — finster. 
bra = brav. 

1; 5!/, na = nab. 
ea = schwer. 
wahm = warm. 

Sie wurden im Gegensatz zu den ersten Eigenschaftswörtern anderer 
Kinder nicht rein affektiv gebraucht: kei nannte er namentlich das Feuer 
im Ofen, das ihm außerordentlich großes Interesse einflößte, wakm den nicht 
mehr heißen, sondern nur noch warmen Ofen, mu = schmutzig den 
Straßenschmutz. bra, mit dem er feststellte, daß er artig gewesen sei, 
bildet den Übergang zu den beiden mehr affektiven Eigenschaftswörtern ea 
und na, ea —= schwer sagte er, wenn er etwas schweres trug, na = naß, 
wenn er umgezogen werden mußte. 

Vom »Gegensinn«e der Worte (vergl. Ament, Sprechen und 
Denken, S. 134, 146, Stern, Die Kindersprache, S. 225 f.) habe ich 
bei Rafael nichts bemerkt. Ich habe daran gedacht, das häufige »heiß« 
der Kinder für »heiß« und »kalt«e so zu erklären: mir ist es schon 
öfters begegnet, daß mir etwas ganz Heißes genau dieselbe Hautempfin- 
dung verursachte wie etwas Eiskaltes, so daß ich im Augenblick nicht 
wußte: ist das eiskalt oder siedendheiß? Nun könnten doch kleine 
Kinder mit ihrem ungeübten Hautsinn genau dieselbe Empfindung haben 
wie ich, so daß sie »heiß« für heiß und kalt gebrauchten. Der Vorrang 
des Wortes »heiß« vor »kalts erklärt sich leicht daraus, daß dem Kinde 


5. Die ersten Wortbedeutungen, die Entwicklung der Wortarten usw. 161 





das Wort »heiß«, meist, um es zu warnen, öfter genannt wird als »kalte«. 
— »Anziehn« für an- und ausziehn wird wohl häufig deshalb gebraucht, 
weil beides für das Kind nur eine Beschäftigung am Kinde mit seinen 
Kleidern ist; auf das Ergebnis dieser Arbeit achtet das Kind vielleicht 
nicht. — Scheinbar im Gegensinn wendete Rafael einige Male »draußen« 
an, z. B.: 1; 113/,. Wir waren im Garten, und ein Huhn war aus dem 
Hof in den Garten gekommen. Da rief Rafael: ein Hähnel noch draußen! 
Ich glaube sicher, daß das daher kam, daß er die Verbindung »draußen 
im Garten« unzählige Male gehört hatte, so daß ihm der Garten nicht als 
ein »drinnen« erscheinen konnte. Ähnlich erkläre ich mir die Äuße- 
rung des kleinen Scupin (Bubis erste Kindheit), der den Balkon vom 
Zimmer aus als »drin« bezeichnete. Er sah den Balkon nicht als Gegen- 
satz zum Zimmer an, sondern er sah, daß der Balkon ein abgeschlossner 
Raum war, der zur Wohnung gehörte und daher wohl mit »drin« be- 
zeichnet werden konnte. 

Die 7 Umstandswörter dieses Vierteljahrs sind, übereinstimmend 
mit den ersten Adverbien anderer Kinder (vergl. Ament, S. 170, Stern, 
S. 231 ff.), fast nur Umstandswörter des Ortes, mit meist volitionalem 
Charakter. 

mi = mit (soll die Muttel kommen). 

auf = auf (den Arm soll sie ihn nehmen). 
ab soll irgend ein Teil eines Spielzeugs. 
an soll ihn die Muttel wieder machen. 

Konstatierend sind nur: 
aus ist die Lampe. 
eck = weg (fliegt die Biene oder der Käfer). 

Dem Sinne nach sind alle diese Umstandswörter Zeitwörter. 

Volitional ist auch das einzige Zeitadverb: 
dann. Ich vertröstete ihn mit diesem Worte, wenn ich nicht sofort Zeit 

hatte, ihm einen Wunsch zu erfüllen. Er gebrauchte es bald selbst 

bei denselben Gelegenheiten in demselben, beruhigenden Tone wie ich. 

Außer diesen 7 Eigenschaftwörtern und 7 Umstandswörtern lernte 
Rafael im Vierteljahr von 1; 3 bis 1; 6 etwa 80 neue Dingwörter, 23 
verbartige Wörter und 13 Empfindungswörter. 

Der Wortschatz des 1!/,jährigen Kindes umfaßte also etwa 

155 Wörter, und zwar: 100 Dingwörter 

26 Zeitwörter 

15 Empfindungswörter 
7 Eigenschaftswörter 
7 Umstandswörter. 

Das Vierteljahr von 1; 6 bis 1; 9 bringt als Neuerwerbungen 
1; 7 a) Zusammengesetzte Dingwörter (1; 7), z. B. (H)ampel-mann, 

kolen-kasn (Kohlenkasten), bie-kasn (Briefkasten), Eisen - bahn, 

Milch-känndel, Gieß-kanne. Rafael machte dabei immer eine kleine 

Pause in der Mitte. Gießkanne fiel später durch Metalepsis zurück 

in Gießgaß. Manchmal strengte er sich sehr an, ein am Tage vor- 


Zeitschrift für Kinderforschung. 21. Jahrgang. 11 


162 B. Mitteilungen. 





1; 8 her neugelerntes zusammengesetztes Wort wiederzufinden, z. B. 
Mai-käwa, Brenn-nessel. Das letzte fiel ihm besonders schwer; 
zuerst sagte er Brenne, dann Bressel, schließlich mit jedesmaliger 
freiwilliger Sammlung und Anstrengung: Brenn-nessel. 

b) Die Mehrzahl mehrerer Dingwörter: 1; 7!/, hörte ich: Bäume, 
Blumen, Töne = Sterne; etwas später: Blätter, Blüten, Löcher. — 
Später hing er vielen Wörtern in der Mehrzahl ein n an, das lange Zeit 
bestehen blieb; noch 2; 4 sagte er zuweilen die Leuten, die Männern, 
die Kindern, die Schornsteinfegern. 

c) Einige Vergangenheitsformen, und zwar falsche und richtige. 
Z. B. sagte er: tretet für getreten, steigt für gestiegen, aber: hier gangen, 
(ge-nug gossen. (1; 8®/,). 

d) Eine Farbenbenennung sagt er nach: wa = schwarz (1; 6), 
als ihm das Mädchen Bilder von Negern als »schwarze Männer« be- 
zeichnete. Es war wohl nicht ganz unverstanden, da er es überhaupt 
nachsprach. Er hätte sonst vielleicht nur »Männer« nachgesprochen. 
1; 8 fing er an, schwarz und weiß zu unterscheiden, verwechselte sie 
aber noch manchmal: Die schwarze Markttasche nannte er weiß, seine von 
den bekalkten Bäumen weiß gewordenen Hände schwarz. 

e) Als neue Wortart tritt das Fürwort dazu und zwar zunächst 
das persönliche Fürwort für die 2. Person der Einzahl, nur in der oft 
gehörten und verstümmelten Form szehste. Gegen Ende des Vierteljahrs 
tauchte mein auf: meine Schaufel, meine Brot. 1; 8°/, sagt das Tage- 
buch: »Eine Ahnung von mein und dein scheint er schon zu haben, denn 
als die kleine Herta mit der Gießkanne fortlief, rief er mit Betonung: 
meine Gießkanne! Es wundert mich, weil wir doch Besitzunterschiede 
niemals betonen und er mit Kindern fast nie zusammenkommt.« 

f) Das Bindewort auch erscheint. Die neuen Wörter dieses Viertel- 
jahrs habe ich nicht alle aufgeschrieben, da sie sich zu sehr häuften. Statt 
einer Wortschatzzusammenstellung mag ein Ausschnitt aus einer mit- 
stenographierten Sprachprobe folgen. 1; 83/, Rafael saß mit mir am 
Frühstückstisch: Raffel auch Kaffee — Tasse — Milch — Zucker — 
leise (= langsam soll er rühren) heiß — wahm; danke. Kratze kratze 
Neumann. (Er denkt an das Rasieren [Kratzen] des Barbiers Heumann). 
Vatel (kommt). Drinne (in der Tasse) bissel Kaffee — manschen — 
leise. Dwfr)st. (Er hört im Zimmer aber uns Handwerker arbeiten.) 
Sigesage (= sägen) sehn! — Er singt: pipa puck. Kaffee drinne. 
Vatel Kaffee essen. Vatel fo(r)! — (kommt) wieder. — Gießen — 
Zucker — heiß. Eimer gießen. Milch sehn — alle. Raffel gießen, 
Lemmel rein. Bissel naß. (Er will zum Fenster hinaus-)gucken, (gibt's 
aber auf, um zum Spiel-)Zeug (zu) gehn und findet dabei ein Kästchen:) 
Kasten lieb (drückt ihn an sich) drücken — klappen —- rein. (Er 
spielt mit der Stoffkatze) Katze lieb — setxen — legen — treten. 
Wauwau (Holzhund) (ka-)put (Sch)wänzel nehmen — hoppen — Muttel 
hoppen machen (= ich soll die Katze springen lassen) Neumann. 
(sch)miere (sch)miere — klebe. (Die Katze hat) Guckel (= Augen) — 
Koppel — kämmen. Raffel kämmen. Er findet seinen kleinen Holz- 





5. Die ersten Wortbedeutungen, die Entwicklung der Wortarten usw. 163 





hammer: bumbum. Nagel holen, Nägel schlagen. Hammer. Ritz. 
(Er macht) (Sch)mutz raus (aus dem Dielenritz. Dabei zerbricht der 
Hammerstiel.) Hammer put — ab! Klebe klebe! (zer-\brochen! Klebe 
klebe! Dranbleiben! Bumbum machen! Klebe klebe (ich habe indessen 
den Hammerstiel geklebt, er soll nun) ro (= trocknen). 

Im Vierteljahr von 1; 9 bis 2 erscheint neu 

a) Der sächsische Genitiv. Er ist, wie bei Sterns Kindern, der Zeit 
nach der erste Fall nach dem Nominativ. Vergl. dagegen Ament, S. 166, 
wo der Dativ zuerst auftritt. 

b) Dingwörter mit Verkleinerungssilben. Vatale, Muttale, 
Papale, Mamale, Emmale, Hoppepferdela, a Lichtel, sogar Bretiele 
laufelen. »Vaterlee und »Mutterle« hatte er von uns gehört, danach 
mochte er die andern Worte gebildet haben. 

c) Das Fürwort für die 2. Person der Einzahl. Er wendete es 
aber in einer Anrede nur einmal an; gehsie du raus! sagte er zu einer 
Bohne, die er nicht aus einem Kästchen herausbekam (1; 11°/,). 

Dagegen sagte er zu sich selber eine zeitlang du, nicht nur in der 
Flüchtigkeitsform da haste eine Schaufel (1; 11/,), sondern auch mit 
betontem du, wenn er hervorheben wollte, daß er das oder jenes machen 
wollte, nicht jemand anders (1; 9). 

d) Das rückbezügliche Fürwort »siche. Von einem lachenden 
Herrn sagte er: Mann freut sich (1; 11). Wenn ihm seine Bauten 
schr gefielen, rief er: Raffel freut sich. Doch sagte er auch ein oder 
zweimal: das geht sich schwer. 

e) Hinweisende Fürwörter, und zwar: der, die, das, den, dem, 
dieses, solche und welche. Ein paar Tage lang gebrauchte er dieses. 
Mit solche Sch meinte er eine Lokomobile, zum Unterschiede von der 
Lokomotive. Wenn man ihn fragte: »Was für eine Sch soll ich dir denn 
malen?« rief er mit Nachdruck: eine solche!!! (später fügte er hinzu: 
mit ’n Dreschkasten!) Er gebrauchte solche nur in dieser einen Ver- 
bindung. — Welche wendete er in doppeltem Sinne an: fragend, wenn 
er z. B. wählend vor dem Bücherbrett stand, unschlüssig, welches Buch 
er nehmen sollte: welche? Dann brauchte er es, noch häufiger, im Sinne 
von əderen«. Z. B. wollte er an den aus Bauklötzen gebauten Dampfer 
Räder machen und sagte: Raffel welche suchen. 

f) Das Fürwort »ich« tritt auf, nachdem Rafael sich 4 Monate 
lang mit seinem Namen bezeichnet hatte. In ein und derselben Tagebuch- 
eintragung, 4 Tage vor seinem 2. Geburtstag, heißt es: »Ich sollte ihm 
die Katze holen gehn. ‚Ich weiß nicht, wo sie hingelaufen ist,‘ sagte ich. 
Drauf er mit starker Betonung: Raffel weiß! Do(r)i!« Und: »Zum ersten 
Male wendete er öch an: ich hab’n (hab ihn). —- Trotzdem er im ersten 
Beispiel seine Person hervorhob, im zweiten ganz und gar nicht, wandte 
er doch im ersten den Namen, im zweiten ck an. Das widerspricht der 
Ansicht mancher Beobachter, daß das Betonen der eignen Persönlichkeit, 
das volitionale Moment, das erste Ich hervorbringe. Vielmehr ist nach 
meinen Beobachtungen an Rafael das Ich nicht mehr und nicht weniger 

11* 


— e m Rn a M a 


164 B. Mitteilungen. 





als andre Neuerwerbungen eine Frage der Zeit, des allgemeinen geistigen 
Fortschritts und der in der Umgebung des Kindes üblichen Ausdrucks- 
weise. 


g) Richtige und falsche Mittelwörter: habt — gehabt, zuloßt 
= zugeschlossen, fortkrochen = fortgekrochen, tiegt = gestiegen, funden 
— gefunden, rauskriegt — rausgekriegt. — Die Vergangenheit von »sein« 
wird häufig richtig angewendet: (hier) war eine sch = Lokomobile. 

h) Das erste Abstraktum erscheint in der feststehenden, oft ge- 
hörten, in Sätze eingeschobenen Form: glaub ich. Es wird anfangs 
richtig und falsch durcheinander, bald jedoch nur richtig angewendet. — 
»Wissen« tritt zum erstenmal gleich richtig in dem Satze: Raffel weiß auf. 

i) Umstandswörter. Er beherrscht die meisten üblichen Um- 
standswörter des Ortes auch einige der Zeit, wie jetzt, erst, immer. 
Heute gebraucht er im Sinne von »jetzt«, morgen bedeutet die nahe Zu- 
kunft. — Von den [Tmstandswörtern der Art und Weise gebraucht er 
wohl (vermutend), noch und bloß. Noch wird anfangs mit »schon« ver- 
wechselt, aber sehr rasch berichtigt. 


k) ja, nei (nein) und nich (nicht) fallen in dieses Vierteljahr. Das 
erste nich (1; 91/,) war konstatierend und wurde zuerst selten angewendet. 
Etwas später erschien ein gedehntes ne? volitional und wenige Tage darauf 
auch konstatierend. — Als erstes ja habe ich ein fragendes notiert: (Darf 
ich auf den) Tisch steigen, ja? Wenige Tage darauf wurde es volitional 
und bald auch konstatierend gebraucht. 

l) Von Farbennamen ist nur (sch)warx vollständig sicher. Weiß, 
das er schon zu kennen schien, wird noch zuweilen als rot, gelb oder 
blau bezeichnet. Rot und grien (grün) werden oft gebraucht, aber be- 
ständig miteinander vertauscht. 

m) Drei Steigerungsformen wurden angewendet: besser, näher 
und höher. 

n) Bindewörter: und wird aufzählend gebraucht: und das — und 
das — und das. oder beim Wählen: der oder der? aber, z. B.: aber 
nich stoßen! auch, z. B.: viel Rauch, auch viel Rauch. 

o) Ganz neu ist der unbestimmte Artikel. Ich fragte: »Was 
baust du denn? Haus. Raffel baut ein Haus. 

p) Ebenso ist neu das erste Verhältniswort, nämlich be. Es 
heißt: bei, dabei, vorbei und vertritt auch andre Verhältnisworter, nament- 
lich »zu«, z. B. bei 'n Vatel gehn = zum Vater gehn. — Vereinzelt 
findet sich von, es wird dann lange Zeit statt »für« gebraucht; doch 
bleibt bei für alle Verhältniswörter vorherrschend. 

Ich habe nach Schluß dieses Vierteljahrs, also als Rafael 2 Jahre alt 
war, seinen Wortschatz zusammengestellt. Ich habe dazu alle Wörter 
gerechnet, die er überhaupt je spontan gebraucht hat, ohne Rücksicht 
darauf, ob er vielleicht das eine oder andre Wort wieder vergessen hat. 
Ich fand 938 Wörter, und zwar: 


6. Statistisches über die Fürsorgeerziehung im Königreich Sachsen. 165 





497 Dingwörter 
210 Zeitwörter 
73 Eigenschaftswörter 
56 Umstandswörter 
8 Verhältniswörter (aber nur 2 präpositional gebraucht) 
9 Zahlwörter 
14 Fürwörter 
2 Geschlechtswörter 
4 Bindewörter 
65 Empfindungswörter und Schallnachahmungen 
; 938 
Nach Prozenten berechnet, verhalten sich die verschiedenen Wort- 
arten zueinander ungefähr so: 
52,9 °/, Dingwörter 
22,3 „ Zeitwörter 
7,8 „ Eigenschaftswörter 
5,9 „ Umstandswörter 
11,1 „ Verschiedene 


100,0 9%, 
Die hohe Zahl der Wörter steht in richtigem Verhältnis zu Rafaels 
grammatischer Beherrschung der Sprache. (Schluß folgt.) 


6. Statistisches über die Fürsorgeerziehung im 
Königreich Sachsen. 
Von Anstaltslehrer K. Wittig, Bautzen. 

Mit dem 1. Oktober 1909 trat für das Königreich Sachsen das Für- 
sorgeerziehungsgesetz in Kraft. Über seine Wirkung bis zum Jahre 1913 
sei im folgenden kurz berichtet. Die Zahlen sind in der Hauptsache dem 
»Statistischen Jahrbuch für das Königreich Sachsen, 42. Jahrg., 1914/1915» 
entnommen. 


1. Die Gesamtzahl der Fürsorgezöglinge betrug 


im Jahre männlich weiblich Sa. 
1909 935 380 1315 
1910 1840 861 2701 
1911 2608 1293 3901 
1012 3287 1668 4955 
1913 3904 2057 5961 


Die Zahlen von 1909 und 1910 zeigen den gewaltigen Sprung aus 
der Zeit ohne Fürsorgeerziehungsgesetz in die mit dem Gesetz. Die männ- 
liche Jugend ist daran mit 103°/,, die weibliche mit 139°/, beteiligt. 
Nach diesem »großen Aufräumen« sinkt die prozentuale Zunahme ständig; 


166 B. Mitteilungen. 








1911 beträgt sie für die männliche Jugend 42°/,, für die weibliche 49 %/,; 
1912: männlich 26°/,, weiblich 30%,; 1913: männlich 21°/,, weiblich 
25°/,. Gegen das Jahr 1909 weist das Jahr 1913 eine Zunahme um 
3420/, für die männliche, um 481°/, für die weibliche Jugend auf. 
Prozentual ist also die weibliche Jugend der männlichen stets über. 

Setzen wir diese Angaben ins Verhältnis zur Zahl der jugendlichen 
Bevölkerung überhaupt, so zeigt sich auch da die Zunahme der Fürsorge- 
zöglinge gegen das Vorjahr und zwar prozentual fast in dem gleichen 
Maße, wie vorher bei der absoluten Betrachtungsweise: 

Auf je 10000 der berechneten mittleren Bevölkerung entfielen Für- 
sorgezöglinge 


1909: 2,79; 

1910: 5,65; Zunahme gegen 1909: rund 103%), 
1911: 8,07; „ n 1010: „ #8, 
1912: 10,15; „ a 1911: p 25, 
1913: 12,08;  „ „ 1912: „ 20 „ 
1913: Bi „ 1909: „ 333, 


Ist somit die Zahl der Fürsorgezöglinge im Steigen begriffen, relativ 
wie absolut betrachtet, so lassen doch die prozentualen Berechnungen die 
reinigende Wirkung des Fürsorgeerziehungsgesetzes deutlich 
erkennen. 


2. In welchem Umfange die einzelnen Fürsorgeverbände zu 
der Zahl der Fürsorgezöglinge beitrugen, mag folgende Übersicht deutlich 
machen. Sie gibt an, wieviel Fürsorgezöglinge auf je 10000 der be- 
rechneten mittleren Bevölkerung entfielen: 











Fürsorgeverbaud | 1909 1910 1911 1912 | 1913 
Bautzen 1.u.0% 5802.51 239 | 487 | 6ga | 872 | 1026 
Chemnitz (Land) . . .. .. 2,35 3,97 5,45 6,44 | 7,38 
Dresden (Land) . . . . . 2,30 5,02 6,74 8,60 10,23 
Leipzig land)... ....[ 112 382 | 491 | 628 ‚25 
Zwickau (Land). . . 22... 1,36 2,78 4,26 5,59 6,64 
Stadt Chemnitz* . 2.2... 4,98 9,52 13,86 17,31 19,49 

»„ Dresdn*.. . 2. 22.0. 3,96 8,48 13,03 16,54 21,91 
„Basler. 5 | 401 7,273 | 12,78 | 13,81 | 15,46 
n Plauen* . . 2.2 .2.2.J 856 13,52 18,41 22,39 22,07 
sn ZWIGKRUT Et Et 4,02 6,39 10,13 14,49 16,68 








Die Großstädte (mit * bezeichnet) übertreffen demnach den für das 
gesamte Königreich auf je 10000 der mittleren Bevölkerung berechneten 
Durchschnitt (s. S. 165) um ein Bedeutendes, während die übrigen Für- 
sorgeverbände stets unter ihm bleiben. 

3. Zu der Streitfrage: Familien- oder Anstaltserziehung? entnehmen 
wir der sächsischen Statistik folgende Zahlen: 


6. Statistisches über die Fürsorgeerziehung im Königreich Sachsen. 167 





Im Königreich waren 
in Familien oder in einem Lehr-, 


im: Jahr Dienst- oder Arbeitsverhältnis in Anstalten untergebracht 
männl. weibl. männl. weibl. 
1909 242 136 646 226 
1910 599 304 1171 538 
1911 1039 504 1458 762 
1912 1409 707 1727 912 
1913 1888 979 1838 1024 


Sind auch noch mehr als die Hälfte aller Zöglinge in Anstalten unter- 
gebracht, so ist doch eine Veränderung zugunsten der Familienerziehung 
unverkennbar. Vergleichen wir nur die Jahre 1909 und 1913 miteinander! 

1909 übertrifft die Zahl der männlichen Zöglinge, die in Anstalten 
untergebracht sind, Jiejenige der in Familienpflege sich befindlichen Zög- 
linge fast um das 3fache; 1913 ist sie von jener übertroffen. 1909 be- 
finden sich fast doppelt soviel weibliche Zöglinge in Anstalten als in 
Familien; 1,913 ist der Unterschied nur gering. 

Prozentual berechnet, ergibt sich folgendes Bild: 

1909 in Familie usw. 28,7 %,, in Anstalten 66,3 %/, 


1910 „ , n„ 335 u y j 63,3 „ 
1911 ” n y 39,5 „ ” ” 56,9 » 
1912 » p 19 42,7 n 1 y 53,3 y 


Am auffallendsten ist die Bevorzugung der Familie vor der Anstalt 
im Fürsorgeverband Dresden (Stadt). Es waren untergebracht 


in Familie in Anstalt 
männl. weibl. männl. weibl. 
1909 40 38 92 43 
1910 99 67 186 111 
1911 180 102 250 178 
1912 266 149 283 210 
1913 452 269 268 221 


Bei aller Wertschätzung der Anstaltserziehung kann man sich dieser 
Erscheinung nur freuen; sie entspricht der allgemeinen Bewegung zugunsten 
der Familienerziehung und wird sicher, trotz einzelner Gegner, sich noch 
weiter auswachsen. 

$ 17 des sächsischen Fürsorgeerziehungsgesetzes läßt die Unterbringung 
von Fürsorgezöglingen in Armen- und Arbeitshäusern zu, wenn die 
Zöglinge von den übrigen Insassen getrennt gehalten und erzogen werden. 
Es ist interessant, zu sehen, in welchem Umfange davon Gebrauch ge- 
macht wird. 

1913 befanden sich in städtischen Arbeitsanstalten 48 (Chemnitz), 
136 (Leipzig), 29 (Bez.-Anst. Bohnitzsch), in Armenanstalten 4 (Leipzig), 
1 (Meißen), 3 (Zittau), 30 (Gottleuba), 1 (Obergöltzsch), 18 (Pirna), 2 (Seidau), 
24 (Wiesenburg); Sa.: 306. 

Wie schwierig muß es wohl sein, bei kleinen Scharen getrennte Ein- 
richtung und Erziehung durchzuführen! Zu dieser Zahl von 306 treten 
(1913) 388 Zöglinge, die in Staatsanstalten untergebracht waren: 1 (Blinden- 


168 B. Mitteilungen. 
anstalt), 42 (Anstalt für Schwachsinnige), 345 (Erziehungsanstalt Bräuns- 
dorf) und 2168 in städtischen und privaten Erziehungsanstalten (Rettungs- 
häuser) befindliche Zöglinge. 

4. Die Zahl der Entweichungen belief sich 1909 auf 16 (13 männl., 
3 weibl), 1910 auf 53 (47 männl., 6 weibl.), 1911 auf 87 (72 männl., 
15 weibl.), 1912 auf 148 (120 männl., 28 weibl.), 1913 auf 191 (153 männl., 
38 weibl.). 

Das ist allerdings eine Steigerung, welche die der Gesamtzahl der 
Zöglinge beträchtlich übersteigt. Während die Gesamtzahl der männlichen 
Zöglinge sich auf das 4fache erhöht hat, hat sich die Zahl der Entweichungen 
verzehnfacht; der 5fachen Zahl der weiblichen Zöglinge steht eine 13fache 
der Entweichungen gegenüber. Man kann somit wohl, wie auch in Preußen, 
von einer Not des Weglaufens der Zöglinge sprechen. Lehrreich wäre 
es, auch in dieser Beziehung Anstalts- und Familienerziehung zu ver- 
gleichen. Leider fehlen mir dazu die nötigen Unterlagen. Ich vermute, 
auch dieser Vergleich würde zugunsten der Familienerziehung ausschlagen, 
ganz sicher dann, wenn man nur die Zöglinge in Betracht zieht, die von 
Anfang an einer Familie überwiesen wurden, nicht erst einer Anstalt und 
von dieser aus dann beurlaubt wurden. 

5. Nach $ 6 des sächsischen Fürsorgeerziehungsgesetzes kann das Vor- 
mundschaftsgericht die vorläufige Unterbringung des Minderjährigen 
verfügen, wenn sofortiges Einschreiten dringend geboten ist. Von dieser 
Füglichkeit ist, wie folgende Zahlen beweisen, ein reichlicher Gebrauch 
gemacht werden. Alle Freunde der gefährdeten Jugend werden das be- 
grüßen, um so mehr, als aus Preußen in dieser Beziehung mancherlei 
Klagen laut wurden und mancher fürchtete, es könne von dieser weisen 
Gesetzesbestimmung auch in Sachsen zu wenig Gebrauch gemacht werden. 


Jahr Gesamtzahl der an- Zahl der vorläufigen 
hängig geword. Sachen Unterbringungen 

1910 1561 693 

1911 1269 640 

1912 1383 737 

1913 1357 793 


Die Zahl der vorläufigen Unterbringungen wächst also ständig, so 
daß sie jetzt über die Hälfte der anhäugig gewordenen Fälle ausmacht. 
Man kann sich denken, daß besonders in Großstädten die Notwendigkeit 
sofortigen Eingreifens oft vorliegt. Eine Zusammenstellung unter Berück- 
sichtigung der einzelnen Landgerichtsbezirke bestätigt dies (* — Bezirke 
mit Großstädten). 

Im Jahre 1913 wurden im Tandgerichtsbezirk 
Bautzen bei 125 anhäng. geword. Sachen 42 vorläuf. Unterbring. angeordn.. 


Chemnitz* „ 210 „ ; a 187% ay e n 
Dresden* „ 8398 „ 5 » 276 z? ia 3 
Freiberg no 02 5 š a: 26 5 iz š 
Leipzig * » 341 2) ” ” 212 „ „ „ 
Plauen* S ERLA g X „44 „ 3 » 


Zwickau* „ 137 , m u WO „ AN 


6. Statistisches über die Fürsorgeerziehung im Königreich Sachsen. 169 








6. Über den Grund der Anordnung der Fürsorgeerziehung be- 
lehrt uns folgende Übersicht: 










Die Fürsorgeerziehung wurde angeordnet, weil 





die Voraussetz. | der Minderjährige | sie zur Verhütung die 
des $ 1666 oder | eine strafbare |des völligen sitt- | Erziehungs- 
des § 1838 B. G.-B. Handlung lichen Verderbens | berechtigten 
vorlagen begangen hatte nötig war sie beantragten 


Jahr 








7. Nach Altersstufen betrachtet, ergibt sich folgende Gruppierung 
der Fürsorgezöglinge: 


Jahr?) schulpflichtig schulpflichtig Ki bee 16 Jahre 
1909 44 815 252 204 
1910 70 1549 541 541 
1911 90 1888 877 1046 
1912 105 2195 1035 1620 


»Bei Beginn der Fürsorgeerziehung standen in den Jahren 1909 bis 
1911 noch über die Hälfte aller Zöglinge im schulpflichtigen Alter; erst 
im Jahre 1912 sank die Zahl unter 50°/,. Noch schulpflichtig waren: 

1909: 859 = 65,3 %/, 
1910: 1619 = 59,9 „, 
1911: 1978 = 50,7 „ 
1912: 2300 = 45,4 „«?) 

Die großs Zahl der über 16 Jahre alten Zöglinge setzt sich natürlich 
in erster Linie aus solchen Zöglingen zusammen, die in einem früheren 
Alter (unter 16 Jahre) der Fürsorgeerziehung überwiesen wurden, umfaßt 
aber auch eine große Zahl von Zöglingen, die erst in diesem hohen Alter 
Fürsorgezögling wurden. Ich kann das letztere allerdings nicht mit Zahlen 
beweisen, sondern berufe mich dabei auf meine Erfahrung und gehe über- 
haupt auf diesen Punkt ein, weil eine Bestimmung des sächsischen Für- 
sorgeerziehungsgesetzes die Befürchtung laut werden ließ, daß die Über- 
weisung zur Fürsorgeerziehung nach dem 16. Jahre so gut wie aus- 
geschlossen sei; sie lautet: »Ein Minderjähriger, der das 16. Lebensjahr 
vollendet hat, soll nur dann der Fürsorgeerziehung unterworfen werden, 
wenn begründete Aussicht besteht, daß durch sie eine Besserung erzielt 
wird.«e Die genannten Befürchtungen haben sich glücklicherweise nicht 
erfüllt. 


1) Aus »Die Fürsorgeerziehung im Königreich Sachsen«, von Reg.-Assessor 
Brückler. (Zentralblatt für Vormundschaftswesen . . . VI, 7.) 

?) Aus »Die Fürsorgeerziehung im Königreich Sachsen«, von Reg.-Assessor 
Brückler. (Zentralbl. f. Vormundschaftsw. ... VI, 7.) 


170 B. Mitteilungen. 





8. Zum Schluß werfen wir noch einen Blick auf die Kosten der 
Fürsorgeerziehung: 











durchschnittlicher täglicher Verpflegungs- 
aufwand für einen Zögling 





Jahr Aufwand insgesamt 








in Familien in Anstalten 
männl. weibl. männl. weibl. 
1909 73 205 0.35 0,32 1,05 0,92 
1910 559 107 0,35 0,34 1,13 1,01 
1911 894 564 0,36 0,36 1,11 1,02 
1912 1 113 630 0,37 0,37 1,11 1,00 
Der sächsische Staat hat zu diesen Kosten beigetragen 
1909: 34979 M 1910: 278048 M 
1911: 439074 „ 1912: 541343 „!) 


Der Erzieher wird in diesen statistischen Mitteilungen gewiß eine 
Angabe darüber vermissen, wieviele anormale Fürsorgezöglinge in 
Sachsen gezählt wurden. Das mir zur Verfügung stehende Zahlenmaterial 
gibt darüber keinen Aufschluß. Sicher wird es aber die Statistik tun, 
die vom Kgl. Sächsischen Statistischen Landesamt über die 
Wirkungen des Fürsorgeerziehungsgesetzes in den ersten vier 
Jahren seines Bestehens erhoben worden ist, die aber — wie mir das 
Statistische Landesamt auf eine Anfrage mitteilte — erst nach dem Kriege 
veröffentlicht werden soll. Meine Mitteilungen stimmen mit ihr überein: 
zu ihrer Ergänzung sei auf die hoffentlich recht bald erfolgende Ver- 
öffentlichung hingewiesen, 


7. Zum Lesenlernen der Schwachen. 
Von K. Eckhardt, Frankfurt a. M. 


Es sei mir gestattet, zu der wertvollen und besonders nach der 
psychologischen Seite hin außerordentlich anregenden Arbeit Nölls in 
dieser Zeitschrift?) (Formale und materiale Intelligenzdefekte als Hemmungen 
im ersten Leseunterrichte der Schwachbegabten und eine diesen Defekten 
angepaßte Leselehrmethode) einige ergänzende Bemerkungen zur Methodik 
des Lesenlernens zu machen. Es steht außer Zweifel, daß die besonderen 
Hemmungen und Schwierigkeiten, wie sie beim Lesenlernen der Schwach- 
begabten auftreten, durch die geschilderte Art der immanenten Wieder- 
holung erfolgreich überwunden werden können. Allerdings liegen die Er- 
folge lediglich in dem Gebiete des äußeren Lesevorgangs. Sie bedürfen 
einer Ergänzung durch unterrichtliche Maßnahmen, die auf die Gewöhnung 


1) Brückler, a. a. O. 
2?) Jahrgang XX, Heft 4, 5/6, 7/8, 10 und »Beiträge zur Kinderforschung und 
Heilerziehung«, Heft 125. 


7. Zum Lesenlernen der Schwachen. 171 





zum freudigen Erfassen des Leseinhaltes hinzielen und das hierbei frei- 
werdende Interesse als helfende und treibende Kraft, als »Motors für das 
Lesenlernen zu verwerten wissen. Die verdienstvolle Arbeit hebt diese 
Aufgabe des ersten Leseunterrichts wohl auch hervor, aber wie mir scheinen 
will, zu spärlich und zu sehr als letzte Anmerkung. Ich befürchte, daß 
mar hin und wieder aus der Arbeit Nölls etwas herausliest, was der 
Herr Verfasser sicher nicht hineinlegen wollte, nämlich: Es kommt in 
erster Linie auf formale Übungsreihen in der geschilderten 
Weise an, wenn dabei auch gelegentlich auf den sachlichen In- 
halt Rücksicht genommen werden kann, so ist das recht erfreu- 
lich, aber doch im Vergleich zu der Anordnung der Übungs- 
reihen nach lesetechnischen Gesichtspunkten von untergeord- 
neter Bedeutung. Das wird man schon deswegen herauslesen, weil 
eine folgerichtig durchgeführte Methode der Wortähnlichkeit die inhaltlich 
anregende Gestaltung der Lesestoffe außerordentlich erschwert, ja fast un- 
möglich macht. Nöll führt selbst nur ein einziges Beispiel einer Übungs- 
reihe (S. 453) an, die beiden Forderungen, formalen und materialen, oder, 
wie man auch sagen darf, lesetechnischen und kinderpsychologischen, aus- 
reichend entspricht. Im übrigen behilft er sich mit einer Schaffung künst- 
licher Beziehungen zwischen den inhaltlich einander fremden Wörtern. Das 
ist aber schon für Normalschulen ein Notbehelf, und mit schwachbefähigten 
Kindern hat man mit solchen Versuchen, den Wörtersalat schmackhaft zu 
machen, meist noch weniger Glück. Offenbar will eine inhaltlich be- 
friedigende Gestaltung des Lesestoffs im Rahmen der Methode der imma- 
nenten Wiederholung nicht gelingen. Nöll hat die Schwierigkeit der Ver- 
einigung seiner Übungsmethode mit der Forderung der Anschaulichkeit 
und Lebendigkeit des Lesestoffs und dessen Beziehung zum Sachunterricht 
selbst deutlich empfunden: »Es genügt aber nicht, daß die Wörter einer 
Lektion sich um ein und denselben Gegenstand gruppieren lassen. Die 
Wörter sollen auch untereinander so ähnlich sein, daß sie sich möglichst 
zu einer Übungsgruppe, die von dem von uns gekennzeichneten Ordnungs- 
prinzip der immanenten Wiederholung beherrscht wird, zusammenstellen 
lassen. Dieser Anforderung, die wir um der mit Intelligenzdefekten be- 
hafteten Schwachbegabter willen an die Fibel stellen müssen, ge- 
nügt eigentlich noch keine. Hier ist also für Fibelbearbeiter 
noch eine Aufgabe zu lösen.« (S. 462.) 

Der Lesevorgang besteht zu einem Teil aus der gewiß schwierigen und 
zusammengesetzten Umdeutuug der Schriftbilder in akustische und motorische 
Wortvorstellungen auf Grund der Buchstabenkenntnis und der Fähigkeit 
der Analyse und Synthese. Die bekannten experimentellen Untersuchungen 
über das Lesen könnten nun durch die Gründlichkeit und Sorgfalt, die 
sie diesen äußeren Teilvorgängen zuwenden, zu der Meinung verleiten, als 
ob in ihnen die ganze Kunst des lesens enthalten sei oder als ob man sie 
wenigstens unterrichtlich in ähnlicher Abgesondertheit pflegen könne, wie 
sie der Psychologe betrachtet. Das wäre ein bedenklicher Irrtum. Denn 
zum Lesen gehört neben jenen äußeren Vorgängen der Lesemechanik auch 
die Deutung des Leseinhaltes. Das ist nun für den Methodiker nicht nur 


172 B. Mitteilungen. 





so zu verstehen, daß die Kinder auf einer späteren Stufe einmal Gedanken 
und Wortbedeutungen aus den krausen Schriftzeichen herauslesen und die 
Kunst des Lesens in den Dienst ihres Bildungserwerbes stellen lernen sollen, 
sondern auch schon für die Lehrweise des ersten Leseunterrichtes ist 
diese doppelte Richtung der Lesevorgänge von grundlegender Bedeutung. 
Die höhere Stufe des Lesens darf nicht erst nach einer längeren Stufe 
»mechanischen« Lesens erstiegen werden, sondern — ich wiederhole hier 
in völliger Übereinstimmung mit den Schlußausführungen Nölls nur ge- 
läufige Forderungen der heutigen Pädagogik — die inhaltliche Seite des 
Lesens muß möglichst mit der äußeren zugleich gepflegt werden. Das 
muß schon deshalb geschehen, weil das Leseverständnis bei geschickt 
ausgewählten Lesestoffen geistige Kräfte erzeugt, die, wie die Erfahrung 
lehrt, zu einer Förderung und Beschleunigung der äußeren Vorgänge 
beim Lesenlernen und zu einer kraftvollen Überwindung mancher Hem- 
mungen sehr wertvolle Beiträge liefern. Lernenwollen ist noch immer 
der beste Weg zum Erfolg gewesen. Kürzlich sagte mir ein ABC-Schütze: 
»Herr E., wir wollen lieber lesen. Ich möchte schnell lesen können, daß 
ich die Zeitung lesen kann, wenn wieder ein Sieg ist!« Um diesen Stre- 
bungen Rechnung tragen zu können, begann ich in diesem Jahre mit der 
deutschen Druckschrift, und jetzt sind wir schon so weit, daß wir uns an 
den groß gedruckten Extrablättern versuchen. Mit einiger Unterstützung 
gelang schon das Lesen der weithin sichtbaren Überschrift: » Warschau 
gefallen.e Die lebhafte Absicht, die rätselhaften Zeichen zu entziffern, 
gab auch dem Schwachen neue Kräfte, und wenn zur Deutung der Sieges- 
nachricht ein Buchstabenname fehlte, dann wurde er aus den Bedürfnissen 
des Augenblickes heraus doppelt gern gelernt und als Erlebnis behalten. 
Ob auch bei schwachbegabten Kindern dieses Interesse am Leseinhalt 
geweckt nnd für die Lernarbeit fruchtbar gemacht werden kann? Beim 
Durchschnittshilfsschüler zweifellos. Und doch wird es hier oft für un- 
möglich gehalten oder wenigstens neben anderen Dingen übersehen. Einige 
besonders krasse Ausnahmefälle zwingen zu sehr, den Blick auf Teilvor- 
gänge, Sprachfehler und Gedächtnismängel zu richten, so daß man oft in 
Unterschätzung der Durchschnittsleistungen immer wieder in formalen 
Übungen das einzige Hilfsmittel zur Überwindung der Hemmungen zu 
finden glaubt. Man ordnet die mechanischen Übungen recht säuberlich 
nach der Schwierigkeit und sucht durch ein sorgfältig ausgebautes System 
von formalen Übungen die Lesefertigkeit zu steigern. Bezeichnend für 
diese Richtung der Hilfsschulpraxis ist es, daß die meisten Hilfsschul- 
fibeln bei ihrer Lückenlosigkeit und übergroßen Vorsicht im Aufbau so 
entsetzlich inhaltslos und formalistisch sind, als ob es eine erstrebenswerte 
Aufgabe sei, zum gedankenlosen Lesen zu erziehen. Die Darlegungen 
Nölls warnen zwar ausdrücklich vor diesem Formalismus und fordern 
eine gleichmäßige Berücksichtigung von Sach- und Formprinzipien, doch 
ist zu befürchten, daß bei einer ausschließlichen Übung im Lesen von 
Listen mit ähnlichen Wörtern das Interesse am Inhalt zu kurz kommt. 
Ich halte eine Zuspitzung der Hilfsschulmethode auf das Nur-Formale für 
einen Schaden. Auch die Hilfsschüler und gerade sie, können durch die 


7. Zum Lesenlernen der Schwachen. 173 


Pflege des Leseinhaltes eine wertvolle, durch andere Maßnahmen kaum zu 
ersetzende Förderung erfalıren. 

Das ist bei der Natur der besonderen Störungen und Hemmungen 
auch gar nicht verwunderlich. Ich greife im Anschluß an die Darlegungen 
Nölls einige Intelligenzmängel heraus. Die Mängel im dauernden und 
unmittelbaren Behalten drängen dazu, den ersten Leseunterricht in den 
Sachunterricht einzusenken, damit das Erlernen zum Erleben werde, wo- 
durch das Erworbene stärker festgehalten wird. Die Schwäche des Willens 
und der Aufmerksamkeit und das gesamte geistige Tempo können durch 
die an dem Leseinhalt aufkeimenden Lustgefühle eine wirksame Auffrischung 
erfahren. Die Mängel in der Funktion der Analyse und Synthese ver- 
langen nach Hilfen und Erleichterungsmitteln; wir geben deshalb sachlich 
zusammengehörige Gruppen und anschauliche, lebensvolle Ganze, bei denen 
Inhalt und Bekanntheit das Lesen durch eine ungefährliche Form des Er- 
ratens unterstützen. Die Spracharmut der Kinder zwingt uns, einen Lese- 
stoff darzubieten, der dem Kinde sprachlich und inhaltlich geläufig ist, 
damit sich die »naturwüchsigen Begriffsbezeichnungen« helfend und ver- 
bessernd geltend machen. Ein solcher Lesestoff wird natürlich lose neben- 
einandergestellte Formwörter und weniger gebräuchliche Begriffswörter ver- 
meiden und sinnvolle Wortgruppen und anschauliche Leseganze bevorzugen. 
Die Unfähigkeit der Kinder, allgemeine Regeln zu finden und anzuwenden, 
legt nahe, solche Regeln über den Stellenwert der Buchstaben zu sparen 
und einzig den Leseinhalt als berichtigendes Hilfsmittel auszunutzen. 

Natürlich soll man das eine tun und das andere nicht lassen. Regel- 
mäßige mechanische Übungen, selbst unter Benutzung sinnloser Silben, wo’s 
nötig ist, und Übungsreihen im Sinne der Vorschläge Nölls auf der einen 
Seite, daneben aber immer und immer wieder aus dem Sachunterricht 
herauswachsende, inhaltlich anschauliche und lebensvolle Übungsgruppen 
und Fibelstoffe, die ein leichtes und freudiges Ergreifen des Inhaltes nahe- 
legen. Die Fibel zum mindesten soll in erster Linie Wert auf anschau- 
liche Leseinhalte legen und den formalen Übungsstoff an Lesemaschine 
und Wandtafel verweisen. Das ist nicht nur deswegen wünschenswert, 
weil der Lehrer beim Zusammenstellen dieses Übungsstoffes alsdann den 
besonderen Bedürfnissen seiner Klasse Rechnung tragen kann, sondern es 
wird bei diesen Übungen ohne Fibel auch eine bessere Beobachtung der 
Kinder und Kontrolle der Mundstellungen und Lesefehler gesichert. Die 
Fibel enthalte deshalb nur die kindertümlichen Sprachganze, die auf der 
Anwendungsstufe zu lesen sınd. Für die Übungen, die zwischen die ein- 
zelnen Lesestückchen einzuschieben sind, möchte ich die Benutzung der 
Schülerlesekästchen besonders warm empfehlen. Gerade das von Nöll 
vorgeschlagene Übungsverfahren findet in diesen Setzkästchen ein geeignetes 
Hilfsmittel, und es ist eine wohltuende und fördernde Abwechslung, wenn 
zu dem Lesen starrer ähnlicher Wortbilder das selbsttätige Verändern eines 
gegebenen Wortes tritt. Und es braucht in dieser Zeitschrift kaum noch 
gesagt zu werden, daß das einfachste Lehrmittel in der Hand des Kindes 
wertvoller ist als der beste Apparat vor der Klasse. 

Eine Gefahr scheinen jedoch sinnvolle Lesestücke, flüssig geschriebene 


174 B. Mitteilungen. 


kındertümliche Leseganze zu haben: Sie verleiten zum Erraten und Aus- 
wendiglernen ganzer Wortbilder. Besonders die Sprachbegabten mit ihrer 
Neigung zur schweifenden Aufmerksamkeit und ihrer gehemmten Fähigkeit im 
analysierenden Sehen werden gern diesen bequemen Ausweg gehen. Meines 
Erachtens ist die Gefahr bei richtiger Unterrichtsweise nicht vorhanden 
oder recht gering. Eine Gruppe sachlich zusammengehöriger Wörter oder 
ein kindertümliches Lesestückchen kann und darf natürlich nicht solange 
gelesen werden wie senkrecht und wagrecht angeordnete Übungsreihen 
zusammenhangsloser Wörter oder sinnloser Silben. Nach mechanischen 
Übungen irgendwelcher Art kommt die Anwendung und Erprobung des 
Erlernten an dem inhaltsvollen Stoff. Mit seiner Erarbeitung hat dieser 
Stoff seine Schuldigkeit erfüllt; an ihm noch weiter einüben und wieder- 
holen wollen, wäre verfehlt. Wenn nun dabei wirklich manche Wörter 
als Gesamtbilder eingeprägt werden, was schadet's? Selbst als Anhänger 
eines synthetischen Verfahrens kann man es nur billigen, wenn häufig ge- 
lesene Wörter früher als andere in Gesamtinnervationen gelesen werden. 
Das entspricht ganz der Ökonomie und Technik des kindlichen Arbeitens. 
Auch die Art der Verwendung der immanenten Wiederholung, wie sie 
Nöll beschreibt, hat letzten Endes ihre Erleichterungen darin, daß sie das 
Einprägen von Gesamtinnervationen an Stelle des rein synthetischen Ver- 
fahrens pflegt. Ich billige eine solche Methode durchaus, denn gerade 
den Schwachen müssen Schwierigkeiten aus dem Wege geräumt werden, 
denen sonst ihre Arbeitsfreudigkeit erliegen würde. 

Beachtenswerter ist ein anderes Bedenken: Lassen sich denn über- 
haupt für den Anfang sinnvolle und anschauliche Lesestoffe zusammen- 
stellen, die zugleich lesetechnisch einfach sind? Fast scheint eine solche 
Vereinigung lesetechnischer (formaler) und kinderpsychologischer (materialer) 
Prinzipien undurchführbar zu sein, wenn man streng synthetisch >nach 
schematischen Grundsätzen« aufgebaute Hilfsschulfibeln und »Vorfibeln« 
neben manche geschmackvolle und anregende moderne Fibel hält: dort 
sorgfältige Abstufung nach wirklichen und vermeintlichen Leseschwierig- 
keiten und dabei grenzenlose Öde und Dürftigkelt im Inhalt (fast könnte 
man den Hilfsschülern mit gleicher Wirkung auch Latein als Lesekost 
vorsetzen !), hier von der ersten Seite an Leben und Inhalt, aber dabei auch 
frühzeitig Leseschwierigkeiten, die der Hilfsschüler leider nicht bewältigen 
kann. Also bleiben Sach- und Formalprinzip unvereinbar? Doch nicht. 
Nur müssen hüben und drüben einige Zugeständnisse gemacht werden. 
Sprachliche Einfachheit und inhaltliche Anschaulichkeit lassen sich ver- 
einigen, wie einige neuere Fibelarbeiten zeigen. (Es ist wohl nicht un- 
bescheiden, wenn ich in diesem Zusammenhang auf eine eigne Arbeit, die 
Fibel »Fröhlicher Anfang«, verweise.) Jedoch ist es schwierig und meist 
unmöglich, zugleich auch noch für Ähnlichkeit der Wortbilder zu sorgen. 
Da dürfte der schon angedeutete Ausweg bleiben, beides, nämlich Fibel- 
stück und Übungsreihe zur immanenten Wiederholung, zu trennen, und 
den inhaltsvollen Fibelstoff neben den aus dem Anschauungsunterricht 
herauswachsenden Lesestoffen mehr im Sinne des Materialprinzips und die 
anderen Übungen mehr zur Pflege der mechanischen Fertigkeit auszunutzen. 


8. Das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin. 175 





Auch die Hilfsschule darf die Ziele des ersten Leseunterrichts nicht 
lediglich oder vorwiegend durch ein System formaler Übungen zu erreichen 
suchen, es genügt auch zur Durchführung des Sachprinzips noch nicht, 
innerhalb des streng formalistisch geordneten Übungsmateriales sachliche 
Beziehungen herzustellen. Sondern im Mittelpunkte des Leseunterrichtes 
müssen die im Sachunterricht sich "ergebenden Lesestoffe und inhaltlich 
anregende, anschauliche Lesestückchen stehen, denen nur dann, wenn be- 
sondere Mängel es erfordern, entsprechende formale Übungsreihen zur Seite 
treten. Keineswegs darf ein formalistisches Prinzip rein oder vorwiegend 
die Gestaltung des Leseverfahrens und die Auswahl der Lesestoffe regeln. 
— Was die besondere Frage der Methode der ähnlichen Wortbilder be- 
trifft, darf vielleicht folgendes zu ihrer Beurteilung gesagt werden: Die 
geschilderten Übungen sind zweifellos imstande, die lautliche Seite des 
Lesevorgangs bei schwachbefähigten Kindern günstig zu beeinflussen. Da 
jedoch eine ausreichende Durchführung des Sachprinzips dabei nicht mög- 
lich ist, ist es ratsam, diese Übungen nur als gelegentliche Unterstützung 
eines den Leseinhalt in größerem Maße pflegenden, wenn auch weniger 
streng systematischen Verfahrens anzusehen. 


8. Das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht 
in Berlin. 
Von Otto Bobertag. 

Bei Gelegenheit des Regierungsjubiläums Kaiser Wilhelms II. wurde 
durch den preußischen Kultusminister die »Jubiläumsstiftung für Erziehung 
und Unterricht« ins Leben gerufen. Aus den Mitteln dieser Stiftung ist 
das »Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht« begründet worden, 
dessen Eröffnung am 21. März 1915 in Berlin stattfand. Es befindet sich 
vorläufig im Gebäude Potsdamerstr. 120; später soll es in einen Monu- 
mentalbau am Hegelplatz (bei der Universität) übersiedeln, den die Stadt 
Berlin als Jubiläumsgabe für den Kaiser zu errichten gedenkt. 

Die Aufgabe des Instituts ist, »für das gesamte, weitverzweigte 
Gebiet des Erziehungs- und Unterrichtswesens eine gemeinsame zentrale 
Sammel-, Auskunfts- und Arbeitsstelle zu schaffen«e. Demgemäß gliedert 
es sich in: 1. die Pädagogische Abteilung, 2. die Ausstellungsabteilung, 
3. die Abteilung für Auskünfte mit Einschluß der Kgl. Preuß. Auskunfts- 
stelle für Schulwesen, 4. die Kgl. Preuß. Zentralstelle für den naturwissen- 
schaftlichen Unterricht und 5. die Zentralstelle für Volksbücherei. 

Die Pädagogische Abteilung veranstaltet zur Weiterbildung der 
Lehrerschaft Vorträge, Vorlesungen und Übungen. Diese behandeln: 

1. Schulorganisation, Schulverwaltung, Schulbau, Schulhygiene, Schul- 
betrieb. 
Jugendkunde. 
Allgemeine Pädagogik und ihre praktischen Anwendungen. 
Methodik und Didaktik der einzelnen Unterrichtsfächer. 
Fortschritte der wissenschaftlichen Forschung in ihrer Bedeutung 
für den Unterricht. 


ZUM a 


176 B. Mitteilungen. 





Im laufenden Winterhalbjahr werden je eine Vorlesung über Psycho- 
logie, über Pädagogik, Schulverwaltung und Schulhygiene, ferner zur Förde- 
rung des deutschen Unterrichts acht Einzelvorträge (»Deutsche Abendee) 
und sechs Vorlesungsreihen, sowie für den naturwissenschaftlichen Unter- 
richt zehn Übungskurse abgehalten. Weitere neun Einzelvorträge sind 
der Besprechung der Berliner Museen und ihrer unterrichtlichen - Aus- 
wertung gewidmet (»Berliner Abende«e). Für die seminarischen Übungen 
in Pädagogik ist eine besondere Handbücherei beschafft worden. Ähn- 
liche Veranstaltungen sind für die Provinz sowie besondere Ferienkurse 
in Berlin in Aussicht genommen. Weiterhin besteht die Aufgabe der 
Pädagogischen Abteilung in der Begründung und Zusammenfassung von 
Arbeitsgemeinschaften für einzelne Gebiete des Erziehungs- und Unterrichts- 
wesens, 

Die innere Arbeit wird durch besondere Fachausschüsse geleistet, 
die sich aus Schulmännern, Gemeindebeamten, Vertretern von Vereinen 
usw. zusammensetzen. Sie betreiben auf dem Gesamtgebiete des Erziehungs- 
wesens das Sammeln, Ordnen, Sichten und Bearbeiten von Material, das 
den gegenwärtigen Stand des Erziehungswesens und etwa hervortretende 
neue Entwicklungsrichtungen feststellen soll. Die statistischen Erhebungen 
sollen, soweit angängig, eine graphische Behandlung finden für Zwecke 
des Archivs, der Ausstellungen und der Vorlesungstätigkeit. Mit Hilfe 
der Fachausschüsse wird das Zentralinstitut auch Untersuchungen über 
bestimmte Fragen veranstalten und Anregungen zu bestimmten Unter- 
richtsversuchen geben. Durch Veröffentlichungen (Jahrbuch, Mitteilungen, 
Einzelschriften) sollen die Ergebnisse der Arbeiten des Institutes weiteren 
Kreisen zugänglich gemacht werden. 

Eine besondere Unterabteilung dient der Unterweisung und Forschung 
auf dem Gebiete der Psychologie, entsprechend der in letzter Zeit so 
schnell gewachsenen Bedeutung dieser Wissenschaft für die ersprießliche 
Behandlung aller Fragen aus dem gesamten Umkreise der pädagogischen 
Tbeorie und Praxis. Die neuere Pädagogik!) trägt bekanntlich dies als 
Grundzug an sich, daß sie alle Maßnahmen, die der Erziehung und Be- 
lehrung des Kindes dienen sollen, auf die Erkenntnis der Natur des 
Kindes gründen möchte. Wir begnügen uns heute nicht mehr damit, den 
allgemeinen Bildungsgang der Jugend nur aus philosophisch - logischen 
Grundsätzen abzuleiten und anderseits die besonderen Schulerfolge aus- 
schließlich von der Erfahrung der einzelnen Lehrpersonen abhängen zu 
lassen. Wir wollen auch den natürlichen körperlichen und geistigen Ent- 
wicklungsgang des Kindes, seine besonderen Verstandes- und Gemüts- 
bedürfnisse, die individuellen Unterschiede seiner Begabung und Willens- 
artung, die mannigfachen aus ihm selbst stammenden Schwierigkeiten, 
Hemmnisse und Gefahren der Erziehungsarbeit und manches andere mehr 
kennen; wir wollen in den feineren Mechanismus der Lern- und Übungs- 
vorgänge Einblick gewinnen und hier genauer als bisher das Ursprüng- 
liche vom Erworbenen, das Zweckmäßige von dem Nachteiligen, das 





1) Jedoch schon seit Comenius, Pestalozzi und Herbart. Die Schriftleitung. 


8. Das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin. 177 





Bleibende und Echte von dem Vergänglichen und Unechten zu unter- 
scheiden wissen. Und an solchem Kennen und Wissen erst wollen wir 
die praktisch-pädagogischen Maßnahmen prüfen und sie ihm, seinem je- 
weiligen Stande nach, anpassen. 

Bei diesem Stande der Dinge, der jedem einsichtigen modernen Er- 
zieher und Lehrer der Jugend vertraut ist, erscheint es also nur gerecht- 
fertigt, wenn der »Kinderforschung«, der »Jugendkunde«, der »experi- 
mentellen Pädagogik«e — oder wie man sonst sagen will — innerhalb 
des Zentralinstituts besondere Beachtung geschenkt wird. 

Unter den Aufgaben nun, vor die sich die Psychologie im Rahmen 
des Instituts gestellt sieht, wird an erster Stelle die Anlegung und stetige 
Fortführung einer Sammlung stehen, die mehrere Abteilungen zu um- 
fassen hat, nämlich: 

1. Eine Sammlung von Untersuchungsmitteln auf dem gesamten 
Gebiete der Kinderforschung. Hierzu gehören Apparate für experimentelle 
Arbeiten, sogenannte »Tests«, Fragebogen, Formulare aller Art; eine be- 
sondere Auswahl hiervon wird so herzustellen sein, daß sie dem Zwecke 
der Veranschaulichung in Vorlesungen und Übungen angepaßt ist. 

2. Eine Sammlung von psychologisch interessanten Erzeugnissen 
der kindlichen Geistestätigkeit, also von Zeichnungen, Plastiken, schrift- 
lichen Äußerungen, musikalischen Kompositionen, technisch-handwerklichen 
Produkten, selbstgefertigten Spielsachen u. dergl., alles dies natürlich von 
psychologischen Gesichtspunkten aus geordnet und bearbeitet. 

3. Eine Sammlung von »Ausdrucksformen« des kindlichen Seelen- 
lebens; hierher gehören Photographien, kinematographische Aufnahmen, 
ferner Handschriften, vielleicht auch Phonogramme. Innerhalb der beiden 
letztgenannten Abteilungen wird das in irgend einer Hinsicht abnorme 
(psychopathische, schwachsinnige, kriminelle, auch übernormal begabte usw.) 
Kind eine gesonderte Betrachtung erfahren müssen. 

4. Eine Sammlung von Ergebnissen der Kinderforschung in Form 
von Tabellen, graphischen Darstellungen u. dergl. Auch Protokolle aus 
den Untersuchungen einzelner Forscher, die sie nicht mehr benötigen, 
würden hier untergebracht werden können. 

Eine zweite Hauptaufgabe der psychologischen Unterabteilung wird 
die Erteilung von Auskünften sein. Das psychologische Interesse der 
Lehrerschaft aller Schulgattungen ist seit einigen Jahren in starkem Zu- 
nehmen begriffen, und es ist hoffentlich zu erwarten, daß dieses Interesse 
nach dem Kriege einen neuen Aufschwung nehmen wird. Die eben ge- 
schilderten psychologischen Sammlungen des Instituts würden ja auch ihren 
Zweck nicht erfüllen können, wenn sie nur Gegenstand gelegentlicher Be- 
sichtigung wären und nicht auch eine Anregung und Grundlage für die 
lebendige Durchdringung der Erziehungs- und Lehrtätigkeit mit psycho- 
logischem Wissen und Denken darstellten. Unter diesen Umständen wird 
es nun naturgemäß notwendig sein, die Sammelstelle zugleich zu einer 
Auskunftsstelle zu machen, wo sich die psychologisch interessierten Päda- 
gogen über Fragen der psychologischen Arbeitsmöglichkeit, der Unter- 
suchungsmethodik und -technik, der bereits vorliegenden Literatur über 


Zeitschrift für Kinderforschung. 21. Jahrgang. 12 


178 B. Mitteilungen. 








bestimmte Themata u. dergl. m. orientieren können. Zum Zwecke der 
Auskunfterteilung werden eine genügend umfängliche psychologische Biblio- 
thek sowie sonstige bibliographische Hilfsmittel zur Verfügung stehen. 

Die dritte und letzte Hauptaufgabe braucht nach dem bisher gesagten 
hier nur genannt, nicht näher ausgeführt zu werden; sie besteht darin, 
selbständige Untersuchungen auf dem gesamten Gebiete der Kinder- 
forschung oder pädagogischen Psychologie in die Wege zu leiten. Es 
werden die methodischen Hilfsmittel hierfür zu beschaffen sein, es wird 
die erforderliche Anleitung und Unterstützung zu gewähren und die Ver- 
wertung der Untersuchungsergebnisse für die Praxis zu fördern sein. — 
Für die nächste Zeit, für die das Zentralinstitut erst eine vorübergehende 
Unterkunft gefunden hat, wird dieser Tätigkeitszweig der psychologischen 
Abteilung zurücktreten können und müssen, doch ist zu hoffen, daß er 
später, wenn vor allem die Raumverhältrisse günstigere geworden sein 
werden, eine schnell zunehmende Bedeutung erlangen wird. — 

Angegliedert an die Pädagogische Abteilung ist die Zentrale für 
Kleinkinderfürsorge, mit der das Zentralinstitut sich an dem neu- 
gegründeten Deutschen Ausschuß für Kleinkinderfürsorge beteiligt. 

Von den Aufgaben dieses Ausschusses (Materialsammlung zum Zwecke 
eines Archivs, die Errichtung einer psychologischen und pädagogischen 
Bücherei, die Erweckung des öffentlichen Interesses für die heutigen 
Forderungen der Kleinkindererziehung und die Erteilung von Anregungen 
zu einem planmäßigen Ausbau der Kleinkinderfürsorge) hat das Zentral- 
institut übernommen: die Materialsammlung, die Bücherei, die Errichtung 
einer Auskunftsstelle für Kleinkindererziehung und -fürsorge, sowie die 
Fortbildung der auf diesem Gebiete arbeitenden Personen durch Vorträge, 
Kurse und Ausstellungen. Die Auskunftsstelle ist bereits seit dem 1. De- 
zember 1915 im Betriebe. 

Die Abteilung für Ausstellungen wurde bei der Gründung des 
Zentralinstituts gebildet aus den ihr als Eigentum überwiesenen Beständen 
der ehemaligen »Deutschen Unterrichts-Ausstellung« auf der Weltausstellung 
in Brüssel (1910) und aus dem »Schulmuseum der Stadt Berlin«. Sie 
unterhält nicht bloß eine ständige Ausstellung, sondern veranstaltet auch 
wechselnde Ausstellungen und versendet Wanderausstellungen, um überall 
anzuregen und zu rüstigem Weiterschreiten in der Schularbeit zu er- 
muntern. Bei der Eröffnung des Zentralinstituts waren zwei Sonder- 
ausstellungen vorhanden: »Schule und Kriege und »Biologische Schul- 
arbeite, beide waren werktäglich von 10—6 für jedermann unentgeltlich 
zugänglich. Über die Ausstellung »Schule und Kriegs ist eine ausführ- 
liche Beschreibung (206 Seiten mit 49 Abb.) im Verlage Weidmann, Berlin, 
erschienen. 

Die Auskunftsstelle für Schulwesen ist im Jahre 1913 aus 
der 1899 begründeten Auskunftsstelle für Lehrbücher des höheren Unter- 
richtswesens gebildet worden. Sie ist ermächtigt, in allen Fragen, die das 
der Unterrichtsverwaltung unterstellte preußische Schulwesen einschließlich 
der Lehrer- und Lehrerinnenbildungsanstalten betreflen, Auskünfte zu er- 
teilen oder zu vermitteln, desgleichen über Fragen des Schulwesens in den 


9. Der Deutsche Fröbelverband. ` 179 





deutschen Bundesstaaten und über deutsche Schulen im Auslande. Aus- 
geschlossen ist nur Auskunftserteilung über Personen, persönliche An- 
gelegenheiten, sowie über noch nicht öffentlich bekannt gegebene Ver- 
fügungen der Behörden. 

Die Zentrale für Volksbücherei ist bestimmt, die Sache der 
Volkshücherei durch Rat und Tat zu fördern; insbesondere wird sie in 
landschaftlich begrenzten Bezirken die selbständige heimatliche Bücherei- 
arbeit (Provinzialberatungsstellen) unterstützen. Sie eröffnet demnächst 
Kurse zur Ausbildung für den Volksbüchereidienst, die sorgfältig vor- 
gebildetes Personal schaffen sollen. Sie sammelt archivalisches und technisches 
Material für Volksbüchereiwesen. Für weitere Kreise wirkt sie fördernd 
durch Vorträge in den Räumen des Zentralinstituts, damit die Benutzung 
von Büchern ein allgemeines öffentliches Bedürfnis werde. 

Der Vorstand des Zentralinstituts besteht aus sieben Personen, sein 
Verwaltungsausschuß aus dem Vorstande und 16 weiteren Mitgliedern. — 
Dem Zentralinstitut wird sich voraussichtlich auch die »Gesellschaft für 
deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte« anschließen. 


9. Der Deutsche Fröbelverband 


hielt am 4. und 5. Oktober 1915 seine 17. Hauptversammlung als Kriegs- 
tagung in Mannheim ab. Über alles Erwarten stark waren Beteiligung 
und Interesse. An Stelle der erkrankten 1. Vorsitzenden Frau Martha 
Back-Frankfurt a. M. eröffnete Herr Prof. Keller-Frankfurt a. M. die 
Tagung mit wohltuender innerer Anteilnahme. Mit Berichten aus der 
Kriegsarbeit der Mitglieder wurde begonnen; da erfreute einer durch die 
Tatsache, daß die Erkenntnis vom Segen eines wohlgeordneten Kinder- 
gartens in einer ländlichen Gemeinde aus dem vorübergehenden Kriegs- 
kindergarten schon jetzt eine feststehende Einrichtung werden ließ. Den 
Höhepunkt der Berichterstattung bildete eine Darstellung von Frl. Rosen- 
hagen-Hamburg, die zeigte, wie die mustergültigste Organisation und der 
allerbeste Wille nicht genügen, um auch »nur« einen Kindergarten zu 
leiten. Der Hamburger sozialdemokratische Frauenverein setzte den Ge- 
danken in die Tat um in gemeinsamer, wechselweiser Arbeitsleistung die 
Mütter der dem Kriegsheim zugeführten Kinder für den Fortbestand des 
Heims verantwortlich zu machen. Nachdem alles mit großer Liebe Zu- 
sammengetragene kurz und klein zerschlagen war und sich herausgestellt 
hatte, daß auch nicht eine einzige der Mütter imstande war, die ganze 
Schar der Kinder zu bändigen, holte man eine Kindergärtnerin zu Hilfe. 
Nun kam wohl Ordnung in die Kinderschar, aber das »drum und drans, 
wie Kochen und Reinmachen, brachte solche Reibereien und Mißhelligkeiten 
unter die noch amtierenden Mütter, daß das Heim aufgelöst werden mußte. 
Diese Erfahrung ist so interessant, daß sie verdient festgehaltenzu werden. 

Als Hauptpunkt der Tagesordnung vom 5. Oktober folgte den Be- 
richterstattungen der Vortrag des Herrn Dr. Sickinger über das Thema: 
»Was bedeutet das Mannheimer Schulsystem für nicht normal veranlagte 


180 B. Mitteilungen. 





Kinder?« Dr. Sickinger ging von dem Gedanken aus, daß der Krieg die 
Wertschätzung des Kindes als lebendige Volkskraft noch gesteigert hat 
und dadurch auch die Pflicht, schwache und nicht normal veranlagte 
Kinder mit doppelter Sorgfalt zu erziehen. Was für das schulpflichtige 
Kind geschehen kann, um jeder Veranlagung gerecht werden zu können, 
soweit das der Massenbetrieb zuläßt, zeigte er an seinem Förderklassen- 
system, um dann überzugehen zu der Forderung, Kinder, die aus Ent- 
wicklungsrücksichten im schulpflichtigen Alter noch zurückgestellt werden 
müssen, nicht sich selbst zu überlassen, sondern sie in obligatorische 
Kindergärten zusammenzufassen. In dem Meinungaustausch, der sehr leb- 
haft verlief, und an dem sich die Herren Geh. Räte Pallat-Berlin und 
Natorp-Marburg beteiligten, ergänzte Frl. Lilli Droescher-Pestalozzi- 
Fröbel-Haus-Berlin die Forderung Dr. Sickingers durch interessante Er- 
fahrungen aus entsprechenden »Vorklassene der Städte Schöneberg und 
Charlottenburg. 

Der Nachmittag brachte eine an zwei Referate sich anschließende 
Aussprache darüber, wie sich die Berufsvorbildung der Frauenschülerinnen 
und Kindergärtnerinnen zu den Forderungen der weiblichen Dienstpflicht 
verhält. Als Ergebnis der Verhandlungen kann bezeichnet werden: 1. Die 
Einsicht von der Schwierigkeit einer Einigung über alle erhobenen Forde- 
derungen und 2. die Erkenntnis, daß das weibliche Dienstjahr zunächst 
eine Sitte werden muß, damit aus den Erfahrungen eine Pflicht erwachsen 
kann. Der Abend desselben Tages vereinigte die Mitglieder und viele 
Teilnehmer aus der Stadt zum Vortrag des Frl. Dr. Gertrud Bäumer 
über das Thema: »Deutsches Kind — Deutsche Kultur.« Frl. Dr. Bäumer 
entwickelte, wie die kommende Zeit einen Kampf bringen wird zwischen 
der Wertschätzung des sich gestaltenden Einzelmenschen und der Über- 
schätzung der Masse. Sie erwartet, daß die große Gegenwart uns lehrt, 
den Gegensatz zu überbrücken und daß Schule und Kleinkindererziehung, 
die erst überall noch in ihr volles Recht eingesetzt werden muß, das Ihre 
tun werden, um durch die schöpferische Entwicklung der Jugend zur An- 
wartschaft auf die schöpferische Entwicklung unsres Volkes zu gelangen. 

Der Vormittag des 6. Oktober war dem geschäftlichen Teil gewidmet 
und verlief befriedigend. Direkt daran anschließend begann am Nachmittag 
desselben Tages die 13. Hauptversammlung des Allgem. Deutschen 
Kindergärtnerinnenvereins (Berufsorganisation), die in ihrem geschäft- 
lichen Teil heiße Arbeit brachte, da die Eingliederung der Hortnerinnen 
vorgenommen wurde und dadurch der Name des Vereins umgeändert wer- 
den mußte in: »DBerufsorganisation der Kindergärtnerinnen und Hort- 
nerinnen. E. V.« 

Am Abend erfreute der Bericht der Vorsitzenden, Frau Wiener- 
Pappenheim über: »Die Beeinflussung der Arbeit und der wirtschaftlichen 
Lage der Kindergärtnerinnen durch den Krieg!«, weil festgestellt werden 
konnte, daß die bei Kriegsbeginn gefürchtete Notlage des Standes nicht 
eingetreten ist; wohl aber hat die Umfrage die bisher gekannten Nöte in 
aller Schärfe hervortreten lassen: Überspannung der Kräfte durch zu große 
Kindermengen und übermäßig lange Arbeitszeit und die Gefährdung der 





a 1 


C. Zeitschriftenschau. 181 





Privatkindergärtnerin durch die Schutzlosigkeit dem Publikum gegenüber, 
welches durch willkürliche Zurückziehung der Zöglinge die finanzielle 
Lage der Anstaltsinhaberin oft bedroht. Als Schlußfolgerung wird die 
Notwendigkeit der durchgehenden Einführung schriftlicher Verträge an- 
erkannt. Nachdem am 2. Verhandlungstag die Vorstandswahl erledigt 
war, interessierten die Referate des Herrn Dr. Rosenhaupt und des Frl. 
Emma Vöhl, beide aus Frankfurt a. M. über: »Die Ertüchtigung im 
Kleinkinderalter durch Turnen.« Frl. Vöhl hatte sich einen kleinen Kreis 
aus ihrer Kinderschar mitgebracht zu Darstellungszwecken, was außer- 
ordentlich belebend und belehrend wirkte. Der anschließende Meinungs- 
austausch litt stark unter einem Mißverständnis. Durch ein »abtuendes« 
Anziehen des Namens »Dalcroze« im ersten Vortrag wurde eine anwesende 
Vertreterin der angegriffenen Methode veranlaßt, sie in Gegensatz zu dem 


in beiden Referaten Dargebotenen zu setzen — was um so bedauerlicher 
war, als nun ein System- und Methodenstreit zu entstehen drohte. All- 
gemein wurde Dalcroze »absolut« abgelehnt — wohl aus Ungeschicklich- 


keit und Unkenntnis dessen was wertvoll und bleibend an seiner Arbeit 
ist. Nach dem hin und her der Meinungen versuchte Dr. Siekinger zu 
vermitteln, indem er erklärte, daß längst vor Dalcroze der Rhythmus 
einen Platz im deutschen Turnen gefunden hatte durch Spieß und Maul 
und er lenkte ab, indem er zur Betonung des Natürlichen überging, dem 
vorher Dr. Cron-Heidelberg eifrig das Wort geredet hatte. Dr. Sickinger 
verlangte zur Erzielung dieser gepriesenen Natürlichkeit, die nur im ge- 
sunden Körper wohnen könne, Spielplätze außerhalb der Städte und Wald- 
heime zum Tagesaufenthalt auch für die vorschulpflichtigen Kinder, damit 
jede Art turnerischer Bewegung in frischer, unverdorbener Luft gemacht 
werden könne. 

Der Nachmittag galt der Besichtigung der kleinen Ausstellung: »Kind 
und Krieg«, die alle Teilnehmer hoch erfreute und dergestalt interessierte, 
daß sie zum Gegenstand des freien Meinungsaustauschs gemacht wurde, 
der außergewöhnlich anregend verlief. Es war ein würdiger Abschluß der 
Tagung und es bleibt nur bedauerlich, daß Verhandlungen und Ausstellung 
nicht der Allgemeinheit zugänglich gemacht waren. 

Neckargemünd. Oberin M. Zentmayer. 


C. Zeitschriftenschau. 


I. Archiv für die gesamte Psychologie. 1914—15. 


Leschke, Dr. med. Erich, Die Ergebnisse und die Fehlerquellen der bisherigen 
Untersuchungen über die körperlichen Begleiterscheinungen seelischer Vorgänge- 
Bd. 31 (1914), S. 27—37. 

Faßt die Resultate aller bisherigen Untersuchungen in einer statistischen 

Tabelle zusammen und kommt zu folgendem Schluß: Wenn die Fehlerquellen, die 

schon heute erkennbar sind und die meistens auf Ermüdungszustände oder patho- 


182 C. Zeitschriftenschau. 





logische Zustände zurückzuführen sind, ausgeschaltet werden, so finden wir immer- 
hin in 90°/, der untersuchten Fälle Übereinstimmung der Ergebnisse. 

Die körperlichen Begleiterscheinungen seelischer Zustände in Puls, Blutver- 
schiebung und Atmung scheinen demnach auch für das praktische Studium der 
Pädagogik Verwertung finden zu können. 

Ernst, Christian, Kritische Untersuchungen über die psychischen Fähigkeiten der 
Ameisen. Bd. 31, S. 38—68. 

Nimmt in der vielumstrittenen Frage nach dem Orientierungsvermögen der 
Ameisen, auf Grund experimenteller Untersuchungen an, daß alle Sinne zusammen- 
wirken, indem sie sich gegenseitig unterstützen, ergänzen oder berichtigen. Je nach 
der Art der Wege und anderer Umstände dominiert bei den verschiedenen Arten 
ein anderer Sinn. 

Schultz, Julius, Was lernen wir aus einer Analyse der Paranoia für die Psy- 
chologie des normalen Denkens. Bd. 31, S. 69—131. 

Benutzt eine Reihe von klinischen Beobachtungen der Paranoia, um einen 
idealistischen Parallelismus — im Gegensatz zum gewöhnlichen Dualismus von Leib 
und Seele — zur Erklärung des Verhältnisses zwischen Geist und Körper aufzustellen. 
Benussi, Vittorio, Die Atmungssymptome der Lüge. Bd. 31, S. 244—274. 

Gibt es äußere Symptome, an denen man objektiv erkennen kann, daß jemand 
gelogen hat. Benussi gab seinen Versuchspersonen Kartons in die Hand, auf denen 
Figuren und Zahlen sichtbar waren. Sie meldeten dann einer Reihe von Zuschauern, 
wie viele Zeichen jeder Art auf der Karte verzeichnet waren. Einzelne Karten 
trugen, nur für die Versuchsperson erkennbar, den Vermerk, daß die Zuschauer in 
Irrtum zu führen seien, d. h. daß ihnen andere Zahlen angegeben werden sollten 
als die Karte aufwies. Die Pulskurven und die Atmungskurven wurden während 
der Versuche aufgezeichnet. Nimmt man nun den Quotienten der Inspirationsdauer 
durch die Exspirationsdauer während der 3—5 Atemzüge die der Aussage voraus- 
gehen und ihr nachfolgen, so ergibt sich, daß im Fall der Lüge dieser Quotient vor 
dem Versuch kleiner ist als nach dem Versuch, während bei wahrheitsgemäßen An- 
gaben der Quotient vor dem Versuch größer ist als nach demselben. Mit anderen 
Worten: Die Inspirationsinnervation ist im Fall einer Lüge relativ kräftiger vor der 
Aussage als nach derselben; bei wahrheitsgemäßer Aussage verhält es sich umge- 
kehrt. Bei Scheinlügen stellte der Verfasser die Symptome der Wahrheit fest. Er- 
gebnisse von so weittragender Bedeutung bedeuten natürlich weiterer einwandfreier 
Bestätigung, ehe sie praktisch verwertbar sind. 

Stählin, Wilhelm, Zur Psychologie und Statistik der Metaphern. Bd. 31, S. 297 
bis 425. 

Fortführung und Verbesserung der von Groos angebahnten Methode, durch 
statistische Zählung bestimmter Sinnesdaten. Die psychologische Eigenart der Dichter 
festzustellen. S. hat vergleichsweise die Metaphern bei Schleiermacher und Löhe 
studiert. 

Rignano, Eugenio, Die Entwicklung des Räsonnements. Bd. 32 (1914), S. 1—51. 

Die höheren Formen des Denkens, Begriff und Syllogismus, werden auf dıe 
einfacheren Elemente der Wahrnehmung zurückgeführt. Ihre Ausbildung erfolgte 
auf Grund utilitaristischer Prinzipien. 

Messer, A., Husserls Phänomenologie in ihrem Verhältnis zur Psychologie. 32. Bd., 
S. 52—67. 

Berliner, Anna, Subjektivität und Objektivität von Sinneseindrücken. Bd. 32, 
S. 68—119. 


C. Zeitschriftenschau. 183 





Den Versuchspersonen wurden in der Dunkelkammer Lichtreize dargeboten, 
die so schwach waren, daß sie mit subjektiven Lichterscheinungen leicht verwechselt 
werden konnten. Die Aussagen der Versuchspersonen über ihre Erlebnisse bei 
beiden Arten von Lichterscheinungen bestätigen die Ansicht Koffkas, daß es kein 
sicheres anschauliches Kriterium gibt, um Wahrnehmungen von Vorstellungen zu 
unterscheiden. 


Giese, Fritz, Das Ich als Komplex in der Psychologie. Bd. 32, S. 120—163. 

Die Forschung nach der Individualität wird aus allen bisherigen Verfahren, 
die einzeln ungenügend sind, zu lernen haben. Sie wird experimentell vorgehen 
und korrelativ rechnen. Aber sie wird Inhalte in Korrelation bringen, die bedeutend 
sind, nicht z. B. die Additionsgeschwindigkeit mit Englisch, sondern etwa Willens- 
faktoren mit Intelligenzmomenten und überhaupt solche Momente, die das Ich als 
einen Komplex auffassen. 


Waiblinger, Erwin, Beiträge zur Feststellung des Tonfalls in den romanischen 
Sprachen. 32. Bd., S. 166—256. 

Eine Anzahl von Texten wurden von geborenen Franzosen, Italienern, Spaniern, 
Portugiesen und Rumänen in den von Dr. E. A. Meyer erfundenen Apparat zur 
Ausmessung phonetischer Kurven hineingesprochen. Dabei ergab sich, daß es im 
Romanischen mindestens 46 verschiedene Formen der Tonhöhenbewegung innerhalb 
eines Sprechtaktes gibt. Sämtliche Formen lassen sich aber auf 4 Grundformen 
zurückführen. Die Arbeit enthält interessante Einzelheiten über experimentelle 
Phonetik. 

Dr Boden, Amtsrichter, Ein zivilprozessualer Aussageversuch. Bd. 32, S. 257—282. 

Die Versuchspersonen, die sämtlich den gebildeten Ständen angehörten, hatten 
2 Dialoge wiederzugeben, von denen der eine beispielsweise zwischen einem Ge- 
schäftsreisenden und einem Delikatessenhändler geführt wurde. Es kam besonders 
darauf an, die Momente des Gesprächs und der darin vorkommenden Abmachungen 
so wiederzugeben, daß sie in einem darauffolgenden Prozeß vor Gericht verwertet 
werden könnten. Dabei zeigte sich nun, entgegen den bisherigen Resultaten der 
Aussageforschung, daß die Zeugenangaben vor Gericht sehr brauchbar gewesen 
wären. Nur in feineren Nüancen zaigten sich Abweichungen vom wesentlichen 
Verlauf des Gesprächs. Die Zeugenaussage darf also nicht einfachhin als unzuver- 
lässig bezeichnet werden. 


Scheinermann, M., Das unmittelbare Behalten im unermüdeten und ermüdeten 
Zustande unter besonderer Berücksichtigung der Aufmerksamkeitsprozesse. Bd. 33, 
S. 1—134. 

Konsonantenreihen von verschiedener Länge wurden im ermüdeten und un- 
ermüdeten Zustand auswendig gelernt. Die Ermüdung wurde teils künstlich hervor- 
gerufen durch Addieren von Kraepelinschen Zahlenreihen, teils war sie durch die 
gewöhnliche Tagesarbeit bedingt, indem die Versuche am Morgen oder am Abend 
bezw. in der Nacht vorgenommen wurden. Im ermüdeten Zustand besteht mehr 
Passivität, mehr Indifferenz; das Blickfeld des Bewußtseins verengert sich; die Auf- 
fassungsfähigkeit wird erschwert; die Aufmerksamkeit wird passiver, die Repro- 
duktionsfähigkeit ist herabgesetzt, die Reproduktion selbst fällt schwer; endlich 
modifiziert sich der Vorstellungstypus, insofern das Motorische zurück- und das 
Akustische hervortritt. 


Kreibig, Josef Klemens, Beiträge zur Psychologie und Logik der Frage. Bd. 33, 
S. 152—212. 


184 C. Zeitschriftenschau. 





Hurwicz, Dr. E., Der psychologisehe Parallelismus und die Assoziation verwandter 
Gefühle. Bd. 33, S. 213—220. 

Der psychophysische Parallelismus nimmt die Unmöglichkeit einer kausalen 
Beziehung zwischen Psychischem und Physischem an. Die Selbststeigerung der 
Affekte, die auf der verstärkenden Rückwirkung der begleitenden Ausdrucksbewe- 
gungen beruht und die Wundt mit dem Gesetz der Assoziation verwandter Gefühle 
begründet, bietet aber ein Beispiel kausalen Zusammenhangs zwischen den beiden 
Reihen von Phänomenen. 

Schmidkunz, Dr. Hans, Psychologisches und Pädagogisches zur Werttheorie. 
Bd. 33 (1915), S. 309--354. 

Verfasser nimmt objektive Werte an und unterscheidet 5 Wertklassen: Das 
Gute, das Wahre, das Schöne (entsprechend den drei praktischen Disziplinen der 
Philosophie: Ethik, Logik, Ästhetik); dann das Wohlgefällige und Zweckmäßige; 
ersterem entsprechen die hedonischen oder eudämonischen, letzterem die technischen 
Werte. Psychologisch sind diese Wertklassen in den psychischen Typen des Hedo- 
nikers, des Technikers oder Praktikers, des Ästhetikers, des Logikers und des 
Ethikers realisiert. Natürlich gibt es Gradunterschiede und Mischungen dieser 
Typen. Die Pädagogik ihrerseits ist nicht völlig autonom, sondern schließt Werte 
der fünf Klassen ein, so daß sie in gewisser Hinsicht sich diesen unterzuordnen 
hat, wenn sie auch sonst über dieselben hinausgeht. 

Boden, Landrichter Dr., Über eine experimentelle Methode der Gesetzgebung. 
Bd. 33. S. 355—372. 


II. Zeitschrift für Psychologie. 


Schlüter, Luise, Experimentelle Beiträge zur Prüfung der Anschauungs- und der 
Übersetzungsmethode bei der Einführung in einen fremdsprachlichen Wortschatz. 
Bd. 68 (1914), S. 1—114. 

Ist die Übersetzungsmethode oder die direkte Methode zur Erlernung einer 
Fremdsprache vorzuziehen? Im Anschluß an ähnliche Versuche von Kirckpatrick, 
Peterson, Schuyten, Netschajeff, Braunshausen, Lossky bot die Ver- 
fasserin ihren Versuchspersonen zwei Serien von Wortkonstellationen dar: FM und 
FO d.h. einmal das Fremdwort assoziert mit dem entsprechenden Wort der Mutter- 
sprache, dann das Fremdwort mit einem Objekt verbunden. Für das fremdsprach- 
liche Material waren sinnlose Wörter gewählt. Die gelernten Serien wurden unter 
drei Gesichtspunkten geprüft: im Hinblick auf das Übersetzen aus der Fremdsprache 
in die Muttersprache, auf das Finden von Fremdwörtern beim Anblick der; Objekte, 
auf das Übersetzen aus der Muttersprache in die Fremdsprache. Die wesentlichen 
Resultate der Untersuchungen sind folgende: Für die Übersetzung aus der Fremd- 
sprache in die Muttersprache ist die Übersetzungsmethode am günstigsten. Für das 
Auffinden der Fremdwörter beim Anblick von Objekten bietet jedoch die direkte 
Methode FO einen entschiedenen Vorteil. Für die Übersetzung aus der Mutter- 
sprache in die Fremdsprache bot die Serie FO mehr Treffer, aber sie verlangte 
auch eine höhere Zahl von Darbietungen für das Lernen. Die Frage nach der 
besten Methode ist also nicht einfachhin zu beantworten, sondern es kommt auf den 
verfolgten Zweck des Lernens an, ob die eine oder die andere den Vorzug verdient. 
Will man die fremde Sprache nur für die Lektüre verstehen lernen — was manch- 
mal zum Verständnis ausländischer wissenschaftlicher Literatur angestrebt wird — 
so wäre die Übersetzungsmethode genügend. Für den mündlichen oder schriftlichen 
Gebrauch der fremden Sprache erscheint jedoch die direkte Methode geeigneter. 


C. Zeitschriftenschau. 185 





Heine, Rosa, Über Wiedererkennen und rückwirkende Hemmung. Bd. 68, 
S. 161—236. 

Die von Müller-Pilzecker aufgeworfene Frage der rückwirkenden Hemmung 
wurde hauptsächlich in bezug auf das Wiedererkennen geprüft. Es ergab sich, daß 
für das Wiedererkennen keine Hemmungen vorhanden sind. Das erklärt sich daraus, 
daß es sich hierbei nicht um Assoziation handelt und daß die Hemmungen nur bei 
Assoziationen wirksam sind. Die Versuchsergebnisse von Müller und Pilzecker 
werden im übrigen bestätigt. 

Liebenberg, Richard, Über das Schätzen von Mengen. Bd. 68, S. 321—395. 

Im gewöhnlichen Leben treten oft Fälle ein, wo eine Menge Menschen oder 
Gegenstände auf ihre annähernde Zahl abzuschätzen sind. Welche Gesetze können 
dabei für Über- und Unterschätzung oder für die Bevorzugung bestimmter Zahlen 
wirksam sein. L. untersucht die Frage experimentell, indem er wechselnde An- 
häufungen von Punkten von seinen Versuchspersonen abschätzen läßt. 


Kühn, Alexander, Über Einprägung durch Lesen und Rezitieren. Bd. 68, S. 396 
bis 481. 

Schon Witasek und Katzaroff haben den Vorteil der Rezitation gegenüber 
der einfachen Lektüre für das Behalten erwiesen. Kühn prüft diese Resultate 
noch einmal und findet, daß das Rezitieren d. h. das Auswendig-Wiederholen, darum 
besser ist, weil es zu einer gründlicheren, vielseitigeren Verarbeitung des Stoffes 
führt. Bei allen Versuchspersonen führte das Lernen mit Rezitieren zu besseren 
Resultaten als das Lernen durch einfaches Lesen. Das arithmetische Mittel der 
Wiederholungszahl betrug für die 6 Versuchspersonen: beim Erlernen von Strophen: 
Rez. 7,5, Lesen 8,8 — beim Erlernen von Wörtern: Rez. 15,3, Lesen 20,8 — beim 
Erlernen von Silben: Rez. 22,7, Lesen 36,6. 

Reichardt, Karl, Über den Vergleich erinnerter Objekte, insbesondere hinsicht- 
lich ihrer Größe. Bd. 70, S. 1—100. 

Den Versuchspersonen wurden Rechtecke von verschiedener Größe dargeboten, 
und später mußten sie dieselben aus der Erinnerung miteinander vergleichen. Bei 
einzelnen Versuchen waren die Figuren farbig, um festzustellen. welchen Einfluß 
die Farbe auf die Abschätzung der Größe ausübt. Die Resultate zeigen, daß im 
allgemeinen für das Vergleichen aus der Erinnerung dieselben Faktoren fördernd 
sind, die sich auch beim Gedächtnis als solchem wirksam erwiesen haben. Die 
Selbstaussage der Versuchspersonen gibt Aufschlüsse über die mannigfaltigen Arten, 
sich die Größe eines Objektes einzuprägen. 

Edinger, L., Zur Methodik in der Tierpsychologie. Bd. 70, S. 101—124. 

Genaue Beschreibung des Verhaltens eines Hundes, den der Verfasser Jahre 
hindurch beobachtete. Einzelne Handlungen desselben werden vom Verfasser als 
Intelligenzhandlungen gedeutet; die meisten allerdings beruhen auf Gewohnheit. 
Interessant ist der Vergleich mit dem Beutelwolf Thylazinus, dessen Gehirn eine 
viel geringere Ausbildung der Assoziationszentren aufweist, dessen Stirnlappen 
speziell minimal ist und der sich nicht zu einem »Menschentier« ausbilden läßt, wie 
es der Hund ist. 

Aall, Anathon, Der Traum. Bd. 70, S. 125—160. 

Entgegen der gewöhnlichen Auffassung ist der Traum nicht etwa ein unlogisches 
Denken; sondern die Trübung des Urteils, die im Traum auftritt, ist auf die 
Störung der Sinnesempfindung zurückzuführen. Im wachen Zustand bilden die 
Sinnesorgane ein stets tätiges Kontrollmittel für das Urteil. Der Traum ist mit dem 
Märchen zu vergleichen. Oft wird in ihm aus Rücksicht auf die logischen Erforder- 


186 C. Zeitschriftenschau. 





nisse des höheren, sei es ethischen, sei es begrifflichen Zieles des Denkens das wirk- 
lich erlebte Vorstellungsbild völlig zertrümmert. Mit Freud nimmt der Verfasser 
an, daß der Mensch im Traum in das verborgene Reich seiner natürlichen, im 
wachen Leben oft zurückgedrängten Wünsche hinabsteigt. In dem unerwarteten 
Emporkommen vorher unbeachteter oder unterdrückter Eindrücke liegt der Schlüssel 
zu den sogenannten Wahrträumen. 

Meyer, Hermann W., Bereitschaft und Wiedererkennen. Bd. 70, S. 161—211. 

Wenn eine Silbe mit einer anderen gelernt worden ist, so wird die zweite 
leichter reproduziert, wenn vorher die erste wieder vorgeführt wird. Dadurch wird 
die zweite nämlich in Bereitschaft gesetzt. Ebenso wird eine Silbe leichter wieder- 
erkannt, wenn sie durch eine andere in Bereitschaft gesetzt wird. 

Martin, Dr. Lillien J., Über die Abhängigkeit visueller Vorstellungsbilder vom 
Denken. Bd. 70, S. 212—275. 

Versuche mit Vexierbildern ergeben, daß das versteckte Objekt nur dann im 
Erinnerungsbild gesehen wird, wenn es schon auf dem Wahrnehmungsbild entdeckt 
worden war, d. h. wenn also mit dem Erinnerungsbild ein unanschauliches Wissen 
verknüpft ist. Weitere Experimente mit Linien, die unregelmäßig zerstreut oder 
in bestimmten Anordnungen dargeboten werden, bestätigen diese Auffassung. Aller- 
dings dürften die Resultate der Verfasserin auch auf andere Weise, speziell mit der 
Hypothese von unterbewußten Vorstellungen und von Assoziationen ihre Erklärung 
finden. 

Lamprecht, Konrad, Über den Einfluß der Verknüpfung von Farbe und Form 
bei Gedächtnisleistungen. Bd. 71 (1915), 5. 1—53. 

Den Versuchspersonen wurden farbige Formen in 3 Konstellationen dargeboten 
und nachher zum Wiedererkennen vorgezeigt. Einmal hatte die Form beim Dar- 
bieten und Vorzeigen dieselbe Farbe. In einer 2. Serie blieb die Farbe gleich bei 
allen Darbietungen, änderte aber beim Vorzeigen. Ein drittel Mal wechselte die 
Farbe auch bei den Darbietungen. Obschon die Versuchspersonen den Auftrag 
hatten, die Farbe nicht zu beachten, wurden doch am häufigsten die Formen wieder- 
erkannt, bei denen die Farbe in allen Fällen die gleiche war. Interessant ist, daß 
die 3. Serie bessere Resultate ergab als die zweite. Das kommt wohl daher, daß 
bei den Darbietungen in einer und derselben Farbe die Form so mit dieser Farbe 
assoziiert wurde, daß eine neue Farbe störend für das Wiedererkennen wirkte. 
Daraus ergibt sich eine wichtige praktische Folgerung für den Unterricht. Handelt 
es sich darum, das Kind zur Begriffsbildung zu führen, d. h. es dahin zu bringen, 
daß es ein neues Individuum als zu einer bestimmten Art gehörig erkenne, so ist 
es vorteilhaft, ihm nicht immer dasselbe Individuum zu zeigen, sondern solche von 
verschiedener Farbe — und man darf wohl hinzufügen — von verschiedener Größe 
und mit Abweichungen in den Einzelheiten. 

Groos, Karl, Untersuchungen über den Aufbau der Systeme. Bd. 71, S. 54—137. 

Behandelt besonders die philosophischen Systeme des Plato und des Origenes 
vom Standpunkt aus, daß sie »eine interponierende« Überwindung von Antithesen 
bedeuten, d. h. durch Einschiebung von Zwischengliedern, während die monistischen 
Systeme den Dualismus überwinden, indem sie radikal die eine Hälfte des Gegen- 
satzes mit einem Schwertstreich abschlagen. 

Schultze, Otto F. E., Über Lernzeiten bei größeren Komplexen. Bd. 71, S. 138 
bis 166. 

Der bekannte Gedächtniskünstler Dr. Rückle hatte behauptet, daß bei ihm 

die Lernzeiten proportional mit dem Quadrat der Anzahl der erlernten Ziffern zu- 


D. Literatur. 187 





nähmen. S. gab ihm Komplexe von Ziffern zu lernen, die von 96 bis 504 (Kom- 

plexe von 6) reichten. Dabei zeigte sich, daß über 144 hinaus die von Dr. Rückle 

behauptete Gesetzmäßigkeit wirklich bestand, indem die nach seiner Formel be- 
rechneten Lernzeiten sich von den im Experiment beobachteten nur um durchschnitt- 
lich 3°/, unterschieden. 

Oetjen, Friedrich, Die Bedeutung der Orientierung des Lesestoffes für das Lesen 
und der Orientierung von sinnlosen Formen für das Wiedererkennen derselben. 
Bd. 71, S. 321—355. 

G. E. Müller stellt 3 egozentrische Bezugssysteme auf, zu welchen der Lese- 
stoff orientiert sein kann. Verfasser untersucht deren Einfluß auf die Wirkungen 
des Lernens. Kurz zusammengefaßt lauten seine Resultate, wie das zu erwarten 
war, so: Die Wirkung des Lesens ist am günstigsten wenn Körper und Kopf die 
normale Lage gegenüber dem Lesestoff einnehmen. Wird der Lesestoff um 90° 
gedreht, so wird die Wirkung ungünstiger. Dasselbe ist der Fall, wenn der Körper 
in horizontale Lage gebracht wird, sei es nun, daß der Lesestoff senkrecht zur Blick- 
linie liegt wie im normalen Zustand, sei es, daß er um 90° gedreht wird. Im 
letzteren Fall sind die Resultate natürlich am ungünstigsten. 

Baade, Walter, Aufgaben und Begriff einer darstellenden Psychologie. Bd. 71, 
S. 356—367. 

Baade stellt fest, daß heute eine gewisse Unzutriedenheit herrscht über die 
Leistungen der experimentellen Psychologie. Diese Unzufriedenheit ist nicht einfach- 
hin Ungeduld darüber, daß die Fortschritte zu langsam sind, sondern die experi- 
mentelle Psychologie scheint das Bedürfnis des Menschen nach dem »unmittelbaren 
Kennenlernen der psychischen Ereignisse« nicht zu befriedigen. Daher erklärt es 
sich, daß die Phänomenologie Husserls, die noch oft mißverstanden wird, so viele 
Anhänger gewinnt. Die Wünsche Baades scheinen darauf hinzuzielen, daß die 
Selbstbeobachtung wieder mehr zu Ehren kommt. Da er aber die experimentelle 
Psychologie selbst zur Erfüllung dieser Wünsche heranziehen will, so handelt es 
sich wohl darum, eine verbesserte Selbstbeobachtung im Anschluß an das Experiment 
herbeizuführen. Die darstellende Psychologie grenzt der Verfasser gegen die be- 
schreibende so ab: »Die beschreibende Psychologie begnügt sich mit einer einmal 
gewonnenen Beschreibung, die darstellende Psychologie geht darauf aus, Methoden 
zu finden, mittels deren das Erlebnis immer wieder zur Beobachtung gebracht werden 
kann.«e Also wohl experimentelle Selbstbeobachtung wie sie Ach versteht? 

Luxemburg. Dr. N. Braunshausen. 


D. Literatur. 





Scheffer, Dr. Th., Unsere zukünftige Volkserziehung. Gotha, Verlag 
Friedr. Andr. Perthes, A.-G., 1915. 58 8. 

Der Verfasser möchte die Erziehung auf andere Bahnen als bisher gelenkt 
sehen, die Kinder seien nicht nach der Welt zu formen, sondern ihre ganze Um- 
gebung, die Umwelt, müsse sich ihnen anpassen. Er tritt ein für die häusliche 
Arbeitsgemeinschaft, die Familie, der das Kind sich schon beizeiten eingliedern kann. 
Der Helfertrieb wird sich so am besten entfalten, und das Kind wird zur gegebenen 
Zeit selbstverantwortlich für seine Arbeit werden. Daß jede Familie zu eigner 
praktischer Betätigung ein Stück Garten oder Land hat, ist noch ein unerreichtes 


188 D. Literatur. 





Ideal, aber um das notwendige Gleichgewicht zwischen Schule und Haus herzu- 
stellen, findet sich ein Ausweg durch das sogenannte Schulgut. Man lese selbst 
darüber nach auf Seite 49. 

Jena. Hanna Queck-Wilker. 


Hopffgarten, Elise von, Das Pfadfinderbuch für junge Mädchen. 
ünchen, Otto Gmelin, 1912. 

Ein Buch ganz aus der Bewegung unsrer Zeit — natürlich vor dem Kriege — 
haben wir vor uns. Alle Kräfte und Fähigkeiten unsrer Mädchen zu fördern und 
auszubilden und sie körperlich zu stählen, ist der aufrichtige Wille der verschiedenen 
Mitarbeiter, die ihre Ansichten in einzelnen Aufsätzen klar legen. Unsere Mädchen 
sollen sich in jeder Lebenslage, überall im öffentlichen Verkehr zurecht finden 
lernen, sie sollen stets hilfsbereit und gewandt Jedem zur Seite stehen können; 
Persönlichkeiten sollen sie werden. Zur körperlichen Ertüchtigung sind Wandern, 
Spiele und Arbeiten im Freien sehr empfohlen. Für die Alkohol-Abstinenz tritt 
Dr. med. Liou warm ein. Vollständiger wäre das Buch, wenn es nur einen kurzen 
Hinweis brächte, auf die schon lange auch für Mädchen bestehende Vereinigung 
der Wandervögel, mit deren Bestrebungen die der Pfadfinder doch manches Ge- 
meinsame haben. 

Jena. Hanna Queck-Wilker. 


Matter, Karl, Freie Jugend. Vom schweizerischen Wandervogel und seinen 
Zielen. Aarau, A. Trüb & Cie., 1914. 76 Seiten. 

Das Büchlein will erzählen von der Entwicklung des schweizerischen Wander- 
vogels, die in manchen Punkten von der des deutschen abwich: in Deutschland 
stand die Schule im Vordergrund; man wollte von ihr los, wollte ein Gegengewicht 
gegen sie schaffen. In der Schweiz steht die Schule ganz im Hintergrunde. Matter 
berührt in seinem trefflichen Büchlein vielfach Fragen, die auch in Deutschland 
wenn auch nicht gerade akut, so doch nicht ganz bedeutungslos sind. Auch er 
steht auf dem Standpunkt: der Wandervogel muß sich zu einer Erziehungsgemein- 
schaft auswachsen. Man wird Matters Gründe vielleicht lieber hören, weil er ein 
erfahrener Schulmann ist, dem besonders die Landerziehungsheime nicht fremd ge- 
blieben sind. 60 schöne Bilder gereichen dem Bändchen zu Schmuck und Zier. 

Jena. Karl Wilker. 


Würtz, Hans, Der Wille siegt. Ein pädagogisch-kultureller Beitrag zur Kriegs- 
krüppelfürsorge. Berlin, Otto Elsner, Verlagsgesellschaft m. b. H., 1915. 8°. 
136 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen. Preis geb. 2 M, geh. 1 M. 


Frh. v. Künssberg, Eberhard, und die Lehrer der Heidelberger Einarm- 
schule. Einarm-Fibel. Ein Lehr-,*Lese- und Bilderbuch für Einarmer. Mit 
Unterstützung des Badischen Landesausschusses für Kriegsinvalidenfürsorge heraus- 
gegeben. Karlsruhe, Verlag von G. Braun, 1915. 8°. IV u. 171 Seiten, mit 
vielen Abbildungen. Preis leicht geb. 1 M. 

Beide Schriften haben den Zweck, den, durch den Krieg zu Krüppeln ge- 
wordenen Kämpfern des Vaterlands Anleitung zu geben, sich mit ihrem harten 
Schicksale auszusöhnen. Beide Bücher sind aus der Praxis heraus gewonnen, denn 
ihre Verfasser sind Fachmänner auf diesem Gebiete. Die Autoren der Einarm-Fibel 
sind selbst Einarmer. Für den Pädagogen, wie für die Leser unserer Zeitschrift 
bieten die Schriften vielerlei Anregung, denn sie zeigen, wie der Krieg nicht nur 
Wunden schlägt, sondern, daß aus ihm, auch auf erzieherischem Gebiete lebensvolle 
Wurzeln entsprießen, deren Kraft Bewunderung hervorrufen muß. Darum ist es 
etwas Großes, daß man alle Kriegskrüppel ihrem alten, oder wenn dies nicht mög- 
lich ist, einem neuen Lebensberufe mit Erfolg entgegenführen darf. Wie das ge- 
schieht, davon legen die Schriften in Wort und Bild ein wahrheitsgetreues Zeug- 
nis ab. 

Idstein i. T. M. Kirmsse. 


Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 





Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 


Beiträge zur Kinderlorschung, und Heilerziehung, 


Beihefte zur »Zeitschrift für Kinderforschung«. 


Im Verein mit 
Dr. G. Anton Dr. E. Martinak Chr. Ufer Karl Wilker 
Geh. Med.-Rat u. Prof. o. ö. Prof. d. Philosophie Rektor d. Süd-Mädchen- Dr. phil. 
an der Univ. Halle u. Pädag. a. d. Univ. Graz Mittelschulei. Elberfeld in Jena i Thür. 


Heft 


herausgegeben von 


J. Trüper 


Direktor der Erziehungsheimes und Jugendsanatoriums auf der Sophienhöhe bei Jena. 


Die Sittlichkeit des Kindes. Von Dr. A. Schinz. Übersetzt von Rektor Chr. 
Ufer. 46 S. 75 Pf. 

Über J. J. Rousseaus Jugend. Von Dr. med. P. J. Möbius. 33 8. 60 Pf. 
Die Hilfsschulen Deutschlands und der deutschen Schweiz. Von A. Winter- 
mann. 1,25 M. 

Die medizinisch- pidagozieche Bal e gelähmter Kinder. Von Prof. Dr. 
A. Hoffa. Mit 1 Tafel. 168. 40 Pf. 


. Zur Frage der Erziehung unserer sittlich gefährdeten Jugend. Von Dir. J. 


Trüper. 405S. 50 Pf. 


. Über Anstaltsfürsorge für Krüppel. Von Sanitätsrat Dr. med. H. Krukenberg. 


Mit 7 Textabbildungen. 248. 40 Pf. 

Die Grundzüge der sittlichen Entwicklung und Erziehung des Kindes. Von 
Dr. H. E. Piggot. 87 S. 1,25 M. 

Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache von Gesetzesverletzungen 
Jugendlicher. Von Dir. J. Trüper. 628. 1M. 


. Der Konfirmandenunterricht in der Hilfsschule. Von H. Kielhorn. 40 S. 50 Pf. 


Über das Verhältnis des Gefühls zum Intellekt in der Kindheit des Indivi- 
duums und der Völker. Von O. Flügel. 458. 758. 


. Einige Aufgaben der Kinderforschung auf dem Gebiete der künstlerischen 


Erziehung. Von Rektor ©. Schubert. 31 8. 50 Pf. 


. Strafrechtsreform und Jugendfürsorge. Von Dir. W. Polligkeit. 258. 50 Pf. 
. 16 Monate Kindersprache. Von Dr. H. Tögel. 36 S. 50 Pf. 
. Die Bedeutung der chronischen Stuhlverstopfung im Kindesalter. Von Dr. 


E. Neter. 28 3. 45 Pf. 
Zur Frage des Bettnässens. Von Dr. med. Hermann. 188. 30 Pf. 


Warum und wozu betreibt man Kinderstudium? Von Dir. A. J. Schreuder. 
408. 50 Pf. 


. Psychologische Peobacnungen an zwei Knaben. Von Gymnasial- Professor 


G. Friedrich. 79 S. 1,25 M. 


. Die Abartungen des kindlichen Phantasielebens in ihrer Bedeutung für die 


pädagogische Pathologie. Von Dr. med. J. Moses. 328. 50 Pf. 


. Hygiene der Bewegung. Von Dr. H. Pudor. 448. 75 Pf. 
. Zur Frage der Behandlung unserer jugendlichen Missetäter. Von Dir. J. Trüper. 


348. 50 Pf. 


. Die Verwahrlosung des Kindes und das geltende Recht. Von Privatdozent 


Dr. H. Reicher. 32 S. 50 Pf. 

Über Vorsorge und riraarge für die intellektuell schwache und sittlich ge- 
fährdete Jugend. Von Dr. M. Fiebig. 508. 75 Pf. 

Über Arbeitserziehung. Von Dir. Pastor Plass. 228. 40 Pf. 


. Das Spielzeug in seiner Bedeutung für die Entwicklung des Kindes. Von 


Rektor M. Enderlin. 445S. 75 Pf. 


. Wesen und Aufgabe einer Schülerkunde. Von Prof. Dr. E. Martinak. 18 S. 


30 Pf. 


Die forensische Behandlung der Jugendlichen. Von Landgerichtsrat W. Kule- 
mann. 218. 40 Pf. 





Zu beziehen durch jede Buchhandlung. 








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Heft 


27. Die -Impressionabilität der Kinder unter dem Einfluß des Milieus. Von Prof. 
Dr. A. Baginsky. 218. 40 Pf. 

28. Rachitis als eine auf Alkoholisation und Produktionserschöpfung beruhende 
Entwicklungsanomalie der Bindesubstanzen. Von Dr. M. Frebig. 38 S. 75 Pf. 

29. Psychasthenische Kinder. Von Dir. Dr. Th. Heller. 188. 35 Pf. 

30. Die Fürsorge für die schulentlassene Jugend. Von Geh. Admiralitätsrat Dr. 
Felisch. 178. 30 Pf. 
31. Earbenbeobachtungen bei Kindern. Von Prof. Dr. K. L. Schaefer. 168. 30 Pf. 
32. Über die Möglichkeit der Beeinflussung abnormer Ideenassoziation durch 
Erziehung und Unterricht. Von Oberlehrer H. Landmann. 218. 40 Pf. 
33. Über hysterische Epidemien an deutschen Schulen. Von K. W. Dix. 468. 75 Pf. 
34. Die psychologische und pädagogische Begründung der Notwendigkeit des 
raktischen Unterrichts. Von Dir. Dr. A. Pabst. 208. 40 Pf. 

35. Die oberen Stufen des Jugendalters. Von Dr. H. Schmidkunz. 208. 40 Pf. 

36. Eröbelsche Pädagogik und Kinderforschung. Von Hanna Mecke. 18 S. 35 Pf. 

37. Über individuelle Hemmungen der Aufmerksamkeit im Schulalter. Von 
Hilfsschul-Direktor J. Delitsch. 258. 50 Pf. - 

38. Die Taubstumm-Blinden. Von Kgl. Taubstummenlehrer G. Riemann. Mit 
2 Tafeln. 218. 45 Pf. 

39. Beitrag zur Kenntnis der Schlafverhältnisse Berliner Gemeindeschüler. Von 
Dr. L. Bernhard. 138. 25 Pf. 

40. Wohnungsnot und Kinderelend. Von A. Damaschke. 17 S. 30 Pf. 

41. Jugendliche Verbrecher. Von Dr. G. v. Rohden. 188. 35 Pf. 

42. Die Bedeutung der Hilfsschulen für den Militärdienst der geistig Minder- 
wertigen. Von Stabsarzt Dr. Æ. Stier. 265. 50 Pf. 

43. Der Zitterlaut R. Von Taubstnmmenlehrer O. Stern. Mit 2 Fig. 38 S. 75 Pf. 

44. Psychologisches zur ethischen Erziehung. Von Prof. Dr. St. Witasek. Mit 
1 Tafel. 175. 30 Pf. 

45. Zur Wertschätzung der Fädagogik in der Wissenschaft wie im Leben. Von 
Dir. J. Trüper. 28 S. 50 Pf. 

46. Fingertätigkeit und Fingerrechnen als Faktor der Entwicklung der Intelligenz 
und der Rechenkunst bei Schwachbegabten. Von H. Nöll. 608. 1M. 

47. Der erste Sprechunterricht (Artikulationsunterricht) bei Geistesschwachen. 
Von Hauptlehrer Strakerjahn. Mit 2 Textabbildungen u. 1 Tafel. 255. 60 Pf. 

48. > er Kinderschutzwesen in Ungarn. Von Oberarzt Dr. F. v. Torday. 
378. : 

49. Die Prügelstrafe in der Erziehung. Von Dr. O. Kiefer. 42 S. 75 Pf. 

50. Der ps 2 Kindesalter und seine erziehliche Behandlung. Von G. Dirks. 
98. 60 Pf. 

51. Zur aaa über Jugendfürsorge und Jugendrettung. Von K. Hemprieh. 
7S. 50 Pf. 

52. Kind und Gesellschaft. Von K. Agahd. 38S. 60 Pf. 

53. Der Kinderglaube. Von H. Schreiber. 705S. 1,25 M. 
54. Psychopathische Mittelschüler. Von Dir. Dr. phil. Th. Heller. 268. 50 Pf. 
55. Über den Einfluß der venerischen Krankheiten auf die Ehe sowie über ihre 
Übertragung auf kleine Kinder. Von Prof. E. Welander. 438. 75 Pf. 
56. Die Bedeutung des Unterrichts im Formen für die Bildung der Anschauung. 
Von H. Denzer. 258. 50 Pf. 

57. Uber den Einfluß des Alkoholgenusses der Eltern und Ahnen auf die Kinder. 
Von Dr. A. H. Oort. 208. 40 Pf. 

58. Jugendschutz-Kommissionen als vollwertiger Ersatz für Jugendgerichtshöfe. 
Von Präsident u. Kinderinspektor Kuhn-Kelly. 19S. 40 Pf. 

59. Das amerikanische Jugendgericht und sein Einfluß auf unsere Jugendrettung 
und Jugenderziehung. Von Dr. B. Maennel. 34 8. 50 Pf. 

60. Die Entwicklung der Gemütsbewegungen im ersten Lebensjahre. Von M. 
Buchner. Mit 4 Tafeln. 208. 50 Pf. 

61. Frühreife Kinder. Von Stadtschulrat Dr. O. Boodstein. 438. 75 Pf. 

62. Der Arzt in der Hilfsschule. Von Geh. Reg.- u. Med.-Rat Prof. Dr, Leubuscher 
und Hilfsschullehrer Adam. 268. 50 Pf. 





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Heit 


63. Die Suggestion im Leben des Kindes. Von H. Plecher. 36 8. 60 Pf. 

64. DasBeobachtungshaus der Erziehungsanstalten. Von/Dir. J. Petersen. 198S. 40 Pf. 

65. Uber den gegenwärtigen Stand der Kunsterziehungsfrage in Osterreich. Von 
Prof. A. Kunzfeld. Mit 1 Doppeltafel. 348. 75 

66. Straffällige Schulknaben in intellektueller, moralischer und sozialer Beziehung. 
Von C. Birkigt. 42 S. 65 Pf. 

67. Grundlagen für das Verständnis krankhafter Seelenzustände (psychopathischer 
Minderwertigkeiten) beim Kinde in 30 Vorlesungen. Von Dr. med. Hermann. 
Mit 5 Tafeln. 2. Aufl. 1948. 3 M, geb. 4 M. 

68. Lüge und Ohrfeige. Von Präsident und Kinderinspektor Kuhn-Kelly. 23 S. 40 Pf. 

69. Die Sinneswahrnehmungen der Kinder. Von Dr. phil. H. Schmidt. 338. 50 Pf. 

70. ars Sean moni im kindlichen und jugendlichen Alter. Von Dr. med. Neter. 

. 40 Pf. 

71. Zur Kenntnis der Ernährungsverhältnisse der Berliner Gemeindeschüler. Von 
Dr. L. Bernhard. 28 S. 45 Pf. 

72. Einfluß von Gebirgswanderungen auf die körperliche Entwicklung unserer 
Volksschuljugend. Von Dr. H. Roeder. 178. 30 Pf. 

73. Die sozialen und psychologischen Probleme der jugendlichen Verwahrlosung. 
Von Dr. J. Moses. 328. 50 Pf. 

74. Wie weit reicht das Gedächtnis Erwachsener zurück? Von Landes-Taub- 
stummenlehrer @. Schmutz. 27 8S. 45 Pf. 

5. Ursachen der Verwahrlosung Jugendlicher. Von J. Delitsch. 35 S. 60 Pf. 

6. Beobachtungen über die geistige Entwicklung eines Kindes in seinem ersten 
Lebensjahre. Von Irrenarzt Dr. T. Ischikawa. 538. 90 Pf. 

77. Ein Experiment zur Einübung von Aufmerksamkeit. Von Prof. Dr. phil. Y. 
Motora. Mit 3 Tafeln. 168. 30 Pf. 

78. Die Behandlung der jugendlichen Rechtsbrecher im russischen Straf- und 
Strafprozeßrecht. Von Kug. Breitbart-Schuchmann. 1188. 1,80 M. 

79. Über die angeborene Wortblindheit und die Bedeutung ihrer Kenntnis für 

den Unterricht. Von Dr. med. F. Warburg. 218. 40 Pf. 

80. Zeitfragen. Von Dir. J. Trüper. 328. 50 Pf. 

81. Die staatsbürgerliche Erziehung im Lehrplan der Volksschule. Von Rektor 
R. Lambeck. 638. 1M. 

82. Lehrpläne für den Unterricht in der Hilfsschule nebst methodischer An- 
weisung. Von Dir. R. Weiß. 1358. 2,70 M. 

83. Verfassung und Erziehungsplan des Kindergartens. Von M. Damrow. 
IV u. 728. 1,60 M. 

84. Personalienbuch. Von Dir. J. Trüper. 2. Aufl. XX u. 31 S. 80 Pf. 

85. Die Pflanzenkenntnis bei den Kindern unserer Elementarklasse. Von 
Seminarlehrer E. Mentzel. Mit 4 Tafeln. 358. 65 Pf. [24 S. 3 M. 

86. Die reine Kinderleistung. Von KR. Egenberger. Mit 32 Tafeln. VIII und 

87. Richtlinien für die Stoffauswahl im Unterrichte schwachsinniger Kinder. 
Von Fr. Rössel. 208. 30 Pf. [90 S. 1,60 M. 

88. Erholungsheime für schulpflichtige Kinder der Großstadt. Von R. Schauer. 

89. Die Waldschule. Von Kreisschulinspektor K. König. VIII und 124 S. 2,20 M. 

90. Zur Analyse des kindlichen Geisteslebens beim Schuleintritte. Von A. Vin- 
cenx. Mit 14 Tafeln. 668. 2,40 M. 

91. Das Jugendgericht in Plauen i. Vgtl. Von Amtsrichter F. Schmidt und Schul- 
direktor J. Delitsch. 45 5. 75 Pf. 

92. Die Beurteilung jugendlicher Schwachsinniger vor Gericht. Von Prof. Dr. 
E. Ziemke. 208. 35 Pf. 

93. Jugenderziehung, Jugendkunde und Universität. Von Dr. K. Wilker. 62 S. 1 M. 

94. Geschichte der österreich. Schulreform. Von Dr. L. Singer. 26 S. 40 Pf. 

95. Kinderprügel und Masochismus. Von Dr. M. Cohn. 208. 30 Pf. 

96. Uber den Einfluß des Antikenotoxin auf die Hauptkomponenten der Arbeits- 
kurve. Von M. Lobsien. 288. 45 Pf. [2 Abbildungen. 978. 1,50 M. 

97. Weises Betrachtung über geistesschwache Kinder. Von M. Kirmsse. Mit 

98. Beobachtungen über die typischen Einwirkungen des Alkoholismus auf 
unsere Schüler. Von R. Schauer. 27 S. 45 Pf. 





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Heft 
9. 


101. 
102. 


103. 
104. 
105. 


106. 


Über die Formen der krankhaften moralischen Abartung. Von Geh. Med.- 
Rat u. Prof. Dr. @. Anton. 188. 30 Pf. 

Biogenetik und Arbeitsschule. Von Prof. Dr. Ad. Ferrière. 726. 1,60 M. 
Soziale Fiag für die aus der Hilfsschule Entlassenen. Von J. Delitsch. 
20 S. 35 Pf. 

Ziehen und die Metaphysik. Von O. Flügel. 198. 35 Pf. 

Die Psychopathologie der Pubertätszeit. Von Dr. Mönkemöller. 29 8. 50 Pt. 
Ist die Entmündigung psychopathisch Minderwertiger ratsam, und wann 
soll sie eingeleitet werden? Von Dr. F. Schmid. 188. 35 Pf. 

Über Lernweisen und Lernzeiten bei schwachsinnigen und schwerschwach- 
sinnigen Kindern. Von K. Lehm. Mit 4 Abbildungen. 36 S. 70 Pf. 


. Stoffsammlung zum Sprechunterricht auf der Vor- bezw. Unterstufe der 


Hilfsschule. Von K. Lehm. VILL u. 1008. 1,75 M. 


. Die experimentelle Ermüdungsforschung. Von M. Lobsien. Mit 4 Tafeln. 


VII u. 1608. 2,70 M. [169 S. 3,50 M. 
Die experimentelle Gedächtnisforschung. Von Dr. N. Braunshausen. Vin. 


. Psychische Fehlleistungen. Von R. Egenberger. Mit 12 Tafeln. 50 8. 1,20 M. 
. Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Testmethode. Von F. Weigl. 


408. 65 Pf. 


. Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung bezüglich der sog. psychopathi- 
60 Pf. 


schen Konstitutionen. Von Prof. Dr. Th. Ziehen. 32 S. 


. Das Problem der Schulorganisation auf Grund der Begabung der Kinder. 


Von Dr. W. Heinecker. 83 S. 1,50 M. 


. Über die Entwicklung der Seele des Kindes. Von F. Altmüller. Neu heraus- 


gegeben von Dr. K. Wiker. 1528. 2,40 M. 


. Gegenbewegung der linken Hand und Symmetrie. Von M. Buchner. Mit 


9 Abbildungen. 218. 45 Pf. 


. Die Familie Kallikak. Von Dr. phil. Henry Herbert Goddard. Berechtigte 


deutsche Übersetzung von Dr. phil. K. Wilker. Mit 14 Tafeln. 73 S. 1,65 M. 


. Die Strafe in der Fürsorgeerziehung. Von Dr. Mönkemöller. 368. 60 Pf. 
. Junge Galgenvögel. Von Charles E. B. Russell, M. A. Berechtigte deutsche 


Übersetzung von Dr. jur. K. Struve. VIII u. 118 S. 2M. 


. Kind und Kino. Von Gerichtsassessor Dr. A. Hellwig. 147 S. 2,40 M. 
. Von der Schule des Mittelstandes (Mittelschule) in Preußen. Von Rektor 


Dr. phil. B. Maennel. 83 S. 1,35 M. 


. Die Entstehung und Bedeutung der Angst im Leben des Kindes. Von Prof. 


Ad. Oxerny. 148. 25 Pf. 


. Die Bedeutung pädagogischer Sammlungen und die Gesichtspunkte für 


eine Sammlung von Kinderdokumenten. Von Privatdozent Dr. A. Fischer. 
20 S. 30 Pf. 


. Oszillierende Gefühle. Von A. Gerson. 198S. 30 Pf. 
. Können wir Kriegswaisen der Armenpflege überlassen? Von Richter J. F. 


Landsberg. 128. 25 Pf. 


. Formale und materiale Intelligenzdefekte als Hemmungen im ersten Lese- 


unterrichte der Schwachbegabten und eine diesen Defekten angepaßte Lese- 
lehrmethode. Von H. Nöll. 938. 1,50 M. 


j. Autorität und Selbstregierung in der Leitung der Jugendlichen. Von Prof. 


E. W. Foerster. 268. 50 Pf. 


. Psychologische Beobachtungen über die Eindrücke des Krieges auf einzelne 


wie auf die Masse. Von K. W. Dix. 308. 50 Pf. 


. Zur Psychologie christlicher und jüdischer Schüler. Von Dr. O. Nemecek. 


518: ...90. Pf: 


. Der Einfluß des Krieges auf die Kriminalität der Jugendlichen und auf 


jugendliche Sträflinge. Von K. Wittig. 328. A 
Über den Wert der Freiübungen im Hilfsschulturnen. Von K. Lehm. 
(Unter der Presse.) 


. Sonderklassen für sprachkranke Schulkinder. Von W. Carrie. 38 S. 75 Pf. 
. Das Familienrecht und die deutsche Jugenderziehung. Von Dr. H. Pudor. 


(Unter der Presse.) 








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A. Abhandlungen. 


1. Über den Wert der Freiübungen im Hilfsschulturnen. 
Von 
Kurt Lehm, Dresden. 
(Schluß.) 


Bei weiterem Ausbau der Freiübungen ist als Heilfaktor der 
Rhythmus in weiterem Maße als bisher zu würdigen und auszunutzen. 

Auf die hohe Bedeutung des Rhythmus für die Erziehung ist 
wiederholt in pädagogischen Werken hingewiesen worden. Die um- 
fassendste Arbeit in dieser Richtung hat aber ein Mann geleistet, der 
selbst seinen Namen in deutschen Landen verächtlich machte, Jaques- 
Daleroze. Wir Deutschen hätten allen Grund, seinen Namen und 
sein Werk zu vergessen. Und doch! Die Gerechtigkeit heischt, Person 
und Sache zu trennen. Jaques-Dalceroze hat sich sein Urteil selbst ge- 
sprochen. 

Nach meiner Erfahrung ist die rhythmische Gymnastik eine Vor- 
schule für den Tanz als Ausdrucksform, sie dient also in erster Linie 
der Kunst. Dem Laien, der sich der rhythmischen Gymnastik widmet, 
verhilft sie zu tieferer Erfassung der Bewegungen und des Tanzes, 
fördert ihn in der Auffassung plastischer Kunst. 

Was hat nun diese Kunstform der rhythmischen Gymnastik mit 
dem Hilfsschulturnen zu tun? 

Hilfsschüler sind geistig und körperlich unfreie, gefesselte Menschen. 
Zur Lösung des Geistes aus physischen Banden ist die Forschung 

Zeitschrift für Kinderforschung. 21. Jahrgang. 13 


194 A. Abhandlungen. 
theoretisch und praktisch fortgesetzt an der Arbeit. Und die Beid- 
händigkeitsbestrebungen, wie sie bis kurz vor dem Krieg lebhaft dis- 
kutiert wurden, sind ein Ausdruck dieser Forschertätigkeit. Man ver- 
sprach sich viel von der Ambidextrie, ist aber mit den Erfolgen nicht 
zufrieden gewesen, in Berlin und andern Orten sind die Versuche 
mit der Doppelhändigkeit eingestellt worden. Am besten scheinen die 
Ergebnisse im Turnen, Zeichnen und in der Handfertigkeit gewesen 
zu sein. Doch ist die Zahl der Übungen, die im Turnen vorgenommen 
wurden, nach den bekannt gewordenen Berichten, sehr klein. Unter 
dem Widerspruch der Meinungen und im Hinblick darauf, daß man 
unter Umständen durch Zwang zur Beidhändigkeit Stottern und andere 
nervöse Erscheinungen heraufbeschwören könnte, habe ich meine 
eigenen besonderen Übungen eingestellt und namentlich die Gegen- 
satz-Übungen im Turnunterricht, im Pausenturnen und bei Ermüdungs- 
erscheinungen auch während des sonstigen Unterrichts gepflegt und 
damit gute Erfahrungen in jeder Beziehung gemacht. Um in diesen 
Übungen recht reichliches abwechslungsreiches Material zu haben, suchte 
ich in dem Schatz der schwedischen Turnübungen nach geeigneten 
Übungen, konnte in dieser Beziehung aber nur Parallelüibungen zum 
deutschen Turnen finden (bei Gerätübungen wäre die Ausbeute reicher 
gewesen. Und so führte mich mein Suchen endlich zu Jaques- 
Daleroze. 

Es sei zunächst gesagt, was ich nicht fand: außer dem Knicks 
bei der halben Note keine neue Bewegungsform für die Beine. Auch 
die Rumpfübungen sind im deutschen und schwedischen Turnen vor- 
handen. Die Einzelübungen für Hand, Fuß, Kopf, Rumpf können für 
das deutsche Turnen ohne weiteres und ohne daß sie einen Fremd- 
körper im deutschen Turnsystem darstellten, durch entsprechende 
Übungen aus dem deutschen Militärturnen ersetzt werden (Fußrollen, 
Handrollen, Armrollen, Kopfrollen, Rumpfrolien). 

Reicher ist die Methode Jaques-Daleroze an Bewegungsformen 
für Arme und Hände. Ob diese Übungen aber für das deutsche 
Turnen nötig sind, scheint mir sehr fraglich, ja bedenklich. Diese 
Bewegungsformen sind zum großen Teil nichts anderes als Taktier- 
übungen beidhändig bezw. beidarmig ausgeführt. Ich habe diese 
Übungen bis zum zwölfteiligen Takt mitgeturnt. Bis zum sechs- 
teiligen Takt wären diese Übungen im Rahmen der deutschen Frei- 
übungen bezw. Gangübungen verwendbar. Was darüber ist, wäre 
zuviel. Eine Notwendigkeit der Hinzunahme der Taktierübungen be- 
steht aber meines Erachtens nicht. 

In der folgenden Übersicht habe ich nun zum Vergleich deutsches 


Lehm: Über den Wert der Freiübungen iı im Hilfsschulturnen. 


195 





Turnen (Freiübungen), Rhythmische Gymnastik (Jaques-Daleroze) und 
schwedisches Turnen (Übungen ohne Geräte) nebeneinander gestellt. 
Eine strenge Parallelisierung habe ich aber nicht durchgeführt, um 
nicht durch Zerreißung der Übungsgruppen die Eigenart der Systeme 


zu verwischen. 


Aber auch auf diese Weise wird man erkennen, wo 


Beziehungen, wo Abweichungen vorhanden sind. 





Deutsches Rhythmische Gymnastik | C ne F 
Turnen | Jaques-Dalcroze Schwedische Gymnastik 


Atem-Übungen. 


| gende Übungen ausgeführt werden, ' 


| 





|]. Die Haltungen, in welchen fol- 


begünstigen die Ausdehnung der 
Unterleibsgegend. 

Übung 1. — Erste Stellung: Die 

Arme in horizontaler Richtung seit- 

wärts gestreckt, gerader Körper; 


, dieHandflächen nach unten gekehrt. 


Zweite Stellung: Die Arme ge- 
senkt, die Handflächen gegen die 


Schenkel gelegt, die Fingerspitzen 


nach unten gerichtet. 

Die Einatmung während die Arme 
l sich senken; 

die Ausatmung während sie sich 


' heben. 


| 
i 
| 
‘| 
| 


Übung 4. — Erste Stellung: 
| Der Rumpf nach vorne gebeugt; 
die Arme gestreckt; die Handflächen 
dem Körper zugewandt; die Finger 
gestreckt; die Fingerspitzen be- 
rühren beinahe den Fußboden. 

Zweite Stellung: Der Körper ist 
in gutem Gleichgewicht in gerader 
Linie aufgerichtet, die Arme rück- 


| wärts gestreckt, ein A bildend; 


| 


| 
| 


‚atmung während der 


die Fingerspitzen dem Boden zu- 


| gekehrt. ... 


Die Einatmung, während der 
Körper sich emporrichtet, die Aus- 
Rumpf- 


‚ beugung. 


| 


l 


| 


U. Die Haltungen, in welchen fol- 

| gende Übungen ausgeführt werden, 

(begünstigen die Ausdehnung des 
Brustkorbes. 

Übung 1. — Erste Stellung: 

Die Arme in horizontaler Richtung 


|nach vorne gestreckt; die Hand- 
| flächen einander zugekehrt. 





Übung 943. St.2A. Heben 
ausw. und Senken abw. .... 
Auf Eins! werden die Arme und 
Hände während der Einatmung 
vollständig gestreckt in der Quer- 
ebene des Körpers zur Busen- 
stellung (d) ausw. geführt; auf 
den Befehl Zwei! gehen die 
Arme bei gleichzeitiger Aus- 
atmung wieder zum Ausgg. zurück. 


Übung 945. Sprechstehende 
Ausg. wird von der Grundst. auf 
den Befehl: Sprechstand — 
stellt! dadurch eingenommen, 
daß die Unterarme so gedreht 
werden, daß die Handflächen mit 
geschlossenen Fingern vorw. ausw. 
weisen; die Oberarme sollen dabei 
stil am Körper zurückgehalten 
werden. Die Grundst. wird auf 
den Befehl Zwei! wieder ein- 
genommen. Auf den ersten Aus- 
führungsbefehl wird ein-, auf den 
anderen ausgeatmet. Die Übung 
wird auch mit F. Bewegungen 
vorausw., vorw., rückw. und 
rückausw. unter wechselweiser 
Überführung des Körpergewichtes 
von dem einen auf den andern 
Fuß ausgeführt. 

Übung 947. (Str.) Flügelst. 
R. Beugg. rückw. Die Bewe- 
gung muß zu einer sehr geringen 
Beugung durch Überstreckung im 
oberen Teil des Rückens und des 
Halses eingeschränkt werden. Die 
Einatmung geschieht bei der 
Rückbeugg. und die Ausatmung 
bei der Aufwärtsstreckung. 

Übung 948. St. 2 A Vor- 
wärtsbeugg. Befehl: Arme 

13* 


196 


A. Abhandlungen. 











Deutsches 
Turnen 


Kniehebhalte. 








Rhythmische Gymnastik 
Jaques-Dalcroze 


Zweite Stellung: Die Arme in 
horizontaler Richtung seitwärts ge- 
streckt; die Handflächen nach vorn 
gewendet. 

Der Übergang zwischen den zwei 
Stellungen geht langsam vor sich, 
die Einatmung während die Arme 
sich seitwärts bewegen; die Aus- 
atmung während sie sich einander 
nähern. 

Übung 3. — Erste Stellung: 
Die Hände hinter dem Rücken ver- 
schlungen; die Ellenbogen gestreckt; 


die Schultern durch die Kraft- | 
anstrengung der Hände rückwärts | 


gezogen. 

Zweite Stellung: Die nämliche 
Haltung aber mit erschlafften 
Schultermuskeln. 


Die Einatmung während der, 


ersten Stellung. 
Die Ausatmung während der 
zweiten Stellung. 


II. Haltung, welche die gleich- 
zeilige Ausdehnung des Unterleibes 
und des Brustkorbes begünstigt. 

Übung 4. — Man zähle bis 8. 

Auf eins, erste Haltung: Ein 
Schritt vorwärts, der Körper bleibt 
auf dem sich rückwärts befindenden 
Fuß gestützt. 
rückwärts, Ellenbogen gestreckt, ge- 
wölbte Brust. 

Auf drei und vier: Langsame 
tiefe Einatmung. 

Auf fünf und sechs: Langsame 
Ausatmung. 

Auf sieben, zweite Haltung: 
Der rückwärts stehende Fuß stellt 
sich neben den anderen; die Arme 
in horizontaler Richtung vorwärts 
gestreckt. 


Die Fäuste nach | 


| 
| 
| 
| 





Schwedische Gymnastik 


vorw. — beugt! Abwärts — 
streckt! Dasselbe — Eins! 
Zwei! usw. Die Einatmung und 
das erste Zeitmaß fallen zu- 
sammen, die Ausatmung ebenso 
mit dem anderen Zeitmaß. 
Übung 952. Str. bogenst. 
R. Beugg. vorw. und abw. und 
darnach vorw. aufw. Streckg. 
Nachdem der streckbogenst. Aus- 
gang eingenommen ist, wird auf 
den Befehl: Vorwärts abw. — 
beugt! die Abwärtsbeugg. so 
vollständig als möglich ausgeführt. 
Dies wird dadurch erleichtert, 


‚daß man erst gegen den Schluß 
‚der Bewegungsbahn die Aus- 


atmung ausführt, aber dann so 
kräftig als möglich, wozu die Zu- 
sammenbeugg. beiträgt. Darauf 
folgt der Befehl: Vorw. aufw. 
streckt! wobei sich der 
Körper unter möglichst starker 
Einatmung zur Aufstreckung er- 
hebt. Die Bewegung wird darauf 
mit Wechselzählen wiederholt und 
kann später frei geübt werden. 
Die Schnelligkeit der Bewegung 
richtet sich nach dem Atmungs- 
rhythmus. 

Übung 957. Busenst. (d) 
2 A. Hebg. aufw. mit Rück- 
gang. Das Einatmen und Arm- 
heben samt Ausatmen und Zu- 
rückführen der Arme fallen zu- 
sammen. Die Übung nimmt ihren 
Fortgang nach Wechselzählen und 
wird bisweilen auch Kopfbeugen 
rückw. eingelegt. 


Gleichgewichts- Übungen. 


Allgemeine Übungen für das Gleich- 
gewicht der Bewegungen. 
Übung 1. — a) Der Körper 


Gleichgewichtsbewegungen. 1) 
Übung 595. F. Bewegungen 
(vorwärts, vorauswärts, rück- 


stützt sich fest auf einen Fuß. | auswärts und rückwärts) mit 
Das andre Bein hebt sich mit ge- gestreektem Rist, so daß nur 
beugtem Knie, Fußspitze abwärts, | die Fußspitze des bewegenden 


die Linie des Oberschenkels hori- 
zontal. — Die Hände sind bei dieser 





1) ohne Geräte. 


Lehm: Über den Wert der Freiübungen im Hilfsschulturnen. 


197 











Deutsches 
Turnen 





Rhythmische Gymnastik 
Jaques-Dalcroze 


Schwedische Gymnastik 





Knieheben, 
Vorstrecken. 


Zehenstand, 
Knieheben, 
Vorstrecken. 


Rückstellen, 
Fersenheb- 
halte, Rück- 
spreizen. 


Zehenstand, 
Rückstellen, 
Fersenheben, 
Rück- 
spreizen. 

Quergrätsch- 
stellung, Vor- 
schwingen 
zur Vor- 
spreizhalte, 
Rück- 
schwingen 
und Auf- 
zehen. 


Standbeines 
vorw.,Zehen- 
stand. 








| Man zählt »eins«, »zweie«. 


Übung bald auf den Hüften, bald 
hinter dem Genick, oder auch in 
horizontaler Richtung seitwärts ge- 
streckt. ... 

Übung 3. — a) Der Körper 
stützt sich fest auf einen Fuß. 
Auf 
eins wird das andre Bein mit ge- 
strecktem Knie vorgeschwungen; 
auf zwei kehrt es zur ersten Hal- 
tung zurück, das Knie gebeugt. — 
b) Dieselbe Übung auf der Fuß- 
spitze. 

Übung 4. — a) Der Körper ist 
fest auf einen Fuß gestützt; der 
andre Fuß steht rückwärts, einen 
Schritt entfernt. Das Bein, welches 
sich rückwärts befindet, wird auf 
eins rückwärts gehoben, mit ganzer 
Kniebeugung; der Oberschenkel 
bleibt regungslos; auf zwei senkt 
sich der Fuß ohne den Boden zu 
berühren. b) Dieselbe Übung auf 
der Fußspitze. 

Übung 5. — a) Die Füße sind 
einen Schritt voneinander entfernt; 
der Körper ruht auf dem sich vor- 
wärts befindenden Fuß; die Arme 
in leichter Biegung aufwärts ge- 
hoben. 

Auf eins wird das rückwärts 
stehende Bein in gestreckter Hal- 
tung vorwärts geschwungen, der 
Oberkörper neigt sich dabei rück- 
wärts, die inneren Händflächen 
nach vorne gekehrt. 

Auf zwei wird dasselbe Bein 
in gestreckter Haltung rückwärts 
geschwungen, der Körper neigt 
sich vorwärts. ... 

Übung 8. — a) Der Körper ist 
fest auf einen Fuß gestützt. Der 
andere Fuß beschreibt eine gerade 
Linie von links nach rechts und 
vice-versa, indem er auf eins das 
andere Bein kreuzt und auf zwei 
sich seitwärts vom Körper entfernt, 
ohne jemals den Fußboden zu be- 
rühren. Der Oberkörper neigt sich 
in der dem Beine entgegengesetzten 
Richtung. b) Dieselbe Übung auf 
der Fußspitze. 


Übungl1.—... Auf 1, Rumpf- 


| beugung nach vorwärts, wobei die 


Fußes den Boden berührt. Diese 
Fußbewegungen werden etwas 
verkürzt; später wird die ent- 
sprechende Übung in zehen- 
stehendem Ausgg. ausgeführt. 


Übung 605. St. B. Aus- 
wärtsführung. ... Auf den Be- 
fehl: L. (r.) Bein auswärts — 
führt! wird das Körpergewicht 
auf den r. (l.) Fuß übertragen 
und das l. (r.) Bein vollständig 
gestreckt, direkt nach der Seite 
auswärts geführt, so weit das 
Hüftgelenk es gestattet (»Spreiz- 
haltee). Der Körper soll im 
übrigen eine gute, gerade Haltung 
einnehmen. Auf den Befehl: 
Einwärts — führt! wird das 
Bein wieder in seine ursprüng- 
liche Stellung zurückgeführt oder 
der Fuß wird, nachdem eine zeit- 
lang geübt worden ist, vor oder 
hinter den stehengebliebenen ge- 
setzt, wenn befohlen wird: Bein- 
auswärtsführung Bewegung 
vorwärts (rückwärts) usw.... 


Übung 606. Krummhalbst. 


Ristaufbeugg. und Streckg. 
(Hüfthalte) u. a. Nachdem die 
Ausgangsstellung eingenommen 


ist, wird die Bewegung des Fußes 
ausgeführt auf den Befehl: Rist- 
aufbeugg. und Streckg. Eins! 
Zwei! Auf Eins! wird der Fuß 
soweit es möglich ist gegen das 
Unterbein aufgebogen, auf Zweil 
wird der Rist durch die Nieder- 
führung des Fußblattes so weit 
als möglich ausgerichtet. Unter- 
dessen hat das aufgebogene Knie 
die Ausgangsst. genau beizube- 
halten. — Die Übung wird nach 
beiden Seiten gleich ausgeführt 
und wenn nötig mit Stützen ein- 
geleitet. 
Übung 607. Krummhalbst. 
Kniestr. vorw. (Hüfthalte, 
Nackenhalte, Strst). Auf den 
Befehl: Kniestr. — Eins! wird 
das Unterbein so nahe als mög- 
lich zum gestreckten Knie vor- 
aufwärts geführt. Auf den Be- 
fehl: Beugt! oder Zwei! geht 
das Unterbein wieder zum Ausgg. 











198 A. Abhandlungen. 
Deutsches Rhythmische Gymnastik 2 3 
Turnen Jaques-Dalcroze Schwedische Gymnastik 





Rumpfbeugen | Fingerspitzen beinahe den Fuß- 


vorw. Arm- |boden berühren. 


Auf 2 richtet 


senken und [sich der Körper wieder auf, die 


-heben, 
Zehenstand. 


Kreuzen 
rückw. und 
Aufzehen. 


Fußrollen. 


Zehenstand. 


beiden Arme heben sich gerade 
über den Kopf. 
Haltung, der Körper hebt sich auf 
die Fußspitzen. 


senken sich und strecken sich etwas 
rückwärts aus. Auf 5 dieselbe | 


Haltung. Auf 6 Rückkehr zur | 
Ruhestellung. 
Übung 12. — ... Das rechte 


Bein kreuzt in gestreckter Haltung 
das linke Bein und zwar indem es 
sich rückwärts bewegt und sich 
auf die Fußspitze stellt. ... b) 
Schaukelnde Bewegung in der be- 
schriebenen Haltung. 


Übung 13. — Das Körperge- 
wicht ruht auf dem linken Knie, 
welches sich ir dem Augenblick 
beugt, wo das rechte Bein sich 
vollständig nach rückwärts aus- 
streckt — und vice-versa. 

Übung 14. — Rumpfbeugung 
nach rückwärts. ... 

Übung 15. — Auf eins werden 
die Arme in horizontaler Richtung 
nach links geschwungen, wobei der 
Kopf sich nach rechts dreht und 
neigt; der Oberkörper dreht und 
neigt sich ebenfalls etwas nach 
rechts; auf zwei: Die Arme wer- 
den nach rechts geschwungen. ... 


Übung 16. — a) Der Körper 
stützt sich fest auf einen Fuß. Das 
andere Bein vorwärts gestreckt. 
Das Fußgelenk dreht sich im 
Kreise. ... 

Übung 17. — a) Man zählt eins, 
zwei. 

Auf eins: Der Körper stützt 

sich auf die Fußsohlen. 


Auf zwei: Der Körper hebt sich | 


auf die Fußspitzen. 
b) Auf eins: Fußsohle. 
Auf zwei und drei: 
spitze. 
c) Auf eins: Fußsohle. 
Auf zwei bis vier einschließ- 
lich: Fußspitze, u. s. w. bis 
Zwanzig. 


Fuß- 


Auf 3 dieselbe | 


Auf 4 bleibt der | 
Körper in dieser Haltung, die Arme | 


zurück. — Das Knie soll hierbei 
seine Höhe in der Ausg: t. 
beibehalten, es darf somit nicht 
gesenkt werden. 


Übung 608. Krummhalbst. 
| wechs. Knieaufbeugg. (Hüfth. 
schneller Wechsel). Auf den Be- 
fehl: Fuß wechseln — stellt! 
| wird der aufgehobene Fuß nieder- 
| gesetzt, und das andere Knie so 
schnell dies geschehen kann zur 
entsprechenden Lage in krumm- 
| halbst. Stellung gehoben. Beide 
Zeitmaße sollen somit in eins zu- 
sammenfallen. Darauf wird die 
Übung nach Wechselzählen fort- 
gesetzt. Eins! Zwei! usw. 
Übung 609. Krummhalbst. 
Kniestr. rück w. (Hüfthalte) wird 
bewerkstelligt auf den Befehl: 
Kniestreckg. rückwärts — 
Eins! wobei das ganze Bein, so 
hoch als möglich, vollständig ge- 
| streckt . und zugleich rückwärts 
geführt wird. Auf den Befehl: 
|Knieaufbeugg. — Zwei! wird 
das Bein mit gebogenem Knie, 
letzteres wird so hoch als mög- 
lich aufgehoben, mit Beibehaltung 
der geraden guten Körperhaltung 
wieder vorwärts geführt. 
Übung 610. Krummhalbst. 


Knie-Auswärtsführung (Hüft- 
halte). Auf den Befehl: Knie- 
auswärtsführung — Eins! 


| wird das aufgebeugte Knie, ohne 
daß es gesenkt wird, und so, daß 
es so weit als möglich zur Seite 
weist, auswärts geführt. Auf den 
Befehl: Einwärts — führt! 
wird das Bein wieder zur Aus- 
gangsst. zurückgeführt usw. 





Lehm: Über den Wert der Freiübungen im Hilfsschulturnen. 


199 








Deutsches 
Turnen 


Rhythmische Gymnastik 
Jaques-Dalcroze 


Schwedische Gymnastik 





Zehenstand, 
Kniebeuge. 


1.—4. Kopf- 
neigen, 
-drehen 
(wenden). 


Kopfrollen. 


Übung 20. Absätze ge- 


schlossen; die Arme in horizon- 


taler Richtung seitwärts gestreckt; | 


der Körper hebt sich auf die Fuß- 
spitzen. 


Auf eins: tiefe Kniebeugung. 
Auf zwei: der Körper hebt sich 


auf die Fußspitzen empor. 


Auf eins u. zwei: Kniebeugung. 
Auf drei: der Körper richtet 


sich auf. 


Auf eins, zwei, drei: Knie- 


beugung. 


a AÀA w N 





lı. 


Auf vier: der Körper richtet 


sich auf. 


Auf eins, zwei, drei, vier: 


Kniebeugung. 


Auf fünf: der Körper richtet 


sich auf, und so weiter. 


Übungen für die Kraft 


und die Geschmeidigkeit 


der Muskeln. 
Der Kopf (der Hals). 


Grundstellung: Die Halsmuskein 


geschmeidig. 
Der Kopf neigt sich bald nach 
links, bald nach rechts. Alle 
drei- und vierteiligen Takte. 


. Der Kopf dreht sich nach links, 


darauf nach rechts. 


. Der Kopf neigt sich vorwärts 


und richtet sich wieder auf. 


. Der Kopf neigt sich nach rück- | 


wärts und richtet sich wieder auf. 


. Der Kopf führt eine Kreisbe- 


wegung aus in der Richtung 
nach links, nach rückwärts, nach 
rechts und vorwärts. Dieselbe 
Übung in entgegengesetzter Rich- 
tung nach rechts, nach rück- 


wärts, nach links und vorwärts. | 


Die Schultern. 


. Der rechte Arm beschreibt einen | 
senkrechten Kreis, indem er sich | 


vorwärts, aufwärts, rückwärts 
und abwärts bewegt. 

Dieselbe Übung in entgegen- 
gesetzter Richtung. 


Bewegungen für Schul- 
tern, Nacken u. Rücken. 


Kopfdrehungen werden in 
Verbindung mit anderen Übungen 
ausgeführt, z. B. 

Übung 632. Beugst. R.- 
Beugung vorwärts und rück- 
wärts. 


Übung 633. Reckst. 2 A. 
Schwingen wird nach Wechsel- 
zählen: Eins! Zwei! ausgeführt 
dadurch, daß durch Schwingen 





der geraden Arme zwischen reck- 


200 


A. Abhandlungen. 








Deutsches 
Turnen 


Rhythmische Gymnastik 
Jaques-Dalcroze 


Schwedische Gymnastik 





Arm- 
schwingen. 


Armkreisen. 


Handrollen. 


Rumpfbeuge 
vorw. und 
rückw. 

Rumpfbeuge 
seitw. 


Rumpfrollen. 


Rumpfdrehen. 








7. Der horizontal gehobene und | und streckst. Stellung gewechselt 


Der Vorderarm ist vorwärts 


12. 
13. 
14. 


Grundstellung: Die Hände auf 


15. 
16. 


18. 


. Der gestreckte Arm beschreibt 


gestreckte Arm beschreibt einen 
Halbkreis, indem er sich von | 
links nach rechts und von rechts | 
nach links bewegt. Der Arm | 
wird dabei so weit wie mög- | 
lich rückwärts geführt und | 
wenn er sich vorwärts befindet, | 
darf der Ellenbogen nicht ge- | 
krümmt werden. . 


einen senkrechten Halbkreis, | 
indem er sich seitwärts und 
aufwärts hebt und darauf wieder 
in entgegengesetzter Richtung 
heruntersenkt. ... 


Das Handgelenk. 


gehoben. 
Abwärts- und Aufwärtsbiegen. 
Biegen nach links und rechts. 
Die Hand beschreibt einen senk- | 
rechten Kreis, indem sie sich | 
nach links, abwärts, nach rechts | 
und aufwärts bewegt. ... 


Der Rumpf (die Hüften). 


den Hüften. 
Rumpfbeugung nach vorwärts 
und nach rückwärts. 
Dieselbe Stellung, der Hand- 
rücken stützt sich auf die; 
Hüfte. Rumpfbeugung nach | 
links und rechts. 





indem sich der Oberkörper nach | 


links, rückwärts, nach rechts | 
und vorwärts bewegt. 


| Winkel bilden. 
' Übung einige Male ausgeführt 


Der Arme hängen herunter. 


Der Rumpf dreht sich nach 
links und nach rechts um seine 
Achse, 


| wird. 


Übung 638. Recksturz- 
grätschst. 2 A. Schwingen. ... 


Übung 639. Beugesturz- 
grätschst. 2 A. Streckg. aus- 
wärts und aufwärts. ... 


Übung 648. Flügelausfallst. 
b. Ausgg. Flügelschlußausfallst. 


| Zuerst wird die Armstellung ein- 


genommen, dann die ausfallst. 
Stellung mit ganzer Fußbewegung 
rückwärts (vorwärts) auf den Be- 
fehl: L. (r.) Fuß — stellt! 


Übung653. Reekkn. Grätsch- 
fällst. 2 A. Schwingung, einge- 
leitet mit beugknie-grätsch- 
fällst. 2A Strekg. aufwärts 
und vorwärts. Diese Übung 
erfordert eine Stütze für die Füße 
des Bewegungsnehmers, entweder 
an einer Gerätschaft oder von 
einem Seitenkameraden. 


Bauchbewegungen. 


Übung 691. Streeklieg. 2 B.- 
Aufhebg. Geräte: Wagerechte 
Fläche als Unterlage. Der Be- 
wegungsnehmer nimmt die str. 
liegende Ausgg. und auf den Be- 
fehl: Beine heben — Eins! 
werden beide Beine vollständig 


| gestreckt und mit auswärts weisen- 
. Herumführung des Rumpfes, | § aben etr 


den Füßen etwas von der Unter- 
stützungsfläche gehoben, aber 
nicht höher, als bis sie gegen 
dieselbe einen halben rechten 
Nachdem die 


ist, wird das Beinheben mit ge- 
streckten Beinen fortgesetzt, bis 


|sie in vollständig lotrechte oder 


überlotrechte Stellung kommen, 
worauf sie langsam gesenkt wer- 
den mit der Beachtung, daß der 
weiche Leib darunter nicht von 
der Unterstützungsfläche getrennt 


‚wird. .. 











Lehm: Über den Wert der Freiübungen im Hilfsschulturnen. 2301 
N Rhy re era Schwedische Gymnastik 
š Übung 693. Sturzfallst. 
Die Beine. Ausgg. ... wird von der Grund- 
Grundstellung : Herunterhängende | stellung und vielen anderen Stel- 
Arme, oder aber die Arme auf lungen durch eine Vorwärts- 
den Hüften. abwärtsbeugung und Stütze der 
A A Hände gegen einen niederen 
Fersenheb- 19. Ein Knie gebeugt: | 
halte, Knie- Auf eins wird der Oberschenkel operen ei en den Poa 
hebhalte. vorwärts gehoben. IORE. TOR Geil Muasptzen: oder 
Kal: zei wird: der. Ober: etwas außerhalb derselben ein- 
schenkel rückwärts gestreckt. S@nommen. Die Bewegung wird 
Kniebenge 20. Ein Knie gebeugt: | ausgeführt auf den Befehl: Aus- 
Auslage. Auf eins wird der Ober- |$angst. — stellt! Auf den Be- 
i schenkel seitwärts entfernt. | {ebl: Zwei! werden beide Füße 
Auf zwei Rückkehr zur Ruhe- | gleicbzeitig gerade rückwärts be- 
stellung (gebeugtes Knie). wegt en die Pene Aak 
21. Ein Knie in horizontaler Rich- En, BOTA EOSen Boden 
tung gehoben. | spitzen sollen gegen den Boden 
Der Oberschenkel beschreibt | Stützen, die Hände sollen sich 
oinen Halbirois: nach’ nisani! dabei senkrechtunterden Schulter- 
nach Techie: E gelenken oder etwas weiter vorn 
Fersenheb- 22. Der Unterschenkel in horizon- befinden usw. 
halte. taler Richtung rückwärts ge- 








hoben. 
Der Oberschenkel beschreibt 
einen horizontalen Kreis: rück- 


wärts, nach außen, vorwärts; | 


etc. 


Liegende Haltung. 


. Die Hände unter dem Kopf. 
Zwei dreiteilige Takte; lang- 
same Bewegung. 

Auf Taktteil eins des ersten 


Taktes richtet der Körper sich | 


auf, indem er zur sitzenden 
Haltung übergeht: Die Beine 
heben sich dabei nicht vom 
Boden und die Hände unter- 
stützen die Bewegung in keiner 
Weise. 
Auf eins des zweiten Taktes 
Rückkehr zur liegenden Haltung. 
. Dieselbe Haltung, die Arme 
der Länge nach neben dem 
Körper ausgestreckt. 
Auf eins des ersten dreiteiligen 
Taktes heben sich die Beine in 
langsamer Bewegung (die Knie 
gestreckt) bis sie ein Rechteck 
mit dem Oberkörper (gemeint 
ist: bis sie einen rechten 
Winkel ... L.) bilden. Auf 
eins des zweites Taktes Rück- 
kehr zur liegenden Haltung. 





Wechselseitige Rumpf- 
bewegungen. 


Übung 763. Sehlußst. Seit- 
beugg. Die Übung wird in 
schlußst. Ausgg. ausgeführt auf 
den Befehl: Seitbeugg. nach 
l. (r.) — beugt! Aufwärts — 
streckt! Nach r. (L) — beugt! 
usw. ... 


Übung 764. Schlußst. Seit- 
drehg. (Hüfthalte). Sie wird aus- 
geführt auf den Befehl: Seit- 
drehg. nach l. (r.) — dreht! 
Vorwärts — dreht! usw. .... 

Übung 772. Flügelst. Wech- 
seldrehg. in Verbindung mit 
Kopfdrehen. Im Anfang wird 
zuerst die Rumpfdrehung nach |. 
(r.) ausgeführt. Später werden 
beide Drehungen gleichzeitig aus- 
geführt. ... 

Übung 784. Seitfallst. Ausgg. 
und (halbstr.) seitfallst B. Teilg. 
Der Ausgg. wird gewöhnlich von 
der vorfallst. Ausgangsst. einge- 
nommen auf den Befehl: Auf |. 
(r.) Hand seitfallst. stellt! 
R. () Arm aufwärts 
streckt! Beinteilg. — Eins! 
Der Körper wird auf den ersten 























202 A. Abhandlungen. 
Deutsches Rhythmische Gymnastik : . 
Turnen Jaques-Dalcroze Schwedische Gymnastik 
Ausführungsbefehl, auf die ange- 
Das Knie. gebene Hand ee so ge- 
Grundstell oder liegende | wendet, daß die Querebene des 
Haltung) er Oberseite AA, Körpers vollständig we 
4 x wird. ... Auf das letzte Befe 
Pengon mad 25. Beugen und Strecken. nont soll der obere ciag an voll- 
g kommen gestreckten Bein, im 
Kniebeuge 26. Ti os Haltung. Lotplan, so hoch als geschehen 
! . Tiefe Kniebeugung. kann gerade aufwärts geführt 
werden. Auf die Zahl: Zwei! 
Das Fußgelenk. wird das Bein langsam zum andern 
Grundstellung (oder liegende | zurückgeführt. 
Haltung), der Oberschenkel gehoben. 2 RR, der Ohapenz 
4 aus der schwedischen Gymnas 
27. Pate e u abwärts und mögen hier einige Übertragungen 
Fußrollen. IR ai a aus der schwedischen in die 
roman 30. Der = = a er gr deutsche Turnsprache folgen: 
wärts, nach innen und aufwärts | Übung 943. Seithebhalte. 
bewegt. „ 945. Grundstellung, Arme 
Dieselbe Übung in entgegen- nach unten und rückwärts 
gesetzter Richtung: nach außen, gestreckt. } 
aufwärts, nach innen und ab-| » 947. Hände auf Stütz, 
wärts. Rückenbeugg. 
„ 952. E LAAR a 
Grundstellung. Arme abw. gestreckt. 
Zehen- und |31, Der Körper hebt sich auf die ee er 
Sohlenstand. Fußspitzen und senkt sich zu- ben. Fußb 
rück auf die Sohlen. i e T R EN; a 
und Strecken. . 
Die Ellenbogen und der ” Rr: ee aan Bein- 
Rücken. n oE 
„ 608. Knieheben, schneller 
3 Liegende Haltung. Wechsel. ; 
Liegestütz 32. Der Schüler liegt ausgestreckt; | =» 609. Knieheben, Bein- 
vor-, seit-, das Gesicht ist dem Boden zu- strecken rückw. . 
rücklings. gekehrt, die Ellenbogen ge-| » 610. Knieheben, Bein- 





krümmt und die Handflächen 
gegen den Fußboden gedrückt. 
Auf eins hebt sich der Schüler, 
auf die Hände und Arme ge- 
stützt, empor (der Rücken bleibt 
durchaus geradlinig); auf zwei 
Rückkehr zur ersten Haltung. 





strecken seitw. 
„ 633. Vorhebhaltemit beiden 
Armen, Schwingen. 
638. RumpfbeugeinGrätsch- 
stellung mit vorgehobenen 
nicht gesenkten) Armen. 
„ 639. Rumpfbeuge mit Arm- 
beuge seitw. 

„ 648. Ausfallvorw.,Hüftstütz. 
„ 653. Knieen in Grätsch- 
stellung, Armschwingen. 

„ 691. Liegende Haltung, 

Beineheben. 
„ 693. Liegestütz vorlings. 
„ 763. Grundstellung. Seit- 
beugen des Rumpfes. 
„ 772. Rumpfdreh., Hüftstütz. 
„ 784. Seitliegestütz, Bein- 
spreizen, Armheben. 


Lehm: Über den Wert der Freiübungen im Hilfsschulturnen. 203 











Deutsches 


Timen Rhythmische Gymnastik Jaques-Dalcroze Schwedische 


Gymnastik 





Übungen für die Unabhängigkeit der 
Gliedmaßen. 


Übung 1. — ... Der linke Arm führt eine Kreis- 
bewegung aus, nach rückwärts, nach oben, nach vorn, 
abwärts u. s. w. Nach zwei oder drei Kreisführungen 
fängt der rechte Arm an, den zweiteiligen Takt zu 
schlagen. Die beiden Hände kommen gleichzeitig 
unten an. 

Übung 3. — Aufrechte Haltung; das eine Knie 
wird gehoben. 

Der freie Fuß führt abwechselnd zwei Bewegungen 
aus: nach unten (gestreckte Linie) und nach oben 
(Biegung des Fußgelenkes). Zu gleicher Zeit schlägt 
die eine Hand (nachher die andere) den zweiteiligen 
Takt, in der der Bewegung des Fußes entgegengesetzten 
Richtung. 


Rechte Hand | f |Ì) Linke Hand ||? 
Linker Fuß Î || 


Übung 4. — Die Fußspitze wird abwechselnd nach 
innen und nach außen geführt. Die eine Hand (hernach 
die andere) schlägt den zweiteiligen Takt. 


Rechte Hand Frei Rechte Hand | f} f 





Rechter Fuß I.r.l.r.) Rechter Fuß r.|.r.|. 
Linke Hand | | {| Linke Hand || f 
Rechter Fuß 1. r. |. r. Rechter Fuß r. l. r. |. 


Übung 5. — Der Fuß führt die Bewegung der 
| vorigen Übung aus. Zugleich wird die in horizontaler 
Richtung vorwärts gestreckte Hand (hernach die andere) 
nach links geführt, wenn die Fußspitze sich nach rechts 
bewegt, und vice-versa. 


Rechte Hand «— — Linke Hand «— = 


Rechter Fuß — +- Rechter Fuß — +- 
usw. 


Übung 7. ... Der linke Arm beschreibt einen 
großen Kreis. ... Nach zwei Kreisführungen fängt der 
rechte Arm an den vierteiligen Takt zu schlagen. ... 


Übung 10. — Ein Knie gehoben. Der Fuß schlägt 
den zweiteiligen Takt (die Fußspitze abwärts, die Fuß- 
spitze aufwärts. Zu gleicher Zeit schlägt die eine Hand 
im selben Tempo den vierteiligen Takt. ... 


Übung 13. — Die linke Hand schlägt den zwei- 
teiligen, die rechte den vierteiligen Takt. 


204 A. Abhandlungen. 














Turnen Rhythmische Gymnastik Jaques-Dalcroze a ae 


ink and. e 47 
T 


1 2 usw. 


Rechte Hand | — — t 
12 34 

und vice versa. 
Übung 15. — Der Kopf schlägt den zweiteiligen 
Takt (herunter, herauf). Die Hand schlägt den zwei- 
teiligen Takt in der der Kopfbewegung entgegengesetzten 


Richtung. 
ut 
Linke Hand | j | j) ` 


und mit der rechten Hand. 

Übung 19. — Der Kopf dreht sich nach links und 
nach rechts. Der Fuß (das Knie wird gehoben) schlägt 
den zweiteiligen Takt (die Fußspitze abwärts u. aufwärts). 


Kopf r.l. r.l. 2 
z w. 
Rechter Fuß | | | t } 


und vice versa. 
Übung 26. — Liegende Haltung; die Hände unter 
dem Kopf, das linke Bein ausgestreckt, der rechte Ober- 
schenkel gehoben, das rechte Knie gebogen. .. 
Während das rechte Bein sich abwechselnd streckt und 
liegt, führt das linke Bein eine Kreisbewegung aus. ... 
Übung 78. — Aufrechte Haltung; das linke Knie 
gehoben. Der linke Arm zeichnet einen horizontalen 
Kreis vor dem Körper: vorwärts, nach links usw.; der 
linke Fuß beschreibt einen horizontalen Kreis in ent- 
gegengesetzter Richtung: vorwärts, nach rechts usw. 


LF. LF 


und in 
ent- 
gegen- 
g2- 
setzter 
Rich- 
| tung 


Übung 118. — Aufrechte Haltung, ein Knie ge- 
hoben, der Oberschenkel in horizontaler Linie. Der 
Kopf macht die Bewegungen des vierteiligen Taktes. 
Die Hand (ohne Mitwirkung des Armes) schlägt den 
zweiteiligen Takt von links nach rechts. Der freie Fuß 
schlägt den zweiteiligen Takt von oben nach unten. 





Der Kopf | — > f 
Die Hand +4— —» 4— — 


Der Fuß I af | t 








Lehm: Über den Wert der Freiübungen im Hilfsschulturnen. 205 








Deutsches 
Turnen 








Rhythmische Gymnastik Jaques-Dalcroze 


Übungen für die Entwicklung der spon- 
tanen Willenstätigkeit. 


Übung 1. — Die rechte Hand schlägt den zwei- 
teiligen Takt; die linke Hand ist vorwärts gestreckt, die 
innere Fläche nach oben; auf den ersten Taktteil schlägt 
die rechte hörbar in die offene linke. Nach Verlauf 
einiger Takte gibt der Lehrer das Kommando: »hop,« 
auf einen ersten Taktteil. Auf den ersten Taktteil des 
folgenden Taktes fängt der Schüler an mit der linken 
Hand taktzuschlagen; die rechte Hand hört damit auf 
und streckt sich vorwärts aus, die innere Fläche nach 
oben gekehrt. 


1) hop 


- n ` ` 
t 1 1 


Beim nächsten Kommando löst die rechte wiederum 
die linke Hand im Taktschlagen ab; usw. 

Übung 30. — Die Schüler bilden einen Kreis, in- 
dem sie sich einander die Hand reichen. Sie marschieren 
im zweiteiligen Takte nach links und fangen mit dem 
linken Fuß an. Das Kommando wird auf den ersten 
Taktteil gegeben. Darauf macht der rechte Fuß keinen 
Schritt vorwärts auf Taktteil 2, sondern nähert sich 
nur leicht dem linken Fuße, um sich dann nach rechts 
wendend den ersten (schweren) Taktteil des folgenden 
Taktes auszuführen.. Der Marsch wird nun in der 
Richtung nach rechts fortgesetzt bis zum nächsten 
Kommando, worauf der Kreis sich wieder nach links 
wendet. 

Übung 50. — Marsch im dreiteiligen Takt. 

Das Kommando »hop« wird auf Taktteil 1 gegeben. 
Auf Taktteil 3 desselben Taktes nimmt der Schüler 
einen Sprung seitwärts nach links; beim folgenden 
Kommando wird er nach rechts springen usw.; er wird 
auf denselben Fuß zurückfallen, mit welchem er den 
Sprung genommen hat und darauf den Marsch fortsetzen. 


Marschunterbrechungsübungen. 


Übung 1. — Die Hände hinter dem Kopf. 

Die Schüler marschieren drei zweiteilige Takte; auf 
den zweiten Teil des dritten Taktes bleiben sie stehen, 
gestützt auf denjenigen Fuß, der den letzten Schritt 
gemacht hat; der andere Fuß bleibt zurück, den Boden 
leicht mit der Fußspitze berührend. Während eines 


1) Zeichenerklärung: 
Linke Aa Rechte Hand — Linke Hand 3j 
USW, 


Linker Fuß Rechter Fuß Rechter Fuß 


Schwedische 
Gymnastik 


206 A. Abhandlungen. 





D a “ Rhythmische Gymnastik Jaques-Dalcroze eg 


Taktes bleiben sie regungslos stehen, indem sie die Zeit 
in Gedanken abmessen; darauf setzen sie den Marsch 
wieder fort; der erste Schritt wird mit demjenigen 
Fuß ausgeführt, der zurückstand. 


et demt usw. 
kam k k = 

Übung 2. — Dieselbe Übung; die rechte oder die 
linke Hand schlägt den Takt. Die Hand verbleibt in 


der Haltung des zweiten Taktteiles (Takt 3), bis der 
Marsch wieder fortgesetzt wird. 


Übung 10. — Die Schüler marschieren zwei vier- 
teilige Takte und stehen zwei vierteilige Takte still. 


zz S dee etn usw, 


Übung 75. — Der Schüler marschiert drei zwei- 
teilige Takte. Auf Taktteil 2 des dritten Taktes macht 
er einen Sprung in die Höhe und seitwärts. ... Der 
Schüler steht einen Takt still, auf einem Fuß. 














Ich habe diese Zusammenstellung absichtlich ausführlich gestaltet, 
einmal weil mir für die weitere Ausführung die Eingliederung der 
einzelnen Kapitel der Jaques-Dalcroze-Methode nicht erspart geblieben 
wäre, zum andern und vornehmlich deswegen, um eine Grundlage für 
die weitere Abhandlung zu geben, damit nicht nur über die Sache 
gesprochen wird, sondern auch Vergleichsmaterial vorhanden und ein 
Einblick in die praktische Gestaltung der Methode Jaques-Dalcroze 
gegeben ist. Die Arbeiten über die Methode Jaques-Daleroze, die ich 
bisher zu Gesicht bekam, mangeln alle an einer anschaulichen Grund- 
lage, theoretisierten nur und leider wurden diese Ausführungen dann 
nur als schönes Spiel mit Worten betrachtet, wozu man sich eine 
rechte Praxis nicht so leicht vorstellen konnte. 

In der Anwendung des Rhythmus liegt der wesentliche Unter- 
schied zwischen deutschen und schwedischem Turnen einerseits und 
der rhythmischen Gymnastik von Jaques-Daleroze andrerseits. Im 
deutschen bezw. schwedischen Turnen herrschen die einfachen 
Rhythmen ?/,, ®/,, t/a ĉ/s vor, bei Jaques-Daleroze sind alle Rhythmen 
der Musik vertreten und nach seinem System auch durch Bewegungen 
ausführbar. 

Im Rhythmus liegt auch der Wert der Methode Jaques-Daleroze 
für die Hilfsschule. Im Rhythmus reichen sich Kunst und Heil- 
pädagogik die Hand, und so ergibt sich die Antwort auf die Frage: 


Lehm: Über den Wert der Freiübungen im Hilfsschulturnen. 207 





»Was hat die Kunstform der rhythmischen Gymnastik mit der Hilfs- 
schule zu tun?« 

Im Vorwort zu seinem Buch »Rhythmische Gymnastik« (erster 
Teil, erster Band, Seite VIII) sagt Jaques-Dalcroze: »Das Kind be- 
grüßt alle körperlichen Übungen mit Freuden. Man stachle dieses 
Interesse an und nütze es für künftige Erziehungszwecke aus.« In 
dieser allgemeinen Fassung vermag ich dem Satz, in Anwendung ge- 
bracht auf das normale Kind, nicht ohne weiteres zuzustimmen, denn 
auch unter den Normalen gibt es Kinder, deren Fleisch schwach ist, 
die zu jeder überflüssigen Bewegung einfach zu faul sind und den 
Übungen mit Widerwillen entgegensehen. Auf Schwachsinnige an- 
gewendet, bedarf der Satz starker Einschränkung, denn hier sind 
Organträgheit und Willensschwäche nur zu oft gepaart. Nimmt eine 
Tätigkeit den Charakter der Übung an, dann lassen die schwachsinnigen 
Kinder meist bald nach, die Übung wird lässig ausgeführt, schließlich 
eingestellt. In manchen Fällen, ich denke an mehrere Neulinge, die der 
Hilfsschule zugeführt wurden, kam es nicht zur Übung, auch nicht zur 
Ausführung der gewünschten, dem Kinde vorgeführten körperlichen 
Betätigung. Ich verlangte z. B.: Stelle deinen Fuß wie ich (vorw., 
rückw.), mach mal so. Es erfolgte keine Reaktion. Jetzt legte ich 
dem Kind einen Ball vor den Fuß — und siehe, die gewünschte Be- 
wegung erfolgte, sogar sehr lebhaft. Mit lebensvollem Inhalt möglichst 
in Spielform will der Hilfsschüler, auch der nahe der Normalität 
stehende, seine körperlichen Übungen ausführen, dann hat er seine 
Freude dran und tut eine Weile aktiv mit. 

Kann der Rhythmus solche Erfolge begünstigen? Außer Zweifel, 
jedoch nur dann, wenn er im Gewande lebensvoller Ausdrucksform 
auftritt, am besten wieder in Spielform, in abwechslungsreicher Wieder- 
holung. Und die Gefahr liegt nahe bei dem Jaquesschen System, 
daß die Taktier- und Gehübungen, die einen wesentlichen Teil des- 
selben darstellen, ermüden und das Interesse nur auf kurze Zeit 
fesseln bei Hilfsschülern. Es ist auch mir und andern Kursusteil- 
nehmern mitunter bei den Übungen so ergangen, daß sie den Geist 
nicht auf allzulange Dauer zu fesseln vermochten, ja, daß wir den 
Eindruck gewannen, daß es sich nicht um rhythmische Gymnastik, 
sondern um körperliche, um gymnastische Rhythmik handle, 
alles auf Rhythmus eingestellt, jede Bewegung der Hand, des Fußes. 
Und hier dürfte meines Erachtens die Reform einzusetzen haben, daß 
sich der Übende nicht als Gliederpuppe fühlt, aufgelöst in Kopf, 
Rumpf, Glieder, sondern als geschlossene, einheitliche, nicht als ana- 
tomisch zerlegte Person. Das ist ja das Schöne am deutschen Turnen 


208 A. Abhandlungen. 





(immer nur an die Freiübungen gedacht), daß die Übungen den Körper 
als harmonisches Ganzes umfassen und der einfache, nicht besonders 
geübte Rhythmus den Körper in hinreißender Gewalt durchströmt, so 
daß ich, falls ich unter den drei Turnsystemen zu wählen hätte, ganz 
entschieden dem deutschen Turnen den Vorzug geben würde. 

Nun ist noch einer andern, meines Erachtens irrigen Meinung 
entgegenzutreten. Jaques-Dalcroze beginnt das Vorwort zu seinem 
Buch von der rhythmischen Gymnastik mit folgendem Satz: »Die 
Fähigkeit, musikalischen Rhythmus zu empfinden — der Sinn für 
Rhythmus — ist nicht lediglich Verstandessache, sie ist im Wesen 
körperlich.«e Und diese Fähigkeit äußert sich meist und zunächst 
auch wieder auf musikalischem Gebiete. Diese Tatsache kann man 
sogar bei Idioten beobachten, die gehörte Melodien in gutem Rhythmus 
wiedergeben, sei es pfeifend, singend oder mit der Mundharmonika. 
In dieser Beziehung habe ich in der Städtischen Heil- und Pfleg- 
anstalt und in der Hilfsschule Erstaunliches erlebt. Wer das Wesen 
der betreffenden Kinder nicht näher kannte, mußte sie für intelligente 
Schüler halten. In diesen Fällen aber handelte es sich um geistig 
geringwertige Menschen, und ihre musikalischen Darbietungen waren 
weniger die Folge ihrer Verstandestätigkeit als vielmehr ihrer Fähig- 
keit, Rhythmus zu empfinden. Soweit also würde auch auf dem Ge- 
biet der Anormalenerziehung der oben angeführte Satz von Jaques- 
Dalcroze seine Bestätigung finden. 

Nun fordert aber Jaques-Daleroze die Übertragung musikalischer 
Rhythmen in Bewegungen des Körpers. Reicht hierzu die Fähigkeit, 
Rhythmus zu empfinden, auch aus? — Nein! Hier handelt es sich 
um bewußtes Erfassen der Rhythmen, um Unterordnung der Glied- 
maßen, des Körpers unter den Rhythmus, hier handelt es sich um 
Verstandestätigkeit und Willenskraft, und hier ist die Grenze gezogen, 
wie weit die rhythmische Gymnastik in der Hilfsschule Verwendung 
finden kann. Der Rhythmus gesellt sich als freudigst zu begrüßender 
Heilfaktor den vorhandenen Heilmitteln zu, aber seiner Wirkung wird 
durch die verminderte Verstandestätigkeit und Willenskraft der Hilfs- 
schüler die Grenze gezogen. Wohl ist es dem Rhythmus vorbehalten, 
auf Verstandes-, Gefühls- und Willenstätigkeit der Hilfsschüler fördernd 
einzuwirken, aber die Abnormität zur Normalität zu führen, ist auch 
ihm versagt. 

Ist nun auch durch den Rhythmus ein Vollerfolg nicht zu er- 
zielen, so wollen wir doch der Teilerfolge froh sein und wollen nun 
‚an der Hand des Systems von Jaques-Daleroze, wie es oben skizziert 
ist, die Stellen aufsuchen, wo für unsre Hilfsschüler ein Vorteil erwächst. 


Lehm: Über den Wert der Freiübungen im Hilfsschulturnen. 209 


Der erste Teil der rhythmischen Gymnastik von Jaques-Dalcroze 
enthält 18 Lektionen. Das sind aber nicht etwa 18 Stundenpensen. 
Jede Lektion umfaßt 10 Kapitel: 

1. Allgemeine Übungen: a) für die Atmung, b) für das Gleich- 
gewicht der Bewegungen, c) für die Kraft und die Geschmeidigkeit 
der Muskeln. 

2. Rhythmische Marschübungen. 

3. Rhythmische Atemübungen. 

4. Rhythmische Marschübungen (dieselben wie 2) mit rhythmi- 
schen Arm- und Kopfbewegungen verbunden. 

5. Übungen zur Beförderung der Unabhängigkeit der Gliedmaßen. 

6. Übungen für die Entwicklung der spontanen Willenstätigkeit. 

7. Sogenannte Marschunterbrechungs-Übungen (die Zeit der Unter- 
brechung wird in Gedanken abgemessen). 

8. Übungen mit abwechselnden Taktarten. 

9. Gehörübungen (die Zeitwerte einer vorgespielten oder -ge- 
sungenen Melodie werden in rhythmische Bewegungen umgesetzt). 

10. Rhythmische Märsche mit Gesang und Klavierbegleitung. 

In der praktischen Ausführung verschwimmen dem Übenden die 
Grenzen dieser Zehnteilung, es ist eben alles Rhythmus nach ver- 
schiedenen Richtungen hin angewendet, und es bedarf der indivi- 
duellen Gestaltungskraft des Lehrers, das Gefühl der Langeweile, der 
Ermüdung angesichts dieser nicht zu leugnenden Gleichförmigkeit der 
Übungen nicht aufkommen zu lassen. 

Im folgenden will ich nun niederlegen, was ich in der Hilfsschule 
aus dieser Zehnteilung mit Vorteil verwenden konnte. 


1. Allgemeine Übungen. 


a) Für die Atmung. 

Das deutsche Schulturnen weist keine besonderen Atemübungen 
im Turnplan auf. Gleichwohl wird der Wert solcher Übungen nicht 
verkannt und in den neuerlichen Bestrebungen, die auf das Pausen- 
turnen (Zehnminutenturnen) gerichtet sind, kommt diese Wertung zum 
Ausdruck, und solche Übungen lassen sich, wie bei Jaques-Daleroze 
nach Gehübungen und anderen Übungen zur Regelung der Atmungs- 
und Herztätigkeit sehr gut vornehmen, ohne daß sie als fremde Zutat 
auffallen könnten. 

Für die Hilfsschüler sind Atemübungen von ganz besonderer Be- 
deutung. Der Gesundheitszustand der Hilfsschüler läßt viel zu wünschen 

Zeitschrift für Kinderforschung. 21. Jahrgang. 14 


210 A. Abhandlungen. 





übrig, und die Atemübungen sind in erster Linie dazu geeignet und 
berufen, gegen Iungenschwäche, schlechte Atemdisziplin und ihre Folge- 
erscheinungen angewendet zu werden. In dieser Beziehung bietet die 
Methode Jaques-Daleroze der Hilfsschule große Vorteile. Freilich in 
der Ausführung kann der Hilfsschüler mit dem System Jaques-Dalcroze 
nicht Schritt halten. Will man nach Jaques-Dalcroze verfahren, muß 
man auch das Verständnis der Atemzeichen vermitteln. Es seien 
nachstehend einige solche Zeichen erklärt. 

= Plötzliche Spannung des geraden Bauchmuskels (1), 
ununterbrochene Zwerchfellspannung (2), plötzliche Erschlaffung des 
geraden Bauchmuskels. 

t $ — Plötzliche Zwerchfellspannung mit kurzer unvoll- 
ständiger Einatmung, fortgesetzte Spannung (2), Erschlaffung mit kurzer 
unvollständiger Ausatmung. 

42 $ — Plötzliche Zwerchfellspannung mit einer kurzen die 
Lungen füllenden Einatmung, fortgesetzte Spannung, plötzliche Er- 
schlaffung mit einer kurzen vollständigen Ausatmung. 

—< —— — Langsame Zwerchfellspannung mit einer langen voll- 
ständigen Einatmung, langsame Erschlaffung mit einer langen voll- 
ständigen Ausatmung. Und diese Zeichen und deren Kombinationen 
werden nun im Einliniensystem der Notenschrift we z. B. 








HHI EH EEN 
EES | a | ‚EBIBBIBE il 
| l | 
LFE T 
ee" 1, u I new; uw 
d | . . 


Solche Zeichen sind für Hilfsschüler zu schwer, die Anwendung einiger 
Notenzeichen hat sich aber als vorteilhaft erwiesen, z. B. 
e |d ddd] ua Man kann sich auf diese Weise selbst ein 
System von Atemübungen zusammenstellen, je nach Befähigung und 
gesundheitlichem Zustand der Schüler. Die Note bezeichnet die Dauer 
der Ein-, bezw. Ausatmung, z. B. 

An le SE A A 

Ein Aus Ein Aus Ein Aus Ein 
Eine intellektuelle Förderung wird nebenher erzielt, indem die Kinder 
durch die Notenwerte auch Zahlenwerte schätzen, ausmessen lernen 
durch Zählen und Fühlen. 


/ 


Lehm: Über den Wert der Freiübungen im Hilfsschulturnen. 211 





b) Für das Gleichgewicht der Bewegungen. 


Die von Jaques-Dalcroze angewendeten Gleichgewichtsübungen 
sind, ohne daß sie als solche besonders genannt werden, im deutschen 
Turnen enthalten und zeigen, wie reich das deutsche Turnen ist an 
Übungen und in wie hohem Grade umfassend, daß es in dieser Be- 
ziehung (bei Übungen ohne Gerät) auch hinter dem schwedischen 
Turnen nicht zurücksteht. Doch könnten die Gleichgewichtsbewegungen 
im deutschen Turnen noch erfolgreicher gestaltet werden, wenn dem 
Rhythmus eine größere Bedeutung dabei zugemessen würde. Ich ver- 
weise hier nur auf die 17. und 20. Übung der Methode Jaques-Dalcroze 
(Seite 42 bezw. 43). In der Hilfsschule zeigt sich manche der Übungen 
in Spielform von Nutzen. 


c) Für die Kraft und die Geschmeidigkeit der Muskeln. 

Daß Gruppe c durch Übungen aus dem deutschen Militärturnen 
ganz gut ersetzt werden kann, wurde schon oben bemerkt. Der Hilfs- 
schüler übt sie gern, aber ohne Rhythmus: Anfangen — auf- 
hören! 


2. Rhythmische Marschübungen für die Analyse der 
musikalischen Zeitwerte. 


‚ Für die Hilfsschule kommen die Marschübungen für folgende 
musikalische Zeitwerte in Betracht || J, J.» „ Die Marsch- 
übungen decken sich für d d mit den Marschbewegungen des deutschen 
Turnens. Für !/,, %/, +4 Note hat Jaques-Dalcroze folgende Bein- 
bewegungen festgesetzt: 

J| = zwei Taktteile, zwei Fußbewegungen. Ein Fuß schreitet 
vor mit dem ersten Viertel. Der andre Fuß wird beim zweiten Viertel 
nachgezogen bis zum Absatz des Fußes, der den ersten Schritt aus- 
führte und macht in diesem Augenblick eine halbe Kniebeugung 
(Knicks). Es ergibt sich dann bei der Übung der K. der Befehl: 
Schritt — Knicks! Schritt — Knicks! usw. 

J. = 1. Links einen Schritt vorwärts. 2. Rechts kreuzen vorn 
vorüber. 3. Rechts Schlußtritt. 

ao = 1. Einen Schritt vorw. l, 2. Kreuzen des r. Fußes vom 
vorüber und Aufzehen. 3. Seitstellen r. 4. Schlußtritt r. 

Diese Schreitübungen sind wertvoll als Gleichgewichtsübungen 


infolge des durch das Kreuzen bedingten seitlichen Neigens des Körpers, 
14* 


212 j A. Abhandlungen. 





sie können mit verschiedenen Armhaltungen verbunden werden, z. B. 
4 Takte a mit Vorhebhalte usw. Im Laufe eines Jahres habe ich 
Schüler einer oberen Hilfsklasse dahin gebracht, daß sie die vier Werte 
2, J. o erkannten und auch mit der entsprechenden Bewegung 
der Füße bereichneten, wenn ich am Klavier einige Takte desselben 
Notenwertes spielte. 

Eins aber mißfällt mir an den Schreitübungen sehr, das Stampfen 
mit dem Fuß zur Hervorhebung der schweren Taktteile. Im deutschen 
Turnen kommt das Stampfen auch vor, aber nur ganz wenig: beim 
Taktgang. Das schwedische Turnen kennt das Stampfen gar nicht, 
es ist dort sogar verboten mit dem Hinweise darauf, daß der hierzu 
nötige Kraftverbrauch die Ausdauer vermindert und daß es hemmend 
auf den Blutumlauf wirkt. Und selbst wenn das Stampfen in einen 
Druck mit dem Fuß verwandelt wird, ist auch diese Form des Gehens 
nur ganz kurze Zeit anzuwenden aus denselben Gründen. 


Abgesehen vom Stampfen ist die Art zu gehen, wie sie Jaques- 
Dalcroze lehrt, vorteilhaft. Man kann bei Befolgung dieser Gehart 
eine große Weglänge mit verhältnismäßig geringer Kraftaufwendung 
zurücklegen. Neu aber ist die Gangart, die Jaques- Dalcroze lehrt, 
durchaus nicht. Im Seminar ist uns dieselbe Art zu gehen gelehrt 
worden: Vermeidung des Fersenganges, weiches Aufsetzen des Fußes 
von der Fußspitze an, nicht herüber- und hinüberwackeln. Auch das 
schwedische Turnen lehrt diese Gehart. Für Hilfsschüler ist sie vorteil- 
haft in jeder Beziehung, dämpft den poltrigen Gang, belebt die 
schleppenden Schritte, bringt Sicherheit in den wackelnden Gang. 
Gehübungen müssen im Hilfsschulturnen von der untersten Stufe an 
planmäßig und reichlich geübt werden bis zur Beendung der Schul- 
zeit, ich halte sie für viel wichtiger als Gerätübungen. 


In bezug auf die Schrittlänge hat sich folgende Übung bei 
Hilfsschülern gut bewährt. Ich spiele halbe Noten, die Schüler gehen 
in Schritten, die die gewöhnliche Schrittlänge überschreiten, bei Viertel- 
noten gehen sie im gewöhnlichen Schritt, bei Achtelnoten in ganz 
kleinen Schritten. Die Schüler gingen auch bei Notenwechsel, viele 
sofort, andre etwas hinterher, im entsprechenden Schritt. 

In bezug auf die Kraft der Schritte hat auch die Musik beste 
Dienste getan. ff = ganz starker Schritt, f = Schritt von mittlerer 
Stärke, p = ganz leises Gehen. Von dieser Übung hatte ich einen 
schönen Erfolg im Zeichenunterricht. Ein Schüler, der nie eine dünne 
Linie zuwege gebracht hatte, zeichnete in Erinnerung an diese Übung 


Lehm: Über den Wert der Freiübungen im Hilfsschulturnen. 913 





»leise«e Linien. Er hatte gelernt, Kraft abzuschätzen und in ent- 
sprechender Weise anzuwenden. 

Im übrigen sind die Zeitwerte | | | „ auch ohne die besonderen 
Schrittstellungen von Jaques-Dalcroze sehr wohl mit Armübungen des 


deutschen Turnens klar zu machen, z. B. Gehen: 
4 Schritt mit Hochhebhalte der Arme = ø 


F 5 „ Seithebhalte „, „= Er 
2 Vorhebhalte „ „ = 3 
2 O „ Senken = a = al 


3. Rhythmische Atemübungen. 


Seite 53 und 54 ist auf die Bedeutung und Ausführungsmöglichkeit 
rhythmischer Atemübungen hingewiesen. Hier sei nur noch kurz 
darauf aufmerksam gemacht, daß mit Hilfe der musikalischen Zeit- 
werte der Umfang der Atmung nach und nach gesteigert werden kann: 


| el d | 
d a% Ja dJ. Zum o o W 


Ein Aus Ein Aus Ein Aus Ein Aus 


4. Rhythmische Marschübungen mit begleitenden rhythmischen 
Armbewegungen. 


Zu den unter 2. beschriebenen Schrittstellungen treten Arm- 
bewegungen in der Form des Taktierens. Ausgangsstellung ist Hoch- 
hebhalte eines Armes oder beider Arme. 

i oder | |= 1. Armsenken vorw. mit kräftigem Nachdruck. 
2. Hochschwingen zur Hochhebhalte. 
l. Armsenken vorw. 
2. Seithebhalte. 
3. Hochhebhalte. 
1. Armsenken vorw. 

2. Armschwingen vor die Brust. 
3. Seithebhalte. 
4. Hochhebhalte. 

Mehr habe ich mit Hilfsschülern nicht erzielen können. */, (Arm- 
und Beinübungen) bietet für Hilfsschüler eine Unabhängigkeitsübung 
schwerster Art. Durch Schnelligkeitsabstufungen kann die Schwierig- 
keit noch erhöht werden, und so werden die Übungen schließlich mit 
mechanischer Fertigkeit ausgeführt. 


214 A. Abhandlungen. 


5. Sogenannte »Unabhängigkeitsübungen« für die 
verschiedenen Gliedmaßen. 


Im deutschen und schwedischen Turnen nicht als besondere 
Gruppe aufgeführt, sind die Unabhängigkeitsübungen in beiden Turn- 
systemen in ausgiebiger Weise vorhanden. Man denke z. B. an 
folgende Freiübung: 1. Seitschr. l. mit Vorheben der Arme. 2. Rumpf- 
drehen 1. u. Vorbeugen d. Rumpfes, Beugen d. l. Knies und Kreuzen 
der Arme auf dem Rücken. Diese Übungen sind lebensvoll. Bei 
Jaques-Daleroze bedeuten sie nur Technik. Gleichwohl bieten die 
Unabhängigkeitsübungen von Jaques-Daleroze für das Hilfsschulturnen 
eine wertvolle Bereicherung, da sie sich zum Teil leicht ausführen 
lassen und ihr Wert für die Beherrschung bezw. Besitzergreifung der 
Gliedmaßen nicht unterschätzt werden darf. Freilich, drei Glied- 
maßen zu beherrschen, Kopf, Hand, Fuß, gelingt nur bei gleicher 
Richtung der Bewegung. 


6. Übungen für die Entwicklung der spontanen Willenstätigkeit 
und für die Regelung der unbewußten zwecklosen Bewegungen. 

Diese Übungen bezwecken plötzlichen Bewegungswechsel. Die 
linke Hand schlägt z. B. ®/,, die rechte */,. Da kommt der Ruf: hop. 
Auf diesen Ruf hat der Wechsel einzutreten, und nun schlägt die 
rechte Hand ®/, und die linke *,. Für Hilfsschüler bedeuten diese 
Übungen eine Stärkung in der Aufmerksamkeit, und man kann diese 
Übungen vielfach umgestalten, in Spielform bringen. Sie zwingen zu 
schnellem Entschluß. 


7. Sogenannte Marschunterbrechungsübungen, welche darin 
unterrichten, die Zeit in Gedanken in gleichmäßige Abschnitte 
einzuteilen. 

Auch diese Übungen können innerhalb gewisser Grenzen mit 
Vorteil bei Hilfsschülern angewendet werden. Vom Standpunkte der 
Musikpädagogik aus haben sie den Zweck, genaue Wertung der Pausen 
zu erzielen. Auch die Gehübungen des deutschen Turnens lassen sich 
leicht nach diesem Gesichtspunkt verändern, ohne daß ihnen der 
Charakter einer deutschen Turnübung genommen wird, z. B. Gehen 
zwei */, Takte, Stehen drei */, Takte mit Armstoßen usw. 


8. Übungen für das Abwechseln der verschiedenen Taktarten. 


Auch Hilfsschüler sind dahin zu bringen, daß sie den Taktwechsel 
empfinden und durch entsprechende Armübungen beim einfachen 


Lehm: Über den Wert der Freiübungen im Hilfsschulturnen. 915 





Gang (ohne die besonderen Schrittstellungen) bezeichnen. Nur darf 
man nicht erwarten, daß die Anschlüsse aus einer Taktart in die 
andere sofort ausgeführt werden. 

Kapitel IX und X Gehörübungen (das Umsetzen vorgespielter 
Melodien in rhythmische Marschbewegungen) und rhythmische Märsche 
erübrigt sich für Hilfsschüler. 

Hiermit will ich meine Darlegungen über die Methode Jaques- 
Dalcroze und ihre Bedeutung für die Hilfsschule schließen. 

Wenn ich heute vor die Entscheidung gestellt würde: Soll 
deutsches Turnen oder rhythmische Gymnastik in den Schulen und 
Turnhallen des deutschen Landes getrieben werden? ich hätte für die 
rhythmische Gymnastik ein entschiedenes Nein! Denn die tatsäch- 
lichen und vermeintlichen Kulturwerte, die in der rhythmischen Gym- 
nastik von Jaques-Dalcroze enthalten sind, sind alle im deutschen 
Turnen lebendig, und wenn dem Rhythmus im deutschen Turnen eine 
größere Pflege gewidmet wird, so erhält das deutsche Turnen eine 
Vertiefung. Vor einem möchte ich entschieden warnen: Man soll das 
deutsche Turnen nicht aufputzen mit Übungen aus der rhythmischen 
Gymnastik von Jaques-Daleroze. Das deutsche Turnen steckt so sehr 
voll eigener, urwüchsiger Kraft, daß es dem Rhythmus nach seiner 
Art dienen kann. Wir brauchen nicht auf Anleihe auszugehen. 
Kann ein Turnsystem glänzendere Proben seines Wertes ablegen als 
es das deutsche Turnen jetzt tut, da all die Männer und Jünglinge 
da draußen im Felde unerhörte Leistungen an Kraft, Gewandtheit, 
Mut erbringen — und sind diese Männer und Jünglinge nicht alle 
durch die deutsche Turnschule hindurchgegangen? 

Es ist dem Deutschen wohl nie der Vorwurf gemacht worden, 
daß er seine Volksgüter überschätze. Aber hüten wollen wir uns, 
daß wir sie nicht unterschätzen, und in dieser Gefahr waren wir 
vor dem Krieg. Bewahrung und Stärkung deutschen Volkstums muß 
unsre Losung sein, vornehmlich auch in der Erziehung. Vom Aus- 
land können wir nur herübernehmen, was deutscher Art entspricht: 
auch in der Hilfsschule! 


Quellen: 


Methode Jaques-Dalcroze. Erster Teil. Rhythmische Gymnastik, Erster Band. 
Paris, Lausanne, Leipzig. Sandoz, Jobin & Cie. 

Lehrbuch der schwedischen Gymnastik von L. M. Törngren. Autorisierte Über- 
setzung von Oberlehrer A. Schairer. Verlag von Wilh. Langguth, Eß- 
lingen a. N. 1908. 


216 A. Abhandlungen. 





Der Rhythmus als Erziehungsmittel für das Leben und die Kunst. Sechs Vorträge 
von E. Jaques-Dalcroze zur Begründung seiner Methode der rhythmischen 
Gymnastik. Deutsch herausgegeben von Paul Boepple. Basel, Verlag von 
Helbing & Lichtenhahn, 1907. 

Übungsbeispiele aus dem Gebiete der Frei-, Ordnungs-, Hantel-, Stab- und Keulen- 
übungen. Für Schulen und Turnvereine zusammengestellt und in drei Stufen 
geordnet von W. Frohberg,') Oberlehrer am Königl. Seminar zu Dresden- 
Friedrichstadt. Fünfte vermehrte Auflage. Mit 244 Abbildungen. Leipzig, 
Verlag von Eduard Strauch, 1894. 


2. Sonderklassen für sprachkranke Schulkinder. 
Von 
W. Carrie, Hamburg. 
(Schluß.) 


Die Ansichten über das Stottern, seine Entstehung, sein Wesen 
und seine Heilung sind bekanntlich noch so außerordentlich ver- 
schieden, daß es notwendig erscheint, durch getreue Berichterstattung 
des Beobachteten allmählich eine feststehende, unanfechtbare Meinung 
über Ätiologie, Pathologie und Therapie dieser Sprachstörung herbei- 
zuführen. Während zum Beispiel Coën die falschen Atmungsbe- 
wegungen in den Vordergrund stellte, Gutzmann auf die inkoordi- 
nierten Atmungs- und Sprechbewegungen das Hauptgewicht legt, 
sieht Dehnhardt in den psychischen Symptomen, besonders in der 
Sprechangst und Lautfurcht die eigentliche Wurzel des Stotterns. 
Dr. Liebmann erblickt in dem Überwiegen des konsonantischen 
Elementes über das vokalische den Kern des Stotterübes. Um 
diese oft stark differierenden Ansichten der einzelnen Autoren zu 
klären, erschien es notwendig, für die sprachkranken Schüler der 
Hamburger Sonderklassen einen besonderen Personalbogen anzulegen. 
Der Inhalt dieser Bogen, der von Fachlehrern und einem Spezialarzte 
für Sprachgebrechen zusammengetragen wird und auf jahrelanger, 
sachkundiger Beobachtung beruht, wird zweifelsohne in hohem Maße 
geeignet sein, die Unklarheiten auch auf diesen Gebieten beseitigen 
zu helfen. Die auf diese Weise gewonnenen Ergebnisse der medi- 
zinischen Forschung werden dann auch für die Heilpädagogik von 
außerordentlich weittragender Bedeutung sein, indem sie den Heil- 
pädagogen wertvolle Aufschlüsse für die Behandlung stotternder 





1) Mit Absicht habe ich keins der neusten Werke über deutsches Turnen zum 
Vergleich gewählt, um aus einer Quelle schöpfen zu können, die frei ist von fremden 
Zuflüssen. 


Carrie: Sonderklassen für sprachkranke Schulkinder. 


217 





Schüler geben können. Auf diese Weise werden diese Klassen auch 
in den Dienst der medizinischen Forschung gestellt, der dadurch 
ein Material zugetragen wird, das in gleicher Zuverlässigkeit und Ge- 
nauigkeit bisher noch nirgends geboten wurde. Der für die Hamburger 
Sonderklassen in Vorschlag gebrachte Entwurf zeigt folgende Gestalt: 








Hamburg. 

Schule für Sprachkranke. 
Personalbogen (Anhang zum Gesundheitsbogen)!) 
für 

Aufnahme: ...... Mangelhafte Begabung? ...... 

Letzte Schule: ...... Körperliche Schwäche? ...... 

1. Persönliche Verhältnisse: Unregelmäßiger Schulbesuch? ..... 
Name des Kindes: ...... Sprache des Kindes? ...... 
Geburtstag und -jahr des Kindes: ...... Gehör? ...... 

Name und Stand des Vaters: ...... 3. Sprache des Kindes: 
Wohnung: ...... Stottern? ..... Periodisch? ..... 

2. Schulbesuch: Stammeln? ...... 

a) Versetzung bisher regelmäßig: .... Poltern? ...... 
b) Grund des Zurückbleibens: ...... Andere Sprachkrankheiten? ...... 
I. Anamnese. 

1. Erbliche Belastung: ...... 8. Sprechenlernen: ...... 

2. Geburt: ...... 9. Wann haben die Angehörigen das 

3. Geschwister: ...... Übel zuerst bemerkt? ...... 

4. Frühere Krankheiten: ...... 10. Ursache, Veranlassung: ...... 

Lebensweise: ...... 11. Gleiche oder ähnliche Übel ia der 
5. Dentition: ...... Familie: ...... 
6. Laufenlernen: ...... 12. Früher behandelt: ..... 
7. Wann hat das Kind begonnen sich 
rein zu halten? ...... 
II. Status. 
A. Allgemeine Untersuchung: ...... 
a) Körperliche Eigenschaften: ...... 
13. Allgemeine Körperbeschaffenheit:....|15. Skrophulose: ..... Blutarmut: .. 
14. Nervensystem (Lähmungen, Reflexe): Rachitis: ...... 
tere 16. Körperliche Geschicklichkeit: 
a) Pupillenreflexe: ...... a) Prüfung auf Linkshändigkeit: ..... 
b) Patellarreflexe: ...... b) Gang: ...... 
c) Rachenreflexe: ...... Schielen: ...... 
d) Sonstige nervöse Lähmungen, Mit- | 17. Üble Angewohnheiten: ...... 
bewegungen: .. 2... 22eesen: 18. Verdauung: ...... 
EB NET ERTL a de Schlaf: (Morgenschläfer ?) 
1) Vergl. Trüper, Personalienbuch. 2. Aufl. Beiträge zur Kinderforschung, 


Heft 84. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann). 


218 A. Abhandlungen. 














19. Atmungstyp: ...... Sind Adenoide entfernt? ...... 
20. Gaumen: ..... Gaumensegal: .....- Mandeln? ...... 
21. Zahnstellung: ......- 24. Kehlkopf: ...... 
22. Nase: (Nasenatmung) event. Zittern Hervortreten der Adern am Halse — 
der Nasenflügel?: ...... beim Sprechen —?...... 
23. Sind Adenoide vorhanden? ...... Wie weit? ...... 
b) Geistige Eigenschaften: 
25. Beanlagung: ...... 27. Ermüdbarkeit ...... 
26. Aufmerksamkeit: 28. Temperament: ...... 
a) beim Eintritt: ...... | 
b) später: ...... | 
B. Prüfung der Sprache: 
a) Perzeption der Sprache: ...... 
b) Produktion der Sprache‘ ...... 
29. Schreiben nach Diktat: ...... Bei welchen Lauten? ...... 
30. Nachsprechen von Sätzen: ...... 32. Stottern? ...... 
MR „ Worten: ...... Bei welohen Lauten besonders? ...... 
A „ Silben: ...... 33. Sprechstimme: ...... 
A R E Tii CA | Höhe der Sprechstimme: ...... 
Spontansprechen: ...... Flüsterstimme: ...... 
31. Stammeln? ...... 34. Singen: ...... 
C. Häusliche Verhältnisse: 
35. Armut: ...... Gewohnheitsmäßig oder ausnahms- 
36. Zahl der Familienmitglieder: ...... weise? ...... 
37. Regelmäßige Mahlzeiten: ...... 39. Nebenbeschäftigung des Kindes: ..... 
38. Bekommt das Kind Alkohol bezw. 40. Hat die Sprache das Allgemeinbefinden 
raucht es? ...... beeinflußt? ...... 
In welcher Form? ...... Umgekehrt? ...... 





Ill. Besondere Bemerkungen: 


Als Heilmethode wurde in den Hamburger Sonderklassen für 
Sprachkranke von Anfang an das Eldersche Heilverfahren in An- 
wendung gebracht. Einige Einzelheiten dieser Methode sind nicht 
neu, wodurch leicht der Anschein erweckt werden kann, als handle 
es sich überhaupt nicht um eine neue Methode. Allein die Anwen- 
dung des »offenen Klanges« in der Stotterheilung ist tatsächlich etwas 
Neues. Auch ist diese Methode wegen ihrer Einfachheit die einzige, 
die Kindern ein selbständiges Üben ermöglicht. Sie erzeugt nicht 
nur ein geläufiges, sondern auch ein klangvolles, schönes Sprechen. 
Für den Klassenunterricht stotternder Schüler eignet sie sich in ganz 
besonders hohem Maße. Damit soll nun freilich den andern Methoden 
nicht jeder Wert abgesprochen werden; der Sprachheillehrer wird gut 
tun, sich mit allen Methoden nach Möglichkeit gründlich bekannt zu 


Carrie: Sonderklassen für sprachkranke Schulkinder. 219 





machen, auf diese Weise wird er sich schließlich seine eigene Methode 
bilden. »Prüfet alles und das Gute behaltet!« Alie Forderungen 
des Elderschen Heilverfahrens gipfeln in dem einen Satze: »Sprich 
offen!« Ein Stottern mit offenem Klange der Sprache ist nach 
meinen Erfahrungen ein Ding der Unmöglichkeit. Beim Stottern ver- 
schwindet der offene Klang sofort. Sobald also der Stotterer in seiner 
Rede stets die Vokale mit offenem Klange zu bilden vermag, ist er 
in der Lage, das Stottern zu vermeiden. Die Erzeugung des offenen 
Klanges muß ohne jegliche Anstrengung geschehen, die Halsmuskeln 
müssen möglichst lose gehalten werden, dadurch wird das Eintreten 
von Krämpfen tonischer und klonischer Natur im Stimm- und Arti- 
kulationsapparate vermieden. Nach dem Elderschen Heilverfahren 
sind Atmungsübungen zwar überflüssig. In solchen Fällen jedoch, 
in denen sich die Krampferscheinungen in der Atmungsmuskulatur 
(Rippen- und Zwerchfellmuskulatur) einstellen, halte ich aber dennoch 
eine rationelle Atmungstechnik für sehr zweckdienlich. Treten da- 
gegen die Krämpfe im Stimm- und Artikulationsapparate auf, so halte 
auch ich sämtliche Atmungsübungen für zeitraubend und überflüssig. 
Die Atmung ist eben ein unwillkürlicher, nicht ein willkürlicher 
Vorgang; daher soll der; Stotterer beim Sprechen gar nicht an die 
Atmung denken. Solange er aber die Atmung beim Sprechen nach 
bestimmten Regeln ausführt, sie also zu einer willkürlichen Bewegung 
macht, kann seine Sprache nicht als normal bezeichnet werden. 
Diesen rein physischen Übungen, deren Wirkung in der Hauptsache 
aber psychischer Natur ist, muß sich die neuerdings von Dr. Lieb- 
mann!) mit besonderem Nachdruck geforderte psychische Behandlung 
hinzugesellen. Von ärztlicher Seite wurde mir jüngst ein 18jähriger 
Jüngling mit der Bitte zugeführt, diesen in meine Behandlung zu 
nehmen. Die Behandlung dieses intelligenten jungen Mannes, der 
eine vorzügliche Selbstbeobachtungsgabe besaß, hat mir für die Praxis 
sehr wertvolle Fingerzeige gegeben. Er stotterte sehr stark, nicht 
nur am Anfang des Satzes, sondern auch in der Mitte desselben, ja, 
sogar inmitten der Wörter traten bei ihm Krämpfe stark tonischer 
Art auf, die von heftigen Mitbewegungen begleitet ‚waren. Sowohl 
bei Vokalen, als auch Konsonanten traten starke Hemmungen der 
Sprache ein. Man hat mehrfach das Stottern als »Lautfurcht« be- 
zeichnet; bei diesem Patienten zeigte sich aber auch Wortfurcht, 
eine Furcht vor ganz bestimmten Wörtern ohne Rücksicht auf den 
Anlaut. So hatte er beispielsweise einen heillosen Respekt vor dem 


1) Dr. Liebmann, Die psychische Behandlung von Sprachstörungen. 


220 A. Abhandlungen. 





Worte »Herr«e. Dieses glatt auszusprechen, gelang ihm niemals. Im 
Laufe der Unterhaltung stellte ich unauffällig fest, daß ihm das an- 
lautende h in jeder Verbindung, auch mit e, mit alleiniger Ausnahme 
des Wortes »Herr« keine nennenswerten Schwierigkeiten bereitete. 
Die Sätze: »Hasen hüpfen auf hohen Beinen,« »Hans hat hübsche Hand- 
schuhe,« konnte er fließend sprechen. Wie ist das zu erklären? Der 
junge Mann war in einem Bankgeschäfte tätig. Seinem Chef gegen- 
über hatte er einst beim Aussprechen des Wortes »Herr« in der An- 
rede einen starken Stotteranfall zu überwinden. Jedesmal nun, wenn 
er in der Anrede dieses gefürchtete Wort anzuwenden hatte, stieg 
die Erinnerung an jene peinliche Situation so mächtig in ihm auf, 
daß er trotz Anwendung seiner ganzen Energie das Stottern nicht 
mehr unterdrücken konnte, auch dann nicht, wenn er die in einem 
von ihm besuchten Heilkursus erlernten Sprechregeln in Anwendung 
zu bringen versuchte. Um die Schwierigkeiten, die ihm nach seiner 
Meinung das h machte, zu überwinden, setzte er mit solcher Kraft 
den Hauch vor das e, daß ihm für die Bildung der nachfolgenden 
Laute keine Luft mehr zur Verfügung stand. Wie schon erwähnt, 
geschah dies nur beim Sprechen des Wortes »Herr«. Die psychische 
Hemmung, die durch die eben erwähnte unliebsame Erinnerung in 
ihm entstanden war, hatte sich nach und nach zu einer Stärke ent- 
wickelt, die unüberwindlich schien. Das Wort »Herr« mußte daher 
durch ein anderes, das ihm keine Schwierigkeiten machte, ersetzt 
werden. Ich empfahl ihm daher, in Zukunft das gefürchtete h in 
diesem Worte wegzulassen und dafür einfach »Err« zu sagen. Beim 
Versuche setzte er jetzt unwillkürlich vor das e den Hauch in 
normaler Stärke, und die Schwierigkeit war damit für ihn dauernd 
überwunden. Nachdem ich kurze Zeit lautphysiologische Übungen 
mit ihm vorgenommen hatte, ging das mechanische Sprechen bald 
ohne Schwierigkeiten vor sich, das Lesen gestaltete sich vollständig 
fließend. Schwierigkeiten zeigten sich erst wieder, wie das bei allen 
Stotterern der Fall ist, als ich dazu schritt, die Koordination zwischen 
der Denk- und Sprechtätigkeit herbeizuführen. Ich ließ ihn eine Er- 
zählung lesen und forderte ihn dann auf, den Inhalt mit seinen eigenen 
Worten, nicht in der Buchsprache, wiederzugeben. Beim ersten Ver- 
suche stotterte der junge Mann ganz erheblich; scheinbar achtete ich 
aber hierauf nicht, sondern rühmte sogar den merklichen Fortschritt 
in seiner Sprache. Erfahrungsgemäß können Stotterer, sobald sie sich 
allein wissen, absolut fließend sprechen; sie können dann die schönsten 
Reden sogar mit rhetorischem Schwung halten. Ich bat ihn daher, 
dieselbe Geschichte einmal in meiner Abwesenheit zu erzählen. Ich 


Carrie: Sonderklassen für sprachkranke Schulkinder. 221 





verließ das Zimmer, und um zu zeigen, daß ich nicht etwa draußen 
an der Tür horchte, öffnete ich auf dem Korridor mehrere Türen 
recht geräuschvoll und unterhielt mich laut mit dort anwesenden 
Personen. Würde ich dies unterlassen haben, so würde er sich 
psychisch wahrscheinlich nicht ganz frei gefühlt haben und dennoch 
gestottert haben. Als ich dann das Zimmer wieder betrat, berichtete 
er mir strahlenden Antlitzes, daß er vollständig fließend gesprochen 
habe. Ich stellte mich hocherfreut und bat ihn, dieselbe Erzählung 
nun in meiner Gegenwart zu wiederholen. Dabei setzte ich mich 
aber nicht zu ihm an den Tisch, sondern machte mir im Zimmer 
allerhand zu schaffen, öffnete Schränke, wusch mir recht umständlich 
die Hände usw., so daß der junge Mann den Eindruck erhalten mußte, 
als ob ich gar nicht auf seine Sprache achte. Die Erzählung gelang 
ihm ohne nennenswerte Schwierigkeiten. Die dritte Übung bestand 
darin, daß er mir nun dieselbe Geschichte erzählen nıußte, als ich 
ihm gegenüber saß, wobei ich es aber vermied, ihn anzusehen; ich 
ließ vielmehr meine Blicke scheinbar gleichgültig durchs Zimmer 
schweifen. Wiederum gelang es ihm, ohne Anstoßen zu sprechen. 
Zum Schluß ließ ich ihn dann dieselbe Übung wiederholen, wobei 
ich aber den Blick mit größter Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet 
hielt und er auch mir scharf ins Auge sehen mußte. Auch jetzt 
sprach er einwandfrei. Diese Übung wiederholte ich an andern Tagen 
noch recht oft mit gutem Erfolge und zog hierzu zunächst die Eltern 
und späterhin auch unauffällig fremde Personen hinzu, jedoch hütete 
ich mich sorgfältig, ihn bei diesen Übungen zu übermüden, da sonst 
leicht ein Rückfall eintreten konnte. Das Gefühl der Sicherheit, das 
mit jeder gelungenen Übung an Stärke zunimmt, wird durch einen 
derartigen Rückfall wieder geschwächt oder gar ganz aufgehoben. 
Dieses Gefühl der zunehmenden Sicherheit muß aber unbedingt so 
lange gehegt und gepflegt werden, bis es einen Grad erreicht hat, 
daß der Stotterer sich mit Bestimmtheit sagen kann: Jetzt kann ich 
nicht mehr stottern. Demnach klingt die von Dehnhardt ver- 
tretene Ansicht, daß das Stottern eine Psychose sei, gar nicht so 
unwahrscheinlich. Da der Stotterer, wenn er allein ist, stets fließend 
liest und spricht, so haben die häuslichen Übungen im Lesen und 
Sprechen, worauf manche Heillehrer besonderes Gewicht legen, nicht 
den Wert, den man sich gewöhnlich von ihnen verspricht. Die stimm- 
technischen Übungen aber können meines Erachtens bei der Heil- 
behandlung nicht entbehrt werden, nicht um ihrer selbst willen, 
sondern wegen der psychischen Wirkung, die bewußt ausgeführte 
physiologische Übungen auf den Stotterer ausüben. Sie unterstützen 


2292 A. Abhandlungen. 





ganz wesentlich die Heilbehandlung, helfen vor allen Dingen das Ge- 
fühl der Unsicherheit im Stotterer beseitigen, lassen aber andererseits 
seine Sicherheit im Sprechen nach und nach so weit erstarken, 
daß die psychischen Hemmungen, welche eine koordinierte Tätigkeit 
des gesamten Sprachmechanismus verhindern, schließlich ganz ver- 
schwinden. In dem eben beschriebenen Falle handelte es sich um 
einen erwachsenen Stotterer, der über das nötige Maß von Intelligenz 
verfügte, dem ferner die Sorge um sein Fortkommen im Berufsleben 
die nötige Energie verlieh, an der Bekämpfung seines Leidens mit 
ganzer Kraft mitzuarbeiten. Daher konnte ihm auch durch Kursus- 
behandlung geholfen werden. Anders aber liegt freilich die Sache 
bei Schulkindern, die in Kursen geheilt werden sollen. Wohl gelingt 
es in zahlreichen Fällen, das rein mechanische Sprechen auch hier 
fließend zu gestalten, wenn auch meist nur vorübergehend. Aber die 
psychische Seite der Sprache mit dem mechanischen Sprechen dauernd 
in richtige Koordination zu bringen, gelingt den Kursen nur in 
seltenen Fällen; darin liegt aber gerade die Hauptschwierigkeit in der 
Behandlung Stotternder. Daher sind die Heilerfolge in den Kursen 
durchweg nur Scheinerfolge. Selbst die scheinbar ganz leicht liegenden 
Fälle sind bei Kindern nicht immer durch Kursusbehandlung zu be- 
seitigen. Ein scheinbar leichter Fall ist in Wirklichkeit oft schwerer 
zu beseitigen als stärker auftretendes Stottern. Die landläufige Unter- 
scheidung zwischen schwerem und leichtem Stottern läßt sich daher 
für die Heilbehandlung nicht in vollem Umfange aufrecht erhalten. 
Der bekannte Wiener Spezialarzt für Sprachgebrechen Dr. Fröschels 
urteilt darüber in seiner Sprachheilkunde:!) »In der Tat ist die Schwere 
eines Falles nicht nach der Häufigkeit des Stotterns und auch nicht 
nach der Stärke der krampfartigen Erscheinungen zu beurteilen, 
sondern es kommt im Wesen darauf an, durch welcherlei Ereignisse 
der Patient zum Stottern gebracht wird, und, was mit diesem Be- 
griffe fast völlig parallel läuft, wie schwer die psychischen Begleit- 
erscheinungen sind und welches Maß von Selbstbeherrschung er 
aufbringt.« 

Um die Hemmungen in der Sprache zu überwinden, strengt der 
Stotterer seine Halsmuskeln unnatürlich stark an. Durch diese äußerst 
starke Kraftanstrengung glaubt er, den Widerstand, den ihm die 
widerspenstigen Sprachwerkzeuge bereiten, überwinden zu können. 
Dadurch aber bewirkt er gerade das Gegenteil von dem, was er 
will. Je weniger Aufmerksamkeit er der Artikulation zuwendet, desto 


1) Dr. Emil Fröschels, Lehrbuch der Sprachheilkunde. 


Carrie: Sonderklassen für sprachkranke Schulkinder. 223 





fließender vermag er zu sprechen. Demnach kann das Stottern 
scheinbar leicht dadurch beseitigt werden, daß man den Stotterer an- 
leitet, ohne Anstrengung der Halsmuskeln zu sprechen. Das ist aber 
leichter gesagt als getan. Ohne Anstrengung zu sprechen, ist nämlich 
für ihn eine ganz gewaltige Anstrengung. Die Anstrengung für 
ihn liegt eben darin, daß er ohne Anstrengung sprechen 
soll. Dieser Satz klingt zwar höchst paradox, das ändert aber nichts 
an seiner Richtigkeit. Erwachsene einsichtige Stotterer haben mir 
dies wiederholt bestätigt. Die seelische Kraft, die zur Erfüllung 
dieser Forderung unbedingt erforderlich ist, reicht anfangs nur für 
ganz kurze Zeit aus. Man lasse daher den Stotterer bei den Übungen 
anfangs nur einen oder je nach Lage des Falles einige kurze Sätze 
sprechen. Eine psychische Überanstrengung muß durch die Übungen 
im Erzählen unter allen Umständen vermieden werden; sonst schwächt 
man die psychische Kraft des Stotterers, die doch gerade der Stärkung 
so sehr bedarf. Die Hauptforderung für den Stotterer muß demnach 
lauten: Strenge dich an, ohne Anstrengung zu sprechen. Diese 
Forderung unterscheidet sich nur äußerlich, nicht inhaltlich von der 
Eldersschen Forderung: Sprich offen! In der Stählung der Energie, 
die den Stotterer befähigt, ohne Kraftaufwand zu sprechen, muß vor- 
sichtig schrittweise vorgegangen werden. Am Schlusse einer erfolg- 
reichen Behandlung gilt aber der Schüler noch keineswegs als voll- 
ständig geheilt, auch dann nicht, wenn er vollständig fließend zu 
sprechen vermag. Er ist nur soweit gefördert, daß er die Sprache 
unter die Herrschaft des Willens zu zwingen vermag, wenn er unaus- 
gesetzt mit Aufmerksamkeit auf seine Sprache achtet. »Sache der 
Angehörigen und Lehrer ist es nun«, wie Professor Gutzmann sich 
sehr treffend ausdrückt, »die nötige Aufsicht über das Kind zu üben, 
daß es aufmerksam ist, daß es gut sprechen will. Dann wird im 
Laufe der Zeit die gewonnene gute Sprache so in Fleisch und Blut 
übergehen müssen, daß das Kind auch ohne besondere Aufmerksam- 
keit auf seine Sprache nicht mehr stottern kann.« Darin aber liegt 
gerade bei Kindern, die noch nicht über das erforderliche Maß von 
Einsicht und Energie verfügen, die Schwierigkeit. Achten sie nicht 
fortgesetzt auf ihre Sprache und werden sie darin nicht in sach- 
kundiger Weise von ihrer Umgebung unterstützt, so gleiten sie meist 
langsam, aber sicher in ihr scheinbar beseitigtes Sprachgebrechen zu- 
rück. Auch Gutzmann sagt in seiner Sprachheilkunde: »Die Rück- 
fälle sind im allgemeinen häufig, das kann gar keinem Zweifel 
unterliegen.« Die Schuld an solchen unliebsamen Erscheinungen, 
die die Geduld des Sprachheillehrers auf die höchste Leistungsprobe 


224 A. Abhandlungen. 





stellen und seine Arbeitsfreudigkeit oft zu beeinträchtigen drohen, 
liegt weder an der Methode, noch an dem Sprachheillehrer, voraus- 
gesetzt natürlich, daß letzterer seine Methode auch richtig anzuwenden 
versteht. Die Ursachen sind vielmehr im Charakter (Flatterhaftigkeit) 
oder in den gesundheitlichen Verhältnissen (Blutarmut und Nervosität) 
des Kindes oder auch in seiner Umgebung (fehlerhafte Behandlung 
in Schule und Haus) zu suchen. Durch Umfrage bei den Schulen 
wird es den Schulbehörden leicht möglich sein, festzustellen, daß von 
wirklichen Heilerfolgen in den Stotterkursen nur in ganz wenigen 
Ausnahmefällen die Rede sein kann. Unter den zahlreichen Berichten 
über günstige Schlußresultate in den Heilkursen findet sich wohl 
kaum ein einziger, der sich auf Beobachtungen stützt, die ein 
oder mehrere Jahre nach Schluß eines Kurses an sämtlichen 
Kursusteilnehmern festgestellt wurden. Derartige Erhebungen 
würden zweifelsohne den Wert der Kurse ins rechte Licht stellen. 
Man versuche es einmal. 

Zurzeit bestehen in Hamburg erst zwei Sonderklassen für Sprach- 
kranke. Da es bis jetzt hierfür noch an Vorbildern fehlt, muß die 
Praxis als vorsichtige Wegweiserin für den weiteren Ausbau dieses 
neuesten und jüngsten Zweiges am Stamme der Heilpädagogik dienen. 
Soviel darf aber schon jetzt als feststehend bezeichnet werden, daß 
den Kindern nach Möglichkeit nach erfolgter Heilung tunlichst noch 
mehrere Jahre Gelegenheit geboten wird, die erlangte Sprechfertigkeit 
auch in den Normalschulklassen zu bewähren. 

Besondere Schwierigkeiten bereitet nach meiner Erfahrung 
stotternden Schülern der erste Unterricht im Englischen, der in 
den Hamburger Volksschulen nach dem 4. Schuljahre einsetzt. Bei 
Schülern, die bereits in der Umgangs- und auch Schulsprache fließend 
sprechen konnten, trat vielfach im englischen Sprachunterrichte ein 
starker Rückfall ein. Diese Erfahrung wird auch von andern Autoren 
bestätigt. Den Fachmann werden derartige Erscheinungen keineswegs 
überraschen. Die Schwierigkeiten der englischen Aussprache ver- 
anlassen die Schüler, die Sprachbewegungen mit vollster Aufmerksam- 
keit zu überwachen. Alle Sprachheilmethodiker, so verschieden ihre 
Ansichten auch sonst sein mögen, sind aber darin einig, daß die Auf- 
merksamkeit des Stotterers von den Schwierigkeiten der Aussprache 
möglichst abgelenkt werden muß. Der Stotterer spricht um so besser, 
je weniger er auf die Schwierigkeiten der Sprache achtet, beim 
Stammler ist es gerade umgekehrt. Das Schuljahr, in dem zuerst 
fremdsprachlicher Unterricht auftritt, muß also notgedrungen nach 
oben hin noch den Sonderklassen angegliedert werden. Darauf möge 


Carrie: Sonderklassen für sprachkranke Schulkinder. 225 


man bei Neugründungen von vornherein Bedacht nehmen. Schüler, 
die bereits im 2. Schuljahr in die Sonderklassen eintreten, werden 
zwar in den meisten Fällen schon vor Beginn des fremdsprachlichen 
Unterrichts die nötige Sprachsicherheit erlangt haben; jedoch möchte 
ich davor warnen, sie unmittelbar vorher zurückzuschulen, sondern 
sie dann lieber noch eine Zeitlang zur Überwachung in der Spezial- 
klasse zu lassen. Ich möchte empfehlen, die Sonderklassen möglichst 
früh, tunlichst schon mit dem 2. Schuljahre beginnen zu lassen. 
Nach einjährigem Besuch der Normalschule kann man bereits er- 
kennen, ob das Sprachgebrechen pathologischer Natur ist oder nicht. 
Je früher aber die Therapie einsetzt, desto besser sind die Aussichten 
auf Heilung. Auch können die Kinder dann unterrichtlich besser ge- 
fördert werden und bleiben nicht lediglich infolge ihres Gebrechens 
zurück, wie das stets der Fall ist. In ganz besonders schwierigen 
Fällen, in denen eine spontane Heilung ausgeschlossen erscheint, 
namentlich dann, wenn eine Komplikation von Stottern und Stammeln 
vorliegt, sollte man lieber gleich mit Beginn der Schulpflicht Sonder- 
unterricht eintreten lassen. Bei solchen Kindern läßt sich, wie 
Dr. Liebmann schreibt, »mit ziemlicher Sicherheit voraussagen, daß 
das Stottern sich bald durch das Hinzutreten der bekannten psychi- 
schen Symptome sehr verschlimmern und daß dadurch eine weitere 
lautliche und formale Ausbildung der Sprache verhindert werden 
wird«. Gerade die Komplikation des Stotterns mit dem Stammeln 
führt meist zu einem vollständigen Stillstand der sprachlichen und 
infolgessen auch der geistigen Entwicklung. Wollte man die 
Sprachheilklassen nach Ablauf einer bestimmten Frist wieder auf- 
lösen, etwa nach 1—2 Jahren, so würden sie eigentlich nur ver- 
längerten Kursen ähnlich sehen. Alle Schüler müßten dann in gleicher 
Frist und im gleichen Tempo der Heilung entgegengeführt werden. 
Daß dies ein Unding ist, habe ich bereits bei Besprechung der Heil- 
kurse ausgeführt. Aber selbst dann, wenn dieses Kunststück ausführbar 
wäre, so müßten die Sonderklassen, um die vorgeschriebene Frist für 
alle Schüler innehalten zu können, gleich nach ihrer Einrichtung bis 
zu ihrer endgültigen Auflösung sowohl gegen Zugang, als auch gegen 
Abgang gesperrt werden. Das letztere ist aber schon aus dem Grunde 
nicht möglich, weil durch Um- und Verzug, durch Schulentlassung 
nach erfüllter Schulpflicht oder Umschulung auf Verlangen unver- 
ständiger Eltern im Laufe der Zeit immer Lücken im Schülerbestande 
entstehen, die wieder ausgefüllt werden müssen, wenn nicht un- 
ökonomisch verfahren werden soll. Manche Schüler würden vielleicht 
schon lange vor Ablauf der festgelegten Frist als geheilt gelten können; 
Zeitschrift für Kinderforschung. 21. Jahrgang. 15 


226 A. Abhandlungen. 





weshalb soll man sie unnötigerweise länger festhalten? Die Therapie 
wird stets je nach dem Grade des Leidens von verschieden langer 
Dauer sein müssen, eine gleichzeitige Heilung ist, wie bei jeder 
Krankheitsform, unmöglich. Aufnahme und Entlassung müssen daher 
jederzeit nach Bedarf vorgenommen werden können, um den Schüler- 
bestand stets auf solcher Höhe erhalten zu können, der die Ein- 
richtung solcher Klassen rechtfertigt und lohnend gestaltet. Die im 
Herbste 1912 in Hamburg eingerichtete erste Sprachheilklasse würde 
beispielsweise, wenn sie gegen jeden Zugang gesperrt worden wäre, 
nach zwei Jahren nur noch aus 6 Schülern bestanden haben; sie 
zählte aber nach Ablauf dieser Frist infolge regelmäßiger Zuschulungen 
20 Schüler. Ein Schulorganismus, der etwa das Schülermaterial vom 
2. bis einschließlich 6. Schuljahre umfaßt, bietet in hinreichendem 
Maße den erforderlichen Spielraum, der sowohl für die Heilbehandlung, 
als auch sonst in schultechnischer Hinsicht notwendig erscheint. In 
Städten mittlerer Größe können die angeführten Schülerjahrgänge 
nach dem Muster wenig gegliederter Schulen zusammengezogen 
werden. In größeren Städten wird man dagegen im allgemeinen die 
dort geltende Gliederung der Volksschulen beibehalten können. Sehr 
wichtig ist es, daß die Eltern hin und wieder veranlaßt werden, dem 
Unterrichte in den Sprachheilklassen beizuwohnen, damit sie sich von 
der fließenden Sprechweise ihrer Kinder überzeugen. Ihre Mithilfe 
kann bei der Heilbehandlung nicht entbehrt werden. Deshalb müssen 
sie darüber belehrt werden, wie die Kinder im Hause zu behandeln sind. 

Die Zurückschulung von Schülern aus den Sprachheilklassen 
in die Normalschulen muß mit größter Vorsicht vorgenommen werden. 
Erst dann, wenu der Schüler in und außerhalb der Schule nicht nur 
vorübergehend, sondern seit längerer Zeit fließend gesprochen hat, 
darf er wieder der entsprechenden Klasse der Normalschule über- 
wiesen werden. Vor der Zurückschulung in die früheren Verhältnisse 
müssen die Lehrkräfte der Sonderklassen sich mit den betreffenden 
Lehrkräften der Normalschule in Verbindung setzen; der Schüler muß 
in Gegenwart beider zeigen, daß seine Sprache jetzt einwandfrei ist. 
Man weise dann dem Schüler in der Normalschule anfangs einen Platz 
auf der vordersten Bank an, damit, wenn er zum ersten Male seine 
Fertigkeit im Sprechen während der Unterrichtsstunden zeigen soll, 
sich nicht gleich sämtliche Blicke der Klasse auf ihn richten können. 
Die fremde Umgebung, das bange Gefühl, daß ihm seine Sprach- 
werkzeuge dennoch wieder den Dienst versagen könnten, können den 
Schüler leicht dermaßen psychisch erregen, daß das Stottern, ein rein 
psychisches, zentrales Leiden, plötzlich und unerwartet wieder mit 





Carrie: Sonderklassen für sprachkranke Schulkinder. 297 





elementarer Gewalt in die Erscheinung tritt. Mir ist folgender Fall 
bekannt: Ein Vater hatte seinen stark stotternden Sohn in einem gut 
geleiteten Sprachheilinstitute untergebracht. Nach längerer Zeit er- 
hält er von dem leitenden Spezialarzt die Nachricht, daß sein Sohn 
jetzt als geheilt gelten könne. Voller Freude macht der Vater sich 
auf den Weg, seinen Sohn abzuholen. Der letztere spricht nun auch 
in seiner und anderer Gegenwart vollständig fließend; das Stottern 
scheint restlos verschwunden zu sein. Vor der Heimreise soll der 
Sohn auf dem Bahnhofe die Fahrkarten lösen. Als er jedoch vor 
den Fahrkartenschalter tritt, kann er plötzlich keinen Ton heraus- 
bringen; ein Rückfall allerschlimmster Art hat sich eingestellt. 
Dieser Fall zeigt, daß man nicht vorsichtig genug verfahren kann, 
wenn ein »geheilter« Stotterer wieder in die früheren Verhält- 
nisse zurückverpflanzt werden soll. Für die Sonderklassen empfehle 
ich daher, die für die Zurückschulung in Aussicht genommenen 
Schüler erst nach vorheriger Rücksprache mit dem zukünftigen 
Klassenlehrer zunächst probeweise zurückzuschulen. Erst dann, 
wenn nach Ablauf einiger Zeit von der neuen Schule 
die Nachricht eintrifft, daß der Schüler sich auch 
dort am Unterrichte in fließender Sprache beteiligt, 
darf die Zurückschulung als endgültig betrachtet 
werden. Wenn dann nicht besondere Umstände eintreten, wird 
der Schüler keinen Rückfall mehr zu befürchten haben; er darf als 
dauernd geheilt angesehen werden. Die Anstaltsbehandlung hat ent- 
schieden ihre großen Vorzüge; auch Gutzmann hält sie für die 
»beste und aussichtsvollste«, jedoch betont er dabei mit vollem Recht, 
daß eine solche Anstalt »derart eingerichtet sein muß, daß ihre In- 
sassen in dem Verkehr mit der Außenwelt die nötige Anweisung 
erhalten«. Die sprechkranken Kinder dürfen in solchen Anstalten 
nicht vollständig betreffs ihres Verkehrs isoliert werden; es muß 
ihnen im Gegenteil nach Möglichkeit recht oft Gelegenheit geboten 
werden, ihre Sprechweise auch Fremden gegenüber zu erproben, 
sonst werden Rückfälle der eben beschriebenen Art keineswegs zu 
den Ausnahmen gehören. Die Behandlung von Schülern in be- 
sonderen Sprachheilklassen schließt diesen Mangel, der der Anstalts- 
behandlung stets mehr oder weniger anhaften muß, von vornherein 
aus, da diese Kinder außerhalb der Schulzeit stets in ständigem Ver- 
kehr mit ihren Angehörigen und der Außenwelt bleiben. Freilich 
wird man auch in den Sonderklassen in einigen, wenn auch wenigen 
Fällen damit rechnen müssen, daß der erhoffte Erfolg, die volle 
Heilung ausbleibt. Kinder,. die an chronischen Veränderungen im 
15* 


228 A. Abhandlungen. 





Gehirn und Rückenmark leiden, sind nach Ansicht von Gutzmann 
unheilbar, ebenso meistens die Epileptiker. Aber gerade für solche 
Kinder haben dann die Sonderklassen trotzdem einen ganz besonders 
hohen Wert, denn hier können sie wenigstens unterrichtlich 
ebensoweit gefördert werden wie die Schüler der Normalschulen, da 
es sich hier bei der geringen Schülerzahl ermöglichen läßt, auf ihr 
Gebrechen die weitgebendste Rücksicht zu nehmen. Ihre unter- 
richtliche Förderung erleidet durch ihr Gebrechen keinerlei Be- 
einträchtigung; in der Normalschule müssen sie meist lediglich ihres 
Sprachleidens wegen zurückbleiben; nach längerer oder kürzerer Zeit 
werden sie dann wegen ihres Zurückbleibens an die Hilfsschule ab- 
geschoben, obgleich sie hinsichtlich ihrer geistigen Begabung gar nicht 
dorthin gehören. Wenn auch in solch vereinzelten Fällen die Sprach- 
krankheit nicht restlos beseitigt werden kann, sn ist doch andererseits 
die soziale Minderwertigkeit der betreffenden Schüler nach Möglich- 
keit gemildert; sie sind für den späteren Existenzkampf im Berufs- 
leben wenigstens besser vorbereitet worden, als die Normalschule mit 
ihren stark besetzten Klassen es vermochte. Die Sonderklassen können 
an solchen Schülern dann eben nur einen Teil ihrer Aufgabe, lediglich 
die unterrichtliche Förderung, erfüllen. Andere heilpädagogische 
Anstalten kennen in der Hauptsache meist nur diese eine Aufgabe. 
Taubstummenanstalten sind keineswegs zu dem Zwecke eingerichtet 
worden, etwa die Taubheit zu beseitigen, ebensowenig wie den Hilfs- 
schulen zugemutet werden kann, den Schwachsinn aus der Welt zu 
schaffen. Auch die Schwerhörigenschulen haben nicht die Aufgabe, 
die Schwerhörigkeit zu beseitigen. Ganz besondere Schwierigkeiten 
bereiten der Heilbehandlung auch diejenigen Stotterer, denen jegliche 
Energie fehlt, sowie die Neurastheniker. Gutzmann sagt in bezug 
auf diese in seiner Sprachheilkunde:!) »Es gibt nun aber Stotterer, 
deren psychischer Zustand so hochgradig verändert ist, daß unsere 
Methode allein nichts Durchschlagendes ausrichtet. Entweder findet 
man unter diesen Patienten auffallend willensschwache, schlaffe 
Persönlichkeiten, die sich zu irgend einer energischen Handlung 
überhaupt nicht mehr aufzuraffen vermögen, oder es sind hochgradig 
nervöse Personen, bei denen die Neurasthenie in allen ihren Er- 
scheinungen zutage tritt. Bei ersteren gebe man getrost jede Be- 
handlung auf, sie führt zu keinem Erfolge. Bei letzteren sind die 
allgemeinen medizinischen Behandlungsweisen: Kaltwasserkur, elek- 
trische Behandlung usw. angezeigt.« Für die Behandlung in Heil- 


1) Prof. Dr. Hermann Gutzmann, Sprachheilkunde. Berlin 1912. 


Carrie: Sonderklassen für sprachkranke Schulkinder. 299 





kursen trifft das, was Gutzmann hier über die willensschwachen 
Patienten sagt, in vollem IJmfange zu. Kinder sind mit wenigen 
Ausnahmen alle noch willensschwach; in den Kursen werden daher 
keine oder doch nur Scheinerfolge mit ihnen zu erreichen sein. In 
den Sonderklassen aber, wo neben der Heilbehandlung auch die 
Charakterbildung als vornehmstes Erziehungsziel gilt, wo Unterricht 
und Erziehung vereint auf Stählung und Festigung des Willens hin- 
arbeiten, gestaltet sich die Prognose auch für diese Kinder, bei denen 
nach Gutzmann eine Heilung ausgeschlossen erscheint, nach meinen 
Erfahrungen recht günstig. Die erforderliche medizinische Behandlung 
der neurasthenischen Kinder, auf die allerdings nicht verzichtet werden 
kann, ist in den Sonderklassen Sache des Schularztes, wozu sich 
natürlich am besten ein Spezialarzt für Sprachgebrechen eignet. 

Es liegt auf der Hand, daß bei der Bekämpfung eines psychischen 
Leidens, wozu das Stottern nach Ansicht maßgebender Autoren un- 
bestreitbar gehört, so verschieden ihre Ansichten im übrigen auch 
sein mögen, die physiologische Übungstherapie allein nicht ausreicht, 
namentlich dann, wie es in den Heilkursen durchweg geschehen muß, 
wenn sie rein mechanisch in Anwendung gebracht wird. Die 
psychische Behandlung ist, wie ich schon an anderer Stelle hervor- 
gehoben habe, unbedingt erforderlich, wenn günstige Erfolge nicht 
ausbleiben sollen. Diese kann aber nur von einem Heillehrer hin- 
reichend in Anwendung gebracht werden, der sich die Liebe und das 
Vertrauen der Kinder in weitestem Maße anzueignen weiß. Wer das 
nicht kann, eignet sich nicht zum Heillehrer. Je größer das Ver- 
trauen ist, welches sprachkranke Kinder ihrem Lehrer entgegen- 
bringen, desto größer sind die Aussichten auf Heilung. Die Furcht 
vor dem Lehrer schließt immer von vornherein jeden Erfolg aus; die 
Atmungs-, Stimm- und Artikulationsübungen allein können das 
Übel nicht beseitigen. Liebe und Vertrauen der Schüler zu ihrem 
Lehrer sind Heilfaktoren allerersten Ranges. »Jeder Schul- 
despot, jeder Schultyrann schädigt — vom Standpunkte der Sprach- 
hygiene aus — oft in kurzer Zeit mehr, als zehn Sprachärzte, zehn 
Sprachhygieniker in zehn Jahren gut machen können.« (Rothe.) 
Jeder, der durch irgend eine Gemütsbewegung das seelische Gleich- 
gewicht verliert, wird leicht an sich selber feststellen können, in wie 
innigem Zusammenhange das Seelenleben mit der Sprache steht. 
Beim Stotterer zeigt sich dies in ganz besonders hohem Maße. Jede 
seelische Erregung wirkt bei ihm verschlimmernd auf das Sprachübel 
ein, und das letztere wiederum steigert die psychische Disharmonie. 
Der eine Faktor schädigt und steigert in reziproker Weise den andern. 


230 A. Abhandlungen. 





Daher ist auch die psychische Therapie bei der Behandlung Stotternder 
nicht zu entbehren; diese kann aber in Kursen mit ihren wenigen 
Übungsstunden nicht hinreichend in Anwendung gebracht werden 
und soweit es geschehen kann, wird sie durch die schädigenden Ein- 
flüsse von Elternhaus und Schule meist mehr als reichlich aufgehoben. 
Die psychische Behandlung muß aber mit im Vordergrunde der 
Therapie stehen, wobei freilich die rein physiologischen Übungen 
nicht entbehrt werden können, denn sie unterstützen und fördern die 
Hebung der Psyche, welche die Unterwerfung der mechanischen 
Artikulation unter die Herrschaft des Willens bezweckt. Psychische 
Behandlung und physiologische Übungsweise müssen sich daher gegen- 
seitig ergänzen und unterstützen. Dabei ist die unerschütterliche 
Ruhe des Heillehrers eine unerläßliche Grundbedingung. Dr. Lieb- 
mann, der neuerdings bei der Heilung des Stotterns nur die psychische 
Behandlung anwendet und damit auch gute Resultate erzielt haben 
will, sagt mit Recht:!) »Will der Arzt den Patienten zu größerer Ruhe 
verhelfen, so muß er zunächst selber während der ganzen Behandlung 
ein Muster von Ruhe sein. Jede Ungeduld, jedes harte oder ironische 
Wort, jede Anwandlung von Strenge muß der Arzt bei sich unter- 
drücken. Das ohnehin geringe Selbstgefühl des Patienten darf nicht 
verletzt, sondern muß durch achtungsvolle, kluge, milde Worte 
möglichst gehoben werden. 

Ganz besonders wichtig ist, daß sich der Arzt selbst nicht durch 
ab und zu eintretende Mißerfolge deprimieren läßt. Solche Vor- 
kommnisse müssen mit olympischem Gleichmut vom Arzt aufgenommen 
werden. Kein Wort des Vorwurfes für den Patienten. Die Wichtig- 
keit, die der Patient diesem Mißerfolg beilegt, die trübe Stimmung, 
die sich seiner zu bemächtigen droht, weichen einem klugen Zu- 
spruch, wenn man darauf hinweist, daß er eben in diesem Momente 
nicht ganz ruhig war und daß wir ja auch durch psychischen Einfluß 
häufig ins Stottern geraten.« 

Das, was in diesen treffenden Worten vom Arzt gefordert wird, 
gilt natürlich auch für den Sprachheillehrer. 

Die Kosten für diese Schuleinrichtung sind im Hinblick auf die 
Vorteile, die sie bietet, nur gering anzuschlagen, da die Klassen mit 
etwa 20 Schülern besetzt werden können. Da die Kinder in der 
Regel nicht die ganze Schulzeit, sondern nur ein oder einige Jahre 
diesen Sonderunterricht genießen, ist der erhöhte Kostenaufwand für 
sie nur ein vorübergehender. Die Hilfsschulen stellen sich etwa 


1) Dr. Liebmann, Die psychische Behandlung von Sprachstörungen. 


Carrie: Sonderklassen für sprachkranke Schulkinder. 231 


3mal so teuer. Dabei muß noch berücksichtigt werden, daß mit der 
Einrichtung solcher Sonderklassen die nicht unerheblichen Kosten für 
die Heilkurse in Wegfall kommen. Schüler mit leicht zu beseitigenden 
Sprachgebrechen, z. B. Stammler, können in den meisten Fällen schon 
nach einem halben Jahre als dauernd geheilt wieder den Normal- 
schulklassen zugeführt werden. Ganz anders liegt die Sache freilich 
bei Stotterern, einer Krankheit, die ganz außerordentlich häufig nach 
scheinbar erfolgter Heilung Rückfälle im Gefolge hat. Leichtefe Fälle 
werden sich vielleicht innerhalb Jahresfrist oder noch früher restlos 
beseitigen lassen. Es ist indessen sehr schwer, hierfür eine sichere 
Prognose aufzustellen, da die scheinbar leichten Fälle sich nicht immer 
auch leicht beseitigen lassen. Die schwierigen Fälle aber bedürfen 
einer jahrelangen Behandlung; in einzelnen ganz besonders ungünstig 
liegenden Fällen wird nur eine Besserung zu erzielen sein. Die Zeit- 
dauer der Behandlung wird daher nach Lage des Falles verschieden 
sein müssen; das Feuer glimmt auch nach erfolgter Heilung noch 
lange unheildrohend unter der Asche. Zurückschulungen nach den 
Normalschulen können jederzeit ohne Schwierigkeit erfolgen, da in den 
Sonderklassen genau nach dem allgemeinen Lehrplan der Volksschule 
gearbeitet wird. Die durch Zurückschulung frei werdenden Plätze 
können dann sofort wieder durch neue Schüler besetzt werden. 

Mit Recht hat der Staat für Taubstumme, Blinde, Schwerhörige 
und Schwachsinnige gesonderte Schuleinrichtungen getroffen, die sehr 
segensreich wirken, obgleich die heilpädagogische Behandlung bei 
diesen Individuen die vorhandenen Defekte nur mildern, aber nicht 
beseitigen kann. Bei Stotterern handelt es sich aber um vollsinnige, 
in geistiger Hinsicht durchaus normale Schüler, die durch Spezial- 
behandlung vollwertige Glieder der Gesellschaft werden können. Sie 
gehören mit zum Kapital der Nation, daher ist die Arbeit gerade auf 
diesem Gebiete nicht nur doppelt lohnend, sondern auch doppelte 
Pflicht. 

Viele Sprachdefekte lassen sich schon im Keime ersticken. Ver- 
hüten ist in solchen Fällen besser als heilen. Vorbedingung hierfür 
ist aber, daß die gesamte Lehrerschaft mehr als es bisher geschehen 
ist, wenigstens mit den Elementen der Sprachheilkunde schon auf 
den Seminaren theoretisch und praktisch vertraut gemacht wird. 
Manchem pädagogischen Fehlgriffe könnte dadurch vorgebeugt werden. 
Dringend zu empfehlen ist daher, daß den Zöglingen der Lehrer- 
seminare Gelegenheit geboten wird, dem Unterrichte Sprachkranker 
beizuwohnen. Was hier für die Sprachheilkunde gefordert wird, gilt 
für die gesamte Heilpädagogik überhaupt. In Hamburg gibt es bei- 


232 A. Abhandlungen. 





spielsweise eine Taubstummenanstalt, eine Schwerhörigenschule, ver- 
schiedene Hilfsschulen, eine Schule für Blinde, eine Schule für Sprach- 
kranke, sowie eine Zwangserziehungsanstalt; sämtliche Zweige der 
Heilpädagogik sind also nahezu vertreten. Die Zöglinge der Lehrer- 
bildungsanstalten können hier also ohne nennenswerte Schwierig- 
keiten wenigstens mit den Grundzügen der verschiedenen Zweige der 
Heilpädagogik auch in der Praxis vertraut gemacht werden. Ähnliche 
Gelegenheiten werden sich auch an andern Orten bieten. Die medi- 
zinische Wissenschaft muß dabei hilfreich zur Seite stehen; daran 
fehlt es heute auch nicht mehr. In den letzten Jahrzehnten ist hierin 
in erfreulicher Weise Wandel geschaffen worden. Zahlreiche höchst 
beachtenswerte Schriften sind von Medizinern erschienen, die sich 
mit den Fehlern der Kinder befassen. Das ist gewiß recht erfreulich, 
denn die Heilpädagogik, die sich die Beseitigung dieser Fehler als 
Ziel gesetzt hat, findet dabei in ihrem Bestreben ihren natürlichsten 
und besten Bundesgenossen: die Medizin. Gerade die Heilpädagogik 
wird im Bunde mit der Medizin nach diesem Kriege berufen sein, 
eine hochwichtige soziale Aufgabe zu lösen, eine Aufgabe, die sicher- 
lich des Schweißes der Edlen wert ist. Nicht nur für die armen 
Invaliden, denen der Krieg ein Körperglied geraubt hat, sondern auch 
für die erschrecklich hohe Zahl derjenigen, die durch Kopfschüsse 
seelische Störungen davongetragen haben und der sozialen Minder- 
wertigkeit anheimzufallen drohen, gilt es zu sorgen. Dadurch wird 
-sowohl dem Individuum, als auch der Gesellschaft ein höchst wert- 
voller Dienst erwiesen. Ich bin überzeugt, daß die deutschen Lehrer, 
deren Opfersinn sich in dieser schweren Zeit des Weltkrieges so 
überaus glänzend bewährt hat, insbesondere aber die Vertreter der 
Heilpädagogik, den gegenwärtigen und auch den noch größeren zu- 
künftigen Aufgaben gewachsen sein werden. Medizin, Heilpäda- 
gogik und gewerbliche Praxis gehören auf diesem Gebiete zusammen. 
Je inniger sie sich verbinden, desto segensreicher werden sie wirken 
können. Die Eigenbrödelei, die sich bis heute noch auf dem Gebiete 
der Heilpädagogik vielfach störend bemerkbar macht, kann einer ge- 
deihlichen Entwicklung der heilpädagogischen Bestrebungen unserer 
Zeit nur störend im Wege stehen. Einigkeit sei daher auch hier die 
Parole! 


Hanselmann: Die Arbeitslehrkolonie und Beobachtungsanstalt Steinmühle. 233 








3. Die Arbeitslehrkolonie und Beobachtungsanstalt 
Steinmühle (Obererlenbach, Kreis Friedberg i. H.). 


Erzieherische Aufgaben und grundsätzliche Bedeutung der Organisation. 


Vortrag 
(gehalten anläßlich des IX. Fortbildungskursus in der Kinderfürsorge, 3.—13. Juni 
1914, veranstaltet durch die Zentrale für private Fürsorge in Frankfurt a. M.) 
von 


Dr. H. Hanselmann- Heufemann. 
(Schluß.) 


So dürfte denn die innere Organisation unserer Anstalt, ihre drei- 
fache Gliederung einigermaßen deutlich geworden sein. Die dreifache 
Gliederung ergibt sich auf folgende Weise: 1. Arbeitslehranstalt mit 
ihren einzelnen Arbeitsbetrieben; in Hinsicht auf die schwache Be- 
gabung der Zöglinge und die hieran orientierten Erziehungsmittel 
wird dieselbe am besten mit dem technischen Namen Arbeitslehr- 
kolonie benannt; 2. Beobachtungsabteilung; 3. externe Arbeitslehr- 
kolonie. Wir geben zur besseren Übersicht ein Schema, eine Skizze 
unserer Anstalt. 

(Siehe Seite 234.) 


Und nun möchten wir von den Erziehungsmitteln einiges sagen. 
Unser hauptsächlichstes Erziehungsmittel ist die Arbeit. In einem 
so lebhaften und mannigfaltigen Haushalt gibt es vielerlei Arbeit und 
uns ist jede Art derselben willkommen. 

Wir pflegen die Landwirtschaft und Gärtnerei und das Handwerk. 
Unsere Betriebe sind klein und wir produzieren noch nicht soviel, 
wie wir konsumieren. Aber der Sinn der Arbeit ist klar und durch- 
sichtig. Wie bei aller Erziehung, so auch bei der Erziehung zur 
Arbeit ist unser leitendes Prinzip die größtmögliche Anschaulichkeit. 
Wir suchen adäquate Arbeit. 

Dem Umstand, daß ein hoher Prozentsatz unserer Jungen aus 
dem Milieu des ungelernten Arbeiters stammt, ist es zuzuschreiben, 
daß sie selbst auch wenig Sinn für rechte Arbeit mitbringen. Arbeit 
bedeutet für sie zum mindesten einen Zwang, oft steht ihr ganzes 
Streben darnach, ihm auf irgend welche Art zu entfliehen. Wenn 
diese unerquickliche Einstellung noch kompliziert wird durch einen 
starken Grad praktischen Schwachsinns, dann ist die Aufgabe der 
Arbeitserziehung eine besonders mühevolle. Oft wird man freilich 
den Arbeitswiderwillen geradezu als ein Symptom des praktischen 
Schwachsinns anzusprechen geneigt sein. 


234 A. Abhandlungen. 








Erklärung: 
A = interne Arbeitslehrkolonie; offene Hauptanstalt mit Handwerksstätten, Gärtnerei 
und Landwirtschaft, etwa 70 Zöglinge. 

E. A = externe Arbeitslehrkolonie, umfaßt die geeigneten Handwerksmeister oder 
sonstigen Arbeitsgeber der Nachbardörfer. In einem der Dörfer steht das 
Burschenhaus D; es ist der Sammelort der in E.A untergebrachten Zög- 
linge, wo sie an Sonntagen zu Spiel und geselliger Unterhaltung zwanglos 
zusammenkommen. Dieses Haus enthält auch neben einigen Gastzimmern 
für einzelne nur auf Tage Stellenlose die Wohnung des Berufsfürsorgers. 

B = Beobachtungsabteilung; nach außen abgeschlossene, in sich aber auch offene 
Nebenanstalt, die ferner Gelegenheit bietet zu weitgehendster Isolierung, 
ohne ein bloßes Zellensystem zu sein; für 15 Zöglinge. 


Zögling 1 
bleibt etwa 9 Monate in der internen Arbeitslehrkolonie; lernt in dieser Zeit die 
Anfangsgründe des von ihm gewählten Handwerks oder Arbeitszweiges und zeigt 
im großen und ganzen ein ordnungsmäßiges, soziales Verhalten während dieser Zeit. 
Die Unterbringung in der externen Arbeitlehrkolonie ist möglich. Vielleicht haben 
wir uns in der Wahl des Meisters getäuscht, vielleicht paßt der Zögling besser in 
ein kleineres Dorf; dann ist ein Stellenwechsel notwendig, nicht aber eine Rück- 
versetzung in die interne Anstalt. Der Zögling bleibt durch den Berufsfürsorger 
unter unserer Leitung mindestens bis zum 21. Jahre, wenn nicht wir ihn vorher 
schon zur Weiterbildung in eine neue, weitere Umgebung schicken. Daß er bis 
zum 21. Jahre in der Fürsorgeerziehung bleibt, ist nicht immer notwendig. 

Zögling 2 
macht zunächst denselben Weg wie 1. Einige Zeit nach der Unterbringung in der 
freien Lehre wird er in irgend einer Form rückfällig. Von der Art des Rückfalles 


Hanselmann: Die Arbeitslehrkolonie und Beobachtungsanstalt Steinmühle 235 





hängt es ab, ob wir ihn iu die Beobachtungsabteilung oder in die offene Anstalt 
aufnehmen müssen. Ist nur das letztere notwendig, so kann sehr wahrscheinlich 
eine erneute Unterbringung in der externen Arbeitslehrkolonie erfolgen, wo der 
Junge sich nun endgültig bewährt. 

Zögling 3 
kommt schon nach kurzer Zeit in der freien, offenen Anstalt nicht zurecht, sein 
unklares Wesen erfordert eine genaue Beobachtung unter besonders hergerichteten 
Umständen, wie sie die Beobachtungsabteilung bietet. Das Ergebnis der Beobach- 
tung läßt eine Rückversetzung in die interne, vielleicht einen direkten Versuch mit 
der Unterbringung in der externen Arbeitslehrkolonie zu. Aber der Zögling kommt 
nicht zurecht, wird nochmals in der Beobachtungsabteilung oder in der internen 
Arbeitslehrkolonie einem längeren Erziehungsversuch unterworfen. Wenn so das 
Beobachtungsergebnis allseitig wird, muß sich die Frage nach künftiger sozialer 
Brauchbarkeit mit ziemlicher Bestimmtheit beantworten lassen. Mit Sicherheit er- 
gibt sich, daß der Zögling der Erziehungsanstalt abgenommen werden muß. Hätten 
wir die Zwischenanstalt, würden wir ihn dort unterbringen, auch wenn er noch 
nicht 21 Jahre alt ist. 

Zögling 4 
macht uns nach der Vorgeschichte den Eindruck, daß er der Anstaltserziehung nicht 
bedarf, wenigstens vorläufig nicht; er bedarf nur eines besonders angeleiteten 
Meisters oder einer guten Pflegefamilie. Damit wollen wir andeuten, daß unsere 
externe Arbeitslehrkolonie mit ihrem Berufsfürsorger im Zusammenhang mit einer 
Kinderfürsorgestelle größerer Verbände auch im Sinne einer Lehr- und Arbeits- 
stellenvermittlung, verbunden mit systematischer Anleitung und Beaufsichtigung 
wirken kann. Neben erzieherischen Vorteilen für unsere früheren Anstaltszöglinge 
ergäbe sich eine wesentliche finanzielle Entlastung der Anstalt in der Unterhaltung 
der externen Arbeitslehrkolonie. — 

Wir fassen nochmals die Vorzüge, die dieses Organisationsschema veranschau- 
lichen will, zusammen: 1. leichte, schonende und in kürzester Zeit ausführbare 
Versetzungsmöglichkeit der Zöglinge nach alleiniger Maßgabe pädagogischer und 
psychiatrischer Einsicht; 2. unsere jeweiligen Maßnahmen sınd auch für den Zög- 
ling von größtmöglicher Anschaulicheit. 


Erschwerend kommen nun noch zwei Momente in Betracht. 
Erstens wirken uns die Eltern entgegen, sie wollen in den meisten 
Fällen nicht haben, daß ihr Junge eine Lehre beginnt. In der Stadt 
kann er gleich verdienen und ihnen so eine »Hilfe« sein. Zudem 
hat er, wie sie meinen, dort leichtere Arbeit, als wenn er von einem 
Landhandwerker oder gar von einem Bauern für wenig Geld »aus- 
genützt« wird. 

Solchen kurzsichtigen, lieblosen und habgierigen Überlegungen 
der Eltern ist aber merkwürdigerweise der Junge sehr zugänglich. 
Ihm sticht vor allem eine sofortige, wir sagen freilich eine viel zu 
frühe wirtschaftliche Selbständigkeit in die Augen, natürlich nicht 
minder auch das wenig kontrollierbare Leben in der großen Stadt. 

Aus diesen Gründen ist es denn in vielen Fällen unsere erste 
Aufgabe, den Einfluß der Eltern möglichst zu unterbinden, wenn 


236 A. Abhandlungen. 





anders eine Belehrung sich als nutzlos erweist. Haben wir in dieser 
Hinsicht keine Macht, dann ist die Aussicht auf einen Erfolg so gering, 
daß wir den Zögling am liebsten wieder abgeben. Wir haben es 
sehen müssen, daß die Eltern an einem einzigen Besuchstage mit ihren 
Lockreden monatelange schwere Arbeit vernichtet haben. Warum 
haben wir noch kein Gesetz, das ähnlich wie der Schulzwang, die 
säumigen Eltern zwingt, ihre Kinder eine Arbeit lernen zu lassen? 

Man hat nun gesagt, der Grund zum Widerwillen gegen eine 
planmäßige Arbeit liege für unsere Zöglinge zu einem großen Teil in 
dem Umstande, daß die Arbeit ihre Poesie verloren habe. Und die 
Schuld daran, daß ihr die Poesie so plötzlich abhanden gekommen sei, 
trage die Maschine. Nun birgt ja die durch maschinelle Einrichtung 
hervorgerufene weitgehende Arbeitszerlegung manche Gefahr für den 
Sinn der Arbeit in sich. Es ist aber geradezu lächerlich, zu denken, 
die Poesie liege in der Arbeit allein. Wir möchten sogar behaupten, 
daß sie zum kleinsten Teile dort liegt, sondern der, der eine Arbeit 
gern tut, der legt vielleicht die Poesie in sie. Es hat trotz Hans 
Sachs zu allen Zeiten unpoetische Schuster gegeben, gerade so gut als 
unter Fabrikarbeitern, die jahraus und jahrein an der Stanzmaschine 
stehen, wenn man so will, poesiebegabte Leute zu finden sind. Oder 
wer wagt anderseits die Behauptyng, daß es heute mehr Faulenzer 
gibt, als zu früheren Zeiten? 

Der jetzt überall vorherrschende Zug zu einer möglichst weit- 
gehenden Arbeitszerlegung birgt im Gegenteil gerade für uns, die wir 
doch Schwachbegabte wirtschaftlich machen wollen, hinsichtlich der 
Unterbringung manche Vorteile. Wer das Ganze nicht leisten kann, 
kann vielleicht einen Teil des Ganzen zustande bringen. Wer zum 
Beispiel den Betrieb einer großen Metallwarenfabrik kennen gelernt 
hat, wird gesehen haben, wieviel der dortigen Arbeit auch unsere 
Schwachbegabten leisten köunten. In dieser Richtung wartet noch 
manche recht bedeutsame Frage auf ihre Lösung. Wir möchten zu- 
sammenfassend noch einmal betonen, daß nicht die Fabrikarbeit den 
Menschen notwendig »schlecht« macht. Sollten die Fabrikarbeiter 
wirklich sozial und ethisch auf einer niedrigeren Stufe stehen, so 
suche man den Grund dafür wo anders, als in ihrer »eintönigen« 
Arbeit. Nicht die Arbeit macht eintönig, sondern viele Menschen 
sind eintönig; es gibt auch eintönige Literaturprofessoren. 

Wenn wir gerade daran sind, Vorurteile bei ihrem rechten Namen 
zu nennen, so können wir nicht umhin, auch noch ein Wort über die 
Unterbringung der Schwachbegabten in der Landwirtschaft zu sagen. 
Die Unterbringung in der Landwirtschaft wird gewöhnlich neben der 


Hanselmann: Die Arbeitslehrkolonie und Beobachtungsanstalt Steinmühle. 237 





in der Gärtnerei als ein wahres Paradies der Fabrikarbeit gegenüber 
gestellt. Unsere Erfahrungen lehren aber, daß für Schwachbegabte 
die Landwirtschaft kaum eine geeignete Beschäftigung ist, weil sie 
viel Auffassungsgabe und gute Aufmerksamkeit zur Voraussetzung hat. 
Tatsächlich können Schwachbegabte meist nur die gröbsten Arbeiten 
leisten, aber dazu fehlt ihnen oft wieder die Körperkraft. Es bleibt 
also für sie nur die gefährdende Saisonarbeit während der Saat- und 
Erntezeit. — 

Im großen und ganzen lassen sich nun zwei Phasen in der Ent- 
wicklung zur Arbeitstüchtigkeit fast bei jedem Zögling unterscheiden. 
Unsere erste Aufgabe ist es, ihn so weit zu bringen, daß er keine 
Arbeitsart scheut, daß er tut, was vor ihn kommt. Darum halten wir 
es denn meist so, daß wir den Zögling am Anfang seines Hierseins 
heute im Garten, morgen im Haus und in der Küche, dann in den 
Werkstätten, später wieder in der Landwirtschaft beschäftigen. Diese 
Reihenfolge kann natürlich beliebig gestellt und gewechselt werden. 
Man sage nicht, daß ein solcher Modus den Zögling zersplittern, ver- 
wirren oder gedankenlos machen werde. Wenn bei jeder Arbeits- 
gattung der Sinn der Arbeit genügend anschaulich gemacht wird, ist 
diese Gefahr fast vollständig beseitigt. Dagegen ist ein wesentlicher 
Vorteil dabei der Umstand, daß der Zögling ob dem Vielen kaum zur 
Besinnung kommt, er merkt gar nicht, daß er arbeitet, er hat immer 
` für das Neue Interesse. Anderseits glauben wir, daß so am besten 
eine Anregung zur Selbsttätigkeit geschaffen wird. Allmählich wird 
ihm das Hin und Her doch zuwider und er beginnt, auf Mittel und 
Wege sich zu besinnen, wie er abhelfen kann. Er findet, daß die 
oder jene Arbeit leichter oder schöner sei, als die andere. So kommt 
er denn — der eine früher, der andere später — mit der ausdrück- 
lichen Bitte zu uns, an einem bestimmten Platze nun bleiben zu 
dürfen. 

Es ist ohne weiteres einleuchtend, daß die Durchführung dieses 
Verfahrens fast ausschließlich abhängig ist vom Personal, davon, ob 
es die Meister verstehen, gerade die von ihnen vertretene Arbeitsart 
genügend anschaulich und schmackhaft zu machen. Daß aber dieser 
Weg ein gangbarer ist, hat die Erfahrung genügend bestätigt; wir 
haben auf diese Weise schon manchen Zögling für die Arbeit ge- 
wonnen, der uns als rettungslos, arbeitsscheu und faul übergeben wurde. 

Mit der Entscheidung für eine ganz bestimmte Arbeitsgattung 
tritt der Zögling in die zweite Phase der Entwicklung zur Arbeits- 
tüchtigkeit ein und wir meinen, daß dann immer schon ein schöner 
Erfolg bereits erzielt it. Wir gewähren ihm nun zu dieser Ent- 


238 A. Abhandlungen. 





scheidung so viel Freiheit, als er haben will. Wählt er nach unserer 
Meinung eine für ihn ungeeignete Arbeitsart, so ist es unser ganzes 
Bestreben, ihn seine Unzulänglichkeit für den gewählten Beruf mög- 
lichst deutlich selbst empfinden zu lassen. Das erfordert freilich wieder 
einsichtige Meister und Erzieher. Ich nenne am besten zwei Beispiele. 

Viele unserer Zöglinge haben recht romantische Pläne auch be- 
züglich ihres zukünftigen Berufes. Recht viele wollen Mechaniker 
oder Schlosser werden, ohne daß sie wüßten, was für Arbeiten in 
diesem Fache verlangt werden. Die Begründung ihrer Wahl ist be- 
zeichnend genug: »ich habe als früher schon gern an so Dampf- 
maschinen und Motoren herumgemacht«. Einer wollte »Motorarbeiter« 
werden, weil man dann auch ab und zu einmal fahren könne. 

Ich meine nun, daß es nicht richtig wäre, einen Jungen ob seiner 
Pläne auszulachen oder gar zu schelten. Er nimmt es uns am meisten 
übel, wenn wir nicht an ihn glauben wollen. Wir nehmen ihn also 
immer ernst und gehen auf seinen Plan ein. Wir haben stets ein 
altes Uhrwerk oder sonst eine Maschine zur Hand, an dem wir ihn 
nach Herzenslust hantieren lassen können. Er soll auseinandernehmen, 
abbauen und wieder zusammensetzen. Dann gibt man ihm den Auf- 
trag, jeden Maschinenteil abzuzeichnen und so weiter. Recht oft 
hat er schon nach einem einzigen Tage alle Lust und auch die Ge- 
duld zu weiteren Versuchen verloren. Indessen muß er noch dabei 
bleiben wider seinen Willen und zwar solange, bis er um andere 
Arbeit ernstlich bittet. 

Hie und da aber hält der Eifer länger an, wir freuen uns darüber 
und nehmen ihn weiter durchaus ernst, vielleicht länger, als er sich 
selbst. Hat er die Zeichnung der Einzelteile einigermaßen zustande 
gebracht, dann folgt die Nachkonstruktion. Wir geben ihm den Auf- 
trag, aus dünnem Eisenblech alles das nachzumachen, was sich mit 
unserer bescheidenen Einrichtung wirklich machen läßt; manchmal 
muß er sich gar erst die Werkzeuge dazu herstellen. Er verfertigt 
die wunderlichsten Dinge, deren Ähnlichkeit mit dem Original nur er 
zu erkennen vermag. Hier setzt gewöhnlich die Krisis ein. Wie er 
auch feilt und wie er klopft, es paßt nicht. Darüber wird er stutzig, 
er meint, daß dies nicht mehr zu seinem Beruf gehöre, was wir von 
ihm verlangen; dann gilt es, einen Mann im Nachbardorf ausfindig 
zu machen, der uusere gegenteilige Behauptung vor ihm bestätigt. 
Jetzt aber wird er der Sache so überdrüssig, daß er unter keinen 
Umständen mehr dabei bleiben will. — Würde er aber den Eifer 
nicht verloren haben bis jetzt, dann würden wir ihn sicher Mechaniker 
werden lassen und er wird ein tüchtiger Mechaniker werden. — 


Hanselmann: Die Arbeitslehrkolonie und Beobachtungsanstalt Steinmühle.. 239 








Zu solcher Zeit ist dann ohne viel Hinzutun unsererseits der 
Zögling am zugänglichsten, und er wird dankbar für unsere Belehrung 
und Beratung bezüglich eines Berufes, der seiner Anlage und seinen 
Fähigkeiten entspricht. 

Wir haben jetzt wieder einen Zögling da, der möchte Flieger 
werden. Neulich schrieb er ganz zufrieden an seine Pflegemutter: 
»Hier bin ich wegen meinem Plane nicht ausgelacht worden; jetzt 
heißt es bloß zeigen, ob ich es auch werden kann.« 

Ein anderer Junge kam eines Abends — er hatte wieder »keinen 
guten Tag« gehabt — zu mir und sagte folgendes: »ich führe mich 
nur deshalb schlecht, weil mich bis jetzt noch niemand ernst ge- 
nommen hat. Ich bleibe halt eben solange in einer Anstalt, bis ich 
21 alt bin und dann lerne ich das, was ich schon immer werden 
wollte.c Obersekretär wollte er werden. Ich übersetze ihm das Wort 
ins Deutsche, was seine Begeisterung schon wesentlich minderte. So- 
fort nimmt er neben mir auf dem Büro Platz. Widerwillig schreibt 
er erst seinen Lebenslauf, weil er meint, daß dies nicht zur Sache 
gehöre. Dann aber wächst seine Lust wieder merklich, als ich ihm 
wirkliche Rechnungen vorlege, die er nachrechnen und prüfen soll. 
Auch Adressen schreibt er erst ganz gern, weil sie wirklich fort- 
gesandt werden. Zwischendurch erkläre ich ihm die Anfangsgründe 
der Stenographie und des Maschinenschreibens. Aber schon nach 
14 Tagen hatte er das »ewige Einerleic so gründlich satt, daß er 
meinen Rat, Gärtner zu werden, gerne folgte; er ist bis jetzt mit 
schönem Erfolg dabei geblieben. 

Wir wiederholen, daß es gewiß unsere erste und beste Pflicht 
sein muß, unsere Zöglinge bei der Wahl ihres Berufes zu beraten. Wir 
dürfen aber den Plan nicht ohne sie machen, müssen im Gegenteil 
immer versuchen, ihre eigenen Wünsche zum Ausgangspunkte für die 
Beratung zu nehmen. — 

Während der ganzen, oft langwährenden Entwicklung zur Arbeits- 
tüchtigkeit finden wir als Haupthindernis die eingangs bei der Charakteri- 
sierung unserer Zöglinge erwähnte Willensschwäche Wir haben 
wenige Zöglinge, die die Arbeit überhaupt verweigern, aber sie wollen, 
wie sie selbst sagen: »lieber so arbeiten,« das heißt, sie wollen nicht 
bei einer bestimmten Arbeitsart bleiben oder gar ein Handwerk lernen. 
Wir sprachen schon davon, daß wir versuchen, sie dadurch zu ge- 
winnen, daß wir am Anfang diesem Zug nach häufiger Abwechslung 
möglichst entgegenkommen. So ist es erklärlich, daß die Willens- 
schwäche noch mehr in der zweiten Phase der Entwicklung in Er- 
scheinung tritt. 


240 A. Abhandlungen. 





Nun gibt es aber schlechthin kein besseres Mittel, als eben Arbeit, 
um willkürliche Aufmerksamkeit zu entwickeln. Wenn uns die Ge- 
wöhnung an die Arbeit nicht gelingt, dann ist der erzieherische Er- 
folg überhaupt in Frage gestellt. 

Nach vielem Hin- und Herprobieren haben wir jetzt die tägliche 
Arbeitszeit auf neun Stunden festgesetzt und dazwischen entsprechende 
Pausen geschaltet. Wo es der Arzt vorschreiben muß, wird die 
Arbeitszeit verkürzt. — — 

Als ein weiteres Erziehungsmittel betrachten wir den von uns 
so genannten Gelegenheitsunterricht. Die Jungen haben diese Stunden 
schon recht bezeichnend »Fragestunden« genannt. Dieser Gelegen- 
heitsunterricht hat mit der pflichtmäßigen Fortbildungsschule wenig 
zu tun, er ist auch ganz und gar nicht an ein Schulzimmer gebunden. 
Er führt uns bald ins Feld, in den Wald, ins Nachbardorf, bald dahin 
und bald dorthin. Ich habe diese Stunden eingerichtet aus dem Be- 
dürfnis heraus, in kurzen Zeitabständen alle Zöglinge gleichzeitig um 
mich zu versammeln. Denn obwohl ich ausdrücklich den Besuch frei- 
stelle, hat bisher noch kaum einer gefehlt. Das Leben einer solchen 
Stunde ist nicht leicht zu beschreiben oder gar etwa vorzuführen, 
denn sein wesentliches Merkmal ist die Intimität. Da sind nur wir, 
die Zöglinge und ich. Den Stoff finden wir reichlich in unserer 
kleinen Welt des Anstaltslebens und im Vergleich unserer kleinen 
Welt mit der großen draußen. Alles was mir oder ihnen bedeutsam 
daran erscheint, wird irgendwie und irgendwann erwogen und be- 
sprochen. 

Wenn einmal das Vertrauen wach ist, erwacht auch das Inter- 
esse. Das Vertrauen aber kommt nur dann auf, wenn man keine 
Frage direkt abweist, wenn man ernst nimmt, was ernst gemeint war, 
und wenn man ein strenges Gefühl für Recht und Gerechtigkeit den 
Jungen anschaulich und glaubhaft zu machen versteht. Jeder Er- 
zieher muß wissen, wie häufig die Gefahr, Taktlosigkeiten in dieser 
Richtung zu begehen, nahe liegt; schlichte Offenheit und Rechtssinn in 
allem Verkehr mit unseren Jungen sind unerläßlich. 

Als das vornehmste Ziel dieser Fragestunden betrachte ich die 
Möglichkeit einer Beeinflussung des praktischen Schwachsinns. Die 
in den Arbeits- oder Lehrstellen draußen in der Umgebung unter- 
gebrachten Kameraden, ihre verschiedene Tüchtigkeit zum Leben und 
zur Arbeit geben uns zu allerlei Unterhaltung gerade in dieser Rich- 
tung reichlich Anlaß. Mit leider aller nur wünschenswerter Deutlich- 
keit läßt sich oft an ihrem Beispiel den internen Zöglingen zeigen, 
wie hart und konsequent das Leben sein kann. Ganz besonders aber 


Hanselmann: Die Arbeitslehrkolonie und Beobachtungsanstalt Steinmühle. 241 





ist es uns immer ein Anlaß zur Belehrung, wenn Erwachsene Fehler 
machen. Während bezüglich des Verhaltens der Zöglinge Anfragen 
der versorgenden Ämter, Aufforderungen zu Berichten usw. vorgelesen 
werden können, gibt uns hinsichtlich des Betragens der Erwachsenen 
die Zeitung Anhaltspunkte. Überall aber handelt es sich darum, aus 
einzelnen Beispielen und Vorkommnissen die allgemeingültige Wahr- 
heit möglichst anschaulich und eindringlich abzuleiten, daß es objektive 
Lebensmächte und Notwendigkeiten gibt, denen niemand entrinnt. 

Wir wollen uns nicht selbst täuschen, indem wir uns aus der 
jeweilig entschieden geläuterten Stimmung nach solchen Unterhaltungen 
langdauernde Wirkungen versprechen. Wir wollen aber auch zum 
Trost bei Nichterfolgen nicht vergessen, daß es im Grunde eine recht 
respektable Leistung des Verstandes ist, solche allgemeine Wahrheiten 
zu abstrahieren, sie auch nur mehr intuitiv zu erfassen und sie zu 
respektieren. Diese Leistung bringen recht viele nicht oder doch nur 
höchst unvollkommen zustande, und doch kommen sie im Leben so 
einigermaßen davon. Derartigen wenig sentimentalen Trost haben wir 
in unserer schweren Arbeit notwendig. — 

Wir wollen bei keiner Gelegenheit versäumen, das zu tun, was 
wir tun können und wir können im Grunde gar nichts anderes tun, 
als reden, aufmuntern, mahnen, warnen und drohen. Manchmal 
möchte uns diese Tatsache recht traurig stimmen, aber ab und zu 
haben wir Gelegenheit zu sehen, daß wir auch mit diesen bescheidenen, 
allein möglichen Mitteln doch Positives wirken. 

Ein Junge hatte beim Zahnarzt vorgegeben, er sei der Sohn 
reicher Eltern und ja nicht etwa ein Fürsorgezögling. Er erreichte, 
weil ihm der Zahnarzt Glauben schenkte, daß dieser ihn auch wie 
einen reichen Kunden insofern behandelte, als der Zahnarzt eine 
ziemlich hohe Rechnung an den Vater schickte. Darauf kam schon 
am andern Abend der Vater her, und ich hörte ihn schon vor der 
Anstalt in wenig gewählten Worten lebhaft auf mich und die Anstalt 
schimpfen. Als ich die Ursache seines Ärgers erfuhr, verband ich 
ihn telephonisch mit unserem Zahnarzt und konnte ihn so auf der 
Stelle davon überzeugen, daß sein Sohn allein die Schuld trug. Der 
Vater wollte gehen, nachdem er seinen Sohn derb verprügelt hatte. 
Ich bat ihn aber, hier zu bleiben, ließ die Jungen zusammenrufen 
und in seiner Anwesenheit besprach ich den Vorfall eingehend, wobei 
mich der Vater mit dramatischen Gebärden wirksam unterstützte. — 
Seither habe ich nicht mehr gehört, was früher öfters vorkam, daß 
ein Junge falsche Angaben beim Zahnarzt gemacht hätte, um dadurch 
irgend welche Vorteile herauszuschlagen. 

Zeitschrift für Kinderforschung. 21. Jahrgang. 5 16 


242 A. Abhandlungen. 





Der Junge selbst freilich hat auch von dieser so lebhaften und 
durch mancherlei Eindrücke ausgezeichneten Stunde nichts profitiert. 
Er hat später in seiner Arbeitsstelle den Meistersleuten vorgegeben, 
er sei »ansteckend geschlechtskrank«, tatsächlich litt er, wie er durch 
den Arzt wohl wußte, an einem harmlosen Durchfall. Er hat aber 
durch seine praktisch so schwachsinnige Äußerung die Stelle verloren 
und auch unser Unterbringungsgeschäft vorübergehend geschädigt. 

Neben dem Gelegenheitsunterricht, der eine freie Aussprache 
zwischen mir und den Zöglingen zustande bringt, habe ich noch die 
Möglichkeit zu einer Aussprache unter vier Augen geschaffen. Diese 
Möglichkeit bietet uns die tägliche Verbandstunde, sie wird von den 
Zöglingen auch als solche aufgefaßt. Meist kommen sie mit irgend 
einer Klage über ihre Gesundheit zu mir, sie klagen über Appetit- 
losigkeit, über schlechten Schlaf oder sie lassen sich eine, wenn auch 
noch so kleine Wunde verbinden. Darnach aber heißt es dann meist: 
ich wollte Ihnen auch noch sagen usw. Fängt der Junge nicht selbst 
an, so fordere ich ihn zum Reden auf, wenn ich den Eindruck ge- 
winne, daß er mir etwas sagen möchte. Ich möchte nachdrücklich 
betonen, daß es von großer Wichtigkeit erscheint, daß gerade der 
Leiter der Anstalt diese kleinen Samariterdienste dem Jungen leistet. 
Wie manches erfährt er da, was ihm sonst verborgen bleiben müßte, 
ein kleines Weh löst manchem die Zunge. Und wie oft übt ander- 
seits diese kleine Sorge um das körperliche Wohl eine große Wirkung 
aus, wie denn überhaupt die Pflege der psychischen Anlage viel 
inniger mit der Pflege des Körpers verbunden werden kann, als man 
gewöhnlich anzunehmen geneigt ist. — 

Schon vorhin deutete ich an, daß wir im Grunde nichts anderes 
tun können als reden, mahnen und drohen. Wirken wir dadurch auf 
die Dauer nicht, so sind wir eigentlich schon fast am Ende unserer 
Kunst. Denn wenn eine Drohung mit Versetzung in eine andere Ab- 
teilung oder gar mit Entlassung ausgeführt werden muß, geben wir 
ja selbst zu, daß sie nicht gewirkt hat. Wir kommen damit auf ein 
Erziehungsmittel zu sprechen, das wohl am meisten umstritten und 
hinsichtlich seiner Art und Anwendung am wenigstens geklärt ist. 
Wir meinen die Strafe Daß wir ohne Strafe in der Erziehung nicht 
auskommen, behaupten die meisten Pädagogen, die wirklich und ernst- 
lich praktisch arbeiten. Viele tun diese Behauptung nicht ohne 
Seufzen, weil sie ihrem Ideal, Erziehung ohne Strafe, nur angesichts 
bitterer Enttäuschungen entsagen konnten. 

Sollen und dürfen wir strafen? Das ist bei der Behandlung 
Schwererziehbarer erst recht die Frage. Darf ich nicht strafen, dann 


Hanselmann: Die Arbeitslehrkolonie und Beobachtungsanstalt Steinmühle. 243 
bin ich in allen den Fällen, in denen das stete Wort und das Bei- 
spiel ohne Wirkung geblieben sind, zu absoluter Passivität gezwungen 
und dann kann ich nur noch verpflegen wollen. Dann aber muß ich 
den Zögling aus der Erziehungsanstalt entfernen. Wir kommen somit 
auch wieder auf jene bedeutsame Frage zurück, die wir schon einmal 
stellen und beantworten mußten, als wir von den verschieden aufzu- 
fassenden Zwecken der Beobachtung überhaupt sprachen. 

Wir wollen aber vorher von einzelnen Strafarten und ihrer Mög- 
lichkeit bei uns ein kurzes Wort im Hinblick auf unsere Erfahrungen 
mit schwererziehbaren Jugendlichen sagen. Wir wollen offen sein 
und vornweg zweierlei Erklärungen abgeben. Erstens versagen bei 
uns die sonst in der Erziehung etwa üblichen Strafarten, soweit wir 
sie erproben konnten, zweitens haben wir bis jetzt neue Strafarten 
nicht gefunden. 

Die Körperstrafe ist bei uns verpönt sowohl aus medizinischen 
wie aus psychologischen und nicht zuletzt auch aus ästhetischen 
Gründen. Es ist aber gerade in diesem Zusammenhang zu betonen 
notwendig, daß zwei Arten Körperstrafe schärfer auseinander gehalten 
werden, als dies häufig geschieht. Es gibt eine Art, die anwidert, be- 
sonders auch weil sie geschmacklos ist; ich meine die Stockstrafe 
nach einem Prügelprogramm. Die andere Art hat man etwa das 
»Affektprügeln« genannt. So sehr ich einzusehen vermag, daß das- 
selbe eine größere Gefahr gerade für die körperliche Beschädigung 
des Zöglings in sich birgt, als die kühl abgemessene und noch kühler 
applizierte Stockstrafe, so berührt sie mich doch viel weniger un- 
sympathisch. Denn sie widerspricht schließlich naturwissenschaftlichem 
Denken weniger und weckt Mitleid mehr mit dem Erzieher. Sie ist 
ja auch keine eigentliche »Strafe« mehr, sondern eher ein unverant- 
wortlicher Ausdruck dafür, daß »man gar nicht mehr anders kann«, 
sie ist zum Teil Notwehr, zum Teil Verzweiflungstat. 

Ich habe darum vorsichtigerweise nur gesagt, daß eine programm- 
mäßige körperliche Züchtigung bei uns verpönt sei, nicht aber be- 
hauptet, daß sie gar nie vorkäme. Wer selbst die ganze Not, die 
einem eine Gruppe von Schwererziehbaren gelegentlich bereiten kann, 
erlebt hat, wird uns am besten verstehen können. Man vergesse auch 
nicht, daß der Erziehungsgehilfe den Zöglingen gegenüber einen viel 
schwereren Standpunkt hat, als etwa der Anstaltsleiter. Merkwürdiger- 
weise weiß nämlich fast jeder Zögling trotz seines Schwachsinns ziem- 
lich genau, daß es nicht dasselbe ist, wem gegenüber er ungezogen ist. 

Ich habe gesagt, daß ich auch die Körperstrafe ganz energisch 


verwerfe, die im Affekt geschieht. Ich glaube aber nicht, daß es 
16* 





244 A. Abhandlungen. 





eine Erziehungsanstalt für Schwererziehbare gibt, in der sie schlecht- 
weg nicht vorkommt. Ich vergesse nie die Ratlosigkeit eines begabten 
jungen Erziehers, der sich in recht schwierigen Lagen sehr gut zu- 
rechtfindet, als er mir eine solche Verzweiflungstat beichtete. Ein 
fast neunzehnjähriger Zögling hatte ihn vor versammelter Mannschaft 
aufs gröblichste beschimpft und, als er sah, daß er damit nichts aus- 
richtete, drohte er mit Tätlichkeiten und nahm einen Stein vom Boden 
auf. Der Erzieher mahnte und mahnte und wurde von ihm verhöhnt. 
Als der Junge äußerte, er schlüge jeden nieder, der ihm zu nahe 
käme, versetzte ihm der Erzieher in heller Verzweiflung einen Backen- 
streich. — Übrigens hat der Junge gerade diesem Erzieher bis heute 
große Anhänglichkeit bewahrt. 

»Was soll ich in Zukunft in solchen Fällen tun?« fragte der Er- 
zieher. Ich versuchte ihm klar zu machen, daß derartige Drohungen 
der Zöglinge wohl nie ausgeführt würden, wenn sie unbeachtet bleiben; 
ich weiß aber auch heute noch, daß meine Belehrung ungenügend 
war; ich hätte sagen müssen: werden Sie ein noch besserer Mensch. 

Die beste Maßnahme ist wohl in solchen Fällen die, den Jungen 
möglichst rasch von der Gruppe zu isolieren, damit er nicht Anlaß 
hat zur Demonstration. Sehr häufig entspricht er gewissen Anord- 
nungen und Aufträgen nur, weil er früher zu Kameraden gesagt hat: 
ich würde dies und das einfach nicht tun. Nun will er zeigen, daß 
er Wort hält, ein Bestreben, das wir ja an sich gewiß anerkennen 
können. Ist er mit dem Erzieher allein, dann ist er meist auch ganz 
gefügig. Die Schwierigkeit liegt nur darin, daß man früh genug 
schonend und geschickt die Aussonderung von der Gruppe bewerk- 
stelligt. — 

Ebensowenig wie in der Körperstrafe finden wir für unsere Ver- 
hältnisse ein Erziehungsmittel in einer planmäßigen oder auch nur 
gelegentlichen Kostentziehung oder Kostschmälerung. Diese Maß- 
nahmen wirken auf unsere Jungen viel eher verbitternd, selten im 
eigentlichen Sinne erzieherisch. Anderseits kann aus medizinischen 
Gründen nicht verantwortet werden, daß ein Junge, der so und soviele 
Stunden gearbeitet hat, sein Essen nicht oder nicht voll bekommt. 
Die Kostentziehung ist aber ganz besonders ein geradezu gefährliches 
Mittel, wenn es in die Hand des untergeordneten Erziehers gelegt 
wird. — 

Auch die Strafarbeit als Erziehungsmittel müssen wir in der 
überwiegenden Mehrzahl der Fälle deswegen verwerfen, weil der 
Schwachsinnige meist die betreffende Arbeit als eine Strafe ansieht, 
die Arbeit mit der Strafe identifiziert. Er vermag meist nie die 


Hanselmann: Die Arbeitslehrkolonie und Beobachtungsanstalt Steinmühle. 245 





Nebenumstände, unter denen er die Arbeit tun soll, genügend aufzu- 
fassen und einzuschätzen und darin die Strafe zu erkennen. — 

Unter den sonst noch üblichen Strafarten machten wir ausführ- 
liche Versuche namentlich mit den Ehrenstrafen. Bei einem große 
Teil der Zöglinge hatten wir aber auch mit diesen wenig tatsächlichen 
Erfolg gehabt, bei manchen bewirkten wir das Gegenteil von dem, 
was wir beabsichtigten. Den Grund dafür können wir nur in dem 
Umstand sehen, daß die Voraussetzungen zur Entwicklung eines 
brauchbaren Ehrbegriff fast ganz fehlen, was nach allem, was über 
die mangelhafte Anlage zu einem tieferen Gefühlsleben bei unseren 
Zöglingen nicht weiter verwunderlich erscheint. 

In unseren gemeinsamen Stunden hatten wir eine Art Jugend- 
gerichtshof eingeführt; aber mancherlei trübe Erfahrungen stimmen 
uns nun durchaus gegen derartige Versuche in unserer Anstalt. Das 
Haupthindernis zu einer gedeihlichen Durchführung einer solchen 
Einrichtung liegt wohl neben der Gefühlsarmut auch noch in der 
schwachen Begabung unserer Zöglinge. Aber nicht allein darin. Es 
entwickelte sich nach relativ kurzer Zeit ein Anklageunwesen und 
eine wahre Sucht zu unkameradschaftlicher Klatscherei, die dem 
einzelnen Zögling und dem Anstaltsleben keinen Nutzen bringen 
konnte. Daneben ist mir besonders auch aufgefallen eine ebenso un- 
erbittliche, wie unverständliche Strenge, welche sich zuweilen bis zu 
einer wahren Blutrünstigkeit steigerte. Für geringfügige Vergehen 
wurden geradezu lebensgefährliche Strafen vorgeschlagen und ich 
glaube richtig angenommen zu haben, daß mehrmals eine nicht ein- 
wandfreie Phantasie bei der Bestimmung des Strafmaßes mit im Spiele 
war. Übrigens haben viele nach ihren eigenen Äußerungen »den 
Spaß an der Sache verloren, da man doch nicht tut, was man gerne 
haben möchte«. 

Ohne dem Jugendgerichtshof prinzipiell jede Bedeutung absprechen 
zu wollen, muß ich mit aller Bestimmtheit betonen, daß unsere Zög- 
linge nicht reif genug dafür sind und es wohl nach unseren Er- 
fahrungen in der doch relativ kurzen Zeit ihres Anstaltsaufenthaltes 
auch nicht werden. 

Wir fragen also wieder: was sollen wir tun, wenn reden, auf- 
muntern, warnen, mahnen und zuletzt drohen erfolglos bleiben? Zu 
dieser Frage muß Stellung genommen werden, wenn wir unsere Zög- 
linge nicht einfach naturwissenschaftlich beobachten und untersuchen, 
sondern nach Maßgabe ethischer Wertung des Lebens zu sozialer 
Brauchbarkeit erziehen wollen. 

Wir kämpfen als Erzieher um die Anerkennung dieser oder einer 


246 A. Abhandlungen. 





sachlich ähnlichen Fragestellung und wir sind eifrig daran, Erziehungs- 
mittel zu suchen, die unseren Zöglingen angemessen, adäquat sind. 

Nun möchte ich wieder etwas außerordentlich Wichtiges mit ein- 
fachen Worten sagen: unser bestes Erziehungsmittel ist der Anstalts- 
geist, der Geist des Hauses. Wir verstehen darunter alle jene fast 
unkontrollierbar wirkenden Faktoren, die eine Stimmung in einer 
engeren Gesellschaft von Menschen zustande bringen. 

Die Grundstimmung unseres Anstaltslebens ist ein entschiedener 
Optimismus; wir wollen eine fröhliche Erziehung! Wir suchen fleißig 
nach Gelegenheiten zu Lob und Aufmunterung, wir tadeln nicht gerne. 
Unsere Hausordnung ist so durchsichtig und einfach, daß sie nicht 
einmal aufgeschrieben zu werden braucht. Wir verbieten so wenig 
als immer möglich und nur das, was einer vernünftigen Lebensweise 
widerspricht. Da wir doch für das Leben erziehen, so kommt es uns 
vor, es sei am notwendigsten die Gewöhnung an die Freiheit. Unser 
Grundsatz, daß alle Erziehung anschaulich sei, fordert von uns im 
Hinblick auf das Anstaltsleben, auf das Zusammenleben mit den Zög- 
lingen strenge Offenheit, Takt und ein ausgebildetes Gerechtigkeits- 
gefühl, verbunden mit der ständigen Kontrolle unseres Anstaltslebens 
an dem Leben der großen Welt. Wir sollen die Uhr der Anstalt 
nach der Uhr, die draußen in der Welt die Ordnung macht und hält, 
richten. Denn auch die Uhr des Anstaltsleiters hat diese Korrektur 
notwendig, auch sie könnte in den trüben Erfahrungen einen falschen 
Gang bekommen. — Solange freilich Erzieher nur Aufseher sind, wird 
die Erziehung nie anschaulich werden. Und der Leiter der Anstalt 
trage weislich dafür Sorge, daß er nie zu einer Eeierlichkeit bei seinen 
Jungen wird; denn alle Feierlichkeit kann sobald zu einer Lächerlich- 
keit werden. So möchte unser Anstaltsleben in allen Abteilungen 
familiär sein und zwar erstreben wir die Familiarität nicht etwa nur 
dadurch, daß wir mit den Jungen zusammen essen. Wir sind den 
ganzen Tag arbeitend, vorarbeitend unter ihnen und gewinnen dadurch 
ihr Vertrauen, daß wir ihre kleinsten Freuden und Nöte kennen und 
uns dazu bekennen lernen. Dieses Bestreben bringt wohl von ge- 
wissen Seiten den Vorwurf einer demokratischen oder gar republika- 
nischen Gesinnung ein. Eine Gefahr für die Autorität des Erziehers 
birgt aber das erwähnte Bestreben nur für einen Erzieher, der auch 
mit dem dicksten Stock sich nie Autorität zu schaffen vermag. 

Zum Schluß nun möchte ich noch eine allgemeine Frage kurz 
erörtern, die nicht streng in den Rahmen meiner Aufgabe fällt, die 
sich uns aber aus den bisherigen Erfahrungen immer wieder aufdrängt. 
Diese Frage betrifft die Dauer der Unterbringung zur Fürsorgeerziehung. 


Hanselmann: Die Arbeitslehrkolonie und Beobachtungsanstalt Steinmühle. 247 





Wir sind nicht allein der Meinung, daß das 21. Altersjahr eine recht 
willkürliche Grenze nach oben bedeutet. In erfreulicher Weise recht 
vielen Fällen ist eine vorläufige Aufhebung des Beschlusses vor diesem 
Zeitpunkt durchaus gerechtfertigt und darum wünschenswert. Man 
muß dabei freilich gleichzeitig eindrücklich fordern, daß die für eine 
eventuell notwendig werdende Widerrufung erforderliche Beaufsichti- 
gung tunlichst schonend geschieht. Man hält ganz allgemein die 
Jugend immer für jünger, als sie tatsächlich ist; dies gilt auch von 
der Beurteilung unserer Zöglinge. Ich darf noch einmal an das ein- 
gangs erwähnte Minimum erinnern, das eine soziale Brauchbarkeit 
möglich macht. Dazu kommt noch eine neue Forderung aus dem 
Grundsatze von der Anschaulichkeit aller Erziehung. Man setze nahe 
und sichtbare Ziele, denn unsere Zöglinge leiden an einem geistigen 
Kurzblick, und auch die vielfach bestehende Willensschwäche wird 
vorzüglich günstig dadurch beeinflußt, daß man bald erreichbare Ziele 
steckt. 

Anderseits aber sind nun jene Fälle, in denen ein Zögling nach 
erreichter Volljährigkeit nicht in das freie Leben eingestellt werden 
darf, gar nicht selten. Wir müssen es ja vorläufig dennoch tun, wenn 
auch mit schlechtem Gewissen, weil wir keine Möglichkeit zu einer 
entsprechenden Unterbringung nach dem 21. Lebensjahre haben. Eine 
eventuelle Entmündigung ist in diesem Falle niemals eine ausreichende 
Maßnahme. Ob erzieherische Maßnahmen in solchen Fällen über- 
haupt noch gerechtfertigt erscheinen, kann man ja prinzipiell bestreiten. 
Wir haben auch nichts dagegen einzuwenden, wenn dann das Moment 
der Erziehung in den Hintergrund geschoben wird und an dessen 
Stelle das Moment der bloßen Bewahrung tritt. Denn bei solchen 
voraussichtlich dauernd Unbrauchbaren kann unser fürsorgendes Inter- 
esse nicht mehr in erster Linie dem Individuum, sondern es muß der 
Gesellschaft gelten. 

Aus diesen beiden Erfahrungen, daß die Fürsorgeerziehung einer- 
seits zu lang dauert, anderseits aber zu einer ausreichenden Bewahrung 
von dauernd sozial Unbrauchbaren keine genügende Maßnahme dar- 
stellt, leiten wir den Wunsch zur Schaffung der gesetzlichen Unter- 
lagen dafür ab, daß die Unterbringung zur Fürsorgerziehung auf un- 
bestimmte Zeit ausgesprochen werde. Dadurch erhält unsere Arbeit 
eine neue Richtung und wir können unseren Zöglingen das Ziel näher 
und klarer stellen. Die Gefahr einer Verwechslung des nur wissen- 
schaftlichen mit dem erzieherischen Interesse am Zögling ist herab- 
gemindert. Es handelt sich dann in erster Linie nur noch um die 
Lösung praktischer Fragen. Die Verantwortung, die der Erzieher und 


248 B. Mitteilungen. 





der Psychiater damit übernehmen, wird bedeutend gesteigert zum 
Wohle des Zöglings. — 

Die beiden praktischen Aufgaben sind: Beurteilung des Grades 
der sozialen Brauchbarkeit und Festsetzung der Grenzen der Erzieh- 
barkeit; oder anders gefragt: erstens, ist das Ziel, das wir dem Zög- 
ling stellen müssen, zu einem bestimmten Zeitpunkt erreicht; zweitens, 
wird er dieses Ziel in absehbarer Zeit erreichen können? Hieraus 
wird ohne weiteres klar, daß eine dahingehende Begutachtung der 
Zöglinge nicht nur psychiatrisch, sondern auch pädagogisch fundiert 
und orientiert sein muß. 


B. Mitteilungen. 


l1. Über den Ernährungszustand der Schulkinder 
im 2. Kriegsjahr. 
Von Medizinalrat Dr. Engelhorn in Göppingen. 


Im Januar d. J. konnte ich im Schwäbischen Merkur (Morgenblatt 
Nr. 17) über das Ergebnis von 2500 Untersuchungen an Schulkindern 
berichten und feststellen, daß deren Ernährungszustand durchschnittlich 
ein wesentlich besserer war als bei gleichaltrigen Kindern, die noch im 
Frieden untersucht wurden. Diese Erfahrung wurde bestätigt durch weitere 
Untersuchungen, die inzwischen auf 4000 sich vermehrt haben. Auch 
haben seither andere Schulärzte in Stuttgart, Cannstatt, Balingen ähnliche 
Erfahrungen mitgeteilt und wie mir durch persönliche Zuschriften bekannt 
geworden ist, sind in Mannheim und Jena gleichfalls Untersuchungen im 
Gange — und vielleicht auch inzwischen abgeschlossen —, die sich mit 
dem Ernährungszustand der Schulkinder beschäftigen. 

Veranlassung zu den von mir gemachten Feststellungen gaben die 
regelmäßigen Untersuchungen, die durch den mit der Tätigkeit eines Schul- 
arztes betrauten Oberamtsarzt vorgenommen werdeu. Nach dem württem- 
bergischen Oberamtsarztgesetz, das im Jahre 1913 in Kraft trat, werden 
die Kinder des 1., 4. und 7. Schuljahrs aller Schulen, auch der höheren, 
einer genauen Untersuchung unterworfen. Nur während des 1. Kriegs- 
jahrs erlitten diese Untersuchungen eine Einschränkung dadurch, daß sie 
nur am Sitz des ÖOberamtsarztes vorgenommen werden durften, während 
in den ländlichen Gemeinden keine Untersuchungen stattfanden. Erst im 
2. Kriegsjahre durfte die schulärztliche Untersuchung wieder im vollen 
Umfang aufgenommen werden. 

Während die übrigen Ergebnisse der Untersuchung gegenüber der 
Friedenszeit keiue wesentlichen Unterschiede zeigten, machte sich im Er- 
nährungszustand der Schulkinder bemerklich, daß dieser im Ganzen besser 
war als im Frieden. Wir haben uns unter Vermeidung des unbestimmten, 
daneben sozialpolitisch anrüchigen Ausdrucks der Unterernährung daran 


1. Über den Ernährungszustand der Schulkinder im 2. Kriegsjahr. 249 





gewöhnt, die Ernährung als »gut«, »mittel« oder »schlecht« zu bezeichnen. 
Das nicht ganz leichte Urteil über den Grad der Ernährung wird ge- 
wonnen aus dem Gesamteindruck, den das Kind macht, dem Fettpolster 
und der Dehnbarkeit der Haut, der Straffheit der Gewebe, insbesondere 
auch der Muskeln, der Farbe und Blutfülle der sichtbaren Schleimhäute, 
nötigenfalls auch nach dem Gewicht. 

Dabei hat sich nun gezeigt, daß sehr viele Kinder eine gute, die 
meisten eine mittlere und verhältnismäßig sehr wenige eine schlechte Er- 
nährung aufwiesen und daß der durchschnittliche Ernährungsstand ein 
besserer war als im Frieden. 

Obwohl dieses Ergebnis nicht von vornherein zu erwarten war, findet es 
doch in den zurzeit herrschenden Verhältnissen seine natürliche Erklärung. 
Die durch die Regelung der Ernährung infolge Knappheit wichtiger 
Nahrungsmittel gemachte Erfahrung, die übrigens für Ärzte nichts Neues 
ist, nämlich die, daß die Menschen im allgemeinen eher zn viel als zu 
wenig essen, hat sich auch bei der Ernährung der Schulkinder bestätigt. 
Das durchaus ausreichende, gesunden Kindern wohlbekömmliche Kriegsbrot 
hat ebenso günstig gewirkt als der Wegfall von allerlei Schädlichkeiten 
in Form von Süßigkeiten und Reizmitteln der verschiedensten Art. Eine 
günstige Wirkung habe ich auch namentlich in ärmeren Landgemeinden 
von dem reichlichen Obstgenuß beobachtet. Ohne daß man den Nährwert 
der üblichen Obstsorten überschätzt, ist der günstige Einfluß des Obstes 
auf die Verdauung, insbesondere durch die Fruchtsäuren von zweifelloser 
Bedeutung. 

Meine Untersuchungen sind zunächst für das Jahr vom 1. April 
1915/16 abgeschlossen und es könnte sich die Frage erheben, ob die 
günstigen Ergebnisse, die während dieser Zeit festgestellt wurden auch 
fernerhin die gleichen bleiben werden, nachdem weitere Einschränkungen 
der Nahrungsmittel notwendig geworden sind. Ohne späteren Unter- 
suchungen vorzugreifen, deren Ergebnis, wenn es von dem bisherigen ab- 
weichen sollte, rückhaltslos mitgeteilt würde, glaube ich erwarten zu 
dürfen, daß die Ernährung sich auch während der weiteren Dauer des 
Krieges nicht schlechter gestalten wird, da die bisherige Erfahrung ge- 
zeigt hat, daß die Gesamternährung unseres Volkes eine vernünftigere und 
gesundheitsgemäßere geworden ist und wir könnten es nur als ein Glück 
bezeichnen, wenn die Grundsätze der Mäßigkeit und Einfachheit in der 
Lebensweise, die wir während des Krieges aufs Neue schätzen gelernt 
haben, in die Zeit des Friedens herübergerettet und uns dadurch die 
Heranbildung eines gesünderen und kräftigeren Geschlechtes gewährleisten 
würden. 

An diesem Ort darf vielleicht noch eine kurze Bemerkung über das 
psychische Verhalten der Schulkinder angefügt werden, um so mehr als 
zwischen diesem und der Ernährung eine unverkennbare Wechselwirkung 
besteht. Ich denke dabei nicht an die patrio:iische Begeisterung, mit der 
die Schuljugend »Gloria, Viktoria« durch die Straßen brüllt, auch nicht 
an die vielbesprochene »Verwilderunge, die von manchen maßlos über- 
trieben, von anderen ganz geleugnet wird. Was in dieser Hinsicht be- 


250 B. Mitteilungen. 





obachtet wird, ist eine natürliche Reaktion auf die veränderten Verhält- 
nisse, in denen die mangelnde Erziehung durch den im Felde abwesenden 
Vater und die durch großen Lehrermangel erschwerte Schulzucht die 
wesentlichste Rolle spielen. Dahin gehört auch die Beobachtung, daß die 
Mädchen vielfach in eine gewisse Gleichgültigkeit und Schlapperei ver- 
fallen, indem sie nicht so pünktlich wie sonst zur Schule kommen und 
häufig ungenügend gekämmt und gewaschen. Hier fehlt es eben an der 
Autorität des Hausvaters, dessen Abwesenheit sich die Frau in Form einer 
gewissen Nachlässigkeit zu Nutzen macht. 

Vjel wichtiger als diese nicht in erster Linie den Schularzt berühren- 
den Zustände ist die Erfahrung, daß die Zahl der bei den Schülerunter- 
suchungen festgestellten Beanstandungen wegen allgemeiner Nervosität, 
Ängstlichkeit des Wesens, Störungen des Schlafes mit oder ohne Pavor 
nocturnus entschieden kleiner war als bei den Untersuchungen der Friedens- 
zeit. Wenn ich oben gesagt habe, daß diese Erscheinung auf eine Wechsel- 
wirkung mit der Ernährung zurückzuführen ist, so meine ich damit, daß 
die in Wegfall kommenden Schädlichkeiten einer unzweckmäßigen und 
reizenden Ernährung dem Nervensystem zugute kommen müssen, während 
andrerseits eine Beruhigung des Nervensystems die Ernährung dadurch 
fördert, daß die namentlich bei jüngeren Schulkindern so häufige Hast bei 
den Mahlzeiten und die Ängstlichkeit, mit der namentlich das erste Früh- 
stück oft ganz verweigert wird, günstig beeinflußt wird. 

Die wichtigste Erfahrung jedoch, die bei den Kriegsuntersuchungen 
gemacht wurde, bezieht sich auf die Kinder der Hilfsschule für Schwach- 
begabte. Diese mußte nämlich mit Ausbruch des Kriegs wegen mangelnder 
Lehrkräfte geschlossen werden und die Kinder wurden den Klassen der 
Normalbegabten nach Alter und Kenntnissen wieder zugeteilt. Die Wirkung 
dieser bedauerlichen aber unvermeidlichen Maßregel zeigte sich in zwei 
verschiedenen Formen. Ein Teil der Kinder und zwar die mit ziemlich be- 
deutenden Graden von Schwachsinn konnte in der Klasse für Vollsinnige 
überhaupt nicht mehr mitkommen und mußten um so mehr ihrem Schick- 
sal überlassen werden, als die Lehrer mit einer erheblich größeren Schüler- 
zahl als im Frieden belastet in der Individualisierung des Unterrichts 
wesentlich beschränkt waren. So kam es, daß für die Schwächeren unter 
den Schwachbegabten die Schule nur noch Bewahrungsanstalt war, in der 
sie im Lernen nicht mehr gefördert werden konnten. 

Ein anderer Teil aber, deren schwache Begabung zwar seither die 
Hilfsschule erforderlich machte, deren geistige Stufe jedoch keine allzu 
niedrige war, hat sich anstandslos wieder in den Organismus der Schule 
für Vollbegabte eingewöhnt und unter Anspannung eines gesunden Ehr- 
geizes den Beweis erbracht, daß sie durch die Förderung, die sie in der 
Hilfsschule erfahren, in der Lage waren, an dem Unterricht ihrer Alters- 
klasse wieder mit Erfolg teilzunehmen. Diese Erfahrung dürfte für später, 
wenn der Lehrermangel wieder gehoben und die Wiedereröffnung der 
Hilfsschule möglich sein wird, einen Fingerzeig dafür abgeben, daß man 
mit Rückversetzung der Schwachbegabten in die frühere Klasse nicht zu 
ängstlich sein soll. 


2. Zum Lesenlernen der Schwachen. 251 








2. Zum Lesenlernen der Schwachen. 
Eine Erwiderung von H. Nöll, Wiesbaden. 


Totgeschwiegene Arbeiten sind häufig, wenn auch nicht immer, mehr 
oder minder unwirksam geblieben. Dadurch, daß ein Leser an einer 
literarischen Veröffentlichung in positivem oder negativem Sinne Kritik 
übt, wird erst recht die Aufmerksamkeit auf jene gelenkt. Es ist darum 
für mich erfreulich, daß K. Eckhardt in einem Aufsatze!) zu meiner 
in der »Zeitschrift für Kinderforschung«e teilweise?) veröffentlichten 
Abhandlung: »Formale und materiale Intelligenzdefekte usw.« Stellung 
nimmt. Von besonderem Werte war mir das Urteil Eckhardts: »Es 
steht außer Zweifel, daß die besonderen Hemmungen und Schwierigkeiten, 
wie sie beim Lesenlernen der Schwachbegabten auftreten, durch die ge- 
schilderte Art der immanenten Wiederholung erfolgreich überwunden werden 
können.« Die Fortsetzung dieser anerkennenden Beurteilung läuft, wie es 
scheint, auf eine »Kritik«< des von mir psychologisch begründeten und 
praktisch erläuterten Leselehrverfahrens hinaus, wenn Eckhardt schreibt: 
»Allerdings liegen die Erfolge lediglich in dem Gebiete der äußeren Lese- 
mechanik. Sie bedürfen einer Ergänzung durch methodische Maßnahmen, 
die auf die Gewöhnung zum freudigen Erfassen des Leseinhaltes hinzielen 
und das hierbei freiwerdende Interesse als helfende und treibende Kraft, 
als ‚Motor‘ für das Lesenlernen zu verwerten wissen.« 

Diese Kritik trifft mich nun deshalb nicht, weil ich selbst es in 
meiner Arbeit betont habe, daß »die inhaltliche Seite des Lesens mit der 
äußeren zugleich gepflegt« werden müsse. Eckhardt konnte allerdings 
von meinen diesbezüglichen Ausführungen nichts wissen, da in der »Zeit- 
schrift für Kinderforschung«e meine ziemlich umfangreiche Abhandlung ja 
nur teilweise zum Abdruck gekommen ist.?2) Die ganze Arbeit liegt zur- 
zeit in der Druckerei und wird hoffentlich bald in Broschürenform in den 
»Beiträgen zur Kinderforschung und Heilerziehung« erscheinen.3) In der 
Broschüre wird Eckhardt Ausführungen finden, welche hervorheben, daß 
die von mir empfohlenen Leseübungen nicht als rein formalistische, sondern 
als sich eng an den Sachunterricht anlehnende zu betreiben sind. Aber 
auch schon aus dem in der »Zeitschrift für Kinderforschung« veröffent- 
lichten Teile meiner Arbeit kann der aufmerksame Leser schließen, daß es 
meine Meinung ist, »daß man den ersten Leseunterricht in den Sachunter- 


1) Zum Lesenlernen der Schwachen. Zeitschr. f. Kinderforschung. Jahrg. XXI 
Heft 3/4. S. 170 ff. 

2) Von Herrn Eckhardt war eine Beurteilung meiner Ausführungen über das 
Thema: »Formale und materiale Intelligenzdefekte usw.« an den Herausgeber der 
»Zeitschrift für Kinderforschung und Heilerziehung« bereits eingesandt und dann 
durch diesen auch mir zur Beantwortung zugestellt worden, als meine Abhandlung 
erst zur Hälfte im Druck vorlag. Die obige Erwiderung sandte ich sofort ein. Sie 
bezieht sich also auf den ersten Entwurf der Kritik Herrn Eckhardts, welcher der 
Form nach eine Anderung erfuhr, als meine Abhandlung vollständig gedruckt vorlag. 

®) Ist nunmehr erschienen unter dem Titel: Formale und materiale Intelligenz- 
defekte als Hemmungen im ersten Leseunterrichte der Schwachbegabten und eine 
diesen Defekten angepaßte Leselehrmethode. Heft 125 der Beiträge zur Kinder- 
forschung und Heilerziehung. 





252 B. Mitteilungen. 





richt einsenke«. Denn schon auf der 7. Seite meiner Ausführungen ist 
folgendes gesagt: »Der Lesevorgang des ABC-Schülers läßt sich somit in 
folgender Weise definieren: Er ist die Identifizierung eines mit Hilfe von 
Buchstaben künstlich konstruierten und eines naturwüchsigen geschlossenen 
Wortklangbilde. Demnach ist es wichtig, daß die naturwüchsigen Wort- 
klangbilder, die den zu lesenden Wörtern entsprechen, als assimilierende 
Seeleninhalte vorhanden sind. Wenn sie nicht auf dem Wege der natür- 
lichen Sprachentwicklung bereits in der Seele entwickelt worden sind, so 
hat der Unterricht dafür Sorge zu tragen. Doch davon später!« 
Dieses später noch Auszuführende, was Eckhardt allerdings in der »Zeit- 
schrift für Kinderforschung« vergebens suchte, findet der Leser eben im 
letzten Teile meiner Abhandlung in den »Beiträgen« und in den Fort- 
setzungen in der »Zeitschrift für Kinderforschung und Heilerziehung«. 
Ich befinde mich vollständig in Übereinstimmung mit Eckhardt, wenn 
er fordert: »Regelmäßige mechanische Übungen selbst unter Benutzung 
sinnloser Silben, Übungsreihen im Sinne Nölls auf der einen Seite, daneben 
aber immer und immer wieder aus dem Sachunterricht herauswachsende 
Übungsgruppen, Fibelstoffe, die ein leichtes und freudiges Ergreifen des 
Inhaltes nahelegen.«< Jedoch bin ich der Meinung, daß man den zweiten 
Faktor, das aus der Sache hervorwachsende Interesse am Lesestoffe, hin- 
sichtlich seiner erfolgreichen Wirksamkeit bei Schwachbegabten auch leicht 
zu sehr überschätzen kann. Jeder erfahrene Hilfsschullehrer weiß, daß es 
an sich schon äußerst schwer ist, bei einem starken Prozentsatze von 
Hilfsschülern das sachliche Interesse überhaupt lebendig zu machen, noch 
schwerer aber ist es, dieses solange festzuhalten und zu steigern, daß es 
wirklich die alleinige treibende Kraft oder der »Motor« werde, die Kunst 
des selbständigen Zusammenziehens von Lauten zu Wortganzen, des Lesens, 
zu üben. Wenn die jedenfalls vorzüglich veranlagte Tochter Eckhardts 
selbständig mit Hilfe von Bilderfibeln die Lesekunst sich erwarb, so ist 
das nur eins von den vielen Beispielen, die beweisen, daß nicht die Ge- 
sunden und Starken, sondern die Kranken und Schwachen der Hilfe des 
Arztes bedürfen. Keiner von den Schülern der Hilfsschule wird je eines 
solchen starken und andauernden sachlichen Interesses sich fähig erweisen, 
daß er im ersten Hilfsschulunterrichtsjahre selbständig versuchte und sich 
getrieben fühlte, die erläuternden Texte zu »lesen«. Wäre ein Hilfsschul- 
kind wirklich eines so andauernden, starken Interesses in dieser Zeit fähig, 
so gehörte es zweifellos nicht in die Unterrichtsanstalt für Schwachbegabte, 
In der Hilfsschule rückt darum auch eine systematische Anleitung 
zum Zusammenziehen der Laute neben jenen Faktor des sachlichen Inter- 
esses stark in den Vordergrund, jedenfalls stärker als im Unterrichte 
normalbefähigter Schüler, ganz abgesehen von der Tatsache, daß die von 
mir erwähnten formalen Intelligenzdefekte zu einer solchen systematischen 
Schulung geradezu nötigen. Gern erkenne ich aber auch an, daß 
der von Eckhardt betonte Faktor des sachlichen Interesses 
auch bei Hilfsschülern, je mehr und je besser man ihn zur 
Geltung zu bringen weiß, mit fortschreitendem Unterrichte 
immer wirksamer wird. Eckhardts Ausführungen über diesen 


2. Zum Lesenlernen der Schwachen. 253 





Punkt sind darum nicht überflüssig gewesen und sowohl für 
den Leser meiner Abhandlung als auch für mich selbst in- 
sofern von Wert als sie die kräftige Betonung und eine leb- 
hafte Wiederauffrischung eines wichtigen alten Unterrichts- 
grundsatzes sind. 

Nicht ganz in Übereinstimmung weiß ich mich mit dem kritischen 
Beurteiler meiner Arbeit, wenn er meint, daß es nichts schade und 
darum zu billigen sei, »wenn häufig gelesene Wörter früher als andere 
in Gesamtinnervationen gelesen werden«.. Für den allerersten Lese- 
unterricht halte ich dies durchaus nicht für so unschädlich. Hat sich 
einmal die Gewohnheit zu einem eıratenden, in Gesamtinnervationen er- 
fassenden Lesen von nicht analysierten Wörtern festgesetzt, so ist sie nach 
meinen Erfahrungen schwer auszurotten. Drum machen uns die nach der 
berühmten altertümlichen Großmütterlesemethode des Vorsagens der Wörter 
angeleiteten Schüler so viel Mühe, bis wir sie einmal zum analysierenden 
Sehen erzogen haben. Aus diesem Grunde übe ich ja nicht nur am An- 
fange des ersten Leseunterrichts überhaupt, sondern auch später, wenn 
schon umfangreichere Wörter vorkommen, am Anfange und beim Aufbau 
jeder Übungsgruppe kleinste ein- und zweilautige Wortganze und verwende 
diese analytisch durchsichtigen Komplexe als Bausteine für umfangreichere 
Wortganze, so daß also auch diese für den schwachbegabten Schüler ana- 
lytisch durchsichtig sind. Eckhardt hat mich ja einigermaßen richtig ver- 
standen, wenn er schreibt: »Auch die Art der Verwendung der im- 
manenten Wiederholung, wie sie Nöll beschreibt, hat letzten Endes ihre 
Erleichterungen darin, daß sie das Einprägen von Gesamtinnervationen an 
Stelle des rein synthetischen Verfahrens pflegt.« Aber Eckhardt hätte 
mich doch nur halb verstanden, wenn er sich nicht noch hinzu- 
dächte, daß gerade der Zweck meines Verfahrens ist, den 
Schüler zu einer Analyse des optischen Gesamtwortbildes zu 
nötigen, um ihm eine bewußte akustische und optische Syn- 
these zu ermöglichen; denn der Schüler kann bei meinem Verfahren, 
weil ich ähnliche, aber nicht ungleiche und auch nicht total gleiche Wörter 
zusammenstelle, nicht in Gesamtinnervationen, die sich auf vollständige 
Wortganze erstrecken, lesen; sondern er muß stets, um die höchst ähn- 
lichen Wörter zu unterscheiden, eine optische Analyse und daran an- 
schließend eine akustische und optische Synthese ausführen. Ich mache 
dem ABC-Schüler die Analyse nur dadurch leicht, daß ich ihm bei um- 
fangreicheren Wörtern nicht die schwierige einheitsdifferenzierende, sondern 
die von mir so genannte »gemischte« Analyse zumute, bei welcher das 
Wort in ein Buchstaben- (bezw. Laut-)element und einen vorher bereits 
analysiertten Komplex zerlegt wird. Daran reiht sich dann später das 
Lesen von Übungsgruppen, bei welchen der Schüler nur noch die gruppen- 
bildende Analyse anwendet. In diesem Falle wird das Wort in zwei oder 
drei bereits bekannte Buchstabenkomplexe zerlegt. Das Lesen von Wort- 
ganzen ist Ziel einer schon weit fortgeschrittenen Lesefertigkeit, von 
kleinsten Wörtchen natürlich abgesehen. Daß der Schüler eine Anzahl 
von Gesamtwortbildern sich aneigne, ist selbst für einen schwachbegabten 


254 B. Mitteilungen. 


Schüler keine allzuschwere Kunst, — ist es doch eine rein mechanische 
Gedächtnisleistung; denn so gut wie er eine stattliche Anzahl von sach- 
lichen Objekten unterscheiden und sprachlich bezeichnen lernt, kann er 
auch eine Anzahl von Wortganzen benennen lernen. Aber wenn diese an- 
geeigneten Wörter (namentlich dann, wenn sie in ihrem Habitus sehr ver- 
schieden sind) auch noch so zahlreich sind, für die eigentliche Kunst des 
Lesens ist damit nicht viel gewonnen. Denn mit jenen Gesamtwortbildern 
hat er nicht die Fähigkeit des analysierenden Sehens und nicht die des 
synthetisierenden Lesens erlangt, ist darum nicht fähig, unbekannte Wörter 
selbständig und ohne fremde Hilfe zu lesen. Auf diese letztere Kunst 
aber kommt es an. Darum besteht doch schließlich das wesent- 
liche meines Leselehrverfahrens in der Art und Weise, wie ich 
den Schülern die Analyse und die bewußt vollzogene Synthese er- 
leichtere und nicht nur darin, wie Eckhardt meinte, daß es 
das»Einprägen von Gesamtinnervationen pflegte. Es sei darum be- 
tont: Das»Einprägen von Gesamtinnervationen« ist Ziel, nicht aber 
eigentlich Mittel des von mir befürworteten Leselehrverfahrens. 

Namentlich bedenklich scheint es mir, ein erratendes Lesen in Ge- 
samtinnervationen zuzulassen und sogar durch methodische Maßnahmen zu 
begünstigen, wenn als Lesestoffe kleingeschriebene Dingwörter dargeboten 
werden, wie sie Eckhardt zu verwenden scheint: rose, else, susi, rosi, ria, 
alma, laura, ofen, salat, rüben, birnen usw. Trifft man z. B. die metho- 
dische Maßnahme, daß man derartige kleingeschriebene Dingwörter unter 
ein geeignetes Fibelbild setzt und nun den Schüler ratend lesen läßt, so 
ist hiergegen folgendes einzuwenden: Wörter, die als Wortganze erratend 
gelesen und in ihrem optischen Habitus als solche Ganze dem Gedächtnis 
eingeprägt werden, können natürlich später, wenn sie wieder einmal (ohne 
Bild) auftreten, auch nur mit Hilfe des in der Seele auftauchenden Er- 
innerungsbilde von dem ehemals eingeprägten optischen Habitus des 
Wortes wiedererkannt werden. Nun fallen bei der Apperzeption eines 
solchen optischen Wortganzen in erster Linie die Hochbuchstaben in den 
Umfang der Aufmerksamkeit. Bei großgeschriebenen Dingwörtern ist der 
Anfangsbuchstabe stets ein Hochbuchstabe, fällt darum besonders auf. War 
nun das jeweils in Betracht kommende Wort, als es im ersten Leseunter- 
richte eingeprägt wurde, klein geschrieben, so kann es dann, wenn es 
später als großgeschriebenes Dingwort wieder vor die Augen des Schülers 
tritt, nicht wiedererkannt werden, da es ja nun einen wesentlich anderen 
optischen Gesamthabitus hat. Man vergleiche: »else« und »Else«, »alma« 
und »Alma«, »rosie und »Rosi«, >rüben« und »Rüben«e. Es ist also — 
ganz abgesehen davon, daß man nicht Ursachen für eine fehlerhafte Recht- 
schreibung durch methodische Maßnahmen künstlich schaffen sollte, solange 
wir noch an der Großschreibung der Dingwörter festhalten — auch für 
die Kunst des flotten selbständigen Lesens nichts gewonnen. Es müssen 
notwendig später Stockungen im Lesen von Lesestücken eintreten, wenn 
in ihnen großgeschriebene Dingwörter vorkommen, die sich der Schüler 
früher als kleingeschriebene, also in anderer Gestalt eingeprägt hatte. Der 
Schüler kann ja dann auf den optischen Eindruck nicht mit Gesamt- 


2. Zum Lesenlernen der Schwachen. 255 





innervationen reagieren (was doch das Ziel des ersten Leseunterrichts sein 
soll, soweit es sich um die mechanische Fertigkeit handelt), wodurch 
andererseits dann natürlich auch Hindernisse für die Auffassung des In- 
haltes entstehen. — Nun will ich gern eingestehen, daß ich selbst lange 
Zeit gegenüber der Frage, ob man Dingwörter im ersten Leseunterrichte 
den Schülern auch in Kleinschreibung vor Augen bringen dürfe, mich 
schwankend verhalten habe. Es gibt nämlich einen Grund, der die Ein- 
wendungen gegen die Kleinschreibung hinfällig zu machen scheint und 
für gewisse Fälle auch teilweise hinfällig macht. Man kann sagen: das 
Wort »Rose« z. B. tritt auch in unserer heutigen Rechtschreibung dem 
Schüler später einmal doch in Kleinschreibung entgegen, nämlich wenn es 
als Grundwort zusammengesetzter Dingwörter auftritt in »Hundsrose«, 
»Heckenrose«, »Gartenrose«. Und darum ist es nicht vergebene Mühe 
gewesen, wenn der Schüler sich das Wort »Rose« in der Form der Klein- 
schreibung eingeprägt hat. Wollte man diese Einwendung auch anerkennen, 
so muß doch zugegeben werden, daß sie nicht für alle Fälle gilt. Wörter 
wie Else, Laura, Alma, Ria, Rosi, Rüben, Birnen erscheinen gar nicht 
oder doch nur in verschwindend wenigen Fällen als Grundwort zusammen- 
gesetzter Dingwörter. Die Kleinschreibung der Dingwörter dieser letzten 
Art ist darum kaum zu rechtfertigen, namentlich dann nicht, wenn man 
sie als Wurtganze erratend lesen lassen will und sie nicht nur zum Zwecke 
der mechanischen und formalen Übung, wie man auch sinnlose Silben ver- 
wendet, im ersten Leseunterrichte auftreten läßt. Nur bei regelmäßigen 
mechanischen Übungen, bei denen man zur Not auch einmal sinnlose Silben 
ausnahmsweise heranziehen muß, weil geeignete sinnvolle Wörter nicht 
zur Verfügung stehen, könnte man, um zweckmäßiges Material für die 
Übung im Zusammenziehen der Laute zu haben, auch einmal ausnahms- 
weise kleingeschriebene Dingwörter, wie mama, lulu, lili, papa, bubi, susi, 
sesi anwenden. Auf keinen Fall aber gehören sie unter ein Anschauungsbild 
der Fibel, wo sie sich dauernd dem Auge darbieten und sich darum innig 
mit den entsprechend sachlichen und begrifflichen Vorstellungen assoziieren. 

Dazu kommt nun noch folgendes: Eine Übung in der wirklichen 
Analyse der optischen Wortbilder der Fibel, in welcher die Wörter immer 
direkt unter die zugehörigen Abbildungen der von jenen Wörtern be- 
zeichneten Objekte gesetzt sind, wird durch dieses direkte Zusammensein 
eigentlich verhindert. Das Bild ruft nämlich die naturwüchsige Begriffs- 
bezeichnung ohne weiteres wach. Und hat der Schüler an einigen Bei- 
spielen einmal erfahren, daß das direkt unter der Abbildung stehende 
Wort der Name des abgebildeten Dinges ist, so braucht er das Wort selbst 
kaum oder nur ganz oberflächlich anzusehen, um sofort zu wissen, wie es 
heißt. Wiederholte Übungen in einer derartig beschaffenen Fibel sind 
darum eigentlich keine Lese-, sondern Sprechübungen; denn es entsteht 
ja gar nicht das künstlich konstruierte Wortklangbild, das in dem von 
mir entworfenen Schema des Lesevorgangs des ABC-Schülers als Klang- 
bild I bezeichnet ist. Es findet mithin eine eigentliche Identifizierung 
eines künstlich konstruierten und des entsprechenden naturwüchsigen Be- 
griffswortes (Klangbild II) gar nicht statt. Während doch der normale 


256 B. Mitteilungen. 





Verlauf des I,esevorgangs der sein soll, daß der künstlich konstruierte 
Wortklang als das primäre auftritt und das geschlossene naturwüchsige Be- 
griffswortklangbild weckt, kehrt sich in solchem Falle der Vorgang um: 
Das naturwüchsige Begriffswortklangbild tritt als das primäre auf und ver- 
knüpft sich als ungegliedertes, nicht analysiertes Ganze mit dem 
nicht analysierten optischen Totaleindruck des Wortes. Der Schüler wird 
also auf diese Weise nicht zum analysierenden Sehen und nicht zu be- 
wußter Lautsynthese erzogen. Er hat für die Kunst des Lesens unbe- 
kannter Wortformen nichts oder doch kaum etwas gewonnen. Seine 
Fertigkeit im flotten Sprechen der Fibelwörter täuscht also leicht eine 
Lesefertigkeit vor, die in Wirklichkeit nicht vorhanden ist. 

Wenn man sich nicht verhältnismäßig frühzeitig dazu entschließen 
will, den Schüler im ersten Leseunterricht mit einer Anzahl Großbuch- 
staben bekannt zu machen, so erscheint mir folgende Art und Weise der 
Verbindung von Sach- und erstem Leseunterricht vorteilhaft: Es sind an- 
fangs als inhaltlich interessante Lesestoffe in erster Linie Tätigkeitswörter, 
in zweiter Linie Eigenschaftswörter zu wählen, die leicht mit einem Fibel- 
bilde, einem Anschauungsbilde, einem sachlichen Objekte, einer anschau- 
lichen Erzählung in Beziehung gesetzt werden können. Auch Formwörter, 
die der Schüler doch deshalb schon im ersten Leseunterrichte gewinnen 
muß, damit er bei einigermaßen fortgeschrittener Lesefertigkeit Sätzchen 
lesen könne, darf man nicht ganz ausschließen. Angenommen, die Fibel 
enthielte ein Gruppenbild von »Hunden und Katzen«, so könnte sich ein 
inhaltsvoller Lesestoff um die drei Fragen gruppieren lassen: 

1. Was sie tun? (schreien): au-au, wau-wau, miau, hau-hau; laufen, 
saufen, raufen; hauen (mit den Tatzen), kauen, schauen, miauen; gehen, 
sehen, flehen (um Nahrung); essen, fressen; sitzen, spitzen (die Ohren); 
atzen (ein hier gebrauchtes Dialektwort für stehlen), schmatzen, kratzen. 

2. Wie sie sind? rein, reinlich, unrein, unreinlich, fein, feind, 
feindlich, klein, groß, größer; grau, rauh, schlau; weiß, weißlich, gelb, 
gelblich, grau, gräulich, rot, rötlich, schwarz, schwärzlich usw. 

3. Wo sie sind? in (der Hütte, der Stube), an (der Kette), auf (dem 
Stuhl, dem Hofe), unter (dem Tisch), hinter (dem Ofen) usw. Der 
Schüler sieht und liest das Formwort »in« und wendet es dann an: Der 
Hund ist in der Hütte, die Katze in der Stube. 

Wenn man diesen aus dem Sachunterrichte herauswachsenden Lese- 
stoff möglichst auch nach den von mir angegebenen Prinzipien ordnet und 
zum Zwecke fleißiger, gründlicher Übung auch mit anderen bereits früher 
kennen gelernten ähnlichen Wörtern an der Wandtafel zu synthetisch 
aufgebauten Wörtergruppen zusammenstellt, so ist man, indem so die 
methodische Kunst des Lehrers in den Dienst schwacher Auffassungskraft 
gestellt wird, nicht einem »öden Formalismus« verfallen, man hat auch 
das sachliche Interesse »als treibende Kraft, als Motor für das Lesen- 
lernen verwendet«, 

Ich verweise zum Schluss nochmals auf die bei Hermann Beyer 
& Söhne (Beyer & Mann), Langensalza, erschienene vollständige Arbeit 
in den »Beiträgen zur Kinderforschung und Heilerziehung« und hoffe, daß 


2. Zum Lesenlernen der Schwachen. 257 





Eckhardt als kritischer Beurteiler auch mit dem, was dort noch zu finden 
ist, so zufrieden sein werde, als er es nach seinen Worten mit meinen 
psychologischen Ausführungen ist. Bei der Beurteilung unterrichtsprak- 
tischer Beispiele jedoch wolle man bedenken, daß kaum jemals eins dem 
Ideale entspricht, das die Theorie aufstellt. Die Theorie meines Leselehr- 
verfahrens kann darum richtig sein, auch wenn die von mir gegebenen 
praktischen Beispiele unvollkommen sind. Ein besserer Praktiker kann zu 
meiner Theorie noch bessere Beispiele ersinnen. 

Nachwort: Wenn von dem Beurteiler meiner Arbeit nun auch jetzt 
noch, nachdem ihm der zweite Teil derselben zu Gesicht gekommen ist, 
behauptet wird, ich habe den Grundsatz, daß das sachliche Interesse als 
Motor, d. h. als treibende Kraft zum Lesenlernen zu verwenden sei, nicht 
genügend und nur so anhangsweise betont, so muß ich dies als eine sub- 
jektive Meinung Eckhardts bezeichnen und folgendes entgegnen: 

1. Die in dem Thema: »Formale und materiale Intelligenzdefekte als 
Hemmungen im ersten Leseunterrichte« liegende Disposition nötigte mich, die 
Bedeutung des sachlichen Interesses zuletzt zur Sprache zu bringen, da 
davon nur geredet werden konnte, als es galt darzulegen, wie die Hemmungen 
zu überwinden seien, die durch den materialen Intelligenzdefekt verursacht 
sind. Wenn Herr Eckhardt sich das von mir entworfene Schema des 
Lesevorgangs ansieht, so wird er auch darin ein Motiv entdecken, daß ich 
den materialen Intelligenzdefekt und damit auch die Bedeutung des sach- 
lichen Interesses zuletzt zur Sprache bringen mußte: Die begriffliche Vor- 
stellung ist das letzte Glied der Assoziationskette des Lesevorgangs. Damit, 
daß also in diesem Zusammenhang das sachliche Interesse hinsichtlich 
seiner Bedeutung für das Lesenlernen im letzten Teile meiner Arbeit zur 
Sprache kam, ist doch wahrhaftig nicht bewiesen, daß es sich dabei um 
eine anhangsweise Betrachtung handle. 

2. Es lag auch kein Grund vor, das sachliche Interesse im Rahmen 
meiner Arbeit (die mir überdies schon viel zu umfangreich geworden war) 
durch noch breitere, weitgehendere Ausführungen viel mehr zu betonen, 
als dies in meiner Abhandlung geschehen ist; denn seit Erscheinen des 
orbis pictus von Amos Comenius und seiner didactica magna ist wohl der 
Unterrichtsgrundsatz, daß Lese- und Sachunterricht in innigster Verbin- 
dung zu treiben seien, so viel- und mannigfach begründet worden, daß 
uns auch Herr Eckhardt kaum noch etwas Neues in dieser Beziehung 
wird sagen können. In meiner Abhandlung war es mir selbstverständlich 
darum zu tun, in erster Linie neue Gesichtspunkte der Hilfsschullese- 
methodik in hellste Beleuchtung zu rücken, nicht aber solche, über welche 
heutzutage kein Streit mehr sein kann. 

Vielleicht aber tue ich Herrn Eckhardt unrecht, wenn ich behaupte, 
er könnte uns über die Bedeutung des sachlichen Interesses als eines 
Motors zum Lesenlernen kaum noch etwas Neues sagen? Man könnte etwas 
Neues von Wichtigkeit in den Ausführungen erblicken, durch die er nach- 
zuweisen sucht, daß das sachliche Interesse die Hemmungen zu über- 
winden vermöge, die durch die von mir namhaft gemachten Intelligenz- 
defekte verursacht sind. Hat nun das sachliche Interesse wirklich bei 

Zeitschrift für Kinderforschung. 21. Jahrgang. 17 


258 B. Mitteilungen. 





Hilfsschülern eine in dieser Hinsicht besonders ins Gewicht fallende Wir- 
kung und Kraft? Die Tatsache, daß die Hilfsschüler in der Regel bereits 
zweimal den Kursus des ersten Jeseunterrichts erfolglos in der Normal- 
schule mitmachten,!) ehe man sie in die Hilfsschule überwies, beweist 
schlagend, daß das sachliche Interesse bei Schwachbegabten ein solch wirk- 
samer Motor zum Lesenlernen nicht ist. Von dem einen oder anderen 
Lehrer der Normalschule könnte man ja behaupten, er habe es nicht ver- 
standen, das sachliche Interesse dem Leseunterrichte dienstbar zu machen. 
Wollte Herr Eckhardt dies aber auch von den zahlreichen Lehrpersonen 
behaupten, die der Hilfsschule alljährlich die Schwächsten aus der Normal- 
schule zuführen? Nein, es ist tatsächlich so: Weil es ein charakteristisches 
Merkmal geistiger Schwäche ist, daß das sachliche Interesse sehr schwer 
zu erwecken und seine Intensität urd Nachhaltigkeit sehr gering ist, 
darum bleibt beim Schwachbegabten dieser Faktor als Motor zum Lesen- 
lernen oft jahrelang gegenüber den Hemmungen, die durch Intelligenzdefekte 
verursacht sind, unwirksam. Die hochgradige Begriffsarmut und der Mangel 
an Phantasie lassen auch die prächtigsten Bilder der Fibel nicht zur Wir- 
kung kommen, weil sie vielen Schwachen aus Mangel an Apperzeptions- 
material nur als bunte Klexe erscheinen. Kurz: Wenn wir nicht auch 
mechanischen Leseübungen in der Aufnahmeklasse der Hilfsschule einen 
breiteren Raum gewähren wollen, wird es nicht möglich sein, jene Hem- 
mungen zu überwinden. Bezüglich dieser Forderung kann ich mich 
schließlich auch auf die Ansicht einer Autorität von größtem Rufe stützen: 
Als in diesen Tagen Herr Geheimrat Dr. Ziehen in der Wiesbadener Hilfs- 
schule Intelligenzprüfungen anstellte, hatten ein Kollege von mir und ich 
Gelegenheit, aus dem Munde des genannten berühmten Psychologen und 
hervorragenden Kenners der geistigen Eigenart der Schwachsinnigen die 
in anderem Zusammenhang vorgebrachte Äußerung zu vernehmen, daß 
auch in der Hilfsschule mechanische Übungen wichtig seien, weil das 
Mechanische überhaupt im Geistesleben eine größere Rolle spiele, als man 
gemeinhin annehme. Damit man aber nicht glaube, ich wolle lediglich 
einem öden Formalismus das Wort reden, sei nochmals darauf hingewiesen, 
daß ich auf Seite 84 meiner Broschüre ausdrücklich betont habe, es solle 
bei der Darbietung des neuen Lesestoffes das Prinzip des sach- 
lichen und gedanklichen Zusammenhangs, bei Wiederholungs- 
übungen dagegen das mechanische Ordnungsprinzip der Ähn- 
lichkeit (oder das Prinzip der immanenten Wiederholung) die herrschende 
Rolle übernehmen. 


1) Ich habe auf diese bedenkliche Praxis wiederholt hingewiesen. Daß sie 
immer noch nicht verschwunden, ist unverständlich. Wie kann man ein geistig 
armes Kind zwei volle Jahre vergeblich in einer Schulklasse sitzen lassen? Das 
ist doch geradezu eine Erziehung zum Schwachsinn. »Und eine Frucht soll (sogar) 
jeder Tag mir geben.« Dieses Goethewort muß Losung jeder Schule werden. 

Die Schriftleitung. 


3. Über das Zeichnen nach Vorlage. 259 





3. Über das Zeichnen nach Vorlage.') 
Eine Erwiderung auf Prof. Elßners Bericht in »Schauen u. Schaffen«, 1916, Heft 4. 
Von K. und A. Busemann, Essen. 


Unsere kleine Abhandlung über die Psychologie des Zeichnens nach 
Vorlage hat in der Zeitschrift »Schauen und Schaffen, Zeitschrift des 
Vereins deutscher Zeichenlehrer« eine verhältnismäßig eingehende Be- 
sprechung gefunden, in der unsere Warnung vor übertriebenem Phantasie- 
zeichnen und unsere Empfehlung des Abzeichnens als eines Hilfsmittels 
für das Zeichnen nach der Natur einer scharfen Kritik unterzogen und 
zum Schluß bedauert wird, daß die »Zeitschrift für Kinderforschung« ihre 
Spalten solchen »Unklarkeiten und Irrtümern« geöffnet hat. Wir können 
nicht umhin, es freudig zu begrüßen, daß ein Vertreter der Zeichen- 
methodik, der sich gewiß auf uns fehlende praktische Erfahrung und gründ- 
liche Beherrschung des Unterrichtsgegenstandes stützen kann, unseren Ex- 
kursen in das methodische Gebiet so großes Interesse entgegenbringt, war 
es doch unsere stille Absicht, durch einige Andeutungen über die metho- 
dische Seite des von uns psychologisch behandelten Stoffes die Aufmerk- 
samkeit der Praktiker auf gewisse noch in ihm schlummernde POUR 
pädagogischer Art zu lenken. 

Wir nehmen es daher gerne in Kauf, wenn der Zeichen-Spezialiet 
unsere Einmischung in zeichenmethodische Fragen anscheinend mit dem 
natürlichen Mißtrauen des Fachmannes als dilettantisch und daher unan- 
genehm empfindet. Wir möchten ihn nur daran erinnern, daß, wenn über- 
haupt die psychologische Forschung der Unterrichtsmethodik Dienste leisten 
soll, Psychologen und Methodiker über gewisse Begriffe sehr bald uneinig 
werden müssen, daß aber gerade in der gemeinschaftlichen Bearbeitung 
solcher Begriffe des gemeinsamen Arbeitsgebietes, die von zwei selbständigen 
Standpunkten aus erfolgt, die Aufgabe einer nach Fortschritt strebenden 
Unterrichtslehre liegt. Darum glauben wir, Prof. Elßners Verurteilung 
unserer methodischen Ansichten mit einer etwas eingehenderen Darlegung 
beantworten zu sollen. 

Um einige Mißverständnisse aus dem Wege zu räumen, sei zunächst 
bemerkt: 

1. Unter »Abzeichnen« verstehen wir nicht das Abzeichnen »fertiger« 
und erst recht nicht das Abzeichnen gedruckter Vorlagen, sondern 
das Abzeichnen einer Musterzeichnung, die vor den Augen der Kinder 
entstanden ist. Daß wir in unserer psychologischen Untersuchung 
den Kindern »fertige« Zeichnungen als Vorlagen darboten, also die 
Vorlage nicht jedesmal erst »vorzeichneten«, hat damit nichts zu 
tun, wie aus unserer Abhandlung klar hervorgeht. 

2. Rembrandt als Muster für angehende Künstler war nur zufällig ge- 
nannt; Prof. Elßner mag Recht haben, daß er sich wenig eignet. 
Will er aber bestreiten, daß unsere Künstler dem Kopieren im 
strengsten Sinne durchweg viel verdanken? Er gibt selbst zu, daß 


1) Vergl. diese Zeitschrift. Heft 11/12. Jahrg. XX. 





17* 


360 B. Mitteilungen. 





von Rembrandt »ein Lernender sich nur absehen kann, wie der Künstler 

gewisse Mittel angewendet hat, um bestimmte Wirkungen zu erzielen«. 

Was behaupten wir denn mehr? Heißt das nicht »zeichnen« lernen? 

3. Die Überschrift des § 1 hat Prof. Elßner wohl mißverstanden. Er 
meint, wir wollten in diesem Paragraph nachweisen, daß das Ab- 
zeichnen methodisch empfehlenswert sei. Dies war nicht unsere 
Absicht, obgleich ein Mißverständnis entschuldbar ist, weil tatsäch- 
lich unter anderem im $ 1 auch dieser Gedanke ausgesprochen wird. 
Die ganzen Ausführungen aber hatten nur den Zweck zu zeigen, 
daß das Abzeichnen im Unterrichte überhaupt vorkommt, und daß 
darum die Untersuchung des Abzeichnens auch pädagogisch, nicht 
bloß psychologisch, interessant ist. Dazu sollte auch unsere Fest- 
stellung dienen, daß das Schreibenlernen eigentlich Abzeichnen ist. 
Damit fällt Prof. Elßners Vorwurf in sich zusammen, daß wir, »um 
den Wert des Zeichnens nach Vorlage zu beweisen« (!!), auch er- 
wähnten, »daß es eine Rolle spiele beim Schreiben«. 

4. Einen besonderen Abscheu scheinen Zeichenlehrer vor den »sinn- 
losen« Vorlagen zu empfinden, die wir abzeichnen ließen. Zeichen- 
lehrer, denen wir sie persönlich vorlegten, äußerten ihr Mißfallen 
ohne Scheu, und so scheint auch Prof. Elßner in ihnen sozusagen 
den zeichnerischen Ausdruck unserer »Irrtümer und Unklarheiten« 
zu erblicken; wenigstens schiebt er uns völlig unberechtigt die Ab- 
sicht zu, solche sinnlosen Vorlagen in den Zeichenunterricht ein- 
führen zu wollen. Wir schließen dies aus seiner Versicherung, daß 
man »sich hüten wird, die Kinder sinnlose Gebilde abzeichnen zu 
lassen«. Wir versichern unsrerseits, daß wir die sinnlosen Vorlagen 
nur angewandt haben, um das Abzeichnen zu erschweren und da- 
durch den Ablauf der psychischen Vorgänge bei ihm der Beobach- 
tung zugänglicher zu machen. Man wendet ähnliche Mittel bekannt- 
lich auch auf anderen Gebieten der Psychologie an. Das Abzeichnen 
sinnloser Vorlagen in den Zeichenunterricht einzuführen, ist nie 
unsere Absicht gewesen. 

Abgesehen von diesen kleinen Mißverständnissen handelt es sich, 
wenn wir Prof. Elßner recht verstehen, um folgende beiden Fragen: 

1. Wirkt das Phantasiezeichnen schädlich auf die Leistungen im Ge- 
dächtniszeichnen und im Zeichnen nach der Natur ein? 

2. Ist es empfehlenswert, daß Kinder Zeichnungen, die ihnen der Lehrer 
vorgezeichnet hat, abzeichnen? 

Über die erste Frage urteilt Prof. Elßner, der offenbar sonst für das 
Phantasiezeichnen viel übrig bat, selber so: »Richtig ist, daß das aus- 
schließlich betriebene Phantasiezeichnen die Kinder nicht nur nicht wesent- 
lich fördert, sondern unter Umständen« (siehe unten!) »ihre Entwicklung 
sogar hemmen kann« — Prof. Elßner stimmt also im wesentlichen mit 
uns überein. Denn wenn er sagt, daß »ausschließlich betriebenes« 
Phantasiezeichnen schädlich sein kann, dann wird er (vom Ganzen aufs 
Teil) mit uns schließen müssen, daß auch das nicht ausschließliche 
Phantasiezeichnen schädlich wirken kann und überhaupt jedes über- 


3. Über das Zeichnen nach Vorlage. 261 





triebene Phantasiezeichnen. Vor diesem nur haben wir gewarnt, nicht 
vor all und jedem Phantasiezeichnen. Prof. Elßner fährt nun fort: 
»— wenn nämlich der Zeichenunterricht ihnen (den Kindern) nicht zu 
der Erkenntnis verhilft, daß sie nach der Natur zeichnen sollen.« Glaubt 
nun Prof. Elßner wirklich, die schädlichen Wirkungen des Phantasie- 
zeichnens durch Aufklärung der Kinder über ihre Aufgabe, nach der 
Natur zu zeichnen, aufheben zu können? Oder sollte er nicht unserer An« 
sicht sein, daß man diese schädlichen Neigungen bekämpfen muß, und 
zwar durch Übung im richtigen, naturwahren Zeichnen? Im Phantasie- 
zeichnen kommt doch offenbar der natürliche Trieb des Kindes zu einer 
zwar bequemen aber zeichnerisch unwahren Darstellungsart zum Ausdruck 
— oder wird dies bestritten? —, und wir werden das Kind doch wohl 
nur durch fortgesetztes Vormachen, wie man eine naturwahre Darstellung 
erzielt, dazu bringen, diesem Triebe nicht mehr zu folgen. Die Fehler, 
welche Kinder beim Gedächtniszeichnen und beim Zeichnen nach der 
Natur, z. B. beim perspektivischen Zeichnen, begehen, lassen sich leicht als 
Außerungen des Schema-Triebes erkennen, dessen Produkte in Rein-Kultur 
die Phantasiezeichnungen darstellen. Sie beweisen damit, daß unser 
Kämpfen um naturwahres Zeichnen ein Kampf gegen die verderbliche 
Neigung des Kindes zum »Schema« ist. 

Ist es nun unsere Aufgabe, dem Kinde unsere Art, zu sehen, in ge- 
wissem Maße beizubringen, so sehen wir nicht ein, warum es nicht ge- 
stattet sein soll, Musterzeichnungen, die vor den Augen der Kinder ent- 
standen sind, bei passenden Gelegenheiten abzeichnen zu lassen und die 
Kinder dadurch zu zwingen, jeden Schritt, den der Lehrer gegangen ist, 
nachzugehen! Wir denken dabei ganz besonders an die Einführung in das 
perspektivische Zeichnen.!) Wir behaupten sogar, daß, von wenigen be- 
sonders begabten Schülern abgesehen, schon heute unsere Schulkinder das 
perspektivische Zeichnen, soweit und wenn sie es überhaupt lernen, durch 
Nachahmung, also durch »Nachmachen« lernen. Wir sind selbstverständ- 
lich weit davon entfernt, das Zeichnen nach der Natur durch das Ab- 
zeichnen solcher Wandtafelzeichnungen ersetzen zu wollen, und haben in 
der angeführten Abhandlung klar und deutlich gesagt, daß das Abzeichnen 
nur als Hilfsmittel jeder anderen Zeichenmethode, also des Gedächnis- 
zeichnens und des Zeichnens nach der Natur, erlaubt sein könne. 

Wie urteilt nun Prof. Elßner über das Abzeichnen? »Für die Zwecke 
einer psychologischen Untersuchung,« schreibt er, »mag dies berechtigt 
sein, zumal sich unter den Vorlagen absichtlich ‚sinnlose Kombinationen 
befanden. Im Zeichenunterrichte kommen jedoch beide Fälle nicht vor, 
da man nicht mehr nach Vorlagen zeichnen darf und sich hüten wird, 
die Kinder sinnlose Gebilde abzeichnen zu lassen. Auch die Zeichnungen, 
die der Lehrer an der Wandtafel entwirft ..., dürfen nicht stehen bleiben, 
da die Kinder diese nicht abzeichnen ... sollen.« Daß wir weder ge- 


1) Unsere »Kisten«-Vorlagen waren perspektivisch richtig gezeichnet, daürber 
mag sich Prof. E. beruhigen. Freilich gibt es selbst Zeichenlehrer, die bei solchen 
Zeichnungen Fehler begehen, und das mag sein Mißtrauen entschuldigen. 


262 B. Mitteilungen. 





druckte Vorlagen noch gar sinnlose Vorlagen in den Unterricht ein- 
schmuggeln wollen, wie Prof. Elßner annimmt, haben wir oben bereits dar- 
getan und läßt sich auch aus unserer zitierten Abhandlung ersehen. Es 
handelt sich demnach nur noch darum, ob Prof. Elßner mit der Forderung 
Recht hat, daß diese Zeichnungen des Lehrers stets von der Wandtafel 
abgeputzt werden sollen und die Schüler sie niemals abzeichnen dürfen, 
Wir bedauern sehr, daß Prof. Elßner keine Gründe angeführt hat, warum 
er es so will. Die bloße Tatsache, daß es so üblich ist, genügt doch 
nicht zum Beweise, daß es so am besten ist! 

Wir würden uns darum sehr freuen, wenn Prof. Elßner Gelegenheit 
nehmen würde, sich zu den oben formulierten (in unserer Abhandlung ja 
nur flüchtig gestreiften) Problemen vom Standpunkte des Fachmannes aus 
näher auszusprechen. 

Was Prof. Elßner über die Schemata des Phantasiezeichnens sagt, be- 
darf gleichfalls weiterer Erläuterung von seiner Seite. Er schreibt: »An 
anderer Stelle werden diese Schemata die ‚Erzeugnisse‘ des Phantasie- 
zeichnens genannt. Das ist ein Irrtum. Das Kind erlernt die Schemata 
im Umgange mit anderen Personen oder erfindet sie selbst, um sie beim 
Phantasiezeichnen als Symbole anzuwenden.« Also: Die Phantasieschemata 
sind nicht Erzeugnisse des Phantasiezeichnens sondern Symbole, die das 
Kind beim Phantasiezeichnen anwendet. Also doch Erzeugnisse des 
Phantasiezeichnens? 

Daß die Zeitschrift »Schauen und Schaffen« uns zu »Buschmännern« 
macht, ist aber wohl Schuld des Setzers. 


4. Analyse des kindlichen Vorstellungskreises.!) 
Von Prof. Braunshausen. 


Ursprünglich in rein pädagogischem Interesse unternommen, haben 
die Untersuchungen über den Vorstellungskreis des Kindes in ihren letzten 
Erscheinungen auch allgemein psychologische Bedeutung erlangt. 

Ihren Ausgang nahm die Bewegung von einer Berliner Statistik, die 
sich auf mehrere tausend gerade in die Schule eintretende Kinder er- 
streckte. Nach dem Versuch von K. Lange in Plauen und den Unter- 
suchungen von Stanley Hall in Boston bedeuten die sogenannten Anna- 
berger Versuche von B. Hartmann (1880—1884) eine Art Abschluß 
oder Höhepunkt der pädagogischen Richtung dieser Forschungen. Hartmann 
stellte den Schulneulingen 100 Fragen über Gegenstände der näheren und 
weiteren Umgebung und fand folgende Abstufung im Grade der Bekanntheit: 
1. Soziales (44); 2. die Heimatstadt (43); 3. Raum- und Zahlgrößen (42); 
4. Tätigkeiten der Menschen (42); 5. Naturereignisse (38); 6. Heimatliche 
Landschaft (34); 7. Märchen (33); 8. Religiöses (26); 9. Tierreich (23); 


1) Vergl. Martinak, Wesen und Aufgabe einer Schülerkunde, Heft 25, Trüper, 
Personalienbuch. 2. Aufl. Heft 84, Vincenz, Zur Analyse des kindlichen Geistes- 
lebens beim Schuleintritt, Heft 90, Weigl, Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach 
der Testmethode, Heft 111 der »Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung«. 

Die Schriftleitung. 


4. Analyse des kindlichen Vorstellungskreises. 263 





10. Pflanzenreich (20); 11. Mineralreich (10); 12. Zeiteinteilung (7). (Die 
Zahlen in Klammern deuten den Prozentsatz von Knaben und Mädchen 
an, denen die entsprechenden Begriffe bekannt waren.) Offenbar ergeben 
sich aus diesen Erhebungen Winke für die erste Arbeit der Schule, be- 
sonders für die Ausdrücke, deren Bekanntheit etwa die Fibel voraussetzen 
darf. Im allgemeinen kommen die Kinder vorstellungsarm zur Schule, 
und es gibt kaum einen Begriff, dessen Bekanntheit bei allen anzunehmen 
wäre. Wie wertvoll derartige Erhebungen für die individuelle Beurteilung 
der Schulneulinge sein können, geht daraus hervor, daß Hartmann bei 
vielen Kindern eine Übereinstimmung der späteren Leistungen mit diesen 
Anfangsprüfungen feststellen konnte. Ein Knabe, der 75 v. H. der ge- 
stellten Fragen beantworten konnte, zeichnete sich später durch seine Fort- 
schritte aus; ein Mädchen, das nur 41 v. H. brauchbare Vorstellungen 
hatte, blieb immer mittelmäßig; ein Knabe, armer Leute Kind, der nur 
12 Vorstellungen besaß, blieb immer zurück. Natürlich gibt es hier 
mannigfache Ursachen, die solche Unterschiede bewirken können, und es 
bedarf vorsichtiger Deutung; aber großer pädagogischer Wert kann den 
Annaberger Versuchen nicht abgesprochen werden. 

In derselben Richtung bewegen sich die Döbelner, Dresdener, Marien- 
taler, Weimarer und Jenenser Versuche. Bei letzteren brachte aber 
K. Schubert ein neues Element hinzu, indem er, zur Erforschung des 
Gefühls- und Willenslebens, eine Befragung der Eltern nach einem fest- 
stehenden Fragebogen anschloß. Eine weitere Vervollkommnung dieser 
Methode bildet das Personalienbuch von J. Trüper. 

Engelsperger und Ziegler haben sich bei ihren Untersuchungen 
in München auf den erweiterten Standpunkt der Kinderpsychologie ge- 
stellt und auch in der Methode die bisher üblichen Hauptfragen durch 
Nebenfragen ergänzt, da erst diese über den wirklichen Inhalt der Vor- 
stellung beim Kinde Aufschluß geben können. 

Noch energischer betont den psychologischen Standpunkt P. Lom- 
broso, die ihre Untersuchungen auf Kinder von 7—12 Jahren ausdehnte 
und die Entwicklung der Gedanken in diesen Jahren prüfte. Sie ver- 
wandte Wörter mit steigender Schwierigkeit wie Schiff, Ofen, Telegraph, 
Kalender usw. und prüfte 50 Kinder wohlhabender Eltern neben 100 aus 
ungebildeten Volksschichten. Es zeigte sich, daß alle Begriffe der Kinder 
bis zum 12. Jahr eine mehr zufällige Entwicklung zeigen. Zuerst deuten 
die Kinder die nicht verstandenen Wörter nach der bloßen Klangähnlich- 
keit. Auf einer folgenden Stufe fassen sie zufällig einzelne Eigenschaften 
des Gegenstandes auf und deuten sich dann das Ganze mit Hilfe der 
schon vorhandenen Vorstellungen, so daß oft eine ganz falsche Auffassung 
entsteht. Auf einer letzten Stufe endlich erfolgt eine allmähliche Berichti- 
gung und Vervollständigung der ursprünglichen Deutung. So wurde das 
Wort Telegraph anfangs erklärt: »Das sind die Fäden, an denen die Vögel 
hangen bleiben«; später heißt es: »es sind Fäden um zu sprechen«; und 
auf einer noch höheren Stufe: »es ist eine Einrichtung, um jemand in 
einer entfernten Stadt etwas mitzuteilen«. 

Die meisten Fehlerquellen, die noch in den genannten Arbeiten an- 


264 B. Mitteilungen. 


zutreffen waren, sind in dem »Beitrag zur Psychologie des Schulkindes« 
von H. Pohlmann vermieden worden. Dieser bot Kindern von 7 bis 
14 Jahren mit der Methode der Haupt- und Nebenfragen 10 Gruppen von 
Wörtern dar: 1. Begriffe von sinnlich-konkreten Dingen; 2. sinnlich-wahr- 
nehmbare Eigenschaften; 3. Tastqualitäten; 4. Werkzeuge und Instrumente; 
5. Stoffe; 6. Naturwissenschaftliche Begriffe; 7. Verwandtschaftsnamen; 
8. Soziale und sozial-ethische Begriffe; 9. Religiöse Begriffe; 10. Zusammen- 
gesetzte Begriffe. 

Über die Entwicklung der kindlichen Vorstellungen decken sich die 
Ergebnisse Pohlmanns zum großen Teil mit denen von P. Lombroso. 
Der Verfasser betont die Regellosigkeit und Zufälligkeit der Entwicklung. 
In bezug auf das Vorherrschen bestimmter Arten von Vorstellungen fand 
er 69®/, v. H. Individualvorstellungen, 10%/, v. H. Allgemeinvorstellungen 
und 191/, v. H. Verbalassoziationen (ohne Verständnis der Wortbedeutung). 
Auch Ziehen hatte ein starkes Vorherrschen der Individualassoziationen 
im Kindesalter gefunden. Merkwürdig ist, daß gerade die Begabteren und 
die Älteren eine größere Anzahl von Individualvorstellungen aufweisen, 
während bei den anderen Allgemeinvorstellungen, aber mehr im Sinne der 
ungenauen oder unbestimmten Auffassung, zahlreicher anzutreffen sind. 
Pohlmann schließt darum: »die Annäherung an den Typus der Er- 
wachsenen, mit einer ganz geringen Anzahl von Individualvorstellungen, 
liegt hinter dem schulpflichtigen Alter«. 

Besonders für höhere Begriffe läßt das Verständnis des Kindes alles 
zu wünschen übrig. Über Gott heißt es in diesen Schülerantworten: »der 
sieht weiß aus und hat Augen und Nase und einen Mund« oder »er fährt 
auch spazieren auf und ab im Himmel, den Wagen ziehen die Engel,« 
oder: »Gott ist alt, wohl 10000 Jahre,« oder: »ich denke, er ist so wie 
ein Mensch, aber ganz Luft,« oder: »ich denke mir das so wie Nebel«. 
Wern bessere Definitionen gegeben werden, sind sie vielfach bloß gelernte 
Wörter ohne tieferes Verständnis. 

Eine Ergänzung dieser Versuche, soweit die Sprache in Betracht 
kommt, sind die Monographien über das Kindesalter, unter denen die Auf- 
zeichnungen von Clara und William Stern über ihre eignen Kinder das 
wertvollste Beispiel bieten. Nach diesen Beobachtungen ist in einer ge- 
wissen Reihenfolge das Auftreten eines Substanz-, Aktions-, Qualitäts- und 
Relationsstadiums zu unterscheiden. Der Wortschatz eines zweijährigen 
Kindes besteht zu drei Fünfteln aus Substantiven und zu je ein Fünftel 
aus Verben und den anderen Wortklassen. 

Die angeführten Untersuchungen liefern eine Fülle nützlichen Materials 
für die Erklärung des Wesens der Vorstellung, da das Werden eines 
Dinges eher einen Einblick in sein Wesen gestattet, als wenn es uns 
vollendet entgegentritt. 

Wie diese Untersuchungen im Rahmen der psychologischen Unter- 
weisungen des Seminars didaktisch verwertet werden können, zeigt ein 
Aufsatz im Dezemberheft der »Arbeitsschule«. Die Schüler des Seminars 
orientieren sich zuerst über die vorhandene Literatur nach dem Prinzip 
der Arbeitsteilung, entwerfen dann selbst einen Untersuchungsplan und 


4. Analyse des kindlichen Vorstellungskreises. 265 


führen denselben in Einzeluntersuchungen aus. Eine Arbeitsgruppe von 
drei Schülern prüfte je ein Kind und zwar immer im Beisein der Mutter. 
Da das Beispiel Nachahmung verdient und auch unter anderen Verhält- 
nissen ähnliche Arbeiten ausgeführt werden können, geben wir im Folgenden 
nach der Zeitschrift für pädagogische Psychologie (1915) die Reihe der 
benutzten Tests. 

I. Bauen. Spielkästchen »Der kleine Schwede«. 


u. 


1. Nach freier Wahl. »Bau mal was — Was soll das sein?« 
2. Nach Vorlage. »Baue das hier!« 
Malen. Bleistift; dreiteiliges Zeichenblatt. 
1. Nach Belieben. »Male was du willst.« 
2. Nach Vorschrift. »Male nun a) einen Mann. 
b) einen Baum.« 


. Bildbetrachten. Tafel »Eichhörnchen« aus Schmeils Zoologie. 


1. Das Kind redet frei. »Sage mal alles, was du hier siehst.« 
2. Das Kind fragt. »Frage mal, was du wissen möchtest.« 
3. Das Kind antwortet auf vorgelegte Fragen über 
a) Gegenstände ... »Was ist das?« (Pfote, Nest, Eichel, Zapfen.) 


b) Tätigkeiten ... »Was tut dies Eichhörnchen? Und dies?« 
Und dies? Und dies? 
c) Eigenschaften ... Wie ist (mit malender Geste!) der Schwanz, 


das Ohr, das Nest, der Ast? 
Formenlegen und -benennen — Legekarten fürs Rechteck. 


1. Mach mal hieraus AD) A dies da 
2. Was ist dies? A ... was dies? 7] 


. Farbendecken und -bezeichnen. Farbendecktafel mit Deckblättchen. 


1. Lege mal die Blättchen so drauf, daß alles richtig paßt. 
2. Zeige mir und sage dazu: wie der Himmel ist, die Wiese, die 
Sonne, das Blut. 


. Zählen. Zählbild. 


1. Auszählen a) von gereihten Gegenständen (Osterhäschen), 
b) von gehäuften Gegenständen (Blumen), 
c) von verstreuten Gegenständen (Vögel). 
Wieviel sitzen hier Osterhäschen? ... blühen auf dem Beete 
Blumen? ... sind Vögel auf dem Bilde? 
2. Ablesen von Anzahlen. 
a) Wieviel hat das Haus hier oben Fenster? (3). 
Wieviel Kinder spielen in dem Garten? (4). 
b) Wo sind 4 Vögel beisammen? 
Auf welchem Beete stehen 3 Blumen? 
3. Zuzählen und Abzählen (Rechnen). 
Wieviel Kinder sind es 
a) wenn noch ein Junge zum Spielen kommt (4 + 1 = 5), 
b) wenn aber das große Mädel nach Hause geht (A—1==3). 
Wieviel Blumen sind es 
c) wenn jetzt das Kleine hier zwei Tulpen abpflückt (3 — 2 = 1), 
d) wenn noch 2 Knospen aufblühen (3 +2 = 5). 


266 


B. Mitteilungen. 





VII. Nachsprechen. (Unmittelbares Gedächtnis.) Vorleseblatt. 


»Sag mal alles richtig nach !« 

Ich will am frühen Morgen das Fenster öffnen (12 Silben). — Da 
seh ich draußen auf dem Simse einen Zweig liegen (14 S.) — Vor- 
sichtig mache ich das Fenster auf und nehme ihn herein (16 S.). 
Er ist von einem Blumenstock abgebrochen und herabgefallen (18 S.). 
— Ich will ihn recht behutsam einpflanzen und will sehen, ob er 
fortkommen wird (20 S.). — Also fülle ich einen Topf mit Garten- 
erde (12 S.). — Jetzt grabe ich ein Löchlein und setze den Zweig 
hinein (14 S.), — Vierzehn Tage steht er im Schatten und bleibt 
fast unverändert (16 S.). Dann aber wächst er in die Höhe und 
wird ein Busch mit roten Blüten (18 S.). — Welch ein herrlicher 
Blumenstock ist nun aus meinem kleinen Zweiglein geworden (20 S.). 


VII. Auskunftgeben. Fragenblatt; Bildtafel. 


1. Über Persönliches. 
Wie heißt du? Wann ist dein Geburtstag? 
Wie alt bist du? Was ist dein Vater? 
2. Über Ort und Zeit. 
Wo wohnt ihr? 
Durch welche Straßen bist du hierher in die Schule gegangen? 
Wie spät mag es jetzt sein? 
Heute ist doch Freitag, was war gestern, was wird morgen sein? 
Den wievielten Februar haben wir heute? 
3. Über Verkehrsleben. 
Was kostet es auf der Elektrischen? 
Wo kauft man sich Briefmarken? 
Mit welcher Straßenbahn fahrt ihr in die Stadt? 
Wer paßt auf den Straßen auf, daß nichts Böses passiert? 
4. Über Aktuelles. (Für Ostern 1915.) 
Wie sieht der Rock (der Anzug) von unsern Soldaten aus? (Feldgrau.) 
Mit wem machen sie denn Krieg? 
Wo wohnen unsre Soldaten draußen im Krieg? (Schützengraben.) 
Wie tun die Leute den Soldaten etwas Gutes? (Liebesgaben.) 
Wie hört man es gleich, wenn ein großer Sieg ist? (Extrablatt.) 
Wie sieht man es sofort an den Häusern? (Fahnen.) 
Wie sehen die Fahnen aus? 
Welche Soldaten kommen wieder herein? (Verwundete.) 
Wer ist das? (Kaiser Wilhelm.) Und wer das? (Hindenburg.) 
(Zeitschrift für pädagogische Psychologie. 16. Bd. S. 557.) 


Mit leichten Abänderungen nach Ort und Zeit würden die vorliegen- 


den Tests es gestatten, zahlreiche Untersuchungen an den Schulneulingen, 
auch unter den einfachsten Verhältnissen, vorzunehmen. Die Schule würde 
auf diese Weise einen schnellen Einblick in die Seele des Kindes ge- 
winnen und ihre Erziehungsarbeit entsprechend einrichten können. Ab- 
gesehen von den Kenntnissen allgemeiner Natur, die eine Bereicherung 
unsres Wissens von der Seele des Kindes bedeuten würden. 


d. Erleichterung der Schulpflichten und Schullasten durch Vereinfachung. 267 





5. Erleichterung der Schulpflichten und Schullasten 
durch Vereinfachung. 
Von einem Großstadtlehrer erhalten wir zu dieser Frage folgende 
beachtenswerte Zuschrift: 

»Verschwende keine Energie; verwende sie!« so lehrte und predigte 
unablässig in den letzten Friedensjahren der bedeutendste Naturphilosoph 
der Gegenwart, Wilhelm Ostwald; aber in der breiten Masse des 
Volkes fand er leider nur zu wenig Gehör und Geltung. Doch was seiner 
überzeugenden Lehre damals nicht gelang, das hat jetzt der Krieg be- 
sorgt; erst die Kriegsnot hat wirtschaftlich denken und sparsam 
haushalten gelehrt und damit Ostwalds »energetischen Imperativ« als 
eine allgemeingültige, wenn auch bisher noch nicht allgemein angewandte 
Wahrheit den weitesten Kreisen zum Bewußtsein gebracht. Zweifellos 
eine höchst wertvolle, aber teuer erkaufte Kulturerrungenschaft! 

Der Begriff Energie bedeutet nicht nur die augenblicklich wirksame 
Arbeitskraft, sondern auch zugleich ihre Quellen und die Mittel ihrer Be- 
tätigung; also umfaßt er alle Bedingungen der Arbeitsleistungen, mithin 
auch die volkstümlichste, das liebe Geld. Die Geldnot zwingt nun alle 
fürsorglichen Behörden, eindringlichst darüber nachzudenken, wie man die 
Einnahmen erhöhen oder wenigstens die Ausgaben vermindern könne, und 
indem der besorgte Blick des Kämmerers alle Posten seines Verwaltungs- 
gebietes unter diesem Gesichtspunkt durchmustert, wird er auch bei den 
Aufwendungen für Erziehung und Unterricht sinnend verweilen. 
Wie könnte man also im Schulwesen Ersparnisse machen, selbstverständ- 
lich ohne die wesentlichen Aufgaben der Schule zu beeinträchtigen? Ja, 
sogar weiter ausgreifend: Wie lassen sich die gesteigerten Auf- 
gaben, die dem Öffentlichen Unterrichts- und Erziehungswesen 
aus dem Kriege erwachsen, mit den durch die Not der Zeit ver- 
minderten Mitteln in Einklang bringen? (Für Mathematiker eine 
höchst fruchtbare Aufgabe der Maxima und Minima!) 

In diesem Zusammenhange gewinnt zunächst die stärkste Bedeutung 
eine bisher sehr vernachlässigte Schulfrage, über die sich der Leipziger 
Psychologe Dr. Brahn schon 1913 im »Tag« folgendermaßen geäußert 
hat: »Es gibt gewisse Geheimnisse, von denen die Kundigen untereinander 
reden, mit denen man aber aus hundert Gründen schwer an die Öffentlich- 
keit geht. Dazu gehört die Erkenntnis, daß Schulziel und Schulzeit 
einander nicht mehr entsprechen, daß es an der Zeit ist, das Jahr des 
Schuleintritts und Schulaustritts zu revidieren. Die Zahl der 
Kinder, die erst mit dem siebenten Lebensjahr in die Schule eintreten, 
wächst; viele Großstadtkinder sind eben mit sieben Jahren erst so ent- 
wickelt, wie Dorfkinder mit fünf Jahren. Ob nicht die viel zitierte 
»Jugendpflege« schon hier beginnen könnte? .... Die Strenge des ersten 
Schuljahres läßt .... ohnehin immer mehr nach, und das Spiel gewinnt 
an Umfang und Bedeutung; — sollte man nicht mit Erholung und Spiel 
Ernst machen? .... Unsere Volksschule wird solange nicht den Ansprüchen 
der Zeit genügen, als sie die Schüler trotz ihrer vortrefflichen Methoden 
und Lehrer nicht denken lehren kann, weil keine Methode erzeugen 


268 B. Mitteilungen. 


kann, was die natürliche Entwicklung nicht hergibt.« Das heißt 
mit andern Worten: Man beseitige also das bisherige erste Schuljahr! 

Obwohl sich die entscheidende Bedeutung der Veranlagung und natür- 
lichen Entwicklung der Kinder in jeder Unterrichtsstunde dem Lehrer 
geradezu aufdrängt, ist sie doch, abgesehen vom Mannheimer System, un- 
begreiflicherweise im Unterrichtswesen aufs ärgste vernachlässigt worden, 
und man ist entsetzt über die maßlose Kraftverschwendung und Energie- 
verwüstung bei Lehrern und Schülern, sobald man erst einmal die ganze 
Tragweite dieser Erkenntnis übersieht. Zweifellos würde die Hinauf- 
setzung des schulpflichtigen Alters um ein Jahr einen großen 
Gewinn an Volksgesundheit bedeuten und die Leistungsfähigkeit der Schule 
wesentlich erhöhen; denn nach meinen jahrzehntelangen Schulerfahrungen 
wurzelt das meiste Schulelend unserer überaus zahlreichen in der Entwick- 
lung gehemmten, blutarmen und nervenschwachen Schüler im verfrühten 
Beginn des Unterrichts. Was helfen da alle Verlegenheitsreformen! Einem 
landläufigen Einwande begegnend, sei bemerkt, daß eine sittliche Verwahr- 
losung durch Aufschiebung der Schulpflicht bei dem betreffenden Alter der 
Kinder nicht zu befürchten ist; das gefährdete Alter der sittlichen Ent- 
wicklung liegt erst oberhalb des 12. Jahres. 

Welche Ersparnis an Lehrkräften der Wegfall des bisherigen 
ersten Schuljahrs ergibt, mag eine naheliegende Berechnung zeigen. 
Berlin hat gegenwärtig 311 @Gemeindeschulen mit rund 700 Klassen 
für die 6—7 jährigen Kinder, jede mit 18 Unterrichtsstunden in der 
Woche, d. h. rund 12600 Wochenstunden im ganzen. Rechnet man im 
Durchschnitt 28 wöchentliche Pflichtstunden auf einen Lehrer, so würde 
Berlin allein durch die vorgeschlagene Schulreform genau 450 männliche 
Lehrkräfte ersparen. Aber es sind noch weitere Ersparnisse möglich, so- 
bald man sich entschließt, in den übrigen Klassen die Stundenzahl zu ver- 
mindern, was ohne jede Beeinträchtigung der Lehrziele erreicht werden 
kann, allerdings unter gewissen Voraussetzungen, die später folgen sollen. 
Wenn man nämlich in den 5 Klassen der Oberstufe, die jede vollständige 
Berliner Gemeindeschule zählt, die Stundenzahl von 32 auf 30 herabsetzt, 
in den 4., 5. und 6. Klassen aber von 28, 26 und 22 Stunden auf 26, 
24 und 20, so erspart man an jeder Schule wöchentlich 22 Stunden, an 
allen also noch rund 6900 oder weitere 250 vollbeschäftigte Lehrer; mit 
jenen 450 beträgt dann also die Ersparnis an Gemeindeschullehrern in 
Berlin allein wenigstens 700. Bei der Einführung einer entsprechenden 
Schulreform im ganzen Reiche würde eine ganz gewaltige Ersparnis an 
Volksschullehrern möglich sein, und diese ist leider eine dringende, 
zwingende Notwendigkeit geworden. Welche entsetzlichen Kriegsverluste 
hat doch gerade der Volksschullehrerstand erlitten und ebenso sein. Nach- 
wuchs, die ruhmvollen Zöglinge der Lehrerseminare! Wieviele Lehrer, die 
jetzt nur noch die vaterländische Pflicht mit gebrochenen Kräften ihr Amt 
verwalten heißt, werden nach dem Kriege sofort in den Ruhestand treten 
müssen, wieviele Kriegsverletzte ihren Lehrberuf nicht mehr ausüben 
können! Dazu kommt noch der starke Bedarf an Auslandslehrern, 
der baldigst gedeckt werden muß, wenn wir unsere Kriegserfolge ausnützen 


5. Erleichterung der Schulpflichten und Schullasten durch Vereinfachung. 269 





wollen. Es wäre auch das größte Unglück für unsere Volkserziehung, 
wenn dieser Krieg etwa zu einer fortschreitenden Verweiblichung unseres 
Schulwesens führen sollte; denn mehr als jemals brauchen wir jetzt klar- 
denkende, tatkräftige Männer im Unterricht, und mehr als uns gut war, 
hat man früher bei uns den verweiblichten englisch-amerikanischen Schul- 
vorbildern gehuldigt. 

Indem wir den Beginn der Schulpflicht um ein Jahr hinausschieben 
und damit die Schulzeit auf sieben Jahre verkürzen, erreichen wir also 
gleichzeitig zwei höchst wertvolle Hauptwirkungen, nämlich eine Entlastung 
der Kinder nebst einer Verbesserung ihrer Leistungsfähigkeit und zugleich 
die notwendige Ersparnis von Lehrern; wir werden also billiger und dabei 
besser wirtschaften. 

Sollten aber bei Ausführung dieser Vorschläge nicht doch die 
Bildungsziele der Volksschule durch die Beschränkung der 
Schulzeit Schaden erleiden? Keineswegs; in der Beschränkung zeigt 
sich erst der Meister! Das war ja der größte Schade in unserm gesamten 
Schulwesen, daß seine Einrichtungen und seine Lehrpläne vor allem durch 
Herkommen und Überlieferung beherrscht wurden. Der Krieg hat nun 
glücklicherweise einen Bruch mit dem Herkömmlichen bewirkt und die 
zweckmäßig arbeitende Vernunft ans Werk gerufen. Wir müssen den 
überlieferten und täglich neu hinzukommenden Bildungsstoff sichten unter 
den leitenden Vernunftbegriffen des Wesentlichen und Wertvollen, des 
Notwendigen und Entscheidenden; dann werden wir die Volksschul- 
bildung verbessern, indem wir sie vertiefen. Die zweckmäßigste 
Auswahl des Kulturgutes, das unsere Volksschule ihren Schülern bieten 
soll, zu treffen, also die Vereinfachung des Wissensstoffes, wäre eine Auf- 
gabe für die ersten Gelehrten unseres Volkes. Eine Verkürzung der 
Schulzeit auf 7 Jahre ohne Herabsetzung der Schulziele erfordert weiter- 
hin ein sorgfältig abgestuftes Lehrverfahren; außerdem darf aber 
der Volksschulunterricht nichts vorwegnehmen, was den daran ange- 
schlossenen Berufs- und Gelehrtenschulen vorbehalten bleiben muß. Diese 
sollen in der zu erstrebenden Einheitsschule mit der Volksschule organisch 
verbunden werden; eine Verlängerung der allgemeinen Schulpflicht über 
das 14. Jahr hinaus wird dadurch überflüssig. 

Aber noch in einer anderen Richtung ist eine reinliche Scheidung 
nötig. Die Hauptaufgabe der Schule als Unterrichtsanstalt ist die plan- 
mäßige Vorstellungsbildung, nichts anderes. Nun hat aber, besonders 
durch den Krieg, daneben die Ausbildung der Körperkräfte eine gesteigerte 
Bewertung erlangt, so daß ihr eine größere Selbständigkeit im Erziehungs- 
plane zukommen sollte. Es wäre deshalb jetzt an der Zeit, eine grund- 
sätzliche Trennung der Leibesschulung von der Geistesschule 
durchzuführen, nach den Vorschlägen, die schon vor mehreren Jahren der 
städtische Oberturnwart Dr. Luckow in Berlin überzeugend begründet 
hat. Die gesamte Körperausbildung und Gesundheitspflege der deutschen 
Jugend dürfte aber am sichersten erreicht werden, wenn sie sachgemäß 
dem Kriegsministerium unterstellt würde. Die notwendige Zeit für die 
Leibesübungen gewinnt man durch die angegebene Verminderung der 


270 B. Mitteilungen. 


ó 





Schulstunden, wodurch jeder Nachmittagsunterricht wegfällt. Dafür müßte 
aber auch der Konfirmandenunterricht durchweg auf den Nachmittag ver- 
legt werden. Bei solcher Zeiteinteilung, vormittags 5 Stunden Schule, 
nachmittags Turnen, Wandern, Leibesübungen mancherlei Art, auch Kon- 
firmandenunterricht, ist auch für die Erziehung der älteren Kinder am 
zweckmäßigsten gesorgt, die einfachste, billigste und beste Jugendpflege. 

Die Vorschläge haben den Vorzug, daß sie stückweise sofort ins 
Werk gesetzt werden können. Man braucht zunächst bloß im Jahre 
1916 keine »Schulrekrutene aufzunehmen und hierauf von 1917 ab ganz 
ohne Erschütterung des Bestehenden das neue Schulsystem von unten her 
aufzubauen. Die Lehrer- und Geldersparnis stellt sich sofort 
ein, ebenso die dringlich nötige Verbesserung der Arbeits- 
bedingungen unseres jetzt notleidenden Unterrichts. Allerdings 
erfordert die völlige Durchführung dieser Vorschläge eine neue, gründliche 
und tiefeinschneidende Schulgesetzgebung. Aber glaubt heute jemand, 
man könne die eisernen Notwendigkeiten der Zeit etwa ohne kräftige Neu- 
ordnungen meistern? Und wann arbeitete die Gesetzgebung jemals schneller 
und gründlicher, großzügiger und umfassender, als in der Kriegszeit? Man 
versäume also nicht die Gelegenheit. »Eine Gunst ist die Notwendigkeit.«!) 

Richard Schauer. 


6. Jugendliche Kriegsdichter und Heldenkinder. 
Von M. Kirmsse, Anstaltslehrer in Idstein i, T. 


Der dem Deutschen Reiche und seinen Verbündeten von einer Meute 
von Feinden aufgezwungene Riesenkampf um Freiheit, Ehre und Vaterland, 
hat nicht nur das deutsche Volk zum Kampfe mit eiserner Wehr aufge- 
rufen, nein, auch der deutsche Geist flammte so mächtig empor, wie noch 
selten in einem Ringen um die höchsten Erdengüter. Es ist hier nicht 
der Platz, zu untersuchen, wie dieser eherne Geist Lutbers, Goethes, 
Schillers, Bismarcks usw., die Welt bezwungen hat, und noch fort- 
während Taten schafft, die bis in die fernste Zukunft Bewunderung aus- 
lösen werden, es sei hier nur an die deutsche Kriegsdichtung von 1914 
und 1915 erinnert. 

Prof. A. Biese kennzeichnet die gewaltige Zeit folgendermaßen: 
»Nimmer hat der Kriegsgott, als größter Dichter des Lebens, ein so ge- 
waltiges Heldengedicht geschaffen, wie wir es jetzt mit bebenden Herzen 
erleben. Es ist daher kein Wunder, wenn die Zeit, mit ehernem Munde 
von unerhörten Taten kündend, einen Widerhall bei Tausenden weckte 
und diese sich nun berufen fühlen, den Empfindungen und Gedanken, die 
ihnen, wie aller Welt, Herz und Hirn durchbrausen, in Gedichten Aus- 
druck zu leihen.«?) Die Millionen von Kriegsgedichten,?) die zurzeit in 





1) Vergl. »Die Philosophie der Notwendigkeit,« Päd. Zeitung, 1915, Nr. 3 u. 4. 
2) A. Biese, Poesie des Krieges. Berlin 1915. S. 21—22. 
3) Von den vielen — allzuvielen — Kriegsgedichten sind allerdings die meisten 
ungedruckt geblieben. Aber trotzdem sind alle Zeitungen und Zeitschriften bis heute 
noch voll davon. Sie zu sondern und zu sichten, das Beste von ihnen zu sammeln,. 


6. Jugendliche Kriegsdichter und Heldenkinder. 271 





unserem deutschen Volke klingen, sie sind nur der Wiederhall dessen, 
was bereits vor langen Jahren Ernst von Wildenbruch, der Sänger 
von 1870, in Verse gegossen hat: 


»Ein Volk, das seine Taten nicht besänge, 
Es wäre halb nur seiner Taten wert.« 1) 
und 
»Der Glücklichste, wen Taten so entzünden, 
Daß trunken sich in ihm die Seele regt, 
Daß er’s im Lied der Nachwelt kann verkünden, 
Was seines Volkes Herzen einst bewegt.«?) 


Wundern wir uns also nicht, wenn Tausende die Heldentaten unseres 
Volkes besingen, sie können gar nicht anders. Trotz der gewaltigen Ernte 
von Kriegspoesie, wollen wir uns dennoch keiner Täuschung hingeben, 
daß alle diese Hunderttausende von Strophen nun alle echte und wahre 
Poesie seien. Das ist durchaus nicht der Fall. Besseres) wechselt ab 
mit Geringerem, zwischen vollwertigen Perlen finden sich auch viele wert- 
losen Reimereien; indessen was schadets? 

Das, was uns im Rahmen unserer Zeitschrift für Kinderforschung an 
der Weltkriegspoesie interessiert, sind die Leistungen jugendlicher 
Dichter, von denen einige ebenfalls im deutschen Sängerwalde vertreten sind. 

Da es unmöglich ist, die betreffenden jugendlichen Dichter hier psy- 
chologisch zu analysieren, so beschränken wir uns auf die Wiedergabe der 
in Frage kommenden Gedichte mit beifolgenden Bemerkungen, soweit sie 
jetzt gegeben werden können. 

Wie die Erwachsenen von dem Ausbruche des Weltkrieges und seinen 
aufregenden Wechselfällen, seelisch stark erschüttert wurden, so ist dies 
natürlich auch beim Kinde in einem besonderen Maße der Fall. Freilich, 
beim Kinde finden so gewaltige Eindrücke, wie sie die gegenwärtige Zeit- 
epoche hervorbringt, nicht immer den gleichen Resonanzboden wie beim 
Erwachsenen. Das Kind, das” noch ein werdendes Wesen darstellt, und 
somit seinem größeren Teile nach voll in der Gegenwart lebt, im Gegen- 
satz zum Erwachsenen, der in dem jetzigen Zustande nur die im Ent- 
stehen begriffene Grundlage einer noch nicht sicher erkannten Zukunft 
sieht, empfindet darum auch die Schwere des Schicksals nur soweit, als 
sich dieses für ihn unangenehm bemerkbar macht. Daß selbstverständlich 
auch dem Kinde von Erwachsenen suggerierte Vorstellungen und Gedanken- 
reihen — einerlei ob heiterer oder tragischer Art — Gelegenheit bieten, 


damit es der Nachwelt erhalten bleibe, wird keine kleine Aufgabe sein. Bis zum 
Herbst des Jahres 1915 liegen bereits über 300 Sammlungen von Kriegsgedichten 
vor, teils Schriften einzelner Dichter, teils Zusammenstellungen in allen möglichen 
Gruppen. Wenn nat je ein Volk eine solche Begeisterung entwickelt! 

1) Prof. Dr. R. Weißenfels, Deutsche Kriegslieder und vaterländische Dich- 
tung. Göttingen .915. 8. 72. 

2) Deutschland sei wach! Vaterländische Gedichte von E. v. Wildenbruch, 
gesammelt von Maria v. Wildenbruch. Berlin 1915. 8. 8. 

®) Insbesondere finden sich namentlich auch in den Dichtungen der deuischen 
Frauenwelt hervorragende Werte. 


272 B. Mitteilungen. 


sich entsprechend zu äußern, ist natürlich. Heitere Momente beeinflussen 
die kindliche Seele nachhaltiger, weil eindrucksvoller für sie, als tragische 
Ereignisse, die bald überwunden werden. Ausnahmen bestätigen auch 
hier die Regel. 

Infolge ihrer, auf das Sinnliche gerichteten Aufmerksamkeit werden 
Kinder darum nur selten die gebundene Sprache als Ausdruckform ver- 
wenden, es sei denn, daß sie durch besondere Anregungen veranlaßt 
werden; die so entstandenen Reimereien sind jedoch nicht als ein inneres 
Erleben des Dargestellten zu bewerten, und mithin ohne Belang für die 
Beurteilung dichterischer Qualitäten. Fast jeder zweite oder dritte ge- 
bildete Mensch ist heute in der Lage seine Gefühle in Versen auszu- 
sprechen, sofern er in die dazu notwendige Stimmung gelangen kann. 
Aber auch seine Reimereien entbehren dann noch immer des intimen 
Reizes, der die poetische Kunst des echten Dichters ausmacht. 

Ähnlich verhält es sich mit der dichterischen Produktion des Kindes. 
Auch hier sind vielleicht viele berufen, aber nur wenige auserwählt. Und 
selbst die Wenigen, die der Weltkrieg zu Dichtern gemacht hat, sind nicht 
als Wunderkinder im engeren Sinne des Begriffes anzusprechen, wie 
etwa die jugendliche Berliner Dichterin Auguste Schidlof,!) deren 
dichterischer Fähigkeit zwar Grenzen gezogen sind, oder die vor hundert 
Jahren lebende, ungleich größere deutsch-russische Poetin Elisabeth 
Kulmann?) in Petersburg, der selbst ein Goethe Beifall zollte. Wenn- 
gleich ihnen Phantasie und Empfindsamkeit in hohem Maße eigen sein 
mögen, ihr Talent hätte sich auch ohne die alles mit sich reißenden 
Fluten des Weltkriegtheaters Bahn gebrochen, sofern es das Mittelmaß 
überragt hätte, 

Bisher sind uns drei jugendliche Dichter, zwei Knaben und ein 
Mädchen, bekannt geworden, von denen allerdings nur je ein Gedicht im 
Druck erschienen ist. Läßt sich aus dieser geringen Ausbeute auch noch 
kein bestimmter Grundsatz in bezug auf das Talent der betreffenden Kinder 
ableiten, so gewährt sie doch immerhin einen Einblick in das Denken 
und Fühlen dieser Kriegsdichter, die dennoch gewisse Typen vertreten. 

Das jüngste der drei kindlichen Kriegsdichter ist ein siebenjähriges 
Mädchen, Kätchen Glas, in Danzig. Das von ihr verfaßte Poem fand sich 
zuerst gedruckt in der »Berliner Morgenpost«, und hat folgenden Wortlaut: 


Gebet eines Kindes. 
»Ich bitte dich, du lieber Gott, 
Schon’ unser Volk in Kriegesnot. 
Send’ deine lieben Engelscharen, 
Daß sie die Heimat uns bewahren, 
Und heiße sie die Flügel breiten 
Über alle Soldaten, die tapfer streiten. 


1) Knospen. Gedichte eines Kindes. Berlin (1910). 

2) 1808—1825. Vergl. K. F. v. Großheinich, Sämtliche Gedichte von 
E. Kulmann. 2 Bde. Leipzig 1835. 8. Aufl. 1857. — E. Lanprecht, E. Kul- 
mann. Biographische Skizzen mit Proben aus den Gedichten. Zwickau 1867. — 
F. Miltner, Dichtungen von E. Kulmann. Heidelberg 1875. 


6. Jugendliche Kriegsdichter und Heldenkinder. 273 





Gib auch auf unsern Vater acht, 

Denn er kämpft treu für Deutschlands Macht. 
Siehst du am Himmel Zeppelin fliegen, 

So hilf ihm doch, damit wir siegen. 

Zum Schlusse nimm meinen Dank noch hin, 
Daß ich ein deutsches Mädchen bin !«!) 


In der, das Gedicht begleitenden Notiz wird versichert, daß die kleine 
Patriotin das Gedichtchen selbständig verfaßt habe, Es ist aus echt kind- 
lich-weiblichem Empfinden heraus entstanden. Die Kleine empfindet die 
Not des Vaterlandes vom Standpunkte der Heimat, der allernächsten Um- 
gebung, so auch in der Sorge um den im Felde kämpfenden Vater. 
Kriegerische Instinkte wohnen ihr nicht inne, wenngleich sie an einem, 
am Himmel fliegenden Zeppelin ebensoviel Freude hat, wie die im soldati- 
schem Geiste sich wohlfühlende Knabenschar. Eine gewisse Eitelkeit, um 
nicht zu sagen Stolz, gewährt ihr der von ihr klar umschriebene Umstand, 
als ein Glied des großen deutschen Vaterlandes sich zu sehen. 

Zweifellos in militärischen Anschauungen aufgewachsen, und nament- 
lich zur Kriegszeit völlig in ihnen lebend und webend, erweisen sich die 
Verse des adeligen Knaben E. von Katinszky: 


Gedicht eines I13jährigen Jungen. 


Wir lassen uns nicht unterkriegen, 
wir siegen! 
Herbei, ihr Feinde all, ihr frechen, 
wir rächen! 
Ihr Gegner all sollt unterliegen, 
wir fliegen! 
Wir kämpfen um gerechte Sachen, 
wir lachen! 
In uns ist frohes, mut’ges Klingen, 
wir singen! 
Russen, Franzosen, Engländer, Serben — 
wir erben! 
Mit Lüttich haben wir begonnen — 
gewonnen! 
Was kämpft ihr gegen uns?! Welch Spott! 
; Wir sind »Mit Gott!«?) 

Viel Beachtung gefunden hat ein Gedicht, das der Obertertianer Rein- 
hold S. in Charlottenburg, zum Gedächtnisse seines in Ostpreußen ge- 
fallenen Lehrers verfaßt hat: 

Für uns! 
»Fern, ferne im Osten da gähnt ein Grab; 
Da senkt man zu tausend die Toten hinab 
Für uns! 


1) Abdruck nach der Gedichtsammlung: Für Heimat und Herd. Lieder ge- 


sammelt von Dr. Hugo Kühl. Kiel (1915). S. 35. 
2?) Das Volk in Eisen. Kriegsgedichte d. Täglichen Rundschau. Berlin 1914. 8.51. 


Zeitschrift für Kinderforschung. 21. Jahrgang. 18 


274 B. Mitteilungen. 





Im Westen da ragt manch Kreuz schlicht und klein, 
Da liegen sie stumm in langen Reih’n 
Für uns! 
Und wo im Winde rauschet das Meer, 
Da gaben sie freudig ihr Leben her 
Für uns! 
Sie opferten Zukunft und Jugendglück, 
Sie kehren nie wieder zur Heimat zurück 
Für uns! 
Sie gaben ihr alles, ihr Leben, ihr Blut, 
Sie gaben es hin mit heiligem Mut 
Für uns! 
Und wir? Wir können nur weinen und beten 
Für sie, die da liegen bleich, blutig, zertreten 
Für uns! 
Denn es gibt kein Wort, für das Opfer zu danken, 
Und es gibt keinen Dank für sie, die da sanken 
Für uns! ’), 


Der im angehenden Jünglingsalter stehende Knabe schwelgt nicht 
mehr in den Phantasien der deutschen Jugend, träumt nicht mehr von 
Kampf und Sieg des täglichen Soldatenspiels, sondern seine Gedankenwelt 
beschäftigt sich eingehend mit der Tragik des Krieges, wie sie ihm durch 
den Heldentod des von ihm verehrten Führers und Lehrers nahegetreten 
ist. Er weiß, welchen Verlust ihm der unerbittliche Tod zugefügt hat, 
und er läßt seinen Schmerz und seine Trauer in Versen klingen, die nicht 
nur tief empfunden, sondern die zugleich auch einen Schluß zulassen, wie 
der jugendliche Poet sich mit den schweren Ereignissen der Zeit, die so 
unendlich tief in das Menschenschicksal eingreifen, abfindet. Auch in 
dieser Hinsicht dürfte das Gedicht als bemerkenswert zu bezeichnen sein. — 

Heldenkinder hat der Weltkrieg mehrfach gezeitigt. Auch hier 
sind beide Geschlechter beteiligt, und es ist schwer, zu entscheiden, 
welches Heldentum größer ist: das der jugendlichen galizischen Samariterin 
oder das des, von den Kosaken gemarterten, ostpreußischen Ansiedler- 
knaben. 

Dieser letztere, dessen Name nicht bekannt ist — und der sicher 
noch mehrere Leidensgefährten haben dürfte —, ist in seinem Empfinden 
und Denken treffend geschildert in einem Gedichte von Kurt Münzer,?) 
das, in Ermangelung weiterer Nachrichten, hier stehen möge: 


Die Kosaken. 


»Die Mutter rissen sie vom Herd. Das Schwesterchen schlief 

Einer warf sie über ein Pferd. Im Kinderbett süß und tief 

Dann sind sie im Walde verschwunden — | Und erwachte nicht, als die Lanze sie traf, 
Ich hab sie nie mehr gefunden. — | Und starb im Schlaf. — 


1) Biese a. a. O. 8. 77—78. 
2) Taten und Kränze. Lieder zum Kriege 1914. Orplidbücher Nr. 13. Berlin- 
Charlottenburg. S. 56—60. 


6. Jugendliche Kriegsdichter und Heldenkinder. 275 





Der Vater, der Vater — Sie haben Stümpfe, Stümpfe, o du mein Gott, 

Den Vater lebendig begraben! Stümpfe, der Schöpfung Spott! 

Sie hatten die Kette vom Hund gefunden | Vater im Himmel, wo warst du? 

Und mich damit an die Tür gebunden. Vater, wozu gebarst du 

Und ich habe alles mitangesehn. Die Menschen? — 

Ich schrie, sie ließen mich schreien und Du verhüllst dein Gesicht 
flehn Und erbarmst der Kinder dich nicht. 

Und stießen mich, schlugen und zwickten, | Arme, Herrgott, sieh sie dir an! 

Die Offiziere lachten und nickten. Arme, und keine Hände sind dran! 

Und dann — fanden sie die große Säge. ... | Stümpfe, Stümpfe hebe ich! 

Wozu lebe ich? 

Es regnete, es stürmte, es war Nacht, | Hilfloser als Tier und Kind, 


Da bin ich erwacht: Entsetzlicher als taub, lahm, blind. 
Still wie der Tod war die Welt, Meine abgesägten Hände klagen! 

Es klatschte um mich wie ein Zelt, Gott laß tagen! 

Ich sah alle Schrecken zumal, | Ich lebe und meine Hände vermodern 
Die unsagbare Qual, | Und Äcker verfaulen, Dörfer lodern, 
Der Welt furchibares Ende Gebet wird Fluch! Vater droben, 
Und hob flehend die Hände ... Ich will — ich will dich loben! —« 





O! o! wo waren meine Hände? 


Ein Heldenkind, in dem das weibliche Empfinden des Mitleids voll 
zum Ausdruck kommt, ist die 12jährige galizische Samariterin Rosa 
Zenoch, die Tochter eines armen Kleinhäuslers aus dem Dorfe Byala. 
Im Gegensatz zu ihrer tapferen Vorgängerin aus den Freiheitskriegen, der 
Jungfrau Johanna Stegen in Lüneburg, die 1813 den, gegen die Fran- 
zosen kämpfenden Infanteristen, im Kugelregen Munition zutrug, brachte 
das ebenso mutige Polenmädchen in den Kämpfen bei Rawaruska gegen 
die Russen im Herbst 1914, inmitten des heftigsten Granatenfeuers, den 
österreichischen Soldaten Wasser zur Labung. Bei dieser hilfreichen Tätig- 
keit wurde sie von einem Schrapnell am linken Fuß so schwer verletzt, 
daß dieser bereits auf dem Transport nach Wien, oberhalb des Knöchels 
abgenommen werden mußte. Kaiser Franz Joseph spendete dem Kinde 
ein goldenes Halsband mit Anhänger für ihre aufopferungsvolle Tat, und 
ließ nicht nur der Mutter 1000 Kronen reichen, sondern wird auch weiter- 
hin für die Heldin sorgen. Die Mutter ist dem Kinde erhalten geblieben, 
hingegen fehlen von dem Vater und zwei Geschwistern jegliche Nach- 
richten. Ein Bruder ist im Kriege. In den furchtbaren Kämpfen ist das 
Heim der Familie zerschossen und zerstört worden, so daß Rosa Zenoch 
mit ihrer Mutter vorläufig eine Heimat in Wien fand. 

Um ihrer Barmherzigkeit willen ist das Mädchen zur Märtyrerin ge- 
worden. Unbekümmert um die singenden Kugeln trug sie namentlich den 
Verwundeten mit atemlosen Eifer Wasser zu und pflegte sie mit ihren 
schwachen Kräften, bis sie selbst schwer verwundet wurde. Ihr heroisches 
Wirken verdient deshalb mit Recht in der Kriegs-Kinderseelenkunde ver- 
merkt zu werden. Zwei Gedichte, die ihr Heldentum besingen, mögen 
hier ebenfalls folgen, von denen namentlich das erstere dem seelischen 
Zustande des tapferen Mädchens gerecht zu werden sucht. 

18* 


276 B. Mitteilungen. 


1. Rosa Zenoch. 
Von Moritz Heimann. 


»Wasser, die treuen Kämpfenden zu laben, 

Trug das furchtlose Mädchen in den Graben. 
Unermüdet sind ihre zarten Glieder, 

Unerschüttert, so geht sie hin und wieder, 

Schöpft in den grauen, steinernen Krug des Armen 
Küblendes Naß und ihr segnendes Erbarmen. 

Und so bückte sie sich hin zur Strudelquelle, 

Ruht beim Schauen und wendet sich in Schnelle, 
Schon den Krug zur rechten Hüfte erhebend, 
Schon auf dem linken Arm kindlich schwebend. 
Doch da kommt es durch die Lüfte gewettert, 
Springt in Splitter, streut sich und trifft und schmettert. 
Ist sie durch Gewölke hingesunken, 

Süß vom Schmerzensrausche des Himmels trunken? 
Ohnmacht will die Sinne ihr übergießen, 

Doch sie sieht es noch aus dem Kruge fließen: 
Wasser! und es versickert nicht im Sande, 

Singend wallt es dahin im blassen Lande, 

Wird zum Bache und zum Strome, und ihn gürten 
Todesweiden, ach, und die Lebensmyrthen. 

Jenseits, drüben, aber kaum noch im Raume, 

Teilt sich der Strom vor einem dürren Baume: 

In dem Himmel ästet die tote Wildnis, 

Doch am Stamm hängt ein dorngekröntes Bildnis. 
Und die Wasser — Helferin, schlafe! — umkreisen 
Rauschend den Baum und werden die Wurzeln speisen, 
Bis der erneute die erneute Welt 

Wipfelbrausend und kühl im Schatten hält.«!) 


2. Rosa Zenoch. 


»Rawaruska brennt. Rauch rings und Blut 
Und Blut und Rauch und lodernde Glut. 

Die Hölle zerbirst mit Donner und Blitz, 
Und hoch hat die flammende Sonne den Sitz. 
Aufwogend im Feuer ein kochendes Meer 
Von Russengeschwadern wälzt sich daher. 
Halb Österreich wirft sich mit Eisengewalt 
Wider die Brandung, die jäh zerprallt. 

Und wieder und wieder, voller geschwellt, 
Braust an die Flut und — bricht und fällt. 
Der Sturmlauf zerstäubt und der rasende Ritt 
Wie Gischt und Schaum am Strandgranit. 
Stark trotzen die Mauern. Doch lechzend heiß 


!) (Dr. R. Krauß), Deutscher Heldentod. Gedichte vom Upfermut im Felde 
und daheim. Stuttgart (1915). 8. 50—51. 


6. Jugendliche Kriegsdichter und Heldenkinder. 277 


Liegen die Braven in Durst und Schweiß. 

»Hilf, Himmel, daß nicht uns der Feind entrafft, 
Eh wir siegen, die letzte, verdorrende Kraft!« — 
Nie vor dem Höchsten verhallt ein Gebet. 

Mitten im Schlachtlärm, lockig umweht, 

Lächelnd empor taucht ein Kindergesicht, 
Furchtlos, umleuchtet von Herrgottslicht. 

Ein flätternd Gewändlein, schlicht und arm, 
Schwingt durch die Reihen von Schwarm zu Schwarm. 
Schwer schwebt ein Eimer um Schenkel und Fuß. 
Freundlich würzt jeden Trunk ein Gruß. — 

Wer sandte die Kleine, kugelumdroht, 

Helfend herein in die steigende Not? — 

Wer ist der Engel, durch dessen Hand 

Der schreckende Schatten des Todes schwand ? 
Rosa Zenoch heißt die Huldgestalt. 

Zwölf Jahre kaum ist das Mädchen alt, — 

Zu jung noch zum Sterben. »Wir bitten drum: 
Rette dich, Kind! Kehr um! Kehr um!« — 
Schon klirrt und klafft ihr metallen Geschirr. 
Scharf saust ihr ums Ohr ein zischend Geschwirr. 
Ein bohrend Gebrumm jetzt, ein Krach, ein Schrei, 
Ein Sturz, — Rosa Zenoch mit dabei. — — 

Spät steht der Kampf. Von Trägern erschien 
Trottend ein Trupp. — — Im Zug nach Wien — 
Die Blätter erzählens landaus, landein — 

Nahm ab man das zarte, zerschossene Bein. 

Und — der Kaiser vernahm’s. Mit rührendem Dank 
Eine goldene Kette, glitzernd blank, 

Eine goldene Kette sandte zum Lohn 

Der Heldin der Hütte der Herr vom Thron. — 
Bein glänzt die Kette. Doch Gold auch zerstiebt. — 
Rosa Zenoch, du bleibst übers Grab geliebt, 

Und ein Ehrenmal, schöner als Stein und Erz, 
Baut und bewahrt dir Östreichs Herz.«') 


* * 
* 


Bemerkt sei noch, daß Prof. Dr. W. Stern, der bekannte Breslauer 
Kinderpsychologe, in Verbindung mit einer Reihe von Mitarbeitern, ein 
Werk geschaffen hat, das unter dem Titel: Jugendliches Seelenleben 
und Krieg, im Verlage von J. A. Barth in Leipzig erscheint. Es ist 
insofern wichtig, als in ihm eine bedeutsame Frage der Jugendkunde dar- 
gestellt wird, nämlich, wie die ungeheuren Eindrücke des Weltkrieges auf 
das Seelenleben des Kindes und der Jugendlichen überhaupt gewirkt haben 
und wirken. In dieser Sammlung sind Zeichnungen, Gedichte und Auf- 
sätze über Kriegsthemen zusammengestellt und daneben auch psycho- 


1) Chr. Schmitt, Zu Kampf und Sieg. Kriegsgedichte eines Elsässers. 2. Aufl. 
Straßburg i. E. 1915. S. 64—65. 


278 B. Mitteilungen. 





logisch gewürdigt worden. Die Stärke und Art der kindlichen Kriegs- 
interessen, ihr Verständnis für die Ereignisse, die Gemütsbewegungen, die 
Unterschiede der Geschlechter, Alterstufen und Schultypen finden ein- 
gehende Berücksichtigung.) 


7. Kriegsausstellung der Budapester Kommunal- 
schulen. 

Zu Weihnachten wurde eine durch die hauptstädtischen Kommunal- 
schulen in Verbindung mit der Ungarischen Gesellschaft für Kinderforschung 
veranstaltete Kriegsausstellung eröffnet. 

Das wertvollste Material bildet die pädologische Abteilung, worüber 
folgende zwei statistische Tabellen Auskunft erteilen. 


Tabelle I. Zeichnungen der Schüler. 





























Volksschulen Bürgerschulen Höhere Real- 
EREE — > Töchter- Kamen 
Knaben | Mädchen | Knaben | Mädchen | schulen 

Kämpfe in Schützen- 

gräben . a . . 10 — 9 -- — 1 
Soldatengräber . . 10 5 Sämtliche | Sämtliche 1 1 
Wachdienst . . . 10 _ — — 1 
Vorpostendienst . . 10 — 9 — =- 1 
Kämpfe. . . . . [Sämtliche -- Sämtliche — — 1 
Illustrierte Zeich- 

or: | Sämtliche 5 9 4 —- 1 
a) Kopierungen 
b) Kompositionen 
Symbolische Bilder . 10 5 9 4 -— 1 
Flugmaschinenpläne | 

und Profile. . .| Sämtliche — Sämtliche | — € — 1 
Militärausrüstungs- | 

Objekte . - _ 1 | — — 1 
Karikaturen . . . f Sämtliche — 9 — — 1 
Sanitätswesen . . . — 10 — 4 — — 


Außer den verschiedenen Zeichnungen, Bildern, Handarbeiten und 
selbstgefertigten Gegenständen zierten neun Graphikons die Wände, worin 
Lad. Nagy seine Ergebnisse zusammenfaßt, die er auf Grund der Daten- 
sammlung in Ungarn über die Umfrage: Die Auffassung des Kindes über 
den Krieg, verarbeitete. 


1) Das oben genannte Werk Sterns ist inzwischen als 12. Beiheft zur Zeit- 
schrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung erschienen. 
S. 22—56 enthält es weitere »Kriegsgedichte von Kindern und Jugend- 
lichen«. Der Preis beträgt geheftet 5 M, gebunden 5,80 M. — Über ähnliche 
Schriften werden wir demnächst berichten. — Nachträgliche Bemerkung anläßlich 
der Korrektur. K. 


7. Kriegsausstellung der Budapester Kommunalschulen. 279 





Tabelle I. Schriftliche Arbeiten der Schüler. 





Volksschulen Bürgerschulen | Höhere | Höhere 

















= ———— I ————[Mädchen-[Handels- u: 
Knaben |Mädchen| Knaben [Mädchen] schulen | schulen 

Über die Ursache des | 

Kriegs . . . . 6 3 6 5 2 2 2 
Über die Wirkung des 

Krieges . 2 9 6 3 2 2 2 
Pflichten im Kriege. 6 10 1 Sämtl. —_ — — 
Gedanken über den 

Krieg 7 14 | Sämtl. | Sämtl — — 
Foianden. über den 

Krieg. . 9 2 Sämtl. 9 2 1 1 
Geschichten über den | 

Krieg 6 14 | Sämtl. | Sämtl 2 2 2 
Über Triegaipiele 3 _ 4 = = = 
Briefe auf dem Kriegs- 

schauplatz . . 2 — — 1 — = = 
Hilfsarbeiten der 

Mädchen im Kriege 4 2 _ Sämtl. 2 _ _ 
Hilfsarbeiten der 

Knaben im Kriege 4 — 3 — — — = 
Wohlfahrts- 

institutionen — 2 2 | Sämtl. 2 — — 
Offenbarungen der 

Phantasie . . .| — 2 1 6 _ — -- 
Zukunftspläne der | 

Kinder . 2 2 — | — — = = 
Über Soldatenleben . | Sämtl. | — |Sämtl. | — _ _ = 








Von besonderem Interesse ist die Gruppe der Pfadfindervereine der 
Schuljugend, die ein überaus reiches Material über deren Tätigkeit im 
Kriege umfaßt. 

Die Kinderbewahranstalten sind gleichfalls mit entsprechenden Sächel- 
chen vertreten, als beredte Beweise dessen, daß auch die Kleinkinderchen 
eine blasse Idee von den Weltereignissen besitzen. 

Jugendbücher, pädagogische Schriften und ansonstige Lehrgeräte, die 
in engster Beziehung zum Krieg stehen, liegen in großer Anzahl auf. 

Im Zusammenhang mit der Ausstellung werden Vorträge über zeit- 
gemäße Themen von L. Nagy, E. Weszely, L. Nögrädy, Magistratsrat 
G. Demjén und anderen gehalten. 

Budapest. K. G. Szidon. 


8. Psychische Indisposition bei Rachenmandel- 
entzündung. 


Bei einem Schüler der hiesigen Mittelschule war nach Ostern eine 
andauernde Abnahme der Aufmerksamkeit festzustellen, eine Erscheinung, 
die im Gegensatz zu der geistigen und körperlichen Beschaffenheit des 
Kindes stand. Oft wurde der Kleine von einer plötzlich auftretenden 
Müdigkeit übermannt, seine geistige Regsamkeit nahm ab, die Leistungs- 


280 B. Mitteilungen. 





fähigkeit litt. Der Gesichtsausdruck ließ auf eine Veränderung irgend 
welcher Art schließen. Auch der Knabe mußte seine zeitweise Geistes- 
abwesenheit geahnt haben und suchte sich mit aller Energie von diesem 
ihn beängstigenden Zustande zu befreien. Auf einmal war er augen- 
leidend. Die besorgte Mutter besuchte zur Untersuchung einen Spezial- 
arzt. Eine schmerzhafte Augenentzündung konnte festgestellt werden, 
aber die Ursache war nicht aufzufinden. Der Zustand wurde schlimmer 
und unerträglicher. Nach mehreren Wochen fand eine zweite Unter- 
suchung statt. Der Augenarzt konsultierte, daß die Augen und die Seh- 
kraft normal seien. Er verwies die besorgte Mutter an einen besonderen 
Arzt, zwecks Untersuchung von Nase und Rachen. Die Vermutung war 
richtig. Der Knabe litt an Rachenmandelentzündung. Ein operativer Ein- 
griff glückte, das Augenleiden verging. Das Kind ist seitdem außer- 
ordentlich rege und beteiligt sich lebhaft am Unterrichte. 
Meuselwitz, S.-A. Hilfsschullehrer O. Zeißler. 


9. Aus dem Psychologischen Institut des Leipziger 
Lehrervereins 
wird uns über dasselbe folgendes mitgeteilt: 

Am 3. Mai 1916 besteht das Leipziger Lehrervereins-Institut für 
experimentelle Pädagogik und Psychologie 10 Jahre. Seit 1910 veröffent- 
licht es unter der Leitung von Dr. M. Brahn die Ergebnisse seiner 
wissenschaftlichen Untersuchungen in den jährlich erscheinenden »Päda- 
gogisch-Psychologischen Arbeiten«. Eine Fülle wertvollen Stoffs ist dort 
bereits zusammengetragen worden. Der frühere Vorsitzende des Instituts, 
Lehrer Rudolf Schulze, beschreibt hier einen von ihm erfundenen neuen 
zeitmessenden Apparat, der psychologische Vorgänge bis auf tausendstel 
Sekunden genau mißt. Der frühere Assistent und jetzige Tübinger Päda- 
gogikprofessor Dr. Deuchler erläutert die Wirkungsweise des von ihm 
konstruierten Pendel - Kurzschers. Der Leipziger Taubstummenlehrer 
R. Lindner befaßt sich mit der Umgestaltung des ersten Sprachunter- 
richts der Taubstummen. Es wird ferner experimentell erforscht, wie sich 
die Empfindlichkeit für einfache Farbenwahrnehmungen von Knaben und 
Mädchen vom 5.—15. Lebensjahre entwickelt, wie sich die Intelligenz 
der Schüler zum unmittelbaren und danernden Behalten verhält, wie sich die 
körperlichen Leistungen der Kinder einer Dorfschule in den verschiedenen 
Tageszeiten durch die Wirkung des Schulunterrichts verändern, welche 
psychologischen Wirkungen die Unterrichtsfrage ausübt. Man untersucht 
das Verhalten der Aufmerksamkeit beim Lesen längerer Wörter und beim 
Reagieren, prüft die Intelligenz der Schulkinder, versucht Beziehungen 
zwischen Intelligenz, Körperentwicklung und Ermüdbarkeit herzustellen, 
gibt dem modernen Zeichenunterricht durch Untersuchungen über den 
Farbensinn der Kinder wertvolle Unterlagen und erforscht, wie sich die 
Einübung einer Leistung entwickelt, zu der das Kind keine natürliche Be- 
anlagung mitbringt. Man fragt weiter: Wie lange hält diese Übung an? 
Wie sind die Unterschiede der Vorstellungen und Vorstellungsverbindungen 


10. Über d. Täuschungen d. Gesichtsinnes. — 11. Ein Kriegs-»Mann« v. 4 Jahren. 281 





bei Kindern verschiedener Altersstufen beschaffen? Welche Liniatur ist im 
Schreiben für das Kind am besten geeignet? Zur Aufklärung der Be- 
ziehungen zwischen körperlichen und geistigen Vorgängen liefert die Arbeit 
des derzeitigen Vorsitzenden O. Meyrich einen wertvollen Beitrag. Er 
hat in der Blutbeschaffenheit und vornehmlich im Hämoglobingehalt einen 
Maßstab zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit des menschlichen Organismus 
gefunden. Seine Arbeit bietet auch großes soziales Interesse, indem sie 
die weite Verbreitung der Blutarmut in der Großstadt zeigt. 

Welche Bedeutung man allen diesen Untersuchungen beimißt, ist 
daraus zu ersehen, daß verschiedene deutsche Bezirksschulinspektoren 
einzelne Arbeiten zum Mittelpunkt ihrer amtlichen Lehrerkonferenzen ge- 
wählt haben. Das Sächs. Kultusministerium hat auch im Kriegsjahre dem 
Institut den üblichen jährlichen Beitrag von 500 M gewährt. 

Im übrigen wird das Institut vom Leipziger Lehrerverein unterhalten, 
der hierfür bereits über 30000 M aufgewendet hat. Doch auch zahlreiche 
Lehrerverbände, wissenschaftlich interessierte Firmen und Einzelpersonen 
unterstützen in hochherziger Weise das Institut durch Erwerbung der 
passiven Mitgliedschaft. Gegen eine jährliche Mindestzahlung von 20 M 
erhalten diese Förderer die Institutsveröffentlichungen vom 1. Schriftführer 
des Instituts (Lehrer Paul Schlager, Leipzig, Eutritzscher Str. 19, II) um- 
sonst und portofrei zugesandt. Auf der Ehrentafel im großen Hörsaal des 
Instituts sind bis jetzt 1 Ehrenmitglied (Wilhelm Wundt) und 95 Förderer 
eingetragen. 


10. Über die Täuschungen des Gesichtssinnes 


hat Dir. Dr. Hugo Schmidt (Hainichen i. Sa) in Heft 3, Jahrg. 1915 
der Vierteljahrsschrift »Eos« eine kleine Abhandlung veröffentlicht. Aus- 
gehend von dem auch an dieser Stelle niedergelegten Gedanken, daß wir 
nötig für die Schule diagnostische Methoden brauchen, hat der den Lesern 
unserer Zeitschrift bestens bekannte Verfasser mit Volksschulkindern ein- 
gehende Untersuchungen über Sinnes- (Gesichts-)Täuschungen angestellt, 
in denen er Methoden von Rossolimo, Knox und Müller-Lyer teils ver- 
einfacht, teils vervollständigt und berichtig. Er kommt dabei u.a. zu 
folgenden Schlüssen : 

Die Kinder haben im allgemeinen ein schwaches Bewußtsein von der 
Sinnestäuschung. 

Die Sinnestäuschung ist bei den kleineren Kindern von 10 Jahren 
stärker als bei denen von 12 Jahren. 

Es gibt mindestens 2 Arten von Sinnestäuschungen: angeborene und 
(durch Übung und Erfahrung) erworbene. Höper. 


11. Ein Kriegs-»Mann< von vier Jahren! 


Von einem Fall außergewöhnlicher Frühreife berichtet 
Dr. Obmann, Assistenzarzt am Herzoglichen Georgen-Krankenhause in 
Meiningen, unlängst der »Deutschen Medizin. Wochenschrift«. Der 


282 B. Mitteilungen. 





wegen einer akuten Erkrankung eingelieferte, jetzt noch nicht 4 Jahre 
alte Robert E. hat normale Eltern und sechs völlig normal entwickelte 
Geschwister. Sein Vater steht zurzeit als Landsturmmann im Felde. 
Bis zur Vollendung des 1. Lebensjahres verlief auch die Entwicklung des 
kleinen Robert ganz regelmäßig. Von dem Zeitpunkt an entdeckten die 
Eltern an dem Knaben merkwürdige körperliche und seelische Verände- 
rungen. Die Kräfte nahmen rapide zu, die Muskulatur straffte sich, die 
Stimme wurde tief und es traten alle Anzeichen der männlichen Reife 
ein. Schon mit drei Jahren mied Robert das harmlose Spiel der Knaben, 
dagegen suchte er Beteiligung an den Gesprächen der Erwachsenen. Wie 
die Mutter dem Krankenhausarzt erklärte, ist Robert in dem kleinen Land- 
wirtschaftsbetrieb tüchtig zur Hand; seine Lieblingsbeschäftigung ist das 
Ein- und Ausspannen der Kühe. Andererseits hatte sie auch unter der 
Eigenwilligkeit des Sohnes zu leiden, denn wenn Robert zornig werde, 
sei er gar nicht zu bändigen. Der kleine Patient machte, im Bette liegend, 
auf den Arzt den Eindruck eines im Wachstum zurückgebliebenen Mannes. 
Er ist jetzt 121 cm groß und wiegt 68 Pfund. Daß es dieser vier- 
jährige Landsturmmannssohn zu einer ansehnlichen Körperkraft gebracht 
hat, geht daraus hervor, daß er einen 20 Pfund schweren Eimer mit 
einer Hand hebt und mühelos ein fünfjähriges Kind im Gewicht von 
26 Pfund trägt. Zu seiner Narkotisierung brauchte man im Krankenhaus 
dasselbe Quantum wie für einen erwachsenen Mann. Die weitere Ent- 
wicklung dieses noch jung an Jahren befindlichen »Mannes«, der, wie 
Dr. Obmann ausdrücklich betont, sonst völlig gesund erscheint, soll 
ärztlich beobachtet werden. Sie wird ein unschätzbares Studienmaterial 
für die medizinische Wissenschaft abgeben. (Jen. Ztg.) 


12. Geh. Sanitätsrat Dr. Emil Pfeiffer in Wiesbaden, 


der langjährige Sekretär des Deutschen Kongresses für innere Medizin, 
feierte am 1. März seinen 70. Geburtstag. In Wiesbaden geboren, 
studierte Pfeiffer in Bonn, Würzburg und Borlin, wo er 1869 promovierte 
und 1870 die ärztliche Approbation erlangte. Nachdem er den deutsch- 
französischen Krieg mitgemacht, ließ er sich in Wiesbaden nieder, wo er 
sich als Präsident des Kurvereins und als Stadtverordneter die größten 
Verdienste um die Hebung des Kurortes Wiesbaden erworben hat. Neben 
der Kinderheilkunde hat Pfeiffer mit besonderem Eifer die Stoffwechsel- 
krankheiten wisseuschaftlich bearbeitet. Namentlich über die Gicht und 
die Nierensteine hat Pfeiffer wichtige Arbeiten geliefert und sich besonders 
um die Verwertung des Fachinger Mineralwassers Verdienste erworben. 
Der Kongreß für innere Medizin hat Pfeiffer, der ihn mitbegründet hat, 
anläßlich seines 25jährigen Bestehens zum Ehrenmitglied ernannt. Auch 
bei der Gesellschaft für Kinderheilkunde hat Pfeiffer lange Jahre die Ge- 
schäfte als Sekretär geführt. 


C. Zeitschriftenschau. 283 





C. Zeitschriftenschau. 


Beobachtende und angewandte Psychologie. 


Luquet, M. G., Le premier âge du dessin enfantin. Archives de Psychologie. 
XI, 45 (Février 1912), S. 14—20. 

Beitrag zur Entwicklung der zeichnerischen Begabung bei einem Knaben und 
einem Mädchen. Die Kinder ziehen zuerst Striche ohne eine bestimmte Absicht 
nur aus dem Bestreben, irgend eine bestimmte Tätigkeit auszuüben. Dann sieht 
das Kind in seine Striche etwas hinein: die Striche erhalten einen repräsentativen 
oder symbolischen Charakter. Bestimmend wirken dabei mit die Analogie der Form 
der gezeichneten Figur mit einem wirklichen Gegenstand und der Einfluß äußerer 
Umstände (momentanes Interesse). Wenn das Kind seiner Zeichnung einen be- 
stimmten Charakter beigelegt hat, wird die Zeichnung oft daraufhin vervollständigt, 
um die Ähnlichkeit mit dem Objekt stärker zu betonen. Wenn das Kind dazu 
kommt, wirkliche Gegenstände mit Absicht zu zeichnen, geht es über in eine zweite 
Entwicklungsstufe seiner zeichnerischen Begabung. 

Lindner, Rudolf, Moralpsychologische Auswertung freier Kinderzeichnungen von 
taubstummen Schülern. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie. XV, 3 (März 
1914), S. 160—177. 

Die ethischen Maße taubstummer Kinder lernen wir gut aus ihren freien 
Zeichnungen kennen. Die beobachteten freien Willensäußerungen stimmten mit 
der Ethik in den Zeichnungen durchaus überein. Lindner sammelte 64 Geschichten 
in Bildern aus einer Klasse gutbefähigter taubstummer Schüler (9 Knaben, 2 Mäd- 
chen; ein Knabe zeichnete nicht mit). Von diesen Geschichten sind 44 »blutig«. 
Beweise helfender Nächstenliebe finden sich auffallend wenig. Roheiten und Grau- 
samkeiten liegen also der Natur dieser Kinder näher als Mitleid und Mitgefühl 
— ein Zug, der sich bei taubstummen Kindern länger erhält als beim hörenden 
Kinde. Das bedeutet natürlich keinen Vorwurf für das Kind; wohl aber muß diese 
Erkenntnis vor ungerechter Beurteilung und Behandlung schützen. 

Ehrlich, Toni, Vom Erwachen des ästhetischen Empfindens, Der Säemann. 
1912, 11 (19. November 1912), S. 509—513. 

Aus den Beobachtungen, die sehr sorgfältig aufgezeichnet sind, geht hervor, 
daß das Kind ziemlich früh ästhetische Empfindungen hat. Zugleich bietet die 
Arbeit einige Proben frühen Erinnerungsvermögens. 

Wilker, Karl, Eine Untersuchung für die Eltern über die Entwicklung des ästhe- 
tischen Urteils ihrer Kinder. Deutsche Elternzeitschrift. 5, 1 (1. Oktober 1913), 
S. 1—4. 

Die Untersuchung soll die Eltern anregen zur Beobachtung des kindlichen 
Seelenlebens. Dementsprechend ist die Darstellung ganz einfach. 

Seemann, W., Wie stehen die Kinder zu Gedichten? Pädagogische Forschung. 
I, 3 (April 1914), S. 276—296. 

Im März 1913 wurden Hamburger Volksschüler aller Klassen vom 8. Lebens- 
jahre an veranlaßt, »die drei schönsten Gedichte des Lesebuchs« zu nennen, wo- 
möglich mit kurzer Begründung. Zur Bearbeitung stand ein Material von 9050 
Knaben und 8450 Mädchen zur Verfügung. In der vorliegenden Arbeit ist das 
Material nach Klassen bearbeitet. Überraschend neues bot das Material nicht. Wohl 
aber ist die zahlenmäßige Verteilung äußerst interessant. Im einzelnen darauf ein- 


284 C. Zeitschriftenschau. 





zugehen, würde hier zu weit führen. Seemann betont die Notwendigkeit weiterer 

und anderer Versuche, die z. B. untersuchen das Verhältnis der Kinder zum Humor, 

zur verkappten oder aufgetragenen Moral, zur Naturlyrik, zum Volkslied, zum 

Liebesgedicht usw. — Interessant sind auch die Vergleiche mit dem Inhalt des 

neuen Hamburger Lesewerkes. 

Köster, Herm. L., Schundliteratur in Beispiel und Gegenbeispiel. Deutsche Schul- 
praxis. 33, 29 (20. Juli 1913), S. 225—228. 

Der Verfasser stellte in der ersten Klasse einer Hamburger Knabenvolksschule 
einen Versuch an: er bot den Schülern eine Probe guter Literatur und eine solche 
herkömmlicher Schundliteratur, ließ sie dann sich darüber aussprechen und endlich 
selbst eine Geschichte erfinden. Die Arbeit bietet einen interessanten Beitrag zur 
Frage des literarisch-ästhetischen Urteils unserer Volksschüler. 

Schlemmer, Hans, Tertianerpoesie. Der Säemann. 1913, 6 (24. Juni), S. 264 
bis 270. 

Einige (durchaus selbständige) Gedichte 12- bis 15jähriger Jungen. Bemerkens- 
wert ist die Feststellung, daß ein Tertianer selten humoristisch dichtet. Auch für 
die humoristische Poesie anderer Dichter haben die Tertianer nach Schlemmers Er- 
fahrungen nicht viel Verständnis. 

Muthorst, H., Die Jugendlogen eine pädagogische Sünde? Selbstzeugnisse der 
Kinder. Die Enthaltsamkeit. 15, 4/5 (April/Mai 1913), S. 27—29. 

Eine Reihe Kinderaufsätze, die kinderpsychologisch wertvoll sind. 

Gonda, Gisella, Wofür interessiert sich das Kind? A Gyermek. VIII, 4, 1914, 
S. 323—327. 

7—12jährigen Mädchen wurden eine Reihe von Fragen vorgelegt nach Be- 
liebtheit und Unbeliebtheit der Lehrgegenstände, nach der Lieblingslektüre und -be- 
schäftigung, nach dem Lieblingsspiel, nach Idealen usw. — Die Ausdrucksweise ist 
zum Teil so unklar, daß wir von einem Referat über die Ergebnisse absehen. 


Pototzky, Carl, Welchen Gebieten entnimmt man am besten die Erzählungen 
für die Kleinsten? Zeitschrift für Kinderpflege. IX, Januar 1914, S. 11—12. 

Die Motive zu Erzählungen für die Kinder sind ihrem Gedankenkreis zu ent- 
nehmen. Märchen sollen gewissermaßen als »Leckerei« geboten werden. 
Scheifler, H., Wie lange spielen wir als Kinder? Der Säemann. 1913, 12 

(13. Januar 1914), S. 537—539. 

Physiologisch und psychologisch bildet die Pubertät die Grenze für das Spiel- 
alter; diese ist also variabel. Durch den Eintritt in die Schule ändern sich wohl 
die Spielformen des Kindes, die psychologischen Grundlagen und die seelischen Vor- 
gänge bleiben aber die gleichen. 

Schnelle, Lotte, Wie weit reichen Kindheitserinnerungen zurück? Zeitschrift für 
Kinderpflege. 8, März 1913, S. 117—118. 

Eine 6'/,jährige Tochter erinnerte sich an eine am 1. Geburtstag angetratene 
Reise, eine 5jährige erzählt Erlebnisse bis zu ihrem 16. Monate zurück. Ein 
3'/,jähriger Junge erinnert sich nur ein Jahr zurück. Die Verfasserin selbst er- 
innert sich an manche Begebenheiten, die sich vor ihrem 18. Lebensmonat zutrugen 
(bei einer war sie kaum 10 Monate alt); ein ihr bekannter Mediziner erinnerte sich 
einer Begebenheit aus dem Alter von 10 Monaten. 

Seemann, W., Früheste Jugenderinnerungen. Die Pädagogische Praxis. II, 9 
(Juni 1914), S. 500—503. 
6 Kinderaufsätze aus Hamburger Schulen über dieses Thema. 








C. Zeitschriftenschau. 285 





Ganghofer, Ludwig, Wie weit reicht das Gedächtnis zurück? Zeitschrift für 
Kinderpflege. VIII, November 1913, S. 270—271. 

Die älteste Erinnerung, die Ganghofer hat, reicht zurück auf ein Alter von 
1'/, Jahren (Zerbrechen einer Stehlampe, als das Kind allein im Zimmer war). Eine 
zweite Kindheitserinnerung ist die: als dreijähriger Bub läuft er aus dem elterlichen 
Hause in einem unbewachten Augenblick schnurstracks aus der Badewanne nackt 
über Markt und Straßen. Eine weitere Erinnerung, in der die Sexualität eine große 
Rolle spielt, reicht ins vierte Lebensjahr zurück. 


Walter, H., Warum lügen und betrügen wir Schüler? Der Säemann. 1913, 7 
(29. Juli), S. 318—324. 

Aufsatz eines Gymnasialabiturienten, der besonders psychologisches Interesse 

hat, aber auch sonst für den Lehrer außerordentlich viel beachtenswertes enthält. 


Martos, August, Psychologie und Pädagogik der Kinderlügen. A Gyermek. VIII, 
1914, 1, S. 69—71. 

7°/, aller Schulkinder sollen lügnerisch sein. Es wird zwischen scheinbaren 
Lügen und positiven Lügen unterschieden. Die letzteren kommen bei größeren 
Kindern vor, vereinzelt aber auch schon bei drei- bis sechsjährigen Kindern. Ebenso 
finden sich bei größeren Kindern bisweilen Lügen infolge der Schwäche des Er- 
innerungsvermögens und der Unzulänglichkeit der Apperzeption. Die pathologischen 
Lügen (mitomanische Kinder) sind in eine besondere Gruppe einzureihen. 


Kindliche Zeugenaussagen. A Gyermek. VII, 1914, 1, S. 73—74. 

Auf Grund von Versuchen an etwa 800 Schülern kam Paul Angyal zu der 
Ansicht, daß man auf die Zeugenaussagen von Kindern zwar nicht Verzicht leisten 
solle, wohl aber sollten Kinder nur in besonders dringenden Fällen vernommen 
werden. Die Vernehmung soll möglichst sofort und unter Ausschluß der Öffentlich- 
keit durch besonders geschulte Personen erfolgen. Suggestivfragen müßten unter- 
bleiben. Unter Umständen sind Psychiater und Pädagogen zur Begutachtung des 
Kindes und seiner Glaubwürdigkeit zuzuziehen. 


Stern, William, Eigenschaften der frühkindlichen Phantasie. Zeitschrift für 
Pädagogische Psychologie. XV, 6 (Juni 1914), S. 305—313. 
Aus dem Buche: Psychologie der frühen Kindheit bis zum 6. Lebensjahre 
(Leipzig, Quelle & Meyer, 1914), auf das wir nach Erscheinen ausführlich zu 
sprechen kommen werden. 


Terada, Seiichi, Über die Träume der minderjährigen Gefangenen. Jidö Kenkyü. 
XVII, 1 (August 1913). 

300 männliche Gefangene im Alter von 17—20 Jahren im Gefängnis zu Sugamo 
(Tokio) zeichneten dem Verfasser 459 Träume auf. Diese beziehen sich in 29,7 °/, 
auf Familienangehörige, in 9°, auf die Entlassung aus dem Gefängnis nach dem 
Strafablauf. Erlebnisse aus früherer Kindheit fehlten in den Träumen. 


Rössel, Fritz, Ein Hilfsschulversuch als Beitrag zur vergleichenden Jugendkunde 
der Geschlechter. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie. 15, 5 (Mai 1914), 
8. 265—280. 

Im Juni 1913 wurde in den ersten drei Klassen von 11 Hamburger Hilfs- 
schulen den Kindern das Thema »Was würde ich mit 10 Mark anfangen?« zur Be- 
arbeitung gestellt. 310 Knaben und 240 Mädchen im Alter von 11!/, bis 13!/, Jahren 
lieferten die Beiträge. Die Ergebnisse im einzelnen mögen im Original nachgelesen 
werden. Den Hauptgruppen nach wollten das Geld verwenden 


286 D. Literatur. 





Knaben Mädchen 
ZUM Sparen +. d a Are hr ch 1613 13,33 %/, 
zur Kleidung. . » 2 2 2 nn nn nn. 6548 858 „ 
für'Spielzeug so -eom grane kenn nn WO i 9,16 „ 
für Vergnügungen . . 2 2 2 2... . . 19,85, 15,42 „, 
zum Teilen und Abgeben an Eltern usw.. . . 19,68 „ 20,08 „. 


Wie aus den Zahlen schon hervorgeht, wird vielfach nur ein Teil des Geldes 
für den angegebenen Zweck verbraucht. Der Wert von 10 Mark war von 7,74°/, 
der Knaben und 10,83°/, der Mädchen nicht erfaßt. Der gemeinsame Unterricht 
scheint nach diesen Untersuchungen in den betreffenden Klassen keinen Ausgleich 
unter den Geschlechtern hervorgerufen zu haben. 


D. Literatur. 





Würtz, Hans, Uwes Sendung, ein deutsches Erziehungsbuch, mit be- 
sonderer Berücksichtigung der Krüppel. Unter Mitwirkung von Willy 
Schlüter. Leipzig, F. C. W. Vogel, 1914. 8°. VII u. 303 Seiten. Preis 

eb. 12 M. 

s Das Buch bildet den Anfang einer Krüppelpädagogik. Sein Verfasser, Er- 
ziehungsdirektor des Oskar-Helene-Heims für Heilung und Erziehung gebrechlicher 
Kinder in Berlin, schildert darin, ausgehend von seiner eigenen Wirksamkeit als 
Krüppelerzieher, in eigenartiger Sprache und Form, die Kultur des Krüppeltums, 
wie sie vorzugehen hat, um die sittliche, seelische und geistige Verkrüppelung zu 
beheben. Weit ausholend, gibt Würtz in seinem Uwe eine Persönlichkeit, die 
allen Problemen der Krüppelerziehung mit tiefem Verständnis nachgeht. Der Wert 
des Buches besteht u. a. auch darir, daß hier zum ersten Male eine Psychologie 
des Krüppels versucht wird, die sich neben den bisher erzielten Resultaten der 
modernen Krüppelfürsorge auch auf ausgedehnte historische und literarische Studien 
stützt. Die für die Praxis zu befolgenden Richtlinien entnimmt der Autor zum 
Teil der Philosophie des Berliner Ethikers Schlüter, dessen Theorie sich um »die 
Erhebung des Menschen zum eigenen Schicksalsschöpfer« bemüht. Die von Schlüter 
erstrebte, sogenannte »Schicksalskunde, die als Biosophie sich die Erzeugung 
kultureller Tatkraft zum Ziele setzt,« mußte Würtz um so mehr reizen, sie 
in die Wirklichkeit zu übertragen, da man heute je länger desto mehr die Krüppel 
zu »schöpferischer Freitätigkeit« d. h. zu weitgehender Selbständig- 
keit zu erziehen sucht. Obgleich das Buch vielfach in novellistischer Form ge- 
halten ist, enthält es doch soviel originelle Gedanken, um deretwillen es weite Ver- 
breitung verdient, zumal sich der Verfasser außer an die zünftigen, auch an alle 
übrigen Interessenten wendet, denen die Krüppelbehandlung nicht gleichgültig ist. 

Idstein i. T. M. Kirmsse. 


Hallgarten, Rob., Charles L. Hallgarten. Frankfurt a. M., Verlag von Englert 
& Schlosser, 1915. kl. 4°. 94 Seiten, mit Bildnis. Preis 2 M. 

Daß Lebensbilder, wie das vorliegende, in die Hände aller derer gehören, die 
am großen, weit umfassenden Werke der sozialen Fürsorge sich irgendwie betätigen, 
bedarf eigentlich kaum einer Erwähnung. Denn Ch. Hallgarten, der Mitbegründer 
der Erziehungsanstalt für Schwachsinnige in Idstein und Pate der Frankfurter Hilfs- 
schuleinrichtung — die dritte Hilfsschule nennt sich nach ihm Hallgartenschule — 
ging nicht etwa in der Fürsorge an geistig Minderbegabten auf, nein, dieser um- 
sichtige Philanthrop hat ein langes Leben daran gesetzt, hunderterlei Elend und Nöte 
bannen zu helfen, in Gemeinschaft mit treuen Gesinnungsgenossen. In dem Büch- 
lein hat ein Sohn des Verewigten — 1838—1908 —, in liebevoller, aber völlig ob- 


D. Literatur. 287 





jektiver, Weise alles das geschildert, was der Vater in sozialer Hinsicht geleistet 
hat. In Deutschland geboren, siedelte Ch. Hallgarten schon in der Jugend nach 
Amerika über. Den dort erworbenen Reichtum verwendete er bereits teilweise dazu, 
um im Lande des Dollars Armenpflege zu treiben, da es, wie er meinte »Pflicht 
und wohlverstandenes Interesse der Begüterten ist, Elend zu lindern, das die Not- 
leidenden zur Erbitterung und Verbitterung führte. Die Hauptarbeitszeit begann 
für ihn jedoch erst, als er später nach Deutschland zurückkehrte, und sich in Frank- 
furt a. M. niederließ, um die Kunst des Wohltuns in reichem Maße zu üben. Sein 
Organisationstalent fand nicht nur im städtischen Armenamt einen fruchtbaren Boden, 
sondern es ist auch verknüpft mit den Werken der Kinderfürsorge, dem Kranken- 
wesen, der Volksernährung, dem Wohnungswesen, der Volksbildung, der Arbeiter- 
bewegung und der Frauenfrage. Uud ın allen diesen wichtigen Fragen erzielte er 
reiche Erfolge. Sein Sohn Dr. Fritz Hallgarten arbeitet nun im Geiste des 
Vaters weiter. So ruht auf dem Sohne der Segen des Vaters. 
Idstein i. T. M. Kirmsse. 


Keller, Helen, Wie ich Sozialistin wurde. Autorisierte Übersetzung von 
Alfons Büchle. Stuttgart, Verlag R. Lutz. kl. 8°. 113 Seiten. Leicht geb. 
Preis 1 M. 

Nach längerer Pause erhalten wir von der taubblinden Amerikanerin H. Keller 
wieder ein neues Buch vorgelegt, das mehrere ihrer Arbeiten enthält, die in amerika- 
nischen Zeitschriften erschienen sind. Wir lernen sie darin als eine Kämpferin für 
die Armen, Notleidenden und für ihre Schicksalsgenossen kennen, wovon übrigens 
auch frühere Bücher von ihr Zeugnis ablegen. Es wird sich also niemand darüber 
wundern, daß H. Keller zur Sozialistin geworden ist. Wollte sie etwas wirken in 
der Welt, wollte sie ihre reichen Gaben entsprechend auswirken, so mußte sie den 
Beruf der Sozialistin ergreifen. Freilich er birgt auch Gefahren in sich für sie, da 
man ihr vorhält, daß sie öfters über Dinge urteile, die ihr infolge ihrer Gebrechen 
nur schwer zugänglich seien. Das Schriftchen enthält folgende Aufsätze: 1. Wie 
ich Sozialistin wurde. 2. Ein Appell an die Vernunft. 3. Das Recht des Arbeiters. 
4. Die moderne Frau. Die Ausführungen der Verfasserin gipfeln in dem Satze, 
daß die Hand — »die Lebenskraft des Menschen, die Gestalterin der Welte — 
dazu beitrage, »die Aufrichtung und Verjüngung des Menschengeschlechts« zu er- 
möglichen. In psychologischer Hinsicht stellt auch dieses Büchlein einen wertvollen 
Beitrag dar, wie sich die Dreisinnige mit den Problemen sozialer Fürsorge abfindet. 

Idstein i. T. M. Kirmsse. 


Baldrian, Karl, Direktor der niederösterreichischen Landestaubstummenanstalt in 
Wiener - Neustadt. Methodischer Wegweiser im Sprachunterrichte: im künst- 
lichen der Taubstummenschule und naturgemäßen in Schulen für Hörende. 
Leipzig, Verlag von Otto Nemnich, 1915. VI u. 105 S. 

Das Buch umfaßt 18 Konferenzvorträge, gehalten zu dem Zweck, Lehramts- 
kandidaten in das Taubstummenlehrfach, insbesondere in den Sprachunterricht, ein- 
zuführen. Weckung und lebhaftere Entfaltung des Sprachlebens ist sein Ziel, und 
es hält, was der Titel verspricht. 

B. betont zunächst den Wert der Lautsprachenbildung für den Taubstummen 
und zieht die Grenze der Bildungsmöglichkeit. Dann zeichnet er in anschaulicher 
Weise einige Strecken des methodischen Weges, auf dem der Taubstumme zur Er- 
langung einer Elementarsprache gebracht werden kann. Von einigen Kapiteln sei 
die Überschrift wiedergegeben. II. Anbahnung des Sprachformendenkens. IV. Er- 
zielung größerer Beschleunigung im Denken und Sprechen. Y. Vorbereitung lebens- 
voller Verkehrssprachanwendung durch den Unterricht. XIII. Pflege der Zwie- 

espräche und deren Aufgabe für die Zwecke der künstlichen Spracherlernung. 

XV. Altes und Neues über die Wechselbeziehungen zwischen Verständnis und Ge- 

brauch der Sprache bei Vollsinnigen und Gehörlosen. XVII. Pflege des Poetischen, 

Ästhetischen und Religiösen im Sprachunterrichte der Taubstummenschule. Die 

Probe eines Aufsatzes im letzterwähnten Kapitel gibt einen Beweis dafür, daß die 

Elementarsprache des Entstummten durchaus nicht arm zu sein braucht. Was B. 

um Schlußkapitel sagt über das Zuviel an Worten (Regeln für richtigen Sprach- 


288 D. Literatur. 





gebrauch), über »Anschauen des in Sprache Gekleideten durch Augen, Ohr, Sprech- 
muskelgefühl,« muß immer wiederholt werden, und es ist ja dank solcher Mahnungen 
eine starke Bewegung im Gange, den Grammatik- und gesamten Sprachunterricht 
zu vereinfachen. Bezüglich des Letzteren aber, »Anschauen des in Sprache Ge- 
kleideten durch Sprechmuskelgefühl« bleibt noch mancher Wunsch offen. Es müßten, 
soll diese Forderung erfüllt werden, die Lebrer vom Seminar her viel reichlicher 
mit Kenntnissen und Erfahrungen (prakt. Übungen!) in Stimmbildung ausgerüstet 
sein. Sehr instruktiv, ich kann nicht genug darauf hinweisen, ist die Stimmbildungs- 
methode von Prof. Engel-Dresden. 
Dresden. Kurt Lehm. 


Schneider, Johannes, Schriftleiter der Zeitschrift: »Der Lehrmeister im Garten 
und Kleintierhof,«e Der Kleingarten. Sammlung »Aus Natur und Geisteswelt,« 
498. Bändchen. Mit 80 Abb. Leipzig, B. G. Teubner, 1915. 95 S. Geb. 1,25 M. 

Der auf dem Gebiete des Gartenwesens rühmlichst bekannte Verfasser hat 
hiermit ein Werkchen geschaffen, das in gedrängter übersichtlicher Kürze das 

Wissenswerteste über die Arbeiten im Gemüse-, Obst- und Blumengarten enthält. 

Es verdient dies Werkchen als Ratgeber die weiteste Verbreitung bei allen denen, 

die sich jetzt zur Kriegszeit mit der Bewirtschaftung eines Stückchens Gartenland 

befassen, insbesondere erscheint dies Werkchen auch geeignet als Leitfaden für die 

Hand der Schüler an landwirtschaftlichen Lehranstalten und an a 

. Dörr. 


Eingegangene Literatur. 


Sully, Dr. Jakob, und Stimpfl, Dr. Joseph, Handbuch der Psychologie 
für Lehrer. Leipzig, Wunderlich Verl., 1915. 477 S. Br. 5,80 M, geb. 6,40 M. 

Wohlrab, E. H., Aus der Praxis der Arbeitsschule. Ebenda 1912. 1288. 
1,60 M, geb. 2 M. 

Hofmann, J., und Wölfing, A., Beiträge zur didaktischen Technik. Ebenda 
1912. 71 S. 0,80 M, geb. 1,20 M. 

Krause, Paul, Die Entwicklung eines Kindes von der Geburt bis zum 
Eintritt in die Schule. Ebenda 1914. 101 8. 

Dix, Kurt Walther, Vorstellen und Handeln. (Körperliche und geistige 
Entwicklung eines Kindes, 3. Heft.) Ebenda 1914. 148 S. 2 M, geb. 2,50 M. 

Jetter, J. L., Wohlarbeit im Programm der Volkserziehung. (»Aus Schule 
und aa III. Reihe, Nr. 6.) Straßburg, Friedrich Bull Verl., 1914. 108 S. 
Geh. 2 M. 

Schreiber, H., Das Bauen von innen. Ebenda 1914. 66 S. Geh. 1,40 M. 

Dornblüth, Dr. med. Otto, Deutsches Erziehungsbuch. Wiesbaden, J. F. 
Bergmann Verl., 1915. 252 S. Geb. 5 M. 

Dörfler, Dr. Peter, Als Mutter noch lebte. Freiburg i. Br., Herdersche Ver- 
lagshandl. 285 S. 

Baedorf, Dr., und Soennecken, Friedrich, Fibel: »Lesefreude«. Bonn, 
F. Soennecken Verl., 1914. 110 S. 

Reinke, Dr. J., Deutsche Hochschulen und römische Kurie. Leipzig, 
Barth Verl.. 1911. 59 S. 0,80 M. 

Gansberg, Fritz, Der freie Aufsatz. (Lebensvoller Unterricht, Bd.1.) Leipzig, 
Voigtländer Verl., 1914. 371 S. 6,50 M. 

Baron von Brockdorff, Prof. Dr, Die Philosophie in der Pädagogik. 
Osterwieck 1912. 89 S. Br. 1,60 M, geb. 2,20 M. 

Börner, Wilhelm, Charakterbildung der Kinder. München, Oskar Beck 
Verl., 1914. 314 S. Geb. 4,50 M. 

Beßmer, Julius, Das menschliche Wollen. Freiburg i. Br., Herdersche Ver- 
lagsbuchhandl., 1915. VII und 276 S. 5 M. 

Klumker, Prof. Dr. Chr. J., Deutsche Erziehungsanstalten in Wort und 
Bild. Erste Abt. Halle a. S. 1915. 85 5. 2,50 M. 


Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 








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A. Abhandlungen. 


1. Die Berufswahl bei schwer erziehbaren (neuro- oder 
psychopathisch belasteten) Kindern. 
Von 
G. Simon, Stuttgart. 


IL 

In kurzer Zeit hat die Fürsorge für die reifere Jugend einen un- 
geahnten Aufschwung genommen. Dabei wendet man auch der Frage 
der Berufswahl das Maß von Interesse zu, das dieser ihrer Wichtig- 
keit entsprechend zukommt. Man erkennt immer mehr, von welch 
einschneidender Bedeutung diese Wahl des Berufes zunächst für den 
Einzelnen ist, wie mächtig aber auch durch sie gerade das all- 
gemeine Wohl beeinflußt wird. Ist es doch fürwahr unschwer einzu- 
sehen, daß der Schritt, der bei einer überaus großen Zahl von Menschen 
der wichtigste des Lebens ist und weitgehend über deren Wohl und 
Wehe entscheidet, eben deshalb zugleich von einer tiefeinschneidenden 
sozialen und wirtschaftlichen Bedeutung für das Ganze sein muß. 

Wenn nun die Berufswahl für jeden Menschen eine wichtige 
Entschließung ist, ist dies in ganz besonderem Maße der Fall für die 
seelisch abnormen Menschen. Wir verstehen darunter Menschen 
mit solchen seelischen Unregelmäßigkeiten, die nicht Geisteskrank- 
heiten sind, aber die betreffenden Personen auch im günstigsten Fall 
nicht als im Vollbesitz geistiger Normalheit und Leistungsfähigkeit 
stehend erscheinen lassen (Koch), mögen diese Unregelmäßigkeiten nun 
ihnen angeboren oder erst im Leben erworben sein. Wir nennen 
diese Unregelmäßigkeit, welche auf dem Seelenleben eines Menschen 
lasten kann, diese psychopathische Konstitution, kurz »Belastung«, 


Zeitschrift für Kinderforschung. 21. Jahrgang. 19 


290 A. Abhandlungen. 





die davon betroffenen »Belastete« oder »Psychopathen«. Außer 
Betracht bleiben Fälle, wo in bezug auf die Intelligenz eine derartige 
Unregelmäßigkeit vorliegt, daß eine regelmäßige berufliche Betätigung 
überhaupt ausgeschlossen ist. — Auf eine solche psychopathische Kon- 
stitution ist in zahlreichen Fällen zurückzuführen, was als »Nervosität« 
erscheint. Hiervon abgesehen kann auch auf manche anderen Fälle 
von Nervosität wenigstens teilweise zutreffen, was für die Berufswahl 
bei Belastung gilt. 

Je mehr nämlich diese seelische Belastung sich entwickeln kann, 
um so störender und unheilvoller wird sie das Leben und Geschick 
des Belasteten beeinflussen. Es kommt deshalb vor allem darauf an, 
dieser Entwicklung beizeiten entgegen zu treten. Dies geschieht ein- 
mal, indem der Belastete einer systematischen Heilerziehung unter- 
worfen wird. Dies erfolgt in Deutschland in einer Anzahl von An- 
stalten. Hier handelt es sich aber in der Regel um Fälle, wo die 
Belastung schon frühzeitig und in einer so sinnfälligen Weise zutage 
tritt, daß sich ein heilendes Eingreifen von selbst nahe legt. Sehr 
erfreulich sind die in diesen Anstalten erzielten Erfolge und glücklich 
sind die Kinder zu preisen, denen das Geschick eine solch frühzeitige 
direkte und radikale Hilfe zuteil werden läßt. Allein es entwickelt 
und äußert sich die Belastung in zahlreichen Fällen erst später und 
allmählich und tritt dann häufig in Formen zutage, denen es der Laie 
gar nicht ansieht, daß etwas seelisch Abnormes dahinter steckt, wie 
dies auch dem Belasteten selbst lange Zeit völlig verborgen zu bleiben 
pflegt. Sie gelten eben in seinen und anderer Augen als im wesent- 
lichen harmlose »Eigenheiten« und »Sonderlichkeiten«, die sich so einer 
systematischen Heilbehandlung entziehen. Darin aber liegt gerade 
das Verhängnisvolle. Denn die Belastung kann sich auf diese Weise 
ungestört im Verborgenen weiter entwickeln; und kommt sie dann zu 
einem Ausbruch, der ihr Vorhandensein mit Händen greifen läßt, 
führt sie zu Verbrechen oder Geisteskrankheit, so ist es in vielen Fällen 
zu einer wirksamen Beeinflussung — zu spät. Nur eines kann ihr 
in solchen Fällen wirksam entgegentreten: daß sich nämlich der Be- 
lastete in äußeren Verhältnissen befindet, die von selbst die Entwick- 
lung der Belastung hindern oder doch erheblich erschweren. Unter 
diesen äußeren Verhältnissen ist aber in diesem Fall das wichtigste 
— der Lebensberuf. Er ist es, der die seelische und körperliche 
Entwicklung des Menschen am mächtigsten zu beeinflussen pflegt, der 
auch meistens manche andere wichtige äußere Verhältnisse, z. B. die 
soziale Stellung bestimmt. Er stellt uns aufs Zwingendste vor jene 
Schwierigkeiten des Lebens, durch deren Überwindung wir das Un- 


Simon: Die Berufswahl bei schwer erziehbaren Kindern. 291 





vollkommene in uns verringern und unser Wesen entwickeln und ver- 
vollkommnen können und sollen. Er ist es auch, der gerade auch 
auf die Gestaltung unseres Trieblebens einwirkt. Der Lebensberuf ist 
es deshalb auch, der durch seine Anforderungen einen unaus- 
gesetzten heilsamen Zwang auf die Belasteten ausübt und 
eben dadurch mächtig zurückdrängt oder ausschaltet, was 
an Unregelmäßigem und Krankhaftem in seinem Triebleben 
nach Entwicklung und Verwirklichung drängt und sich der 
beruflichen Betätigung entgegenstellen will. Je geeigneter 
aber der vom Belasteten ergriffene Beruf für ihn ist, um so weniger 
empfindet er mit der Zeit dessen heilsamen Zwang als drückend, um 
so vollkommener und dauerhafter ist dessen Heilwirkung. 

Und doch welche Tragik: Gerade diese Belasteten, für die eine 
richtige Berufswahl von solch außergewöhnlicher Bedeutung ist, sind 
in wesentlich stärkerem Grade wie andere Menschen der Möglichkeit 
und Gefahr ausgesetzt, den für sie geeigneten Beruf — gründlich 
zu verfehlen. 

Viele unter ihnen neigen nämlich dazu, dem Geschäft der Be- 
rufswahl nicht die erforderliche Sorgfalt zuzuwenden, weil sie zufolge 
der Belastung einer berufsmäßigen Betätigung überhaupt abgeneigt 
sind oder ihr Interesse und ihren Fleiß in der kritischen Zeit der 
Berufswahl zu sehr solchen Dingen zuwenden, die im Vergleich zur 
Berufswahl ganz nebensächlich für ihr Wohlergehen sind. — Bei 
andern Belasteten begünstigt die Belastung irrtümliche Vorstellungen 
über Eigenart und Aufgaben bestimmter Berufe; dies führt dann 
leicht dazu, daß sie sich in abnormer Weise von einem ungeeigneten 
Beruf angezogen, von einem geeigneten aber abgestoßen fühlen und 
dementsprechend ihre Wahl treffen. Nicht selten gibt auch die Be- 
lastung dem Drang nach Tätigkeit überhaupt eine falsche Richtung 
und erzeugt oder fördert so auch Neigungen zu verkehrter beruflicher 
Betätigung, die sich eben bei der Wahl des Berufs durchzusetzen 
suchen; begegnet dies Schwierigkeiten, so greift dann der Belastete 
nicht selten zu dem Beruf, wo er klar erkennt oder instinktiv fühlt, 
daß diese Neigungen wenigstens in einem gewissen Grad noch Be- 
friedigung finden, er also noch am ehesten »nach seiner Facon« leben 
könne. — Während sodann Leute mit normalem Geselligkeitsbedürfnis 
die Frage der Berufswahl in der Regel mit ihren Angehörigen und 
Bekannten besprechen, ist diese Quelle der Beratung und Ausnützung 
der Erfahrung Anderer für manche Belastete schwerer oder gar nicht 
zugänglich, die abnormerweise sich der Geselligkeit zu verschließen 


oder dazu gedrängt werden, derartige Fragen tunlichst mit sich selbst 
19* 


292 A. Abhandlungen. 





abzumachen. — Von einem bereits ergriffenen Beruf sich später 
wieder rechtzeitig loszumachen, gelingt schon vielen normalen Leuten 
nicht mehr; für den Belasteten aber ist hier abnorme Schwäche des 
Willens oft ein besonders starkes Hindernis, manchmal aber auch eine 
ungesunde Gewissenhaftigkeit, derzufolge aus verschiedenartigen Grün- 
den es für eine sittliche Verpflichtung angesehen werden kann, in 
dem erwählten Berufe zu verbleiben. — Endlich erschwert es häufig 
die Belastung in hohem Grade, die tatsächlichen Fähigkeiten richtig 
und rechtzeitig festzustellen. 

Eine weitere Besonderheit von Bedeutung ist es sodann, daß Be- 
lastete, die sich in einem ungeeigneten Berufe befinden, hierdurch 
stärker zu leiden haben und schwerer geschädigt werden 
als andere Leute. Diese können sich einem ungeeigneten Berufe, 
wenn nicht ganz ungünstige Verhältnisse vorliegen, in der Regel ohne 
übergroße Schwierigkeit weitgehend anpassen. Das ist bei der großen 
Zahl von Berufsirrungen ein großes Glück für den Einzelnen wie für 
das Ganze. Anders beim Belasteten. Er schleppt schon ohnedies 
häufig »einen schweren Gemütskasten« mit sich herum. Dazu kommen 
dann die beruflichen Sorgen, Beschwerden und Mißerfolge, die um so 
drückender empfunden werden, je ungeeigneter der gewählte Beruf 
ist. Der normale Mensch findet sich mit der Tatsache eines verfehlten 
Berufs, aus dem er nicht mehr heraus kann, eher ab und nimmt den 
Augenblick wahr, aus ihm zu machen, was nach Lage der Verhält- 
nisse überhaupt zu machen ist. Mancher Belastete aber sucht, wenn 
es längst zu spät ist, noch lange Zeit nach einem Ausweg und ver- 
zehrt in fruchtlosem Ringen seine besten Kräfte, er leidet an chroni- 
schen Berufswahlwehen, zum Schaden seiner beruflichen Leistungs- 
fähigkeit, aber auch seines seelischen Zustandes überhaupt. Das sind 
aber lauter Dinge, die der weiteren Entwicklung einer Be- 
lastung Tür und Tor öffnen können. Entscheidet nun die Be- 
rufswahl bei normal Veranlagten in zahlreichen Fällen bloß über den 
Grad ihrer geistigen, sittlichen und wirtschaftlichen Entwicklung, so 
hängt bei Belasteten häufig Gedeih oder Verderb schlechthin 
davon ab. Die Förderung der Belastung durch ungeeignete berufliche 
und dadurch bedingte sonstige Verhältnisse ist ein Hauptgrund, der 
je nach der Persönlichkeit zu körperlicher oder geistiger Erkrankung, 
zu wirtschaftlichem Verfall oder auf die Bahn des Verbrechens führen 
kann. So können auch bei der beruflichen Zerrüttung, die zu — so 
erschrecklich sich häufenden — blutigen Familiendramen führt, Be- 
lastung und Mißgriff in der Wahl des Lebensberufs keine unbe- 
deutende Rolle spielen. 








Simon: Die Berufswahl bei schwer erziehbaren Kindern. 293 





Die außergewöhnliche Schädigung durch einen solchen Mißgriff 
beschränkt sich aber nicht auf den Belasteten und seine Familie; wer 
außerdem die Folgen eines solchen Ausfalls an wirtschaftlichen Kräften 
zu tragen und in weitgehendem, leider immer wachsendem Maße die 
dadurch in Kranken- und Irrenhäusern, in Armenanstalten und Straf- 
anstalten erwachsenden Kosten zu bestreiten hat, wer diese abnormen 
sozialen Erscheinungen unmittelbar am eigenen Leib verspürt und 
erleidet, das ist die Allgemeinheit, das sind Staat und Gesell- 
schaft. Darum ist die Ausdehnung der Fürsorgebewegung auf das 
Gebiet der Berufswahl der pathologisch veranlagten Jugend eine 
Frage, deren Bedeutung nicht verkannt werden kann. 

Während nun bezüglich der Berufswahl bei seelisch regelmäßig 
Veranlagten wir seit kurzem in Theorie wie in Praxis erfreuliche 
Fortschritte feststellen können, besteht noch für Belastete ein Not- 
stand hinsichtlich ihrer Berufswahl, der dringend nach Abhilfe ruft. 

Was soll und kann hier geschehen im einzelnen Fall, wie kann 
die Allgemeinheit helfend eingreifen? 


1. 
1. Bei der Berufswahl im einzelnen Fall sind bekanntlich 
vor allem die berufliche Neigung und Fähigkeit festzustellen. Dies: 
hat bei Belasteten in besonders sorgfältiger Weise zu geschehen. 


Je mehr nämlich der gewählte Beruf einer natürlichen und. 
normalen Neigung des Belasteten entspricht, um so zwingender wird 
der Beruf sein Sinnen und Trachten erfüllen, um so kräftiger wird 
er also dieses ablenken von dem, wozu die Belastung reizt und 
drängt. Dies ist um so wichtiger, je unabhängiger von außen der 
junge Mensch bei seiner Berufsvorbereitung ist, z. B. also bei den 
sogenannten akademischen Berufen; eine ungenügende Neigung ver- 
führt hier nur zu leicht den Gewissenhaften zu Zersplitterung und 
somit Unfruchtbarkeit seiner Betätigung, den Leichtfertigen aber zum 
schrankenlosen Genußleben. 

Solange nun die Neigung zu einem bestimmten Beruf nicht selbst 
pathologisch ist, sollte wenn immer möglich dieser Beruf gewählt 
werden. Abnorm ist die berufliche Neigung eines Kindes aber keines- 
wegs immer in den Fällen, wo wir uns mehr oder weniger wundern, 
wie es gerade auf den von ihm bevorzugten Beruf verfiel. Der Ver- 
schiedenheit der Köpfe entspricht die Verschiedenheit der Neigungen 
überhaupt wie auch der beruflichen insbesondere, mit der die Natur 
sehr weise und notwendige Zwecke verfolgt, sowenig uns dies auch 


294 A. Abhandlungen. 





im einzelnen Fall.oft einleuchten mag. Die persönliche Neigung ist 
von größter Bedeutung gerade auch in den Fällen, wo sie zu solchen 
Berufen besteht, die im Hinblick auf die Familienverhältnisse be- 
scheiden sind, die als »nicht standesgemäß« angesehen werden; denn 
eine solche Neigung beruht häufig auf einer instinktiven richtigen 
Einschätzung der zur Verfügung stehenden Kräfte und Fähigkeiten. 
Dies können sich solche Eltern nicht genug gesagt sein 
lassen, die mit ihrem Kinde »zu hoch hinaus wollene. Dieses 
wird in dem bescheidenen Beruf sich meistens glücklich fühlen, jeden- 
falls weit glücklicher, als im ungeeigneten höheren. Es wird auch 
wirtschaftlich gesünder gedeihen. Diese Gesichtspunkte allein 
sind die ausschlaggebenden. Aber auch gerade auf der gesell- 
schaftlichen Leiter hat nicht selten ein zunächst bescheidener, »un- 
standesgemäßer« Beruf schließlich zu bedeutend höheren Sprossen 
hinaufgeführt, als es der dem Kind aufgenötigte »standesgemäße« ver- 
mocht hätte. Ein bescheidener Beruf spricht nicht stets für eine be- 
scheidene Begabung und eine solche ist vor Allem nicht etwas, dessen 
sich die Familie vernünftig betrachtet zu schämen hätte. — Alles 
dies kann den Eltern aus höhern Ständen nicht eindringlich genug 
ans Herz gelegt werden; es scheint überall noch schwer hiegegen ge- 
sündigt zu werden. 

Anders liegt freilich die Sache, wenn die Neigung zu einem Be- 
ruf selbst nicht bloß rätselhaft, sondern zweifellos abnorm, patho- 
logisch ist: dieser Neigung ist nach Kräften entgegenzuarbeiten. Ob 
aber die Neigung zu einem Beruf abnorm sei, läßt sich kaum ohne 
die fachmännische Hilfe des Arztes feststellen. Dieses Entgegen- 
arbeiten nun ist freilich nicht leicht, aber es soll wenigstens ein 
kräftiger und nachhaltiger Versuch gemacht werden; gelingt dieser, 
so ist nichts mehr geeignet, die Belastung zu beseitigen oder auf 
ein Maß zurückzuführen, wo sie ohne wesentlichen Einfluß für eine 
befriedigende seelische und wirtschaftliche Entwicklung ist. Hierbei 
kann die Frühzeitigkeit richtiger Belehrung über die Berufsverschieden- 
heiten der Entwicklung psychopathischer beruflicher Neigungen wirk- 
sam entgegentreten. 

Praktisch wird dies namentlich bei denjenigen Naturen, deren 
pathologische Eigenart in einer abnormen Stärke und Richtung der 
Phantasie besteht. Diese Naturen geben sich hin einer willkürlichen, 
subjektiven Auffassung der Dinge, welche das Erkennen und prak- 
tische Erfassen des tatsächlich Gegebenen erschwert. Dies kann sich 
gerade auch in bezug auf die Wahl eines Berufs äußern. Dabei neigt 
ein Teil solcher Menschen dazu, die Ergebnisse seiner ungesunden 


Simon: Die Berufswahl bei schwer erziehbaren Kindern. 295 





Phantasietätigkeit mehr oder weniger impulsiv in die Tat umzu- 
setzen, während andere mehr passiv ihren Träumen sich hingeben. 
Die Erstgenannten treibt es hinaus ins Leben und hin zu abenteuer- 
lichen Berufen, sie träumen so sich hinein in die Rolle des Ent- 
deckers, Weltumseglers oder Pioniers im fernen Westen. Es finden 
sich diese Naturen gerade auch unter denen, die heimlich ihren Er- 
ziehern entlaufen. Sie schwärmen z. B. vom Seemannsberuf und sind 
überzeugt, in diesem ihren Drang, Länder und Völker kennen zu 
lernen, am sichersten befriedigen zu können. Sie wissen freilich nicht, 
daß dieser Beruf, der ja für gesunde Naturen einwandsfrei ist, sich 
weit überwiegend und in vielfach strenger Arbeit auf dem Wasser 
zu betätigen hat. 

Die Passiven unter den Belasteten mit abnormer Phantasietätig- 
keit neigen zur Schwärmerei namentlich in ästhetischer Richtung. 
Sie stellen das Hauptkontingent zu der Zahl von Schmierenkomödianten, 
Bildhauern, Malern, Literaten und Musikern, die auf keinen grünen 
Zweig kommen und ein armseliges Dasein fristen und andererseits 
trotz aller bitterer Erfahrungen in dem Wahn leben und weben, daß 
die Welt ein wunderwelches Genie in ihnen verkenne. 

Aber auch in religiöser Richtung kann sich die Phantasietätig- 
keit in abnormer Weise verirren und dies kann gerade auch auf die 
Berufswahl einen unheilvollen Einfluß üben; mancher Geistliche ist, 
weil diese Klippe nicht vermieden wurde, in seinem späteren Berufs- 
leben gescheitert. 

Wo immer also begründete Zweifel sich erheben, ob eine beruf- 
liche Neigung noch normal sei, wähle man wenigstens zunächst den 
Beruf, der der Neigung (und den sonstigen in Betracht kommenden 
Verhältnissen) in zweiter Linie entspricht. Je weniger Schwierig- 
keiten dieser bietet, aus ihm heraus geeignetenfalls später zu dem der 
Neigung mehr entsprechenden überzugehen, um so besser wird es in 
der Regel für den Belasteten sein, um so leichter wird diese Hoff- 
nung ihm über die Schwierigkeiten des zunächst gewählten Berufs 
hinweghelfen. Man präge den ästhetisierenden Schwärmern auch früh- 
zeitig die Tatsache ein, daß unsere bedeutenden Dichter und Schrift- 
steller fast ohne Ausnahme fürs ganze Leben oder doch zunächst einen 
sogenannten und nicht selten recht bescheidenen Brotberuf ausübten; 
man mache sie auch darauf aufmerksam, daß nach seelischen Gesetzen 
und Erfahrungen die Fruchtbarkeit und Originalität ästhetischer Be- 
tätigung — bei wirklich starker schöpferischer Kraft — durch das 
Bleigewicht eines nicht ungewöhnlich stark in Anspruch nehmenden 
»Brotberufs« geradezu gewinne und gefördert werde. 


296 A. Abhandlungen. 

Von höchster Bedeutung sodann ist bei der Berufswahl Belasteter 
neben dieser Erforschung und Prüfung einer beruflichen Neigung die 
möglichst genaue Feststellung der Fähigkeiten, der körperlichen so- 
wohl wie auch namentlich der seelischen. 

Die Betätigung der Fähigkeiten eines Psychopathen in seinem 
Beruf erleidet eben durch die seelische Unregelmäßigkeit nicht selten 
Erschwerungen und Hemmungen; diese aber werden je nach den 
persönlichen Verhältnissen mit mehr oder weniger Erfolg überwunden, 
sie können also die berufliche Leistungsfähigkeit in höherem oder ge- 
ringerem Grade beeinträchtigen. Auch wirkt bei seelisch Belasteten 
die Überspannung der Anforderungen, wie sie vorübergehend fast in 
jedem Beruf vorkommt, gesundheitlich ungünstiger als bei andern 
Menschen. Um so mehr muß also in unserm Fall darauf geachtet 
werden, daß die Fähigkeit zu dem zu wählenden Berufe nicht über- 
haupt zu gering sei. Wird z. B. von solchen Belasteten ein gewerb- 
licher Beruf gewählt, der ihre Kräfte übersteigt, so läuft häufig der 
Lehrling aus der Lehre weg und ergreift schließlich, namentlich wenn 
er inzwischen als Lehrling zu alt geworden ist, einen sogenannten 
ungelernten Beruf, dessen Gefahren später dargelegt werden; empfind- 
samere und weniger willenskräftige Naturen aber können durch die 
Leiden einer solchen Lehrzeit zum Selbstmord getrieben werden. — 
Sodann ist gerade auch bei psychopathischen Kindern nachdrücklich 
davor zu warnen, sie dem kaufmännischen Beruf zuzuführen, weil 
ihre Fähigkeiten zu einem sogenannten studierten Berufe nicht aus- 
reichen. — Und bei den künstlerischen Berufen müssen wir mit 
verdoppelter Sorgfalt prüfen: Liegt ein wirklich starkes Talent vor, 
das auf der dornenvollen Laufbahn eines künstlerischen oder literari- 
schen Berufs schließlich zur Höhe zu führen verspricht? Meistens ist 
es recht schwierig und erfordert es eine Beurteilung von mehreren 
maßgebenden Seiten, dies festzustellen. 

Eine eigenartige Gruppe der psychopathischen Jugend bilden auch 
die sogenannten »Blender«. Es sind das Leute, die zwar in mancher 
Beziehung eine ungewöhnliche geistige Regsamkeit zeigen, die aber 
dem schwankenden und trügerischen Boden einer seelischen Belastung 
entspringt, jene schillernden Köpfe, die immer noch zu viele Eltern 
und Lehrer bezüglich ihrer wirklichen Befähigung zu blenden ver- 
mögen. Denn es läßt sich bei ihnen im praktischen Berufsleben be- 
obachten ein Heruntergehen nicht bloß auf den geistigen Durchschnitt, 
sondern auch darunter, demzufolge sie bei weitem nicht das leisten, 
was sie selbst und andre sich von ihrem beruflichen Wirken ver- 
sprechen und leicht im Berufsleben völlig scheitern können. — Ist die 


Simon: Die Berufswahl bei schwer erziehbaren Kindern. 297 





ganze Erziehung schuld an der Entwicklung dieser Belastung, wie es 
meistens der Fall ist, so möge der Fehler wenigstens beim Abschluß 
der Erziehung durch die Mitwirkung bei der Berufswahl so weit es 
noch möglich ist gut gemacht werden. 


2. Außer dem subjektiven Moment der Neigung und Befähigung 
zu einem zu wählenden Beruf ist aber bei Belasteten weiter von 
höchster Bedeutung, daß nicht der Beruf selbst oder die Vor- 
bereitung auf diesen die Belastung in erheblichem Grade 
weiter zur Entwicklung bringe. 

Bezüglich der beruflichen Vorbereitung müssen als gefährlich 
zum Beispiel die sogenannten akademischen Berufe bezeichnet werden. 

Die Belastung entwickelt sich mit Vorliebe am stärksten in der 
Jugendzeit, namentlich gegen deren Ende. Hier also vor allem kommt 
es darauf an, durch geeignete äußere und innere Einflüsse und Ver- 
hältnisse dieser Entwicklung entgegen zu wirken. Dies geschieht am 
nachhaltigsten durch eine geeignete und von maßgebender Seite ge- 
leitete berufsvorbereitende Tätigkeit. Denn durch diese wird der Be- 
lastete abgelenkt von der Verwirklichung verkehrter Neigungen und 
Bestrebungen; zudem kostet ihm, weil ein heilsamer Zwang von außen 
her ihn treibt und unterstützt, diese Form des Kampfes gegen die 
Entwicklung der Belastung am wenigsten Kraftaufwand und Selbst- 
zucht. — Nicht günstig liegen nun hier die Verhältnisse, die wir 
unter dem Begriff der »akademischen Freiheit« zusammenzufassen 
pflegen. Hier fehlt es in der Regel an einer von maßgebender Seite 
erfolgenden zweckmäßigen Regelung des Studienganges, es ermangelt 
namentlich auch der vorhin erwähnte heilsame Zwang zu einer regel- 
mäßigen Tätigkeit. Es kommt hinzu ein größeres Maß von freier Zeit, 
welche nach dem individuellen Trieb und Gutdünken benützt oder 
auch nicht benützt werden kann. Zu beachten ist ferner die stärkere 
Verführung zu Überschreitungen im Alkoholgenuß, wodurch manche 
Belastung die kräftigste Förderung erfährt. Das Letzte gilt auch für 
geschlechtliche Verirrungen, die solchen Umständen entsprechend 
drohen. Die verschiedenartigen pathologischen Neigungen können so 
einen ungewöhnlich fruchtbaren Nährboden finden in der akademischen 
Freiheit, wie sie heute beschaffen ist: so können sich die Gewissen- 
haften verirren und vergeuden in fruchtlosen Nebenbeschäftigungen, 
die Leichtfertigen aber der Lust und Fähigkeit zum Arbeiten immer 
mehr entfremdet werden und schrankenloser Genußsucht sich in die 
Arme werfen, die Asozialen können sich bei der Freiheit von gesell- 
schaftlichem Zwang besonders leicht der Eigenbrödelei in ihrem Tun 


298 A. Abhandlungen. 








und Denken hingeben, die Hypersozialen dagegen an den Gefahren 
des Lebens in den studentischen Korporationen scheitern. Und so 
kommt es, daß nicht selten Leute, die an Begabung oder Fleiß oder 
in beidem weit über dem Durchschnittsakademiker stehen, entweder 
die Prüfungen nicht bestehen oder dabei ein ganz unverhältnismäßig 
bescheidenes Ergebnis erzielen. Außerdem aber kann die Entwick- 
lung ihrer Belastung während ihrer akademischen Vorbereitungszeit 
ihnen durch ihr ganzes Leben Erschwerungen bereiten. Wer aber 
von ihnen die Schwelle des Examens nicht zu überschreiten vermag, 
gerät wirtschaftlich und moralisch nur zu leicht in Lagen, die eine 
Weiterentwicklung seiner Belastung mit all ihren Folgen nur be- 
schleunigen können. Auch für Nichtpsychopathen birgt die aka- 
demische Freiheit bekanntlich die erwähnten Gefahren; sie vermögen 
aber eher von einer Beschädigung durch diese sich zu erholen und 
im kritischen Augenblick sich zusammenzuraffen, liefern also den 
kleineren Teil der zufolge der akademischen Freiheit ganz oder teil- 
weise gescheiterten Existenzen. 

Solange also die Art der Vorbereitung der sogenannten akademi- 
schen Berufe nicht weitgehend umgestaltet ist, kann ihre Ergreifung 
durch einen Psychopathen nur unter ganz bestimmten Voraus- 
setzungen als zulässig erscheinen. 

Wir müssen zunächst hier mit besonderem Nachdruck eine augen- 
fällige Neigung und Befähigung für den betreffenden akademischen 
Beruf fordern. Denn diese Neigung muß ein genügend starkes Gegen- 
gewicht bilden gegen die Neigung, sich zu sehr von seinen pathologi- 
schen Interessen in Beschlag nehmen zu lassen. Die ausgesprochene 
Fähigkeit aber muß verhindern, daß dem Psychopathen die betreffenden 
Studien so viele Mühe bereiten, daß er aus diesem Grund dem Hang 
zu anderweitiger und insbesondere pathologischer Betätigung zu sehr 
nachgebe, die ihm, weil innerem Antrieb entspringend, weniger Mühe 
bereitet. — Sodann sollte sich im Lauf der Mittelschule hinreichend 
erprobt haben, daß der junge Mensch mit ausdauerndem Fleiß und 
Gewissenhaftigkeit verfolge, was er sich einmal vorgenommen hat; es 
genügt also auch nicht, daß er nur im allgemeinen einen starken Be- 
tätigungstrieb besitze, falls dieser ohne Ausdauer im einzelnen zur 
Zersplitterung neigt. Wer aber mit Erfüllung seiner Schulpflichten 
als Mittelschüler lässig ist, wird sich noch weniger gebunden fühlen, 
wenn er mit der akademischen Freiheit in dieser Hinsicht frei und 
fessellos wurde. — Es müssen also vor allem in dem jungen 
Menschen selbst die Garantien stecken gegen die Gefahren dieser 
Freiheit. 


Simon: Die Berufswahl bei schwer erziehbaren Kindern. 299 








Aber zudem müssen die äußeren Umstände und Verhält- 
nisse der Vorbereitung auf die verschiedenen akademischen Berufe, 
die so erhebliche Verschiedenheit aufweisen, möglichst kräftig den 
abnormen Neigungen eines Psychopathen entgegenwirken. Je freier 
er sich sein Studium nach eigenem Gutdünken einrichten kann, je 
weniger ein Zwang äußerer Verhältnisse ihn einschränkt, um so ge- 
fährlicher ist dieses Studium, ist die akademische Freiheit überhaupt 
für ihn. Im einzelnen gelten hier folgende Gesichtspunkte. 


Je kürzer die Universitätszeit ist, um so günstiger ist 
dies für den Psychopathen. Steht dagegen der Termin des 
Examens in unbestimmter, nebelhafter Ferne, so besteht um so eher 
die Gefahr, daß eine Anzahl Semester verbummelt werden, sei es — 
je nach den Neigungen des Psychopathen — daß man den Genüssen 
des Alkohols oder der Liebe ungebunden fröhnt, sei es, daß man in 
nutzlosen Privatliebhabereien sich verliere, zu denen die Mittelschule 
keinen oder wenig Raum ließ. Die Nähe des Examens muß also 
einen heilsamen Druck ausüben. Und zum Glück fehlt es ja auch 
nicht an Berufen von kurzfristiger Universitätszeit; wir nennen hier 
die Berufsarten von Technikern und Chemikern, Apothekern, auch 
Zahnärzten. — Berufe von längerer Universitätszeit verlieren dann 
etwas von ihrer Gefährlichkeit, wenn eine Zwischenprüfung vor 
der Hauptprüfung eingeschaltet ist, wie z. B. beim Mediziner und 
meistens auch beim Forstmann. Am meisten Vorsicht ist angezeigt 
gegenüber den Berufen ohne solche Zwischenprüfung. Wir haben 
hier namentlich den Philologen und Juristen im Auge, wo eine 
Zwischenprüfung nur in einzelnen Staaten besteht. Bei ihnen weist 
denn auch die Gesamtdauer der Studienzeit eine schwankendere 
Grenze auf, als bei anderen akademischen Berufen, die Nähe des 
Examens wirkt bei ihnen entsprechend weniger zwingend auf den 
jungen Studenten. — Das Bestehen der Prüfung am Ende der Uni- 
versitätszeit leitet aber in der Mehrzahl der Fälle noch nicht voll über 
in das gelobte Land der Praxis, es steht noch eine weitere Vor- 
bereitungszeit davor von kürzerer oder längerer Dauer, die erst mit 
einer zweiten Prüfung ihren Abschluß findet. Auch hier gilt: je kürzer 
diese zweite Vorbereitung dauert, um so weniger findet der Psychopathe 
Zeit, sich in abnormen Betätigungen zu verlieren. 


Vorzuziehen sind sodann akademische Berufe, die eine früh- 
zeitige und möglichst intensive praktische Betätigung 
während der Universitätszeit selbst erfordern; zum Glück treten 
allerseits die praktischen Übungen mehr hervor, die jedoch keines- 


300 A. Abhandlungen. 








wegs in gleichem Maß zu fesseln also nötigenfalls heilsam abzulenken 
vermögen. 

Eine in vielen Fällen wohltätige Einschränkung erfährt die Frei- 
heit des Studenten durch Seminare und ähnliche Einrichtungen, 
wie sie für Theologen, aber auch zum Teil für künftige Militärärzte 
bestehen. Diese sind für den psychopathischen Studenten aufs nach- 
drücklichste zu empfehlen. Wer in abnormer Weise die Geselligkeit 
meidet, wird hier zur geselligen Betätigung hingezogen, wer der Ge- 
selligkeit im Übermaß fröhnen möchte, wird durch die Schranken der 
Hausordnung im Zaum gehalten. Wo ein Mann an der Spitze steht, 
der sich seiner Schützlinge auch persönlich annimmt und ein wach- 
sames Auge hat auf ihre gesamte Entwicklung, können Eltern um 
so beruhigter sein bezüglich der Entwicklung ihres studierenden 
Sohnes. 

Je reifer ein junger Mann die Universität bezieht, je weniger 
wird ihm die akademische Freiheit gefährlich werden. Die Reife er- 
wächst aber vorzüglich auf dem Boden praktischer Betätigung im 
Leben. Wer einer solchen einige Jahre zwischen Mittelschule 
und Universität sich widmen mußte, wird — abgesehen von der 
Zahl der Lebensjahre — mehr gefeit sein gegen ein leichtsinniges Ver- 
geuden von Zeit, Kraft und Geld, er ist durch den Zwang des Arbeits- 
verhältnisses an ein regelmäßiges Arbeiten gewöhnt. So hat, um ein 
Beispiel anzuführen, die mehrjährige Lehr- und Gehilfenzeit im 
Apothekerberufe schon manchen jungen Mann gerettet, der unrett- 
bar gescheitert wäre, wenn er einige Jahre früher und ohne diese 
Vorschule der Lebensführung die Universität bezogen hätte. 

Dies hängt auch zusammen mit anderen günstigen Verhältnissen 
in diesem Beruf. Die für den Psychopathen gefährlichen letzten Jahre 
der Mittelschule fallen weg, der junge Mann muß hinein in die Praxis 
eines Berufs, die durchschnittlich keine übermäßigen Anforderungen 
stellt an seine Leistungsfähigkeit, ihm auch Zeit läßt und Anregung 
gibt zu theoretischer Weiterbildung und in vielen Fällen den jungen 
Mann während der Lehrlingsjahre auch den Schranken einer Haus- 
ordnung unterwirft, die, wenn sie verständig geübt wird, in diesem 
Alter nur vorteilhaft wirken kann. Schon nach zweijährigem Uni- 
versitätsstudium wird der junge Apotheker ohne weitere Vorbereitungs- 
zeit dem praktischen Beruf wieder zugeführt und nur ein Examen 
ist es, dessen Fährlichkeiten zu passieren sind. — Hiermit soll natür- 
lich nicht gesagt sein, daß der Apothekerberuf stets der geeignetste 
für zum Studium bestimmte Psychopathen sei, es soll nur ein Bei- 
spielsfall eines — und zwar bezüglich seiner Vorbereitungszeit 


Simon: Die Berufswahl bei schwer erziehbaren Kindern. 301 








— für Psychopathen hervorragend günstigen Berufs mit Universitäts- 
bildung gezeigt werden. 

Ihm steht als ein Gegenbeispiel der Beruf des Juristen gegen- 
über. — An Stelle der eben genannten günstigen äußeren Umstände 
des Apothekerberufs treten hier bezüglich der Zeit vor dem Uni- 
versitätsstudium weniger geeignete Verhältnisse auf. — Eigentümlich ist 
hier sodann die weit überwiegende Ausbildung nach der Verstandes- 
seite hin; schon in dieser Einseitigkeit liegt eine Gefahr für manchen 
Psychopathen. Ferner vermag der Stoff der Ausbildung ohne Frage 
durchschnittlich den jungen Studenten weniger zu fesseln und zu 
bannen wie der mancher anderer Fakultäten. Auch fehlt vielfach eine 
Zwischenprüfung. So sind denn die Juristen in besonderem Maß der 
Gefahr ausgesetzt, eine Anzahl Semester zu verbummeln und erst beim 
Herannahen des üblichen Examenstermins ernstlich zu studieren. 
Mancher besitzt dann nicht mehr genug Willenskraft oder Aufnahme- 
fähigkeit und scheitert beim Examen. Andere müssen in kurzer Zeit 
und mit Hast einen im Verhältnis hiezu zu großen Stoff sich not- 
dürftig einpauken; diese abnorme Art geistiger Arbeit aber verbunden 
mit den sonstigen seelischen Erregungen einer solchen Prüfung kann 
eine psychopathische Belastung in gefährlicher Weise steigern. Dieses 
erste Examen ist sodann im schriftlichen Teil in der Regel zusammen- 
gedrängt auf 3—-4 Tage, die hier und dort wohl auch noch unmittel- 
bar hintereinander sich folgen. Es stellt dementsprechend höhere An- 
forderungen an das Gedächtnis, die Schlagfertigkeit und namentlich 
an die Ausdauer der Nerven. Mancher Psychopathe ist eben an dieser 
Art des Examens gescheitert. (Im Gegensatz hiezu erstreckt sich 
zum Beispiel beim Mediziner dieses Examen auf mehrere Monate und 
erledigt sich bei den einzelnen Stationen gewöhnlich in einem Tag.) — 
Mit dem Überwinden der Klippe dieses ersten Examens ist aber beim 
Juristen bekanntlich die volle berufliche Erwerbstätigkeit noch nicht er- 
reicht, es folgt vielmehr einem etwa achtsemestrigen Universitätsstudium 
eine Referendarzeit von 3—4 Jahren. Die Vorbereitungszeit dauert 
also im ganzen durchschnittlich etwa 7 Jahre. Auch diese Re- 
ferendarzeit ist nicht ohne Gefahren. Ihr fehlt noch der volle 
straffe Zwang des Berufslebens; es gibt so reichlich Gelegenheit zu 
einer mehr dilettierenden beruflichen Beschäftigung zugunsten anderer 
nebensächlicher Betätigung. Das wurde schon für manchen selbst 
Hochbegabten im Examen eine verderbliche Klippe. — Wird aber 
diese Klippe umschifft, so wartet bekanntlich manchen Assessors noch 
eine Zeit, wo er nicht oder nur unregelmäßig berufliche Verwendung 
findet. 


302 A. Abhandlungen. 





3. Nicht bloß in der Vorbereitung auf manchen Beruf liegen Ge- 
fahren für den DBelasteten, sondern auch in der Ausübung eines 
Berufs selbst. So wenig sich aber ein bestimmter Beruf als 
absolut und unter allen Umständen geeignet für solche Leute be- 
zeichnen läßt, ebensowenig gibt es einen Beruf, vor dem bedingungs- 
los zu warnen wäre; es kommt immer auf die — namentlich indivi- 
duellen — Verhältnisse des einzelnen Berufswahlfalles an. Im all- 
gemeinen läßt sich hier folgendes sagen. 

Vorzuziehen sind für Belastete Berufe, welche ihre Zeit und 
Kräfte möglichst gleichmäßig in Anspruch nehmen; gefährlich sind 
also Berufe, bei denen ganz außerordentliche Anforderungen wechseln 
mit ungewöhnlicher beruflicher Arbeitsverringerung. Auch sind im 
allgemeinen solche Berufe geeigneter, die nicht eine einseitig körper- 
liche oder geistige Tätigkeit verlangen, vielmehr eine gewisse Ab- 
wechslung in Beidem gestatten. Weiterhin wird in manchen Fällen 
darauf ankommen, daß sich die berufliche Tätigkeit mehr im Freien 
vollziehe, weil ja Bewegung, Luft und Licht so wichtig für die Ge- 
sunderhaltung des Nervensystems sind. Bekanntlich werden deshalb 
in dieser Richtung z. B. die Berufe des Landwirts und Gärtners emp- 
fohlen. Auch auf das Maß beruflicher Verantwortlichkeit ist zu 
achten; viele Psychopathen leisten Vorzügliches als Angestellte, die 
als Inhaber oder Leiter des Geschäfts sich nicht eignen würden und 
zu Schaden kämen. 

Dringend zu warnen ist vor dem Beruf des sogenannten 
Gelegenheitsarbeiters, d. h. jenes Arbeiters, der keinen bestimmten 
Beruf erlernt hat, sondern als Taglöhner, Laufbursche u. dergl. seinen 
Verdienst sucht. Denn dieser Verdienst steht auf der untersten Stufe 
des Lohntarifs, er ist seiner Natur nach unsicher und unregelmäßig, 
der ungelernte Arbeiter läuft so stärker als andere Gefahr in Not und 
Elend zu geraten, die gerade den Psychopathen besonders leicht zu 
geistiger Erkrankung oder auf die Bahn des Verbrechens führen. Es 
mangelt ja auch in diesem beruflichen Kreise an dem Gefühl sozialer 
Bedeutung, das den gelernten Arbeiter heutzutage in so hohem Maß 
erfüllt und ein Sporn für ihn ist, vorwärts zu streben und seine 
inneren und äußeren Verhältnisse möglichst zu vervollkommnen. Un- 
glücklicherweise neigt gerade der Psychopathe besonders stark zu 
solch ungelernten Berufen. Wo also nicht die Unfähigkeit zu einem 
gelernten Beruf klar zutage tritt, haben die verantwortlichen Personen 
die hohe Pflicht, alles aufzubieten, daß der Belastete dem Beruf des 
Gelegenheitsarbeiters fern gehalten werde. So führt die sogenannte 
Landflucht Belastete aus landwirtschaftlichen Kreisen leicht in die 


Simon: Die Berufswahl bei schwer erziehbaren Kindern. 303 








Reihen der ungelernten Arbeiter; aber auch Kinder der Großstadt, die 
man den landwirtschaftlichen Beruf ergreifen ließ, werden leicht wieder 
von der Großstadt angezogen, wo sie dann mangels Gelegenheit zur 
Betätigung ihres Berufs den ungelernten Arbeitern zuwachsen können. 

Der zu wählende Beruf soll sodann wie gesagt dem Belasteten 
möglichst wenig Versuchungen und Gelegenheiten bieten, seine ab- 
normen Neigungen zu befriedigen und so deren Weiterentwicklung 
zu fördern. Wir werden so z. B. uns bedenken, einen Skrupulanten 
dem theologischen Beruf zuzuführen. Besteht aber ein Hang zu Ver- 
schwendung, so werden wir einen Beruf vorziehen, der nicht oder 
möglichst wenig zur Verwaltung fremder Gelder Veranlassung gibt. 

4. Gewöhnlich wird die Berufswahl endgültig getroffen, ihre Ände- 
rung daher als etwas ungewöhnliches betrachtet. So kommt es häufig, 
daß man sich zu einer Änderung der getroffenen Wahl nötigenfalls 
zu spät oder nicht mehr entschließt und daß die Erzieher unberechtigte 
Schwierigkeiten in den Weg legen. Und doch wäre kaum bei 
einer anderen Entschließung der Vorbehalt einer etwaigen 
Änderung natürlicher und begründeter. Vollends bei seelisch 
belasteten Kindern. Andererseits darf natürlich nicht ge- 
duldet werden, daß Belastete ohne zureichenden Grund den 
sorgfältig gewählten Beruf verlassen; dazu neigen freilich 
manche von ihnen in besonders starkem Grade, in geradezu typischer 
Weise, namentlich zufolge abnormer gesteigerter Empfindlichkeit (z. B. 
die »Gerechtigkeitsmenschen«). Solche laufen schließlich Gefahr, über- 
haupt keinem Berufe Genüge zu tun. Hievon abgesehen wird im all- 
gemeinen die berufliche Betätigung von einem Belasteten zunächst 
um so drückender empfunden werden, je wirksamer sie der Ent- 
wicklung seiner Belastung entgegentritt; um so stärker wird so auch 
bei willensstarken Naturen unter ihnen das Bestreben sich äußern, 
sich diesem Zwange als vermeintlich abnorm und unerträglich zu ent- 
ziehen. Hieraus entsteht leicht eine Lage, die keine geringen An- 
sprüche stellt an die Einsicht und Willenskraft des für das Wohl- 
ergehen des Belasteten Verantwortlichen. 

Was ist bei dieser Sachlage zu tun? 

Man sollte nötigenfalls häufiger als üblich an Stelle einer end- 
gültigen Wahl zunächst versuchsweise einen Beruf ergreifen 
lassen; wie lange solcher Versuch dauern und wie oft er wiederholt 
werden soll, hängt natürlich von den Umständen ab. Dies empfiehlt 
sich namentlich, wenn bezüglich ausreichender beruflicher Neigung 
und Fähigkeit ein Zweifel besteht, z. B. bezüglich der Handfertigkeit 
bei älteren Mittelschülern. Man bringe solche Leute z. B. einige Zeit 


304 A. Abhandlungen. 





bei einem Mechaniker, Schreiner unter und wird bald sehen, wie der 
Hase läuft. 

Weiterhin vermeide oder beseitige man tunlichst, was den Be- 
lasteten mit Recht veranlassen könnte, bei der praktischen Vorbe- 
reitung auf seinen Beruf sich beeinträchtigt zu fühlen. — 

Wichtig ist hier bei kaufmännischen und industriellen Berufen 
die Wahl eines richtigen Lehrherrn, falls der Belastete, was oft 
am vorteilhaftesten sein wird, nicht im väterlichen Geschäft als 
Lehrling untergebracht werden kann. Der Lehrherr kann zu scharf 
vorgehen und dem Belasteten den an sich geeigneten Beruf gründlich 
verleiden oder aber zu lax, wodurch die Entwicklung der Belastung 
zum Schaden der beruflichen Ausbildung und des seelischen Gesamt- 
zustandes gefördert werden kann. Man sei also bei dieser Wahl 
überaus vorsichtig und benütze dabei den Rat und die Hilfe, die heute 
schon in erfreulich wachsendem Maße von geeigneter Seite (städtische 
Arbeitsämter, Handels- und Handwerkskammern, Innungen, Vereine, 
Berufsberatungsämter, Berufsvormünder) gewährt wird. 

Dabei ist im allgemeinen auf eine Lehrstelle zu sehen, wo der 
Lehrling in die häusliche Gemeinschaft des Lehrherrn aufgenommen 
wird. Die Neigung hiezu nimmt freilich bei den Lehrherrn ab; auch 
läßt sich in Gegenden mit stark überwiegendem großindustriellem Be- 
trieb oder aus anderen Gründen die Anlernung in Fabriken oft nicht 
vermeiden. Den dortigen Gefahren sucht man mit Erfolg unter 
anderem durch Lehrlingsheime und Vereine entgegenzuwirken. — Bei 
weiblichen Dienstboten sehe man darauf, daß die Arbeitskraft nicht 
im Übermaß ausgenützt wird und daß genügend Gelegenheit zu haus- 
wirtschaftlicher Ausbildung geboten sei. — Um Lehrstelle und Lehr- 
ling tunlichst im Auge behalten zu können, sollte man womöglich am 
selben Orte wohnen. 

Den Klagen des Belasteten über seinen Lehrherrn gegen- 
über hüte man sich ebenso vor schwächlichem Mitleid wie vor starrer 
Unnachgiebigkeit, sind ja doch durch unrichtiges Verhalten in diesem 
Punkt Belastete schon zum Selbstmord getrieben worden. — Will ein 
Belasteter seinen Beruf wechseln, so wird in vielen Fällen der 
psychiatrisch gebildete Arzt (womöglich der Hausarzt) zu 
hören sein. 

Mit diesem sollte überhaupt die Berührung gerade 
während der kritischen Zeit der praktischen Berufsvor- 
bereitung tunlichst aufrecht erhalten werden. — Er ist es 
aber auch, der den Belasteten aufklären sollte über seinen Zustand 
und besonders auch darüber, welche Schwierigkeiten dieser an- 


Simon: Die Berufswahl bei schwer erziehbaren Kindern. 305 








fänglich dem Hineinwachsen in einen Beruf bereiten kann. 
Dadurch werden der Belastete wie der mitverantwortliche Erzieher 
leichter über diese kritische Zeit hinwegkommen. Man befürchte 
keinen Schaden von dieser psychiatrischen Aufklärung, wenn sie im 
rechten Zeitpunkt einsetzt; mögen auch zunächst Niedergeschlagenheit 
und Erschütterung des Selbstvertrauens folgen — mit den günstigen 
Einwirkungen eines geeigneten Berufs auf den seelischen Zustand wird 
auch das Selbstvertrauen sich entsprechend heben und kräftigen. 

Man nehme endlich im geeigneten Zeitpunkt eine Nachprüfung 
des ergriffenen Berufs vor. In nicht wenigen Fällen können Willens- 
schwäche oder Leichtsinn, aber auch verkehrtes Pflichtgefühl, nament- 
lich aber die Gewohnheit es übersehen lassen, daß der ergriffene Be- 
ruf nicht der richtige ist. Gehen dann später die Augen auf, so ist 
es vielfach zu spät. Dies kommt z. B. leicht vor bei Hochschülern, 
wenn das Examen zu ferne liegt und nicht sozusagen auf den Nagel 
brennt. Hier sollte man etwa nach zwei Semestern die Berufswahl 
eingehend nachprüfen und nachprüfen lassen. 

5. Von Bedeutung ist für die Berufswahl bei Belasteten auch, 
daß sie im richtigen Zeitpunkt erfulge. 

Angesichts der großen Schwierigkeit, die für einen jungen Men- 
schen bei dem Mangel an Erfahrung und Lebenskenntnis und Lebens- 
ernst besteht, sein Bestes bei der Wahl seines Berufes zu leisten, ist 
es namentlich auch bei Belasteten nötig, den Zeitpunkt hiefür mög- 
lichst weit hinauszurücken. Eine Verfrühung kann nicht bloß 
unnötig mühsam, sondern nicht wenig schädlich wirken. Gut ist es 
in dieser Hinsicht zum Beispiel, wenn man die Ableistung der Militär- 
pflicht vor den Beginn der Fachausbildung legen kann. Auch sollten 
Hochschüler in vielen Fällen auf der Hochschule zunächst studieren, 
— was sie studieren wollen; gehen einem doch vielfach erst dort 
und allmählich die Augen auf über Wesen und Anforderungen aka- 
demischer Berufe. — Dieses Verschieben der Berufswahl darf aber 
nicht dazu führen, den richtigen Zeitpunkt zu verpassen und leicht 
einen Schaden anzurichten, der nicht wieder gut zu machen wäre. 
Man sage also z. B. nicht, der Junge soll mal erst sein Abiturium 
hinter sich bringen, dann wird sich alles von selbst ergeben, dann 
stehen ihm alle Berufe offen. Denn gerade die oberen Klassen der 
Mittelschulen, also die Zeit von Sekunda und Prima, können eine große 
Gefahr für Belastete bilden. In diesem Zeitraum vom etwa 15. bis 
18. Lebensjahr fallen nämlich beim männlichen Geschlecht die tief- 
greifenden Umwälzungen, die die Pubertät für jeden Menschen 
herbeizuführen pflegt. Bei Belasteten aber kommt gerade in dieser 

Zeitschrift für Kinderforschung. 21. Jahrgang. 20 


306 A. Abhandlungen. 





kritischen Zeit in vielen Fällen die seelische Unregelmäßigkeit zum 
Ausbruch, ja sie kann da ihr wichtigstes Entwicklungsstadium durch- 
laufen. Das ist also in diesen Fällen gerade die Zeit, wo statt der 
allgemeinen Vorbereitung auf einen Beruf durch die Schule heilsam 
eine Betätigung in einem Beruf selbst einsetzen sollte, wo der 
junge Mensch von seinen beruflichen Pflichten derart in Beschlag ge- 
nommen sein sollte, daß ihm sowohl die Zeit als die Lust fehlt, anti- 
beruflichen Instinkten nachzuhängen. War es also unbedenklich, 
einen Belasteten zur Einjährig-Freiwilligenprüfung sich vorbereiten zu 
lassen, so ist nach Erreichung dieses Ziels für ihn und seine Erzieher 
die Frage, ob »weiterstudieren«, viel wichtiger als für Andere 
und kann nicht ernst genug genommen werden. Auch noch aus 
einem anderen Grunde. Ein Abiturient will, wenn ihn nicht die Ver- 
hältnisse dazu zwingen, erfahrungsgemäß nicht »herabsteigen« zu einem 
Beruf, der eine solche Bildungslaufbahn nicht voraussetzt, es stehen 
ihm also in bezug auf seine Neigung viel weniger Berufe offen wie 
noch vor einigen Jahren. 

Die Gefahr, den richtigen Zeitpunkt für die Berufswgehl zu ver- 
passen, besteht namentlich bei den Kindern, deren Belastung sich in 
Gleichgültigkeit oder Abneigung gegen berufliche Betäti- 
gung überhaupt äußert. Diesen muß schon früher, eindringlicher 
und häufiger als andern zum Bewußtsein gebracht werden, daß eine 
gute Berufswahl die Hauptaufgabe ihrer Jugend sei und daß ihr 
künftiges Lebensglück von der glücklichen Lösung dieser Aufgabe in 
erster Linie abhänge. Die Gewissenhaften insbesondere unter diesen 
Kindern müssen davor bewahrt werden, daß sie — wozu sie ihre Be- 
lastung drängt — ihren Eifer und ihre Sorge allem andern zuwenden 
nur nicht der Berufswahl. Man hüte sich deshalb gerade auch hier, 
diese Frage angesichts der Interesselosigkeit des Kindes immer wieder 
zu vertagen, zu glauben, daß die wachsende Reife von selbst auch 
das nötige Interesse für die Berufswahl mit sich bringen werde — 
Bezüglich dieser berufsgleichgültigen belasteten Kinder muß auch 
hievon abgesehen den Erziehern die sorgfältigste Mitwirkung bei der 
Berufswahl ganz besonders ans Herz gelegt werden. 


II. 

In den bisher geschilderten Maßnahmen, die für die Berufswahl 
Belasteter im einzelnen Fall gelten, erschöpft sich aber nicht das, 
was zur Lösung dieser Frage im allgemeinen zu geschehen hat; viel- 
mehr haben Staat und Gesellschaft nicht bloß das größte Interesse, 
sondern auch die Möglichkeit, hier helfend einzugreifen. 


Simon: Die Berufswahl bei schwer erziehbaren Kindern. 307 








In welcher Art und Weise kann dies hauptsächlich geschehen? 

Ein Hauptanteil fällt der Schule zu. Der Lehrer muß die Ge- 
legenheit wahrnehmen, die Eigenart seiner Schüler in beruflicher Be- 
ziehung nach Möglichkeit zu erkennen. Er muß ferner auf Grund 
dieser Kenntnis möglichst einen Einfluß darauf zu gewinnen suchen, 
daß der Schüler einen geeigneten Beruf auch wirklich ergreife oder 
doch vor Ergreifung eines ungeeigneten bewahrt bleibe. Diese Er- 
kenntnis wird um so leichter, je mehr die Umgestaltung von Unter- 
richt und Erziehung durch die Schule auch die körperlichen Fähig- 
keiten zu entwickeln sucht (Handfertigkeitsunterricht, Spiel und Sport) 
und den Lehrer zum Schüler in persönliche Berührung bringt. Dies 
kann auf dem Wege unmittelbarer Einwirkung auf den Schüler ge- 
schehen, aber auch mittels Belehrung und Anregung der Eltern (z. B. 
bei Schulfeiern, Elternabenden). Um aber dieser bei Belasteten er- 
schwerten Aufgabe gerecht werden zu können, ist einmal nötig eine 
Vertiefung der psychologischen Ausbildung auf den Lehrervorbereitungs- 
anstalten bezüglich der pathologischen Zustände, andererseits die innige 
Fühlungnahme mit dem Schularzt. 

An den Schularzt aber, dessen ausnahmslose Einführung gerade 
auch die Rücksicht auf die belastete Jugend nahe legt, tritt immer 
gebieterischer die Anforderung heran, die schulpflichtige Jugend ge- 
rade auch auf ihre seelische Gesundheit hin zu untersuchen. Er 
ist es auch, der auf Grund der Beobachtungen des Lehrers und seiner 
eigenen Erhebungen in zweifelhaften Fällen ausschlaggebend das Vor- 
liegen oder Fehlen einer Belastung feststellen soll, der auch für die 
psychiatrische Aufklärung eines Belasteten und seiner Angehörigen 
tunlichst besorgt sein sol. Und an ihn müssen sich neben dem 
Lehrer die für die Berufswahl eines Belasteten Mitverantwortlichen 
wenden können, wenn es sich darum handelt, ob im Hinblick auf die 
Belastung ein in Aussicht genommener Beruf auch tatsächlich geeignet 
sei. Hat hier doch der Schularzt die erwünschte Gelegenheit, die ge- 
sundheitliche Lage von Schülern weit über die Schulzeit hinaus in 
einer ihrer Hauptgrundlagen günstig zu beeinflussen. 

Wichtig ist fernerhin die weitere Ausdehnung und Ausgestaltung 
der Berufsvormundschaft. Wenn der Berufsvormund außer der 
wirtschaftlichen Fürsorge ein Hauptaugenmerk auch auf die beruf- 
liche Versorgung seiner Schützlinge richtet, werden viele Belastete 
unter diesen eine gute fachmännische Beratung und Überwachung be- 
züglich ihrer beruflichen Entwicklung erfahren. Bei den Verhältnissen, 
denen sie vielfach entstammen, wird ja gerade unter diesen Mündeln 

20* 


308 A. Abhandlungen. 





die psychopathische Konstitution sich verhältnismäßig häufiger nach- 
weisen lassen. 

Den zur Mitwirkung bei der Berufswahl Berufenen kann noch 
auf andere Weise ihre schwierige Aufgabe erheblich erleichtert werden. 
Wir begrüßen in dieser Hinsicht die Berufsberatungsämter, die 
in großen Städten von Gemeindewegen oder von Vereinen mit Ge- 
meindezuschuß errichtet zu werden beginnen. Ebenso den Ausbau 
des Nachweises geeigneter Lehrstellen für Lehrlinge. 

Zu fordern ist weiter, daß der Staat noch eingehender und um- 
fangreicher über die bestehenden beruflichen Verhältnisse statistische 
Erhebungen veranstalte und deren Ergebnisse praktisch verwerte 
und daß auf diese Weise auch wirksam ergänzt werde die Tätigkeit 
einzelner Berufsverbände, die das Ergebnis privater statistischer Er- 
hebungen bezüglich übermäßigen Andrangs zu bestimmten Berufen 
zur Kenntnis der Allgemeinheit und besonders von Schulvorständen 
bringen. 

Eine Förderung ersten Ranges versprechen wir uns endlich von 
den Fortschritten, die die Bewegung für Gründung von Heil- 
erziehungsheimen für Belastete machen muß und wird. Wir 
haben in Deutschland schon solche Anstalten, darunter solche von 
vorbildlicher Einrichtung; ihre Zahl ist aber klein und sie beschränken 
sich in der Mehrzahl auf die Kinder begüterter Eltern. Die hier er- 
zielten Erfolge sind überaus erfreulich; ihre Tätigkeit richtet sich 
gerade auch auf die Beobachtung des Einzelnen im Hinblick auf die 
Wahl eines Lebensberufs.. Dringend zu wünschen ist, daß auch 
weniger stark oder zweifelhaft Belastete auf einige Zeit solchen 
Heimen zugeführt werden zur Beobachtung und Feststellung dessen, 
was ihnen nottut. Denn eben diese Fälle können, wie bereits er- 
wähnt, wegen ihrer scheinbaren Harmlosigkeit unerkannt eine sehr 
gefährliche Entwicklung nehmen und zu unheilbaren Berufsirrungen 
führen. — Hier ist für vermögende Menschenfreunde ein 
herrliches Feld, durch hochherzige Stiftungen den Be- 
lasteten unter ihren Mitmenschen wie auch der Allgemein- 
heit gegenüber sich hilfreich zu erweisen. 

Wir sehen Anfänge zur Linderung des Berufswahlnotstandes der 
Belasteten; möge auch auf diesem Gebiete sich die Beschleunigung 
zeigen, die bei der Entwicklung der modernen Jugendfürsorge so er- 
freulich in die Augen springt. 


Kuhn-Kelly: Gewisses u. Ungewisses über das Problem des sog. Versehens usw. 309 


2. Gewisses und Ungewisses über das Problem des so- 

genannten Versehens der Frauen (Muttermale) und 

Mutmaßliches über Vererbung und Beeinflussung des 

Kindes in körperlicher und seelischer Beziehung vor 
der Geburt. 


Beobachtungen und persönliche Erlebnisse aus 20 jähriger Kinder- und Jugend- 
fürsorgepraxis an Hand von einschlägigen Beispielen erörtert von 


Kuhn-Kelly, 
Präsident der amtlichen Jugendschutzkommission der Stadt St. Gallen. 


Vorbemerkung 
von J. F. Landsberg t, Amtsgerichtsrat und Jugendrichter in Lennep. 


Der Leser möge darauf achten, daß Kuhn-Kelly nichts weiter 
will, als den Laien zur Fragestellung auf dem viel umkämpften Ge- 
biete der Vererbungslehre zu veranlassen. Er stellt also dem Laien 
das Problem, mit dem in Naturwissenschaft und Anthropologie die 
Fachleute ringen. Da ist es denn nicht überflüssig zu betonen, daß 
auf eine ganze Reihe der Fragen, welche Kuhn-Kelly anschneidet, 
die Wissenschaft Antworten schon bereit hat. Recht weit vorge- 
schritten ist man da z. B. mit dem Tierexperiment, und man streitet 
sich weniger über dessen Ergebnisse selbst als über die Folgerungen, 
welche aus den Ergebnissen zu ziehen gestattet sind. Kuhn-Kelly 
will freilich nicht nur die Vererbung von Grundeigenschaften be- 
trachten, sondern er möchte als Erzieher gefährdeter Jugend wissen, 
wie deren innerliche Gefährdung entsteht: Durch Anlage? Durch 
äußeren Einfluß? Und, wenn beides, durch welches am meisten? 
Durch welches im einzelnen Falle? Was nun diesen Punkt, diese 
Seite von Kuhn-Kelly aufgeworfenen Problems angeht, so muß zu- 
gestanden werden, daß weder die exakte, noch die ihr verwandte 
statistische Forschung auf große Ergebnisse hinweisen können, so 
fleißig auch gearbeitet wurde. Ich möchte da auf ein 2 Jahre altes 
fleißiges Werk hinweisen, in welchem man reichlich Material findet, 
wenngleich wenig Schlüssiges dabei herausschaut. Das Werk regt zu 
neuen, vielleicht noch erfolgreicheren Versuchen an. Hans W. Grühle: 
»Die Ursachen der jugendlichen Verwahrlosung und Krimi- 
nalität.< Berlin, Julius Springer, 1912. Was nun die eigentliche 
Vererbung angeht, so braucht man nur auf die jüngsten Arbeiten 
Kammerers und Weißmanns hinzuweisen, den Laien aber, der 
nicht allen Einzeldarstellungen folgen mag, auf die volkstümlichen 
Heftchen der »Komos«gesellschaft und auf W. Bölsche »Stirb und 
Werde!« Jena, Diederichs, 1913. Das, was Kuhn-Kelly zunächst 
nicht in seine Betrachtungen einbezieht, was aber der Leser im Durch- 


310 A. Abhandlungen. 








denken der Probleme mit erwägen muß, ist die Ererbung von ent- 
fernteren Generationen her. In den Neugeborenen liegen nicht nur 
die Eigenschaften seiner unmittelbaren Erzeuger, sondern in unend- 
lichen Variationsmöglichkeiten solche der Vorfahren verborgen und 
vielleicht zur Vorherrschaft bestimmt. Da aber hört für die meisten 
unter uns die Forschung auf. Denn, wer möchte es erzwingen, die 
körperliche Natur, die geistige Persönlichkeit auch nur seiner 16 Ahnen 
von der 4. Generation verläßlich darzustellen. An Bildern erkennt 
man ja körperliche Merkmale wieder, am Ausdruck des gemalten 
Antlitzes sogar gewisse Charakterzüge, aus Briefen Charakterschilde- 
rungen, letztere schon oft ohne Vertrauenswürdigkeit. Nun aber gehe 
man einige Generationen weiter, da wir es schon mit Hunderten von 
Personen zu tun haben, von deren Zellkern ein Etwas in dem Kinde 
vorherrschen kann. Sollen wir nun aber wegen dieser Schwierigkeiten 
dies Gebiet dauernd dem Erraten oder der Phantasie überlassen? 
O nein! führt der gerade Weg nicht zum Ziele, die Forschung wird 
auf einem Umwege dem Rätsel immer schärfer auf den Leib rücken. 
Und wer weiß, ob nicht bald einmal die Durchforschung von Blut- 
und Samenzellen unvermutet zu Lösungen führen wird, die uns der 
äußerlichen Ahnenforschung enthebt. Dann liest man den Charakter 
vielleicht aus Blut- und Nervensubstanz, mag auch schließlich Fehlendes 
ergänzen. Wer weiß? Der Geist erforschet alles. 


I. 

Das »Versehen« der Frauen während der kritischen Periode, 
die »Vererbung« und die vorgeburtliche Beeinflussung der 
Leibesfrucht sind Probleme, über die in Fachkreisen schon vielfältige 
und eingehende Erörterungen stattgefunden haben, aber zu ganz 
positiven Resultaten haben sie, meines Wissens, bis heute noch nicht 
geführt, und mehr oder weniger Probleme werden sie zweifelsohne für 
alle Zeiten bleiben, wenn auch noch so viele Hypothesen zu ihren 
Gunsten ins Feld geführt werden sollten und auch noch so Manche 
über diese, etwas mysteriöse Sache den Schleier zu heben versuchen. 

In Laienkreisen dürften diese Fragen schwerlich große Wellen 
werfen, weil das Bedürfnis nach Ergründung derselben nicht in hohem 
Maße vorhanden ist und alles Mysteriöse entweder unsinnig aufge- 
bauscht oder rundweg geleugnet wird. 

So wird z. B. mancher, der von der Beeinflussung oder gar Er- 
ziehung des Kindes vor der Geburt zum erstenmal etwas vernimmt, 
sich kopfschüttelnd die Frage vorlegen, ob es sich verlohne, von einem 


Kuhn-Kelly: Gewisses u. Ungewisses über das Problem des sog. Versehens usw. 311 


Problem zu sprechen, von dem ohne weiteres angenommen werden 
dürfe, daß auch nicht die Spur von Wahrscheinlichkeit auf dessen Ver- 
wirklichung vorhanden sein werde. Das sei undenkbar und völlig 
ausgeschlossen. Dieses Urteil ist gewiß begreiflich und wohl erklär- 
lich, denn, wo es sich um Erziehung handelt, geht die landläufige 
Auffassung dahin, ein Erziehungsobjekt müsse man sozusagen in 
Händen haben, um mit ihm diejenigen Maßnahmen zu ergreifen, die 
zu seiner rationellen Erziehung als zweckmäßig und notwendig er- 
scheinen. Daß man aber das werdende Kind im Mutterleib beein- 
flussen, gewissermaßen erziehen könne, über das man nicht ver- 
fügt, es nicht einmal sieht, geschweige mit ihm reden oder sonst in 
irgend einer Weise verkehren könne, das widerspreche aller Vernunft 
und müsse von vornherein abgelehnt werden. Ich möchte aber doch, 
gestützt auf ganz interessante Erlebnisse an Beispielen in meiner 
Kinder- und Jugendfürsorgepraxis den Versuch wagen, auf dieses sehr 
umstrittene Problem einzutreten, um die Möglichkeit desselben bis zu 
einem gewissen Grade wenigstens nicht gänzlich in Frage zu stellen. 

Es braucht zwar etwas Mut dazu, um für eine so mysteriöse 
Sache, wie die vorgeburtliche Beeinflussung des Kindes (Fötus) eine 
ist, mit demjenigen Maß von Überzeugung einzutreten, daß gegen die 
Wahrscheinlichkeit derselben nicht ganze Haufen von Einreden und 
Zweifeln erhoben werden können, und ich als der Geschlagene da zu 
stehen das zweifelhafte Vergnügen habe. 

Ich glaube aber doch, einige Berechtigung zu besitzen, dieses 
Thema zu behandeln, weil mir Erfahrungen zu Gebote stehen und 
meines Wissens dieses etwas eigentümliche Feld viel weniger Be- 
arbeitung gefunden hat, als manches andere auf dem Erziehungsgebiet. 

Zunächst erübrigt mir darauf hinzuweisen, wie ich dazu gekommen 
bin, mich mit dieser Materie zu beschäftigen und ihr in ernsthafter 
Weise meine ganze Aufmerksamkeit zu schenken. Der Ausgangspunkt 
zu derselben bildete das sogenannte »Versehen« der Frauen resp. 
die »Muttermale«, über die so oft gesprochen, gestritten und ge- 
logen, deren Möglichkeit von vielen bejaht, von andern aber mit 
absoluter Bestimmtheit bestritten wird. 

Ich hatte dem Versehen der Frauen keine besondere Aufmerk- 
samkeit geschenkt, weder daran geglaubt noch es geleugnet, mich 
also neutral verhalten, bis ein ganz besonders interessauter Zufall 
mich veranlaßte, über dieses eigentümliche und unerklärbar scheinende 
Problem ernsthaft nachzudenken, ihm vermehrte Aufmerksamkeit zu 
schenken und mich in der einschlägigen, leider spärlichen Literatur 
etwas umzusehen. Das kam so: 


312 A. Abhandlungen. 





Als meine Frau vor ca. 54 Jahren einige Monate Mutterglück 
empfunden hatte, habe ich mit ihr an einem schönen Sonntagnachmittag 
einen Spaziergang unternommen, und, wie es zu gehen pflegt, haben 
wir uns in einer Sommerwirtschaft niedergelassen und uns in einer 
kleinen Laube ein lauschiges Plätzchen ausgesucht. Neben dieser 
Laube stand ein Kinderwägelchen, in welchem ein etwa 21/,—3jähriges 
Mädchen sehr vergnügt mit Blumen spielte. Längere Zeit zeigte sich 
weder Vater noch Mutter dieses Kindes, und da hatte sich meine 
Frau in freundlicher Weise mit ihm beschäftigt. Endlich erschien 
die Mutter, die am entgegengesetzten Ende des Wirtschaftsgartens im 
Gespräch mit einer Frau nicht so bald den Rank gefunden hatte. Sie 
nahm das Kind auf den einen Arm und schüttelte mit dem andern 
die Kissen, wobei sie eine drehende Bewegung machte, bei welcher 
Gelegenheit meine Frau beobachtete, daß das Kind unter dem einen 
Ohrläppchen mit einem roten Fleck verunziert war. Auf die Frage 
meiner Frau, was das für ein Fleck sei, antwortete die Mutter, das 
sei ein Muttermal, das der Hälfte einer reifen, roten Himbeere gleiche. 

Diese Äußerung erweckte meine Neugierde, ich schaute mir die 
Sache an und beobachtete, daß dieser Fleck so aussah, als ob eine 
ausgereifte, rote Himbeere (es gibt bekanntlich auch weiße) mitten 
durchschnitten, und die eine Hälfte unter dem einen Ohrläppchen hin- 
geklebt sei. Sogar die kugeligen Erhöhungen an der Beere waren 
deutlich erkennbar. Auf meine Frage, woher dies wohl kommen 
möge, bemerkte die Mutter, während der kritischen Periode habe sie 
mit Himbeeren zu schaffen gehabt und erzählte davon. 

Nun ist mir leider nicht mehr ganz erinnerlich, es ist schon zu 
lange her, in welcher Weise dies geschah, ob sie ein großes Verlangen 
nach dieser Frucht empfunden hatte und dasselbe nicht befriedigen 
konnte, oder ob sie ihren »Glust« darnach im Übermaß befriedigt 
hatte, oder ob sie sich in anderer Weise mit der Beere beschäftigte. 
Es ist aber für die Sache selbst von untergeordneter Bedeutung, ob das 
eine oder andere stattgefunden habe. Das Wesentliche liegt darin, daß 
es sich bei dieser Mutter während der kritischen Zeit so oder anders 
um Himbeeren gehandelt hat, und daß sie den Schluß daraus zog, 
in der Himbeerangelegenheit möchte die Veranlassung oder die Ur- 
sache zu dem Muttermal zu suchen sein. 

Im ersten Moment hatte mich diese eigentümliche Sache ver- 
blüfft, und ich wußte nicht recht, wie ich sie mir deuten sollte. Ist 
das Versehen der Frauen nur so eine Art Mythe, oder das natürliche 
Geschehen, von uns einstweilen unfaßbaren Kräften der Natur? 
Immerhin konnte ich mich eines gewissen skeptischen Gefühles nicht 


Kuhn-Kelly: Gewisses u. Ungewisses über das Problem des sog. Versehens usw. 313 





erwehren, da ich schon damals keine große Liebhaberei für Zeichen 
und Wunder empfand. Von meinem Skeptizismus wurde ich aber, 
wie ich gleich ausführen werde, gründlich geheilt, und heute stehe 
ich auf dem Standpunkt, daß ich das Versehen der Frauen als 
eine unleugbare und von der Wissenschaft unwiderlegbare 
Tatsache betrachte. 

Meine Frau äußerte ihr Bedauern der Mutter dieses Kindes gegen- 
über und meinte, weil es ein Mädchen sei, so werde es wahrschein- 
lich später nicht, oder doch nicht gerne, sogar wenn es Mode sein 
sollte, offenen Hals tragen, um den Blicken Neugieriger nicht ausgesetzt 
zu sein, und um nicht unangenehme Fragen beantworten zu müssen. 

Es sei schade, sagte sie, daß diese Himbeere nicht ein Stück 
weiter unten sei, etwa da, und damit zeigte sie mit dem Zeigefinger 
der rechten Hand auf ihren linken Oberarm. Ja, meinte die Mutter, 
es wäre ihr dies auch lieber, aber da sei eben nichts zu machen. 

Die Unterredung war damit zu Ende, die Mutter setzte das Kind 
wieder ins Wägelchen, meine Frau und ich kehrten nach Hause und der 
Angelegenheit wurde weiter keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. 

Nach etwa einem halben Jahre erfreute mich meine damals junge 
Frau mit dem zweiten Kinde, auch einem Mädchen und zu unserm 
größten Erstaunen hatte dasselbe eine schöne, große, rote 
Himbeere als Muttermal am linken Oberarm, an der Stelle, 
wo meine Frau mit dem Zeigfinger der rechten Hand an 
jenem denkwürdigen Sonntag hingezeigt hatte. Ist das nur 
Zufall, oder liegt eine besondere Ursache, eine geheime, uns un- 
erklärliche Kraft zugrunde, ist eine schwer zu beantwortende Frage. 
Wenn mir dies von jemandem erzählt worden wäre, würde ich wahr- 
scheinlich ein bischen die Achsel gezuckt und ein ungläubiges Ge- 
sicht dazu gemacht haben. 

Da ich aber Gelegenheit hatte, diese Beobachtung an meinem 
eigenen Kinde zu machen — und ich bürge für ganz getreue 
Darstellung — da kann von bloßer Mythe nicht gesprochen werden. 
Nun wird man begreifen, daß ich vom Tage der Geburt meines Kindes 
an am Versehen der Frauen nicht mehr zweifeln konnte. 

Es wird hierüber viel Glaubliches und Unglaubliches erzählt, und 
gerade, weil die Sache einen mysteriösen Anstrich hat, gefällt man 
sich in phantasiereichen Darstellungen und erzeugt damit Unsicherheit. 
des Urteils im Publikum. In medizinischen Kreisen verhält man sich, 
so weit ich beobachten konnte, eher ablehnend, als zustimmend zu 
dieser Frage. Mir hat ein Arzt, den ich darüber befragte, kurz und 
bündig geantwortet: »Herr Kuhn-Kelly, das ist nix!« 


314 A. Abhandlungen. 





Eine gebildete, ganz ernste Frau erzählte mir, als sie eines 
Morgens in der Küche den Kaffee bereiten wollte, habe es beim Be- 
treten derselben auf dem Küchenboden von einer Unmenge von so- 
genannten »Schwabenkäfern«e gewimmelt, und unter ihren Füßen 
habe es beim Vertreten dieser Tiere förmlich gekracht. Es habe ihr 
geekelt und sie sei so erschrocken, daß sie mechanisch und unbe- 
absichtigt mit den Händen nach dem Nacken gefahren sei. Die vielen 
Käfer habe sie dann mit dem Besen zusammengewischt und beseitigt. 
Nach einiger Zeit habe sie ein Knäblein geboren, das im Nacken ein 
Muttermal in Form eines Käfers aufgewiesen habe. Dieses Mutter- 
mal sei später in eine Art entzündlichen Zustand geraten und habe 
operativ entfernt werden müssen. 

Man wird kaum fehl gehen, wenn vermutet wird, daß manche 
Frauen von ähnlichen Erscheinungen berichten könnten.!) 

Es gibt ja Ganz- und Halbgelehrte und Ungelehrte, die nur das 
als wahr anerkennen, was wissenschaftlich bewiesen ist, oder bewiesen 
werden kann. Nun aber ist es Tatsache, daß im Naturgeschehen Er- 
scheinungen zum Vorschein kommen, bei deren Ergründung der 
schärfste Menschenverstand und die Wissenschaft kapitulieren müssen, 
und man braucht nicht abergläubisch angehaucht zu sein, um einge- 
stehen zu müssen, daß Geschehnisse stattfinden und Kräfte an der 
Arbeit sind, die der menschliche Geist noch nicht völlig ergründet 
hat und möglicherweise nie ergründen wird. Sind beispielsweise die 
innersten, geheimen Vorgänge des Lebens im Aufbau aller organischen 
Wesen und das Leben an und für sich ergründet? Eine Frage, die 
einstweilen noch der Beantwortung harrt. 

»Ganz ins Innere der Natur dringt kein erschaffner 
Geist,« sagt der große Berner Gelehrte Haller und bis heute ist er 
noch nicht Lügen gestraft worden. 

»Es wäre ein logischer Fehler, wenn man aus der Unbegreiflich- 
keit gewisser Vorgänge in der Natur auf deren Nichtexistenz schließen 
zu dürfen sich vermessen wollte, und es wäre Hochmut menschlicher 
Unwissenheit, anzunehmen, daß etwas unmöglich sei, nur deshalb, weil 
es uns unbegreiflich erscheint. Wollten wir aus dem so viel be- 


!) Über einen Fall möchte ich berichten. Im Jahre 1876 war ich Lehrer an 
der Mittelschule in Stade. Gelegentlich sprach ich mit dem Vater einer meiner 
Schüler, dessen Bruder eine sogenannte Hasenscharte hatte, sonst aber ein niedlicher 
Junge war. Da erzählte mir der Vater, eines Tages hätte seine Frau ihn gerufen, 
er möge doch in den Laden kommen, sie hätte sich vor einem Kunden so erschreckt. 
Er fand einen französischen Gefangenen, einen Zuaven, der eine entsetzliche Hasen- 
scharte hatte. Wie später sein zweiter Knabe geboren wurde, kam er auch mit 
einer Hasenscharte zur Welt. Trüper. 


Kuhn-Kelly: Gewisses u. Ungewisses über das Problem des sog. Versehens usw. 315 





wunderten Naturgeschehen alles ausscheiden, was uns unbegreiflich 
und unerklärlich erscheint, so würde ein unerheblicher Rest Erklär- 
liches und Begreifliches verbleiben,« sagt ein großer Naturforscher. 

Es hat sich bei mir unwillkürlich die Frage aufgedrängt, welche 
Kraft wohl vorhanden gewesen sei, die die Kunst besaß, die Himbeere 
plastisch, getreu nachzubilden, welche Kraft die rote Farbe dazu bei 
dem Mädchen geliefert habe, und wie es bei meiner Frau in aller 
Stille und Verborgenheit zugegangen ist, daß bei meinem Kinde die 
Himbeere in ähnlicher Gestalt und Farbe genau an der Stelle am 
linken Oberarm zum Vorschein gekommen ist, wohin meine Frau 
etwa ein halbes Jahr vorher mit dem Zeigfinger der rechten Hand 
hingedeutet hatte. 

Merkwürdig, verblüffend, rätselhaft ist die Sache auf alle Fälle, 
wie noch vieles andere in der Natur. Sind die Naturgesetze alle, samt 
und sonders, ganz genau betrachtet, nicht auch wunderbar in ihrem 
geheimnisvollen Walten, das uns zum größten Staunen hinreißt? So 
gibt es Vorgänge in der Natur, die wir mit dem leiblichen oder 
geistigen Auge betrachten, ohne den Urgrund auch nicht im ent- 
ferntesten erfassen zu können. 

Das scheint auch beim Versehen der Frauen der Fall zu sein, 
denn der Versuch einer physiologischen Erklärung läßt uns gänzlich 
im Stich. À 

Man hat die sogenannte Suggestion als Erklärungsgrund an- 
zugeben versucht. Wenn wir mit ziemlicher, nach der Ansicht vieler 
Gelehrter und Ungelehrter mit völliger Sicherheit von Suggestion 
sprechen können, so stehen wir schon wieder vor einem Rätsel, wenn 
wir uns die sehr naheliegende Frage vorlegen, worin denn das eigent- 
liche Wesen der Suggestion bestehe, welche Kräfte in ihr wirken, 
woher sie kommen, wie sie sich entfalten und zur Wirkung gelangen? 
Die Wissenschaft hat festgestellt, daß die Lichtstrahlen z. B. in einer 
Sekunde 40000 Meilen oder 312000 Kilometer zurücklegen, gewiß 
eine sehr nette Leistung. Wir können aber nicht begreifen, wie sie es 
machen, um diese erstaunliche Schnelligkeit zu erreichen, oder wie es 
bei der Elektrizität zugeht, die es fertig bringt, vermittelst eines 
simpeln Kupferdrahtes, sogar in neuer Zeit ohne einen solchen, bis nach 
Amerika und weiterhin unsere Gedanken mit Blitzeschnelle zu tragen. 

Die Erfahrung lehrt, daß bei der Elektrizität eine Kraft vorhanden 
ist, die ganz enorme Leistungen zu verrichten die Fähigkeit besitzt, 
große Eisenbahnzüge mit Leichtigkeit fort bewegt und viele andere 
Kraftleistungen vollbringt. 

Wenn wir aber die Frage stellen, welche Kraft es im Grunde ge- 


316 A. Abhandlungen. 





nommen sei, woher sie komme, wie sie zu ihren Leistungen gelange, 
so heißt in diesem Falle, die Frage stellen, nicht, sie zugleich beant- 
worten. So geht es uns bei vielen Erscheinungen. Wir können sie ganz 
einfach nur konstatieren, aber nicht eigentlich und restlos begreifen. 

Wir stehen da vor einer hohen, undurchsichtigen Wand, 
hinter welcher — das ahnen wir — etwas hochinteressantes 
vorgeht, das wir gerne sehen möchten, aber wir mögen uns, 
auf den Fußspitzen stehend, strecken und recken, wie wir 
wollen, so sind wir zu klein, es langt eben nicht, um über 
diese Wand hinüber zu schauen, zu ergründen und zu er- 
forschen, was hinter ihr vorgeht, und wir können unsere 
Neugierde und das sehnliche Verlangen so manchen rätsel- 
haften Naturerscheinungen auf den Grund zu kommen, 
schlechterdings nicht befriedigen. 

Es ist gewiß eine sehr schöne Sache um das Bestreben des 
Menschengeistes, möglichst tief in die Geheimnisse der Natur einzu- 
dringen und ihre Gesetzmäßigkeit zu erforschen und zu erklären. 
Wenn aber die Wissenschaft alles erklären könnte und ihr zum 
Forschen nichts mehr übrig bliebe, so würde der große Reiz des 
Weiterstrebens und Forschens aufhören und der Schaden wäre größer, 
als der Gewinn. 

Ich meine nun, wir fahren am besten, wenn wir die Tat- 
sache des Versehens der Frauen als solche hinnehmen, und 
alles Grübeln darüber bei Seite lassen, denn alle Versuche, 
eine völlig zufriedenstellende Erklärung zu finden, wie die Mutter- 
male entstehen können, sind eitel Liebesmühen. 


I. 

Nun aber sei mir gestattet, Folgerungen daraus zu ziehen, die 
zu dem Problem der vorgeburtlichen Beeinflussung der Leibesfrucht 
hinüberleiten. Es sind mir in meiner Jugendfürsorgepraxis eine Menge 
Kinder unter die Hände gekommen, die abnorme Gemüts-, Herzens- 
und Charakteranlagen aufgewiesen haben, was mir oft Kopfzerbrechen 
verursacht hat und ich darüber nachdenken mußte, woher es wohl 
kommen möge, daß solche Abnormitäten auf der Bildfläche erscheinen, 
die den betreffenden Kindern oft zum schweren Schaden gereichen. 

Wir kennen das Gesetz der Vererbung, das von Einsichtigen, 
Kurz- und Weitsichtigen als tatsächlich bestehend, je länger desto 
mehr erkannt und ihm in neuerer Zeit erhöhte Aufmerksamkeit ge- 
schenkt wird. Über das eigentliche Wesen und die funktio- 
nellen Vorgänge bei diesem Gesetze sind wir so wenig unter- 


Kuhn-Kelly: Gewisses u. Ungewisses über das Problem des sog. Versehens usw. 317 





richtet, wie bei manchen andern Gesetzen in der Natur. 
Wir erkennen es aber aus seinen tatsächlichen Wirkungen. Im Volks- 
mund wird oft davon gesprochen. Hört man doch häufig die Äuße- 
rung, dies oder jenes Kind gleiche physiognomisch ganz dem Vater 
oder der Mutter, auch zeige es väterliche oder mütterliche geistige 
und seelische Eigenschaften. 

Bei ungeratenen Kindern hört man nicht selten in wegwerfendem 
Tone sagen: »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamme.« Damit 
ist Vererbung angedeutet. Ich selbst habe manche Eigenschaften 
meiner Mutter geerbt, insonderheit das Gemüt, vom Vater gar keine. 
Ich kenne einen jungen Studiosus, an dem körperliche, geistige und 
gemütliche Anlagen seines verstorbenen Vaters in ganz auffallender 
Weise in die Erscheinung treten. Figur, Haltung, Gang, Bewegungen, 
Benehmen, sogar Klang und Tonfall beim Sprechen und eine kaum 
bemerkbare, kleine Abnormität im Gesicht sind väterlichen Ursprungs. 
Er ist die reinste Kopie seines Vaters. Der mütterliche Einfluß 
ist nicht erkennbar. Er konnte das alles nicht etwa vom Vater ab- 
schauen und ihn nachahmen, denn dieser ist gestorben, als sein Kind 
etwa 2 Jahr alt gewesen ist. 

Ich habe den jungen Mann von Kindsbeinen an vielfältig und 
aufmerksam beobachtet und habe oft Staunen über die auffallenden 
Wirkungen des Vererbungsgesetzes empfunden. Daß in diesem Falle 
Täuschung nicht vorliegt, wird man um so eher begreifen, wenn ich 
erkläre, daß dieser Studiosus mein leibhaftiger Großsohn ist. 

Wenn wir vom tatsächlichen Vorhandensein des Vererbungs- 
gesetzes ausgehen, so dürfte angenommen werden, daß ein jähzorniger, 
roh gesinnter Vater nicht mitleidige, weichherzige und gemütsreiche 
Kinder zu erwarten habe, es sei denn, daß die seelischen Eigenschaften 
einer weichherzigen, gemütswarmen Mutter über die rohen des Vaters 
den Sieg davon tragen. 

Anderseits werden hoch und ideal gesinnte, edeldenkende, ge- 
mütsreiche Eltern sich Kinder mit ebensolchen Eigenschaften in der 
Regel zu erfreuen haben. Auch hat man schon tausendfach die 
traurige Beobachtung gemacht, daß Kinder von Alkoholikern durch- 
schnittlich schwachbegabt, schwachsinnig, sogar idiotisch beanlagt sind, 
ein vollgültiger Beweis für das Vorhandensein des Vererbungsgesetzes, 
das nicht in jedem unserer 22 Kantone anders ist, wie die Erbschafts- 
gesetze vor Einführung des Zivilgesetzbuches es waren. 

Das Vererbungsgesetz mit seinen bis heute uner- 
forschten, geheimen Vorgängen, und glücklicherweise ohne 
bindende Paragraphen, ist im höchsten Grade international. 


318 A. Abhandlungen. 








Sogar unsere Vorfahren im grauen Altertum hatten Ahnung vom 
Vererbungsgesetz, wovon das oft zitierte Schlagwort: 

»Der Väter Missetat wird heimgesucht an den Kindern 
bis ins dritte und vierte Glied« Zeugnis ablegt. 

Wer das Vererbungsgesetz wirtschaftlich, spekulativ auszunützen 
versteht, das sind vorzugsweise die Gärtner und die Landwirte bei 
der Züchtung von Pflanzen und Tieren. Wie werden männliche und 
weibliche Zuchttiere teuer bezahlt, zärtlich gehegt und gepflegt, mit 
Wohlgefallen betrachtet und gelobt und wie oft mit hohen Prämien 
ausgezeichnet! Alles im Interesse der Züchtung ausgesucht schöner 
Rassentiere. Das ist sehr begreiflich, weil es sich eben lohnt und 
Verdienen eine angenehme Sache ist. Nicht weniger verstehen die 
Gärtner aus dem Vererbungsgesetz Nutzen zu ziehen, indem sie ge- 
lernt haben, durch künstliche Befruchtung die schönsten Blumen- 
varietäten zu züchten und einträglichen Handel mit ihnen zu treiben. 

Einer der größten Künstler auf diesem Gebiete ist der Farmer 
Burbank in Santa Rosa in Kalifornien, der auf künstlichem Wege 
nach jahrelangen geglückten und mißglückten Versuchen die wunder- 
vollsten Blumen und Früchte zu züchten verstanden hat und dadurch 
zur großen Berühmtheit geworden ist. Es wird berichtet, daß es ihm 
gelungen sei, Pfirsiche von doppelter Größe und Äpfel von Pfund- 
schwere zu züchten, eine Kaktusart ohne Stacheln, eine Pflaume ohne 
Steine und eine Brombeere ohne Dornen hervorzuzaubern. 

Seine einzigartigen Anlagen werden massenhaft von Leuten aus 
allen Himmelsgegenden besucht und auch nach Gebühr bewundert. 

Nach fünfjährigen Versuchen sei es ihm gelungen, eine Kartoffel 
zu züchten, die an Güte alle bekannten Sorten übertroffen habe und 
die er Burbankkartoffel nannte. Diese sei bei den dortigen Farmern 
so begehrt geworden, daß von dieser Saatkartoffel solche Mengen an- 
gepflanzt worden seien, daß nach den Feststellungen des landwirt- 
schaftlichen Ministeriums in Washington die Fruchtbarkeit dieser 
Kartoffel den Ertrag um jährlich viele Millionen Dollars in den Ver- 
einigten Staaten Nordamerikas gesteigert habe. 

Das, was man über den Tausendskünstler erfährt, mutet allerdings 
etwas »amerikanisch« an, aber das ist und bleibt Tatsache, daß der 
Züchter Burbank, dieses Unikum, sich als ingeniöser Verwerter des 
Vererbungsgesetzes nicht nur überm Ocean, sondern auch weiterhin 
großen Namen erworben und dem Gesetze selbst durch vielfältige 
Ausnützung geradezu erstaunliche Geltung verschafft hat. 

Es wäre nun gewiß nicht ganz irrationell, wenn man planmäßig 
auch Menschenzüchtung betreiben wollte und könnte, im Interesse einer 


Kuhn-Kelly: Gewisses u. Ungewisses über das Problem des sog. Versehens usw. 319 








körperlich, geistig und seelisch gesunden Menschenrasse. Aber dieser 
Gedanke ist uns ganz unsympathisch. 

Es handelt sich bei der Züchtung von Pflanzen und Tieren um 
materielle Vorteile, also ums »Geschäft«e. Aber, der Mensch mit 
seiner Intelligenz, seinem Gemüt und der empfindsamen Seele ist ein un- 
endlich höheres Wesen, bei dem nicht das physische Produkt in erster 
Linie in Betracht kommt, da ideale, seelische und ethische Werteim 
Spiele sind, die sich beim Menschen unmöglich spekulativ verwerten lassen. 

Beim »Geschäft« müßte die Geschlechtsliebe in manchen Fällen 
ausgeschaltet werden, die ja den Fortbestand des Menschengeschlechtes 
auf idealer Basis garantiert, und diese können, wollen und 
dürfen wir niemals preisgeben und der Spekulation überlassen. 

Wenn daher einerseits von einer planmäßigen Menschenzüchtung 
nicht die Rede sein kann, so sollten aber auch anderseits sogenannte 
Vernunft- und Spekulationsehen gänzlich ausgeschlossen sein, da sie 
im allgemeinen nicht zur Regeneration des Menschengeschlechtes und 
damit auch des Staates beitragen. Es sind menschenunwürdige Aus- 
wüchse, wenn Ehen geschlossen werden, bei denen Gold und Wert- 
papiere, Aktien, Obligationen und Hypothekartikel eine größere Rolle 
spielen, als wahre Liebe, Gesundheit, Treue, Herzensgüte und Geistesgröße. 

Denn, es ist gar keine Seltenheit, daß Nachkommen solcher Ehen 
degenerieren, was den sittlichen, moralischen und ökonomischen Ver- 
fall der Geschlechter durch allmähliche Vererbung zur Folge hat. Die 
Geschichte zahlloser, seinerzeit hervorragender berühmter Geschlechter 
lehrt dies bedauerlicherweise zur Genüge Wenn es Familien gibt, 
deren Glieder sich durch auffallende Ähnlichkeit in den Gesichtszügen 
verraten, und man sie sofort am »Familientyp« erkennt, also hier 
offenbar körperliche Vererbung vorliegt, so ist es gewiß nichts weniger 
als gewagt, wenn wir daraus die Folgerung ziehen, daß auch anderes 
vererbt werden könne, als nur körperliche Vorzüge und Nachteile, 
nämlich gute und schlechte Eigenschaften, seelische und geistige, 
gemütliche und sittliche. Tugenden, Talente, Herzensgüte, Mitleid, 
Gemütswärme, Intelligenz, Frohmut usw., aber auch Roheit, Jähzorn, 
Dummheit, Gefühllosigkeit, Diebssinn u. dergl. mehr. Von dem großen 
französischen Tondichter Gounod wird berichtet, er habe sich dahin 
geäußert, seine Mutter habe ihm ebensoviel Musik zu trinken gegeben, 
wie Milch, denn sie habe ihm nie die Brust gereicht, ohne dabei zu 
singen: Si non e vero e ben trovato. Bei der Vererbung schlechter 
figenschaften spricht man bekanntlich von »erblicher Belastung«. 

Nun aber habe ich auch schon Kinder versorgt, bei denen außer- 
gewöhnliche Eigenschaften zutage traten, die bei den Eltern nicht zu 


320 A. Abhandlungen. 





entdecken waren und daher von Vererbung des Charakters nicht die 
Rede sein konnte. Auch das hat mir Kopfzerbrechen verursacht, bis 
mich wieder der Zufall auf eine Fährte geführt hat, die mir wenigstens 
annähernd einigen Aufschluß verschaffte. Um zur mutmaßlichen Er- 
klärung solcher Fälle zu gelangen, muß ich zum Versehen der Frauen, 
also zum Muttermal zurückgreifen. Wenn Muttermale, so sagte ich 
mir, als körperlich wahrnehmbare Erscheinungen auftreten können, 
liegt es außer aller Möglichkeit, daß sie, wie schon angedeutet, im 
Seelen- und Geistesleben der Kinder zutage treten, die zwar durch 
unser leibliches Auge nicht erkennbar sind, die sich aber im Be- 
nehmen und Handeln der Kinder offenbaren? 

Kann der Seelen- und Gemütszustand der Mutter während der 
Zeit, in der sie in Erwartung ist, nicht auf das spätere Gemüts- und 
Seelenleben des Kindes entscheidenden Einfluß ausüben? Das ist eine 
Frage, deren Bejahung zwar nicht auf mathematische Gewißheit, wohl 
aber auf große Wahrscheinlichkeit Anspruch erheben darf. Zur Er- 
härtung dieser Wahrscheinlichkeit möchte ich auf folgendes Bild auf- 
merksam machen: Eine arme geplagte Frau, die schon eine ziemliche 
Schar Kinder um sich hat, ist in Erwartung. Der Verdienst des 
Mannes reicht knapp hin, um die Familie durchzubringen. Die Kinder 
sind noch zu jung, um mitverdienen zu können. Das eheliche Ver- 
hältnis ist nicht so ganz ideal, wie es sein sollte und wünschenswert 
wäre, die Sorgen drücken von manchen Seiten allzusehr. Die Mutter 
ist bekümmert, daß die Schar ihrer Kinder sich wieder um eines ver- 
mehren und damit neue Sorge zu den bisherigen einkehren wird. 
Ihren Zustand hält sie für ein Unglück und sie kann sich des so 
wünschenswerten Frohmutes nicht erfreuen. 

Auch der Mann empfindet diesen Druck und sucht ihn ab und 
zu, vielleicht mehr als ab und zu, im Alkoholgenuß zu vergessen, was 
den Druck der Mutter nur noch vermehrt, und so sieht sie, statt sich 
zu freuen, schweren Herzens dem Ereignis entgegen. 

Das ist kein Phantasiegemälde, sondern nüchterue Wirklichkeit, 
wie sie oft zu treffen ist. 

Nun habe ich, gestützt auf vielfältige Erfahrungen, die vollendete 
Überzeugung, daß der gedrückte Seelenzustand und das unfröhliche 
Gemüt einer Mutter, die bei ihr während der ganzen kritischen Zeit 
heitere, anhaltend vergnügte Stimmung nicht haben aufkommen lassen, 
von nicht zu verkennendem Einfluß auf das Seelen- und Gemütsleben 
des Kindes ausüben können und auch werden. Ich konnte um so 
eher zu dieser Ansicht gelangen, als erwiesenermaßen Abnormitäten, 
wie Erregtheit, Nervosität, trübes Gemüt, unruhiges Wesen, psycho- 


Kuhn-Kelly: Gewisses u. Ungewisses über das Problem des sog. Versehens usw. 321 





pathische Minderwertigkeit, Mangel an kindlicher Lieblichkeit bei 
Kindern von Eltern, die beständig mit Sorgen und Bekümmernissen 
aller Art zu kämpfen haben, viel häufiger vorkommen, als bei solchen 
Eltern, bei denen nicht Schmalhans zu Hause ist, wo sonnige Tage 
das Familienleben würzen, Frohmut und Heiterkeit das Gemüt er- 
wärmen und beleben, und die Aussicht auf gelegentliche Ankunft 
eines Neubürgers die Mutter, statt mit Kummer und Sorgen bedrückt, 
mit Freude, Glück und Hoffnungen fröhlich belebt und erheitert. In 
solchen Familien trifft man kindliche Lieblichkeit, Frohsinn, Natürlich- 
keit, Lebenslust, Normalität überhaupt viel häufiger an, als da, wo 
Nahrungs- und andere Sorgen das Regiment führen und dadurch eine 
sorgfältige, oder doch anständige Erziehung mehr oder weniger in den 
Hintergrund gedrängt und den Kindern unberechenbaren Schaden zu- 
gefügt wird. 

Wenn eine mangelhafte, oder schlechte Erziehung bei Kindern 
Ungehörigkeiten mancher Art erzeugen kann, was sehr schlimm ist, 
so wird es noch viel schlimmer, wenn unangenehm vererbte An- 
lagen des Vaters, oder der Mutter noch dazu kommen. 

Die Forschungen über die weitgehende Macht der Vererbung im 
guten und schlimmen Sinne haben gezeigt, daß, wenn diese Macht 
schon auf körperlichem Gebiete eine große ist, sie auf dem seelischen 
und geistigen Gebiete nicht weniger groß, sogar größer sein kann, als 
auf dem körperlichen, und daß somit der Mensch, als ein vorzugs- 
weise geistiges Wesen von dieser Macht in hohem Grade beeinflußt 
werden kann. Die so vielfältig vorkommende Vererbung von Geistes- 
krankheiten weist deutlich darauf hin. 

Man kann ebensogut ein krankes, abnormales, oder ein gesundes, 
normales, zu großen, erhabenen Leistungen befähigtes Gehirn ererben, 
als ein zu großen, segensreichen, materiellen Leistungen befähigtes 
Vermögen. Während die Erfahrung schon zur Genüge gelehrt 
hat, daß es beim Erben von Reichtümern oft recht sonderbar mensch- 
lich, egoistisch zu- und herzugehen pflegt, haben wir nicht einmal 
eine blasse Ahnung von dem ganz geheimnisvollen Prozeß, durch den 
die körperliche, seelische und intellektuelle Vererbung zustande kommt. 

In dieses Dunkel genügend hinein zu leuchten, ist der mensch- 
liche Geist und die Wissenschaft bis heute leider noch nicht in der 
überaus glücklichen Lage gewesen. 

Diese Tatsache gibt uns einen Begriff, wie wunderbare Wege die 
Natur zu gehen vermag, zu deren Verständnis weder das Beobachtungs- 
vermögen unserer Sinne, noch das Denkvermögen unseres Verstandes 
hinreicht. 

Zeitschrift für Kinderforschung. 21. Jahrgang. 21 


322 A. Abhandlungen. 





Die Tatsache aber, daß der normale oder abnormale 
Geistes- und Gemütszustand einer Mutter während der kriti- 
schen Zeit, ihr heiteres oder gedrücktes seelisches Emp- 
finden günstigen oder ungünstigen Einfluß auf die Leibes- 
frucht auszuüben imstande ist, bleibt erfahrungsgemäß be- 
stehen, auch wenn wir nicht in der glücklichen Lage sind, 
haarscharfe, unumstößliche Beweise dafür erbringen zu 
können. 

Es ist kein Hirngespinst, wenn angenommen wird, daß eine 
Mutter zu ihrem, noch nicht gebornen Kinde sich in einem ähnlichen 
Kontakte befindet, wie eine Telephon- oder Telegraphenstation zur 
andern. Es gehen von der mütterlichen Zentralstation Impulse auf 
das keimende Leben über, die für dieses von ausschlaggebender Be- 
deutung werden können. Quillt doch das alles belebende, schaffende 
und aufbauende Blut von der Mutter zum werdenden Kinde in nie 
ermüdendem Wechselgang. Es ist daher auch nicht anzunehmen, daß 
diese Wechselwirkung ohne alle und jede körperliche, seelische, ge- 
mütlich und intellektuelle Einwirkung auf das in der Entwicklung be- 
griffene Kind verlaufe. Es liegt ganz und gar nicht im Sein und 
Wesen des wunderbaren Naturgeschehens, unnütze Arbeit zu ver- 
richten. 

Ich habe die Auffassung, daß bei vielen entgleisten Individuen 
ihr bedauernswertes Los nicht in allen Fällen ihrer eigenen Schuld 
zuzuschreiben ist, sondern, daß bei solchen Opfern die erbliche Be- 
lastung oft ganz, oder zum Teil mitspielt. Das sind unglückliche 
Menschen, deren Handlungen infolge erblicher Belastung unwider- 
stehlich mehr oder weniger beeinflußt sind. Solche bedauernswerte 
Individuen möchte ich wie von der Natur aus als »Unschuldig 
Verurteilte« bezeichnen. Damit soll aber ja nicht gesagt sein, daß 
alle Gesetzesverletzer, Verbrecher z. B. als abnormale Menschen zu be- 
trachten und demgemäß zu behandeln seien. 

Immerhin aber ist es erwähnenswert, daß in der modernen 
Kriminalpsychologie der erblichen Belastung mehr Aufmerksamkeit 
geschenkt und bei der Verurteilung folgerichtig auch mehr Nachsicht 
getragen wird, als dies in früheren Zeiten der Fall gewesen ist. 

Ich will nun versuchen, der Wahrscheinlichkeit bezüglich ganz 
abnormer Beanlagung, die mit den Charaktereigenschaften speziell 
der Mutter nicht in Beziehung stehen, an zwei Beispielen, die ich er- 
lebt habe, das Wort zu reden, und die Möglichkeit der vorgeburt- 
lichen Beeinflussung der Leibesfrucht einigermaßen ins 
Licht zu setzen. 


amm 


Kuhn-Kelly: Gewisses u. Ungewisses über das Problem des sog. Versehens usw. 323 





II. 

Der erste Fall betrifft eine Mutter eines etwa 15 Jahre alten 
Knaben, ihr einziges Kind, die mich um Rat und Hilfe vor Jahren 
angesprochen hatte. Sie klagte, sie wisse sich mit demselben nicht 
mehr zu helfen und bat mich, ich möchte ihn in einer Erziehungs- 
anstalt versorgen. Sie sei halb in Verzweiflung, denn er habe eine 
ganz unwiderstehliche Sucht zum »Schnipfen«. Alle Ermahnungen, 
sogar Strafen seien ohne wesentlichen Erfolg gewesen. Wo er etwas 
sehe, das ihm einleuchte, greife er darnach und dieses auffallende 
Benehmen habe sich bei ihm zur eigentlichen Sucht ausgeartet. Es 
komme ihm nicht sehr darauf an, ob ihm die Gegenstände nützen 
oder nicht, er nehme sie doch, und er sei schon mit gefüllten Hosen- 
taschen heimgekommen, die entleert, meistens wertlose Gegenstände 
zutage gefördert haben. Die Eltern konnten ihn in einem Geschäft 
als Ausläufer unterbringen, er sei aber wegen Diebereien bald entlassen 
worden, und in einem zweiten und dritten Geschäft sei die gleiche 
Geschichte gewesen. Nun seien sie ratlos, welche Maßnahmen zu er- 
greifen seien. Ich schöpfte sofort Verdacht, das eigentümliche Be- 
nehmen des Knaben möchte durch eigenartige Vorkommnisse mut- 
ıaßliche Begründung finden, und ich bemerkte der Frau, sie möchte 
es nicht übel aufnehmen, es geschehe nicht aus Neugierde, sondern 
es liege für mich ein ganz besonderes Interesse zugrunde, wenn ich 
sie frage, ob sie vielleicht während der kritischen Zeit mit diesem 
Knaben auch geschnipft oder gar gestohlen habe. Diese unerwartete 
Frage brachte sie in nicht geringe Verlegenheit und sie beteuerte, 
sie habe sich noch nie an fremdem Gut vergriffen, und auch der 
Knabe sei nie Zeuge diebischer Handlungen gewesen, worauf ich ihr 
bemerkte, die Sache sei mir zu auffallend und sie möchte sich be- 
sinnen, ob sie nicht etwas begangen habe, das auf die Ursache des 
Reizes dieses Knaben schließen lasse, worauf sie nach einigem Be- 
sinnen erklärte, meine Vermutung dürfte doch begründet sein und sie 
erzählte mir folgendes: Ihr Mann sei Sticker, ein sehr guter Arbeiter, 
aber ein leichtfertiges Blut, und mit seinem Verdienst verstehe er 
nicht haushälterisch umzugehen, so daß sie mitunter etwas schmal habe 
durch müssen. Zu allem Unstern sei er jeweilen von Samstag Abend 
bis Sonntag nach Mitternacht in einer großen Bierhalle als Aufwärter 
tätig, verdiene schön Geld und schlafe dann bis Montag Nachmittag. 
Gegen Abend gehe er aus, komme nicht immer zeitig heim und gehe 
auch am Dienstag selten zur Arbeit, verjuble das Geld und dann sei 
für die folgenden Tage nicht immer genügend vorhanden. Dann sei 
sie auf den rettenden Gedanken gekommen, ihrem Manne jeweilen 

21* 


324 A. Abhandlungen. 





Montags, während er im Schlafe gelegen habe, heimlich aus seinen 
Kleidern so viel Geld zu entwenden, daß ihm dies nicht auffallen 
konnte, ihr aber für die nächsten Tage geholfen war. Das praktizierte 
sie jeden Montag bis zu ihrer Niederkunft. 

Ich glaubte, den Schlüssel zu diesem Rätsel, d. h. zur Beein- 
flussung der Leibesfrucht vor der Geburt so ziemlich gefunden zu 
haben. Man muß sich nun folgendes vorstellen: Die Mutter hat sich 
jeden Montag Morgen mit dem heimlichen Geldwegnehmen beschäftigt; 
dabei war sie offenbar seelisch mehr oder weniger erregt, denn sie 
war ja vor zufälliger Entdeckung nie sicher. Zudem mußte sie das 
Gefühl haben, daß sie ihren Mann, und wenn auch aus entschuldbaren 
Gründen, heimlich hintergehe, ihn bestehle, was im Grund genommen 
ein Unrecht sei. Sie mußte sich also schuldbewußt fühlen und sich 
mit diesem Gedanken mehr oder weniger intensiv nicht nur an den 
Montagen beschäftigen. Das psychische Verhalten dieser Mutter war 
meines Erachtens durch das allwöchentliche Experiment beeinflußt 
und so ist die Möglichkeit durchaus nicht ausgeschlossen, daß ihre 
seelische Verfassung autosuggestiv auf den Fötus eingewirkt und 
bei ihm später, als Knabe, die heimliche Sucht nach fremdem Eigen- 
tum entwickelt hat. Wenn nun aus der ganzen Sachlage nicht der 
untrügliche Beweis für die vorgeburtliche Beeinflussung des Kindes 
abgeleitet werden darf, so liegt doch die Vermutung außerordentlich 
nahe, daß diese Einwirkung zu den Möglichkeiten gezählt werden 
kann und darf. Den Knaben habe ich in einer Erziehungsanstalt ver- 
sorgt und ihm nach dem Austritt aus derselben bei einem Sattler- 
meister eine Lehrlingsstelle verschafft, wo er sich, wie auch in der 
Anstalt befriedigend aufgeführt hat. Gegen Ende der Lehrzeit jedoch 
ist sein diebischer Sinn wieder zum Ausdruck gekommen, indem er 
die Türe eines Bahnhofabortes gewaltsam erbrochen und die an der- 
selben angebrachte automatische Kasse ihres Inhaltes beraubt hatte, 
wofür er die sogenannte Hand der Gerechtigkeit zu spüren bekam. 
Von da ab habe ich ihn aus den Augen verloren. Es läßt sich ver- 
muten, daß weitere Entgleisungen stattgefunden haben. 

Der zweite Fall betrifft eine wackere Bäckersfamilie mit fünf Kindern, 
von denen vier völlig normal waren. Ein Mädchen hingegen zeigte 
eine ganz rätselhafte, abnorme Eigenschaft, die den Eltern viel Mühe 
und Sorgen bereitete und sie veranlaßte, bei mir Rat und Hilfe nach- 
zusuchen. Dieses Mädchen sei mit einer so auffallenden Schüchtern- 
heit und Schreckhaftigkeit behaftet und habe wiederholt das Eltern- 
haus verlassen und irgend wo Unterkunft gesucht, so daß die Eltern 
nicht recht wissen, wie sie das Kind behandeln und die Unart des- 


Kuhn-Kelly: Gewisses u. Ungewisses über das Problem des sog. Versehens usw. 325 





selben bekämpfen sollen. Wenn es z. B. jemand die Stiege herauf 
laufen höre, so versteckte es sich, wo es die nächste Gelegenheit 
finden könne. Wenn es zufällig sich bei der Mutter in der Küche auf- 
gehalten habe, sei es schon vorgekommen, daß es in die Öffnung 
unten am Kochherd hinein gekrochen sei, in die sonst der Holzvorrat 
eingelegt werde, wenn dieser zufällig gefehlt habe, oder es sei in die 
Wohnstube geeilt und habe sich in einem Kasten, oder hinter dem 
Kanapee versteckt, auch habe es schon im Schlafzimmer unter einer 
Bettlade ein schützendes Obdach gesucht. 

Da von den fünf Kindern diesem allein die höchst sonderbare 
und ganz auffallende Abnormität eigen war, so hegte ich auch in 
diesem Falle sofort den Verdacht, es möchte der Mutter in der kriti- 
schen Zeit etwas ganz außergewöhnliches zugestoßen sein und ich er- 
laubte mir, nach einigen Erläuterungen sie darnach zu fragen. An- 
fänglich wollte ihr nichts einfallen, endlich aber meinte sie, es könnte 
vielleicht das die Ursache sein, und sie erzählte, an einem Kinder- 
festtag hätte sie die Absicht gehabt, ihrem vorschulpflichtigen Mäd- 
chen den schönen Festzug zu zeigen und zu diesem Zwecke habe sie 
sich an der Straße, die zum Festplatz führt, mit dem Kinde postiert, 
wo sie den Vorbeimarsch des Zuges beobachten konnten. Das Kind 
habe an den vielen Knaben und Mädchen, alle mit weißen Kleidern, 
den Blumen und Guirlanden, den Musiken und jungen Soldaten, den 
Kanonen usw. große Freude gehabt, und sie selbst nicht minder. 
Nachdem der Zug vorbei gewesen sei, habe sie sich mit dem Kinde 
nach Hause begeben. Unterwegs sei ihr eine Nachbarsfrau begegnet, 
die ihr gesagt habe, sie solle schleunigst nach Hause gehen, es setze 
wahrscheinlich ein »Heiligdonnerwetter«e ab. Ihr Mann hätte Brot 
verkaufen sollen und habe den Laden nicht öffnen könneu, sie 
müsse den Schlüssel mitgenommen haben. Schnell habe sie an ihre 
Tasche gegriffen und ihn zu ihrem Schrecken entdeckt. Nun bekam 
sie Angst, denn sie kannte das aufbrausende Wesen des sonst wackern 
Mannes schon und befürchtete einen unangenehmen Auftritt. Sie 
näherte sich ängstlich ihrem Hause, das in der Gasse etwas zurück 
stand, während das angrenzende eine vorstehende Ecke bildete. Hier 
entließ sie ihr Mädchen auf die Straße und schaute von der Ecke 
aus nach ihrem Manne, den sie aber nicht beobachtete. Sie schlich 
um die Ecke und eilte, vom Manne ungesehen, durch den Hausgang 
ins Höfle hinaus, wo sich eine große Beige langer Scheiter befand, 
wie solche zum Heizen des Backofens verwendet werden. In er- 
regtem Gemütszustande verharrte sie, versteckt hinter dieser Scheiter- 
beige unruhig und bangend den Moment abwartend, da die befürchtete 


326 A. Abhandlungen. 
Szene losbrechen könnte. Da hörte sie den Mann die Treppe hinauf- 
gehen, wagte sich hervor und folgte ihm nach in die Wohnstube. Er 
habe sie unfreundlich empfangen, und ihr Vorwürfe gemacht, aber sie 
seien weniger heftig ausgefallen, als sie befürchtet habe. Wie ist nun 
da die Situtation? 

Die Mutter war in Erwartung zu diesem Mädchen mit der auf- 
fallenden Schreckhaftigkeit. Liegt da nicht sehr nahe, daß zwischen 
der Ängstlichkeit und der gedrückten Gemütsverfassung der Mutter 
im Versteck hinter der Scheiterbeige und der Schreckhaftigkeit ihres 
Mädchens ein gewisser, höchst wahrscheinlicher Konnex angenommen 
werden darf. Als die Mutter den Vater die Stiege hinauf laufen 
hörte, entschloß sie sich, zagend befürchtend, ihr Versteck zu ver- 
lassen und die erwartete Szene zu riskieren. Das Hören des Treppen- 
emporsteigens hingegen veranlaßte das Mädchen, sich schleunigst in 
das erste beste Versteck zu flüchten. Es scheint fast so, als ob 
das, durch das Treppenemporsteigen verursachte Geräusch 
hier eine besondere Rolle gespielt und einen gewissen Ein- 
fluß auf die Psyche des zu erwarteten Kindes ausgeübt 
habe. Der Gegensatz, daß die Mutter beim Vernehmen des Treppen- 
steigens aus ihrem Versteck hervor kam, das Kind aber ein solches 
ängstlich suchte, ist nicht von Bedeutung, denn, da das Mädchen sich 
nicht in einem Versteck befand, konnte es auch nicht aus demselben 
hervortreten und hatte keine andere Wahl, als infolge wahrscheinlicher, 
vorgeburtlicher Beeinflussung ein Versteck zu suchen. Es scheint, als 
ob da die Wirkungen der Autosuggestion zutage getreten seien. Ich 
sage ausdrücklich: »Es scheint so,« und nicht: »Es ist so.« 

Wenn ich auch in diesem Falle nicht behaupten möchte, daß die 
Verumständungen bei dieser, in Erwartung stehender Mutter als voll- 
gültiger Beweis für die vorgeburtliche Beeinflussung der Leibes- 
frucht zu betrachten seien, so ist doch die Möglichkeit, sogar die 
Wahrscheinlichkeit, daß es so sein könnte, um so weniger aus- 
geschlossen, als das konsequente Geldnaschen der einen Mutter und 
das ängstliche Verharren der andern hinter der Scheiterbeige gewisse 
Deformationen an der Psyche der zu werdenden Kinder zwar nicht 
notwendigerweise veranlassen mußten, aber immerhin konnten, die 
im Benehmen der Kinder später in die Erscheinung traten. 

Dieses Mädchen ist in einer Erziehungsanstalt versorgt worden, 
in der es mehrere Jahre zu verbleiben hatte. Sein Benehmen war 
tadellos, aber sein schreckhaftes Wesen zu bekämpfen, hat die päda- 
gogische Kunst des Anstaltsvorstehers stellenweise auf harte Probe 
gestellt, wie er mir wiederholt eingestanden hat. Diese Tochter hat 


Kuhn-Kelly: Gewisses u. Ungewisses über das Problem des sog. Versehens usw. 3927 





sich zur stattlichen Jungfrau entwickelt und war in ihrem Beruf als 
Büglerin tätig. Ob sie ihre Schreckhaftigkeit verloren hat, ist mir 
leider nicht bekannt, da ich nichts mehr von ihr gehört habe. 

Diesen zwei, gewiß nicht uninteressanten Beispielen von der 
Wahrscheinlichkeit der vorgeburtlichen Beeinflussung der Leibesfrucht 
will ich noch einen Fall etwas anderer, aber nicht weniger inter- 
essanter Art, der mir in meiner Jugendfürsorgepraxis vorgekommen 
ist, beifügen. 

Eine jüngere Frau, die sich seit etwa einem halben Jahr Mutter 
fühlte, wohnte gegenüber einer Mühle, in welcher ihr Mann als Müller 
in Arbeit stand, und in der unversehens ein großer Brand ausge- 
brochen war. Sie beobachtete plötzlich das Großfeuer und eilte in 
Angst und Schrecken auf die Straße, um nach ihrem Manne zu 
schauen. Mit großer, begreiflicher Beklemmung stand sie, auf sein 
Erscheinen harrend, vor dem lichterloh brennendem Hause. Endlich, 
nach qualvoller Pause, sah sie ihn aus einem Fenster springen und 
mit verbranntem Bart und Haar und verkohlten Hemdärmeln kam er 
auf sie zu. 

Da die Stiegen schon brannten, mußte er, um sein Leben zu 
retten, den Sprung aus dem Fenster wagen, was die Frau mit ansehen 
konnte. Sie war derart erschrocken, daß sie in der Aufregung sprach- 
los dastand und die Ruhe erst so nach und nach finden konnte. Von 
dem Vorfall an ist der Mann stockheiser geworden und ist es bis zu 
seinem Tode, der nach etwa 6 Jahren erfolgte, geblieben. Er konnte 
nur lispeln. Die Frau hat einige Monate nach diesem Brande ein 
Knäblein geboren, das jetzt etwa 7 Jahr alt ist. Rumpf und Arme 
sind ganz normal, die Beine dünn und schwächlich, der Kopf ist 
ziemlich groß und hat abnorme Schädelbildung. Das Kind sieht gut, 
hört gut, ist zutraulich und anhänglich, gemerkig, versteht, was man 
zu ihm spricht aber — sprechen kann es gar nicht und wird es nie 
lernen. Fragen wir der Ursache dieses Zustandes nach, so stehen wir 
vor einem Rätsel. Ists bloßer Zufall oder steckt etwas anderes da- 
hinter? Es kann das eine odere andere sein. »Nix Gewisses weiß 
man nicht gewiß.« Meine Vermutung aber geht dahin, daß die Angst 
und Aufregung und der plötzliche Schrecken der Mutter Einfluß auf 
den Fötus ausgeübt und Veränderung an denselben hervorgebracht 
hat. Ob es tatsächlich so ist oder nicht, mögen die Götter entscheiden. 
Die Wahrscheinlichkeit aber liegt handgreiflich nahe, daß 
dieses Kind das Opfer der Begebenheit an der brennenden 
Mühle geworden ist. 

Ob der Umstand, daß diese hoffende Mutter den Vater seit dem 


328 A. Abhandlungen. 





Brandfall nie ein lautes Wort hat sprechen hören, auch noch Mit- 
anteil am Nichtsprechenkönnen des Knaben hat, ist eine Frage, die 
ich nur noch so nebenbei berühren möchte, betonend, daß ja in ge- 
nannten Fällen Vermutungen, Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit 
eine größere Rolle spielen, als unumstößliche Sicherheit und Gewiß- 
heit. Das Fragestellen liegt aber so nahe, daß man unwillkürlich dazu 
gereizt wird. 

Nach bisher Gesagtem ist zu folgern, daß bei einer Frau 
von dem Zeitpunkt an, da sie sich Mutter fühlt, die ganze Verant- 
wortung für das zu erwartende Kind auf sie übergeht und dem Vater 
die Rolle des Schützers für die Mutter zufällt, der auch, falls die Ehe 
ist, wie sie sein soll, seine Pflicht gewissenhaft zu erfüllen bestrebt 
sein wird. Die Aussicht für die uneheliche Mutter und ihr Kind 
ist allerdings oft zum Verzweifeln bedauerlich und trostlos und es 
ist nicht mehr verfrüht, daß nicht nur in einzelnen Staaten ge- 
setzliche Normen zum Schutze dieser, bisher so sehr hintangesetzten 
Unglücklichen getroffen werden, sondern in allen. Daß der körper- 
liche und seelische Zustand der Mutter, die Gemütsstimmung, Freude, 
Lust, Hoffnung, Schreck, Furcht, Seelenleiden mancher Art ohne Ein- 
fluß auf die Leibesfrucht sei und von einer vorgeburtlichen Beein- 
flussung, ja sogar absichtlichen Erziehung nicht gesprochen werden 
könne, wird schwerlich jemand behaupten wollen, am wenigsten die 
Mütter selbst. 

Und nun noch einige Worte über die Nutzanwendung: In der 
Literatur über das Versehen der Frauen bin ich auf die Ansicht ge- 
stoßen, die griechischen und römischen Frauen der Vorzeit hätten sich 
deshalb mehrheitlich schöner Kinder zu erfreuen gehabt, weil ihnen 
infolge der Ausschmückung ihrer Wohn- und Schlafräume mit schönen 
Bildern, Stukkaturen, Büsten, Statuen u. dergl. stets Gelegenheit ge- 
boten war, schöne bildliche und plastische Formen anzuschauen 
und sich einzuprägen, was Einfluß auf schön gebildete Kinder habe 
ausüben können. Bei den Spanierinnen dürfte die inbrünstige An- 
betung von kunstvollen Madonnenbildern mit dem lieblichen Jesus- 
kinde dieselbe gute Wirkung zur Folge gehabt haben, und noch haben. 

Wenn man dieser Ansicht, oder nur Behauptung, nicht alle und jede 
Berechtigung absprechen will, so würde es sich empfehlen, daß hoffende 
Frauen sich absichtlich bestreben, Bilder von schönen Männern, 
Frauen und Kindern intensiv zu betrachten und sich überhaupt 
schöne Bilder einzuprägen und im Interesse körperlicher Ver- 
erbung mit wohlgebildeten Menschen regen, idealen Umgang zu 
pflegen und auch im Geiste sich mit ihnen zu beschäftigen, über- 


Kuhn-Kelly: Gewisses u. Ungewisses über das Problem des sog. Versehens usw. 329 





haupt den festen Willen zu bekunden, absichtlich möglichst viel 
Schönes zu betrachten und sich vor dem Anschauen alles Häßlichen 
mit der größten Ängstlichkeit zu hüten. 

Ähnlich diesem Verhalten hätten sie sich anderseits im Interesse 
seelischer Vererbung zu bemühen, sich aller spontanen Auf- 
wallungen, wie Ärgernis, Zorn, Streit, Eifersucht usw. ängstlich zu 
enthalten, unehrliche Absichten, heimlicher Haß, Groll, Rache u. dergl. 
zu vermeiden, sich möglichst heiteres Gemüt zu bewahren, das Ge- 
wissen nicht zu belasten, sich tunlichst in fröhlicher Gesellschaft zu 
bewegen, Liebe auszuteilen, um auch solche zu empfangen und im 
häuslichen Kreise Gemütswärme, Frohmut und Heiterkeit anzustreben. 
Auch Arbeitsamkeit wäre ein unerläßliches Moment. 

In geistiger Beziehung hätten sie sich ausschließlich mit schöner, 
klassischer Literatur zu beschäftigen und aufregenden Lesestoff gänz- 
lich zu vermeiden, überhaupt ein möglichst ideales Leben zu 
führen und, um allen diesen Intentionen die Krone aufzusetzen — 
nach der Geburt dem Kinde die Brust zu reichen. — 

Ich gebe unumwunden zu, daß die ganze Materie, die da in 
Frage kommt, hypothetischer Natur ist und ganz sichere Anhalts- 
punkte spärlich vorhanden sind, aber — jetzt verschanze ich mich 
hinter das >abere — meine Beobachtungen und Erlebnisse sind so 
auffällig frappant, daß gewisse, wohl nicht ganz unberechtigte 
Schlußfolgerungen kaum als großes Wagnis betrachtet werden 
können. Der allfällige Verdacht aber, als ob ich dem Spiritualismus 
oder Theosophismus verschrieben sei, dürfte durch obiges Geständnis 
hinfällig erscheinen. 

Ich habe mich gehütet, Behauptungen aufzustellen und unum- 
stößliche Beweise für manche Erscheinungen zu erbringen, wohl 
wissend, daß Behauptungen und Beweise auf diesem unabgeklärten 
Gebiete einem Wagemut gleich kämen, der unter Umständen mit einem 
Fehlergebnis bezahlt werden müßte. 

Aber immerhin hat mich nichts abgehalten, diesem etwas un- 
sichern Gebiete meine Aufmerksamkeit zu schenken und es zur Sprache 
zu bringen, um damit vielleicht die Einen oder Andern zum Nach- 
denken über diese, meines Erachtens hochinteressante Angelegenheit 
anzuregen und zu weitern Forschungen zu veranlassen. 

Man braucht gar nicht abergläubisch zu sein, um zu der Emp- 
findung oder Ahnung zu gelangen, daß beeinflussende Kräfte vor- 
handen sind, die wir uns einstweilen nicht erklären können. Beobach- 
tungen an gewissen Erscheinungen nötigen zu der Annahme, daß 
solche Kräfte nicht ernstlich in Abrede gestellt werden können, auch 


330 A. Abhandlungen. 





wenn der Glaube an das Vorhandensein solcher mit einer gewissen 
Reserve verbunden sein sollte. Ich bin lebhaft überzeugt, daß bei 
Frauen, wenn sie unter sich sind, Muttermale und Verwandtes oft 
Anlaß zu Gesprächstoff bieten und daß die meisten, vielleicht alle 
Frauen ausnahmslos instinktiv Ahnung von der Möglichkeit des » Ver- 
sehens« und der »Vererbung«, sogar manche von der »vorgeburt- 
lichen Erziehung« resp. »Einwirkung« auf das Kind im Mutter- 
leib empfinden, versäumen aber vielleicht im nützlichen Momente 
sich darauf zu besinnen und verpassen dann ihre Stellungnahme mit 
Rücksicht auf ihre damalige körperliche Beschaffenheit. Eine Frau, 
die sich als Mutter fühlt, hat von diesem Momente an die süße Pflicht 
auf sich zu nehmen, für das zu erwartende Kind diejenige Sorge zu 
tragen, die zu seiner spätern körperlichen und geistigen Normalität 
erforderlich is. Es wäre daher gewiß nicht ganz ohne, wenn er- 
wartende Frauen mit Absicht und Bewußtsein ununterbrochen 
das Wohl ihrer zu erwartenden Kinder ins Auge fassend, durch 
eine Art Gymnastik, die auf körperliche und seelische Schönheit des 
Nachkommen abzielt, gewissermaßen erzieherisch auf die Leibes- 
frucht einwirken wollten. Es dürfte diese Absichtlichkeit von 
schönerem Erfolg begleitet sein, als wenn solche Frauen, an 
gar nichts denkend und nichts wollend, absichtslos der 
Mutterfreude entgegen sehen. 

Einen nicht zu leugnenden Beweis für die Vererbungsmöglich- 
keit von Eigenschaften verschiedener Art von Mutter auf Kind bilden, 
statistischer Erhebungen gemäß, viele unehelich geborenen Kinder. 
Abgesehen davon, daß solche »arme Würmchen« nicht immer, so- 
gar in den wenigsten Fällen, sorgfältige Erziehung genießen, haben 
ihrer viele noch das Unglück dazu, daß sie an erblicher Belastung 
leiden und das unschuldige Opfer des oft sehr darnieder gedrückten 
Seelenzustandes der unehelichen, unglücklichen Mutter geworden sind. 
Wenn man sich so recht hinein denkt und hinein versenkt in diesen 
Seelenzustand, erzeugt durch Schande, Armut, Not, Elend, Kummer, 
Sorgen, Verdruß, Lieblosigkeit, Haß, Verzweiflung u. dergl. so muß 
man sich gar nicht wundern, wenn dieser Seelenzustand bei den 
Kindern erbliche Belastung zur Folge hat und die Autosuggestion 
ihre Opfer fordert. 

Wenn ich nun durch meine, zwar nur skizzenhaften, und immer- 
hin etwas problematischen Ausführungen Anlaß geboten haben sollte, 
daß insonderheit jüngere, zur Fortpflanzung fähige Frauen und die- 
jenigen Töchter, denen Frauen- und Mutterberuf in Aussicht steht, 
der angeregten Sache die ihr gebührende Aufmerksamkeit schenken, 





Geheimrat Professor Dr. Georg Leubuscher. 








Geheimrat Professor Dr. Georg Leubuscher. 


1. Geheimrat Professor Dr. Georg Leubuscher t. 331 





und ihr Verhalten gegebenenfalls darnach einrichten, dann habe ich das 
erreicht, was zu erreichen in meiner Absicht gelegen hat. Und zum 
Schluß möchte ich nochmals betonen, daß trotz aller Zweifel, Ein- 
wänden und Gegenreden in der Natur Kräfte walten, die einst- 
weilen außer unserer Begriffsfähigkeit liegen. Der Wissen- 
schaft mag es vielleicht, wer weiß, einmal vorbehalten sein, auch über 
diese Kräfte den Schleier zu heben. 


B. Mitteilungen. 


1. Geheimrat Professor Dr. Georg Leubuscher t. 


Am 27. Februar d. J. starb in Meiningen der Regierungs- und Geh. 
Medizinalrat Professor Dr. Leubuscher. Ein hartnäckiges, durch Jahre 
sich hinziehendes Leiden hatte den Mann der rastlosen Arbeit nieder- 
gezwungen, hatte seinem Wirken als Arzt, seinem Streben, die Allgemein- 
heit an seinem Wissen und Können teilnehmen zu lassen, ein allzufrühes 
Ziel gesetzt. Anderthalb Jahrzehnte hat Leubuscher mit mir an der Hilfs- 
schule in Meiningen gearbeitet; gern bin ich deshalb der Aufforderung 
des Schriftleiters der Zeitschrift für Kinderforschung gefolgt, ein Lebens- 
und Charakterbild des Mannes zu entwerfen, der mir persönlich Freund 
und Berater, meinen Hilfsschulkindern jederzeit ein selbstloser Helfer ge- 
wesen ist. 

Georg Leubuscher wurde geboren am 20. September 1858 in 
Jena als Sohn des ordentlichen Professors der medizinischen Fakultät 
Dr. Rudolf Leubuscher. Er besuchte das Friedrich Werdersche Gym- 
nasium zu Berlin und studierte von 1877 ab Medizin in Heidelberg, 
Berlin und Jena, wo er 1881 promovierte und 1882 approbiert wurde. 
Von 1882—84 war er Assistent unter Nothnagel und Rossbach an 
der medizinischen Klinik in Jena, arbeitete von 1884—85 unter Heiden- 
hein in Breslau, wurde 1885 Assistent am pathologischen Institut unter 
Müller in Jena und habilitierte sich dort im gleichen Jahre für innere 
Medizin. Seit 1890 großherzoglicher Bezirksarzt, wurde er 1892 außer- 
ordentlicher Professor (mit Lehrauftrag für gerichtliche Medizin und Toxi- 
kologie). Seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen dieser Zeit richteten 
sich auf das Gebiet der inneren Medizin und Arzneimittellehre. Von 1892 
bis 1897 war Leubuscher auch als Hausarzt in Trüpers Erziehungsheim 
tätig. Er erklärte später einmal, daß er ohne die Sophienhöhe nicht zu der 
Beschäftigung mit der Schularztfrage gekommen wäre; in Jena im Verein für 
Kinderforschung hat er zuerst seine Gedanken über diese Frage entwickelt. 
1897 berief ihn Herzog Georg II. — dessen Hausarzt Leubuscher auch war 
— als Medizinalreferenten ins herzogliche Staatsministerium und als Leiter 


332 B. Mitteilungen. 





des Georgenkrankenhauses. Dem unermüdlichen Eifer Leubuschers ver- 
dankt das Land die Errichtung eines den Anforderungen der Neuzeit ent- 
sprechenden Krankenhauses; seiner Anregung folgend begründete Herzog. 
Georg II. bei Vollendung seines 80. Lebensjahres die »Herzog-Georg- 
stiftung für Krankenpflegerinnen«, für die später unweit des Kranken- 
hauses ein prächtiges Schwesternheim erbaut wurde. Seinen Bemühungen 
gelang es, die Schwierigkeiten aus dem Wege zu räumen, die sich der 
Lösung der Schularztfrage entgegenstellten: 1901 hatte Sachsen-Meiningen 
als erstes deutsches Land staatliche Schulärzte für die Volksschulen, 1902 
wurden auch die höheren und die Privatschulen dem Schularzte unter- 
stellt. 1905 konnte das Hallenschwimmbad in Meiningen eröffnet werden, 
das durch Begründung einer Aktiengesellschaft geschäftlich sichergestellt 
wurde (Leubuscher war übrigens auch Mitbegründer der Deutschen Gesell- 
schaft für Volksbäder). 1909 gründete Leubuscher einen Verein für Feuer- 
bestattung. In Wort und Schrift warb er für den Gedanken der Ein- 
äscherung und setzte trotz erheblicher Widerstände die Erbauung eines 
Krematoriums in Meiningen durch. Den größten Teil der Kosten dafür 
brachten die Mitglieder des Vereins durch Zeichnung von Anteilscheinen 
auf. (Das Krematorium in Jena verdankt auch der Anregung Leu- 
buschers seine Entstehung.) 1911 wurde Leubuscher von seinen Mit- 
bürgern in den Gemeinderat gewählt, und seit 1. Januar 1916 war er 
Mitglied des Reichsgesundheitsrates.1) — So war das Streben Leubuschers 
und seine unermüdliche Arbeit reich an Erfolgen. Aber auch an äußeren 
Anerkennungen und Ehrungen hat es ihm nicht gemangelt. Ebenso war er 
als Arzt begehrt, und besonders wurde die fast unfehlbare Sicherheit seiner 
Diagnose gerühmt. Seine wissenschaftliche Arbeit lag in der Meininger 
Zeit vor allem auf dem Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege, und 
insbesondere wandte er sein Interesse der Schularztfrage zu. 

Das ist in kurzen Strichen der Lebensgang des Mannes, wie er im 
Grunde genommen nicht wesentlich abweicht von demjenigen anderer 
Männer in hervorragender öffentlicher Stellung. Ich möchte aber die Feder 
nicht aus der Hand legen, ohne von dem Menschen zu reden, wie er 
sich mir in einer Fülle von Einzelzügen offenbarte, von dem Arzte und 
Freunde meiner Hilfsschule. 

Es war im Sommer 1900, als wir uns kennen lernten. Der vor 
drei Jahren verstorbene Oberschulrat Schmidt fragte mich, ob ich Zeit 
und Lust habe, den in der Genesung begriffenen Kindern des Landes- 
krankenhauses wöchentlich einige Unterrichtsstunden zu erteilen. Als ich 
bejahte, sagte er: »Dann gehen Sie bitte um die und die Zeit zum Herrn 
Professor Leubuscher; er erwartet Sie.« — Im engen Wartestübchen des 
alten Krankenhauses standen wir uns zum erstenmal gegenüber. Knapp 
und klar fielen Rede und Gegenrede Und als ich mich verabschiedete, 
bewertete Leubuscher die Lehrarbeit 50 °/, höher als vordem, er bewilligte 
mir nämlich statt der vorgesehenen Mark für die Unterrichtsstunde 1,50 M 


1) Dr. Charlotte Leubuscher, die einzige Tochter des Entschlafenen, stellte 
mir den größten Teil dieser Angaben freundlichst zur Verfügung. 


1. Geheimrat Professor Dr. Georg Leubuscher t. 333 





— eine für die damaligen Meininger Verhältnisse glänzende Bezahlung! 
Hin und wieder erschien Leubuscher auf ein Viertelstündchen und hörte 
interessiert zu, wenn ich — meist in irgend einem Krankenzimmer — 
mich mühte, die bei meinen Patienten im Schulwissen entstandenen Lücken 
ausfindig zu machen und auszugleichen. »Wissen Sie,« äußerte er einmal 
zu mir, »Arbeit ist für Kranke oft der beste Heilfaktor. Ich habe jetzt 
mehrfach wieder die Beobachtung gemacht, daß bei den Kindern, die Sie 
unterrichteten, die Körperkräfte überraschend schnell zunahmen.«e — Häufig 
traf sich’s, daß wir eine kurze Strecke Wegs gemeinsam zurücklegten. 
Und da wußte Leubuscher das Gespräch oft auf die von mir Ostern 1900 
eingerichtete Hilfsklasse zu lenken. Ich staunte im stillen über seine 
reichen Kenntnisse auf dem Gebiete der Schwachsinnigenfürsorge, zumal 
mir damals nicht bekannt war, daß er bis zu seiner Übersiedelung 
nach Meiningen fast 6 Jahre an der Trüperschen Anstalt Sophienhöhe 
bei Jena als Arzt tätig gewesen war.!) Vorsichtig suchte ich nun zu er- 
kunden, ob er nicht Neigung habe, die ärztliche Betreuung meiner Hilfs- 
schulkinder zu übernehmen, blieb aber lange über seine Absichten im 
Dunkeln. Da erhielt ich ganz unvermutet durch die Schuldirektion die 
Nachricht, daß »Herr Professor Leubuscher sich erboten habe, die Arbeiten 
des Schularztes der Hilfsschule zu übernehmen.«e Und so hatte die 
Meininger Hilfsschule mit dem Gymnasium und Realgymnasium den 
höchsten Medizinalbeamten des Landes als Schularzt! — Trotz jährlich 
steigender Arbeitslast hat Leubuscher der Hilfsschule, viele, viele Stunden 
gewidmet, und noch kurz vor seinem Tode sagte er zu mir: »Sehen Sie, 
Herr Adam, ich kann die vielen Nebenarbeiten ja nicht mehr leisten; 
ich will auch alles aufgeben, aber Ihnen und der Hilfsschule bleibe ich 
treu.« Ich sprach meine Freude darüber aus, und sah doch mit wehem 
Herzen, daß dem Manne, der da zu mir redete, der voller Pläne war für 
die durch den Krieg gehemmte Weiterentwicklung unserer Hilfsschule, 
daß dem Manne wohl nur noch eine kurze Spanne Zeit beschieden war. . 
Einige Wochen vor unserer letzten Unterredung noch hatte er sich 


1) Aus einem mir vorliegenden Briefe vom 22. Oktober 1915, von Leubuscher 
zum 25. Stiftungsfeste an Direktor Trüper gerichtet, werden folgende Sätze inter- 
essieren: »Mir ist die Zeit, in welcher ich ärztlich an Ihrer Anstalt tätig war, in 
guter und lieber Erinnerung geblieben. Aus der Beobachtung des eigenartigen 
Schülermaterials, das ich bei Ihnen kennen lernte, habe ich viele und interessante 
Anregungen geschöpft. Diese mögen wohl mit der Anlaß gewesen sein, daß ich 
mich in späteren Jahren eingehender mit Schulhygiene und speziell dem Hilfsschul- 
wesen beschäftigte. — Voll Freude und Stolz können Sie heute auf das Erziehungs- 
heim, das Sie zu einer Zeit schufen, wo weder bei Pädagogen, noch bei Ärzten ein- 
gehendes Verständnis für die große Zahl der schwachbefähigten minderbegabten 
psychopathischen Kinder bestand, blicken. Das Verständnis geweckt zu haben, daß 
viele dieser Kinder noch zu brauchbaren und nützlichen Menschen herangebildet 
werden können, ist zu einem guten Teil Ihr Verdienst. ... Daß ich Ihrer und Ihrer 
Anstalt am 1. November besonders herzlich gedenken werde, daß ich auch für die 
Zukunft Ihrem Werke kräftige Weiterentwicklung wünsche, brauche ich wohl nicht 
besonders zu versichern.« 


334 B. Mitteilungen. 








die Personalakten der Hilfsschule erbeten, um sich Aufzeichnungen für 
eine größere Arbeit zu machen. Er mußte auch diese Arbeit, wie er mir 
klagte, unterbrechen. Aber aus unserer Unterredung merkte ich, wie er 
aus der Stoffmenge mit der Sicherheit des Forschers und dem geschulten 
Geist des Gelehrten das für seinen Zweck brauchbare Material herausge- 
schält hatte und nun daraus seine treffsicheren Folgerungen für die Schule 
zog. Ich spürte auch — wie so oft in den Jahren unserer Zusammen- 
arbeit — daß er das Urteil des schlichten Lehrers als ein dem seinen 
gleichwertiges einschätzte. Von seiner Meinung z. B. über die Mitwirkung 
des Lehrers bei der Feststellung der geistigen Minderwertigkeit geben 
einige Sätze aus der Schrift »Staatliche Schulärzte«!) Kunde. Es heißt 
da: »Es ist natürlich, daß schließlich bei dieser Frage das Urteil des Lehrers 
das ausschlaggebende sein muß. Der Schularzt ist gar nicht in der Lage, 
bei der von ihm vorgenommenen Untersuchung den Grad geistiger Be- 
fähigung genauer feststellen zu können; das kann nur der Lehrer vermöge 
seiner auf längere Beobachtung gestützten Erfahrungen.e — Und ähnlich 
spricht er sich in seinem Vortrage auf dem VII. Verbandstage der Hilfs- 
schulen Deutschlands?) aus: »Ist auch bei der Aufnahme in erster Linie 
das Urteil des Lehrers maßgebend.« ... Auch in dem Handbuch der 
Deutschen Schulhygiene von Selter?) sagt er auf Seite 614: »Die Tätig- 
keit des Hilfsschularztes bei dieser Prüfung kann sich im wesentlichen 
nur auf eine eingehende Untersuchung des körperlichen Zustandes des 
Kindes erstrecken. Die Beurteilung des Intellekts, der geistigen Begabung, 
ist während der kurzen Untersuchung im allgemeinen nicht möglich, ist 
auch gar nicht Sache des Arztes, sondern Sache des Pädagogen.« Eine 
Anekdote möchte ich hier einfügen: Zwei Wochen vor Beginn des Meininger 
Verbandstages brachte ich Leubuscher die Handschrift meines Vortrages; 
denn da wir den gleichen Vorwurf »Der Arzt in der Hilfsschule« be- 
handeln sollten, waren wir übereingekommen, daß derjenige, der mit der 
Arbeit zuerst fertig sei, dem andern diese zur Einsicht übergebe. Zeit- 
raubende Wiederholungen konnten dadurch erspart werden. »Sie sind 
schon fertig?« fragte Leubuscher mich erstaunt, »ich habe noch immer 
nicht zur Zusammenfassung meiner Notizen kommen können«. Darauf 
ich: »Ja, wenn ich Professor wäre, könnte ich das auch wagen, aber so?« 
Worauf Leubuscher mit einem lustigen Seitenblick auf meine Gestalt 
meinte: »Na, machen Sie sich nur nicht noch kleiner!« — — 

Äußerst gewissenhaft faßte Leubuscher seine Arbeit als Hilfsschularzt 
auf. Stets wohnte er der stundenlangen Aufnahmeprüfung bei und unter- 
warf kurz darauf die Neuaufgenommenen einer außerordentlich gründlichen 
Untersuchung. Außerdem wiederholte er diese Untersuchung jedes Jahr 
mit der gleichen Gründlichkeit. Nicht selten brauchte er 20—30 Minuten 
für ein Kind, und nichts entging dem scharfen Blick seiner klugen Augen. 
Kopfschüttelnd verglich er dann wohl seine Feststellungen mit den viel- 


1) Berlin, Verlag von Reuther & Reichardt, 1902. 
2?) Verbandstagsbericht 1909 und Beiträge zur Kinderforschung, Heft 62. 
3) Dresden und Leipzig, Verlag von Theodor Steinkopf. 


1. Geheimrat Professor Dr. Georg Leubuscher t. 335 





fach dürftigen Angaben der vorliegenden Gesundheitsberichte, machte auch 
wohl seinem Herzen über die »Weißheit« mancher Berichte durch ein 
kräftig Wörtlein Luft. Im Verkehr mit den Kindern war er von be- 
strickender Liebenswürdigkeit. Wer ihn nicht näher kannte, hätte dem 
Manne, der, Stock oder Schirm unter einen Arm gepreßt, die eine Schulter 
leicht geneigt und den Kopf nachdenklich etwas vornüber gebeugt, lang- 
samen Schrittes durch die Straßen Meiningens ging, nicht eine derartige 
Gewandtheit in dem Umgang mit Kindern zugetraut. Im Krankenhause 
hatte ich oft Gelegenheit, ihn daraufhin zu beobachten. Freudig zappelnd 
streckten sich die Händchen der Kleinsten dem guten »Onkel Doktor« 
entgegen, der stets mit einem freundlichen Worte zur Tür hereintrat und 
manchmal gar schönes Spielzeug auf das Bett legte; die Großen aber 
waren stolz, wenn er ihre Arbeiten, ihre Fortschritte lobte. Rührend war 
seine Sorge um das Zustandekommen einer schönen Weihnachtsfeier für 
die Insassen des Krankenhauses, und ich sehe heute noch seine glück- 
strahlenden Augen, als er mir an einem solchen Abend mit einem leise 
schalkhaften Lächeln eine meiner Schülerinnen vorstellte mit den Worten :: 
»Nun sehen Sie ’mal, ist das Mädchen nicht schön?«e Und ich traute 
meinen Augen kaum: Das durch Lupus entstellte Gesicht des Kindes, das 
zum Unterricht stets mit einem Verbande um Nase und Wangen erschien, 
war durch Röntgenbehandlung glatt abgeheilt. »Herr Professor, das muß. 
Ihre schönste Weihnachtsgabe sein.«e »Ja. Doch kommen Sie, nun wollen 
wir Weihnacht feiern.«e ... Die vielen Kindern eigene Scheu vor dem 
Arzte schmolz Leubuscher gegenüber dahin wie der Schnee vor der 
Frühlingssonne. Kinder, die anfangs der Untersuchung Widerstand ent- 
gegensetzten, wußte er durch ein paar freundliche Worte im Handumdrehen 
gefügig zu machen, und wenn »der Herr Doktor« wiederkam, war eitel 
Sonnenglanz im Schulzimmer. Selbstverständlich sagte ich meinen Kindern, 
sie müßten nicht sagen »Herr Doktor«, sondern »Herr Professore. Aber 
der Schädel eines Hilfsschulkindes ist ein gar eigen Ding: Es kann mit 
dem ersten Titel eine ihm geläufige Vorstellung vom Heilen und Helfen 
verknüpfen, ein Professor oder Geheimrat sind ihm dagegen — nichts. 
Eines Tages wird also Leubuscher wieder einmal mit dem feierlichen 
»Guten Morgen, Herr Doktor« empfangen. In mir regt sich der Schul- 
meister, und ich frage: »Wie müßt ihr sagen?« Antwort (unisono): »Herr 
Professor.« Darob ein Schmunzeln Leubuschers. Er tritt an einen Jungen 
heran, klopft ihm mit der Linken auf die Schulter, hebt mit der Rechten: 
sein Kinn und meint: »Na, Willi, nun sag Du mir ’mal, wie ich heiße.« 
Und Willi (er ist jetzt wohlbestallter Dienstmann!) erwidert seelenruhig 
und mit innerster Überzeugung: »Herr Doktor von Leubuscher.« »Wissen 
Sie, da wollen wir’s doch lieber bei dem ‚Herrn Doktor‘ lassen,« wandte 
sich nun Leubuscher belustigt zu mir. Und so ist er für die Hilfsschüler 
»der Herr Doktor« geblieben. Auch in seiner Wirksamkeit! Was er in 
dem schon genannten Vortrage auf dem Meininger Verbandstage von dem 
Hilfsschularzte verlangte und in der Aussprache gegen alle Einwände von 
ärztlicher Seite verteidigte, das hat er redlich selber erfüllt: »Mit der ein- 
fachen Feststellung der Ursache des Schwachsinns und der pathologischen. 


336 B. Mitteilungen. 





Veränderungen auf körperlichem Gebiete ist aber die Arbeit des Hilfsschul- 
arztes keineswegs erschöpft. ... Sehr wünschenswert ist die Entsendung 
von Hilfsschulkindern, namentlich blutarmen, skrofulösen und in der Ent- 
wicklung zurückgebliebenen, in Kinderheilstätten, in Solbäder, in Wald, 
Gebirge oder an die Meeresküste.«e — Meinen Hilfsschulkindern war er 
nicht nur der untersuchende, sondern mehr noch der helfende Arzt, der 
sie gesund machte, sie ins Krankenhaus aufnahm, sie vom — Ungeziefer 
befreite, nach Charlottenhall (Solbad Salzungen) schickte, sie dem ortho- 
- pädischen Turnunterrichte überwies, ihnen Bruchbänder und Brillen, kosten- 
lose Behandlung durch Spezialärzte verschaffte und ihnen wohl gar — — 
einen Groschen schenkte, wenn sie recht artig und fleißig gewesen waren! 
Und all seine Arbeit hat Leubuscher in uneigennützigster Weise geleistet, 
ja oft noch in die Tasche gegriffen, wenn ich ihm erklärte, das Elternhaus 
könne die zur Heilung nötigen Mittel nicht bezahlen. 

Wie Leubuscher selber Zeit und Arbeitskraft gern in den Dienst der 
Hilfsschule stellte, suchte er auch seine Assistenzärzte für die Hilfsschule 
zu interessieren. Zeugnis davon legt die unter seinen Augen entstandene 
Doktor-Dissertation von Siegfried Loewy ab: Beobachtungen und Unter- 
suchungen an den Kindern der Hilfsschulklassen in Meiningen.!) 

So war Leubuschers Leben ein Leben der Tat. Das Wort, das er 
sprach und schrieb, trug er in die Wirklichkeit. Mit fester Hand griff er 
zu, wenn es galt, Übeln zu steuern, die der Volksgesundheit drohten. 
Unermüdlich war er im Erkunden neuer Wege, die Volksgesundheit zu 
heben. Hatte er im staatlichen Schularzte eine Einrichtung für das Herzog- 
tum Meiningen geschaffen, die vorbildlich für andere deutsche Staaten 
wurde, so war er fortgesetzt bemüht, diese Einrichtung von ihren Mängeln 
zu befreien, sie zu vervollkommnen. Hat die Meininger Hilfsschule ihren 
Arzt und trefflichen Berater verloren — dem Herzogtum hat sein Tod 
eine schwer zu füllende Lücke gerissen; denn auf Leubuscher paßt das 
Wort Goethes, das er im Februar 1825 zu Eckermann sagte: »Wer recht 
wirken will, muß nie schelten, sondern nur immer das Gute tun. Denn 
es kommt nicht darauf an, daß eingerissen, sondern daß etwas aufgebaut 
werde, woran die Menschheit reine Freude empfinde.« 

Fritz Adam. 


2. Über den Einfluß der kriegsmäßig veränderten 
Ernährung’) 
hat Prof. F. Lommel (Jena) in einem Vortrag in der medizinisch-natur- 
wissenschaftlichen Gesellschaft in Jena®) interessante Beobachtungen mitge- 

1) Leipzig, Druck von Bruno Georgi, 1909. 

2) Siehe hierzu: Über den Ernährungszustand der Schulkinder im 2. Kriegs- 
jahr von Medizinalrat Dr. Engelhorn in Göppingen. XXI. Jahrg. Februar-März- 
Heft, 1916. — Über eine weitere Arbeit über Kriegsernährung von Dr. Meltzer 
wird im nächsten Heft berichtet werden. 

3) Veröffentlicht in der »Deutschen Mediz. Wochenschrift«, Jahrg. 42, Nr. 12, 
der wir diese Mitteilungen entnehmen. 





2. Über den Einfluß der kriegsmäßig veränderten Ernährung. 337 








teilt. Er hatte sich die Aufgabe gestellt, wie letzten Endes der praktische 
Erfolg der veränderten Ernährungsweise ist, gemessen an einer bestimmten 
Menschengruppe, die als ungefährer Durchschnitt der (städtischen) Bevölke- 
rung hinsichtlich der Lebenshaltung gelten darf. Von den Gewichten 
älterer Menschen wurde abgesehen, da bei ihnen die Anlagerung von Fett- 
massen einwirkt, so daß Normalzahlen schwer errechnet werden können. 
Dagegen verläuft das Wachstum jugendlicher Menschen so gesetzmäßig, 
ist bei ihnen der Einfluß von Fettansetzung wenig bedeutungsvoll, so daß 
die Einwirkung veränderter Ernährung ziemlich einwandfrei festzustellen 
ist. Das stärkste Wachstum des Körpers erfolgt im Säuglingsalter und 
in der Pubertätszeit. Für beide Altersstufen waren in der Medizinischen 
Klinik (Jena) genügend Gewichtszahlen vorhanden, sowohl für die Zeit 
vor dem Kriege, als auch für die Kriegszeit. 

Bei den Säuglingen mußte mit der im Herbst und Winter 1915 
aufgetretenen Milchknappheit gerechnet werden, ferner auch mit der mög- 
licherweise vorhandenen Unterernährung der stillenden Mütter. Es konnten 
etwa 3000 Einzelwägungen berücksichtigt werden, so daß zuverlässige 
Mittelwerte vorliegen. Das Ergebnis ist: Sowohl bei Brustkindern als auch 
bei unnatürlich Ernährten im Jahre 1915 zeigte sich nicht die geringste 
Veränderung im Wachstum. Eine Vergleichung der gewonnenen Kurven 
mit den Normalkurven Camerers zeigt eine fast völlige Überein- 
stimmung. 

Als Beobachtungsmaterial für das Pubertätsalter dienten die jugend- 
lichen Arbeiter und Lehrlinge der Firma Carl Zeiß in Jena, die seit Jahren 
halbjährlich ärztlich untersucht, gemessen und gewogen werden. Die 
Wägungen wurden mit den Kleidern vorgenommen. Im ganzen liegen 
den gewonnenen Zahlen etwa 2000 Wägungen zugrunde. 

Die Zahlen sind in Tafel I übersichtlich zusammengestellt. 

121 bis 15 I des ersten Stabes bedeuten die Jahreszahlen mit jeweils 
I. oder II. Halbjahr. In jedem Stab finden sich untereinander die Durch- 
schnittsgewichte der gleichen Altersstufe in den einzelnen Halbjahren. 
Will man die allmähliche Gewichtsentwicklung derselben Personengruppe 
im Laufe der Jahre verfolgen, so muß man die Tafel schräg abwärts lesen, 
z. B. die fettgedruckten Zahlen, wenn man den im ersten Halbjahr 1898 
geborenen Jahrgang betrachten will. 





























Tabelle 1. 

Alter | 13'⁄4] 14 | 14',,| 15 | 151, 16 | 16t4| 17 | 1774| 18 18%), 
12 1. _ — — | 49,5 | 49,4 | 54,9 | 56,7 | 55,1 — — 

12 IL | — — — | — — — = = — — = 
13I | — | — | — [506530 | 55,5 | 54,1 | 59,5 | 61,6 | 62,7 | — 
13 II. — | 45,3 | 46,3 | 48,5 | 52.6 | 53.0 | 60,4 | 57.9 | 60,7 | 62,2 | 65,6 
14 I. — — | 46,3 | 49,9 | 50,5 | 54,6 | 57,6 | 62,4 | 58,5 | 64,0 

14 II. | — [[45,8]| 47,6 | 51,6 | 54,1 | 51,8 | 57,1 | 58,9 | 60,7 | 59,6 | — 
15 I. [43,8]| 42,0 | 48,1 | 49,7 52,9 | 55,6 | 56,4 | 58,2 | 61,1 | 60,3 — 
15 IL — | 44,5 | 43,8 | 48,8 | 52,6 | 54,1 | 56,9 | 58,3 | 59,8 | 60,8 | 71,3 


Zeitschrift für Kinderforschung. 21. Jahrgang. 22 


338 B. Mitteilungen. 





Die Tafel zeigt zunächst, daß nicht ganz geringe Abweichungen 
zwischen den einzelnen Gruppen gleichen Alters stehen. Offenbar ist die 
Zahl von jeweils 40—70 Personen nicht groß genug, um Zufälligkeiten 
ganz zum Verschwinden zu bringen. Man wird daher vermeiden müssen, 
aus geringfügigen Unterschieden Schlüsse zu ziehen. 

Auffallen mag bei oberflächlicher Betrachtung, daß Ende 1915 
niedrigere Gewichte im Vergleich zur gleichen Altersstufe des Frühjahrs 
verzeichnet sind im Alter von 14!/,, 15, 151/3, 16, 17!/, Jahren. Dem 
stehen aber auch erhöhte Gewichte anderer Altersgruppen gegenüber, auch 
sind niedrigere als die Ende 1915 ermittelten bei allen Altersstufen schon 
in früheren Friedensjahren vorgekommen. Um von Zufälligkeiten etwas 
unabhängiger zu sein, sind in folgender Tabelle 2 die Gewichte zu Ende 
1915 in Vergleich gesetzt mit den aus allen vorausgegangenen Wägungen 
(zurück bis Anfang 1912) gerechneten Durchschnittswerten. Es ergibt 
sich dann, daß das Durchschnittsgewicht beträgt 


Tabelle 2. 
für die 14), 15 13%, 16 16, 17 17%, jähr. 
vor 1915 47,0 499 52,0 54,2 57,0 586 60,5 
Ende 1915 44,8 488 52,6 54,1 56,9 58,3 59,8 
mithin Unterschied kg: —22 —1,1 +06 —0,1 —01 —03 —0,7 
x = o: —49 —22 +1, —0,2 —0,18 —05 —1,1 

Die Gruppe der 15!/,jährigen überragt also den früheren Durch- 
schnitt an Körpergewicht. Alle anderen Gruppen bleiben etwas dahinter 
zurück. Der Unterschied ist aber bei den 16-, 161/,- und 17jährigen so 
gering, daß er wohl vernachlässigt werden kann. Man darf wohl sagen, 
daß diese Gruppen dem früheren Durchschnitt sehr genau entsprechen. 
Dagegen bleiben die 14!/,- und 15jährigen so erheblich zurück, daß der 
Verdacht einer Unterernährung naheliegt. 

Aber diese Betrachtungsweise erweist sich als unzulänglich für solche 
Schlüsse. Man wird, statt die Durchschnittsgewichte der gleichen Alters- 
gruppe, also verschiedener Personen, mit größerem Nutzen den halbjähr- 
lichen Zuwachs der (annähernd) gleichbleibenden Personengruppen unter 
den normalen und den kriegsmäßig veränderten Verhältnissen vergleichen 
müssen. Da zeigt sich, daß die so stark untergewichtigen 141/, jährigen 
von Ende 1915 einem untergewichtigen Jahrgang. der schon als 14jährig 
aus dem Rahmen fiel, angehören und daß der Zuwachs gerade bei dieser 
Gruppe im Laufe des zweiten Halbjahres 1915 recht günstig war. Bei 
den folgenden Altersstufen sind die Zuwachsziffern, in Prozeut des er- 
reichten Gewichtes bemessen, in ihrem Durchschnittswert in Vergleich ge- 
setzt für das zweite Halbjahr 1915 und für die früheren Halbjahrszeiten. 
Es erfolgte ein Zuwachs zwischen 

14'/,/15 15/15,  15'4/16 16/16, 16/17 17/17), 
vor 1915 0,72 0,43 0,22 0,70 0,34 0,1%, 
0,14 0,55 0,22 0.22 0,32 0,26%, 


Auch hier also einzelne starke Abweichungen, die Zufälligkeiten 


3. Fraktur und Antiqua. 339 





oder auch Beobachtungsfehler vermuten lassen. Im allgemeinen aber ist 
der durchschnittliche Zuwachs nicht verringert gegenüber dem bei der 
gleichen Altersklasse im Frieden beobachteten. 

Es muß noch erwähnt werden, daß außer der Veränderung der Er- 
nährung noch ein weiterer Einfluß wirksam wurde: die jungen Leute 
hatten eine um 25 °/, verlängerte Arbeitszeit, die auch teilweise Nacht- 
schichten einschloß. Und trotz dieser erhöhten Leistung sind wesentliche 
Gewichtsunterschiede bis Ende 1915 nicht zustandegekommen. Wenn 
man danebenhält die Feststellung, daß auch der allgemeine Eindruck der 
Untersuchten nicht das geringste Anzeichen einer Verschlechterung gegen 
früher erkennen läßt, so kann der Schluß gezogen werden, daß die ver- 
änderte Ernährung bis jetzt (Ende 1915) zu keiner Schädigung der unter- 
suchten Bevölkerungsklasse geführt hat. 

Hamburg. Rössel. 


3. Fraktur oder Antiqua. 


Im 18. Jahrgang dieser Zeitschrift, Heft 8/9, 1913, erschien der 
auf dem 9. Verbandstage der Hilfsschulen Deutschlands in Bonn gehaltene 
Vortrag von Kommerzienrat Fr. Soennecken: Ist für Schulneulinge im 
allgemeinen und für Hilfsschüler im besonderen Fraktur oder Antiqua zu- 
nächst geeignet? An der Hand eines reichen Materials kam der Ver- 
fasser zu dem Ergebnis, daß die Einführung der Antiqua für den ersten 
Unterricht sowohl eine pädagogische, wie hygienisch und kulturell durchaus 
begründete und berechtigte Forderung sei. 

Der Kampf um Antiqua oder Fraktur hat seitdem noch nicht nach- 
gelassen, und immer wieder hat Soennecken, der schon im Jahre 1881 eine 
Schrift über »Das deutsche Schriftwesen und die Notwendigkeit seiner 
Reform« herausgegeben hat und als einer der gründlichsten Sachkenner 
auf diesem Gebiet angesprochen werden darf, das Wort ergriffen und ist 
nachdrücklich für die Einführung der Antiqua eingetreten. Im Zusammen- 
hang mit »Vorschlägen für die Errichtung eines Reichs-Werbeamtes« weist 
er auf die Schrift hin, in der deutsche Literatur, Wissenschaft und Kunst 
gedruckt wird: »So unwichtig diese winzig kleinen Buchstaben als Formal- 
sache manchem auch erscheinen mögen, sind sie doch von allergrößter 
Wichtigkeit, und nur Laien und diejenigen, die grundsätzlich am alten 
kleben, können noch an dieser Tatsache zweifeln. Wie man im einzelnen 
schon den inneren Wert einer Sache daran erkennt, wie sie äußerlich er- 
scheint, so muß auch das, was völkisch kulturell in die Erscheinung treten 
soll, den Eindruck eben dieser hervorragenden Kultur machen. Das trifft 
bezüglich der Schrift bei der Benutzung derjenigen Schriftart zu, die in 
der ganzen gebildeten Welt als die zweckmäßigste und deutlichste gilt: 
bei der einfachen klassischen Antiquaschrif. Wir dürfen keine Schrift 
verwenden, die dem reinen künstlerischen Blick als Rückstand erscheint, 
also nicht die Frakturschrift mit ihren durch nichts als durch Gewohnheit 
und das ewige Gleichmaß überlieferter behördlicher Vorschriften gestützten 

22” 


340 B. Mitteilungen. 





Formen. Die Schrift darf dem Auslande nicht ein fremdes, ihm un- 
gewohntes und abstoßendes Gebilde sein, wenn wir Anspruch auf ihre 
Beachtung erwarten wollen. ... Wer unsere deutschen Schriftverhältnisse 
genau kennt, und wer die Bedeutung einer Weltschrift für ein Weltpolitik 
treibendes Staatswesen richtig einschätzt, dem leuchtet ohne weiteres ein, 
daß unsere sogenannte Deutsche Schrift mit dem Deutschtum, auf das 
wir stolz sind, nichts zu tun hat und für diese Zwecke nicht verwandt 
werden darf. Rühmen wollen wir uns nur solcher Eigenheiten, die einen 
Vorzug gegenüber dem Auslande aufweisen, oder die in sich selbst eine 
Klarheit und Wahrheit tragen, welche die Deutschen sonst in allem ver- 
ehren.« ? 

In einer Schriftstudie, erläutert mit 13 trefflichen Abbildungen, über 
die Aufschrift am Reichstagsgebäude »Dem deutschen Volkes zeigt 
Soennecken, daß die Aufschrift nur in Antiquaschrift zur Ausführung ge- 
langen darf. Bei der Verwendung der Antiqua am Niederwaldenkmal 
»ZUM ANDENKEN AN DIE EINMUETHIGE SIEGREICHE ERHEBUNG/ 
DES DEUTSCHEN VOLKES UND AN DIE WIEDERAUFRICHTUNG 
DES DEUTSCHEN REICHES 1870—1871, an der Aufschrift des Bismarck- 
Denkmals vor dem Reichstagsgebäude in Berlin: »BISMARCK« und »DEM 
ERSTEN REICHSKANZLER DAS DEUTSCHE VOLK«, hat bis heute 
noch kein Mensch eine Verletzung des vaterländischen Empfindens erblickt. 
Die Verdächtigungen der vaterländischen Gesinnung durch die Schrift- 
chauvinisten sind scharf zurückzuweisen. — 

In einem sehr ausführlichen Artikel »Über Schriftlesbarkeit!) setzt 
sich Sonnecken mit der experimentellen Lösung der Frage »Fraktur oder 
Antiqua« auseinander im Anschluß an das 3. von Prof. Dr. Kern be- 
sorgte Flugblatt des »Schrifibundes deutscher Hochschullehrere: Die ex- 
perimentelle Lösung des Schriftstreites, von Dr. Alex Schackwitz. 
Aus den Ausführungen Soenneckens sei folgendes wiedergegeben. Dr. Schack- 
witz hat mit einem Nystagmographen festgestellt, daß eine gewöhnliche 
Buchzeile in Fraktur durchschnittlich mit 5, eine solche in Antiqua mit 
7 »Augenrucken« bewältigt werden soll. Daraus schließt Dr. Schackwitz 
auf eine schnellere Ermüdung der Augenmuskeln und den geringeren Lese- 
wert derjenigen Schrift, welche die zahlreicheren Augenrucke erfordert. 
Dagegen ist anzuführen, daß die Ermüdung beim Lesen, von äußeren 
Einflüssen ganz abgesehen, in erster Linie auf den Leseinhalt und die 
Aufnahmefähigkeit des Gehirns zurückzuführen ist. Vor der Ermüdung 
der Augenmuskeln, wenn sie wirklich nachgewiesen werden könnte, tritt 
beim Lesen wohl eher die Ermüdung der Sehnerven oder die allgemeine 
geistige Abspannung ein. Die Annahme von Dr. Schackwitz, daß die Er- 
müdung der Augen auch eine Ermüdung ihrer Bewegungsmuskeln sei, 
ist bis heute noch vollständig unerwiesen. 

Die Voraussetzungen für die Versuche von Dr. Schackwitz sind an- 
fechtbar: Er behauptet von seinen Versuchspersonen, daß diese Fraktur 

1) Deutsche optische Wochenschrift. Berlin W. 35, Verlag Alexander Ehrlich. 
Jahrg. 1915/16. Nr. 17. 


3. Fraktur oder Antiqua. 341 





und Antiqua gleich geläufig lesen; ferner verwendet er gleichen Text für 
die Leseversuche und endlich veröffentlicht er nicht die bei seinen Ex- 
perimenten verwendeten Schriftproben zur Nachprüfung, ob die Schriften 
auch ganz gleichen Bedingungen entsprechen; denn es muß wirklich die 
»Leseschrift des deutschen Volkes«, die gewöhnliche Zeitungsfraktur, und 
die richtige Form der Antiqua, beide in gleicher Größe, vor allem nicht 
die einförmige Empire-Antiqua mit den haardünnen Strichen verwendet 
werden. Ferner wurden die Versuche nur mit 20, bezw. 50 Studenten 
angestellt, so daß die Behauptung »den lesetechnischen Vorteil der Fraktur 
experimentell einwandfrei« und ihre Überlegenheit über die Antiqua in 
Höhe von 25°/, festgestellt zu haben, unverständlich ist. Prof. Meu- 
manns Urteil: »Nun fehlen aber leider diesem Versuche von Dr. Schackwitz 
die elementaren Bedingungen der Exaktheit« ist also wohl zu verstehen. 
Wenn nun für den Druck der Schulbücher schulhygienisch ernstlich die 
Verwendung der Fraktur für das Bessere gehalten wird, so bleibt voll- 
ständig unberücksichtigt, daß für die Schule die Schrift außer nach ihrem 
Lesewerte, auch nach ihrer Bedeutung für Schreiben und Rechtschreiben 
und nach ihrem Werte für die Erziehung des Formensinnes der Schüler 
beurteilt werden muß. In überzeugender Weise hat das pädagogische 
Experiment mit 2325 Leipziger Elementarschülern die pädagogisch- 
methodische Überlegenheit der Antiqua bewiesen. Nach diesen Versuchen, 
die demnächst Taubstummenlehrer Rudolf Lindner veröffentlicht, werden 
von Schulneulingen die Antiquabuchstaben annähernd richtig nieder- 
geschrieben, während die Formen der spitzen Schreibschrift dem Erfassen 
ungleich größere Schwierigkeiten bereiten. In bezug auf »die Fraktur- 
schrift und das Ausland« lehrt uns die politische Isolierung Deutschlands, 
daß wir eben mit unseren literarischen Veröffentlichungen in Fraktur im 
Auslande nicht verstanden worden sind. Hugo Münsterberg schreibt 
in seinem 1914 erschienenen Werke, Grundzüge der Psychotechnik: »Nun 
ist letzthin, auch wieder aus psychologischen Gründen, das Lesen eines 
deutsch gedruckten Buches für die Ausländer, auch wenn sie die dentsche 
Sprache schulmäßig gelernt haben, eine erhebliche Anstrengung. Das in 
Antiqua gedruckte deutsche Buch wird stets im Auslande dem in Fraktur 
vorgezogen. Das Beharren des deutschen Buchverlags beim sogenannten 
deutschen Druck bedeutet deshalb eine schwere Schädigung für die Kultur- 
mission des deutschen Geisteslebens, und durch das Buch, das unbeobachtet 
gelassen wird, leidet schwer der Welteinfluß des deutschen Volkes.« Dazu 
kommt noch, daß unsere Sprache ihres schwierigen Aufbaues wegen wenig 
bekannt ist; zum leichteren Verständnis ist ihre Ausbreitung im Gewande 
der allen Gebildeten der Welt geläufigen Weltschrift (Antiqua) unerläßlich. — 
Der mit vorzüglichen Schriftproben versehene Aufsatz wird von allen 
sich mit dieser Frage Beschäftigenden mit lebhaftem Interesse gelesen 
werden. 
Hamburg. Rössel. 


342 B. Mitteilungen. 





4. Verhandlungen der außerordentlichen Tagung der 
Deutschen Vereinigung für Krüppelfürsorge 
im Reichstagsgebäude am 7. Februar 1916. 
Leipzig, Verlag von Leopold Voß, 1916. 


Die Wichtigkeit dieser Verhandlungen in unserer Zeit, sowie ihre 
Reichhaltigkeit zeigen die Themen der gehaltenen Vorträge: Ein Jahr 
Kriegskrüppelfürsorge mit besonderer Berücksichtigung der ärztlichen Tätig- 
keit; Die stationären und ambulanten Fürsorgeeinrichtungen für Kriegs- 
beschädigte in Deutschland; Organisation und Ausbau des orthopädischen 
Spitals und der Invalidenschulen; Die Organisation der Institutionen des 
königlich ungarischen Invalidenamtes; Die Friedenskrüppelheime als Grund- 
lage für die gleichartige Fürsorge der Kriegsverletzten; Lazarettschule und 
bürgerliche Kriegsbeschädigtenfürsorge; Die Werkstätte als Heilmittel, Vor- 
bereitung und Ausbildung; Über Übungsschulen für Hirnverletzte: Die Hand- 
übungsklasse als Teil der Erwerbsschule; Das Streben nach Qualität und 
nach Geschmack bei den Berufsübungen und der Lazarettbeschäftigung; 
Der Einhänder in der Schule, insbesondere das Schreiben mit der linken 
Hand; Über die Bedeutung einarmiger Lehrmeister in der Einarmigen- 
schule; Die Bedeutung der Fortbildungs- und Fachschulen für die Kriegs- 
beschädigtenfürsorge; Die Ausbildung der vom Lande stammenden Kriegs- 
krüppel in der Landwirtschaft; die geeignetsten Ausbildungsverfahren für 
die verschiedenen Erwerbsmöglichkeiten der einzelnen Verletzungen; Lazarett, 
Erwerbsschule und Berufsberatung als organisches Ganze. 

Die Verhandlungen, die ohne weiteres überall allgemeines Interesse 
erwecken müssen, denn aus ihnen quillt ein kräftiger Segensstrom für 
unsere Kriegsbeschädigten, sind für Lehrer deshalb besonders wertvoll, als 
sie zeigen, in welcher Weise sich die Lehrerschaft in der Fürsorge für 
Kriegsbeschädigte betätigt. Viele Beschädigte müssen ihren früheren Beruf 
aufgeben und sich einem anderen zuwenden, wozu eine andere Grundlage 
der Bildung erforderlich ist; andere leiden infolge von Gehirnverletzungen 
an Störungen der Sprache, des Lesens, des Schreibens, des Verstehens, 
deren Besserung und Beseitigung vorwiegend pädagogische Arbeit erfordert. 
Mit deutlichen Worten würdigt Universitätsprofessor Dr. F. Hartmann, 
Vorstand der k. k. Nervenklinik in Graz, die Arbeit des Pädagogen in 
seinen »Richtlinien für die vorläufige Übungsbehandlung von Gehirn- 
krüppeln«. Einige Sätze seien davon angeführt: »Jeder Schädelverletzte, 
welcher irgend welche Störungen subjektiver oder objektiver Art zu be- 
klagen hat, gehört in eine neurologisch-pädagogische Nachbehandlung. 
Es sind zu diesem Behufe Übungsschulen für Sprachkranke und Gehirn- 
verletzte zu schaffen. Dies soll überall dort geschehen, wo tüchtige und 
bestrebte Neurologen sich der Unterstützung erfahrener Pädagogen ver- 
sichern können, denn letztere sind die Seele der Schule. ... Die von 
pädagogischen Gesichtspunkten geleitete funktionelle Therapie hat sich auf 
alle Formen der Sprachstörungen und psychische Ausfallserscheinungen 
allgemeiner Art zu erstrecken. Da fast jede ernstliche Schußverletzung 
des Gehirns mit Störungen der Aufmerksamkeit. Merkfähigkeit und Asso- 


5. Ärztliche Beratungsstelle für Eltern u. Angehörige abgearteter Kinder usw. 343 





ziationsleistung einhergeht, sind alle solche Fälle aufs eingehendste nach 
solchen Störungen von wohlgebildeten Fachärzten zu untersuchen und im 
Finvernehmen mit dem Pädagogen einer Überprüfung auf solche Defekte 
zuzuführen. .. . Die bisherigen Erfahrungen haben gezeigt, daß die päda- 
gogische funktionelle Therapie zunächst nicht auf dem vorhandenen Be- 
sitzstande von Kenntnissen und Bildungsgrad sich aufbauen soll, sondern 
in allen ernstlich geschädigten Fällen mit einem individualisierten, ansonst 
typischen Unterricht in der ersten Stufe der Elementarschule beginnen 
soll. Nur so wird der Tatsache Rechnung getragen, daß meist neben 
wohlerhaltenen Leistungen des entwickelten und erzogenen Gehirns einzelne 
oder ausgedehntere Defekte bestehen. Diese Defekte sind oft ganz elemen- 
tare. Bevor sie nicht gefunden und durch Schulung gedeckt sind, leidet 
der weitere Unterricht (einer höheren Unterrichtsstufe) und kommt nicht 
vorwärts.« Solche Worte klingen jedenfalls ermutigender als diese von 
Prof. Goldstein, Frankfurt a. M.: »Es wird deshalb nur der sachkundige, 
spezialistisch ausgebildete Neurologe zum Lehrer des Hirnver- 
letzten berufen sein,« der sich dann »zweckmäßigerweise« mit dem 
Pädagogen zu gemeinsamer Arbeit verbinden wird. — Die Verhandlungen 
der Deutschen Vereinigung für Krüppelfürsorge sind zugleich ein Trost- 
buch für alle Kriegsbeschädigte. Mit Stolz lesen wir die Worte von Prof. 
Biesalski, daß unsere Kriegsbeschädigtenfürsorge gegenüber der unserer 
Feinde am besten organisiert ist, daß bei uns für jeden Mann nach bestem 
Wissen und Können gesorgt wird, und nicht wie anderswo, fast ausschließ- 
lich für Offiziere. Wir alle wollen nicht erlahmen, seine Schlußworte 
wahr zu machen: »Wenn nach Jahren unsere Feinde mangels einer recht- 
zeitigen und durchgreifenden Fürsorge die unversorgten Opfer des Krieges 
als einen schweren wirtschaftlichen und sozialen Ballast mit sich herum- 
schleppen werden, hoffen wir, daß unsere Leute alle wieder in der werk- 
tätigen Arbeit stehen. Das gibt uns einen Vorsprung von einer heute 
gar nicht abmeßbaren Bedeutung. Dann wird erst der letzte Sieg von 
uns erfochten sein und unser Volk kann ungehemmt auf geistigem und 
wirtschaftlichem Gebiet sich weiter entwickeln und hat freie Bahn für die 
letzte Auswirkung des deutschen Gedankens.« 
Hamburg. Rössel. 


5. Ärztliche Beratungsstelle 
für Eltern und Angehörige abgearteter Kinder, Geistes- 
kranker und seelisch Abnormer. 


In Halle a. S. wurde nach einer Mitteilung in der Hall. Ztg. am 
1. Juni d. J. unter der Leitung von Geh.-Rat Prof. Dr. Anton für un- 
bemittelte Eltern und Angehörige abgearteter Kinder, sowie Geisteskranker 
und seelisch Abnormer eine ärztliche Beratungsstelle eröffnet. 

Es entspricht einem dringenden Bedürfnis, daß Eltern und Angehörige 
solch abgearteter Kinder oder geistig und seelisch Erkrankter aufgeklärt 
und beraten werden, solange es Zeit ist. Meist fehlt es nicht so sehr 
an der nötigen Liebe, als an richtigem Verständnis und an richtiger Be- 


344 B. Mitteilungen. 





urteillung. Die Unwissenheit und die Hilflosigkeit der Eltern tragen viel- 
fach dazu bei, daß solche Geschöpfe geistigem und moralischem Siechtum 
entgegentreiben, während sie bei geeigneten Maßnahmen noch hätten ge- 
rettet und zu nützlichen Gliedern der Gesellschaft gebildet werden können. 

Die Beratungsstelle willnun Eltern und Angehörigen in der Leitung, 
Führung und Erziehung an die Hand gehen, damit frühzeitig Reibungen 
und Konflikten vorgebeugt werden kann, und solche Kinder und An- 
gehörige, wenn immer möglich, der Familie erhalten bleiben. Frühzeitige 
Erkenntnis psychopathologischer Naturen und entsprechende Anleitung für 
Pflege und Erziehung verhüten viel Unglück, Verbrechen und kostspielige 
Anstaltsversorgung. Namentlich für die unbemittelten Volkskreise, denen 
oft ausreichendes Verständnis für innere seelische Vorgänge abgeht, wird 
die Beratungsstelle wichtig sein und viel Gutes schaffen. Wo die Art 
der Krankheitserscheinungen Anstaltsversorgung oder Anstalts-Heilerziehung 
erheischt, kann die Beratungsstelle die Angehörigen an die richtigen Stellen 
weisen, wo sie weiteren Rat und weitere Hilfe finden. 

Die Beratungsstelle wird in ständiger Fühlung mit ihren Schützlingen 
und ihren Angehörigen bleiben, besonders durch öftere Hausbesuche, die 
einen »persönlichen Schutz« der Untergebrachten darstellen und die sich 
als die beste Fürsorge erweisen. 

So wird die ärztliche Beratungsstelle zu einem segensreichen neuen 
Behelf für die Jugend und Volksfürsorge werden. Es wird dabei un- 
erläßlich sein, daß Eltern, Lehrer, Geistliche usw. Hand in Hand arbeiten. 
Ebenso wichtig wird es sein, daß auch Fernstehende die Beratungsstelle 
auf gegebene Fälle aufmerksam machen, daß sie eingreifen kann. 

Hamburg. Rössel. 


6. Erziehungsheim für schwachbefähigte Mädchen, 
E. V. in Breslau. 


Das Erziehungsheim besteht seit 5 Jahren (Stöpelwitzstr. 84), bisher 
haben 60 Mädchen im Alter von 14—19 Jahren Anfnahme gefunden. 
Erstrebt wird die praktische Durchbildung der Mädchen in haus- und 
landwirtschaftlichen Arbeiten. Den landwirtschaftlichen Arbeiten soll künftig 
größere Beachtung geschenkt werden, der Vorstand hat deshalb beschlossen, 
eine größere Ackerfläche zu pachten. Auch aus der Provinz werden jetzt 
nicht selten Mädchen zur Aufnahme gemeldet, leider scheitert sie häufig 
daran, daß keine Mittel zum Unterhalt zur Verfügung stehen. Aus den 
Mitteln der Landeshauptkasse wurde eine einmalige Beihilfe von 500 M 
gewährt. 

Der Verein zählte 1915/16 104 Mitglieder. Der Vorsitzende ist 
Kgl. Schulrat, Stadt- und Kreisschulinspektor H. Kionka. 

Von 26 Mädchen wurden im Berichtsjahre 1915/16 9 entlassen; 
3 gingen in Stellung, 5 ins Elternhaus zurück, ein Mädchen mußte wegen 
andauernder Krankheit ausscheiden, eins kam mit Wissen der Eltern von 
einem Sonntagsurlaub nicht zurück. 

Das Pflegegeld zahlte für 13 Mädchen die städtische Armendirektion;, 


7. Die ersten Wortbedeutungen, die Entwicklung der Wortarten usw.‘ 345 





in 5 Fällen leisteten die Eltern, in je einem Falle eine Dorfgemeinde und 
der nationale Frauendienst ihren Verhältnissen entsprechende Beihilfe; die 
übrigen wurden auf Kosten des Heims erhalten. 

Hamburg. Rössel. 


7. Die ersten Wortbedeutungen, die Entwicklung der 
Wortarten und des Satzes bei meinem Sohn Rafael. 


Von Hanna Neugebauer, Kostenblut. 
(Schluß.) 


Das Vierteljahr von 2; 0 bis 2; 3. Fürwörter: 

ich ist zunächst noch selten. Erst kurz vor 2; 2 wird es häufig; 
dennoch herrscht auch dann der Name Raffel noch vor. Von 2; 2 an ver- 
schwindet Raffel fast ganz und läßt das ich auffallend in den Vordergrund 
treten. — Mein ist noch selten und wird zuweilen mit dein verwechselt. 
Sich wird richtig gebraucht, mich nur in der einen Verbindung laß mich. 
Mir dich, uns und man werden erlernt; auch dasselbe, selber (z. B. 
ich will selber alleine!), und einmal hörte ich »irgendwas«: hier is 
ägend was. — Jemand und niemand werden zuweilen richtig ange- 
wendet, zuweilen verwechselt. 

Neben richtigen Mittelwörtern geht durch das ganze Vierteljahr eine 
Neigung, den Ablaut der starken Biegung in die Mittelwörter von Zeit- 
wörtern mit schwacher Biegung zu bringen; z. B. umkoppen = um- 
gekippt, kloben — geklebt, troten — getreten, hongt —= gehängt. Eine 
andre Art der Vermischung der Konjugationen, die er häufig anwendet, 
ist: nommt = genommen, verlort = verloren, prungt = gesprungen. Die 
Vorsilbe ge- bleibt regelmäßig weg, mit einer einzigen Ausnahme. 

Die Vorvergangenheit erscheint am Ende des Vierteljahrs: War 
auch in Stall gangen. — hier war se licken = hier hatte sie gelegen. 

Die Zukunft ist schon am Beginn des Vierteljahrs verzeichnet, z. B. 
Vatel wird fortfahren; es wird bald beherrscht. 

Die Leideform hörte ich am Ende des Vierteljahrs zum erstenmal: 
Die wird noch (ge-\badet, die kleine Miexekatze. 

An Hilfszeitwörtern werden gebraucht: 
haben in den Formen: (du) kast, (er) hat, ich hatte. 


sein FIRE ý ich bin, du bist, sie sind, ich bin (ge-\wesen, 
ich war, du warst, (sie) war. 

wollen „ p k ich will (auch:) ich woll, sie wollen, ich wollte. 

sollen „ „ en (es) soll. 

mögen „= 4 sie möchten (mag war da, hat sich aber verloren). 

MÜSSEN pn ~ i Raffel muß, ich muß. 

können „ ~ s ich kann, man kann. 

werden ., es wird in drei Bedeutungen: 


1. zur Bezeichnung der Zukunft, 

2. zur Bezeichnung einer Zustandsveränderung: Vatel, ess schnell, 
hier is Suppe, die wird sonst kalt, 

3. erklärend beim Malen an die Tafel: das wird eine Sch (Eisenbahn). 


346 B. Mitteilungen. 


Einige Eigenschaftswörter werden gesteigert: fester, lieber, 
weiter. Sinnlos wird öfters der längste gebraucht. 

Bezüglich der Farbeneigenschaftswörter herrscht immer noch 
völlige Unklarheit, namentlich ist die andauernde Vortäuschung von rot 
und grün auffällig. Doch geht aus Rafaels Spielen hervor, daß er die 
Farben unterscheidet, nur ihre Namen verwechselt: er legt grün zu grün 
und rot zu rot; schwarze Würfel stellen Schornsteinfeger, rote Würfel 
Soldaten vor. 

12 neue Bindewörter erscheinen mit den entsprechenden Neben- 
sätzen und zwar in dieser Reihenfolge: 


wo (attributiv) bis 

was wie 
wenn (temporal) (des)wegen 
weil ob 

daß wo (lokal) 
da (statt »sonst«) sonst 


Zu Anfang des Vierteljahrs tritt das bestimmte Geschlechts- 
wort auf. 

Als neue Verhältniswörter treten hinzu: durch, mit, auf, an, in, 
aus, zu, nach, über und für. Doch werden manche von ihnen immer 
noch gelegentlich durch beč ersetzt. 

Der erste Infinitiv mit zu: das geht zu machen. 

2; 3 Als Sprachprobe gebe ich einen Ausschnitt aus einem mitsteno- 
graphierten Spielgeplauder vom Ende des Vierteljahrs: (Er schraubt an 
den Rädern seines Spielschweinchens:) Ans Nuschel (= Schweinchen) 
mach ich ein Hufeisen dran. Ich bin der Schmied, Muttel. Wo ist 
das Feuerle? (er greift in die Luft.) Hier is ein Feuerle. Wo is ein 
Hufeisen, Muttel? (Ich schlage etwas vor.) Das nich Muttel. So wie 
ein Hörnchen. (Es soll Hufeisenform haben. Er formt auf meinen Vor- 
schlag Hufeisen aus Plastilin. Dann begegnet ihm seine Stoffkatze.) 
Komm mal liebes Miezele! (Drückt sie an sich und wiegt sie in seinen 
Armen) Hm-hm! hi-hi-hi-hi! Hast'n hier was? (untersucht ihr 
Gesicht; wiegt sie wieder:) So is schön! So is schön! Nu, liebes 
Miezele! — Miexel, mach mal der Mund auf! Mal was geben! Ich 


wer dir was geben. Der Mund aufmachen. — Danke! Das Miezel 
macht: danke! — Miexel wird Mund aufmachen. Mäulchen, das 
kleine Mäulchen. — Miexel sagt danke! (Sucht auf dem Nähtisch:) 


Wo is de Schnippe (= Schere). Mit der Schnippe reinfahr, da tut’s 
weh. (Ich lenke ihn von der Schere ab. Er legt das Schweinchen aufs 
Sofa und deckt es mit einem Kissen zu.) Nuschel! Wo bist denn? 
Wo yuckst'n, Nuschel®? Da guck ich! Da guckt’s! Kann das Nuschel 
schlafen. Nuschel nich de Schere geben, schneidet sich das Nuschel. 
Will mal mich bissel hinsetzen. — — — Hab ich ausruht bei’n 
Nuschel. Muttel, komm bein Nuschel mal! Ein schönes Nuschel! 
Muttel, streichel mal hier das Sch(w)änzel! Faß mal das Augel an. 
Nu Augele! Andern Seile is auch ein Auge. — Nuschel schläft, 
glaub ich, nich ein. Wieder anziehn. Andre Hose, das Leibl, Jackl, 


7. Die ersten Wortbedeutungen, die Entwicklung der Wortarten usw. 347 
dann wird’s baden gehn, das Nuschel. In der andern Stube wird’s 
baden. — Wie geht denn das. -- — Nuschel einpacken. Nuschel 
reintun, zudecken. Da wird das, glaub ich, einschlafen. (Er wieder- 
holt den letzten Satz 8—9 mal und türmt währenddessen alle Sofakissen 
auf das Schweinchen.) Hier zudeckt, da kann ich bissel setzen. Hier 
friert noch was, inwendig, da kann ich noch bissel zudecken. — Die 
Miexekatxe geht auch noch schlafen, die wird noch (ge)badet, die kleine 
Miezxekatze. (Badet sie) Jelx wer ich das Bettel zurechtmachen. (Er 
breitet ein Taschentuch aus. Er bringt noch den Bären und sagt zu ihm:) 
Wie geht’s mir? (— dir) Ach, mir geht’s gut. Mir auch. War auch 
in Stall gangen. (Eine Wiederholung aus einem ganz einfachen Gespräch 
zwischen zwei Holzpferdchen, das ich ihm etwa 3—4 Wochen vorher vor- 
gespielt hatte. ..... Er packt den Bären und die Katze ins Taschentuch.) 
Sei ruhig! Sei ruhig! (Er trägt die Tiere umher.) Der Vatel bissel 
tragen. Die sind so sehr müde! Da werden se bissel schlafen. In 
ein Bettel tun usw. usw. 

Im Vierteljahr von 2; 3 bis 2; 6 wird der 4. Fall fast immer 
durch den 1. Fall ersetzt, z. B. Vatel, irage mal der Stock dorthin! 

Dagegen wird der 3. Fall bei weiblichen Dingwörtern mit und ohne 
Verhältniswort richtig gebraucht: xur Muttel, mit der Eisenbahn, bei der 
Lokomobile, der Emma sagen usw. Beim männlichen und sächlichen 
Dingwort jedoch heißt es meist: xwn Vatel, bein Fenster usw. 

Zu den vor 2; 0 gebrauchten abstrakten Dingwörtern: Arbeit, 
Zeit, Angst, tritt ein ` neues: Spaß. Von abstrakten Zeitwörtern treten 
neu auf: denken, wünschen, vergessen, verstehen und meinen. 

Beim Mittelwort findet sich vereinzelt noch die Neigung des vorigen 
Vierteljahrs, den Ablaut der starken Biegung in die Partizipien schwach- 
gebeugter Zeitwörter zu bringen: reinstocken —= reingesteckt, drohn = ge- 
dreht. — Die Vorsilbe »ge-« stellt sich ein und wird rasch dauernd. 

Die Mitvergangenheit ist noch selten: ich konnte, ich krigte, 
jetz ging’s, da gingen wir. 

Die Leideform wird geläufig, doch manchmal noch falsch, z. B.: 
Da wird er (der Schornstein des Dampfers) umlegen sein = umgelegt 
werden. Jetz is der Schornstein umlegen worden sein = umgelegt 
worden. Dagegen: Was kann in das Kändel (= Kännchen) reingossen 
werden? 

Die bedingende Form tritt neu auf in den Wörtern: müßte, 
wäre, könnte, käme. 

Die Grundform mit »zu« wendet R. ohne Schwierigkeiten an bei 
gehen, scheinen und brauchen: das geht zu machen. Die Schraube 
scheint aufzugehn. Da brauchst du dich nich zu bücken. 

Neue Umstandsformen treten hinzu: 

Zur Bezeichnung des Ortes: überall, unterwegs, am Rande, an der Seite; 

der Zeit: früh, neulich (unter-)dessen; früh bevorzugt er als Bezeich- 
nung für allerlei vor- und zurückliegende Zeitpunkte; 

der Weise: nämlich, (wahr)scheinlich, auslei-\nander, freilich, gar, 
kaum, genau, ganz genau, eigentlich. 


348 B. Mitteilungen. 





Die Beugung der Eigenschaftswörter ist im allgemeinen 
richtig; Fehler wie: Komm zu’'n liebes Raffel sind ziemlich selten. — 
Zuweilen setzt er 2 Eigenschaftswörter vor ein Dingwort: ein großes, 
hohes Dings! — der schöne, weiße Gürtel! — das schöne, weiche 
Pelzel! — Einige neue Komparative: Wärmer, größer, kälter, eine 
kleinere Kanone. Auch falsche Komparative kommen vor: wecker von 
weg und vieler statt mehr. Richtige Superlative: der größte, am besten, 
am liebsten. Zuweilen sagt er: lieber am besten, z. B.: »Was für eine 
Schnitte möchtest du haben? Lieber am besten mit Honig.« 

Bezüglich der Farbeneigenschaftswörter ist ein Fortschritt zu 
verzeichnen. Auffällig ist jedoch, daß richtige Farbenbenennungen fast 
immer spontan vorkommen, während man auf Fragen nach den Farben 
meist falsche Antworten bekommt. 

Zahlwörter bis 5 werden angewendet, doch ohne einen Begriff von 
der Zahl. Selbst die Zahl 2 hat noch dieselbe Bedeutung wie viele, 
nämlich: mehr als eins. 

Als er 21/, Jahr durch war, malte er sich aus, was er alles machen 
könnte, wenn er der oder jener Handwerker wäre. Ich gebe dieses Ge- 
spräch als Sprachprobe: Wenn ich ein Fabrikmann bin, ein 
Schlosser bin, da kann ich Zeiger machen für die Ticktack. Da kann 
ich auch Löchelein xur Ticktack machen, hier in der Mitte, so welche 
kleine, hübsche. Wenn ich ein Schuhmacher bin, da kann ich auch 
Schuhe machen, aus Leder. Wenn ich ein Mann bin, ein Glasfabrik- 
mann, da kann ich auch Fensterscheihen machen. Da kann ich 
immer auch Glocken machen für die Lampe, und da kann ich auch 
Ketten (am Lampenschirm) machen für die Lampe. (Ich, »der Glas- 
fabrikmann kann nicht Ketten machen«.) Da kann ich zuerst Glocken 
machen. Dann kann ich, wenn ich mit der Glocke fertig bin, da 
mach ich dann noch Ketten. Da mach ich auch — — (unterbricht 
sich) werden auch Gardindel mit Maschinen gemacht? (Ich: »Ja, mit 
Webmaschinene.) Wenn ich ein Schlosser bin, da kann ich auch 
Webmaschinen machen. Wenn ich ein Fabrikmann bin, kann ich 
auch noch Maschinen machen. Wenn ich ein Schlosser bin, kann 
ich Gardinenstangen machen. Wenn ich ein Schlosser — wenn ich 
ein Tischler bin, kann ich einen hölzernen Mann machen. Wenn 
ich ein Blechmann bin, kann ich Löffel machen. Wenn ich ein 
Fabrikmann bin, da kann ich auch so ein Näppel (Näpfchen) machen 
zum Kerne reinspucken, so kleine, hübsche usw. 

Das Vierteljahr von 2; 6 bis 2; 9. 

Der 4. Fall und der 3. Fall werden meist richtig gebraucht, auch 


die verschiedenen Wortarten: Wen soll ich pinseln®? ... ein großer 
Wald mit vielen Bäumen. — — Da wer ich ihnen Futter geben ... 
Das gefällt der Maus. 

Die Anredefürwörter ihr und Sie treten auf. — Mein ist häufig. 


Mir und mich werden noch zuweilem verwechselt, z. B. mir friert. 
Das Partizip der Vergangenheit ist noch oft falsch, z. B. ein- 
gestiegt statt eingestiegen, gefuhren statt geführt, gebrangen statt ge- 


7. Die ersten Wortbedeutungen, die Entwicklung der Wortarten usw. 349 








bracht. Ein Mittelwort der Gegenwart wurde versucht: Ich will mal 
die glänzenen Kugeln haben. 

Eine Steigerung mit genanntem Vergleichsglied kommt vor. 

Die Farben rot, grün, blau und gelb werden sicher beherrscht. 
Rosa wird als »auch rot« bezeichnet. 

Verschiedene weniger gebräuchliche Umstandswörter werden richtig 
angewendet, z. B. niemals, beinahe, etwas. An falscher Stelle wurden 
ungefähr und hoffentlich gebraucht. 

Bedingende Formen sind häufig. 

Er nähert sich dem Verständnis der Zahl 2. Doch ist er auch 
hierin noch unsicher. 

Eine Sprachprobe von 2; 8: Ich hab eine Fabrik, in der geht 
Papier xu machen. Das Papier wird geschnitten. Und die Maschine, 
die hat so ein spütxiges, eisernes Ding, damit kann sie Löcher in das 
Papier machen. — Im mein Hösel, da is ein Fleck, ein Lichtklecks, 
da muß ich sie zu den Leuten schicken. (Er meint eine Reinigungs- 
anstalt.) Und in meiner andern Fabrik da werden Ziegeln gemacht. 
(»Was machst du denn mit den Ziegeln?«) Da schmiere ich Kalk drauf, 
und da lege ich sie auf das Haus und da kleben sie fest. Und in 
meiner andern Fabrik da wird Stoff genäht. Der Stoff wird ge- 
schnitten, da werden Stoffläppel gemacht, zum Putzen, Putzläppel 
zum Lampenputzen. — Ich hab noch was Großes, Dickes, das is 
ein — ein — (9mal) ein Wolf. Der hat ein graues Maul. Der 
kann schöne Knochen beißen, der hat große, feste Zähne. Der is in 
ein drahtenes Ding drinne. Und ich hab auch ein Netz, das wird 
angehakt, und da kann der Wolf nich raus. (Das hatte er im Zirkus 
gesehn.) Krappel krappel (mit der Hand auf der Bettdecke), da krappelt 
noch was. Da is — da is ein — ein — ein Eisenbahndel, ein 
kleines Eisenbahndel. 

Rafael hat nun die Beherrschung aller Wortarten und im großen 
Ganzen auch ihrer Beugung erworben. 

Die einfachste Form des Satzes, der Einwortsatz in Sterns 
Sinne (vergl. Stern S. 164 ff.) trat bei Rafael nach 11 Monaten auf. Es 
war dies das erste sinnvoll gebrauchte Wort kl-ta — Ticktack. 

Rafael bediente sich des Einwortsatzes 7 Monate lang, ehe er (1; 6) 
den ersten mehrwortigen Satz bilden konnte. Dieser Zeitpunkt stimmt 
genau mit dem von C. W. Stern als Durchschnittsalter für den Eintritt 
des mehrwortigen Satzes bezeichneten Zeitpunkt überein (vergl. Stern 
S. 182 ff.). Der erste Mehrwortsatz war: Mama Ecke! Und gleichzeitig: 
Papa Ecke! Emma Ecke! usw. R. stand bei diesem Ruf in eine Ecke 
oder an eine Wand gedrückt und verlangt, daß wir alle uns dicht zu ihm 
stellten. 

1; 7 Wie dieser erste, so sind auch die 1; 7 und 1; 8 verzeichneten 
1; 8 Mehrwertsätze volitionaler Natur: Koop (Korb) tragn leine 
(alleine) — Nase putsn, Saufl olen — Schaufel holen, Emma 
sagen, Mama gehn, Opapa rufen, (V)atel suchen, Trümpel 
laufen = in den Strümpfen laufen, Fußl laufen = barfuß 


350 


1; 8°), 


1; 71% 


1; 81, 


B. Mitteilungen. 


laufen. — Aber auch einige feststellende Sätzchen kommen 
vor: Baum blühts dot —, Käwa (Käfer) fliegts hoch. (Das s 
bei blühts und fliegts ist dadurch entstanden, daß er uns nach- 
sagte do(r)t blühts. Er hörte es oft, denn es war im Mai, wo 
täglich blühende Bäume auffielen und ihm gezeigt wurden. Gief- 
gaß, kleine hibse! rief er beim Anblick einer kleinen Gießkanne. 
— Einmal im selben Alter setzte Rafael mit einem Mehrwortsatz 
die Mitteilung des Großvaters fort: »Heut fahre ich fort.« Rafael 


fügte sogleich hinzu: Eisenbahn, — weit, weit fort! — 
Fragende Mehrwortsätze treten auf: Beinel wo? — Mann 
wo? — Der verneinende Satz fehlt in diesem Alter noch ganz. 


Ungefähr gleichzeitig mit dem Mehrwortsatz erscheint 1; 6 
die erste Satzkette; das Tagebuch sagt: »Ich hatte mit ihm im 
Wagen Fleisch und Wurst gekauft und das Paket ans Fußende 
des Wagens gelegt. Nachdem wir ein Stück weiter gefahren 
waren, zeigte er darauf und sagte: Wu — ein — Oma bum- 
tum, d.h. da ist die Wurst eingepackt, die Omama = die 
Fleischersfrau (Frauen überhaupt) hat bumbum gemacht (mit dem 
Beil geklopft). — Es erscheint auffällig, daß der erste Mehrwort- 
satz mit der ersten Satzkeite zeitlich zusammenfällt. Nach Sterns 
Zusammenstellungen (Die Kindersprache, S. 183 u. 187) liegen 
bei allen beobachteten Kindern einige Monate zwischen dem ersten 
Mehrwortsatz und der ersten Satzkettee — — Die nächsten Satz- 
ketten sind Berichte: Krisl — baden — nunei — Bett; 
(die Gedankenstriche deuten die Pausen zwischen den einzelnen 
Wörtern an), d. h. die Christel hat gebadet, dann ist sie schlafen 
gegangen ins Bett. Und: Nowak — Wasser — S(chiff — 
aus(s)teigen — mal, d. h. der Nowak (ein ihm bekannter Junge) 
war auf dem Wasser in einem Schiff, dann ist er ausgestiegen, 
dann ist er nochmal im Schiff gefahren. Als er denselben 
Knaben auf der Straße mit der Geige sah, sagte er: Nowak — 
Geige — Vatel (s)pielen, d.h. der Nowak hat die Geige, er 
wird beim Vater spielen. Einige Tage, nachdem er Prozessionen 
vorübergehn gesehn hatte, erzählte er: Leute Fahne haben — 
folr)igehn — Kirche gangen. Bei »Kirche« fiel ihm wahr- 
scheinlich der Klangähnlichkeit wegen, »Küche« ein, und er 
sprach weiter: Küche gehn, Toffeln (Kartoffeln) s(ch}älen. — 
Zwei Satzketten aus diesem Alter bezogen sich aber auf die Zu- 
kunft: als der Barbier kam, sagte Rafael: Neuma — Vatel 
setzen — Tuhl — (sch)miere miere — kratze kratze — 
was(ch)en, d. h.: Der Neumann (Name des Barbiers) ist da, der 
Vater wird sich auf einen Stuhl setzen, der Neumann wird ihn 
einseifen, den Bart abkratzen, der Vatel wird sich waschen. Und 
als ich im Garten Rhabarber abgeschnitten hatte und ihn mit 
Rafael in die Küche trug, sagte er unterwegs, was mit dem 
Rhabarber geschehen würde: (Sch)nezden — s(ch)älen — waschen 
— kochen — rühren — Opapa essen. 


13.9 


. Die ersten Wortbedeutungen, die Entwicklung der Wortarten usw. 351 





Etwas später kommen Satzketten vor, in denen Überein- 
stimmungen beachtet werden. Piepmiep (Vogel) (sch)läft,. 
Bräuerlene läft (kleines Mädchen), Pätschel (Kalb) läft — 
Opapa laft — Toich (Storch) läft. Im Garten grub er Löcher 
in die Erde und brachte mir alles, was er dabei fand: (S)tein 
— Wulr)m — Keir)nel ausgrabt, — Muttel zeigen. Nachdem 
er geweint hatte berichtete er: Raffel weint — (mit dem): 
Guckel (= Auge) weint, — (Ge)sichtel weint — Nasel weint! 
Eine vorerzählte Fabel erzählte er nach: Mädel weint — 
Toich (Storch) nehmt Brot — Mama gehn. — Am häufigsten 
waren die Satzketten, wenn Rafael für sich allein spielte. Z. B., 
als er 4 Bauklötze so hinlegte, daß in ihrer Mitte ein Viereck 
frei blieb: Teich — hier Wasser laufen — hier Frosch hoppen. 
Würfel legte er als Eisenbahnwagen aneinander und plauderte: 
die fährt fort — eine (wird) herkommen — Raffel ein- 
(s)teigen. Er setzte sich in einen kleinen Wäschekorb, der ein 
Schiff vorstellte: Schiff — hier Wasser — Teich — Händel 
Wasser — bissel (s)pielen. Er tat, als spielte er mit den 
Händen im Wasser. — Er baute. 

Ich: »Was baust du denn? « 

R.: Haus. Raffel baut ein Haus. 

Ich: »Wer wohnt denn da drin?« 

R.: Leuten! Hier ein großes Leut. 

Ein Dampfer machen. Dampfer fällt um. — Hohen Schorn- 
stein. Rauch dran machen. Das (ist) ein Rauch. — Er 
hatte ein hölzernes Stühlchen, das er sehr gern zerbastelte. Wenn 
es der Stellmacher Schenk auf Rafaels dringenden Wunsch eben 
erst zusammengeleimt und -genagelt hatte, machte Rafael es doch 
gleich wieder auseinander — ohne, daß wir es ihm jedoch ver- 
boten hätten. Er spielte dann, er wäre »der kleine Schenk« 
und arbeitete daran, es wieder zusammenzusetzen. Dabei plauderte 
er fortwährend vor sich hin: Ach — geht das nich — hm — 
das reinstecken — festmachen — kleine Schenk kann nich 
das machen — ontlich (ordentlich) — geht das nich ontlich 
— Schenk kriegt nich das raus — ach ach ach ach — fällt 
immer um das — nu — nu das Ding usw. — Antithesen 
fehlen ganz. 

Mitten in dieses Stadium schon ziemlich vollständiger Haupt- 
sätze fällt 1; 11 ganz vereinzelt ein Nebensatz: Mal messen — 
lang is = wie lang es ist. Es waren vom ersten Mehrwortsatz 
bis zu diesem Nebensatz 5 Monate vergangen. Doch vergingen 
weitere 2 Monate, ehe Rafael den Nebensatz häufiger anwendete. 
Er bleibt nur kurze Zeit ohne Bindewort. Es erscheinen in 
bunter Folge alle Arten von Nebensätzen. 


Beispiele: 
Ergänzungssätze: Mal sehn, (ob der) Vatel da is (2; 1) Ich wer- 


352 B. Mitteilungen. 





mal lesen, was drin neis (2; 1!/,) Wollin ’mal sehen, wie’s durch- 
kommt. Muttel fühle mal, ob's viel is (2; 21),). 

Zwecksätze: Mach mal auf (daß ich) reinkann! (2; 1). Was vorlegen 
daß de Maus nich rauskann (2; 2). 

Ich leg noch Kohle an, daß ontlich (ordentlich) brennt (2; 2/,). 

Beifügesätze: Raffel auch ein Buch haben! Die, wo Kürbis drinne 
sind! (2; 11/,). 

Kausalsätze: Beim Äpfelschälen sagte er: eisch! Ich fragte: »Warum 
sagst du etsch? Hast du dich geschnitten?« Er antwortete: Nee. 
Etsch sagt, bissel faulig is (2; 1Y/,). 

Einmal früh im Bett lachte er plötzlich laut. Ich fragte: »Warum 
lachst du denn?« Weil der Jäger raufkommt! Auf de Lampe! (2; 2) 

Zeitsätze: Dann wer ich runtersteigen, wenn der Vatel kommt 
(2; 2). In der Küche betrachtete er lange die eiserne Klappe, die 
das Rohr abschließt und studierte eingehend den Verschluß; dann 
sagte er ganz ernsthaft: Wenn xu is, is nich mehr offen (2; 2). 

Als er in meiner Abwesenheit etwas von mir wollte, sagte der 
Vater: »Die Muttel wird gleich wiederkommen.« Da setzte er sich 
auf einen Stuhl und rief: Muß ich mal schnell bissel warten, bis 
de Muttel kommt (2; 2'/,). Warte mal bis ich fertig bin! (2; 21/2). 
Ein Zeitsatz, der über die Vergangenheit berichtet: Da war ich naß 
eingepackt, Vatel, wie ich bissel krank war. 

Umstandssätze der Weise: Beim Birnenschälen sagte er: Groß sind 
de Birnen! Die sind so groß, wie de Muttel sta(r)k is (2; 2'/,). 
Ich wunderte mich sehr über diesen richtigen Satz. Gewiß wollte 
er damit ausdrücken: Um diese großen Birnen zu zerschneiden, ist 
Muttels Stärke nötig. Denn er hatte sich vorher selbst vergeblich be- 
müht, eine durchzuschneiden. — Er ließ seine Stoffkatze an der Wand 
in die Höhe springen und sagte: Die Miekatze hoppt so hoch wie 
das Tamometer hängt (2; 2}),). 

Umstandssätze des Ortes: Da kommt soviel Rauch raus bei W., 
wo de Sch (Lokomobile) war (2; 21/,).. Ich hab de Kindern ge- 
sehn, wo se sind. 

‚Sätze mit »sonst«: Das erste Mal wird das »sonst« durch »da« er- 
setzt: Vatel, eß jetz, da wird de Katoffel kalt! (2; 21/,).. Ganz 
kurz darauf: Vatel, eß schnell, hier is Suppe, die wird sonst kalt! 
(2; 21/,). 

Ei demselben Alter sagte er noch einen merkwürdigen Satz beim 
Spazierengehn bei windigem Wetter, das ihm immer sehr unangenehm 
war: Der Wind kommt mir, da bin ich wegen so krank (2; 21/,). 
Er war aber nicht krank. Es war nur eine Klage über den Wind 
und vielleicht ein Wink, daß er ins Zimmer zu gehen wünsche. Ich 
hatte ihm wohl manchmal bei Wind gesagt: »Mach den Mund zu, 
sonst wirst du krank. 

‚Rückbezügliche Sätze: (2; 41/,) Die Tante Trude nimmt die Scherben, 
die schneide (scharf) sind. — Das is der andre (Würfel), der hierhin 
fehlt. — Er wollte die Führichschen Bilder »Der verlorene Sohn« 


7. Die ersten Wortbedeutungen, die Entwicklung der Wortarten usw. 353 





ansehn und sagte: Der Sohn, der von xu Hause wegreitet, das will 
ich haben usw. Der Winter, der bei der Lokomobile is (Loko- 
mobilführer), heißt Winter, weil sein Vater Winter heißt (2; 6). 
Folgesätze: Wenn ich hier dran zieh, da kommt der Wagen mit. — 
Wenn das der Vatel anzieht, da wird der Vatel freun (2; 4tJ,). 
Schließlich überraschte er mich 2; 4 mit einem vollkommen richtigen 
irrealen Nebensatz. Er hatte seine Milch getrunken, betrachtete dann 
nachdenklich die leere Flasche und sagte vor sich hin: Wenn die 
Speiseröhre zu wäre, da könnte die Milch nich reinlaufen. Die 
Speiseröhre war ihm sehr interessant. Ich hatte ihm früher davon 
erzählt, um ihn fürs Essen zu interessieren, als er, wie öfters, wieder 
einmal nicht weiteressen wollte. Dabei habe ich aber bestimmt nicht 
von der Möglichkeit gesprochen, daß je die Speiseröhre geschlossen 
sein könnte. — Überrascht war ich von diesem frühen ganz korrekten, 
irrealen Bedingungssatz, weil diese Form von Hilde Stern erst 4; 4 
beherrscht wird, während der erste Versuch dazu 3; 9 verzeichnet ist 
(Sterns: Die Kindersprache, S. 79 und 76). Ich wollte Rafaels Satz 
gern noch einmal hören und fragte darum, möglichst harmlos, als 
hätte ich ihn nicht verstanden: »wie?« Und nun kam seltsamerweise 
mit gesenktem Kopf und Blick, leiser und mit dem Ausdruck des Ver- 
schämtseins auf dem Gesichtchen die Antwort: » Wenn die Speise- 
röhre zu is, da kann die Milch nich reinlaufen.« Ich hatte den 
Eindruck, als ob Rafael durch meine Frage darauf aufmerksam ge- 
worden wäre, daß cr, vom Sprachgefühl geleitet, etwas Besonderes ge- 
sagt habe, und als ob ihn nun ein gewisses Schamgefühl abhielte, 
dasselbe ein zweites Mal — mit Bewußtsein — zu sagen. 

Es vergingen 2!/, Monate, ehe Rafael weitere irreale Nebensätze 

bildete. Zunächst kamen dann 2 Wunschsätze, denen der Hauptsatz 
fehlte: Er aß bei der Großmama sehr gute eingelegte Kirschen und 
rn Wenn ich zu Hause auch sə welche (= solche) hätte! 
2; 61/3). 
Wenn schon Frühling wäre! (2; 7). Er spielte mit einem 
von seiner Phantasie geschaffnen Mäusel und sagte: Ach, wenn doch 
das Mäusel hierbliebe! Das wäre aber so hübsch! Ach! Das 
liebe Mäusel! (2; 7). 

Auf dem Wege zum Teiche freute er sich, daß vielleicht Frösche 
da sein würden und sagte: Das wäre hübsch, wenn noch Frösche 
hopsen — — Da zögerte er ein paar Sekunden, fand aber das Wort 
»würden« nicht und sagte schließlich halblaut und unsicher: kommen 
(2; 71/4) Wenn ich hier raufkletter, könnte ich beinah xu dem 
Loche rausfallen (2; 7'J,). 

Er unterhielt sich mit dem Vater von dem Elefanten im Zoologi- 
schen Garten und davon, daß der Elefant blasen karn, wenn der 
Wärter ihm eine Mundharmonika gibt. Rafael sagte: Wenn der Mann 
ihm eine Leier gibt, da könnte er auch leiern. 


Zeitschrift für Kinderforschung. 21. Jahrgang. 23 


354 C. Zeitschriftenschau. 





C. Zeitschriftenschau. 


Zeitschrift für pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik 
16. Jahrgang, 1915. 


Gaudig, Hugo, Pädagogisches Denken in diesen Kriegszeiten. S. 1—22. 

Verlangt möglichste Beschränkung der Fremdsprachen, um auf allen Stufen 
eine rein deutsche Schule zu gewinnen. So soll beispielsweise beim Gymnasium 
eine Fremdsprache gestrichen werden und der Unterricht im Lateinischen auf das 
praktisch Notwendige beschränkt werden. 

Fischer, Aloys, Die neue Jugendbewegung. S. 22—37, S. 74—84. 

Die früheren Jugendbewegungen gingen in der Regel von Erwachsenen aus 
und wurden von Erwachsenen geleitet. Sie verfolgten bestimmte religiöse, politische 
oder soziale Ziele, die ihnen von Erwachsenen vorgezeichnet wurden. Die neueren 
Jugendbewegungen werden von der Jugend selbst angeregt und geleitet; sie widmən 
sich vorzüglich der Pflege des Wanderns, der Durchführung einer Lebensreform, 
der pädagogischen Arbeit. Bisher haben sie vielfach mehr ausgesprochen, was sie 
nicht wollen, aber es regen sich auch neue Kräfte, schöpferisches Wollen. Die 
Jugend will sich noch nicht festlegen lassen für die Parteiziele ihrer Väter und 
Lehrer. Wenn die Bewegung nicht auf Abwege gelenkt wird, kann sie segensreiche 
Wirkungen erzielen. 

Meumann, E., Wesen und Bedeutung des Nationalgefühls. S. 84—106. 

Über Wesen, Berechtigung, tatsächliche Grundlagen, geistige, sittliche und 
kulturelle Bedeutung des Nationalgefühls. 

Rupp, H., Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik. S. 106—127. 

Eine Reihe von einfachen Apparaten für Schulversuche auf dem Gebiet des 
Gesichtssinnes. 

Meumann, E., Über Volkserziehung auf nationaler Grundlage. S. 161—185. 

Die Volkserziehung, die bisher privaten Veranstaltungen überlassen war, muß, 
ebenso wie die Jugenderziehung, vom Staate übernommen werden. Als neulich in 
Hamburg die schulentlassene Jugend von 14—18 Jahren zu Beschäftigungen der 
Kriegspflege herangezogen wurde, zeigte sich zur allgemeinen Überraschung, daß 
der Prozentsatz der jungen Leute, die sich schon an bestehende politische Organi- 
sationen angeschlossen hatten, sehr gering war. Der Staat muß hier eingreifen und 
nach dem Vorbild Kerschensteiners in den Münchener Fortbildungsschulen 
Freiheit und Zwang mit Takt zu vereinigen wissen. Das Nationalgefühl d. h. die 
Liebe des Volkes zu den Volksgenossen, muß den Ausgangspunkt und die Grund- 
lage der Volkserziehung bilden. 

Conrad, Waldemar, Das psychische Gleichgewicht als eines der Erziehungsideale 
und die Grundformen seiner Störungen. S. 185—193, 269—279. 

Der Kreislauf des Lebens verläuft zwischen Aufnehmen, Verarbeiten und 
Äußern. Das gilt auch für das Psychische. Jeder dieser Teilprozesse kann durch 
ein Zuviel oder Zuwenig Störung hervorrufen. Hemmungen des Sichäußerns zeigen 
z. B. der Pfarrer, der Schauspieler, die seit irgend einem ergreifenden Erlebnis 
fürchten, stecken zu bleiben u.ä. Besonders besprochen werden noch die Fälle, 
wo zu viel aufgenommen und zu wenig verarbeitet wird, und der umgekehrte, wo 
der Verarbeitungsprozeß im Verhältnis zu einem ungenügenden Aufnahmeprozeß zu 
lebhaft ist. Alle diese Störungen müssen auf Grund psychologischer Kenntnisse 


C. Zeitschriftenschau. 355 





und mit vorsichtiger Anwendung der Psychoanalyse behandelt werden. Um eine 
möglichste Harmonie zwischen den drei Teilprozessen herstellen .oder fördern zu 
können, muß der Pädagoge Philosophie und vor allem Psychologie gründlich studieren. 


Wundt, Wilhelm, Zur Erinnerung an Ernst Meumann. S. 212—214. 

Gedenkt der früheren, rein psychologischen Arbeiten Meumanns. Interessant 
ist das Geständnis, daß Meumann mit großen Vorurteilen gegen die experimentelle 
Psychologie zu Wundt nach Leipzig kam. Erst die eigene Arbeit überzeugte ihn 
von der Fruchtbarkeit der neuen Methoden. Auf dem Gebiet des Zeitsinnes und 
der Ausdrucksphänomene hat er vorzügliches geleistet. 


Fischer, Aloys, Ernst Meumann und sein Werk. S. 214—227. 

Bespricht die bahnbrechende Rolle Meumanns auf dem Gebiet der experimen- 
tellen Pädagogik. Seine »Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Päda- 
gogik und ihre psychologischen Grundlagen« sind das erste zusammenfassende und 
kritisch sichtende Werk der ganzen neuen Richtung der Pädagogik. Seine Tätigkeit 
an der Spitze der »Zeitschrift für experimentelle Pädagogik«, mit der später die 
»Zeitschrift für pädagogische Psychologie« verschmolz, zeigte der neuen Richtung 
weitere Wege. Meumanns Stellung in der Geschichte des deutschen Geisteslebens 
läßt sich kurz dahin zusammenfassen: so hat die eine Hälfte der psychologischen 
Pädagogik, d. h. der neuen pädagogischen Strömungen, nämlich die pädagogische 
Psychologie aus zerstreuten Anfängen zu einem vorläufigen systematischen Abschluß 
geführt. 

Brahn, Max, E. Meumann und die Organisationen zur Pflege der wissenschaft- 
lichen Pädagogik. 8. 227— 232. 

Seine Bestrebungen zur Gründung experimentell-pädagogischer Institute an den 
Universitäten Zürich, Königsberg, Münster, Halle, Leipzig fänden ihre Krönung in 
dem Institut für experimentelle Pädagogik in Hamburg, das auf breiter Grundlage 
eingerichtet werden konnte, und mit dem ein Institut für Jugendkunde verbun- 
den war. 

Külpe, Osw., E. Meumann und die Ästhetik. 

Wenn auch sein ästhetisches System nicht über den Psychologismus hinaus- 
kam, so hat doch Meumann wichtige Anregungen gegeben. Er hat das Programm zu 
einer elementaren Ästhetik auf experimenteller Grundlage entworfen und wollte eine 
Berücksichtigung der ästhetischen Kultur in den breiteren Schichten des Volkes. 
Deuchler, Gustav, Übersicht über Meumanns wissenschaftliche Arbeiten. S. 239 

bis 257. 

Aufzählung und Besprechung von 51 Einzelarbeiten. 

Meumann, Friedrich, Im Gedenken an Ernst Meumanns Jugend- und Studien- 
zeit. S. 257—262. 

Erinnerungen des jüngeren Bruders Meumanns besonders über die gemeinsam 
verlebten Jahre im elterlichen Pfarrhause am Niederrhein. 

Gaudig, Hugo, Schulstimmung, eine psychologische Analyse. S. 262—269. 

Die Stimmung, d. h. ein bestimmter Gemütszustand, entsteht in uns, wenn 
unsere Lebensverfassung in uns Lust oder Unlust erweckt. Die Ursachen dieser 
Stimmung können in inneren Zuständen oder in äußeren Eindrücken liegen. Lust- 
volle Lebensstimmung wirkt fördernd auf unsere Betätigung. In ähnlichem Sinn 
kann man von einer Schulstimmung reden, auf die man versuchen kann einzu- 
wirken, um etwa die Leistungen zu heben. Aber sie muß vor allem in Beziehung 
gesetzt werden zur Entwicklung der werdenden Persönlichkeit im Schüler: Die 

23* 


356 C. Zeitschriftenschau. 





Schule darf nicht ein Lebenskreis für sich sein, sondern sie muß inmitten des all- 
gemeinen Lebens der Nation stehen, durchdrungen von den Kräften des wirtschaft- 
lichen, des politischen, des sozialen, des wissenschaftlichen, des künstlerischen, des 
religiösen Lebens der Nation. Dann wird die Schulstimmung auch Wert haben für 
die eigentliche Lebensstimmung. 

Fischer, Aloys, Historische Bildung. S. 305—335. 

Führt den Nachweis, daß das Verständnis des gegenwärtigen Krieges so er- 
schwert ist, weil die bisherige historische Bildung nach Stoffauswahl, Methodik und 
letzter Zielung das Durchdenken von Gegenwartsproblemen eher hinderte als er- 
leichterte. 

Ruttmann, W. J., Quellen und Methoden der Schülerkunde. 8. 335—342. 

Die Schülerkunde ist nur ein begrenztes Gebiet der Individualforschung, so 
daß die Methoden im großen und ganzen dieselben sind, wie sie Stern in seiner 
differentiellen Psychologie gezeichnet hat. 

Meyrich, Oswald, Blutuntersuchungen an der Schuljugend. S. 342—347. 

Verfasser nahm Untersuchungen mit Sahlischen Hämometer an Schulkindern 
und Erwachsenen im Institut des Lehrervereins in Leipzig vor. Der Blutfarbstoff, 
das Hämoglobin findet sich in den roten Blutkörperchen und ist von großer Wichtig- 
keit für die Versorgung der Zellen mit Sauerstoff. Mangel an Hämoglobin bedeutet 
Blutarmut für den Körper. Aus den Untersuchungen Meyers geht hervor, daß der 
Hämoglobingehalt bei Leipziger Schulkindern bedeutend niedriger ist als der gleich- 
altriger Landkinder. In dem Dorfe Belgershain bei Leipzig stieg dieser Gehalt bei 
41 Mädchen von 6—14 Jahren von 64 auf 86, während er bei 36 Leipziger Mädchen 
von 11 bis 12 Jahren nur von 53 bis 80 stieg. Dort ein Durchschnitt von 74,4 


hier ein solcher von 66,6. — Unter den Schülern und Schülerinnen, auf die sich 
die Untersuchung erstreckte, gab es viele Sitzenbleiber. Die meisten derselben 
waren blutarme Kinder. — In einer dritten Mädchenklasse wurden vom Turnlehrer 


Übungen im Hang, Stütze, Lauf veranstaltet und zensiert, während am selben Tage 
eine Blutuntersuchung vorgenommen wurde. Die Zensuren im Turnen stimmten 
auffallend mit den gefundenen Hämoglobinwerten überein. — Da diese Unter- 
suchuungen leicht vorgenommen werden können, sind sie bestimmt, ein wertvolles 
Hilfsmittel für die Schule zu bilden, damit etwaige Mißerfolge auf ihre wahre Quelle 
zurückgeführt werden können. 

Tumlirz, Otto, Über den Unterschied beim Erfassen und Reproduzieren von 
Zahlen und Wörtern (aus dem psychologischen Laboratorium der Universität 
Graz). S. 347—368, 412—420. 

Eine Statistik der Fehler, die bei Versuchen über die Reproduktion von Ziffern 
und Zahlen gemacht werden. Von 2339 Fehlern lassen sich 1468 durch Assimilation, 
Dissimilation und Angleichung erklären. Davon fallen allerdings 525 auf Assimi- 
lation und 805 auf Angleichung, so daß hier die ergiebigsten Fehlerquellen vorliegen. 
Am häufigsten ist bei vierziffrigen Zahlen die Angleichung der dritten Ziffer an die 
zweite, z. B. 5447 für 5467, das nennt der Verfasser progressive Assimilation. 
Auf 165 Fälle dieser Art kommen nur 64 Fälle regressiver Assimilation, d. h. An- 
gleichung der zweiten Ziffer an die dritte und nur 2 Fälle von Angleichung der 
letzten Ziffer an die erste. Die einzelnen Versuchspersonen zeigen in bezug auf 
die verschiedenen Arten von Fehlern bemerkenswerte Unterschiede. 

Moede, Walther, Die Massen- und Sozialpsychologie im kritischen Überblick. 
S. 385—403. 

Während die Individualpsychologie sich durch Zuhilfenahme des Experimentes 


C. Zeitschriftenschau. 357 





zu einer exakten Wissenschaft entwickelte, blieb die Gruppenpsychologie länger auf 
die alten Methoden angewiesen. Die Völkerpsychologie, wie Wundt sie versteht, 
- in ihrer Beschränkung auf die Erscheinungen der Sprache, des Mythus und der 
Sitte, ist in erster Linie historisch gerichtet und stützt sich nur auf Beobachtung. 
Alle bisherigen Arbeiten über Sozialpsychologie, Massenpsychologie, Soziologie sind 
nur Bausteine zu einer exakten, systematischen Gruppenpsychologie, die ihren Platz 
neben der experimentellen Individualpsychologie einnehmen muß. 

Wolffheim, Nelly, Beobachtungen über das Gemeinschaftsleben im Kindergarten. 

S. 404—412. 

Es handelt sich um Kinder aus sog. besseren Kreisen, 6 Mädchen und 2 Knaben, 
deren individuelles Verhalten besonders im Verkehr mit den anderen beobachtet 
wurde. Erst diese individuelle Beobachtung ermöglicht es der Leitung, bessernd bei 
Unarten einzugreifen und die sozialen Tendenzen in der Kinderpsyche zu fördern. 
Deuchler, Gustav, Über die künftige Gestaltung der öffentlichen Jugenderziehung. 

S. 433—438. 

Die Forderungen für eine künftige Regelung der Jugenderziehung stehen für 
den Augenblick zu sehr unter dem Einfluß der militärischen Ereignisse, als daß sie 
nach dem Kriege in ihrem vollen Umfang aufrecht erhalten werden könnten. Die 
Erziehungsarbeit im Frieden wird von allgemeineren Gesichtspunkten beherrscht 
sein. Es scheint aber wünschenswert, daß der Staat die Jugendpflegearbeit über- 
nehme, um auch die Kreise zu erreichen, die sich der freiwilligen Jugendpflege 
entziehen. 

Schlag, Joh., Zur Frage der Kinderschrift. S. 438—445. 

Im Anschluß an die Aufsätze von Professor Kuhlmann, der eine eigene 
Schulschrift verlangt, weil die gebräuchlichen Schriftarten nicht für den Schul- 
anfänger taugen, so daß wenigstens für die Unterstufe eine ganz besondere Schrift 
notwendig sei, die allerdings bis jetzt noch nicht gefunden sei. Verfasser weist auf 
die Versuche von Böttcher-Magdeburg, Mahn-Eibenstock und Lindner-Leipzig 
hin, deren Arbeiten in der »Bugra« einzusehen waren. Als Merkmale einer solchen 
Kinderschrift sind zu fordern: Sie muß einfache Formen haben und leicht nachzu- 
zeichnen sein; sie sollte anfangs keinen Wechsel zwischen Haar- und Grundstrichen 
aufweisen; sie sollte einen steilen Schriftwinkel und große Grundstriche aufweisen. 
Hartnacke, W., Das Problem der Auslese der Tüchtigen. Einige Gedanken und 

Vorschläge zur Organisation des Schulwesens nach dem Kriege. S. 481—495, 
529—545. 

Bisher sind in Deutschland 90 bis 95°/, des Nachwuchses durch die Volks- 
schule gegangen und nur 5 bis 10°/, durch die höheren Schulen. Das ist aber 
im großen und ganzen keine Auslese der Tüchtigsten. Allerdings hat eine Statistik 
in Bremen ergeben, daß in einer unentgeltlichen Volksschule, die nur von Unbe- 
mittelten besucht wird, 58 °/, das Schulziel erreichen, während in einer entgeltlichen 
Volksschule, die wegen des Schulgeldes von 20 M mehr von den Kindern gelernter 
Arbeiter, Handwerker und kleinen Beamten besucht wird, der Prozentsatz 81°/, 
das Schulziel erreichen. Auch die Vererbung wird bei Kindern höherer Schichten 
eine Rolle spielen. Aber immerhin kann man nicht in allen Fällen behaupten, daß 
die Tüchtigsten in die höheren Schulen kommen. Verfasser bekämpft energisch 
die Forderung der Einheitsschule, daß die tüchtigsten Elemente der Volksschule für 
höhere Studien auf Staatskosten auserlesen werden, ohne Rücksicht auf die öko- 
nomische Lage der Eltern. Er will aber trotzdem die Aussicht auf sozialen Aufstieg 
für ausgesprochen Begabte der niederen Schichten vergrößern und verbessern. Dazu 


358 D. Literatur. 





wäre es nötig, die Mittelschulen zu fördern und ihnen die Verleihung der Militär- 

berechtigung zu gewähren. 

Lode, Artur, Experimentelle Untersuchungen über die Urteilsfähigkeit und Urteils- 
beständigkeit der Schulkinder. S. 502—512. 

Den Schulkindern, Mädchen und Knaben, wurden in gewissen- Zeiträumen 
Bilder vorgelegt mit der Aufforderung, die liebsten und das unbeliebteste zu be- 
stimmen. In drei Versuchen zeigte sich eine Übereinstimmung aller Urteile nur 
bei 4,76 °/, der elfjährigen Knaben, bei 9,09 °/, der Zwölfjährigen und bei 13,4 °/, 
der 13—14jährigen. Die Urteilsbeständigkeit ist also eine sehr geringe, nur steigt 
sie mit zunehmendem Alter. Die Resultate bei den Mädchen bestätigen diese An- 
gaben. Man sieht also, daß den Befragungen der Schüler über Beliebtheit und Un- 
liebtheit der Schulfächer nur eine eingeschränkte Bedeutung beizulegen ist. Jeden- 
falls müssen nach Möglichkeit alle Fehlerquellen ausgeschieden werden. 

Luxemburg. N. Braunshausen. 


D. Literatur. 


Nagy, Ladislaus, Der Krieg und die Seele des Kindes. (A háború és a 
gyermek lelke.) Verlag der Ungarischen Gesellschaft für Kinderforschung. 
Budapest 1916. 

Unter den Büchern, die hierzulande über das kindliche Verhalten dem 
waltigen Feldzug gegenüber geschrieben wurden, steht dieses zweifellos an erster Stelle. 

Verfasser gibt jetzt bloß den 1. Teil seiner großangelegten Arbeit. Er geht 
von dem Standpunkt aus, daß wir durch Klarlegung der weitaus komplizierteren 
Psyche des Krieges auch zur Seele des Kindes leichter gelangen können. Er meint, 
die Psychologie des Krieges wäre ohne Begründung der pädologischen Beiträge nie 
vollständig. Eine zu Beginn des Krieges eingeleitete Datensammlung der Ungarischen 
Gesellschaft für Kinderforschung ermöglichte es ein bislang noch ziemlich dunkles 
Gebiet der Kinderforschung als Wissenschaft, namentlich die Entwicklung der sitt- 
lichen Gefühle und Anschauungen zu erhellen. Indem Verfasser so entwicklungs- 
kundliche Lehrsätze festgestellt, hofft er gleichzeitig eine erfahrungsmäßige Grund- 
lage zum Aufbau einer neugearteten theoretischen und praktischen Pädagogik be- 
reitzulegen. 

Nun geht Verfasser an die Bearbeitung des von den über 100000 Antworten 
ausgewählten Materials. Vorerst beschreibt er die Entwicklung der Lebensabschnitte 
bis zum 19. Jahre, um dann bei einer eingehenden Beleuchtung zweier Fragen zu 
verweilen. Frage I lautet: 

1. Warum ist jetzt Krieg? (Für Kinder von 8—14 Jahren.) 

Was ist die Ursache des Krieges? (Für Jünglinge von 15--19 Jahren.) 
Hierbei bespricht Verfasser die psychologischen Typen und veranschaulicht die Er- 
gebnisse der subjektiven, objektiv-konkreten und abstrakten Typen laut der abge- 
gebenen Antworten der Kinder. Er vergleicht das Verhältnis der gefühlsmäßigen 
und intellektuellen Angaben und leitet davon entwicklungskundliche Lehrsätze ab; 
wobei er folgende Gegenüberstellung erhielt: 


Subj. Typen Obj.-konkr. Typen Reflex. Typen 
bei 9—14jährigen. . 48%, 772%, 18%, 
ae sinn > 5 %, 75%, 


Vermittels einer Kurve sehen wir deutlieh die Entfaltung der abstrakten Geistes- 
funktionen, und zwar in nachstehenden vier Abschnitten: 


D. Literatur. 359 





1. Die vorbereitende Periode von 9—13 Jahren. 

2. Die Zeit einer rapiden Entwicklung von 13—16 Jahren. 

3. Die Blütezeit ET ET , 

4. Abschnitt des Rückgangs „ 19 Jahren angefangen, wo die 
Denkweise wieder realer, konkreter analysierender fortschreitet. 

Frage II lautet: 

a) Was gefiel Diram besten von den Kriegsereignissen? (Für Kinder 
von 8—14 Jahren.) 

b) Was ergriff am tiefsten Ihre Seele unter den Kriegsereig- 
nissen? (Für Jünglinge von 15—18 Jahren.) 

Gleichwie bei der ersten Frage tut Verfasser auch hierbei zunächst das Ver- 
hältnis dar, das zwischen den Antworten und der intellektuellen Entfaltung obwaltet. 
Dieselben Typen stellte Verfasser fest, er unterschied nämlich subjektive, objektiv- 
konkrete und abstrakte Antworten, und ebenfalls ließ sich eine wie dort erhaltene 
Gesetzmäßigkeit in der Entwicklung der 3 Typen festsetzen. Erhebliche Ab- 
weichungen stammen lediglich aus der Natur der beiden Fragen. 

Sodann untersuchte Verfasser die Wirkung des Krieges auf die Gefühlswelt 
des Kindes. In zwei Gruppen verteilte er die Antworten, in die erste diejenigen, 
wobei der Kinder Stimmung und Lebensbetätigung gesteigert wurde; diese Wirkung, 
welche Kant als sthenisch bezeichnet, nennt er einfach eine erhebende. Eine 
andre Wirkung des Kriegs setzt die Stimmung und die Lebensbetätigung der Kinder 
herab; die wird bei Kant asthenisch, beim Verfasser eine niederschlagende 
genannt. 

Nun folgt die Prüfung der sittlichen Einwirkung des Krieges, mit dessen 
mächtigem sittenerziehlichen Wert keinerlei künstlichen pädagogischen Mittel zu 
wetteifern vermögen. 

Zuvörderst warf Verfasser die Frage auf: 

Welche sittlichen Werte haben die Kinder an den Kriegsereignissen einge- 
schätzt und welche weniger gewürdigt? Aus diesem Materiale suchte Verfasser die 
sittlichen Elemente sämtlicher Angaben heraus und stellte auf induktiver Grundlage 
folgende 7 Hauptrichtungen des sittlichen Interesses der Kinder fest: 


. Sieg. 5. Religiosität. 

2. Kampfmut. 6. Vaterlandsliebe. 

3. Eigentum und Recht. 7. Altruistische Gefühle. 
4. Ehre. 


Zur sittlichen Bewertung des Sieges gehören die dem Siege zuliebe empfundene 
Freude, gehobene Stimmung, das Ruhmesgefühl und die Schadenfreude. 

Zur sittlichen Bewertung des Kampfmuts gehören das Einschätzen des Kampfes, 
kriegerische Tugenden: Mut, Tapferkeit und Heldenhaftigkeit oder deren Gegenteil: 
Feigheit. 

In die Gruppe des Eigentums und des Rechts reihte Verfasser ein: Einschätzen 
von Gebietsbereicherungen und -vergrößerungen. 

Zur Gruppe des Ehrgefühls zählte Verfasser diejenigen Antworten, welche 
Rache, Strafe, Erniedrigung, Treue, Pflichtbewußtsein, Verrat, Mord, Ehrlosigkeit 
oder aber Mannhaftigkeit enthalten. 

Religiosität wird durch Gebete und Erwähnung des Namens Gottes bestätigt. 

Die Vaterlandsliebe wurde durch Rassenempfindung und ein sekundäres National- 
gefühl ausgedrückt. 

Zu den altruistischen Gefühlen rechnete Verfasser die sympathischen Empfin- 
dungen, Menschenliebe und die verschiedentlichen Außerungen der Solidaritätsgefühle. 

All diese Daten verarbeitete Verfasser aus zwei Gesichtspunkten: 

1. Er setzte fest, in was für einem Verhältnis die einzelnen Tugenden in 
sämtlichen Antworten der Kinder vorkommen. 

2. Er bestimmte, wie die Verhältnisziffern der einzelnen Tugenden in den An- 
gaben laut Lebensalter sich verwandeln. 

Eine beigefaltete Tabelle zeigt, daß die Bewertung des Sieges in 38.3 °/,, der 
Kampfmut 46,8 °/,, Eigentum und Recht 3,7 °%/,, Ehre 4,5 %,, Religiösität 0,5 °/,, 
Vaterlandsliebe als sittliches Motiv 35,7 und die altruistischen Gefühle in 19 °/, der 
Angaben vorkommen. 


360 D. Literatur. 





Verfasser behandelt sehr ausführlich die Fräge der sittlichen Entwicklung, be- 
rücksichtigt dabei: 

a) Diejenigen anfänglichen sittlichen Gefühle, aus denen als Grundempfin- 
dungen die sekundären sittlichen Gefühle, die sogenannten Tugenden, entspringen. 

b) Er häufte den sachlichen und formellen Entwicklungsgang der einzelnen 
Tugenden. 

c) Er erforschte den allgemeinen Verlauf der sittlichen Entwicklung, deren 
Gesetze und Grundfaktoren. 

Ferner richtete er sein Augenmerk auf eine Lösung dieser Hauptfragen: worin 
besteht das Wesen der sittlichen Entwicklung, welches sind deren Triebkräfte und 
wie wirken sie? 

Die primären sittlichen Empfindungen verwandeln sich in der Kinderzeit 
(9—14 Jahren) leicht zu sekundären Gefühlen, letztere aber vermögen im Jugend- 
alter die primären nicht zu beherrschen. 

Die sekundären altruistischen Gefühle entfalten sich in der Jugendzeit schwankend 
und unsicher, klären sich schwer und nehmen keinen höheren Schwung. 

Das Nationalgefühl kann nur mühevoll unter dem Einfluß der sekundären 
altruistischen Gefühle zu ideellen sittlichen Gefühlen gedeihen. 

Die Entfaltung der sekundären kriegerischen Gefühle folgt das ganze Kindes- 
alter hindurch den primären Empfindungen, ja im Alter von 12 Jahren werden sie 
sogar von ihnen überflügelt. Mithin dürften diejenigen Tugenden am leichtesten 
zur Ausgestaltung gedeihen, denen ein biologischer Kern innewohnt. 

Endlich begründet Verfasser auf Grund seiner Sammelforschung folgende 
allgemeingültige Lehrsätze der sittlichen Entwicklung. 


1. Zwei Grundfaktoren des menschlichen Binnenlebens zeitigen die sittlichen 
Empfindungen: das Gefühl und der Verstand. Ersteres ist die Grundlage, worauf 
die Tugenden unmittelbar ruhen. Diese sittliche Basis bilden teils die primären 
oder sekundären sittlichen Gefühle, nämlich die moralischen Instirkte, teils die Be- 
wegungen des Gemütslebens. Als intellektuelle Grundlage dienen die konkreten und 
abstrakten Geistesfunktionen, die mittelbar wirken. 

Nach dem Lebensalter verteilt sich der Einfluß des Gefühls und Verstandes 
folgendermaßen: 


1. Das erste Lebensalter (von 3—8 Jahren) ist vom sittlichen Gesichtspunkt passiv. 

Mit 9 Jahren setzt das aktive Alter ein, dessen 1. Abschnitt mit 10 bis 
12 Jahren endet. 

Mit 13—14 hemmt die Pubertät, sowie die Ausgestaltung der Verstandeskräfte 
die bestimmte Sittlichkeit, was die Unsicherheit, Wankelmütigkeit und die Empfäng- 
lichkeit für leibliche Erregungen kennzeichnet. 

Mit 15—16 Jahren entfaltet sich ein nach innen zielendes reflexives Leben, 
wie ein Schwärmen für sittliche Ideale; diese Zeit ist die der moralischen Gemüts- 
bewegung in der Seelenweit des Jünglings. 

Im Alter von 17—19 Jahren kommt eine steigernde Aktivität, ein entscheiden- 
der Wille, ein mannbares Selbstbewußtsein zustande, womit die Zeit der praktischen 
sittlichen Tätigkeit anhebt. 

Wenn Herbart den sekundären sittlichen Charakter in der Vielseitigkeit des 
Willens sieht, glaubt Verfasser das Wesen der sittlichen Entwicklung in einer inneren 
Veränderung zu suchen, und zwar in folgenden 2 Richtungen: zuerst verwandeln 
sich die individuellen Empfindungen zu sozialen Gefühlen, dann objektivieren sich 
die jubjektiven sittlichen Gefühle. Damit aber erklimmt auch der sittliche Wille 
eine höhere Stufe. 

Den Abschluß der Arbeit, deren Ergebnisse vermittels 16 Tabellen und Graphi- 
kons veranschaulicht wurden, bilden »pädagogische Folgerungen«. Haupt- 
prinzip der sittlichen Erziehung sei, eine eindringliche, einheitliche Bildung sämt- 
licher sittlichen Faktoren. Die Pädagogik müsse alle durch den Krieg hervor- 
gebrachten Werte befestigen, unablässig trachten, bei der Ausgestaltung der neuen 
Arbeit tätig mitzuwirken und somit behilflich sein, eine schönere Zukunft vorzubereiten. 

Budapest. G. K. Szidon. 


D. Literatur. 361 





König, K., Ich hatt ainen Kameraden. Kriegslesebuch für die Unter- und 
Mittelstufe. Straßburg, Straßburger Druckerei und Verlagsanstalt, vorm. R. Schultz 
& Co., 1916. 7. Aufl. 32 S. Preis 0,20 M. 


König, K., und Wendling, K, Hilfsbücher für Kriegsstunden. Verlag 
ebenda. 
Bd. 4. König, Seminardirektor in Straßburg i. E., Kriegsstoffe für die 
Unter- und Mittelstufe. 149 S. 3. Aufl. Preis 1,60 M. 
Bd. 5. Ders., Kriegsstoffe für Schulen und Vortragsabende. 2328. 
2. Aufl. Preis 2,25 M. 

Wir dürfen unsere Schüler nicht um das große Erleben betrügen; der Welt- 
krieg muß in den Mittelpunkt alles Uuterrichts gestellt werden. Die rauschende 
Begeisterung des Volkes in den ersten Kriegsmonaten ist auch aus der Schule ge- 
wichen und hat ruhiger, entschlossener Besonnenheit Platz geschaffen, die leider 
mancherorts wieder unter Aktenstaub und Lehrplanstarre zu versinken droht. Denn 
ehe die amtlichen Lehrpläne zum Spiegelbild des Weltkrieges und seiner Folgen 
werden, vergeht noch lange, lange Zeit. Deshalb muß der Lehrer jetzt jede Ge- 
legenheit im Unterrichte suchen und benutzen, die große Zeit bewußt weiterleben 
zu lassen und darf sich nicht begnügen, an postnumerando angesetzten Siegestagen 
den Patriotismus zum Schulfenster hinuauszuhängen oder an späteren Jahrestagen 
versuchen zu wollen, nachträglich Begeisterung zu entfachen. Da ist es nun eine 
wahre Freude, einem Schulmanne zu begegnen, der in mehreren trefflichen Schriften 
zeigt, wie Kriegsstoffe zum Brennpunkt des Unterrichts werden. Es sind das aber 
keine Quellenstücke, die dargeboten werden, es ist eigenes Schrifttum, verfaßt von 
einem feinsinnigen Psychologen und erfahrenen Pädagogen. Von der Meinung aus- 
gehend, daß besonders auf der Unter- und Mittelstufe die einzelnen Belehrungen 
nicht zusammenbhanglos nebeneinander herlaufen dürfen, wenn sie nachhaltigen Ein- 
tluß auf die Gestaltung des kindlichen Geistes- und Willenslebens gewinnen sollen, 
schrieb der Straßburger Seminardirektor 

Karl König für die Kleinen die kindertümliche Erzählung: »Ich hatt’ einen 
Kameraden,« die mit ihren 33 Abschnitten zur fortlaufenden Behandlung während 
eines Schuljahres ausreicht. Das geschmackvoll gepappte, vorzüglich gedruckte, 
32 Seiten starke Büchlein ist schon in 7. Aufl. erschienen, kostet nur 20 Pf. und 
eignet sich ganz besonders zur Massenanschaffung als Klasseneigentum und Klassen- 
lesestoff, um so mehr, als in absehbarer Zeit die Lesebücher ihre Spalten den 
Kriegsstoffen noch nicht öffnen werden und können. Wie nun dieses kleine Kriegs- 
lesebuch im Unterricht zu verwenden ist, das sagt uns 

Karl König in dem 150 Seiten starken Buche: Kriegsstoffe für die 
Unter- und Mittelstufe. Es bietet eine erstaunliche Fülle von Anregungen, die 
unbedirgt dazu beitragen müssen, den Unterricht auf Unter- und Mittelstufe zu ver- 
tiefen und die Kleinen die gewaltige Zeit wirkuch miterleben zu lassen. König 
hat es meisterhaft verstanden, gerade an dieser Stelle der Schularbeit den toten 
Punkt überwinden zu helfen; denn die Kunst des Lehrers, Kriegsstoffe im Unter- 
richt zu verarbeiten, nimmt zu, je jünger die Kinder sind, und mancher Lehrer 
und manche Lehrerin mag bei Siegesfeiern den Schulanfängern geradezu hilflos 
gegenüber gestanden habeu; Königs Buch wird ihnen aus mancher Verlegenheit 
helfen und dankbare Freude auslösen. Den Lehrern und Schulleitern, den Jugend- 
und Volksbildnern gab 

Karl König in den Hilfsbüchern für Kriegsstunden Kriegsstoffe für 
Schulen und Vortragsabende, um die Bürde, die der Weltkrieg den Lehrern 
und der Schule auferlegt hat, zu erleichtern, so daß die Quelle der Kraft, die aus 
dem Schulhause ausströmt und unser Volk zum Siege führen soll, leichter fließe. 

Jena. W. Döpel. 


»Fröhlicher Anfang.« Eire neue deutsche Fibel von Karl Eckhardt und Adolf 
Lüllwitz in Frankfurt a. M. Mit Bildern von Arpad Schmidhammer und 
anderen. Ausgabe E. Für Hilfsschulen bearbeitet unter Mitwirkung von A. Ver- 
leger, Hilfsschullehrer in Frankfurt a. M. Frankfurt a. M. und Berlin, Verlag 
von Moritz Diesterweg, 1914. 120 S. Ausgabe D. 1,05 M. 


362 D. Literatur. 





Auf der Fibelstufe wird das Kind zum ersten Male in die gesprochene, ge- 
schriebene und gedruckte Sprache methodisch-systematisch eingeführt. Es soll Lesen- 
und Sprechenlernen. Das geschieht hauptsächlich im elementaren Deutschunterricht. 
Die gegenwärtigen Bestrebungen fordern, daß dieser doppelten Aufgabe die Fibel in 
Anlage und Ausstattung zu entsprechen habe. 

Den Verfassern ist es nach meinem Ermessen vollkommen gelungen, eine 
Fibel in diesem Sinne herausgegeben zu haben. 

Man merkt, daß die Verfasser die gesamte moderne Bewegung nicht nur kennen, 
man merkt auch, daß sie in der Lage sind die gewonnenen Kenntnisse und Erkennt- 
nisse praktisch zu verwirklichen. Man freut sich über die schonende Zurückhaltung 
manchen zu anspruchsvollen Bestrebungen gegenüber, diese dabei nicht ignorieren, 
sondern das Beste verwenden. 

Die Kleinen lernen an schönen, dem Kinde wegen ihrer Farbengebung wohl- 
gefälligen Bilder die ersten Laute kennen. Da tritt gleich ein Konsonant auf; denn 
das Kind soll lesen. Inhaltvolle Wörter aus zwei Lauten treten auf, der konkrete 
Hintergrund wird durch die beibefügten Bilder gegeben. Immer finden sich Mo- 
mente, die neuauftretenden Laute nach Eigenart und Lautbildung aus ihnen abzu- 
leiten. Eine bedeutsame Erleichterung. Dabei merkt man den Bildern diesen metho- 
dischen Zweck nicht an. Sie sind kindertümlich nach Inhalt und Darstellung. Sie 
reizen zum Anschauen, zum Betrachten, zum Erzählen, zum Nachdenken. Sie er- 
füllen ihren Zweck und fördern ästhetisches Empfinden. 

Die Leseschwierigkeiten werden größere. Wörter mit zwei Silben. Sie werden 
einesteils durch das beigegebene Bild, welches stets Handlungen darstellt, erläutert, 
andernteils durch ihre Auswahl leichter überwunden. Die Wörter sind der Umwelt 
des Kindes entnommen, manchmal in kindlicher Form wiedergegeben, sind darum 
stark gefühlsbetont, reizen zum Lesen. Die Verfasser zeigen, daß sie ihre Aufgabe 
auch in psychologischer Hinsicht klar erfaßt und in ihrer Verwirklichung ge- 
wachsen sind. 

Mehrere Wörter sind so zusammengestellt, daß sie einheitliche Ganze bilden. 
Sätze in kindlicher Ausdruckweise treten auf. Wo die Begriffe fehlen, an Stellen, 
wo es nicht möglich ist, Wörter einzufügen, da tritt an diese eine kleine anschau- 
liche Skizze auf, und der Zweck sprachbildend zu beeinflussen, ist erreicht. 

Sobald als’ möglich bilden mehrere Sätze in dieser oder jener Hinsicht eine 
Einheit. Text und Bild immer einander ergänzend. Schon die Überschrift: wir 
malen, wir rufen u.ä. reizen zum Lesen. Ungewollt werden die Kinder mit sprach- 
bildenden anderen Aufgaben bekannt. Leseabschnitte, wie »reif-unreif«, »rein-un- 
rein« zeigen dies. 

Dann kommt die Druckschrift; erst die kleinen, dann gelegentlich die großen 
Buchstaben. Mit jeder Schwierigkeit wird Erleichterung in irgend einer Hinsicht 
gegeben. 

Der Lesestoff klingt an kindliche Auffassungsgabe an und wird kindlicher Dar- 
stellungskraft gerecht. Sie lassen einen tiefgehenden Scharfblick für die kindliche 
Psyche erkennen. 

Neben einfachen Abzählversen, Kinderreimen, Rätseln, Lesestücken aus dem 
täglichen Leben findet man auch mehr abstrakte Sprechübungen.. 

Auch Lateinschrift ist eingefügt. Das ist gut; denn die Fibel im Hilfsschul- 
unterricht hat eine besondere Bedeutung. Zu ihrer Durcharbeitung steht auch mehr 
Zeit zur Verfügung. 

Besonders zu beachten und in verschiedener Hinsicht gerade für die Hilfs- 
schüler von Wert sind die auf S. 106, 107, Plakataufschriften: »Kaiserliche Post« usw. 

Erwähnt sei, daß die Verfasser eine Fibe) mit gleichem Namen für die Volks- 
schule herausgegeben haben und in demselben Verlage verlegt ist. 

In einem früheren Hefte der Kinderforschung hatte ich die Murtfeldsche 
Fıbel besprochen. Die mir später zugegangene Fibel »Fröhlicher Anfang« gab Ver- 
anlassung, sie mit der erstgenannten zu vergleichen; dabei konnte vielfach eine 
auffallende Ähnlichkeit festgestellt werden. Textliche, inhaltliche Übereinstimmung 
lassen vermuten, daß der Verfasser der Hilfsschulfibel die Fibel »Fröhlicher An- 
fang« gekannt hat. Eine Reihe von Stellen könnten zum Beweise einer gewissen 
Abhängigkeit in dieser Hinsicht angeführt werden. Quellenangabe wäre am Platze 


D. Literatur. 363 





gewesen. Die Originalität in manchem Punkte soll der »Hilfsschulfibel« nicht be- 
stritten werden. (Vergl. Zeitschrift für Kinderforschung XX, 5/6, 287.) 
Meuselwitz. O. Zeißler. 


Espey, Albert, Die Schule des neuen Deutschland. 1028. Berlin SW. 11. 
Concordia, 1916. 1 M. 

Verfasser will Winke und Ratschläge zur Vertiefung des Unterrichts geben. 
Seine Anregungen sollen sich auf alle Schularten beziehen; sie gelten aber eigent- 
lich 2 der höheren Schule, und zwar der höheren Schule für die männliche 
Jugend. 

Wie so viele Schulverbesserer, so geht auch er von eigenen Schulerfahrungen 
aus. Sie kennzeichnen gewissermaßen die nachhinkende Zeit, die durch den Krieg 
zum Ableben kommen soll. Der Krieg ist eben der Hort des Fortschrittes; da darf 
die Schule nicht zurückbleiben. Sie muß sich zu diesem Zwecke durchdringen 
lassen von den Grundsätzen der Biologie. Diese hilft zwar nicht Schul-Einrichtungs- 
oder grundlegende Erziehungsfragen beantworten; sie bringt aber Lebensfragen in 
die Schule und stellt letztere in die Schule hinein. (Vergl. R. v. Hanstein, Bio- 
logie in der Schule. Voss. Zeit. 5. 9. 15.) Zum Beweise hebt Verfasser Volks- 
gesundheit und Volksernährung heraus als zwei Volkserziehungsfragen, die die neu- 
deutsche Schule zu einer wirksamen Stätte der Biologie machen können — die auch 
vermeiden, daß die Schule lediglich eine Gelehrtenschule ist. Dabei soll nicht ver- 
gessen werden, daß sie nicht ganz ihre humanistische Grundlage außer acht läßt, 
freilich mit der Betonung, daß das Allgemein-rein-Menschliche nicht allein durch 
Griechen- und Römertum veranschaulicht wird; der jetzige Krieg hat gelehrt, daß auch 
germanisch-deutsche Art von lebendig wirkender Bildung für unsere Jugend ist. — 
Der Lehrer muß dabei der berufene Förderer und Erhalter des germanischen Seelen- 
gutes sein, der am besten »kriegsgeläutert«, als ein Offizier dem »Militarismus« 
dient. Er muß sich als ein Glied einer einheitlichen Lehrerschaft fühlen, die bis 
zu einem gewissen Punkte dieselbe Vorbildung hat, ehe ihre Fachbildung anfängt. 
Niemand sollte Oberlehrer werden, der nicht einige Jahre zuvor Volksschullehrer 
gewesen ist und zugleich in einem jeder Universität angegliederten pädagogischem 
Seminare für seine praktische Ausbildung Gelegenheit gefunden hat. 

Verfasser versteht es, in ungezwungenem Plaudertone zu fesseln. Um des 
vaterländischen Untertones willen wird der Leser sich durch die flott geschriebenen 
Darlegungen gern wieder einmal des alten »non scholae, sed vitae« erinnern lassen. 
Auch kann die Unterrichtsweise manche Anregungen des Verfassers annehmen, 
wenn sie auch nicht neu sind. Der Freund einer systematischen, einer wissen- 
schaftlichen Pädagogik lehnt aber die Fragen der Volksgesundheit und der Volks- 
ernährung — so wichtig sie zurzeit sind — als grundlegende Schulerziehungsfragen 
für unsere Schule ab. 

Halle, Saale. Dr. Maennel. 


Wende, Gustav, Fünf Bilder aus der Geschichte der Königlichen Taub- 
stummenanstält. Festschrift zur Einweihung des neuen Anstaltsgebäudes in 
Neukölln. Berlin, Verlag der Anstalt, 1915. gr. 8°. 211 Seiten, mit Abbildungen. 


Die neue Königliche Taubstummenanstalt in Berlin-Neukölln. Blätter 
für Taubstummenbildung. Berlin, Verlag E. Staude, 1915. Nr. 17 u. 18. gr. 8°. 
24 Seiten, mit Abbildungen. Preis geh. 1 M. 

Mitten im Weltkriege ist die Königliche Taubstummenanstalt in Berlin in der 
Lage, ihren großen Neubau einzuweihen. Die Feier fand am 11. August 1915 in 
Gegenwart zahlreicher Gäste statt. 

Anläßlich dieses bedeutsamen Ereignisses, hat der Direktor der Anstalt, Schul- 
rat Wende, eine wertvolle Festschrift erscheinen lassen, die in fünf größeren 
Kapiteln die Entwicklung des Instituts schildert. Prof. Dr. Eschke, ein Schwieger- 
sohn des Leipziger Taubstummenpädagogen und Gründers der ersten deutschen 
Taubstummenänstalt, S. Heinicke, errichtete die Berliner Anstalt im Jahre 1788 
als die zweite innerhalb Deutschlands Grenzen. Unter der väterlichen Fürsorge der 


364 D. Literatur. 


preußischen Könige ist sie stetig gewachsen, und heute genießt sie als die Bildungs- 
anstalt für preußische Taubstummenlehrer weitgehende Anerkennung. Von ihren 
früheren Leitern sind namentlich zwei in weiteren Kreisen bekannt geworden. 
K. W. Saegert, einstmals nicht nur Generalinspektor des preußischen Taubstummen- 
wesens und vortragender Rat im Kultusministerium, sonderu auch Gründer der 
ersten preußischen Erziehungsanstalt für Geistesschwache, und Verfasser eines 
Werkes über die Heilung der Geistesschwäche auf »intellektuellem Wege«. Gleich- 
falls ein hervorragender Praktiker und Schriftsteller war Direktor E. Walther, 
Herausgeber einer gediegenen Geschichte der Taubstummenbildung und eines größeren 
Handbuches für dieses Fach. e 

Die Festschrift, die uns mehr als 100 Jahre aus der Geschichte der Anstalt 
vor Augen führt, stellt einen willkommenen Beitrag zur Geschichte der Spezial- 
pädagogik dar. Der Verfasser darf darum auf den Dank aller rechnen, denen die 
Geschichte der Erziehung, auch der Taubstummen, etwas zu sagen hat. 

Außer der Festschrift, enthält auch der Bericht über die Weihefeier eine 
Schilderung des neuen Heims, das an der Giebelseite die stolze Inschrift trägt: 
»Erbaut im Jahre 1914.« Wie fast alle Anstaltsgebäude in großen Städten, ist auch 
dieses nicht im Landhausstil, sondern als ein massiges Bauwerk mit vielen Stock- 
werken und mehreren Flügeln errichtet. Daß solche Bauten Millionenbeträge er- 
fordern, ist natürlich; da sie aber wichtigen Zwecken dienen, so ist keine Summe 
zu hoch, um sie zu dem zu machen, wofür sie bestimmt sind. In den Kriegs- 
wirren ist die neue Berliner Anstalt in Benutzung genommen worden, für die Zu- 
kunft wünschen wir ihr viele segensreiche Arbeitsjahre in einem dauernden Welt- 
frieden! 

Idstein i. T. M. Kirmsse. 


Königliche Taubstummen-Anstalt zu Leipzig. Festgabe zur Weihefeier 
am 7. September 1915. 4°, 4l Seiten, mit vielen Abbildungen und 3 Tafeln. 
Selbstverlag der Anstalt. 


Goethes Besuch in der Taubstummen-Anstalt zu Leipzig am 7. Mai 
1800 und sein Eintrag in das Fremdenbuch. Erörtert von dem Bibliothekar 
der Anstalt, Dr. Paul Schumann — bei Gelegenheit der Einweihung des Neu- 
baues der Anstalt im Jahre 1915. 4°. 6 Seiten, mit 1 Faksimile- Beilage. 
Selbstverlag. 


Der Neubau der Kgl. Taubstummenanstalt zu Leipzig und seine Weihe- 
feier am 7. September 1915. Blätter für Taubstummenbildung. Berlin 1915. 
Nr. 20 u. 21. gr. 8°. 22 Seiten, mit Abbildungen. Preis geh. 1 M. 

Binnen Monatsfrist konnte, trotz der Krieges, der Neubau einer zweiten großen 
Taubstummen - Bildungsanstalt — die neue Berliner Anstalt war im August einge- 
weiht worden — in Leipzig, seiner Bestimmung übergeben werden, bei welcher Ge- 
legenheit auch der König von Sachsen, als Landesvater, anwesend war. 

Die, anläßlich der Feier veröffentlichte, reich illustrierte Festschrift enthält in 
ihrem ersten Teile eine von dem Direktor, Schulrat G. Schumann, bearbeitete kurze 
Geschichte der Anstalt. Am 14. April 1778 als »Institut für Stumme und andere 
mit Sprachgebrechen behaftete Personen« von Samuel Heinicke, dem großen 
deutschen Taubstummenbildner, begründet, ist die Anstalt die älteste, und gegen- 
wärtig auch die größte — sie ist für 320 Zöglinge bestimmt, die in 32 Klassen 
unterrichtet werden — des Deutschen Reiches. Lange Jahre — bis 1896 — wurde 
die Anstalt von Gliedern der Familie Heinicke geleitet. Von früheren Direktoren 
ist namentlich C. G. Reich zu erwähnen, der seinerzeit mehrfach Schwachsinnige 
unterrichtete, und auch einem der bedeutendsten deutschen Bahnbrecher der Schwach- 
sinnigenbildung, K. F. Kern, die größte Förderung zuteil werden ließ. Die Leipziger 
Anstalt ist auch diejenige, die seit 1855 bereits geistesschwache Taubstumme 
in besonderen Klassen bilden ließ. Der erste Lehrer aber, der sich an der Anstalt 
mit ihnen beschäftigte, war H. E. Stötzner — nachmals einer der geistigen Väter 
der deutschen Hilfsschule —. Der zweite Teil der Festschrift enthält die Bau- 
beschreibung der neuen Anstalt aus der Feder des Baurates E. Schmidt. 

Eine interessante Festgabe stellt das — nur in 150 Exemplaren hergestellt — 


D. Literatur. 365 





Gedenkblatt über Goethes Besuch in der Leipziger Taubstummenanstalt, dargeboten 
vom Anstaltsbibliothekar, Dr. P. Schumann, dem hervorragenden Fachhistoriker. 
Daß der Genius von Weimar auch für Abnorme — Kretinen und Schwachsinnige 
hatten ebenfalls seine Aufmerksamkeit erregt — Interesse zeigte, ist sehr erfreulich. 

Über die Einweihungsfeier selbst, berichten eingehend die Blätter für Taub- 
stummenbildung. Der monumentale Neubau wird nunmehr für lange Zeit genügen; 
möge die Anstalt für die Tausende von taubstummen Kindern, die im Laufe der 
Jahre durch sie hindurchgehen, ein Segen sein! Selbst in einem Kriege, wie es der 
gegenwärtige ist, fördern die Deutschen alle ihre Kulturaufgaben, um auch darin der 
Zeit würdig zu sein. a 

Idstein i. T. M. Kirmsse. 


Soland-Meier, A., Gedenkblatt zur Einweihung der kantonalen Blinden- 
und Taubstummenanstalt Zürich-Wollishofen. Zürich, Verlag des 
Herausgebers, 1915. gr. 40, 18 Seiten, mit Abbildungen. 


Sutermeister, Eugen, Festnummer zur Einweihung der neuen kanto- 
nalen Blinden- und Taubstummenanstalt in Wollishofen-Zürich 2, 
Frohalpstraße 78, am 9. Dezember 1915. Schweizerische Taubstummen- 
Zeitung. 9. Jahrg. Nr. 12. Bern 1915. kl. 4°. 28 Seiten, mit Abbildungen. 

Den beiden reichsdeutschen ist im Kriegsjahr 1915 nun noch eine dritte 
Weihefeier, der schweizerdeutschen Blinden- und Taubstummenanstalt in Zürich, 
gefolgt. Auch dieses Doppelinstitut hat einen stattlichen Neubau erhalten, in dem 
es sdine segensreiche Erziehungsarbeit an den Abnormen weitertreiben wird. Die 
Anstalt in Zürich, die älteste in der Schweiz, ist eine Tochter der im Kriegsjahr 
1799 begründeten »Hilfsgesellschaft« in Zürich. Der Gründer der letzteren, Dr. med. 
Joh. Kaspar Hirzel — er stand übrigens auch mit dem Gründer der »Anstalt 
für Stumpfsinnige« in Wiflisburg 1817, dem Dr. Schnell, in Verbindung, und wohl 
nur Hirzels 1817 erfolgter Tod hat es verhindert, daß, wie sich dieser für die Er- 
ziehung der Blinden und Taubstummen einsetzte, er die Behandlung der Schwach- 
sinnigen nicht mehr fördern konnte — eröffnete am 6. Januar 1810 in Zürich eine 
Blindenanstalt, der 1826 eine solche für Taubstumme angegliedert wurde. Beide 
Institute sind bis zum heutigen Tage verbunden geblieben und werden es auch 
weiterhin bleiben. Die Züricher Anstalt hat, unter tüchtigen Direktoren, wie 
J. Th. Scherr — als bedeutender pädagogischer Schriftsteller seinerzeit sehr ge- 
schätzt, als Verfasser eines Buches über die Bildung eines »Semi-Cretin« leider nur 
wenig bekannt —, G. Schibel — er war volle 60 Jahre Leiter des Doppinstitutes 
— und von 1894 an G. Kull, stets günstige Resultate aufzuweisen gehabt. 

Die beiden Schriften geben in einer Reihe von Beiträgen in Poesie und Prosa, 
darunter zwei Aufsätze über »Die Taubstummenbildunge und »Der Blindenunter- 
richt« von dem verdienstvollen Direktor Kull, eingehend Auskunft über die Feier 
usw. Möge auch die Züricher Anstalt fernerhin blühen und gedeihen! 

Idstein i. T. M. Kirmsse, 


Neter, Dr. med. Eugen, Das einzige Kind und seine Erziehung. Mit 
einem Vorwort von Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Adolf Baginsky. 5. u. 6., 
vermehrte Auflage. München, Verlag der Arztlichen Rundschau, Otto Gmelin, 
1914. 76 Seiten. Preis 1,40 M, geb. 2,20 M. 

In Deutschland wurde das Thema vom »Einzigen Kind« zum erstenmal in der 
Zeitschrift für Kinderforschung, Jahrgang 1900, behandelt und zwar in einem 
Aufsatz von K. Ziegler »Über den Egoismus einziger Kinder«. Sechs Jahre später 
erschien Dr. Neters Schriftchen, das zwar in wesentlichen Punkten auf Zieglers 
Aufsatz eingehend Bezug nimmt, im übrigen aber doch eine selbständige, auf die 
eigenen kinderärztlichen Erfahrungen des Verfassers gegründete Arbeit darstellt. 
Vor allem ist hier zum erstenmal der Versuch gemacht, ein allseitiges Bild von den 
spezifischen Eigenarten des einzigen Kindes zu geben und diese nach ihren Ur- 
sachen, ihrer Verhütung und ihrer pädagogischen Behandlung eingehend zu be- 
leuchten. Für die praktische Wichtigkeit des Themas wie auch für die glückliche 
Art, wie Neter es behandelte, spricht am besten die Tatsache, daß das Büchlein 


366 D. Literatur. 





im Jahre 1914 bereits in der 6. Auflage erscheinen konnte, deren Umfang die 
1. Auflage um das '/,fache übersteigt. Das Schriftchen zerfällt in zwei Hauptteile. 
Der erste Teil gibt eine Darstellung der typischen Charaktereigentümlichkeiten des 
einzigen Kindes, der zweite zeigt, wie den nachteiligen Folgen der isolierten Er- 
ziehung der Einzigen vorgebeugt oder entgegengewirkt werden kann. Unter typi- 
schen Charaktereigentümlichkeiten einziger Kinder versteht N. diejenigen geistigen 
und sittlichen Eigenschaften, die sich in überraschend häufiger Weise gerade beim 
einzigen Kinde so auffallend bemerkbar zu machen pflegen, wobei er sich aber aus- 
drücklich gegen die Auffassung verwahrt, als müßten diese Eigenschaften nun un- 
bedingt bei jedem geschwisterlos aufgewachsenen Kinde auftreten. Der Schwer- 
punkt der Ausführungen liegt in dem Versuch, nachzuweisen, daß fast alle diese 
typischen Eigenschaften mit einer gewissen Naturnotwendigkeit aus den besonderen 
passiven und aktiven Erziehungseinflüssen folgen, unter denen das einzige Kind 
aufwächst. Einzige Kinder werden, ob die Eltern es wollen oder nicht, gewöhnlich 
falsch erzogen. Uuwillkürlich verwöhnt und verzärtelt die Mutter ihr einziges Kind, 
weil ihre Liebe durch andre Kinder nicht abgelenkt und verteilt wird. Sie führt, 
lenkt, überwacht und beschützt ihren Liebling auf Schritt und Tritt und nimmt ihm 
dadurch die Gelegenheit, sich an Selbständigkeit zu gewöhnen. Sie erzieht und 
korrigiert zu viel an ihm herum, weil sie genügend Zeit dazu hat und weil sie ein 
Musterkind aus ihm machen will, und stört dadurch die natürliche Entwicklung, er- 
stickt dıe naive Kindlichkeit, überspannt die zarten physischen und psychischen 
Kräfte des Kindes und flößt ihm frühzeitig die Gefühle selbstgefälliger Eitelkeit ein. 
Übertriebene Ängstlichkeit in der Körperpflege erzieht zu Wehleidigkeit, zu einer 
ungesunden Selbstbeobachtung, zur Hypochondrie. Einzige Kinder sind sehr häufige 
aber gefürchtete Gäste in den ärztlichen Sprechstunden. Noch mehr als falsche Er- 
ziehung durch die Eltern fällt das Fehlen der Miterziehung durch Geschwister ins 
Gewicht. Weil ihnen die Gelegenheit mangelt, sich schon in der Kinderstube die 
Ecken und Kanten ihres Charakters abzuschleifen und sich in sozialen Tugenden 
zu üben, laufen einzige Kinder Gefahr, sich zu kalten, gefühllosen, rechthaberischen, 
unverträglichen, unversöhnlichen Egoisten zu entwickeln. Das Fehlen von gleich- 
altrigen Spielkameraden macht sie einsiedlerisch, verschlossen, grüblerisch und be- 
raubt sie außerdem der schönsten Freuden des Jugendparadieses. Der ausschließ- 
liche Umgang mit Erwachsenen gibt den einzigen Kindern jenen frühreifen, alt- 
klugen. skeptischen Zug, den niemand an Kindern sympathisch findet. Im zweiten 
Teil mahnt der Verfasser die Eltern einziger Kinder, beizeiten die ihren Sprößlingen 
drohenden Gefahren ins Auge zu fassen und ihnen energisch entgegenzuwirken. 
Frühzeitiger Besuch eines Kindergartens sei unter allen Umständen zu empfehlen, 
nötigenfalls sogar gänzliehe Entfernung aus der unnatürlichen erzieherischen Atmo- 
sphäre des Elternhauses und Unterbringung in einer gut geleiteten Erziehungsanstalt. 
Am besten aber: Energisches Abrücken von dem Einkindsystem! Gewiß, das Be- 
streben der Eltern, den einzigen Kindern durch eine bessere Schulbildung und durch 
Hinterlassung eines ungeteilten Erbes ein leichtes Vorwärtskommen zu ermöglichen, 
ist verständlich; aber diese Vorteile vermögen niemals den Verlust einer schören 
Kindheit und Jugend zu ersetzen, und niemals die bedauerlichen Eigenschaften aus- 
zugleichen, die das einzige Kind von zu Hause gleichfalls als Erbe mitbekommt. 
Durch diesen letzten Gedanken gewinnt Neters Büchlein angesichts des Geburten- 
rückganges in Deutschland und der kolossalen Lücken, die der Krieg in den Bestand 
unseres Volkes gerissen hat, sogar eine sehr zeitgemäße Bedeutung. Darum sei es 
allen jungen Ehepaaren und den Eltern einziger Kinder aufs nachdrücklichste emp- 
fohlen. Eine Dame erzählte, beim Fest der Taufe ihres Erstgebornen habe ihnen 
ein Freund ihres Mannes mit einer launigen Ansprache Neters Büchlein als An- 
gebinde überreicht. Das »ernste Mahnwort« war auf guten Boden gefallen! Viel- 
leicht findet dieser Tauffest-Scherz da und dort Nachahmung! Anderseits wäre aber 
auch aus wissenschaftlichen Gründen zu wünschen, daß erwachsene Einzige das 
Büchlein läsen und aus ihren Erfahrungen weiteres Material zur Aufklärung der 
Psychologie der Einzigen herbeischafften. Die Zeitschrift für Kinderforschung ist 
jedenfalls gerne bereit, solche Selbstbekenntnisse zu Nutz und Frommen der All- 
gemeinheit ihrem pädagogisch interessierten Leserkreis zugänglich zu machen, 
Ernst Willich. 


D. Literatur. 367 


Martinak, Prof., Welche großen Aufgaben stellt die Zukunft dem Unter- 
richte und der Erziehung? Sonderabdruck aus der »Österreichischen Zeit- 
schrift für Lehrerbildunge.. Kommissionsverlag von Leuschner & Lubenskys 
Universitätsbuchhandlung in Graz. 

Das Thema wird zerlegt in zwei Teile: 1. Inwieweit hat der Krieg läuternd 
und klärend auf all das gewirkt, was schon früher die Geister beschäftigte? und 
2. Inwieweit hat der Krieg ganz neue Aufgaben vor unseren Gesichtskreis gestellt 
und wird sie vielleicht noch stellen? 

Zur Beantwortung dieser Fragen führen wir aus den Darlegungen einige Sätze 
an. »Alles Spielerisch-Tändelnde haben wir richtig einschätzen gelernt. ... Tüchtiges 
und tüchtig sollen die Kinder lernen ... Diese Sichtung (Beseitigung alles Über- 
flüssigen aus dem Lehrstoff) ist unstreitig die wichtigste Aufgabe, die uns auf dem 
Gebiete des Unterrichtes gestellt ist. ... Der Krieg hat uns die eherne Größe der 
Pflicht wieder kennen gelehrt. ... Die Volksschule muß mit aller Strenge sich be- 
mühen, das wirklich zu werden, was sie ja ihrer Idee nach immer sein sollte. ... 
Die Schule für das ganze Volk. ... Die große Frage von der Erziehung des Volkes, 
von seiner sittlichen Hebung und Förderung wird durch den Krieg nur um so 
dringender. ... Es wird sich in letzter Linie darum handeln, durch eine weit- 
schauende soziale und Wirtschaftspolitik die Familie wieder ökonomisch und er- 
zieherisch leistungsfähig zu machen.« Diese Proben mögen zeigen, wie der Ver- 
fasser sein Thema aufgefaßt und durchgeführt hat. 

Hamburg. Rössel. 


Riemann, G., Kgl. Taubstummenlehrer und Unterrichtsleiter am Taubstummblinden- 
heim in Nowawes, Taubstumm und blind zugleich. Pädagogische und psy- 
chologische Darbietungen. Zweite sehr veränderte und erweiterte Auflage. Berlin, 
Schriftenvertriebsanstalt, G. m. b. H., 1916. 

Über die armen taubstummblinden Kinder gibt der Verfasser eine fesselnde 
Darstellung. Er bespricht die Unterrichtshilfen (Fingeralphabet, Tastalphabete, Tast- 
apparate, Brailleschrift, Lautsprache, Gebärdensprache, Schreibschrift), die Unterrichts- 
methoden, das Taubstummblindenheim in Nowawes, und berichtet über eine große 
Zahl von Einzelfällen, zum Schlusse folgen noch psychologisch -pädagogische Be- 
trachtungen. 

Besonders lehrreich sind die 36 Fälle eigner Beobachtung und 16 andere Fälle. 
Aus ihnen kann auch der Laie ein Bild von den ungeheuren Schwierigkeiten, von 
der nie versagenden Geduld und Liebe, die zur Bildung und Erziehung taubstumm- 
blinder Kinder gehören, gewinnen. Mit einem dankbaren Gefühle für alle, die sich 
um diese unglücklichen Geschöpfe bemühen, legt man das Büchlein aus der Hand. 

Hamburg. Rössel. 


Schweizerisches Jahrbuch für Jugenetürsorge 1914. Herausgegeben von 
der Schweizerischen Vereinigung für Kinder- und Frauenschutz. Zürich 1915. 
Im ersten Teil wird in ausführlichen Darlegungen über die staatliche und 
kommunale, sowie die private Jugendfürsorge berichtet; der zweite Teil umfaßt den 
Bericht über die Schweizerische Jugendfürsorgewoche vom 15.—20. Juni 1914 im 
Großratssaal in Bern. 
Hamburg. Rössel. 


Böcker, Heinrich, Die Heimat und ihre Beziehungen zu Vaterland 
und Welt. Ein Beitrag zur Ausgestaitung des Heimatunterrichts, zugleich für 
die Bedürfnisse, der Hilfsschule. Mit Zeichnungen und Skizzen. Breslau, Ferd. 
Hirt Verl., 1915. 1218. 

Die wirklich nette kleine Schrift will zunächst ein Beitrag sein zur Ausge- 
staltung des Heimatunterrichts auf den mittleren und oberen Stufen der Hilfsschule. 
Dann aber gibt sie, anlehnend an das bekannte Wort von Otto Ernst: »Sehen, sehen! 
Das ist die große Leidenschaft der Kinderseele,«e an Hand von treffenden Skizzen 
und hübschen Kinderzeichnungen eine prächtige Einführung für die Kleinen in das, 
was ihnen die Heimat bedeutet: alles, was sie sehen, besehen, gern sehen. Einige 
Überschriften zur Erläuterung: 


368 D. Literatur. 





Wie das Haus gebaut wird. 

Warum die Fenster an unserer Schulstube sind. 

Woher Duisburg die Milch bekommt. 

Vom Petroleum und seiner Reise. 

Die Zeitung. 

Die dritte der angeführten Überschriften zeigt, daß des Verfassers engere 

Heimat das Rheinland ist; aber auch in anderen Gegenden wird der Lehrer der 
Kleinen aus dem Büchlein Anregung und Nutzen ziehen können. Höper. 


Vaerting, Das günstigste elterliche Zeugungsalter für die geistigen 
Fähigkeiten der Nachkommen. Würzburg, Curt Kabitzsch, 1913, 63 Seiten. 
Preis 1,20 M. 

Der Gedanken der Rassehygiene gewinnt immer mehr Boden. Zu den rasse- 
hygienischen Untersuchungen ist auch diese Arbeit zu rechnen. Man wird ihr im 
allgemeinen mit großer Skepsis gegenübertreten. Aus den Feststellungen über das 
Zeugungsalter hervorragender Männer Deutschlands stellt sich nach des Verfassers 
Ansicht heraus: Männer von hervorragender Leistungsfähigkeit vermögen nur im 
jugendlichen Alter bedeutende Söhne zu zeugen; die obere Grenze des günstigen 
Zeugungsalters für starke Geistesarbeiter scheint keinesfalls über 30 Jahre zu liegen. 
Für die Frau liegt die untere Grenze des günstigsten Zeugungsalters für die geistigen 
Fähigkeiten der Nachkommen bei 24 Jahren. Der elterliche Zeugungserfolg hinsicht- 
lich der Qualität war bedeutend in den Fällen, wo der jugendliche hochbegabte 
Mann eine ältere Frau hatte. — Der Verfasser stellt weitere Untersuchungen zu 
dieser Frage in Aussicht, denen man gewiß mit Spannung entgegensehen wird, 
wenn man diese immerhin interessante Arbeit aus der Hand gelegt hat. 

Jena. Karl Wilker. 


Hoppe, Deutsche Krüppelheime. Halle a. S., Carl Marhold, 1914. VIII und 
159 Seiten. Preis in Leinen gebunden 5 M. 

Wohl der schmalste Band des großen Sammelwerkes »Die Anstaltsfürsorge 
für körperlich, geistig, sittlich und wirtschaftlich Schwache im Deutschen Reiche in 
Wort und Bild« bildet diese vierte Abteilung, deren Redaktion in den Händen des 
bekannten Direktors des Oberlinhauses in Nowawes bei Potsdam, Pfarrer Hoppe, 
lag. Die Krüppelpflege ist noch ziemlich neu, und, was wichtiger zu betonen ist, 
noch lange nicht genug gepflegt. 42 Anstalten kommen in Betracht. Über 28 be- 
richtet dieses Werk. Die einen berichten auf einer halben Seite in knappster Form, 
die anderen führen durch Bilder und Wort eingehender in ihre Arbeit ein. Viel- 
fach möchte man noch mehr erfahren, als man in dem wenigen erfährt! Die An- 
ordnung ist (abweichend von der der anderen Bände) nach dem Alter getroffen, so 
daß dadurch ein guter Überblick über die Fortschritte in der Einrichtung und Ent- 
wicklung ermöglicht ist. — Im übrigen gilt für dieses Werk all das Lobenswerte. 
was über die anderen Werke dieser Sammlung in unserer Zeitschrift bereits gesagt ist. 

Jena. Karl Wilker. 


Eingegangene Literatur. 


Stiebel, Carl F., Minderbefähigte Schulentlassene. Eine Studie über die Erwerbs- 
fähigkeit der in den Jahren 1903 bis 1912 aus den Frankfurter Hilfsschulen ent- 
lassenen Kinder. Berlin, Heymann, 1916. 71 S. 0,80 M. 

Schreff und Steinhaus, Das schwachsinnige Kind in der normalen Volksschule. 
Arnsberg, Stahl Verl. 1 M. 

Sellmann, Prof. Dr., Auf Posten. Witten (Ruhr), Jungdeutschlands Verl. »Eckart«, 
1916. 31 8. Einzelpreis 15 Pf., 100 Stück 10 M, 1000 Stück 80 M. 

Ders., Kriegsverwundet. Ein Wort an unsere Kriegsbeschädigten. (Feldpostbrief.) 
32 5. kl. Oktav. 

Brandenberger, Dr. Konrad, »Die Zahlauffassung beim Schulkinde«. Beiträge 
zur pädagogischen Forschung. Leipzig, Friedrich Brandstetter, 1914. 


Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 


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A. Abhandlungen. 


Ein kriminalpädagogisches Institut. 


Von 


Dr. E. von Kärmän, 
kgl. Bezirksrichter und Jugendrichter in Budapest-Erzsebetfalva. 


I. 

Das kriminalpädagogische Institut beabsichtigt, die Praxis des 
Jugendgerichtes und der daneben wirkenden Jugendgerichtshilfe auf die 
wissenschaftlichen Grundlagen der modernen kriminalistischen und päda- 
gogischen Forschungen zu stellen. Die Notwendigkeit dieses Zweckes 
ergibt sich aus zwei Gründen. Die Bewegung zur Errichtung von 
Jugendgerichten entfernt sich mehr und mehr davon, dieselben als 
kriminalistische Einrichtungen zu erfassen; man sucht die Frage der 
Behandlung der verwahrlosten und verbrecherischen Jugend in der 
Art und Weise von Kinderschutz- und anderen Wohltätigkeitsgesell- 
schaften zu lösen und läuft dadurch Gefahr, der werdenden Kriminalität 
ohne Ernst und ohne sachgemäße Weise entgegenzutreten. Demgegen- 
über muß die Einrichtung der Jugendgerichte aus den heutigen Straf- 
verfolgungs-Einrichtungen weiter entwickelt werden, selbstverständ- 
lich unter Berücksichtigung aller Ergebnisse der modernen krimina- 
listischen und psychologischen Forschungen, und noch mehr: Man darf 
nie aus dem Auge lassen, daß durch das Studium der Praxis der Jugend- 
gerichte auf die psychologischen Grundlagen des zukünftigen Ver- 
fahrens gegenüber Erwachsenen Erfahrungen und Grundsätze gesucht 
werden müssen. Der zweite Grund zur exakten Arbeit in Fragen 
der Jugendgerichte besteht darin, daß bisher kein bestimmtes System 

Zeitschrift für Kinderforschung. 21. Jahrzang. 24 


370 A. Abhandlungen. 








der Pädagogik dem Jugendrichter zur Verfügung gestellt wurde. 
Es wird den Jugendrichtern anempfohlen und sie werden ange- 
wiesen, Erziehungsmaßregeln vorzunehmen und mehr erzieherisch als 
strafend vorzugehen; aber die Grundlagen dieser Erziehungsmaßregeln 
heben sich nicht über eine landläufige und dilettantische Pädagogik, 
und sind nur meistens Hin- und Herredereien der sogenannten Sozial- 
pädagogen. Demgegenüber muß der Jugendrichter ein bestimmtes 
und bewährtes pädagogisches System für seine Zwecke ausarbeiten und 
auf sein Verfahren anwenden. 

Durch eine 15jährige Tätigkeit als praktischer Kriminalist und 
durch meine 7jährige Erfahrung als Jugendstaatsanwalt und Jugend- 
richter bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß für den wissen- 
schaftlichen Aufbau eines Jugendgerichtes und eines neben demselben 
wirkenden kriminalpädagogischen Institutes zwei wissenschaftliche 
Richtungen grundlegend sein müssen. 

I. Die kriminalpsychologische Strafrechtsschule von Dr. Hans 
Gross, welche nicht nur die Erkenntnis der verbrecherischen Seele 
durch eine psychologische Untersuchung gewinnen, sondern das ganze 
Strafverfahren psychologischen Gesichtspunkten unterordnen will. Aus 
seinen Lehren folgt zuerst, daß das Strafverfahren nur durch ein- 
gehende Untersuchungen der Realien der Straftat zum Ziele führt, 
und daß einerseits die psychischen Erscheinungen auch zu diesen 
Realien gehören, und daß andererseits diese Realien auch psycholo- 
gisch bewertet werden müssen; Eine weitere Folge dieser Lehren 
verlangt, daß inı Gegensatze zur heutigen Strafprozeßpraxis, welche alle 
Ergebnisse des Strafverfahrens von der formellen Hauptverhandlung 
erwartet, das Hauptgewicht des Strafverfahrens auf ein exaktes, mit den 
Mitteln} der modernen Kriminalistik geführten Vorbereitungsverfahren 
zu legen ist und welches den kriminalistisch und psychologisch aus- 
gebildeten Untersuchungsrichter für den Typus des echten Kriminalisten 
hält. Durch eingehende Versuche ist es mir gelungen, dieses Prinzip 
im Rahmen des geltenden ungarischen Jugendstrafprozeßrechtes bei 
dem von mir geführten Jugendgerichte durchzuführen und das Ver- 
fahren so einzurichten, daß — ausgenommen die sehr seltenen Fälle, wo 
auf eine Gefängnisstrafe erkannt wird — nur eine Voruntersuchung 
stattfindet, und gleich nach Beendigung derselben ohne formelle 
Prozeßhandlungen sofort die Endverfügung folgt, und daß selbst 
in den Fällen, wo auf eine Gefängnisstrafe erkannt wird, die formelle 
Verhandlung sofort der Untersuchung nachfolgt, aber in allen Fällen 
die eigentliche eingehende Arbeit der Voruntersuchung zufällt; alle 
meine Erfahrungen bestätigen es, daß man im Strafverfahren über- 


Kärmän: Ein kriminalpädagogisches Institut. 371 








haupt, aber unbedingt in dem Verfahren der Jugendgerichte nur 
durch die Anwendung des Grossschen Prinzips psychologisch vor- 
gehen kann. 

I. Die andere, die pädagogische Richtung der Verwaltung des 
Jugendgerichtes und des daneben wirkenden Institutes sind die prinzi- 
piellen Grundlagen der Pädagogik, welche in dem Geiste des großen 
Philanthropen Johann Heinrich Pestalozzi von Johann Friedrich Herbart 
wissenschaftlich ausgebaut wurde. Durch Erfahrungen bei dem Jugend- 
gerichte kann es bestätigt werden, daß fast alle die sogenannten sozial- 
pädagogischen und kriminalpädagogischen Hilfsmittel, welche in ver- 
schiedenen Fortbildungskursen und Werken dem Juristen geboten 
werden, eigentlich nur ein populäres Wissen bedeuten, und nur durch 
ein gründliches' und auf die originalen Quellen zurückgehendes Stu- 
dium der Werke der Pestalozzi-Herbartschen Schule kann gesichert 
werden, daß das Vorgehen des Jugendrichters nicht nur nach Be- 
nennung, sondern auch innerlich erzieherische Wirkungen haben wird. 
Insbesondere die Armenerziehungslehre Pestalozzis und die sogenannte 
Pädagogik der Arbeitsschule, eignen sich, wie in den Anfängen des 
modernen Erziehungswesens so auch für die Anfänge des Jugend- 
gerichtswesens zu außerordentlich nützlichen Anwendungen. »Diese 
prinzipiellen Grundlagen der Pädagogik,« sagt W. Rein, der berühmteste 
deutsche Vertreter dieser Schule, »können solange nicht für veraltet an- 
gesehen werden, solange nicht etwas besseres an ihre Stelle gesetzt 
wird. Dies ist bis jetzt nicht geschehen.« 

Da ich auch für Juristen meine Pläne vorzubringen habe so 
sei mir erlaubt, einige Bemerkungen über die Anwendung der Grund- 
danken dieser Pädagogik auf das Jopandgenichtveriaivén ein wenig 
ausführlicher schon hier anzudeuten. 

Der Hauptgrundsatz der Pestalozzischen Erziehungslehre ist ʻe 
Menschenbildung. Pestalozzis Ziel war, den Menschen »zu lehren, ein, 
Mensch zu sein, das heißt ihn erziehen, und dieses ist die größte Wohl- 
tat, die der Mensch dem Menschen gewähren kann«. Er wollte aus 
dem werdenden Menschen durch die Erziehung zuerst Menschen 
machen, nicht nur — wie er in einem seiner Werke sagt — Schneider, 
Schuhmacher, Kaufleute und Soldaten hervorbringen, sondern einen 
Schneider oder einen Kaufmann, der. im hohen Sinne des Wortes 
Mensch ist. Dies muß das erste Ziel auch des Jugendrichters sein: 
er soll nicht verurteilen, auch nicht nur dafür sorgen, daß der Jugend- 
liche etwa eine Beschäftigung sucht oder. bekommt, sondern daß er 
ihn durch die gerichtliche Verfügung in eine Lebensstellung setzt, in 


welcher er Mensch sein kann. 
24* 





372 A. Abhandlungen. 





Die Stätte, wo der Mensch zur Menschheit erzogen wird, ist durch 
den Entwicklungsgang der einzelnen Menschen wie durch den Entwick- 
lungsgang der ganzen Menschheit gegeben: das ist die Familie (Wohn- 
stube wie Pestalozzi sagt), die Schule und das gesellschaftliche 
Leben. Diese Stufenfolge ist nach dem Gang der Menschennatur einem 
jeden Menschen vorgeschrieben und muß von ihm in gleicher Weise 
durchgemacht werden. Vor den Jugendrichter kommen nun meistens 
solche Fälle, wo der richtige Einfluß dieser Umgebungen nicht nur 
fehlt, sondern meistens schädlich, zerrüttet ist. Die Pestalozzische 
Pädagogik wird nun den Jugendrichter belehren, zuerst alles anzu- 
wenden, das Familienleben herzustellen, das Schulleben in Ordnung 
zu bringen oder die schädlichen gesellschaftlichen Einflüsse auszu- 
schalten. Die Verfügung der meisten Jugendrichter, das Kind sofort der 
Familie zu entreißen und durch künstlich hergestellte Familienverhält- 
nisse der Findlingsanstalten (Erziehung in fremden Familien) erziehen 
zu lassen, ist darum mangelhaft; ebenso unzweckmäßig ist es, ohne 
gründliche Untersuchung des Familien- und Schullebens die Kinder, 
nur weil sie arm sind, und nur um sie zu erziehen, sofort in Zwangs- 
oder Korrektionsanstalten zu werfen, wie es heute sehr oft geschieht. 
Der Jugendrichter muß, solange es nur möglich ist, dafür sorgen, daß 
die gegebenen Verhältnisse des Jugendlichen benutzt werden, und ver- 
suchen, ihn für diese Verhältnisse erziehen zu lassen. 

Die Methoden der Erziehung liegen — das sind die weiteren Lehren 
— in der Menschennatur; sie sind nicht zu machen, sondern zu suchen. 
Zu der näheren Bestimmung der Menschlichkeit gehört nach Pestalozzi 
vor allem der Begriff der Kraft. Durch die Entfaltung der Grund- 
kräfte der menschlichen Seele vermag die Erziehung die Menschlich- 
keit im Zögling auszubilden. Diese Kräfte sind durch die des Kennens, 
Könnens und Wollens bezeichnet: Geisteskraft, Kunstkraft und Herzens- 
kraft, welche im Menschen zu einem harmonischen Gleichgewicht ent- 
wickelt werden müssen. Diese Kräfte zu suchen und entwickeln zu 
helfen, ist die wichtigste Aufgabe auch des Jugendrichters. Nur ober- 
flächliche und unpsychologische Auffassungen können von ihm ver- 
langen, daß er nach einigen Verhören und Verhandlungen ohne 
Kenntnis der vorhandenen Kräfte über das Los des Jugendlichen, 
also des Menschen, entscheiden sollte. Die einzige Möglichkeit, die 
nutzbaren Kräfte aufzusuchen und sie in den Dienst der Erziehung 
zu stellen, ist: einerseits gründliche psychologische Beobachtungen an- 
zustellen und andererseits die Aussetzung einer Versuchs- und Probe- 
zeit für den Jugendlichen, während welcher die Auffindung und Be- 
nützung seiner Grundkräfte festgestellt wird. 


Kärmän: Ein kriminalpädagogisches Institut. 373 





Aller Unterricht muß endlich auf unmittelbare Anschauungen 
gegründet werden; der erste Unterricht in jedem Gegenstande ist An- 
schauungs-Unterricht. Das Gegenteil ist der leere Wortunterricht. 
Der Zögling muß dahin geführt werden, daß er durch eigene und un- 
mittelbare Wahrnehmungen zu entwickelten Fertigkeiten und deut- 
lichen Begriffen kommt. Dasselbe gilt aber nicht nur von dem 
intellektuellen, auf welches Pestalozzi das Hauptgewicht gelegt hat, 
sondern auch von dem sittlichen Seelenleben des Menschen. Wenn 
wir es für einen höheren Zweck unserer Strafjustiz halten, die Menschen 
zu bessern und sie zu einer sittlichen Lebensweise zu bringen, so 
müssen wir bekennen, daß wir sehr wenig dazu beigetragen haben, 
die schwankenden und gescheiterten Menschen vernünftig erziehen zu 
wollen. Heute sind unsere Mittel meistens Ermahnungen, Drohungen, 
also leere und hohle Worte, durch welche der Jugendliche dazu an- 
gespornt wird, in der Zukunft sittlich zu leben. Demgegenüber kann 
die Tätigkeit des Jugendrichters nur dann mit erziehlicher Kraft 
wirken, wenn er den Jugendlichen in die Lage setzen kann, an sich 
selbst und durch sich selbst unmittelbar zu erfahren, daß es besser wäre, 
anständig zu leben, als zu stehlen und untätig umherzuirren. Solange 
wir bei den Jugendgerichten das nicht durchführen können, daß die 
Jugendlichen durch den Jugendrichter selbst auf einen Punkt gestellt 
werden, von welchem aus sie sich weiterentwickeln und einen günstigen 
Weg selbst durchlaufen können, werden wir keinen Erfolg haben. 
Dieses Vorgehen des Richters muß ebenso einen organischen Teil 
des Verfahrens bilden, wie im Strafverfahren die Vollstreckung der 
Freiheitsstrafe. Und wenn den Staatsanwälten zur Pflicht und sogar 
zur Ehre gemacht wurde, Hunderte von eingefangenen Leuten jahre- 
lang verwalten zu müssen, so kann dem nichts im Wege stehen, daß 
der Jugendrichter selbst einige von den armen Kindern und Jugend- 
lichen, welche frei im Leben sich zu erhalten suchen, verwalte und 
zur unmittelbaren Anschauung der sittlichen Lebensweise führe. Ins- 
besondere eignet sich zu dieser Führung der Jugend die Anwendung 
der Lehren der Arbeitsschule Eine geschickt angewendete Arbeits- 
pädagogik ist es, die sich der Jugendrichter immer vor Augen zu 
halten hat. Solange wir das nicht einsehen und beachten werden, und 
der Richter selbst nur erkennen und urteilen, und alles Erzieherische 
privaten Vereinen und Wohltätigkeitsanstalten überlassen wird, solange 
bleibt die erzieherische Tätigkeit des Jugendrichters nach Pestalozzi- 
schem Ausdruck nur Maulbrauchen und Zungendrescherei! 

Diese Leitsätze gründlich und in allen Einzelheiten durchzuführen, 
bedingt eine große und besondere Arbeit, welche außer dem Rahmen 


374 A. Abhandlungen. 





dieser Mitteilung lieg. Hier soll nur angedeutet werden, daß ich 
durch jahrelange Versuche überzeugt worden bin, daß die wahre 
Richterpersönlichkeit für die Jugendgerichte sich nur in der Vertie- 
fung der von Pestalozzi gegründeten Pädagogik ausbilden könne, und 
daß die Grundlagen dieser Pädagogik außerordentlich gute Erfolge 
für die Jugendgerichtsbarkeit haben können. Und wenn Diesterweg 
in seiner im Jahre 1846, der ersten Säkularfeier der Geburt Pesta- 
lozzis, gehaltenen Festrede die alten Schulen vor Pestalozzi als finstere 
Kerker und Zwinger bezeichnet, in welchem Rute, Stock und Ochsen- 
ziemer die Erziehungsmittel waren, und sagt: »Die Schule ist aus 
finsterm Kerker und Zwinger eine Menschenbildungsanstalt 
geworden,« so ist es gar keine phantastische Einbildung, wenn wir 
sagen können, daß nach hundert Jahren uns Jugendrichtern auch dieses 
Vorbild vorschweben sollte: Aus den Kerkern und Zwingern der 
Jugendgerichte Menschenbildungsanstalten zu machen! 

Diese Ziele wissenschaftlich zu versuchen, ist die Aufgabe des 
jetzt in Budapest-Erzsöbetfalva durch den Fürsorge-Verein des Jugend- 
gerichtes gegründeten »Kriminalpädagogischen Institutese.. Es will 
eine Experimentierschule bilden, in der sich kriminalistisches und päda- 
gogisches Wissen als gemeinsame Endzwecke vereinigen, nämlich: Die 
Beschäftigung mit der verwahrlosten und verbrecherischen Jugend 
zu regeln. In der Befolgung der Grossschen kriminalistischen und 
der Pestalozzi - Herbartischen pädagogischen Schule sind auch die 
Forschungsmittel gemeinsam, nämlich: die psychologische Methode 
des Vorgehens. 

1. ; 

Die Tätigkeit des kriminalpädagogischen Institutes bezieht sich 
vorläufig auf die wissenschaftliche Unterstützung und Aufarbeitung 
des Materials des Jugendgerichtes in Budapest-Erzsébetfalva. Es ist also 
eigentlich und vorläufig ein Privat-Institut des Fürsorgevereines, 
welches aber einerseits für das Jugendgericht arbeitet, andererseits aber 
eine rege Verbindung mit dem durch Professor Dr. Paul von Angyal 
geleiteten kriminalistischen Seminar der Universität Budapest sucht. 
In der Zukunft soll aber jedenfalls eine organische Angliederung an 
die Universität angestrebt werden, da für echte Wissenschaftlichkeit 
doch nur die Arbeit in einer Universität bürgen kann. 

Das Jugendgericht in Erzsebetfalva wurde am 1. Januar 1914 mit 
dem Erlasse des Justizministers Z 68800/1913 errichtet. Die Auf- 
stellung eines Jugendgerichtes bei einem Bezirksgerichte findet nur 
ausnahmsweise durch einen Ministerialerlaß statt. Nach dem Jugend- 
gerichtsgesetze von Ungarn, Gesetzesartikel VII vom Jahre 1913 sind 


Kármán: Ein kriminalpädagogisches Institut. 375 





die Jugendgerichte als Spezialgerichte nur bei den Gerichtshöfen auf- 
gestellt; es gibt bei den Gerichtshöfen Jugendrichter als Einzelrichter 
und Jugendgerichtskammern mit drei Mitgliedern; der Einzelrichter 
urteilt über alle Vergehen und Verbrechen gegen Kinder und Jugend- 
liche, welche das 15. Lebensjahr nicht überschritten haben, und über 
alle Vergehen und diejenigen Verbrechen von Jugendlichen im Alter 
von 15—18 Jahren, welche nicht mit Todes- oder Zuchthausstrafe zu 
ahnden sind. Die Jugendgerichtskammer urteilt wiederum über die- 
jenigen Verbrechen von Jugendlichen im Alter 15—18 Jahren, 
welche mit Todes- und Zuchthausstrafe bedroht sind, und ist zu- 
gleich Appellationsgericht in den Strafsachen, welche vom Einzelrichter 
erledigt worden sind. Weiter verfügt der Einzelrichter über alle 
Fälle der Verwahrlosung und Fürsorgeerziehung und über die Straf- 
taten der Eltern, Vormünder und Pfleger der Kinder und der Jugend- 
lichen und hat ein Disziplinarrecht (Geld- und Arreststrafe) gegen Eltern 
und gesetzliche Vertreter der Kinder und der Jugendlichen, die durch ihre 
Handlungen und ihr Verhalten die Verwahrlosung und Verunsittlichung 
der Kinder und der Jugendlichen verursacht hatten. Die Bezirksgerichte, 
welche in dem Sprengel des Gerichtshofes sich befinden, haben nach 
dem Gesetze gar keine Befugnis, gegen Kinder und Jugendliche vor- 
zugehen, es wurde aber die Justizregierung ermächtigt, bei solchen 
Bezirksgerichten, wo dies aus besonderen Rücksichten geeignet er- 
scheine, ein Jugendgericht zu errichten. Solche besonderen Rücksichten 
sind: Die Lage des Gerichtssprengels, wo die Erreichung des Gerichts- 
hofsitzes durch Natur- oder Verkehrshindernisse erschwert wird, die 
größere Bevölkerung des Bezirksgerichtssitzes, oder die besondere 
Kriminalität und Verwahrlosung in der Bevölkerung des Bezirks- 
gerichtssprengels. In diesen Fällen aber wurde die Regierung er- 
mächtigt, benachbarte Gerichtsbezirke zu diesem Jugendgerichte anzu- 
schließen. Solche Jugendgerichte bei einem Bezirksgerichte gibt es 
in ganz Ungarn nur 12. 

So entstand in Erzsöbetfalva als ein Bestandteil des dortigen Bezirks- 
gerichtes das Jugendgericht, sich erstreckend auf drei Gerichtsbezirke: 
Erzsebetfalva, Räczkeve und Ocsa. Die Ursache seiner Errichtung war 
die Großstadtnähe dieser Bezirke: man ging von der Überzeugung aus, 
daß die Beschäftigung mit der Bevölkerung der Vororte und der 
Nachbargemeinden der Hauptstadt unbedingt erfolgreicher sein werde, 
wenn der Jugendrichter nicht vom großstädtischen Landesgerichte, 
sondern inmitten des zu bearbeitenden Feldes seine Tätigkeit ausübt. 

Die Aufstellung des Jugendgerichtes in dem Rahmen des Bezirks- 
gerichtes war nun für meine Beobachtungen und Versuche außer- 


376 A. Abhandlungen. 





ordentlich günstig. Der Bezirksrichter (im Deutschen Reiche Amts- 
richter) ist in seiner Tätigkeit viel freier und unabhängiger, als ein 
Richter bei dem Gerichtshofe; er bearbeitet die ihm angewiesenen 
Sachen nach beliebiger Einteilung seiner Zeit, und leitet seine Ver- 
handlungen nach seiner eigenen Art, während der Kollegialrichter 
einesteils von dem Leiter des Gerichtes in den Kollegien abhängig 
wird, zu dringenden Beratungen tagtäglich eingezogen, auch von seinen 
Kollegen ewig beobachtet und überwacht wird, kurz immer unter dem 
Drucke der gemeinsamen Arbeit seine eigene Sachen führt, so daß 
die Art, wie ich meine Versuche anstellte, heute diese, und morgen 
wieder eine andere Weise bei dem Strafverfahren ausprobierte, nur 
bei einem Bezirksgerichte denkbar war. Insbesondere förderte alle 
diese meine Bestrebungen der in den Fragen der Jugendgerichtsbarkeit 
und Jugendfürsorge außerordentlich bewanderte Leiter der IX. Sektion 
des kgl.-ung. Justizministeriums (Sektion für Jugendfürsorge) Dr. Béla 
von Kün, ohne dessen gütige und wohlwollende Hilfsbereitschaft 
weder das Jugendgericht noch dieses Institut in dem heutigen Zu- 
stande organisiert werden konnte. Außerdem erfreute ich mich der 
Gunst des wirklich vornehm denkenden Landgerichtspräsidenten Dr. 
Anton von Felix, zurzeit Präsident des kgl. Landgerichtes in Buda- 
pest, der mir fast ganz freie Hand gelassen hat, alles vorzunehmen, 
was der guten Sache günstige Erfolge sicherte. 

Um den fremden Leser mit der Arbeit des Jugendgerichtes in 
kurzem bekannt zu machen, gebe ich hier eine kurz gefaßte Be- 
schreibung der Gegend, auf welche sich der Gerichtssprengel erstreckt. 

Zu dem Gerichtssprengel dieses Jugendgerichtes gehören 34 süd- 
lich von der Hauptstadt Budapest gelegene Gemeinden. Nördlich 
wird er von der Hauptstadt begrenzt, westlich von dem Donaufluß, 
östlich von der Bahnstrecke von Budapest nach Temesvär, während 
das Gebiet südlich in die große ungarische Tiefebene mündet. 

Gleich an der Hauptstadtgrenze sind die drei großen südlichen 
Vororte gelegen: Erzsebetfalva (Elisabethdorf), Sitz des Gerichtes, mit 
40000 Einwohnern, Kispest (Kleinpest) mit 45000 Einwohnern und auf 
der Insel Csepel der Ort Csepel mit 20000 Einwohnern. Alle drei Vor- 
orte sind Fabrikstädte mit vorwiegend Arbeiterbevölkerung, nur ein ganz 
kleiner Teil der Bevölkerung besteht aus Beamten und Kaufleuten. 
Die Arbeiter der großen Gewehr- und Munitionsfabriken des weit 
berühmten Manfred von Weiß, sowie anderer großer Niederlassungen 
(Maschinenfabrik Hofherr-Schrantz-Clayton-Shuttleworth, Juta- u. Leinen- 
warenfabrik Tendloff und Dittrich, Northrops, Webefabrik Posnansky 
und Strelitz, Liptäk & Co.) wohnen in diesen Vororten. Dann kommen 


Kärmän: Ein kriminalpädagogisches Institut. 377 





südlich die drei großen deutschen Gemeinden, welche von der Königin 
Maria Theresia um die Mitte des 18. Jahrhunderts gegründet worden 
sind: Soroksár mit 15000, Dunaharaszti mit 4000, Taksony mit 4000 
Einwohnern, nach der Überlieferung aus Franken und aus Wittenberg 
stammend, die ursprünglich Ackerbauer waren, jetzt aber daneben teils 
mit Lebensmitteln in der Hauptstadt handeln, teils mehr und mehr 
Fabrikarbeiter werden. Westlich davon sehen wir den Ort Pest- 
Szentlörinez (St. Lorenz bei Pest) mit 12000 Einwohnern, welcher 
eigentlich eine Villenvorstadt der Großstadt war, jetzt aber immer 
mehr und mehr auch von Arbeitern bewohnt wird, sowie Soroksärpeteri, 
welcher mit 3800 Einwohnern ausschließlich aus Häusern und Hütten 
von sehr armen, aus der Großstadt geflüchteten Leuten mit sehr vielen 
Kindern besteht. 

Diese Orte sind die nächsten Umgebungen südlich der Haupt- 
stadt. Nun kommen südöstlich die ersten Orte der ungarischen Tief- 
ebene: 18 Gemeinden, von denen 2 unter 1000 Einwohner, 8 aber 
3000—5000 Einwohner besitzen; in allen 18 Gemeinden beträgt die 
Einwohnerzahl ca. 55000; es sind in ihnen einige Domänen von Guts- 
herrschaften, alte Bauerngemeinden, meistens wohlhabende ungarische 
Bauern, daneben aber sehr arme von ihren Herrschaften kaum mensch- 
lich gehaltene Taglöhner und Knechte. Neben Wohlleben und Reich- 
tum das Elend: keine Mittelklasse. Ein beträchtlicher Teil der herab- 
gekommenen Bauern wurde aber schon Stadtarbeiter, die tagsüber in 
der Stadt in Fabriken arbeiten. 

Südwestlich liegen die Orte der Insel Csepel. Der zweitgrößte 
Ort auf der Insel ist das anmutige Städtchen Räckeve, Sitz eines Be- 
zirksgerichtes, mit 7000 Einwohnern: 70°, davon Ackerbürger, die 
andern Beamte, Handwerker und Kaufleute; neben ihm liegen auf der 
Insel 2 ungarische, 4 deutsche und 2 serbische Dörfer und eine im 
Werdegang begriffene Arbeiterkolonie; die Einwohner der Dörfer be- 
schäftigen sich mit Ackerbau, Weinbau und Viehzucht, aber ein be- 
trächtlicher Teil verdient sein Brot in den Fabriken der Stadt und 
der Vororte. Die Gesamtzahl der Einwohner dieser Inseldörfer macht 
14700 aus. 

Die gesamte Einwohnerzahl steigt also ungefähr auf 201000, 
wobei aber die meisten Angaben aus der Volkszählung vom Jahre 1910 
stammen; ein ganz bedeutender Gerichtssprengel, in welchem städtische 
Arbeiterkinder, Vorortskinder, Bauernburschen und Landkinder in 
einem ewigen, bunten Wechsel vor uns kommen und reiches Material 
zum Studium der Ursachen der Verwahrlosung und Kriminalität bieten, 
ohne uns jedoch zur Massenarbeit, zu diesem Unheil großstädtischer Ge- 


378 A. Abhandlungen. 





richte, zu zwingen. Wir hatten im Jahre 1914 818 Fälle mit 1400 
Jugendlichen, im Jahre 1915 1900 mit 1800 Kindern und Jugendlichen. 
Es sei noch bemerkt, daß wir gemäß $ 4 des ungarischen Jugend- 
gerichtsgesetzes und auch nach der Vereinbarung mit dem Jugend- 
gerichte der Stadt Budapest alle Fälle, in welchen der Täter in 
unserem Gerichtssprengel wohnt, oder auch die Tat in der Stadt 
oder anderweitig verübt wurde, aburteilten; wo hingegen wir alle die- 
jenigen Fälle, in welchen die Tat hier zwar verübt wurde, aber der 
Jugendliche in diesem Gerichtssprengel fremd ist, abtraten. 


Il. 

Das Institut steht unter der Leitung des Jugendrichters. 

Es besteht aus zwei Abteilungen, von welchen die eine die prak- 
tische Jugendgerichtshilfe in den einzelnen Fällen ausübt, die andere 
aber das Ziel hat: die Jugendgerichte und die Jugendgerichtshilfe aus 
wissenschaftlichen Gesichtspunkten zu unterstützen und aus der prak- 
tischen Tätigkeit die wissenschaftliche Arbeit abzuleiten. 

Diese Abteilungen sind: 


A. Praktische Abteilung. 
1. Allgemeine Fürsorge. 

Unser Institut bezweckt vor allem die wissenschaftliche Auf- 
arbeitung und Bewertung praktischer Erfahrungen; trotzdem können 
wir uns vor der eigentlichen Humanitäts-Arbeit nicht verschließen, da 
die Notwendigkeit derselben in sehr vielen Fällen mit den Schick- 
salen der Jugendlichen eng verknüpft erscheint. Das erscheint beute 
um so mehr notwendig, da während der Kriegszeiten und ganz sicher 
auch nach dem Kriege das Elend und die Vernachlässigung des Volkes 
eine vernünftige und zielbewußte Fürsorge-Arbeit bedingt. Endlich 
ist es gar nicht ohne Nutzen, daß die Fürsorge-Tätigkeit auch Ge- 
legenheit bietet, die Fürsorge zu wissenschaftlichen Erfahrungen zu 
benutzen, und andererseits die Fürsorge-Tätigkeit nach wissenschaft- 
lichen Gesichtspunkten zu führen. Auf die Aufgaben dieses Zusammen- 
hanges hat in der letzten Zeit W. Stern in der »Zeitschrift für an- 
gewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung«, Bd. 10, 
S. 333 sehr treffend hingewiesen. Um aber nicht Zeit zu vergeuden 
und die Arbeitskraft nicht zu zersplittern, beengt sich unsere Arbeit 
ausschließlich auf den Gerichtssprengel des Jugendgerichtes Erzsébet- 
falva und in erster Reihe auf die Fälle, welche vor diesem Gerichte 
verhandelt werden. 

In den eigentlichen Fürsorge- und Kinderschutzangelegenheiten steht 


Kärmän: Ein kriminalpädagogisches Institut. 379 





unser Institut in engem Zusammenhange mit der ungarischen Landes- 
Kinderschutz-Liga, welche unter Führung von vornehm denkenden 
Männern der ausgezeichnetste Verband philanthropischer Arbeit in 
Ungarn ist. Eine zweckmäßige, auf strenger Überprüfung der Vor- 
bedingungen gestützte Wohltätigkeitsarbeit bezeichnet das Walten 
dieser musterhaften Einrichtung, welche schon jahrelang eine vortreff- 
liche und sichere Stütze aller Jugendgerichte Ungarns gewesen ist. 

Die spezielle Arbeit unseres Institutes in der Verrichtung der 
Fürsorge-Angelegenheiten ist die Arbeitsvermittlung für Jugendliche. 
Ich habe schon öfters betont, daß die ganze Mühe des Jugendrichters 
erfolglos wird, wenn er nicht imstande ist, den Jugendlichen bei einer 
ihm angepaßten Arbeit einzustellen. Die meisten Jugendrichter glauben 
ihre Sache erledigt zu haben, wenn sie den Jugendlichen empfehlen, 
in irgend einer Fabrik oder Werkstätte, oder durch einen Fürsorge- 
Verein Arbeit zu suchen. Diese Sucherei wird dann meisten sein Um- 
herirren in der Stadt oder auf dem Lande, welche den Jugendlichen 
dann gänzlich herunterbringt. Und einem jeden menschenfreundlichen 
Jugendrichter muß es niederdrücken, daß die Kinder und Jugendliche 
vor den Toren der Fabriken tagelang herumstehen müssen, bis sie 
überhaupt zum Portier hineingelassen werden, und daß dann ihr weiteres 
Schicksal ganz von dem Wohlwollen oder von der Roheit dieses 
Menschen abhängt. Da kann man dem jungen Menschen die schönsten 
Reden halten in den Jugendgerichten, auf sein weiteres Benehmen 
wirken nicht die guten Ermahnungen, sondern seine Mißerfolge ent- 
scheidend. Darum muß der Jugendrichter selbst über eine exakte 
Arbeitsvermittlung verfügen, da dieselbe durch ein Gerichtsamt nicht 
geht, weil da nur die Arbeit der Eingesperrten einen Wert hat. Um 
sich gründlich damit zu beschäftigen, hatten wir in unserem Institut 
diese Einrichtung organisiert. Die Leiter der Fabriken und Arbeitgeber 
waren uns gegenüber sehr zuvorkommend und suchen uns sogar 
selbst öfters auf. Einige bedeutende Fabriken, welche sozial hoch- 
denkende Leiter besitzen, legen einen Wert darauf, daß wir die 
von uns vermittelten Jugendlichen auch überwachen, und außerdem, 
daß wir in der Zucht aller Jugendlichen ihnen eine ernste und gründ- 
liche Hilfe leisten können. 


2. Die Jugendgerichtshilfe. 


Die eigentliche Aufgabe der praktischen Abteilung unseres In- 
stitutes besteht in einer exakten Ausübung der Jugendgerichtshilfe. 
Diese Arbeit kann nach drei verschiedenen Richtungen zugeteilt werden: 

a) Die Jugendgerichtshilfe im Vorbereitungsverfahren; 


380 A. Abhandlungen. 





b) Die Schutzvorrichtungen für die Jugendlichen während des 
Verfahrens; 

c) Die Erziehungsaufsicht nach dem Gerichtsverfahren. 

Die einzelnen Teile sollen besonders erklärt werden. 


a) Jugendgerichtshilfe im Vorbereitungsverfahren. 


Die Jugendgerichtshilfe im Vorbereitungsverfahren hat den Zweck, 
den Jugendrichter über die Lebensweise und über die Vergangenheit 
der Jugendlichen zu informieren: Familienverhältnisse, Schulleben 
und das gesellschaftliche Milieu des Jugendlichen zu erforschen und 
dem Richter mitzuteilen. Den meisten Jugendrichtern hat man diese 
Jugendgerichtshilfe derart organisiert, daß man private Leute, die sich 
wohlwollend anempfohlen hatten, oder Fürsorgevereine, Kinderschutzver- 
bände usw. ersuchte, über die Jugendlichen sich zu erkundigen. Man 
benutzt zu diesem Zwecke verschiedene Fragebogen und Formulare, 
sogenannte Milieu-Schilderungen, in Ungarn »Milieu-Studien« genannt, 
die dann von den Jugendgerichtshöfen ausgefüllt und dem Gerichte ein- 
geliefert werden. In Ungarn hat man insbesondere Lehrer, Geistliche 
und Gemeindebeamte aufgefordert, diese Dienste zu erfüllen. Es sei 
schon hier angedeutet, daß die Erfolge keineswegs günstig waren; es 
fanden hie und da einige, die sich dem Jugendgerichte angeschlossen 
und aus besonderer Lust manche gute Dienste getan hatten, aber im 
allgemeinen konnte auf diese Erkundigungen eine ernste Arbeit nicht 
gestützt werden. Insbesondere die Informationen der Gemeindevor- 
steher und Gemeindesekretäre sind meistens ganz unverläßlich, da sie die 
Wahrheit Zu sagen, sich nie trauen. Und endlich: in den vornehmeren 
Kreisen der Fürsorgevereine findet man sehr selten jemanden, der 
sich die Mühe nimmt, nach dem armen Kinde zu gehen. 

Das größte Übel aller dieser Forschungsweisen ist es aber, daß 
man von allen diesen Personen sehr gute Erkundigungen haben kann, 
wenn man sie befragt, aber daß diese freie Tätigkeit dazu gebraucht 
wird, Gerichtsakten, oder wenigstens solche Teile von Gerichtsakten, 
wie Formulare und Fragebogen auszufüllen, ist ein psychologischer 
Fehler, welcher außer acht läßt, daß sehr viele brauchbare Leute doch 
nicht die Fähigkeit besitzen, für uns Kriminalisten auch in unserer 
Weise und Art zu arbeiten. 

Alle diese Einrichtungen, glaube ich, leiden im Auslande ebenso 
wie bei uns, unter einer grundfalschen Auffassung, welche in den 
modernen kriminologischen Schulen als grundlegend anerkannt, aber 
vom wahren Praktiker nie ernst genommen werden konnte. Diese Auf- 
fassung ist das kriminologische Märchen von der Tat und von dem Täter: 


Kärmän: Ein kriminalpädagogisches Institut. 381 





daß nicht die Tat, aber der Täter erforscht und bestraft sein müsse. 
Diese Auffassung brachte Oberflächlichkeit und Verwirrung in manche 
Köpfe der Theorie und Praxis, und die Leute, die nach dieser Maxime 
arbeiteten, kamen dazu, daß sie die Umstände der Straftat ungenügend 
und oberflächlich untersuchten, die ‚psychologische Erforschung des 
Täters aber schon darum nicht leisten konnten, weil die heutigen 
Mittel dazu überhaupt noch ungenügend und bei den meisten Juristen 
noch wenig bekannt sind. 

So machte man es auch bei den Jugendgerichten: die Forschungen 
nach dem Seelenleben des Täters trennte man von der kriminalistischen 
Arbeit und man sagte, daß man zu dieser Tätigkeit überhaupt keine 
kriminalistische Fertigkeiten zu besitzen brauche, und machte diese 
Arbeit zum eigentlichen Gegenstand des ganzen Verfahrens. Die meisten 
Jugendrichter urteilen überhaupt nur nach den Ermittelungen und Mit- 
teilungen dieser unverantwortlichen Fürsorger. 

Den entgegengesetzten und von mir für richtig gefundenen 
Standpunkt sowie dessen praktische Durchführung versuche ich nun 
im Folgenden zusammenzufassen. 

Ich gehe hier auch einesseits von den Lehren der Grossschen 
kriminalistischen Schule, andererseits von einigen Grundgedanken der 
pädagogischen Lehren der Herbartschen Schule aus. 

Die kriminalistische Schule von Hans Gross lehrt uns, daß zur 
psychologischen Erfassung des Verbrechens eine umgehende und exakte 
Untersuchung des ganzen Falles gehört. Die ganze kriminalpsycho- 
logische Richtung, die wir heute in der Praxis befolgen, entstand da- 
durch, daß Gross in seinem »Handbuch für Untersuchungsrichter« 
gelehrt hatte: alle die Erscheinungen des Straffalles gründlich und 
exakt nachzuprüfen, um aus ihnen auf die Täterschaft des als Unter- 
suchungsobjekt aufgefaßten Menschen zu schließen. Selbst alle die 
technischen Fertigkeiten, aus Mikroskopie, Chemie, Physik, Naturlehre, 
Photographiekunst, Anthropometrie und Daktyloskopie sind bei Gross 
keine Selbstzwecke, wie die in manchen Polizeilaboratorien ausgeübte 
Kunststückspiele, sondern psychologisch zu bewertende Vorkehrungen 
zur Auffindung und Kenntnis des Verbrechers, des Täters. Es ist doch 
die ursprüngliche Erkenntnis aller psychologischer Forschungen, daß 
der Mensch nur aus seinen Handlungen zu erkennen sei; warum 
sollte man da eben die strafbaren Handlungen auslassen? Aus diesen 
Lehren der Grossschen Schule folgt nun, daß zur psychologischen 
Kenntnis des jugendlichen Verbrechers eine kriminalistische Vorunter- 
suchung unbedingt notwendig und daß dieselbe durch kriminalistisch 
gebildete Organe in sachgemäßer Weise geführt werden müsse, und 


382 A. Abhandlungen. 





daß die Erforschung des Sachverhaltes mit der Erforschung der Persön- 
lichkeit des Täters in engem Zusammenhange stehe und nicht zu 
trennen sei. Die praktische Ausführung des Grundprinzips verlangt 
nun die Verwerfung eines Systems, wo Polizei und Gericht nur für 
die Erforschung der Straftat und die freie Fürsorge für die Nach- 
forschungen über die Persönlichkeit des Täters sorgt. Die beiden 
Ziele müssen in die Hände einer Organisation gelegt und durch eine 
zielbewußte Führung gelenkt werden. 

Wir dürfen aber, trotzdem daß wir gegenüber sehr vielen und 
sogar herrschenden Lehren die kriminalistische Seite des Vor- 
bereitungsverfahrens gegen Jugendliche und der Jugendgerichtshilfe 
betonen, den Erziehungszweck auch nicht vergessen. Diesen Er- 
ziehungszweck glauben manche damit erreicht zu haben, daß man in 
das Vorbereitungsverfahren zur Ermittelung der Individualität und 
der sozialen Verhältnisse der Jugendlichen, Erzieher und Pädagogen, 
sowie im weiteren Sinne solche Persönlichkeiten hineingezogen hat, 
welche sich mit Kindern gerne befassen und mit ihnen gut um- 
gehen können. Das Ergebnis war, daß in dem Vorbereitungsver- 
fahren, welches bisher von ziemlich guten Kriminalbeamten und De- 
tektiven erledigt wurde, gute Pädagogen schlechte Kriminaldienste ge- 
leistet hatten, also der sogenannte Erziehungszweck sehr wenig der 
Erziehung genützt, aber sehr viel dem ganzen Verfahren geschadet 
hatte. 

Der Erziehungszweck des Verfahrens gegen verwahrloste und 
verbrecherische Kinder und Jugendliche hat aber ganz andere Ziele 
und Möglichkeiten, als die gewöhnliche Beschäftigung mit Zöglingen, 
und das eben sind die besonderen Ziele der Kriminalpädagogik. 

Die rechtlichen Formen der Verfolgung des Verbrechers, Straf- 
recht und Strafverfahren, sind nach den Lehren der Rechtswissenschaft 
Bestandteile des öffentlichen Rechts. Diese Auffassung wurzelt in 
der psychologischen Entwicklung der Einrichtungen der Völker, da 
man seit alter Zeit die Übeltäter im Beisein der Gemeinschaft be- 
urteilte und bestrafte, sogar die Nachforschungen im Vorbereitungs- 
verfahren durch sie vornehmen ließ. Da die modernen Bestrebungen 
die Verfolgung und Bestrafung der Verbrecher vorläufig Kindern und 
Jugendlichen gegenüber durch Vorbeugung und Erziehung zu ersetzen 
wünschen, liegt nichts dagegen vor, daß wir zu dieser Arbeit, ebenso 
wie im Bestrafungssystem, die Hilfe und Mitarbeit der Gesellschaft 
hinzuziehen. Es schließt auch nicht aus, daß ebenso wie in den An- 
fängen der Kriminaljustiz, selbst die Voruntersuchungen durch diese 
Mitarbeit der Gemeinschaft vorgenommen werden. 


Kärmän: Ein kriminalpädagogisches Institut. 383 





Die Erziehung des Menschen ist nach den Lehren der Pestalozzi- 
Herbartschen Schule ein Werk der ganzen Gemeinschaft. Nach 
diesen Lehren existiert das isoliert betrachtete Menschenindividuum 
nur in der Abstraktion; wirklich getrennt von menschlicher Gemein- 
schaft würde das Individuum gar nicht zum Menschen. Die Ent- 
wicklung des Menschen kann nicht unabhängig sein von dem, was 
die anderen Menschen um ihn herum machen und treiben. So be- 
ruhen Politik und Pädagogik auf derselben Grundlage: die Erziehung 
wird zum Mittel einer höheren Polizei (Staatskunst) und die Staats- 
kunst selbst zur höheren Pädagogik. Da unsere Strafrechtseinrich- 
tungen auch einen Teil dieser »Politik« bilden, so ergibt sich von selbst, 
daß die Strafpolitik mit der Pädagogik nur in der Gemeinschaft der 
Menschheit miteinander eng verknüpft wirken können. Die Erziehung 
des Individuums wirkt auf die Entwicklung der Gemeinschaft und 
das einzelne Individuum wird durch die Gemeinschaft beeinflußt und 
dadurch erzogen. Es entsteht also eine Erziehung der Gemeinschaft 
und eine Erziehung durch die Gemeinschaft. 

Wir wollen nun dieses Prinzip auf unsere Bestrebungen für die 
Kriminalpädagogik anwenden. Der einzelne, verwahrloste oder ver- 
brecherische Jugendliche wird dadurch erzogen, daß wir mit ihm uns 
eingehend befassen und ihm eine ordentliche Lebensweise bahnen 
helfen. Aber dadurch daß wir das tun, erziehen wir zugleich die 
Gemeinschaft, unsere Mitbürger, dazu, mit dem Verwahrlosten und 
Verbrecherischen sich erzieherisch zu befassen. 

Diese zweite Aufgabe ist das eigentlich schwere! Sie gelingt 
nicht dadurch, daß wir kinderfreundlichg Vereine bilden aus Lehrern, 
Geistlichen und andern Kinderfreunden, und die Mitglieder dieser 
Vereine in das Strafverfahren als »Helfer« einstellen. Sie gelingt 
auch nicht dadurch, daß man nach Amerika oder England und Frank- 
reich läuft und die dort gesehenen freien Vereinigungen nachahmt und 
dadurch den Einrichtungen Reklame macht. So bekommen wir 
meistens Leute, die aus eigennützigem Interesse oder Eitelkeit sich 
uns anschließen und die der guten Sache schon bis jetzt fast überall 
mehr geschadet als genützt haben. 

Psychologie und Erfahrung, welche die gemeinsamen Grundlagen 
der Strafpolitik und der Pädagogik sind, zeigen uns ganz andere und 
die wahren Wege der Einrichtung der Jugendgerichtshilfe. Durch sie 
müssen die natürlichen, in dem psychologischen Wesen des Menschen 
wurzelnden Anlagen dieser Mitarbeit der Gemeinschaft aufgesucht 
und weiterentwickelt werden. 

Vor allem müssen die Beziehungen zwischen den Jugendlichen 


384 A. Abhandlungen. 





und dem Jugendrichter erwogen und klar festgestellt werden. In 
jedem Menschen ist ein gewisser Begriff von dem Richter entwickelt 
worden, welcher über ihn urteilt und über seine körperliche und geistige 
Zukunft verfügt. Diese Vorstellung ist im jungen Menschen ungefähr 
dieselbe, wie in dem anfänglichen Zeitalter der Menschheit, wo der 
Richter die Verkörperlichung der vergeltenden Gerechtigkeit war, der 
also Böses mit Bösem vergalt. Mit dieser Vorstellung verknüpfte sich 
der unentwickelte Affekt der Angst und Furcht vor diesem, wenn 
auch verdientem Bösen. Die Seelenbeschaffenheit des Kindes oder 
der Jugendlichen zeigt ungefähr dieselben Erscheinungen, wie das Be- 
wußtsein der Menschen in den Anfängen der Strafprozeßrechtsentwick- 
lung, als noch die Parteien kniend und betend vor dem Richter standen. 
Diese Seelenanlage brachte damals die Einrichtung des »Fürsprechers« 
in das Strafverfahren, weil der arme Mann sich selbst nicht mit dem 
Richter zu sprechen traute. Erst die späteren Umgestaltungen der 
Richterpersönlichkeit brachte die Leute dahin, daß aus der Vorstellung 
des Übel erteilenden Richters und aus den Affekten der Angst und 
Furcht höhere Begriffe und edlere Gefühle von dieser Richterpersön- 
lichkeit in der Volksseele entstanden sind. Diese höheren Begriffe und 
Gefühle sind aber keineswegs gemein, sondern es gibt noch eine ganze 
Menge von unentwickelten Menschenseelen, die auch heute noch nur 
Böses vom Richter erwarten und sich dagegen instinktmäßig wehren. 
Der Jugendliche, der unentwickelte Mensch, steht unbedingt noch auf 
diesem Standpunkt. Nach dieser unserer Auffassung nun ist zwischen 
der Richterpersönlichkeit des Jugendrichters, welche sich auf dem 
höchsten Gipfel der Entwicklung des Strafverfahrens zu stellen sucht und 
alles für die weitere Erziehung des Jugendlichen besorgen soll, und 
zwischen der Seelenlage des Jugendlichen, in welchem noch die ursprüng- 
lichen Vorstellungen walten, eine riesige Kluft: zwei geschichtspsycho- 
logisch erzeugte Erscheinungen. Durch diesen determinierten Zustand 
werden alle Bemühungen eines Gesetzgebers der Jugendgerichte 
scheitern, wenn die weitere Organisation des Verhältnisses der Richter- 
persönlichkeit mit dem Jugendlichen nicht wieder auf psychologische 
Grundsätze gegründet wird. 

Der psychologische Grundsatz, welcher hier angewendet werden muß, 
lehrt, daß höhere Auffassungen nur durch weiter geförderte Entwick- 
lung, also durch eine edukative Arbeit hervorgebracht werden können. 
Man kann dem Jugendlichen sagen lassen, sogar selbst sagen, daß der 
Richter mit ihm nur Gutes wolle: er hört das, er kann es auch glauben, 
aber fühlen wird er es nicht. Es wird nur dann dieses Wissen von den 
Zielen des Richters sein eigen werden, wenn er durch eigene Erfahrungen 


Kärmän: Ein kriminalpädagogisches Institut. 385 





dahin geführt wird, daß der Jugendrichter sein Wohl fördere. Es 
sollte also ein unmittelbares Verhältnis gepflanzt sein zwischen dem 
Jugendrichter und dem Jugendlichen, durch welches der Richter den 
Jugendlichen von seinen ursprünglichen dunklen, triebartigen Auf- 
fassungen von der Richterpersönlichkeit zu deutlichen und klareren Be- 
griffen erziehen kann. Diese Regel schließt nun alle Vermittler aus. 
Die Praxis der meisten Jugendgerichte, daß der fremde Jugend- 
gerichtshelfer, der Lehrer oder das Vereinsmitglied, zu dem Jugendlichen 
geht, mit ihm spricht, und ihm alles gute verspricht, und dann als 
Zeuge in der Hauptverhandlung erscheint und aüssagt, bringt die alte 
Einrichtung der Fürsprecher, dieses Urbild der Verteidiger, wieder zu- 
tage, und es bleibt bei dem ursprünglichen Gegensatze zwischen 
Richter und Angeklagten, welcher zwar vom Jugendgerichtshelfer 
zu überbrücken versucht wird, aber für eine erzieherische Wirkung 
gar nicht günstig sein kann. 

Der psychologische Hauptgrundsatz der Einrichtung der Jugend- 
gerichtshilfe ist daher, ein unmittelbares Verhältnis zwischen der 
Richterpersönlichkeit und dem Jugendlichen schon von allem Anfange 
des Verfahrens, gleich nach Verübung der Straftat und nach An- 
hängung des Strafverfahrens zu schaffen. Die Bemühungen und 
Arbeiten der Jugendgerichtshelfer haben daher nur dann einen richtigen 
erzieherischen Wert, wenn sie eigentliche Ergänzungen der Arbeit des 
Richters sind, wenn die Helfer im strengsten Sinne des Wortes Ge- 
hilfen und Hilfsarbeiter des Gerichtes sind, wenn sie zum Jugendgerichte 
gehören, in ganz praktischer Weise ausgedrückt: wenn sie solche 
Handlungen verrichten, welche der Richter selbst nicht verrichten kann. 
Solche Hilfsarbeiter auszubilden und zu beschäftigen, ist das weitere 
Ziel unseres Institutes. Die Einzelheiten der Ausführung bringe ich 
später vor, da ich noch die prinzipiellen Grundlagen der anderen 
Frage, die Zuziehung der Gemeinschaft noch zu erklären habe. 

Die Mitarbeit der Gemeinschaft und die erzieherische Wirkung 
dieser Mitarbeit auf die Gemeinschaft muß ebenso auf psychologischen 
und erfahrungsgemäßen Grundlagen bewerkstelligt werden. Das ist 
nur dann möglich, wenn wir auf die natürlichen, durch die Entwick- 
lung gegebenen Formen dieser Gemeinschaft zurückgehen und auf 
diesen Formen weiter bauen werden. Vergebens suchen wir weder 
auf deutschem noch auf ungarischem Boden Formen des geselligen 
Lebens, welche als freie gesellschaftliche Vereinigungen geeignet sind, 
erzieherische Wirkungen aufzunehmen und weiter zu entfalten. Unsere 
Völker hatten nie einen rechten Sinn für die abstrakt aufgefaßte Ge- 
sellschaft, wie die Amerikaner und die Franzosen für ihre société, die 

Zeitschrift für Kinderforschung. 21. Jahrgang. 25 


386 A. Abhandlungen. 





die ganze Menschheit in sich einschließt und Kultur und Religion 
durch Vereinigungen zu fördern glaubt, welche oft auf der Gasse 
ihre Mitglieder zusammengebracht hatten. Wir bauten alles auf dem 
festen Boden des Gemeindelebens. Die Gemeinde war die urwüchsige 
Gestalt alles gemeinschaftlichen Lebens: die Arten der Bebauung des 
Bodens und der umgebenden Naturwelt, die Einrichtung der politi- 
schen Geschäfte des vergesellschaftigten Menschen ebenso, wie die 
ersten Anfänge aller Erziehungstätigkeit bei uns durch die Ge- 
meinde geschaffen und durch das Gemeindeleben für lebende Wesen 
aufgearbeitet und weiter entwickelt wurde. Die ersten Anfänge 
der Strafgerechtigkeit legten den Übeltäter in Acht und Bann, man 
stieß ihn aus aus der Gemeinde. Dieser Sinn lebt noch heute im 
gewöhnlichen Menschen, insbesondere bei den ländlichen Bauern: es 
gefällt ihm nichts wohler, als wenn man den Dieb des Dorfes ent- 
fernt und es von solchen Leuten frei macht. Hier müssen wir ihn 
bei seiner Seele anpacken und seine Auffassungen durch unsere 
modernen Erziehungsideen umgestalten. Man sollte diese lebenden Ge- 
meindewesen aufklären und benutzen: die Verwahrlosung und die ver- 
brecherischen Neigungen der eigenen Jugend darlegen und sie dazu 
erziehen, daß sie die Gefährlichkeit des verlassenen und den verderb- 
lichen Einflüssen ausgesetzten jungen Menschen einsehen und durch 
sich selbst, in ihren eigenen Kreisen und durch ihre eigenen Kräfte, 
in richtige Bahnen zu lenken versuchen. Diese Führung des Ge- 
meindelebens geht aber wieder nicht durch wohltätige Feste und unter- 
haltende Sonntagsvorlesungen: zur tagtäglichen ernsten Arbeit müssen 
die Leute in ihren lebenden Organismen herangezogen werden: sie 
sollen die Jugendgerichtssachen mit erledigen helfen und an der Hand 
der einzelnen Fälle die ganze Einrichtung erlernen und fördern. 
Diese Führung benötigt aber einen engen und festen Zusammenhang 
zwischen der Richterpersönlichkeit und den Organen der Gemeinschaft: 
den Gemeinden. Die Gemeinden sollten in den Dienst der Fürsorge 
gestellt, und es sollten in ihnen Fürsorge-Organe gebildet werden, 
welche dem Jugendrichter als beratende und informierende Jugend- 
gerichtshilfen beistehen. 

Diese Grundgedanken sind auch durch meine Praxis bestätigt 
worden. Im Sprengel des Jugendgerichtes bildeten wir in einer jeden 
Gemeinde einen Fürsorgeausschuß, in welchem alle Mitglieder der Ge- 
meindevorstehung, also Bürgermeister, Gemeindesekretär, die Vor- 
stände, Arzt, Gemeindevormund, Schuldirektoren, Lehrer, Geist- 
liche aufgenommen, und dann durch andere Bürger, die der 
guten Sache mit Interesse beigetreten, ergänzt worden sind. Der 


Kärmän: Ein kriminalpädagogisches Institut. 387 





Jugendrichter nimmt seine Erhebungen im Beisein dieser Personen 
vor: er befragt sie über das Verhalten des Jugendlichen und seiner 
Familie oder seiner anderen Umgebung, und verhört den Jugendlichen 
vor ihnen — wenn etwa eine Unterredung unter vier Augen nicht 
nötig erscheint — und zeigt dadurch dem Jugendlichen und seiner 
Familie, daß sie unter öffentlicher Bewachung stehen und lehrt zu- 
gleich der Gemeinschaft, daß die Verwahrlosung und das Verbrecher- 
tum auch ihre Ursachen haben und daß die Ursachen aufgesucht und 
entfernt werden müssen. 

Es versteht sich von selbst, daß die Sache schwer, oft sehr schwer 
geht, aber ich hatte manche sehr guten Erfolge, welche ohne dieses Ver- 
fahren nicht möglich gewesen wären. Ich hatte einen Fall, wo ich zwei 
Brüder, einen von 10, den anderen von 13 Jahren die wegen Dieb- 
stahl angeklagt waren, im Beisein der Gemeindevorstehung verhörte. 
Der Vater, zurzeit im Krieg, war ein oft bestraftes, berüchtigtes Indivi- 
duum, die Mutter eine kränkliche, ebenfalls vorbestrafte Person. Gen- 
darmerie und Gemeinde haben die Kinder bei ihrer Überwachung 
immer elend und grob als Diebskinder behandelt, sie hatten nie von 
jemandem ein gutes Wort gehört. Sie waren schon in ihrer frühen Kind- 
heit zu Feinden der Gesellschaft gemacht. Der ältere ist nie in eine 
Schule gegangen, der jüngere zwar einige Jahre, wurde aber auch dort 
nicht gerne geduldet. Voll Entrüstung über ihre Verbrechen (Dieb- 
stahl von zwei Hennen) empfing mich die Gemeinde und verlangte von 
mir Kerker und Korrektionsanstalt für die Jungen. Dann zeigte ich 
ihnen, daß der ältere krankhaft und schwachsinnig sei; mit dem 
jüngeren machte ich eine kleine Intelligenzprüfung im Lesen, Schreiben, 
Zeichnen und Rechnen, und es ergab sich, daß der zehnjährige Knabe 
außerordentliche, seinem Alter weit überlegene Fähigkeiten habe. 
>Schad’ um diesen Jungen« rief der Bürgermeister der Gemeinde, ein 
reicher Ackerbürger, »den sollte man etwas lernen lassen!« — und ich 
war glücklich, daß ich die harten Bauernschädel dazu brachte, auch 
etwas gutes im Diebskinde zu sehen. Sie halfen mir auch, den Jungen 
bei einem ordentlichen Handwerker unterzubringen. 

Die eigentliche Schwierigkeit dieser Einrichtungen liegt auch 
nicht im Volke, sondern in dem Elend unserer Bureaukratie. 
Das Volk selbst kommt uns sehr gerne entgegen, weil es sieht, daß wir 
sein Gemeinleben fördern werden, aber das Beamtentum wird immer 
mit schiefen Augen betrachten, wenn der Jugendrichter selbst zum 
Kinde des Volkes geht; das gelehrte Richtertum hat sich jahr- 
hundertelang die bequemliche Art angewöhnt, daß es nicht Menschen, 
sondern Schriften behandelt, und daß zwischen dem Richter und den 

25* 


388 A. Abhandlungen. 


Parteien Vermittler, sollten sie Fürsprecher oder Anwälte oder Ad- 
vokaten heißen, stehen; durch diese Angewöhnung an die elende 
Schriftlichkeit und an die bösen Vermittler ging der Justiz beinahe 
ihre ganze Menschlichkeit verloren. Auf meinen Wegen in den 
Dörfern meiner Heimat denke ich sehr oft an die uralte gute Justiz, 
wo der Gerichtsherr an Ort und Stelle ging, und ihm die Gelegenheit 
geboten wurde, Land und Leute nicht nur richten, sondern auch 
kennen zu lernen und in freier frischer Luft inmitten der Gemeinde 
nach Menschenkenntnis zu urteilen; eine gesunde kräftige Er- 
scheinung gegenüber dem heutigen, durch die Akten-Mechanik nerven- 
müde gewordenen, mit den Waffen der Paragraphen gegen die Ad- 
vokaten und andere Rechtsverdreher ewig kämpfenden Richter! Das 
Ideal des wahren Richters ist in meinen Augen der Junker Arner 
in dem Volksroman von Pestalozzi: »Lienhard und Gertrud,« als er 
über den Vogt wegen Grenzfälschung urteilte: 

»Dann ging er mit dem Pfarrer und mit dem Schreiber an die 
Gemeinde. 

Alles Volk stand auf und grüßte den gnädigen Herrn und 
den wohlehrwürdigen Herrn Pfarrer. 

Arner dankte Ihnen mit väterlicher Güte und sagte den 
Nachbarn, sie sollten sich auf ihre Bänke setzen, damit alles in der 
Ordnung gehe. 

Arner ließ die Gefangenen einen nach dem anderen vorführen 
und ihnen alles, was sie ausgesagt und bekannt hatten, öffentlich 
vorlesen. 

Und nachdem sie vor der Gemeinde das Vorgelesene be- 
stätigt hatten, befahl er dem Vogt, sein Urteil auf den Knien an- 
zuhören.« 

Dieses Ideal ist in der Zukunft zu verwirklichen; der einzige 
Weg, der dahin führt, ist der Weg der Psychologie, der Aufbau des 
Verfahrens auf die Lehren der psychologischen Wissenschaft. Eine 
überaus große Aufgabe; der erste Versuch, diese auf die Jugend- 
gerichtsbarkeit anzuwenden, ist aber schon beinahe gelungen und er- 
weekt uns beste Hoffnungen für die weiteren Bestrebungen. 

Unser Institut bezweckt diese Leitsätze durch folgende Organi- 
sation der Jugendgerichtshilfe zu bewerkstelligen. 

Die Jugendgerichtshilfe des Institutes besteht aus den dem Jugend- 
richter zugeteilten Gerichtsbeamten (Kanzlist, Auskultant) und durch das 
Polizeipräsidium dem Jugendgerichte zugeteilten Detektiven (zurzeit 
nur 1), sowie aus Institutsmitgliedern, teils besoldete, teils Volontäre, 
meistens Lehrer und Lehrerinnen, die unter fortwährender Führung 


Kärmän: Ein kriminalpädagogisches Institut. 389 





und Belehrung des Jugendrichters stehen. Ihre Ausbildung ist einer- 
seits eine kriminalistische, andererseits eine pädagogische. Da die Mehr- 
zahl unter den Mitgliedern Pädagogen sind, wird in ihrer Ausbildung 
das Hauptgewicht auf die kriminalistische Seite gelegt. Sie sind die 
eigentlichen Kriminalpädagogen, mit der Terminologie des Straf- 
prozesses: kriminalpädagogisch ausgebildete Fahndungsorgane 
des Gerichtes. 

Die Voruntersuchung ist laut dem Jugendgerichtsgesetze voll- 
ständig in die Hände des Jugendrichters gelegt. Bei der Organisation 
dieses Jugendgerichts habe ich nun eine besondere Mühe darauf ver- 
wendet, mit der Polizei und Gendarmerie zu einem Übereinkommen zu 
gelangen, daß die Hilfsbeamten der Polizei und der Gendarmerie nur 
das allernötigste der Vorerhebungen vornehmen. Sofort, wenn der Ver- 
dacht der Täterschaft auf einen Jugendlichen kommt, sind die weiteren 
Maßnahmen dem Jugendgerichte übergeben. Die rücksichtslose Durch- 
führung dieses Prinzips hielt ich außerordentlich schwer für mich und 
nur durch einen konsequenten Verkehr mit den Organen der Polizei 
und Gendarmerie ist es mir gelungen, die Tätigkeit der in den Fragen 
der Jugendgerichtsbarkeit verwandten Organe auf das mindestnötige 
einzuschränken. Man macht sich freilich eine Mehrarbeit dadurch, 
aber man hat viel klarere Einsicht in das Seelenleben des jugendlichen 
Übeltäters, die durch die meistens trübenden Eindrücke der Vor- 
erhebungen nicht beeinträchtigt wurde. Diese Mehrarbeit übernimmt 
nun das Institut und durch dieses wird das pädagogische Moment in 
die ersten Maßnahmen des Verfahrens hineingebracht. Infolgedessen 
brauchen aber unsere Mitglieder auch kriminalistische Kenntnisse, um 
die wichtigen Erhebungen für das Strafverfahren nicht zu ver- 
säumen. 

Die Hilfe der Gemeinschaft wird nun von dem Jugendrichter 
und von diesen Institutsmitgliedern in Anspruch genommen, und 
gleichzeitig werden die Institutsbeamten dazu angespornt, in weiten 
Kreisen ihr Walten bekannt und befreundet zu machen, sowie die Mit- 
glieder der Jugendausschüsse zu vermehren. 

Die wichtigsten Fälle untersucht der Richter selbst mit Beihilfe 
eines Beamten oder Institutsmitgliedes unter Zuziehung des Fürsorge- 
ausschusses. In der Mehrzahl der Fälle geht jedoch ein Instituts- 
mitglied aus und wendet sich an den Fürsorgeausschuß der betreffen- 
den Gemeinde. 

Die Jugendgerichtshilfe wird daher geleistet: 

1. durch die Institutsmitglieder; 

2. durch die Fürsorgeausschüsse der Gemeinden. 


390 A. Abhandlungen. 


Es versteht sich von selbst, daß dieses Werk nicht sofort und nicht 
in allen Orten gleichzeitig anstandslos vor sich geht und gehen wird. 
Das glauben nur die Herren vom grünen Tische und von der Uni- 
versität — leider wird überall in neuester Zeit fast alles durch sie 
erfunden und umgestaltet —, daß man einen Plan erfindet, und wenn 
alles logisch paßt, er im Leben sich auch bewähren muß. Gute psy- 
chologische Grundsätze schlagen sich aber durch das Leben, 
wenn man nur die genügende Kraft und Ausdauer dazu hat. Ich 
glaube auch, daß man in der Großstadt ganz besondere Maßregeln 
einrichten muß; die dortigen Verhältnisse kenne ich aus meiner Praxis 
zu wenig, um Vorschläge machen zu können. Aber aus meinen Er- 
fahrungen in der nächsten Nähe der Großstadt und aus den Vororten 
derselben mit 35—40000 Einwohnern glaube ich meine Meinung be- 
stätigt zu finden, daß man in der Großstadt auch die lebenden 
Formen des Gemeinschaftslebens aufsuchen und benutzen könne. Wenn 
das in den ökonomischen und politischen Dingen und in manchen 
sozialen Bestrebungen des Großstadtlebens gelungen ist, könnte man 
in der Jugendpflege auch diese Interessengemeinschaften verwerten: 
nicht durch freie Vereine, sondern durch eine gut geleitete Selbst- 
regierung. 


b) Die Schutzvorrichtungen während des Gerichtsverfahrens: 
Beobachtungsheim und Werkstatt. 


Nach den $$ 19 und 21 des ungarischen Jugendgerichtsgesetzes 
können die Jugendlichen während des Vorverfahrens, wenn ihr körper- 
licher oder sittlicher Zustand gefährdet erscheint, aus ihrer Umgebung 
entfernt und entweder 

1. im Gefängnis oder 

2. bei einer geeigneten Privatperson, oder 

3. bei einem Kinderschutz- oder Fürsorgeverein, oder in einer 
Besserungsanstalt verwahrt werden. Im Gefängnis wird der Jugend- 
liche dann verwahrt, wenn seine Verwahrlosung gemeingefährlich er- 
scheint; die Dauer dieser Verwahrung dauert 15 Tage, kann aber auf 
Antrag der Staatsanwaltschaft durch die Jugendstrafkammer des 
Landesgerichtes je auf 1 Monat verlängert werden. Die Dauer der 
Verwahrung in einer Anstalt oder bei einer geeigneten Privatperson 
erstreckt sich auf das ganze Strafverfahren, also bis zum gerichtlichen 
Endurteil; die Kosten dieser Verwahrung sind auf Verlangen von der 
Staatskasse zu decken. (Zurzeit 1 Krone per Person und per Tag.) 

Zum Zwecke dieser Verwahrung hat nun unser Institut ein Heim 
errichtet, vorläufig aus 4 Räumlichkeiten, für 16—20 Jugendliche 


Kärmän: Ein kriminalpädagogisches Institut. 391 





eingerichtet. Dieses Heim wird als Beobachtungsheim benutzt und 
wird »Pestalozziheim« genannt. Fast alle Jugendlichen und Kinder, 
welche von der Polizei oder Gendarmerie vorgeführt werden, sowie 
auch solche, welche von ihren Eltern dem Gerichte übergeben 
werden (ein sehr häufiger Fall, Zeichen der Zerrüttung des heutigen 
Familienlebens!),, kommen zuerst in dieses Heim. Schulpflichtige 
Kinder werden sofort in eine in der Nähe sich befindlichen 
Schule eingeschrieben; Jugendliche, welche schon ein Handwerk be- 
treiben können, werden auch sofort zu einem Handwerker oder in 
eine Fabrik eingestellt; kränkliche oder psychopathisch beanlagte 
Kinder und Jugendliche bekommen schon vor einer sachgemäßen 
Untersuchung ärztliche Verpflegung, Nach diesen Vorkehrungen 
beginnt die Beobachtung der Lebensweise des Jugendlichen. Das Heim 
steht unter Leitung einer Oberin, nämlich einer Lehrerin, welche 
zurzeit in der erwähnten benachbarten Schule angestellt ist; neben ihr 
beschäftigt sich mit den Jugendlichen eine Hausfrau, welche für sie 
kocht und sie verpflegt. Die Oberin besichtigt tagtäglich das Heim 
und führt über das Verhalten der Jugendlichen ein Beobachtungs- 
journal und erstattet eine Meldung an den Jugendrichter über die 
Vorkommnisse im Heime. Jede Woche einmal erscheinen alle Ein- 
wohner des Jugendheimes vor dem Jugendrichter, wo sie im Beisein 
der Oberin über ihre Angelegenheiten und ihr Verhalten Rechenschaft 
geben. Ein Züchtigungsrecht steht im Jugendheim niemandem zu, 
alle Unregelmäßigkeiten müssen dem Jugendrichter vorgebracht werden; 
es wird auch darauf Acht gegeben, daß das Heim keinem geschlossenen 
Gefängnis ähnlich sei, vielmehr werden die Jugendlichen dazu ange- 
halten, daß sie ihre Lebensweise frei ausüben und daß sie in einer Art 
im Heime leben sollen, wie jeder andere Mensch in seinem gewohnten 
Heime lebt. Die Kinder und Jugendlichen dürfen manchmal auch 
ihre Eltern oder Verwandten besuchen: sehr oft wird durch einen 
kleinen Aufenthalt im Heime das Familienleben wieder hergestellt- 
Vor dem Flüchten haben wir keine Angst, es kommt auch sehr 
selten vor; wenn es doch vorkommt, so beendigt es meistens mit 
der reuigen Rückkehr des verlaufenen Schäfleins; wenn nicht, so 
haben wir ein Symptom, das wir für unsere Beobachtungen bewerten 
können. 

Das Beobachtungsheim ist nach diesem keine Besserungs-, keine 
Erziehungs-, auch keine Heilanstalt; sein Zweck ist in erster Linie, 
dem Gerichte eine Möglichkeit zu bieten, den Jugendlichen in 
nächster Nähe gründlich kennen zu lernen, bevor man über sein 
künftiges Schicksal eine Entscheidung trifft. Wir beobachten ihn 


392 A. Abhandlungen. 





nicht nur in körperlicher und geistiger, sondern auch in sittlicher Hin- 
sicht, und suchen in ihm die guten Seelenkräfte zu entdecken, welche 
man dann in der Ordnung seines weiteren Lebenslaufes berücksichtigen 
und verwenden kann. Diese Dauer des Aufenthaltes im Beobachtungs- 
heime bestimmen daher zwei Umstände: er dauert solange, bis man 
genügende Erfahrungen von dem Jugendlichen hat und bis man die 
Möglichkeiten gefunden hat, ihn auf einen festen Weg seines künftigen 
Lebens zu stellen. Bei uns wird nicht die Sache, nicht der Akt er- 
ledigt, sondern der Mensch. Solange das nicht gelingt, muß der Akt 
unerledigt bleiben, und nicht umgekehrt, daß das Schicksal des 
Menschen leiden muß, weil die Akten eine rasche Erledigung be- 
dürfen! 

Unsere Erfahrungen sind sehr erfolgreich. Wir haben für sehr 
viele Kinder und Jugendliche, welche von den Eltern und von den 
Behörden als unverbesserlich vorgeführt wurden, das Familienleben 
wieder hergestellt, an sehr vielen, welche für berüchtigte und böse Diebe 
und Landstreicher galten, sehr ernste Krankheiten entdeckt, eine sehr 
beträchtliche Anzahl von Kindern und Jugendlichen vor dem Gefängnis 
und der Besserungsanstalt, die für sie ganz überflüssig waren, bewahrt, 
dem freien Leben gerettet und haben endlich alle, die wir doch in die 
Besserungsanstalt schicken mußten, mit ruhigem Gewissen wieder entfernt. 
Dies alles war nur durch dieses Beobachtungsheim möglich geworden. 
Ich schließe mich vollständig an die Worte des vorzüglichen Aufsatzes 
von Dr. J. Petersen: »Das Beobachtungshaus der Erziehungsanstalten,« 1) 
auf welche ich mich in weiteren Einzelheiten dieser Frage berufe, an: 
»Ich bin mit den Erfolgen der Beobachtungsstation sehr zufrieden. 
Namentlich, wenn ich an die Zeit denke, wo ich ohne eine solche 
arbeiten mußte, und zwischen einst und jetzt vergleiche, dann kann 
ich nur erklären, daß ein ganz großer Fortschritt dadurch erreicht ist, 
daß wir den Kindern in ganz anderer Weise gerecht werden, als 
früher. Und deshalb kann ich nur alle Bestrebungen, welche dahin 
abzielen, vor der endgültigen Entscheidung über die Erziehung der 
Kinder, die der Ersatzerziehung bedürfen, ihnen den Aufenthalt in 
einem Beobachtungshause zu ermöglichen, auf das Wärmste unter- 
stützen. « 

Als Ergänzungsteile unseres Beobachtungsheimes wollen wir in 
neuester Zeit eine Kinderwerkstatt und eine Gartenwirtschaft ein- 
richten. Die Werkzeuge zu einer Werkstatt besitzen wir schon, sowie 
ein Stück Feld von 1200—1400 Quadratklafter. Mangel an Arbeits- 


1) Heft 64 der Beiträge für Kinderforschung und Heilerziehung. Langensalza, 
Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann). 


Kärmän: Ein kriminalpädagogisches Institut. 393 





kräften während des Krieges hinderten uns daran, daß wir diese An- 
stalten auch ins Werk setzen könnten. Die meisten Lehrer stehen im 
Felde und die daheimgebliebenen sind mit Arbeit überbürdet. So 
hatten wir von diesen Veranstaltungen die Werkstatt im Winter und 
den Feldbau im vorigen Frühjahre eingeführt. 

Der eigentliche Zweck ist wieder die Beobachtung. Wir wollen 
von dem Jugendlichen nicht nur fragen, was er sein wolle, oder zu 
welcher Arbeit er Lust hätte, sondern wir wollen ihm zeigen, welche 
Werke für ibn zu wählen sind, und wir wollen erproben, ob seine 
Lust zu der gewählten Arbeit auch lebensfähig ist, und ob er wirklich 
zu etwas geeignet ist. Es kommt oft, sehr oft vor, daß der Junge sich 
ein Handwerk wählt, zu welchem er keine Kraft und keine Anlage 
hat; er hat gehört, daß man durch dies und das sehr viel ver- 
dienen kann, oder ein Onkel von ihm, den er recht gerne hat, auch 
dieses Handwerk betreibt, aber er taugt gar nicht dazu: solche Kinder 
werden dann auf ewig unglücklich, insbesondere, wenn sie ohne dies 
schon Stiefkinder des Schicksals gewesen sind. Das muß alles recht- 
zeitig erprobt werden, ebenso wie es der Schulmeister in Bonnal in 
Pestalozzis »Lienhard und Gertrud« gemacht hat: »er führt sie, wenn 
er immer eine müßige Stunde hat, in alle Werkstätten, die im Dorfe 
sind, sieht ihnen stundenlang zu, wie der eine das, und der andere 
dies angreife und forscht so von fern, was aus einem jeden zu machen«. 


c) Erziehungsaufsicht nach dem Gerichtsverfahren. 


Nach den ungarischen Jugendgerichtsgesetzen verfügt der Jugend- 
richter in solchen Fällen, wo eine Gefängnisstrafe zu streng oder die 
Besserungsanstalt nicht geeignet und wo andererseits der einfache 
Verweis zu gering erscheint, mit der Aussetzung einer Probezeit von 
der Dauer eines Jahres, in welcher der Jugendliche unter die Auf- 
sicht eines Fürsorgers gestellt wird. Die Dauer der Probezeit kann 
dann jedesmal auf ein Jahr bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres 
des Jugendlichen verlängert werden. 

Da ich in meiner langjährigen Tätigkeit als Staatsanwalt ein ent- 
schiedener Gegner der Freiheitsstrafe Jugendlichen gegenüber wurde 
und von den sogenannten heutigen Jugendgefängnissen, welche sich nur 
dem Namen nach von den Gefängnissen der Erwachsenen unterscheiden, 
auch sehr wenig halte, und die Verfügung, auf eine Zwangserziehung 
in eine Besserungsanstalt auch nur nach einer sehr langen und ge- 
duldvollen Beobachtung zu treffen pflege, so lauten die meisten End- 
urteile des von mir geführten Jugendgerichtes auf eine Aussetzung 
der Probezeit. 


394 A. Abhandlungen. 








Dadurch erwächst die große Aufgabe der wichtigsten praktischen 
Arbeit unseres Institutes: die führende und erziehende Aufsicht 
während dieser Probezeit. 

Die Grundprinzipien der Ausführung dieser Probeaufsicht sind 
dieselben, welche oben bei der Jugendgerichtshilfe im Vorbereitungs- 
verfahren mitgeteilt wurden. 

Die erste und wichtigste Aufgabe des Jugendgerichtes ist, dafür 
zu sorgen, daß der Jugendliche, wenn er nicht mehr schulpflichtig 
ist, zu einer passenden Arbeit kommt. Dafür wird durch unsere or- 
ganisierte Arbeitsvermittlung gesorgt, von welcher ich bereits Mit- 
teilung machte. Wenn dies gelungen ist, endigt das eigentliche Ver- 
fahren und damit beginnt die Probezeit. 

Die Ausführung der Probeaufsicht beruht nun auf zwei Grund- 
gedanken: die Erziehung des Jugendlichen unter Berücksichtigung des 
kriminalistischen Gesichtspunktes, und weiter: seine Erziehung durch 
die ihn umgebende Gemeinschaft und dadurch wieder die Erziehung 
dieser Gemeinschaft zur Einsicht der Notwendigkeit einer Führung 
der Jugend zu fördern. 

Die erziehende Aufsicht der probeweise von der Strafe, d.h. von 
einer strengeren Verfügung, entlassenen Jugendlichen liegt also in erster 
Linie den kriminalpädagogisch gebildeten Mitgliedern ob. Diese Auf- 
sicht soll sich grundsätzlich von der Art der gewöhnlichen Vormund- 
schaft dadurch unterscheiden, daß die verbrecherischen Neigungen 
der Jugendlichen nicht außer acht gelassen werden. Man soll zwar 
dem Jugendlichen nie mehr wegen seines Verbrechens Vorwürfe 
machen, sogar ihm dasselbe fast nie erwähnen, sondern man soll ihm im 
Gegenteil dazu helfen, daß er seine schändlichen Taten ganz vergißt, 
ebenso wie der gute Nervenarzt danach trachtet, daß der Kranke nie 
von seiner Krankheit und von den Ursachen seiner psychischen 
Trauma sprechen soll, aber, ebenso wie beim Nervenarzte, die Ursachen 
der Verirrung des Jugendlichen sowie seine Anlagen, welche ihn zur 
Kriminalität getrieben haben, müssen von dem Fürsorger immerhin 
im Auge behalten werden. Ich halte alle Tätigkeit der Jugend- 
schutzvereine und Jugendschutzkommissionen, denen der verbrecherische 
Jugendliche im Falle einer Nichtbestrafung übergeben wird, für ge- 
fährlich für das Gemeinwohl. Das Volk, und nicht nur das gewöhnliche 
Volk, sondern alle selbst in höheren gesellschaftlichen Stellungen 
stehenden Menschen, welche aber nach ihrer Denkweise noch immer auf 
einer Stufe stehen, aus welcher sie über die ursprüngliche Auffassung 
der Vergeltung der Straftat sich nicht erheben können, werden diese 
Fürsorgetätigkeit für einen Gnadenakt des Richters ansehen, durch 


Kärmän: Ein kriminalpädagogisches Institut. 395 





welchen die Strafe gern erlassen wurde. Wenn wir aber die weitere 
erziehende Tätigkeit nicht nur formell ausführen, sondern auch für den 
Jugendlichen und seine Angehörigen begreiflich und dadurch auch 
wirkungsvoll machen wollen, so müssen wir auch hier die Richter- 
persönlichkeit mit dem Jugendlichen und seiner Umgebung in direkte 
und fortgesetzte Verbindung bringen. 

Die nötigen Einrichtungen müssen also auf zwei Gesichtspunkte 
gestützt werden: Die Probeaufsicht darf einerseits nicht den Charakter 
einer Polizeiaufsicht haben, andererseits aber darf in der weiteren 
Führung die Wichtigkeit der einmal sich kundgegebenen kriminellen 
Gefahr nicht vergessen werden. 

Der Jugendliche bleibt unter fortgesetzter Aufsicht des Gerichtes; 
der Jugendrichter hält selbst an gewissen Tagen Kontrolle über die 
Jugendlichen. An diesen Terminen wird von den Straftaten gar 
nichts erwähnt, sondern es handelt immer um die Schule, die Arbeit, 
das Familienleben des Jugendlichen. Man sucht ihn in seiner neuen 
Lebensweise zu erhalten und man erledigt gleich die nötigen Hilfs- 
angelegenheiten: Besorgung von Schulbüchern, Kleidung, ärztlicher Be- 
handlung. Der Jugendliche muß sehen, daß all dies Gute von dem Ge- 
richt kommt, welches auch das gefürchtete Recht zur Bestrafung hat. 

In diesen Versammlungen wird der Jugendliche, welcher sich un- 
sittlich und gegen die Vorschriften benommen hat, verwiesen, bedroht 
oder auch bestraft. Diese Bestrafungen sind vorläufig minderer Natur, 
wie Verweis oder einige Stunden dem Schulkarzer ähnlichen Verwahrung. 

Diese Arbeit des Richters zu unterstützen, ist die Aufgabe des 
Instituts. Die Institutsmitglieder, welche an diesen Versammlungen 
teilnehmen, bilden das Hilfspersonal des Jugendrichters. Sie suchen 
die Jugendlichen in ihren Heimen, ihre Schulen und Werkstätten auf und 
sind ihnen in allen ihren Angelegenheiten behilflich. Es wird aber 
im Auge behalten, daß dieses Nachgehen nicht die Art einer Polizei- 
aufsicht annehmen darf. Daher unterscheiden wir leichtere und schwerere 
Fälle, je nach Art des Jugendlichen oder der Straftat; die ersteren 
können leichter behandelt werden, während man in den letzteren dem 
Jugendlichen öfters und oft in energischer, wenn auch ihm nicht 
sehr zusagender Weise nachgeht. 

Diese amtliche Aufsicht soll nun erweitert werden durch die mit- 
helfende Tätigkeit der Gesellschaft. Die Grundprinzipien sind die- 
selben wie bei der Organisation der Jugendgerichtshilfe im Vor- 
bereitungsverfahren: es muß in einer Weise geschehen, welche die 
Erziehung des Jugendlichen fördert, dabei aber die Gemeinschaft 
in immer und immer weiteren Kreisen dahingewöhnt und erzogen 


396 A. Abhandlungen. 





wird, den verwahrlosten oder kriminell angelegten Jugendlichen zu 
beobachten, zu führen und zu regieren. 

Die Schwierigkeiten sind ungemein groß, und da man diese 
fast überall, so auch bei den meisten ungarischen Jugendgerichten, 
übersehen hatte und die Überwachung der verwahrlosten und kriminellen 
Jugendlichen sofort privaten, wenn auch sehr wohlwollende Personen 
übertragen hatte, war die Folge, daß alle Welt von dem Ersuchen 
der Jugendgerichte, die Aufsicht solcher Jugendlichen zu übernehmen, 
sich scheut und fürchtet. 

Unser Institut versuchte die ersten Schwierigkeiten dadurch zu 
überbrücken, daß schon im Vorbereitungsverfahren eine von dem Ge- 
richte und seinen Leuten geführte Mitarbeit der Jugendausschüsse 
eingerichtet wurde. Die Mitglieder der Jugendausschüsse erfahren 
also durch das Gericht und durch ein Mitarbeiten mit dem Jugend- 
richter, was dem Jugendlichen zur Last gelegt wurde, und sind so- 
gleich darüber aufgeklärt, warum der Jugendliche gefallen ist und 
was mit ihm zu machen wäre. Das halte ich für sehr wichtig. Wenn 
das betreffende Mitglied einer Gemeinde davon gehört hat, aus der dieser 
oder jener Junge wegen »Diebstahls« vor Gericht geladen wurde, 
und jetzt zur Probeaufsicht wieder zurück in seine Heimatsgemeinde 
geschickt wurde, so glaubt man, er sei ein gemeiner Einbrecher oder 
Gauner, vor dem man sich recht fürchten und seine eigenen Kinder 
recht hüten müsse. So gelingt keine Führung, keine Erziehung, keine 
Besserung. Wenn aber die Leute den Fall und die Umstände kennen, 
so sind sie sehr menschlich ihm gegenüber und helfen uns in der 
weiteren Führung des Jugendlichen. Das hat psychische Ursachen: 
wenn man keine richtigen Begriffe von dem betreffenden Jugendlichen 
hat, so sucht man nach solchen Begriffen und Vorstellungen, welche 
man anderweits geholt und an welche man sich vordem gewöhnt hat. 

Die Probeaufsicht wird daher durch die Mitglieder unseres In- 
stitutes derart ausgeführt, daß sie durch diese Jugendausschüsse über 
das Verhalten der Jugendlichen sich informieren und gleichzeitig ihre 
Erfahrungen den Jugendausschüssen mitteilen. Hie und da versuchen 
wir auch einige Mitglieder dieser Jugendausschüsse mit der Probe- 
aufsicht zu betrauen; die Zahl dieser Mithelfer wird immer größer 
und in dieser Weise dringen unsere Erziehungsideen in immer weitere 
Schichten der Bevölkerung ein. 


B. Theoretische Abteilung. 


Zur Einrichtung des theoretischen, d. h. des eigentlich wissen- 
schaftlichen Teils unseres Institutes steht uns ein vortreffliches Muster 


Kärmän: Ein kriminalpädagogisches Institut. 397 





zur Verfügung, welches wir uns in unseren Veranstaltungen vor Augen 
gehalten haben, und das ist das von Hans Gross gegründete und 
in ganz Europa einzig dastehende »k. k. kriminalistisches Universitäts- 
institut in Graz«. Die ganze Einrichtung will eigentlich nichts anderes 
sein, als eine entsprechende Anwendung des Großschen Institutes 
auf die speziellen Ziele der Jugendgerichtsforschung. In dieser 
Abteilung unseres Institutes geht die wissenschaftliche Aufarbeitung 
des im praktischen Teile angesammelten Materials vor; andererseits 
wird die praktische Tätigkeit der ersten Abteilung von den hier 
festgestellten prinzipiellen Grundlagen weitergefördert. Die Tätigkeit 
des praktischen Teiles erstreckt sich daher ausschließlich auf die 
Jugendgerichtshilfe des Jugendgerichtes Erzs6betfalva, während die 
theoretische Abteilung auch für anderweitige Gerichte und pädagogische 
sowie kriminalistische Anstalten frei steht und gewissermaßen eine 
Station ausbauen will, welche für andere Gerichte und auch für 
private Personen, welche uns in den Fragen der Erziehung ihrer 
kriminell angelegten Kinder aufsuchen, Gutachten und Ratschläge abgibt. 

Die einzelnen Abschnitte dieser Abteilung sind nach Grossschem 
Muster: 


1. Handbibliothek, 


und zwar 

1. Werke kriminalistischen und kriminalpsychologischen Inhaltes, 
insbesondere die Werke von Gross, Wulffen, Friedrich, Sommer, 
Hoche, Balogh, Angyal usw. 

2. Psychologische Werke 

a) über allgemeine Psychologie; 

b) über experimentelle Psychologie, insbesondere die von Ziehen, 
Stern, Münsterberg, Meumann, Marbe, Bobertag, Lobsien, 
Claparède, Ranschburg; 

c) über Psychiatrie: Anton, Kraepelin, Ziehen. 

3. Pädagogische und pädologische Werke: 

a) von Pestalozzi, Herbart, Fröbel, Basedow, Ziller, Stoy, 
Rein, Barth, Paulsen und M. Kármán; 

b) Werke über die Arbeitsschule; 

c) Werke über Kinderforschung und Heilerziehung: Trüper 
Heller. 


2. Vorträge. 


Vorträge werden einerseits von dem Leiter des Institutes und 
durch andere Fachleute für die Mitglieder des Institutes, andererseits 


398 A. Abhandlungen. 








für die größere Öffentlichkeit als fortbildende und als weitere ge- 
meinschaftliche anregende Vorlesungen gehalten. 

Außerdem hält das Institut mit seinen Mitgliedern konferenz- 
artige Besprechungen, wo die einzelnen Fälle erörtert werden. Diese 
sind ungefähr den Schulkonferenzen ähnlich, in welchen die Ver- 
gehungen der Jugendlichen, insbesondere der beaufsichtigten Jugend- 
lichen, besprochen werden. 

Das Institut wird, wenn sich seine Lebensfähigkeit in der Praxis 
bewähren wird, mit der Universität auch einen Zusammenhang suchen. 
Vorläufig erscheint das wegen der versuchsmäßigen Einrichtung und 
wegen der praktischen Mitwirkung bei einem besonderen Gerichte 
nicht angezeigt. Aber wenn die Erfahrungen günstig sein werden, 
so wird dasselbe auch angestrebt und dann sollten die Vorträge und 
Vorlesungen auch eine ganz andere Bedeutung gewinnen. Außerdem 
beabsichtigen wir beim Gelingen unserer Unternehmung die Aus- 
bildung der künftigen Jugendrichter, Jugendgerichts- sowie Fürsorge- 
erziehungsbeamten zu fördern. Auch die Trennung der Justizbehörden 
von den pönologischen Institutionen wird als allergrößtes Übel der 
Fürsorgeinstitutionen empfunden, weil die Fürsorgeerziehungs- und 
Heilerziehungsbeamten gar keine kriminalpädagogische Vorbildung 
haben. Sie rekrutieren sich aus Lehrern, Handwerkern und Rechnungs- 
führern, haben aber meistens gar keinen Begriff davon, welche Ziele der 
Jugendrichter bei seiner Verfügung mit dem Jugendlichen gehabt hat. 
Sie sind meistens so, als der Schneider, dem ein Rock übergeben 
wird, von dem er soviel weiß, daß er so und soviel Zentimeter enger 
ist, als die Schultern des Edelmannes. So kann man Hosen, aber nicht 
Menschen flicken. Diese Beamten sollten nicht nur durch Vorträge 
in Bildungskursen, sondern auch durch die Praxis bei einem Jugend- 
gerichte vorgebildet sein, sie müssen mitarbeiten, und durch seminar- 
artigen Unterricht und Mitarbeit ihre Ausbildung bekommen. 

Die heute eigentlich wichtigsten Bestandteile des Instituts sind: 


3. Das Laboratorium. 

Die Notwendigkeit und die Zwecke eines psychologischen Labora- 
toriums kann an dieser Stelle nicht eingehend erörtert werden. Krimina- 
listen, wie Pädagogen und Psychologen sind heute in vollem Ein- 
verständnis darin, was Hans Gross in seiner ersten Arbeit über 
kriminalistische Institute treffend gesagt hat: > Alle exakten Wissen- 
schaften datieren ihren Aufschwung von dem Tage, als sie vom 
Studiertisch in das Laboratorium gewandert sind, und die naheliegende 
Erkenntnis, daß Realien nicht aus dem Buche, sondern am Versuche 


Kärmän: Ein kriminalpädagogisches Institut. 399 





erlernt werden können, war die einzige Ursache des ungeheuren Auf- 
schwunges aller exakten Disziplinen.« 

Bei der Organisierung des Jugendgerichtes in Erzsöbetfalva habe 
ich am 10. Februar 1914 die Bitte dem kgl. Justizministerium unter- 
breitet, es möge mir gestattet werden, die Jugendlichen im Labora- 
torium des auch in Deutschland berühmten Psychologen Paul 
Ranschburg untersuchen zu lassen. Die Erlaubnis wurde durch 
Erlaß des Justizministeriums 9194/1914 für das Jugendgericht erteilt 
und seit dieser Zeit wurden die Jugendlichen im von Ranschburg 
geführten »kgl. ung. heilpädagogischen und psychologischen Labora- 
toriume nach experimentell-psychologischen Methoden untersucht. 
Später wurde aber durch die Vermehrung der untersuchenden Fälle 
das Hinführen der Jugendlichen sehr zeitraubend und mit vielen 
Schwierigkeiten und Kosten verbunden, und darum haben wir durch 
den Fürsorgeverein der Jugendausschüsse ein psychologisches Labora- 
torium vorläufig in bescheidenem Maße für das Jugendgericht ein- 
gerichtet. Dieses Laboratorium wurde jetzt als Bestandteil des In- 
stitutes übernommen. Unsere Einrichtung enthält vorläufig nur die 
nötigsten Untersuchungsmittel, ich glaube aber, daß es nicht viele 
Gerichte gibt, wo der psychologische Sachverständige beständig fungiert 
und ein experimentell-psychologisches T,aboratorium als integrierender 
Teil des Jugendgerichtes angegliedert ist. 

Von den Methoden der experimentellen Psychologie, welche von 
uns in der praktischen Arbeit angewendet wurden, seien hervorge- 
hoben: Die Intelligenzprüfungen von Binet, Simon, Bobertag, 
die Assoziationsprüfungen nach Ziehen, Auffassungsversuche nach 
Stern, Gedächtnisprüfungen nach Ranschburg, weiter die Unter- 
suchungsmethoden von Vieregge, Bernstein, Hentschel, Rosso- 
limo usw. Die Ergebnisse meiner Erfahrungen sollten an anderem, 
dazu geeignetem Orte vorgetragen werden. Hier bemerke ich nur, 
daß ich in den meisten Fällen außerordentlich gute und belehrende 
Weisungen durch diese Untersuchungen für die Entscheidung im 
konkreten Falle erhielt. Es sei nur der Fall von einem 13jährigen 
Jungen erwähnt, der von den Gemeinde- und Justizbehörden jahrelang 
als gemeingefährlicher Dieb und Landstreicher angerufen und vor 
mir um die Anordnung der Zwangsfürsorgeerziehung gestellt wurde. 
Die Untersuchung ergab, daß der Knabe zwar eine Art Imbezillität 
an sich hat, aber durch die Anwendung der Methode Rossolimo 
haben wir festgestellt, daß er eine die durchschnittliche weit über- 
holende mechanische Fertigkeit besitzt. Da die Mutter des Jungen, 
eine Witwe, überaus große Anhänglichkeit an ihn hatte, so entschloß. 


400 A. Abhandlungen. 





ich mich, nur durch das Experiment angeregt, ihn nicht in die 
Besserungsanstalt zu schicken, sondern für ihn eine passende Be- 
schäftigung zu suchen. Zuerst — um auf eine Zeit von der bisherigen 
Umgebung zu entfernen — gaben wir ihn zu einem Verwandten auf 
dem Lande, wo er Winzerarbeit gut verrichtete. So verging der Sommer. 
Nach einigen Wochen gelang es, ihn in die große Munitionsfabrik 
nach Csepel hineinzubringen. Mehr als ein Jahr sind schon ver- 
flossen und gegen den Jungen, der früher ein böses Gespenst der 
Gemeinde war, ist nie eine Beschwerde gekommen. Und daß ich 
seine Laufbahn so einrichten konnte, verdanke ich in erster 
Reihe nur der Laboratoriumsarbeit. 

In unserem Laboratium arbeitet zurzeit eine Nervenärztin als 
Leiterin, und neben ihr zwei Lehrerinnen als Assistenten. Es ist aber 
der Wunsch geäußert worden, daß Studenten aus der Universität und 
Mitglieder der Kinderforschungsgesellschaft auch an der praktischen 
Arbeit teilnehmen werden. 

Die wissenschaftlichen Methoden, nach welchen wir arbeiten wollen, 
können in drei Gruppen eingeteilt werden: 

1. Aufarbeitung von Gruppenbeobachtungen; es wird durch 
ein Mitglied des Institutes derzeit an einem Werk gearbeitet, welches 
die Ergebnisse der Probeaufsicht verhandelt; eine statistische und er- 
klärende Aufarbeitung der Lebensgeschichte solcher jugendlicher Ver- 
brecher, welche unbestraft unter Probeaufsicht gelassen wurden. 

2. Aufarbeitung von Einzelfällen; hier wird derweil über 
ein psychographisches Schema gearbeitet, welches zur Darstellung lehr- 
reicher Einzelfälle geeignet wäre. Nebenbei werden von einigen Mit- 
gliedern des Institutes ihre wichtigsten Einzelfälle kasuistisch be- 
arbeitet. 

3. Experimentelle Arbeiten. Es wird zurzeit neben den 
experimentellen Untersuchungen für das Jugendgericht eine Sammlung 
der selbstgeschriebenen Lebensgeschichte der im Beobachtungsheime 
sich befindlichen Kinder und Jugendliche verfertigt und bearbeitet. 


4. Kriminalpädagogisches Museum. 


Die Wichtigkeit eines Museums, in welcher wir das Sammeln 
und Bearbeiten für die kriminalpädagogischen Forschungen lehrreicher 
Objekte beabsichtigen, habe ich weder vor Kriminalisten noch vor 
Pädagogen eingehend zu begründen. Wir setzen uns denselben 
Zweck, den Hans Gross für sein Kriminalmuseum festgestellt hat: 
»die Grundlage bei den Vorträgen über Kriminalistik zu bilden und 
Lehrobjekte abzugeben, andererseits Vergleichsgegenstände in prakti- 


Kärmän: Ein kriminalpädagogisches Institut. 401 





schen Fällen zur Verfügung zu stellen.« Ich verweise also auf die 
von Kriminalisten wohlbekannte Schriften von Gross über sein Kriminal- 
museum und über kriminalistische Institute. Nach der pädagogischen 
Seite der Frage halte ich die neuerdings erschienene Schrift von 
Aloys Fischer: »Die Bedeutung pädagogischer Sammlungen und die 
Gesichtspunkte für eine Sammlung von Kinderdokumente«!) für muster- 
haft und versuche die dort angeführten Vorschläge auch für jugend- 
kriminalistische Zwecke zu verwerten. 

Für das Grundprinzip des Grossschen Museums, durch welches 
diese Institutssammlung von allen europäischen Kriminalmuseen, die 
meistens doch besser oder weniger gut ausgestattete Raritätenkabinette 
sind, grundsätzlich sich unterscheidet, halte ich einerseits den Lehr- 
zweck, andererseits die Durchführung des sozialen und psychologi- 
schen Momentes. In seinem Museum sieht man nicht ausschließlich 
die sogenannten interessanten Dinge, sondern die Gegenstände des wirk- 
lichen Lebens; wir müssen alles, was vorkommt, sammeln, denn das 
bewegende Leben bringt nicht nur wichtige, sondern auch unbedeutend 
erscheinende Dinge hervor, und wenn wir das Leben kennen wollen, 
können wir aus vorgefaßten Zwecken keine Schranken legen. Anderer- 
seits dringt das soziale Moment eben durch dieses vorurteilslose Dar- 
stellen vor: wenn ich zeigen kann, daß in meinem Gerichtssprengel 
jährlich enorme Mengen von Revolvern, durch welche schwere Ver- 
letzungen verursacht wurden, aus Kinderhänden genommen worden 
sind: so zeigte ich die Gefährlichkeit unserer Einrichtungen solchen 
Leuten, die darüber lächeln, daß Kinder auf der Gasse mit Pistolen 
spielen. Endlich: das Sammeln der Gegenstände darf kein Selbst- 
zweck werden, sondern muß psychologischen Zwecken dienen; die 
Menge von falschen Siegeln und Legitimationen z. B., welche einen 
hochinteressanten Teil des Grossschen Museum bilden, ist nicht bloß 
eine Sammlung von Falsifikaten, sondern bietet einen viel ausreichen- 
deren Blick in das Seelenleben der Fälscher und Landstreicher als 
manche dicke Bücher. Diese Grundsätze wollen wir nun auf die 
Jugendkunde der verwahrlosten und verbrecherischen Jugendlichen 
anwenden und die psychologischen und sozialen Momente aus den 
Gegenständen lernen. Wie man an anderen Kinderdokumenten die 
schaffende Arbeit und die schönen, guten Begabungen des Kindes 
zeigen will, so zeigt unser Museum die meistens traurige Seite des 
Kinderlebens: die zerstörende Arbeit und die gefährlichen Neigungen. 


1) Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung. Heft 122. Langensalza, 
Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann). 
Zeitschrift für Kinderforschung. 21. Jahrgang. 26 


402 A. Abhandlungen. 





Es bleiben aber die tröstenden Momente auch nicht aus: unsere 
Sammlung zeigt sehr viele Beispiele von außerordentlichen Begabungen, 
insbesondere Zeichnungen und Malereien von verwahrlosten Kindern, 
die dann durch diese Begabungen gerettet werden können. 

Unsere Sammlungen enthalten folgende Hauptabteilungen: 

I. Sammlungen der Laboratoriumsarbeiten: 

a) Die Beschreibungen der einzelnen Fälle und Beobachtungen 
und Protokolle der experimentellen Untersuchungen. Die Gutachten 
der Untersuchungen bleiben bei den Gerichtsakten, das Material bleibt 
im Museum aufbewahrt. 

b) Photogramme, anthropologische Messungen, Handschriften von 
verbrecherischen Kindern und Jugendlichen. 

II. Gegenstände, und zwar: 

a) die aus den Straffällen hervorgegangene corpora delicti; vorläufig 
bearbeiteten wir die der zweijährigen Praxis des Jugendgerichtes 
Erzsebetfalva auf; mit der Zeit wollen wir mit Hilfe der Justizregierung 
auch andere Gerichte um das Abtreten der Gegenstände ersuchen; 

b) kinderpsychologische Dokumente der verwahrlosten und ver- 
brecherischen Kinder. 

1. Lebensbeschreibungen ; 

2. Zeichnungen; 

3. in der Werkstatt produzierte Gegenstände; 

4. andere Produkte des kindlichen Schaffens. 

Die Registrierung, Behandlung und das Ordnen der Gegenstände 
wird völlig nach dem Vorbilde des Grazer kriminalistischen Institutes 
durchgeführt. 

5. Wissenschaftliches Organ. 

Das Institut beabsichtigt unter dem Titel: »Mitteilungen des 
kriminalpädagogischen Institutes Budapest-Erzsöbetfalva« eine in zwang- 
losen Heften erscheinende periodische Schrift in ungarischer und 
deutscher Sprache einzuführen. Bis dorthin wollen wir unsere Arbeiten 
in dem ungarischen »Kriminalistisches Archive (»Bünügyi Bremle,« 
redigiert von Universitätsprofessor Paul von Angyal) und in der 
pädologischen Zeitschrift der ungarischen Kinderforschungsgesellschaft: 
»Das Kind« (»A Gyermek,« redigiert von Seminardirektor Ladislaus 
von Nagy) veröffentlichen. (Eine Arbeit »Über die Methoden der 
Forschung verbrecherischer Jugendlichen« vom Verfasser dieser Zeilen 
und eine Arbeit über »Die psychologischen Grundlagen der Kriminal- 
pädagogik« von der Leiterin unseres Laboratoriums Frau Dr. Marga- 
rete Révész sind in der letzteren Zeitschrift bereits erschienen.) In 
deutscher Sprache veröffentlichen wir unsere Arbeiten je nach dem 


Kärmän: Ein kriminalpädagogisches Institut. 403 





kriminalistischen oder pädagogischem Inhalte in dem von Professor 
Dr. Hans Gross begründeten bei F. C. W. Vogel in Leipzig heraus- 
gegebenen »Archiv für Kriminologie,« und in der von Direktor 
J. Trüper bei Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza 
herausgegebenen »Zeitschrift für Kinderforschung und Heilerziehung«. 


Literatur. 


Einen vollständigen Literaturnachweis an dieser Stelle anzuführen, erscheint 
unmöglich, da man alle einschlägigen Werke angeben müßte, die mit dem Jugend- 
rechte und Pädagogik sowie Kriminalistik der Jugendlichen sich befassen und anderer- 
seits, weil meine Arbeit mehr eine Darstellung meiner Versuche, als eine wissen- 
schaftliche Arbeit sein wollte. Ich habe daher nur die Literatur des ungarischen 
Jugendrechtes, welche in deutscher Sprache erschienen ist, und einige grundlegende 
deutsche Werke angegeben, welche die Grundprinzipien enthalten. Die psychologi- 
schen Grundlagen sind aus den Vorlesungen meines Vaters: Dr. M. von Kärmän 
und aus seinen in ungarischer Sprache erschienenen »Pädagogischen Arbeiten» ent- 
nommen. 

Ungarisches Jugendgerichtsrecht. 
Vambörg, Das ungarische Jugendgerichtsgesetz. G. A. VII. vom Jahre 1913. 
Sammlung außerdeutscher Gesetze herausgegeben von Guttentag. Berlin. 


Heller, Die Reform des Jugendstrafrechts in Ungarn. Zeitschrift für die gesamte 
Strafrechtswissenschaft. Bd. 31, S. 616 und Bd. 34, S. 885. 

Kärmän und Auer, Jugendstrafrecht und Jugendgerichte in Ungarn. Archiv für 
Kriminalanthropologie und Kriminalistik. 

Harmat, Über den ungarischen Vorentwurf zu einem Gesetz über das Verfahren 
in Strafsachen von Jugendlichen. Zeitschrift für die gesamte Strafrechswissen- 
schaft. Bd. 34, S. 715. 


Kriminalistik und Kriminalpsychologie der Jugendlichen. 


Gross, Kriminalpsychologie. Leipzig, Vogel, 1905. 

Gross, Über die strafrechtliche Behandlung jugendlicher Personen. Gesammelte 
Aufsätze. Bd. II, S. 249. 

Friedrich, Die Bedeutung der Psychologie für die Bekämpfung der Verbrechen. 
Hannover, Helwing, 1915. 


Pädagogik und Kinderforschung. 
Pestalozzi, Wie Gertrud ihre Kinder lehrt. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne 
(Beyer & Mann). 
Pestalozzi, Lienhard und Gertrud. Ebenda. 
Herbart, Umriß pädagogischer Vorlesungen. Ebenda. 
Rein, Pädagogik in systematischer Darstellung. Ebenda. 


J. Petersen, Die Jugendfürsorge. 
Wiget, Die Grundlinien der Erziehungslehre Pestalozzis. Leipzig, Köhler, 1915. 
Natorp, Pestalozzi. Berlin, Teubner. 


Über kriminalistische Institute, 


Gross, Handbuch für Untersuchungsrichter. 6. Aufl. München, Schweitzer, 1913. 
Gross, Gesammelte Aufsätze. Bd. I, S. 82, 89, 97, 114; Bd. II, S. 261, 276. 


re 26* 





404 B. Mitteilungen. 





B. Mitteilungen. 


1. Wie ich Memorierstoffe behandle und wie ich sie 
verwerte. 
Eine pädagogische Studie 
von Sofie Mical, städtische Kindergärtnerin in St. Pölten (Nieder-Österreich). 

Unter den Aufgaben, die einem jugendkundlich orientierten Unter- 
richte gestellt sind, befindet sich auch die, an der Hand von Aufzeichnungen 
zu erforschen, welche Memorierstoffe von Kindern gerne gelernt werden. 
Die Aufzeichnungen sollen bei der Zusammenstellung der Schullesebücher 
Verwertung finden. 

Zu dieser Arbeit müssen wohl Lehrer und Lehrerinnen herangezogen 
werden. Sie haben die Aufgabe, zu beobachten und ihre Erfahrungen 
dann in den Dienst der Wissenschaft zu stellen. Leider ist es dem Lehrer 
nicht gestattet, sich völlig frei von allen Normen dieser schönen Aufgabe 
zu unterziehen. Der Lehrplan erlaubt dem Lehrer nicht, seine Memorier- 
stoffe ganz ungezwungen zu wählen; das Untersuchungsfeld ist für ihn 
begrenzt. 

Dieser Umstand veranlaßte mich, meine Erfahrungen als Kinder- 
gärtnerin in den Dienst der Untersuchungen zu stellen, denn wir Kinder- 
gärtnerinnen müssen (Gott sei dafür Dank) kein ganz engbegrenztes Lehr- 
ziel erreichen; unsere Aufgabe ist es, die naturgemäße Entwicklung des 
Kindes zu leiten und zu unterstützen. Was das Kind auf der Altersstufe 
des Kindergartens gerne hört, was ihm Freude macht, das wird auch den 
Weg zeigen, den man einschlagen muß, um die Kinder einer höheren 
Altersstufe für Gedichte und Lieder zu interessieren. 

Ich hoffe, daß meine gewissenhaften Aufzeichnungen ein kleiner Bei- 
trag zur großen Arbeit auf dem Gebiete der Volkserziehung werden 
können, und stelle sie der Wissenschaft zur Verfügung. 

Das Schuljahr beginnt in St. Pölten am 15. September. Dadurch 
tritt bei Behandlung der Memorierstoffe der Herbst zuerst in sein Recht. 

Das erste Sprüchlein galt dem Drachen. Die Herbstwinde gaben 
Anlaß, vom Drachen zu sprechen. Ein schöner Herbstnachmittag wurde 
benützt, die Kinder auf eine Anhöhe zu führen und den Knaben die dort 
spielten, zuzusehen, wie sie Drachen steigen ließen. Am nächsten Vor- 
mittage verfertigte ich mit Beihilfe der Kleinen schlecht und recht, so 
gut ichs eben konnte, einen großen Drachen. Als er fertig war, wurde 
er als Zimmerschmuck verwendet. Während der Arbeit sprach ich den 
Kindern das Sprüchlein: 


Seht den großen Vogel an, In den Himmel, in den blauen, 
Wie er lustig fliegen kann. Und sein Mund so lang und breit 
Herrlich schwebt er überm Hügel Lacht in stiller Heiterkeit. 

` Und er hat doch keine Flügel; Auf dem Hügel steht ein Haus, 
Denn das ganze, große Tier Über das fliegt er hinaus 
Ist ja nur aus Packpapier. Übers rote Ziegeldach. — 


Fröhlich seine Augen schauen Und der Schweif kommt hinten nach. 


1. Wie ich Memorierstoffe behandle und wie ich sie verwerte. 405 


Nach allem, was die Kinder vorher gesehen hatten, machte das 
Sprüchlein einen gewaltigen Eindruck. »Bitte, Tante, noch einmal sagen« 
gings nun eine Weile fort und immer und immer wieder mußte ich von 
vorne anfangen, sobald ich zu Ende war. Bald mischten sich schüchtern 
einzelne Stimmen darein. 

Am Nachmittage durften die Kinder aus Faltblättern kleine Drachen 
anfertigen. Während ihrer Arbeit, bei der die Kinder mit Leib und Seele 
waren, fing ich wieder an, das Sprüchlein zu memorieren. Da gingen die 
kleinen Plappermäulchen der drei- bis sechsjährigen ganz lustig mit, und 
es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, daß am nächsten Vormittage, 
als die gefalteten Drachen aufgeklebt und von jedem Kinde individuell 
verziert wurden, die Kinder ganz von selbst und beinahe ohne Stocken 
das Sprüchlein vom Drachen hersagten. 

Um die Kinder durch längere Zeit an den Memorierstoff zu erinnern, 
ohne durch wiederholtes absichtliches Memorieren ihnen die Sache zu ver- 
ekeln, wurde die Wandtafel mit einer Zierleiste aus gefalteten Drachen 
geschmückt, ebenso wurden die von den Kindern aufgeklebten Drachen 
zur Ausschmückung der Wände benützt. Das Sprüchlein ist heute Eigen- 
tum der Kinder, sie sprechen es bei jeder passenden Gelegenheit ganz 
von selbst, sogar die ganz kleinen Dreijährigen plappern lustig mit, so 
gut sie’s können. 

Der Drachen wird immer und immer wieder ein willkommener Anlaß 
zu poetischen Kundgebungen der Kleinen sein. Die Kinder der Vorschul- 
Stufe können aber noch nicht selbst Reime schmieden, darum macht es 
ihnen Freude, wenn ihnen der Erzieher entgegenkommt und ein Drachen- 
sprüchlein vorsagt. Die Kinder sind dann sehr zufrieden, wenn sie es 
nachsagen können und wenn es nach und nach ihr geistiger Besitz wird. 

Im Anschlusse an den Drachen wurde beobachtet, was der Wind alles 
macht. Die Kinder fanden bei einem andern Spaziergang Gelegenheit, das 
Fallen des Laubes zu beobachten; die bunten Blätter wurden gesammelt 
und später Kränze daraus gemacht. Auch einfache Blattformen ließ ich 
von den Kindern auf Papier konturieren. Es wurde vom Winde geplaudert 
und erzählt und schließlich fragte ich meine Kleinen, ob sie vom Winde 
etwas Hübsches lernen wollten. Ein vielstimmiges »Ja« war die Antwort. 
Der Text eines Liedes, das später als Kreis- und Darstellungsspiel ver- 
wendet wurde, ward den Kindern auf ähnliche Weise wie das Drachen- 
sprüchlein beigebracht. 

Im Laufe des Schuljahres 1911—1912 wurden 23 Memorierstoffe 
auf die oben angeführte Weise durchgenommen. 

Ich will nun die Titel der 23 Sprüchlein und Lieder, wie sie der 
Reihe nach durchgenommen wurden, anführen. 


1. Der Drachen 7. Der Mond 

2. Wenn das Laub fällt 8. Eisblumen 

3. Die Drehorgel 9. Der Reif 

4. Sauerkraut 10. Der Schneemann 
5. Heute kommt der Nikolaus 11. Beim Dreschen 
6. Ein Brief ans Christkind 12. Schneeglöckchen 


406 B. Mitteilungen. 





13. Die Lerche 19. Regenlied 

14. Die Hühner und der Osterhase 20. Feldarbeit 

15. Osterputzerei 21. Beim Erdbeerpflücken 
16. Das Veilchen 22. Juli 

17. April 23. Morgengebet. 


18. Schmetterling 


Bei meinen Kindern spielt der Titel wohl keine Rolle, ich sage ihn nicht 
einmal, wenn ich ein neues Lied oder ein neues Sprüchlein bringe, denn 
nach meiner Meinung und Erfahrung, verliert das Sprüchlein viel von 
seiner Ursprünglichkeit, wenn der Titel den Vorläufer bildet und so schon 
im Vorhinein als Lehrstoff empfunden wird. Diese Erfahrung bringt uns 
zu dem Schlusse, daß auch das Kind durch aufgetragene Absichtlichkeit 
verstimmt wird. 

Es ist merkwürdig, daß die Kinder oft, wenn sie das Sprüchlein 
schon können, sich selbst einen Titel zurechtzimmern, der dann meistens 
das heraushebt, was den Kindern am besten gefällt. Auch die ersten Vers- 
zeilen werden oft als Titel angewendet, doch nicht früher, als bis die 
Kinder in den Besitz eines neuen Gedichtes oder Liedes getreten sind. 


Aus den 23 Memorierstoffen sprachen meistens 1—2 oder auch mehr 
Verszeilen die Kinder ganz besonders an. Für meine Arbeit ist das Heraus- 
heben dieser Verszeilen von großer Wichtigkeit, darum werde ich sie auch 
besonders erwähnen. 

[Das Komische, Beim Drachensprüchlein waren die Verszeilen ‚denn das 
der Rhythmus, ganze große Tier ist ja nur aus Packpapiere — 
die Sehlußzeilen.] und: sübers rote Ziegeldach und der Schweif kommt 
hintennach — besonders bevorzugt. Das grotesk Komische hat hier 
Eindruck gemacht, ebenso leichtfließender Rhythmus. Die Schlußzeilen 
werder immer besonders gerne gesprochen. 

[Nachahmung von Natur- Mm 2. Sprüchlein: »Wenn das Laub fällt« waren es 
lauten und das Erleben die Verse »und bläst so laut hu, hu, er schüttelt 

RN ihre Zweige und wirft dann das Laub uns zu, 
die Eindruck machten. Ich glaube, daß hier das Nachahmen des Windes 
und der Umstand, daß die Kinder den Laubfall in der Natur erlebten, 
eine große Rolle spielen. 


[Leicht bewegter Rhythmus Beim Drehorgelspiel hat der Rhythmus die Kinder 

und die Schlußvorse.] sofort zu Dreh- und Tanzbewegungen verlockt. Die 
Verse: »Immer geht’s im Kreise, frohe Kinderweise« wurden mit 
Begeisterung gesungen. Meine Beobachtungen haben ergeben, daß gerade 
die letzten Verse eines Gedichtes die Kinder meistens dazu veranlaßten 
sie besonders laut und kräftig zu rezitieren. Auch beim 4. Sprüchlein 
sind wieder die Schlußverse die beliebtesten: »Bleibt dann stehen zu- 
gedeckt, bis es gut und sauer schmeckt.« Hier muß ich erwähnen, 
daß die Kinder unter meiner Anleitung im Kindergarten wirkliches Kraut 
schneiden, einsalzen und stoßen durften, was ihnen großen Spaß machte. 


[Erleben des Stoffes.) Das Sprüchlein vom Nikolaus löste den hellen Jubel der 
Kleinen aus durch seine Schlußverse: »Mäuschenstill im ganzen 


1. Wie ich Memorierstoffe behandle und wie ich sie verwerte. 407 


Haus heute kommt der Nikolaus.« Hier wirkte auch das Weben 
des Geheimnisvollen auf die Gemüter der Kleinen. 
[Situationskomik.] Beim »Brief ans Christkind« waren die Lieblinge der 
Kinder die Stellen: Denn sonst gibt es meiner sechs, einen großen, 
garst’gen Klecks. — Federist so schwer und naß, marsch damit 
ins Tintenfaß! — Punkt gemacht und damit Schluß. Hier sind 
Situationskomik und Schlußverse für die Beliebtheit maßgebend. Vom 
»Mondliede« galten die Zeilen am meisten: Kennst du den dicken, 
den runden, den hellen Gesellen der Nacht? 
[Das Komische, das Gleichlautende, Das Komische und das Gleichlautende, der 
der Gleichklang, das Sangliche] Gleichklang, das Sangliche, fanden und finden 
offene Kinderohren. 
[Märchenhafter Inhalt Dem Gedichte von den »Eisblumen« brachten die Kinder 
a Kae großes Interesse entgegen. Hier fesselte der Inhalt die 
Schlußzeilen.] Kinder. Auch die direkte Rede des Winters fand großen 
Beifall. Noch mehr als das eben angeführte Gedicht gefiel das Sprüch- 
lein vom Reife. Die Verse »Zucker, Zucker überall, aller End und 
Ecken, ausgestreut auf Berg und Tal, ei da gibt’s zu lecken!« 
und »hu, der ist ja kalt und naß, mußt es grad verspüren. Ei, 
Herr Winter, schickt sich das, mich so anzuführen?« waren die 
bevorzugten. Auch hier sind es wieder die gleichlautenden Wörter, Aus- 
rufe und die Schlußzeilen des Gedichtes, die das Entzücken der Kinder 
hervorrufen. 

Das Lied vom »Schneemann« war nach meiner Beurteilung eines 
von jenen, die die Kinder am allerliebsten lernen. Warum? Weil es so 
einfach im Aufbau ist. Außerdem wird das Kind veranlaßt, all das zu 
tun, was im Texte vorkommt. Wenn aber irgend welchen Zeilen ein 
Vorzug gegeben wurde, so waren es die folgenden: »Tralala und 
hopsasa, grüß dich Gott Herr Vetter, morgen sind wir wieder 
da, wenn nicht taut das Wetter. Es sind wieder die Gleichklänge 
und die Schlußverse, sowie der komische Inhalt, die für die Beliebtheit 
des Ganzen sprechen. 

[Direkte Red.] Beim »Dreschen« ist es die direkte Rede, die den Kindern 

besonders gefällt. Da in diesem Liede sehr viel direkte Rede Anwendung 

findet, gehört es zu den Lieblingen der Kinder. 

[Gleichklang und Die Gleichklänge: »tack, tack, tack« und »tick, tick, tick« 
Ehythmus:) und »tapp, tapp, tapp« werden mit Vorliebe gesungen. Der 

leichte und sangliche Rhythmus des Liedes dürfte wohl auch Ursache der 

Beliebtheit sein. 

Das Lied vom Schneeglöckchen wurde von mir, ohne alle Absicht 
die Kinder zum Mitsingen zu veranlassen, vorgesungen. Es steht außer 
meiner Beurteilung, ob die reizende Melodie oder die Worte des Liedes 
Anlaß waren, daß die Kinder mich baten, ihnen das Lied noch einmal vor- 
zusingen, nur das kann ich bezeugen, daß das Lied sowohl sanglich als 
textlich tadellus von den sechsjährigen Kindern gebracht wurde, und hier 
ganz besonders gilt das Wort »sie lernten spielend«. 

»Die Lerche,« ein Lied, veranlaßt mich, zu erzählen, wie und was 


aa = 
CO U E - a oaol 


408 B. Mitteilungen. 


dabei gesprochen wurde und welch nachhaltigen Eindruck gerade dieses 
Lied gemacht hat. Bei einem Spaziergange sahen wir die ersten Lerchen 
und hörten ihrem Getriller zu. 

Am darauffolgenden Vormittag plauderten wir über die Lerche. Ich 
erzählte den Kindern, daß die Lerche im Herbste auf die Wanderschaft 
gehe, daß sie eine weite, weite Reise mache. Ich sprach von dem großen, 
großen Wasser, das viel, viel größer sei als unser Fluß, die Traisen, ich 
sprach vom Meere. Da ertönte die Stimme eines fünfjährigen Knaben. 
»Tante, ich habe das Meer gesehen in Zara und in Pola und in Triest.« 
Der Kleine ist der Sohn eines Offiziers, der in den genannten Städten in 
Garnison gewesen war. Der Knabe erzählte mit erstaunlicher Gewandt- 
heit vom Meere, von den verschiedenen Schiffen, Seglern, Kriegsschiffen, 
Barken usw. Ich zeigte den Kindern, wie man aus Papier verschiedene 
Schiffe falten kann, verwendete die große Wandtafel, um die von mir ge- 
falteten Modelle der Schiffe zu einem Bilde zu gruppieren und stellte mit 
farbiger Kreide die Wasserwellen her. 

Der Knabe versicherte, daß das Bild an der Tafel gerade so aussehe, 

wie der Hafen von Triest. 
[Hang zum Wunder- Von nun an wurde jede Gelegenheit, die den Kindern 
baren, Großen, Neuen.) ein freies Gestalten erlaubte, benutzt, um immer wieder 
Schiffe, Meer und Lerchen zu zeichnen, zu falten, zu formen und auszu- 
schneiden. Daraus ersah ich, welch großen Eindruck dieser Stoff auf die 
Kinder gemacht hatte. Mit diesem Liede tritt ein neuer Faktor auf, der 
Hang zum Wunderbaren, Großen, Neuen. 

Die herannahende Osterzeit gab Anlaß, über Hase, Hühner und Eier 
zu sprechen. Es war selbstverständlich, daß auch hier ein passendes Spiel 
zur Anwendung kam. Es war eine Wechselrede zwischen Hennen, Hahn 
und Osterhase. Die Verszeilen: »Ei ihr Hennen kommt zu mir, 
bringt von da und dort und hier eure Siebensachen« und die darauf 
folgenden »Und die Hennen ga, ga, ga, eilen her von fern und 
nah, immer geht’s geschwinder,« sowie die Schlußverse: »Österhas 
sagt danke schön, übers Jahr auf Wiedersehn, zu der Frühlings- 
feier. Eilt dann schnell zum Walde fort, sitzet still und malet 
dort bunte Östereier,«e wurden von den Kindern am liebsten gesagt 
und gesungen. Auch muß es auffallen, daß wieder die direkte Rede, die 
Gleichklänge und der Schluß des Sprüchleins als das Liebste am Ganzen 
angesprochen wurde. 

Anschließend an den oben angeführten Gesprächstoff wurde vom 
großen Reinemachen vor den Österfeiertagen geplaudert. Der ganze An- 
schauungsstoff sprach die Kinder in hohem Maße an, und als nun noch 
ein Lied mit den dazu passenden Tätigkeiten aufmarschierte, gewann die 
Österputzerei in den Augen der Kinder den richtigen Reiz. Das Lied 
gehörte ebenfalls zu den von den Kindern besonders bevorzugten. 

Hier dürfte der einfache Strophenbau nebst dem leichtfaßlichen Texte 
die Anziehungskraft besessen haben. Auch hier wurden die Schlußverse: 
»Räumen dann recht hübsch und fein unser Zimmer wieder 
ein« mit ganz besonderer Hingebung gesprochen. 


1. Wie ich Memorierstoffe behandle und wie ich sie verwerte. 409 





Von den reinen Memorierstoffen hat der April, in bezug auf Be- 
liebtheit, die erste Stelle eingenommen. Ich will das kurze Verslein an- 
führen: 


Das ist ein närrisches Wetter fürwahr. |Da ziehen dunkle Wolken herauf 
Erst hat es geregnet, jetzt schneit es gar, | Und essen die leuchtende Sonne auf, 


Und nun scheint die Sonne wieder. Ganz finster und schwarz wird der Himmel. 
Der Himmel wird rein, Nun kommt auch der Wind 

Die Vögelein klein, | Und gar geschwind 

Die singen fröhliche Lieder. | Gibt's wieder Flockengewimnel. 


Potz Regen und Schnee und Sonnenschein! 
Was soll das für eine Wirtschaft sein? 
Was sind das für närrische Sachen? 

Das ist der April. 

Der tut was er will, 

Bald weinen und bald wieder lachen. 


[Tägliches Erleben Wer sich des Aprils vom Jahre 1912 erinnert, der wird 
des Memorierstoffes.] begreifen, daß bei solchem Aprilwetter das Gedicht An- 
wert finden mußte, 


[Komischer Inhalt) Es bestätigt sich der schon einmal aufgestellte Satz: 
»Lasse die Kinder den Memorierstoff erlebt haben,« ganz besonders bei dem 
obenstehenden Verschen. Außerdem wirkte auch der komische Inhalt des 
Gedichts und die ersten Zeilen der dritten Strophe wurden sogar mit 
Gesten der Unlust, mit Stampfen und in erzürntem Tone köstlich wieder- 
gegeben. 

[Refrain. — Schlußverse. Das Lied vom Schmetterling gefiel hauptsächlich wegen 
— Erleben des Stoffes.) des Endreimes. Z. B. bei der ersten Strophe: »Tanzet 
im Garten umher, umher, tanzet die Kreuz und die Quer, die 
Quer.« Bei der zweiten Strophe: »Grüßet lieb Röselein fein gar 
fein, kann ja nicht lang bei dir sein, nein, nein.« Bei der dritten 
Strophe: »Sagt ihr ein freundliches Wort, ein Wort; gleich ist 
der Schmetterling fort, fort, fort.« Bei der vierten Strophe: 
»Blühend auf grünender Au, der Au; kennt er auch alle genau, 
genau.« Bei der fünften Strophe: »Selten nur rastet er auch, er 
auch. Das ist so Schmetterlingsbrauch, sein Brauch.« 


Wie sie es bei allen Liedern machten, die einen Naturstoff behandeln, 
so begannen die Kinder auch jedesmal dieses Lied zu singen, wenn ein 
Schmetterling in ihr Gesichtsfeld kam. 


[Gleichklang. — Der regenreiche Frühling gab mir Gelegenheit, über den 
Regenstimmung. — Regen zu plaudern. Anschließend an die Plauderei wurde 
Gefühlsworte.] in Regenliedchen von mir vorgesungen, das sofort 
freudig aufgenommen wurde. Ganz besonders gut gefiel die erste Strophe 


des Liedes: »Nur Wasser, nur Wasser — es wird immer nasser 
— es regnet pitsch, patsch — es regnet klitsch, klatsch — es 
regnet pitsch, patsch — und es regnet klitsch, klatsch.« Bei 


diesem Liede war jedenfalls die in der ersten Strophe zum Ausdruck ge- 


410 B. Mitteilungen. 





brachte Regenstimmung die Ursache der Beliebtheit. Auch drei- bis sechs- 
jährige Kinder haben schon ein offenes Gemüt für Stimmungen. 

[Erleben des Das folgende Lied von der Feldarbeit war ein Lieblings- 
Memorierstoffes.] lied sämtlicher Zöglinge. Hier war der Inhalt des Liedes 
das Anziehende Bei den vielen Spaziergängen konnten sie immer und 
immer wieder den Inhalt des Liedes erleben. Auch die Spielweise gefiel 
den Kindern ganz außerordentlich. 
| Pisderolang de der detzten DaS darauffolgende Lied »Beim Erdbeerpflückene 

erazeilen. ne sangen die Kinder ebenfalls sehr gern. Sowohl der 

Stoff, als auch die Wiederholung der letzten Vers- 
zeilen waren es, die das Spiel beliebt machten. |: »Geht’s hinaus zum 
Erdbeerpflücken, heißt es schnell den Rücken bücken.« :| Aber 
ganz besonders bevorzugten die Kinder die Zeilen: »Guck, die Lene 
und Marei — wie so stumm sind doch die Zwei — |: Sitzen 
dort im hoben Grase — rot die Händchen, rot die Nase: — 
Jedes noch das Mäulchen leckt — ach wie hat’s so gut ge- 
schmeckt — |: Töpfchen leer und vollder Magen — ei was wird 
die Mutter sagen.« !| 

[Die Freude am Erlernen DaS Gedicht vom Juli fand von allen Memorierstoffen 
der Memorierstoffe ist nicht am wenigsten Anklang. Die Ursache des ver- 

ininer pieich grot] minderten Interesses dürfte sowohl die Hitze, als 
auch der Umstand gewesen sein, daß die Kinder im Sommer die freien 
Spiele in Garten und Feld allen andern Spielen vorziehen. Ein Morgen- 
gebet, das von mir zur Abwechslung vorgesungen wurde, bildete den 
Schluß aller Memorierstoffe des Jahres. 

Daß die Kinder gerade diesen Stoff so leicht und gerne aufnahmen, 
hat wohl seine Ursache darin, daß von meiner Seite gar kein Zwang aus- 
geübt wurde und daß sie gerade die vollständige Absichtslosigkeit zum 
Nachsprechen veranlaßte. 

[Ethische Be- Bei Gedichten ethischen Inhalts wird durch aufgetragene Ab- 
weggründe] sichtlichkeit nur zu oft das Gegenteil von dem erreicht, was 
man beabsichtigt. 

Nachdem ich die von den Kindern ganz besonders bevorzugten Stellen 
der einzelnen Gedichte hervorgehoben habe, erübrigt nur noch die Zu- 
sammenfassung dessen, was die Kinder gerne lernen. 

Als erstes will ich anführen: »Alle 23 Memorierstoffe des Schuljahres 
1911—12 wurden leicht und gerne erlernt, man konnte bei den Kindern 
kein Zeichen von Ermüdung und Unlust beobachten. Die Kinder hörten 
mit freudig glänzenden Augen und mit vor Staunen offenen Mäulchen zu. 
Nur zwei Memorierstoffe wurden im Laufe des Schuljahres 1911—12 nach 
ein- oder zweimaligem Zuhören abgelehnt; das heißt die Kinder ver- 
suchen nicht mitzusprechen. Diese Stoffe wurden von mir als verfehlt 
ad acta gelegt. 

Die Memorierstoffe zerfielen in fünf reine Memorierstoffe, drei Memo- 
rierstoffe von Tätigkeiten begleitet, drei Memorierstoffe mit Gesang und 
zwölf Memorierstoffe mit Gesang und Tätigkeiten. 

Memorierstoffe, die gesungen werden können und die die Aus- 


1. Wie ich Memorierstoffe behandle und wie ich sie verwerte. 411 





führung von Tätigkeiten gestatten, nehmen in bezug auf ihre Beliebtheit 
die erste Stelle ein. An zweiter Stelle stehen die Memorierstoffe, die ge- 
sungen werden können; diesen folgen die Memorierstoffe, die eine Tätig- 
keit erfordern, und zuletzt kommen die reinen Memorierstoffe. 

Aus meinen Ausführungen ergeben sich folgende Gesichtspunkte: 

Als Erstes und Wichtigstes gilt der Grundsatz: »Alle Memorierstoffe 
müssen an Erlebtes anknüpfen, wenn sie bei den Kindern Interesse er- 
wecken sollen, deshalb müssen sie sich in die Jahreszeiten einfügen. 

Als Zweites ist zu bemerken: Der Rhythmus der Gedichte soll ein- 
fach sein. Ganz besonders beliebt sind solche Memorierstoffe, die Tier- 
stimmen nachahmen, Freudenrufe und Geräusche mitbringen. Anhäufung 
gleichlautender Worte macht den Kindern viel Freude. 

Weiter geht aus meinen Ausführungen hervor, daß in zehn Fällen 
die Schlußverse ganz besonders gefielen. 

In vier Fällen wurde dem Rhythmus große Aufmerksamkeit zugewendet. 

Viermal war das Komische, der Gleichklang, die direkte Rede und 
das Öftere Erleben des Stoffes Ursache der Beliebtheit des Memorierstoffes. 

In drei Fällen spielte das Geheimnisvolle und in einem Falle das 
Wunderbare, das Große, Neue die erste Rolle bei den Kindern. 

Das ethische Moment war zweimal, die Stimmung, die in den Versen 
zum Ausdrucke kam, einmal ausschlaggebend für die Beliebtheit des Memo- 
rierstoffes. Die Nachahmung von Naturlauten und Gefühlswerten waren je 
einmal maßgebend für das Gefallen der Gedichte. 

Nun wäre noch die zweite wichtige Frage zu beantworten: »Wie 
lernen Kinder die Memorierstoffe gern ?« 

Durch meine fünfundzwanzigjährige Praxis bin ich zu der Erkenntnis 
gekommen, daß alle Kinder Freude haben am Reimgeklingel, am Rhyth- 
mus, an der Musik, am Singen. 

Gibt man den Kindern keine Gelegenheit, für ihr Alter, besser ge- 
sagt für ihre Jugend passende Lieder und Sprüche zu erlernen, dann 
ahmen sie die leider oft ganz poesielosen Lieder und Sprüche der Großen 
nach. ÖOrdinäre Gassenhauer und die Errungenschaften der Heurigen- 
schenken und der Nachtkaffeehäuser usw. nsw. werden von den Kleinen 
aufgefangen, nur um ihre Lust am Reimgeklingel zu stillen. 

Der Erzieher wird trachten, diese Freude am Reime in edlere Bahnen 
zu lenken. Er wird die Stoffe aus dem Gesichtskreise der Kleinen nehmen. 
Weit gefehlt wäre es nun, wenn der Erzieher das Memorieren zwangs- 
weise betriebe; die Absicht, den Kindern Freude zu bringen, wäre dadurch 
vom Anfange an verfehlt und vernichtet. Ich habe schon am Anfange 
meiner Arbeit angegeben, wie ich Memorierstoffe vorbereite und meine Er- 
folge haben mir gezeigt, daß ich den rechten Weg gehe. 

Ich lasse die Kinder zuerst den Memorierstoff erleben, dann spreche 
ich ihn möglichst lebhaft vor, oder ich singe ihn. 

Nach zwei-, dreimaligem Vorsprechen oder Vorsingen erkenne ich, ob 
der Memorierstoff die Kinder anspricht oder nicht. 

Gefällt ihnen das Lied oder das Sprüchlein, dann wird jede Gelegen- 
heit benützt, um es den Kindern vorzusagen, vorzusingen. Die Kleinen 


412 B. Mitteilungen. 








merken nicht, daß sie lernen und meistens sprechen und singen sie schon 
nach kurzer Zeit allein ohne meine Beihilfe. 

Auf diese Art wurde eine Summe von Arbeit geleistet, ohne daß die 
Kinder durch Zwang ermüdet worden waren. Sie erfuhren auf diese Weise, 
daß man täglich und stündlich viel Interessantes sehen und hören kann. 
Sie lernten das Erlebte auf verschiedene Arten darstellen, ihr Gedächtnis 
wurde geschärft, ihr Gehör gebildet, die Sinne nach allen Richtungen hin 
geübt. Soviel über das »Wie« des Memorierens. (Schluß folgt.) 


2. Gegen das Fremdwort. 


Es ist erfreulich, daß der Krieg mit manchem Wust, so auch mit 
den nutzlosen Fremdwörtern aufräumt. Aber sonderbar ist es, daß nicht 
die berufenen Sprachgelehrten, wie überhaupt die Führer in der deutschen 
Bildung die Bahnbrecher sind, sondern daß neben dem deutschen Sprach- 
verein, der unter den Gelehrtenverbindungen eine rühmliche Ausnahme 
macht, die Generalkommandos auch hier ein siegreiches Volkserziehungs- 
kommando führen. Leider wird aber dieses Kommando verhältnismäßig 
noch wenig oder kaum beachtet in dem Schriftentum mancher Gelehrten. 
Man findet z. B. noch Aufsätze in Fach-Zeitschriften und auch noch um- 
fangreiche Bücher mancher Wissenszweige, in denen fast jedes dritte 
Wort ein Fremdwort ist. Doch die Beseitigung des Fremdwortes allein 
genügt nicht, und leider wird nur gegen das » Wort« für gewöhnlich der 
Kampf geführt. Wichtiger ist es, daß gegen den fremden Geist in unserer 
Sprache und damit auch gegen die fremde Denkungsart und gegen die 
fremde (lateinische) Satzbildung Front gemacht werde So wie z. B. 
unsere Gesetzbücher und unsere gesetzlichen Verordnungen geschrieben 
sind, denkt und spricht kein urwüchsiger Deutscher. Daher die vielen 
Zweideutigkeiten, Unklarheiten und widersprechende Auslegungen. Ich 
habe schon in einem der ersten Jahrgänge unserer Zeitschrift auf dieses 
undeutsche Wesen hingewiesen, erinnernd an das Wort Hoffmann von 
Fallerslebens: 

Die ganze deutsche Literatur 

Ist eigentlich für Gelehrte nur. 

Gelehrte haben sie gemacht 

Und nie dabei ans Volk gedacht. 

Laßt Euren Wissensqualm und Dunst 

Und übet reine deutsche Kunst! 

Werft allen Plunder über Bord, 

Schreibt ein verständlich deutsches Wort! 


Auch unseren Mitarbeitern möchte ich die Vermeidung von 
Fremdwörtern nochmals dringend ans Herz legen, ohne daß 
wir dabei in fremdsprachlichen Haß verfallen wollen. 

Anfang Juli war ich in Wien. Da sah ich einen päpstlichen An- 
schlag an einer Kirche. Die Bekanntmachungen waren zuoberst in 
italienischer und darunter in deutscher Sprache zum Abdruck gebracht! 


2. Gegen das Fremdwort. 413 





So herrscht hier noch während des Krieges das römische Italienertum. 
Darf man sich da wundern, daß das Wiener Deutsch ganz besonders mit 
Fremdworten gespickt ist? 

Als Gegensatz zu dem eben Genannten kam mir aber zugleich ein 
Aufsatz der »Neuen Freien Presse«e vom 2. Juli 1916 in die Hand, den 
wir im wesentlichen hier wiedergeben wollen, weil er ein großes Stück 
Kulturgeschichte der deutschen Sprache in Wien, das ja früher für das 
ganze deutsche Reich maßgebend war, bringt. Er bietet einen Beitrag zur 
Psychologie des Fremdwörtertums und damit auch ein Stück deutscher 
Jugendkunde. 

Es lautet: 


Das Fremdwort. 


Das ist die Tragödie unserer Muttersprache, daß sie, die gleich einer stolz ge- 
wachsenen Eiche, kräftig im Stamm und herrlich in der Krone, so fest in ihrem 
Heimatsboden wurzelt, dennoch immer- und immerwährend von zahllosen aus- 
ländischen Schmarotzern heimgesucht wird und sich dieses unberufenen Schling- 
und Rankwerks gar nicht erwehren kann. Sie kämpft heute wohl erfolgreicher 
gegen die fremden Gäste. aber kämpfen muß sie noch immer, muß Tag für Tag 
sorgen und wachen, daß sie von den gefräßigen Mitessern nicht völlig ausgehungert 
werde. Die Zeiten sind nicht mehr, wo in der Wiener Hofburg kaum ein deutsches 
Wort geduldet wurde, der große Friedrich jedem seiner Untertanen ein wohl- 
affektionierter König war und der junge Schiller sein erstes Theaterstück schrifltich 
dem hochzuvenerierenden Baron v. Dalberg anbot — mag aber der Garten seither 
etwas besser gehalten werden, von allem Unkraut gesäubert ist er noch lange nicht. 
Immerhin geht es vorwärts, wenn auch nur schrittweise. 

Im allgemeinen kann als geschichtliche Regel gelten, daß mit jeder nationalen 
Erhebung und Erhöhung des deutschen Volkes zugleich sein Sprachgefühl empfind- 
licher wird, sein Aug’ und Ohr für das sprachlich Unstatthafte sich bedeutend 
schärft und der Ruf nach Austreibung der dreimal verwünschten Einschleicher- 
bande, die seit Jahrhunderten unser armes Deutsch verwüstet, sich lauter und lauter 
hören läßt. So war es nach 1813, so nach 1870/71, so ist es jetzt. Der große 
Krieg, der so mancherlei Kleinkrieg hervorgerufen, hat auch den Kampf gegen das 
Fremdwort aufs neue entfacht, und diesmal scheint es ernst zu werden. Schon nach 
Siebzig hatten sich in Deutschland einige der großen Verwaltungen des mühevollen 
Reinigungswerkes angenommen, besonders der Generalpostmeister v. Stephan. Er 
war trotz seines fremdklingenden Titels ein rücksichtsloser Verdeutscher. Durch 
seinen Machtspruch entstand eine Menge neudeutscher Bezeichnungen, »eingeschrieben« 
für rekommandiert, »Fernsprecher« für Telephon, »postlagernd« für das ganz un- 
sinnige Poste restante. Noch entschiedener, weiter ausgedehnt sind die neuen 
Rüstungen für den alten Kampf: sämtliche Behörden greifen draußen im Reiche zu 
den Waffen, der Deutsche Sprachverein hat alle seine Truppen auf Kriegsfuß ge- 
setzt, und sogar die Herresverwaltung, deren Wörterbuch bisher für unantastbar 
gegolten, schließt sich willig den tapfern Streitern an. In den Generalstabsberichten 
wird heute vieles auf gut deutsch gesagt, wofür man ehedem nur französische Aus- 
‚drücke besaß. 

Nun aber ist außerdem das Außerordentliche, gänzlich Unerwartete geschehen: 
auch unsere Regierung wurde von der Bewegung mitgerissen. Der österreichische 
‚Unterrichtsminister hat kürzlich einen Erlaß veröffentlicht, womit er alle Landes- 


414 B. Mitteilungen. 





schulräte und politischen Landesstellen auffordert, an dem Kampfe gegen alle über- 
flüssigen, leicht zu ersetzenden Fremdwörter kräftigsten Anteil zu nehmen. Ähn- 
liches ist wohl hierzulande noch nicht vorgekommen. Dieses hochamtliche Schrift- 
stück, vortrefflich gedacht und geschrieben, hoffentlich auch segensreich in seinen 
Wirkungen, mag als ein Unikum der heimatlichen Verwaltungsgeschichte betrachtet 
werden, ist auch, wie wir sofort beifügen wollen, nirgends so notwendig gewesen 
als in diesen Landen, wo sich unsere Sprache, abgesehen, daß sie sich vor den An- 
griffen des Englischen und Französischen schützen muß, überdies gegen die Ein- 
dringlinge aus dem Slawischen, Italienischen, Ungarischen und andern landesüblischen 
gesetzlich gleichberechtigten Idiomen sich zu verteidigen hat. Verballhorntes Deutsch 
gehört bei uns außerdem zum eisernen Bestand der geschichtlichen Überlieferungen. 
Die Wiener Hofburg, die heutzutage — verschiedene Kundgebungen während des 
Krieges haben es bewiesen — ein ausgezeichnetes, aufrechtes, mannhaftes Deutsch 
zu schreiben weiß, ist in früherer Zeit nie wirklich deutsch gewesen, obwohl sich 
in ihrer Verkehrs- und Geschäftssprache merkwürdigerweise Bruchstücke aus ur- 
altem deutschen Sprachgut erhalten haben. »K.k. Hofgaden« lasen wir kürzlich 
auf einem Handwagen im Burghof — förmlich ein Nachklang aus dem Nibelungen- 
lied. Im übrigen aber sprach der Wiener Hof bald Spanisch, bald Italienisch und 
immer Französisch. Liest man die deutschen Aufzeichnungen des Fürsten Kheven- 
hüller, Obersthofmeisters der Kaiserin Maria Theresia, so staunt man über die Hilf- 
losigkeit, womit dieser klassisch gebildete, ein untadeliges Französisch schreibende 
Mann die Sprache behandelt, die er in der Wiege vorgefunden. Sein Deutsch ist 
dürftig wie ein verwahrlostes Waisenkind, trocken wie ein längst weggeworfenes 
Stück Brot und natürlich ganz durchsetzt von fremdländischen Brocken welschen 
Ursprungs. Sie schwimmen in dem unschmackhaften Brei wie Fettaugen in der 
Wassersuppe, nur daß sie ungleich zahlreicher als diese sind. Dem Einzelnen ist 
da keine Schuld beizumessen, bloß der Gesellschaft. Im Grunde auch ihr nicht, 
sondern den Umständen und Verhältnissen, wie sie durch die historische Entwicklung 
geworden. Franz I., deutscher Kaiser, war gar kein Deutscher, sprach und verstand 
nur Französisch. Sein Sohn Leopold verbrachte die beste Zeit seines Lebens in 
Toskana, sein Enkel Franz I. war ein geborner Italiener, der sein Deutsch erst in 
Wien erlernen mußte. Vor Franz I. herrschte das Spanische, Karl VI. war ja 
selbst eine Zeitlang spanischer König gewesen, und von der deutschen Sprache 
blieb ihm nur das bißchen Wienerisch, das er mit Jägern und Büchsenspannern 
sprach, seines Mutterlallens letzter schäbiger Rest. Der Beichtvater bediente sich 
des Lateinischen, die Diplomaten des Französischen, Abends im Theater hörte man 
italienische Oper, und im alten Michaelerhaus am Kohlmarkt, dort wo ein deutscher 
Habenichts, der junge Haydn, ein armseliges Dachstübchen innehatte, wohnte in 
herrschaftlichen Gemächern der Abbate Metastasio, dem aller Wohllaut der lingua 
toscana in bocca romana von den Lippen floß. Wien war ein kleines Babel, wo 
kein wohlerzogener Kavalier deutsche Worte durfte verlauten lassen. Ein einziger 
konnte dies wagen, und ihm ließ man es hingehen: der Hanswurst. Er, ob Stra- 
nitzky oder Prehauser genannt, war sozusagen der Hüter unseres schwerbedrohten 
Sprachschatzes, er und neben und vor ihm ein frommer Mann Gottes, der wackere 
Abrahaın a Sancta Clara, der allerdings kein hoffähiges Deutsch von seiner Kanzel 
donnerte. So, wie es aus seinem Munde kam, war es eine Waffe für derbe, streit- 
bare und wehrhafte Menschenkinder. Das bekannte Sprichwort, das die Rangliste 
der Sprachen aufstellte, meinte dann auch: mit Gott sollst es spanisch reden, mit 
den Fürsten italienisch, mit den Frauen französisch, deutsch aber mit dem Feinde. 
Wenn die Not am größten war, dann war das mißachtete Deutsch am nächsten, 


2. Gegen das Fremdwort. 415 





diese Bauern- und Gesindesprache, deren Worte wie Faustschläge dröhnten und wie 
Flintenschüsse krachten. 

Damals gab es keinen Minister, der seine Untergebenen zum Kampfe gegen 
die Fremdwörter aufgefordert hätte. Man rief sie ja mit lauter Stimme herbei, 
die hochverehrten Gäste, man bettelte um die Gunst ihres Besuches und fühlte 
sich gar sehr geschmeichelt, wenn sie unserer bescheidenen Mundart fremde Schmuck- 
federn ansteckten, einen langen Pfauenschweif ausländischer Redensarten ihr auf- 
nötigten.. Es muß eine mächtige, geradezu wunderbare Widerstandskraft in der 
deutschen Sprache lebendig sein, denn an den Anfechtungen, die sie allenthalben 
und zu allen Zeiten erdulden mußte, wäre jede andere Sprache zu Grunde gegangen. 
Überfliegt man diese Leidensgeschichte, so könnte man nachträglich gegen längst 
vergangene Dinge und Menschen in Wut geraten. Die Mönche, die Ritter, die 
Humanisten, die Gelehrten jeder Wissenschaft, Juristen, Mediziner, Philosophen, 
Theologen, Soldaten, Künstler und Kaufleute, sie alle betrachten es förmlich als 
Lebensaufgabe, ihr angestammtes Deutsch zu vernichten und irgend etwas Un- 
nennbares, Zwitterhaftes, Vaterlandsloses an die Stelle zu setzen. Am ärgsten 
trieben sie es nach dem Dreißigjährigen Krieg. Mit dem nationalen Verfall ent- 
schwanden dem deutschen Volke die letzten Regungen seines Sprachinstinktes. 
Die Ausländerei brach nun auch in sein Gefühlsleben ein. Die Liebe fand keine 
deutschen Laute mehr. Mit Frauen sollst du französisch reden, und die ala- 
modischen Herren ließen sich das gesagt sein. Sie adorierten, admirierten, exal- 
tierten. Ein zum abschreckenden Beispiel oft angeführtes Gedicht beginnt mit dem 
Anruf: »Reverierte Dame, Phönix meiner äme, gebt mir Audienz — Eurer Gunst 
Meriten, machen zu Falliten meine Patienz«. Das war der Tiefstand, schlimmer 
konnte es nicht kommen. Im ganzen Gedicht findet man kaum ein paar deutsche 
Ausdrücke, zumeist nur Endungen, Beugungsfälle, Zeitformen, Gelenke eines siechen 
Körpers, der nun beseitigt war, eingesargt und begraben. Wenn es in der Folge 
gelang, ihn wieder ins Leben zurückzurufen, so konnte es bloß noch besser werden. 

Und es ist besser geworden. Allein das Bessere ist noch lange nicht das Gute. 
Zumal bei uns in Österreich muß es um die Reinheit der Sprache übel bestellt sein, 
wenn sogar ein Minister sich bemüßigt fühlt, gegen den Fremdwörterunfug Fanfare 
zu blasen. In solchem Falle pflegte man sonst die Zeitungen zu allererst aufs Korn 
zu nehmen. Diese sind aber doch nur verantwortlich für das, was sie selbst hervor- 
bringen, Leitartikel, Feuilletons, Tagesberichte, keineswegs für das, was ihnen, zu- 
meist mit Fremdwörtern überfüllt, aus Parlamentssälen, Gerichtsstuben, Minister- 
. kanzleien zuklingt und wortgetreu wiedergegeben werden muß. Die Zeitung ist eben 
auch ein Schallboden, der alles auffängt, was über ihn hinstreicht, und wer ein Fremd- 
wort in den Wald ruft, soll sich nicht wundern, wenn ein Fremdwort zurückhallt. 
Der Minister hat gut daran getan, diesen allzu bequemen Sündenbock diesmal un- 
geschoren zu lassen. Sein Erlaß wendet sich an die politischen Landesstellen, deren 
Konzepte ohne Zweifel gründlichster Säuberung bedürfen, und an die Schulen, wo 
in der Tat notwendigste, nützlichste Arbeit zu leisten wäre. Soll der Kampf Erfolg 
haben, so muß er zugleich von oben und von unten geführt werden. Von unten 
ganz besonders. Die Fremdwörterpest, die in den hohen und höchsten Gesellschafts- 
kreisen entstand, drang nach und nach tief ins Volk hinein. Der ganze Wiener 
Dialekt ist bis aufs Mark davon angesteckt. Auf jedes zehnte Wort kann man ein 
fremdes rechnen. kommt irgendein momentan, direkt, desparat, separat, akkurat, oder 
ein Karfiol, Ribisel, Fisolen, Hallodri und hundert andere mehr, gar nicht zu sprechen 
von jenen geheimnisvollen Wörtern, wie Bahöll, Ramaturi, Remasuri, von denen die 
Gelehrten selbst noch nicht wissen, ob sie über die Grenze hergekommen oder hinter 


416 B. Mitteilungen. 





der fremdartigen Maske ein stadtbekanntes Gesicht verbergen. Der Wiener liebt 
offenbar diese meist welschen Laute, die seine Rede klangvoller zu machen scheinen, 
diese fernher klingende Musik, die sich mit seiner eigenen Ausdrucksweise schon so 
innig vermischt hat, daß man Ausländisches und Einheimisches kaum noch zu unter- 
scheiden vermag. Es ist auch sehr fraglich, ob man ihm jemals diese fest ein- 
gewienerten Töne wird abgewöhnen können. Wenn es die Schule nicht kann, wer 
soll es können? Jedenfalls handelt es sich da um die Arbeit von mehreren Menschen- 
altern. Und wenn es nach so langer Zeit doch nicht gelingt, wozu die ganze Fremden- 
jägerei? Wir haben dann allenfalls eine leidlich gereinigte Schriftlichkeit, die Sprache 
des Volkes aber fährt fort, ein seltsam gemanschtes Kauderwelsch zu sein, und der 
Brunnen, aus dem alles Schriftliche neue Kraft und neues Leben schöpfen soll, 
bleibt trüb und ein Behälter für das zugereiste Wort. 

Wir wollen uns aber durch solche Bedenken die Freude über den Erlaß des 
Ministers nicht verderben lassen. Er wünscht ja auch nur das Mögliche, das Er- 
reichbare. Nicht jeder Gast soll erbarmungslos ausgestoßen werden, für Fachausdrücke 
wird Schonung verlangt, und gar vieles, was sich die lange Zeit her das Bürgerrecht 
ersaß, dürfte auch fernerhin zu dulden sein. Es ist ungefähr der Standpunkt, den 
unsere Klassiker einnahmen, als Joachim Heinrich Campe die »Reinigung und Be- 
reicherung« der deutschen Sprache unternahm. Ja, rief ihm Weimar zu, reinigen 
ohne zu bereichern, das wäre ein geistloses Beginnen, und die Xenien eiferten ziemlich 
scharf gegen den vortrefflichen Mann. Schiller nennt ihn die furchtbare Waschfrau, 
»die die Sprache des Teut säubert mit Lauge und Sand«. und Goethe richtet an ihn 
die verfängliche Aufforderung: »Nun, so sage doch, Freund, wie man Pedant uns 
verdeutscht.e Dies in der Tat so ein Fremdwort, das man nicht leicht wird ent- 
behren wollen. Selbst Wilhelm Grimm fragt einmal, ob wohl ein Pedant schon 
pedantisch genug gewesen, für das fremde Wort, das ihn allein genau bezeichnet, 
ein einheimisches zu erfinden. Solcher unersetzlichen, unübersetzlichen Fremdlinge 
gibt es aber unzählige. »Und wo ihr’s packt, das ist's interessant« — man stelle 
das beste deutsche Wort dafür hin, und man wird erstaunen, erschrecken, wie schal 
und kraftlos es wirkt. Daß solche Fremdlinge nicht ausgerottet werden dürfen, 
hierüber ist sich heute jedermann klar. Gestritten, und zwar sehr heftig und hitzig, 
wird nur über den Umfang dieser »Schonungene. Wem soll die Freistatt offen 
stehen, wem nicht? Da sind die verträglichen Naturen, die gastfreundlich möglichst 
viel Bewerber aufnehmen wollen, und da sind die Unversöhnlichen, die am liebsten 
alles, was nicht von jeher bodenständig, mit Stumpf und Stiel ausreißen möchten, 
höchstens für eine handvoll technischer Benennungen gnädigst eine Ausnahme gelten 
lassen, natürlich auch die sogenannten Lehnwörter zu dulden geneigt sind, deren 
deutschem Gesicht der fremde Ursprung gar nicht mehr anzusehen. Wer sagt sich 
noch, daß schreiben von scribere kommt, dichten von dictare, Segen von signum? 
Arzt, Tisch, Titel, Keller, Kreuz, Stiefel, Kette, Katze, wer empfindet da noch die 
nichtdeutsche Abstammung, denkt noch daran, daß die Wurzeln dieser Wörter jenseits 
der Grenze gewachsen? Und Grenze! Deutsche Erlässe der Kaiserin Maria Theresia 
sprechen zuweilen von »unseren Gränitzen«, und wer jemals auf der Nordbahn nach 
Rußland gefahren, erinnert sich vielleicht, daß die erste russische Station Granitza 
hieß. Es ist dasselbe Wort: aus Granitza wurde Gränitze, aus diesem das scheinbar 
urdeutsche Grenze. Wir hätten die Anleihe kaum benötigt, denn wir hatten schon 
das gut heimische Mark, besitzen aber jetzt — Überfluß des Reichtums — das 
teutologische Grenzmark. 

Immerhin kann man die meisten Lehnwörter als eine erfreuliche Vermehrung 
unseres sprachlichen Besitzstandes betrachten. Die Unversöhnlichen, die allem, was 


3. Säuglingspflege und Kleinkindererziehung usw. 417 





nicht urwüchsig, den Untergang geschworen, bedenken nicht, daß jedes Lehnwort 
im Anfang ein Fremdwort gewesen und erst dadurch, daß es vom Volksmund in 
die Zucht genommen und in die Schleifmühle des alltäglichen Sprachverkehres geriet, 
sein deutsches Aussehen gewann. Bei allzu rücksichtsloser Ausmerzung droht immer 
die Gefahr, daß uns eine ergiebige Quelle der Bereicherung verstopft werde. Mit 
solchen Vorbehalten darf man freilich den Unversöhnlichen nicht kommen. Sie 
wünschen alles Ausländische zum Teufel. Der Teufel, selbst ein Ausländer, diabolus, 
selbst ein naturalisierter Deutscher, wird sich aber lange bitten lassen, bis er ihre 
Wünsche erfüllt. Indes braucht jede gute Sache, wenn sie gelingen soll, die mutigen 
und übermütigen Scharfschützen, die den anderen Truppen vorauseilen. 

Auch glaube man nicht, daß wir allein an Ausländerei zu leiden haben. Die 
Italiener klagten früher (ob jetzt noch, ist fraglich), daß ihr hochadeliges Idiom ganz 
und gar französelnden Einflüssen zum Opfer falle, und den Franzosen selbst ist die 
Treibjagd auf fremdsprachliches Wild keineswegs unbekannt. Sie haben ihre Fremd- 
und ihre Lehnwörter. Schon bei Rabelais findet man lancement (Landsmann), reitre 
kam durch die Hugenottenkriege ins Land, esquif entstand aus Schiff, in jardin steckt 
unser Garten, töte de choumakre ist heute noch ein beliebtes Schimpfwort, und aus 
der Schweiz hat Alphons Daudet yaudler (jodeln) heimgebracht, Diese Beispiele 
ließen sich ins Unzählbare vermehren. Die Wahrheit ist, daß ohne eine gewisse 
Anzahl von Fremdwörtern keine Sprache auszukommen vermag. Jede, die deutsche 
zu allererst, muß sich nur von dem Allzuviel hüten, vor der liebedienerischen Welsch- 
sucht. Überschätzung war leider von jeher der Fehler des Deutschen, dieser Fehler 
aber doch nur der Auswuchs unleugbarer Vorzüge. Überschätzung setzt Schätzung 
voraus. Unser Gerechtigkeitssinn, unser Wissensdurst, unsere Kunstfreude, sie 
werden uns stets zwingen, das Gute zu suchen, gleichviel wo es gewachsen, das 
Edle und Schöne zu verehren, wo immer es geboren wurde. In dieser Fähigkeit, 
in fremde Gedankenkreise sich einzufühlen, liegt ein Teil unserer Kraft, in diesem 
Zeichen siegt die deutsche Wissenschaft, haben sich deutscher Handel und deutsche 
Industrie die Welt erobert. Zu unserem Troste sei dies gesagt, wenn wir beim 
Anblick unserer schauderhaft verwüsteten, vom Schmarotzertum förmlich unterjochten 
Sprache schier verzweifeln möchten, 

Es ist gleichwohl schon ein wenig besser geworden. Das Fremdwort hat doch 
schon etwas von seinem Reize verloren und sein häufiger Gebrauch kann nicht mehr, 
wie ehedem, als Bildungsnachweis gelten. Der frechen Eindringlinge gibt es aber 
immer noch genug, solcher zumal, die auf »ieren« und »ismus« ausgehen, sich ein 
deutsches Schwänzchen anstecken und doch die fremde Feder hochfahrend an der 
Kappe tragen. Die müssen alle hinaus, fast alle, mit wenigen Ausnahmen. Da gibt 
es noch viel zu tun, und was heute nicht fertig wird, müssen eben kommende Ge- 
schlechter vollenden. Im übrigen sind wir für den Erlaß des Ministers: der Kampf 
beginne in den Ämtern und in den Schulen, man führe ihn von oben und von unten. 
Das Fremdwort muß zwischen zwei Feuer gebracht werden, sonst können wir es 
nimmermehr verjagen. 


3. Säuglingspflege und Kleinkindererziehung — Kindes- 
kunde — als Unterrichtsfach in Mädchenschulen. 


Von Kurt Walther Dix, Meißen i. 8. 


Es ist eine berechtigte Forderung, unsere Mädchen, die künftigen 
Mütter und Erzieherinnen des kommenden, deutschen Geschlechts in Kindes- 
Zeitschrift für Kinderforschung. 21. Jahrgang. 27 


m M M 





418 B. Mitteilungen. 





kunde zu unterrichten. Bisher geschah es nicht. Man sucht allerdings 
jetzt auf verschiedenen Wegen diesem Mangel etwas abzuhelfen. Ohne 
weiter darauf einzugehen, halte ich an meiner bereits 1908 veröffentlichten 
Meinung!) fest, daß unsere Mädchen der letzten Schuljahre und besonders 
die einer Mädchenfortbildungsschule, sowohl theoretisch, als auch praktisch 
in Säuglingspflege und Kleinkindererziehung zu unterrichten sind. Die 
Geschichte der Pädagogik zeigt uns, daß schon oft diese Forderung, mehr 
oder weniger scharf begrenzt, gestellt wurde. Trotzdem geschah nichts. 
Und es wird wohl auch noch längere Zeit vergehen, ehe dieser Unterricht 
allgemein wird. 

Darum habe ich schon 1906 den Versuch gemacht, mich mit den 
bestehenden Verhältnissen abzufinden, um meine Pläne für diesen Unter- 
richt zu verwirklichen. In meinem Büchel, »Kindeskunde als Unter- 
richtsfach in Mädchenschulen (Mädchenfortbildungsschulen),< 
Leipzig, E. Wunderlich, 1911, 1,20 M gebe ich Bericht über die Arbeit 
die ich vier (sieben) Jahre an der höheren Mädchenbürgerschule zu Meißen 
auf dem Gebiete der Kindeskunde, wie ich den Unterricht benannte, ge- 
leistet habe. Es sollen nicht Stoffsammlungen oder ausführliche Lehr- 
proben geboten werden, sondern nur der Weg, den ich ging, und die Er- 
gebnisse, die wir'durch Beobachtungen im Leben, an angeführten Beispielen 
und durch meinen Vortrag fanden. Im Laufe der folgenden Jahre wurden 
die einzelnen Ziele der Aufklärungen, besonders übers kindliche Gemüts- 
leben, wesentlich zahlreicher, als ich sie 1911 anführe. Hauptsache war 
mir damals, nur das zu bieten, was ich mit den Mädchen tatsächlich be- 
handelt und erarbeitet hatte, um jedem Einwurf begegnen zu können, der 
sich auf die Ausführbarkeit bezöge. 

Wenn ich wünsche, daß Eltern und Schülerinnen meine »Kindes- 
kunde«e in die Hände bekommen, so hoffe ich, sie besonders dadurch, daß 
sie das ganze Erziehungselend lesen und sich in meine Überlegungen 
hineindenken, anzuregen, sich aus eigenem Willen an der Hand der sehr 
reichlich angegebenen Literatur je nach ihrer Neigung weiter auszubilden 
zu denkenden Erzieherinnen. Für Lehrer und Lehrerinnen bieten außerdem 
meine Veröffentlichungen über die »Körperliche und geistige Ent- 
wicklung eines Kindes«?) Gelegenheit zu Quellenstudien für den Unter- 
richt in Kindeskunde, da dort das gesamte Geistesleben in allen seinen 
Erscheinungen bis zum sechsten Lebensjahr des Kindes entwicklungsgemäß 
dargestellt und sowohl psychologisch, als auch pädagogisch bewertet wird, 
wodurch sich die fünf Hefte zu einer umfassenden Psychologie und Päda- 
gogik des Kleinkindes zusammenschließen. 


1) K. W. Dix: Notwendige Aufklärung der Mädchen in der Schule über 
Kinderpflege und Kindererziehung. Zeitschrift für Kinderforschung. 13. Jahrg. 
Aprilheft. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1908. 

23) K. W. Dix: Körperliche und geistige Entwicklung eines Kindes an der Hand 
eines biographischen Tagebuchs. 1. Heft: Die Instinktbewegungen. 1,20 M. 2. Heft: 
Die Sinne. 2 M. 3. Heft: Vorstellen und Handeln. 2 M. 4. Heft: Das Gemütsleben 
(In Vbtg.). 2M. 5. Heft: Die Kindersprache. Leipzig, Verlag E. Wunderlieh. 


4. Freiwilliger Erziehungsbeirat für schulentlassene Waisen. 419 





Die zahlreichen Besprechungen aller Bände stimmen mir zu, und auch 
die »Kiudeskunde« fand allseitigen Beifall. Sanitätsrat Dr. v. Keller, 
Meißen, schrieb mir dazu 1911: »Das Ziel, das das Buch vor uns hinstellt, 
war aufzustellen ganz notwendig. Sie sind einer der Wurzeln aller Un- 
vollkommenheit unserer selbstgefälligen Zeit nachgegangen, haben sie bloß- 
gelegt, ja, den ersten Axthieb dagegen geführt. Ich hoffe, daß man Ihnen 
nicht nur zuschaut, sondern auch hilft. Geschieht’s, dann, unzweifelhaft, 
hat man auf dem Wege »der Menschenerziehung« einen sicheren Schritt 
vorwärts getan.« 

Leider ließen mich aber die Lehrer allein. Doch jetzt ist die Zeit ge- 
kommen, wo man auch in Pädagogenkreisen die Notwendigkeit einsieht, 
unsere Mädchen in Kindeskunde zu unterrichten. Seit 1915 lese ich über 
vereinzelte Versuche mit solchem Unterricht. Jetzt halte ich selbst wieder 
in Meißen mit der Oberselekta und Selekta einen Kursus in Kindeskunde 
ab. Daß das Ausland — Amerika und England — uns darin seit 1912 
voraus ist, erwähne ich nur nebenbei. 

Einige Ärzte, die das Elend der Kleinkindererziehung viel mehr kennen 
lernen, als der Pädagoge und Kinderpsychologe, treten ebenfalls seit Jahren 
ganz entschieden für Belehrung der Mädchen in der Schule ein. Professor 
Langstein, Berlin, fordert seit 1911 neben praktischer Ausbildung das- 
selbe, was ich in meiner Kindeskunde verlange. Ihm stehen z.B. zur 
Seite Dr. Tugendreich, Dr. Rosenhaupt u. a. Besonders erwähnen 
möchte ich noch die weitgehenden Forderungen des Kabinettsrats Dr. Dr. 
v. Behr-Pinnow, Berlin, der auch seit Jahren für eine Belehrung der 
12—14 jährigen Mädchen eintritt und jetzt als Vorsitzender »der Deutsch- 
landspende für Säuglings- und Kleinkinderschutz« hoffentlich viel zur 
Verwirklichung helfen kann. Auf die letztgenannte Vereinigung, wie auf 
die gestellten Forderungen selbst, werde ich später eingehend zurück- 
kommen. Heute sei nur kurz die Aufforderung zur Mithilfe gestellt. 
Und die Tatsache, daß ich in letzter Zeit in Berichten über Lehrer- 
vereinssitzungen las, daß man sich über die Möglichkeit eines Unterrichtes 
über Säuglingspflege in der Schule besprach, läßt mich hoffen, mit 
meinen kurzen Hinweisen hier und den Ausführungen in meinen an- 
geführten Arbeiten Anklang zu finden. 


4. Freiwilliger Erziehungsbeirat für schulentlassene 
Waisen. 


Unzweifelhaft treten seit den letzten 20 Jahren Versuchung und 
Verführung an die Jugend, zumal in der Großstadt, weit stärker als 
früher heran, während die alten Erziehungsmittel, darunter der feste Halt 
der Familie, die straffe Zucht des Lehrherrn, der religiöse Einfluß usw. 
leider immer schwächer und unwirksamer wurden. 

Diese Erkenntnis veranlaßte im Jahre 1896 in Berlin den damaligen 
Landgerichtsrat und jetzigen Wirklichen Geheimen Admiralitätsrat Dr. 
Paul Felisch, im Bunde mit anderen hochgesinnten Männern wie u. a, 

27* 


420 B. Mitteilungen. 





dem verstorbenen Staatsminister Herrfurth, den Freiwilligen Erziehungs- 
beirat für schulentlassene Waisen ins Leben zu rufen zu dem Zwecke, 
die sittliche, geistige, körperliche und wirtschaftliche Wohlfahrt der Berliner 
Waisen ohne Unterschied des Glaubens nach ihrem Austritt aus der Schule 
zu fördern. Von Anfang an legten die Gründer des Vereins besonderen 
Wert auf die persönliche Mitarbeit der Berliner Frauenwelt. Der Erfolg 
hat dieses Streben belohnt. 

Nicht allen Waisen ist die Vereinstätigkeit gewidmet. Die Satzung 
beschränkt nämlich den Wirkungskreis auf die Kinder (Knaben wie Mäd- 
chen), die entweder ihren Vater oder beide Eltern verloren haben oder 
außer der Ehe geboren oder dauernd vom Vater verlassen sind. Die Er- 
fahrung hat bestätigt, daß diese Begrenzung der Vereinsarbeit gerecht- 
fertigt war. 

Das weite Untergeschoß des Vereins bilden die zu Pflegern und 
Pflegerinnen bestellten Menschenfreunde, die sich selbst um die Schutz- 
bedürftigen kümmern und ihnen während der Ausbildungszeit Rat und 
Beistand angedeihen lassen. Jedes Kind, das der Vereinsfürsorge an- 
vertraut wird, erhält einen freiwilligen Pfleger oder Pflegerin. Die Pfleger 
haben die Aufgabe, bei der Wahl des Lebensberufes ihres Schützlings 
und bei seiner Unterbringung in dem gewählten Berufe mitzuwirken, 
weiterhin den Schützling erzieherisch zu überwachen, sich über den 
Arbeitgeber oder Lehrherrn zu unterrichten und gute Beziehungen zwischen 
ihm und dem Pflegling anzubahnen, damit möglichst bald das Ziel er- 
reicht wird, daß der Pflegling sich mit eigener Kraft weiter helfen kann. 

Die Tätigkeit der Pfleger ist eingehend in der Pflegerordnung ge- 
regelt. Jeder einzelne Fürsorgefall ist danach selbständig und entsprechend 
seinen Besonderheiten zu bearbeiten. Im übrigen ist der Pfleger in seiner 
Fürsorgetätigkeit frei. Gerade seine Freiheit bildet den wichtigsten und 
entscheidenden Grundsatz der Vereinsverfassung; ihm vor allem verdankt 
der Verein die Erfolge seines Wirkens. 

Der großen moralischen Verantwortlichkeit des Pflegers entspricht 
das Gefühl der inneren Befriedigung über den erzielten Erfolg. 

Das Pflegersystem hat sich vollauf bewährt und ist vorbildlich ge- 
worden für viele Vereine ähnlicher Art. 

Die Pfleger und Pflegerinnen sind über das ganze Stadtgebiet ver- 
teilt. Anfangs waren sie in Bezirksausschüssen vereinigt, deren Gebiet 
sich mit dem der städtischen Waisenräte deckte. Später faßte man sie 
in 13 Gruppen zusammen, weil sich dies als zweckmäßiger zeigte. 

Durch Zusammenarbeiten mit der Schule ist erreicht, daß der Verein 
frühzeitig erfährt, wer fürsorgebedürftig ist und den Beirat des Vereins 
annehmen will. Vorher hat nämlich eine Befragung durch die Lehr- 
personen stattgefunden. 

Hat man die Bedürftigen so ermittelt, dann handelt es sich vor allem 
darum, Beistand bei der Berufswahl zu leisten. Es gilt, zu erreichen, 
daß der Knabe oder das Mädchen nur den Beruf ergreift, für den es sich 
nach Anlagen, Fähigkeiten und Neigungen, nach körperlicher und sitt- 
licher Beschaffenheit am meisten eignet, damit Ergreifen eines falschen 


4. Freiwilliger Erziehungsbeirat für schulentlassene Waisen. 421 


Berufes vermieden wird. Der Verein läßt daher vor allem zunächst jeden 
Pflegling genau auf seine Berufsfähigkeit unentgeltlich ärztlich untersuchen. 

Im Hinblick auf die Wichtigkeit der Berufswahl hat der Erziehungs- 
beirat durch die Herausgabe eines »Wegweisers für die Berufswahl« ein 
außerordentlich gutes Auskunftsmittel allen Beteiligten an die Hand ge- 
geben. Dieses Buch ist das Ergebnis von 20000 versandten Fragebogen. 
Es ist dort alles zusammengetragen über die Erfordernisse jedes einzelnen, 
für die erwerbstätige Jugend in Betracht kommenden Berufes in körper- 
licher und geistiger Hinsicht, über die Berufsgefahren, über den Gang 
der Ausbildung, über die Aussichten des Berufes, über das Kapital, das 
erforderlich ist, um sich in dem Berufe selbständig zu machen, über die 
Lehrstellen- und Arbeitsnachweise usw. 

Besonders läßt es sich der Verein angelegen sein, Kenntnisse der 
Pfleglinge in Fachschulen kaufmännischer, gewerblicher und kunstgewerb- 
licher Art zu erweitern. 

Dem Verein gelang es vielfach, Freiplätze oder Erleichterung der 
Zahlungsbedingungen zu erlangen. Für seine weiblichen Pfleglinge sicherte 
er sich die Hilfe und das Entgegenkommen zahlreicher Haushaltungs- 
schulen und ähnlicher Einrichtungen. 

Sind die Knaben oder Mädchen im Anfang zu schwach oder zu 
krank, um überhaupt eine berufliche Arbeit übernehmen zu können, so 
gilt es, ihnen zunächst die nötige Berufstauglichkeit zu verschaffen. Hier 
müssen dann längerer Aufenthalt auf dem Lande, Bäder, Kur- oder Heil- 
anstalten helfen. Seit längerer Zeit besitzt der Verein auf dem Lande je 
ein eigenes Erholungsheim für Knaben und Mädchen, die überaus segens- 
reich gewirkt haben. 

Nach den Grundsätzen des Vereins sollen die Pflegschaften mit 
Vollendung des 18. Lebensjahres beendet sein. In solchen Fällen indes, 
in denen die Pfleglinge ein Streben nach vertiefter Ausbildung zeigten, 
wird noch weiter Hilfe gewährt. Für solche Fälle stehen dem Verein 
Zuwendungen aus der Paul-Felisch-Stiftung zur Verfügung. 

Eine besondere Abteilung des Vereins dient der Mitwirkung bei der 
Berliner Jugendgerichtshilfe. Hier werden die Fälle bearbeitet, die straf- 
fällig gewordene vaterlose Kinder Berliner Gemeindeschulen im Alter von 
14—16 Jahren betreffen. 

Aus erzieherischen Gründen und um in das oft entbehrungsreiche 
Leben der Pfleglinge Sonnenschein zu bringen, werden im Sommer Aus- 
flüge und im Winter gesellige Unterhaltungen veranstaltet, die sich regen 
Besuches auch seitens der Vereinsmitglieder erfreuen. 

Mitglied des Vereins kann jede erwachsene Person ohne Unterschied 
des Glaubensbekenntnisses, des Berufes oder der Partei durch Zahlung 
entweder eines jährlichen Beitrages von mindestens 3 Mark oder eines 
einmaligen von mindestens 100 Mark werden. Laufende Beiträge spenden 
u.a. S. M. der Kaiser, I. M. die Kaiserin, S. Kgl. Hoheit Prinz Heinrich 
von Preußen, zahlreiche Gemeindekirchenräte usw. Die Stadt Berlin ge- 
währt 6000 Mark Jahreszuschuß. 

Der Verein hat in den 20 Jahren seines Bestehens rund 22000 


422 B. Mitteilungen. 





Kinder untergebracht, von denen 67 durch seine Unterstützung als Schul- 
lehrer ausgebildet sind, und insgesamt mehr als 550000 Mark verausgabt. 
Jährlich gibt er 42500 Mark aus, davon 30000 Mark für Unterstützungs- 
zwecke und für die beiden Erholungsheime. 

Für seine durch den Krieg 1914 stellenlos gewordenen Pfleglinge 
hat der Verein sofort 12000 Mark über den Haushaltsplan bewilligt. 

An der Kriegsanleihe hat sich der Verein mit 105000 Mark beteiligt. 


5. Eine Ausstellung für Kleinkinder-Fürsorge 


wird im Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht zu Berlin für den 
September vorbereitet. In zwölf Abteilungen soll die körperliche und 
seelische Entwicklung des Kleinkindes, seine soziale Notlage und die 
öffentliche und private Fürsorge, sowie die Ausbildung seiner Pflegerinnen 
und Erzieherinnen gezeigt werden. Graphische Darstellungen aus der Be- 
völkerungsstatistik sollen Aufschluß über die Zahl der Kleinkinder, ihre 
soziale Lage, Krankheit, Sterblichkeit und Todesursachen und Aufzuchts- 
zahlen verschiedener Länder geben. Landkarten und Stadtpläne werden 
den Bestand der Fürsorgeeinrichtungen für Kleinkinder zeigen. Schließlich 
wird die Praxis der Kleinkindererziehung durch einen kleinen Muster- 
kindergarten und zahlreiche Proben und Bilder aus dem theoretischen, 
praktischen und technischen Unterricht vorbildlicher Bildungsanstalten für 
Kinderpflegerinnen, Kleinkinderlehrerinnen, Kindergärtnerinnen und Jugend- 
leiterinnen veranschaulicht werden. 

In Verbindung mit dieser Ausstellung veranstaltet der Deutsche 
Ausschuß für Kleinkinderfürsorge vom 18.—23. September einen 
Kursus über die Fürsorge für die aufsichtsbedürftigen Klein- 
kinder, für den namhafte Vertreter von Wissenschaft und Praxis ihre 
Mitwirkung zugesagt haben, wie das nachstehende Programm zeigt. Der 
Kursus will insbesondere den an leitender Stelle in der Kleinkinderfürsorge 
tätigen Persönlichkeiten Anregung und Gelegenheit zur Vertiefung ihres 
Wissens bieten. Teilnehmerkarten sind bis zum 15. August d. J. bei der 
Geschäftsstelle Berlin N. 24, Monbijouplatz 3 II zu bestellen. 


6. Erziehungsinspektor Piper. 


Am 7. August feierte Herr Erziehungsinspektor Piper in Berlin-Wittenau 
in selten körperlich und geistiger Frische seinen 70. Geburtstag. Der 
Vorstand des Vereins für Erziehung, Unterricht und Pflege Geistesschwacher 
wollte diesen Tag nicht vorübergehen lassen, ohne ihren langjährigen, 
rührigen Vorsitzenden gebührend zu ehren. Die Herren Direktor Pastor 
Stritter-Alsterdorf, Anstaltslehrer Gürtler-Chemnitz-Altendorf und Direktor 
Schwenk-Idstein übermittelten Herrn Piper im Beisein seiner Ange- 
hörigen und seines Lehrerkollegiums die Glückwünsche des Vorstandes und 
des Vereins. Direktor Schwenk betonte in seiner Ansprache ganz be- 
sonders das persönliche Verhältnis des Jubilars zu seinen Kollegen. Er 


C. Zeitschriftenschau. 423 





ist einer der Unsern. In seiner 35 jährigen Tätigkeit an der Städtischen 
Heil- und Erziehungsanstalt Wittenau hat er allezeit die pädagogische 
Seite der Idioten-Erziehung in den Vordergrund gestell. Eine große 
Anzahl Schriften über Erziehung und Unterricht Geistesschwacher hat er 
uns geschenkt. Durch seine Tätigkeit auf dem Gebiet der Erforschung 
und Behandlung des Schwachsinns hat sich Piper zweifellos große Ver- 
dienste erworben. Die von ihm geleitete Anstalt erfreut sich bis heute 
des besten Rufes nicht nur in Deutschland, sondern auch über die Grenzen 
unseres Vaterlandes hinaus. Die Stadt Wittenau ehrte Piper durch Ver- 
leihung einer künstlerisch ausgeführten Adresse und gab einer Straße 
seinen Namen. 

Auch unsere Zeitschrift möchte Piper noch nachträglich zur Voll- 
endung seines 70. Lebensjahres die besten Glück- und Segenswünsche 
darbringen. Wir wünschen von Herzen, daß es ihm vergönnt sein möchte, 
in derselben geistigen Frische und körperlichen Spannkraft am 1. April 
1918 auch sein 50 jähriges Dienstjubiläum feiern zu dürfen. 

Möchte die Erziehungsanstalt Wittenau auch fernerhin bleiben das 
Mekka der Schwachsinnigenerzieher zum Segen der uns anvertrauten 
Kinder und zur Ehre ihres Leiters. 

Idstein. Schwenk. 


C. Zeitschriftenschau. 


Beobachtende und angewandte Psychologie. 


Reinhard, M. E., Was würden Bergkinder mit zehn Franken tun? Zeitschrift für 
Jugenderziehung und Jugendfürsorge. IV, 20 (1. Juli 1914), S. 596—598. 

Angeregt durch Rössels Hamburger Untersuchungen legte die Verfasserin den 
Kindern ihrer abgelegenen Bergschule die im Titel angegebene Frage vor. Die 
Kinder bekunden eine besondere Vorliebe für alles Lebende, so daß sie vielfach 
Tiere (Schafe, Kaninchen) kaufen wollen. Das »bunte Zeug« des einzigen Dorf- 
ladens begehrt keins. Auch Kleider und Eßwaren gehören nicht zu den begehrten 
Dingen. Wohl aber spielen bei den Knaben neue Ski und Wadenbinden eine Rolle, 
dann Taschenmesser, bei den Mädchen Reisen. Die Mädchen zeigen sich begehr- 
licher als die Buben und kommen im allgemeinen mit zehn Franken zur Erfüllung 
ihrer Wünsche nicht aus. — Eine zahlenmäßige Bearbeitung fehlt leider. 
Scheinert, Moritz, Über die Behandlung Hervorragendbegabter — mit einem 

Beispiel. Der Säemann. 1913, 3 (18. März 1913), S. 101—109. 

Die Arbeit bringt zum Teil eine Kritik der Petzoldtschen Vorschläge. Nach 
den Erfahrungen des Verfassers beläuft sich die Zahl der Hervorragendbegabten 
auf höchstens 2 bis 3°/,, nicht auf 10°/, wie Petzoldt angab. — Er berichtet dann 
im einzelnen über einen Fall hervorragender Befähigung bei einem zehnjährigen 
Knaben und dessen Förderung. 

Nögrädy, Ladislaus, Kinderschriftsteller. A Gyermek. VII, 1913, 2, S. 135 
bis 136. 


— ee JE = u Egg m aA 


424 C. Zeitschriftenschau. 





Die schriftstellerischen Erzeugnisse Jugendlicher sind zwar ernst zu nehmen, 
doch soll man sich hüten, darin Zeichen besonderer Begabung zu sehen. — Be- 
sprechung des Romans eines 12jährigen Gymnasiasten. 

Hoche, P., Frühreife Kinder. Zeitschrift für Kinderpflege. IX, Juni 1914, 
S. 103—106. 

Allgemeine Betrachtungen über die Frühreife, die uns im eigentlichen Sinne 
noch ein psychologisches Rätsel ist. 

Schmutz, Gregor, Wunderkinder. Deutsche Elternzeitschrift. 4, 9 (1. Juni 
1913), S. 139—142; 10 (1. Juli), S. 157—160); 11 (1. August), S. 171—175; 
12 (1. September), S. 187—190. 

Als Wunderkinder werden besprochen: Christian Heinrich Heineken, Otto 
Pöhler, Anna Maria van Schurman; ganz kurz verschiedene mehr oder weniger be- 
kannte Fälle, namentlich von rechnerischer Begabung und besonderer Begabung für 
bildende Kunst. Die vielen zeichnerischen Begabungen als Wunderkinder zu fassen, 
geht aber wohl nicht gut an. 
de Maday-Hentzelt, Marthe, Röflexions sur l’amour maternel. Archives de 

Psychologie. XII, 48 (Decembre 1912), S. 343—371. 

Die schwierige Untersuchung sucht die Phänomene der mütterlichen Zu- 
neigung zum Kinde in drei Gruppen zu klassifizieren (eine organische, eine sym- 
biotische und eine soziale Phase). Sie bringt auch für die Kinderpsychologie be- 
achtenswertes Material. 

Mäckelmann, K., Temperament und Schularbeit. Pädagogisch - psychologische 
Studien. 14, 7/8, S. 25—28. 

Der Verfasser meint, daß die Temperamente zu zweien gepaart in jedem 
Menschen wohnen. Er hat für seine Schüler durch zahlenmäßige Abstufung ein 
Bild ihrer Temperamente gewonnen. Unter den Schülern des Verfassers herrscht 
das sanguinisch-cholerische Temperament vor. Ob das allgemein der Fall ist, bleibt 
fraglich. Den Wert derartiger Untersuchungen tuen einige Angaben aus der Praxis 
der Schularbeit dar. Der Verfasser schließt mit der beachtenswerten Aufforderung: 
»Wir sollten viel mehr Schülerkunde treiben, die Psyche unserer Kinder studieren. 
Das würde uns Lehrern die Schularbeit erleichtern und interessant machen. «< 
Plecher, Hans, Von der Kinderstube in die Schulstube. Deutsche Elternzeit- 

schrift. 4, 3 (Dezember 1912), S. 47—50. 

Der Aufsatz enthält psychologisch wertvolle Beobachtungen an zwei normalen 
Mädchen im Alter von 3!/, und 5!/, Jahren. 

Kemény, Gabriel, Vom Abschaffen des Notengebens.. A Gyermek. 1913, 1, 
S. 70—73. 

Der Verfasser hat u. a. auch Schüler und Schülerinnen über das Notengeben 
(Zensieren) befragt: 50°/, waren dafür, 50°/, dagegen. Aus diesen und theoreti- 
schen Erwägungen heraus lehnt der Verfasser das Notengeben ab. 

Hoche, P., Zensurenwesen. Der Säemann. 1913, 2 (14. Februar), S. 68—75. 

Die Arbeit, die sich gegen das Zensieren in der herkömmlichen Art und Weise 
wendet, entbält auch verschiedene gute psychologische Beobachtungen über die 
Wirkung der Zensuren auf die Kinder. 

Huther, A., Der Jugendsport vom Standpunkte der pädagogischen Psychologie. 
Zeitschrift für Pädagogische Psychologie. XV, 3 (März 1914), S. 195—200. 

Die Arbeit hebt einige Gesichtspunkte hervor, die zur Grundlage für weitere 
Beobachtungen dienen können. Um ein abschließendes Urteil zu fällen muß erst 
genügend statistisches Material gesammelt werden. 


C. Zeitschriftenschau. 425 


Warstat, W., Die Psychologie des »Anfangs«. Der Säemann. 1914, 1 (29. Januar), 
S. 27—29. 

Die Beiträge dieser neuen Jugendzeitschrift zeigen stark den Zug des Jugend- 
lichen während der Pubertätsperiode. Einzelne Belege dafür werden angeführt. Im 
Interesse der Jugendkunde wäre es, wenn das Alter der Jugendlichen angegeben 
würde. Infolge der Haltung des Herausgebers (Gustav Wyneken) nimmt die Kritik 
einen übermäßig weiten Raum in Anspruch. 

Scheinert, Moritz, Über den psychologischen Ertrag der Grafschen Sammlung 
»Schülerjahre«. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie. 14, 2 (Februar 1913), 
S. 98—105. 

Nach des Verfassers Ansicht ist der psychologische Ertrag des bekannten 
Buches nicht sehr groß. Auf die wichtigsten Momente geht er kurz ein. 
Wiedemann, Natalie, Die Kunst psychologischen Beobachtens. Pädagogischer 

Anzeiger für Rußland. V, 10 (28. Oktober 1913), S. 611—620. 

Richtig zu beobachten ist nicht leicht. Die Arbeit gibt Winke dafür aus 
eigener Erfahrung und auf Grund einer Abhandlung aus Schiller-Ziehens Sammlung 
(Die Kunst psychologischen Beobachtens). Die das Seelenleben des Kindes beein- 
flussenden Bedingungen lassen sich in 3 Gruppen einteilen: das mit seiner Um- 
gebung und seinem nächsten Verkehr; körperlicher Zustand; Schule, Die wichtigen 
Punkte werden kurz gekennzeichnet. 

Metz, Marie, Das Tagebuch für unser Kind. Zeitschrift für Kinderpflege. IX, 
Januar 1914, S. 13—14. 

Kurze Anleitungen für Mütter. Betont die Notwendigkeit der objektiven 
Niederschrift. 

Frey, O., Photographie und Familie. Der Säemann. 1914, 2 (20. Februar), 8. 55 
bis 60. 

Eine Anleitung, Photographien von Kindern für die Internationale Ausstellung 
für Buchgewerbe und Graphik zu sammeln, die zugleich als Anleitung für die Samm- 
lung von Kinderbildern überhaupt angesehen werden kann. 


Witthöft. H. N., Der Schulbogen. Der Säemann. 1913, 11 (9. Dezember 1913), 
S. 492—498. 

Im Schulbogen sind Zeugnisse und Personalangaben zusammengefaßt. Er ist 
eine Art vereinfachtes Personalienbuch, das den Schüler ständig begleitet. Das 
Hamburger Muster ist abgedruckt. Würde der Schulbogen in einer wissenschaft- 
lichen Zentralstelle verarbeitet, so könnte die Jugendkunde daraus wertvolle Ergeb- 
nisse ziehen. 

Neuer, Alexander, Ist Individualpsychologie als Wissenschaft möglich? Zeit- 
schrift für Individualpsychologie. 1, 1 (April 1914), S. 3—8. 

Es scheint, als ob es eine wissenschaftliche Individualpsychologie nicht geben 
könne. Neuer weist aber nach, daß die kritische Teleologie Alfred Adlers uns 
die Mittel in die Hand gebe, systematisch, und deshalb wissenschaftlich, die Psyche 
verstehen zu lernen. (Man vergl. dazu auch das Geleitwort Carl Furtmüllers 
im selben Heft, S. 1—3, in dem er das Programm der Zeitschrift kurz skizziert.) 


Würtz, Hans, Ein Beitrag zur Begründung der Krüppelpsychologie. Zeitschrift 
für Krüppelfürsorge. VII, 1 (Januar 1914), S. 16—42. 
Eine besondere psychologisch orientierte Behandlung der Krüppel wird immer 
notwendiger. Die Arbeit, die sich an die Soziologie Tönnis’ anlehnt, ist reich an 
andeutenden Gedanken dafür. Sie kommt zu folgendem Ergebnis: »Die Krüppel- 


426 C. Zeitschriftenschau. 





seele kennzeichnet sich also durch besondere Dissonanzen des Gefallens und damit 
auch der Gesinnung, der Gewohnheit und damit auch des Gemüts, des Gedächtnisses 
und damit auch des Gewissens.« 


Hartner, Rudolf, Unsere Buben und der Krieg. Österreichischer Schulbote, 
63, 8 (September 1913), S. 318—322. 

Der Verfasser ließ Wiener Schüler des letzten Volksschuljahres die Frage 
»Was weiß ich vom Balkankrieg?« in einem Aufsatz beantworten. Die Schüler 
sahen über die Ursachen des Zusammenbruchs der Türkei meistens ziemlich klar. 
Über den Verlauf der kriegerischen Ereignisse waren sie nur sehr allgemein orien- 
tiert. Im Schluß wird meistens auf die Rauferei der Verbündeten um die Sieges- 
beute hingewiesen, über die sich fast alle Buben freuten. — Einzelne Proben werden 
geboten. — Der Versuch ist wohl nicht einwandfrei, aber immerhin interessant. 


Moldenhauer, Ein amtlicher Schulpsychologe. Zeitschrift für Schulgesundheits- 
pflege. XXVI, 12 (Dezember 1913), S. 837—841. 

In London ist ein Schulpsychologe angestellt, der besonders unter oder über 
dem Durchschnitt stehende Schüler untersuchen soll. Moldenhauer macht auf 
die sich ergebenden Schwierigkeiten aufmerksam, besonders auch hinsichtlich der 
Wertung übernormaler Schüler. Er empfiehlt eine Reform des Berechtigungswesens 
in den deutschen Schulen, um die höheren Schulen von ungeeigneten Elementen 
zu befreien und dadurch auch den Lehrern ein Eingehen auf die hervorragend be- 
fähigten zu erleichtern. 


Bobertag, Otto, Das Institut für angewandte Psychologie und psychologische 
Sammelforschung (Kleinglienicke bei Potsdam). Der Säemann. 1913, 12 (13. Januar 
1914), S. 545—551. 

Das Institut besteht seit 1906. Die Arbeit orientiert über die Ziele und Auf- 
gaben, über die bisherigen Arbeiten und Forschungsergebnisse und über die Sammel- 
tätigkeit. 

Beck, Eine neue Akademie des Kindes? Pädagogisch-psychologische Studien. 14, 
7/8, S. 31—32. 

Kurzer Hinweis auf das Institut J. J. Rousseau in Genf. 


Smith, |Theodate L., The development of psychological clinics in the United 
States. The Pedagogical Seminary. XXI, 1 (March 1914), S. 143—153. 

Die erste psychologische Klinik für außergewöhnliche Kinder in Amerika 
wurde durch Witmer an der Universität Pennsylvania errichtet. Das zweite psy- 
chologische Laboratorium richtete 1898 Wylie an der staatlichen Anstalt für 
Schwachsinnige in Faribault, Minn. ein. Es folgten folgende Institute: 1905 Training 
School for Feeble-Minded zu Vineland N. J.; 1909 das Institut für jugendliche 
Psychopathen in Chicago, die Klinik an der Clark University zu Worcester, Institute 
an den Universitäten Minnesota und Washington; 1912 in Pittsburgh, 1913 in Jowa. 
Verschiedene ähnliche Einrichtungen wurden an Gefängnissen, Besserungsanstalten 
und Schulen geschaffen. Der Verfasser regt an, die »detention homes« unseren 
deutschen Beobachtungsanstalten (Steinmühle, Göttingen) ähnlich zu gestalten. Die 
Leiter der psychologischen Kliniken müßten besonders ausgebildet werden. Die 
Kurse für sie müßten umfassen: Unterweisung in den wissenschaftlichen Methoden 
und in die praktischen Arbeiten; allgemeive, soziale, pädagogische, Kinder-Psycho- 
logie, Psychologie der Anormalen und der Verbrecher, praktische Anleitung in den 
Test-Methoden, Kenntnis in der Entwicklung der Jugendwohlfahrtseinrichtungen der 
Vereinigten Staaten und anderer Länder, Überblick über die gesamte Soziologie. 


Zeitschriftenschau. 427 





Claparöde, Eduard, Die französische psychologisch-pädagogische Bewegung. Die 
Pädagogische Forschurg. II, 3 (April 1914), S. 241—258. 

Der Verfasser gibt einen kurzen Überblick über die Leistungen in Frankreich 
und in der französischen Schweiz auf dem Gebiete der Psychologie des Kindes, der 
Pädologie und der Pädagogik. Die pädologische Literatur ist im Vergleich zur 
deutschen und englischen Literatur auf diesem Gebiete sehr dürftig. Das Interesse 
für pädagogische Fragen hat im letzten Dezennium in Frankreich sehr zugenommen. 
Doch hat die französische pädagogische Bewegung keinen eignen Charakter; sie 
spiegelt den Charakter der zeitgenössischen Pädagogik überhaupt wieder (mehr Sorge 
für die Rechte des Kindes, mehr Psychologie, mehr Freiheit). 

Peters, W., Wege und Ziele der psychologischen Vererbungsforschung. Zeitschrift 
für pädagogische Psychologie. XIV, 12 (Dezember 1913), S. 604—617. 

Die Psychologie hat nur zu dem phänomenologischen Begriff der Vererbung 
Beziehungen (Feststellung von physischen und psychischen Ähnlichkeiten bei Bluts- 
verwandten). Die experimentelle Methode zur Ermittlung psychischer Ähnlichkeiten 
bei Verwandten hat bisher nur wenig Anwendung gefunden. Man kann sie auch 
nur zur Untersuchung der Geschwisterähnlichkeit verwenden. Eine andere Methode 
ist die qualitative Erhebungsmethode. Eine dritte die quantitative Erhabungsmethode. 
Der Verfasser selbst benutzte sie, indem er die Volksschulzeugnisse von über 1000 
Kindern mit den Zeugnissen beider Eltern und zum Teil auch der Großeltern ver- 
glich. Zu einer genügend ausgedehnten Erblichkeitsforschung beim Menschen scheint 
die statistische Methode unvermeidlich. Der Verfasser bespricht die Einzelheiten 
genauer, erörtert vor allem auch das Rückschlagsgesetz und das Gesetz vom Ahnen- 
erbe sowie den Mendelismus. Seine eigenen Untersuchungen ergaben, daß eine 
alternierende Vererbung, keine Mischvererbung stattfand, soweit die Schulleistungen 
in Frage kommen. Auch das Problem der Vererbung erworbener Eigenschaften 
interessiert den Psychologen, wenn es auch natürlich für ihn viel schwieriger ist 
als für den Biologen. Von noch größerem Interesse für den Psychologen als für 
den Biologen ist das Problem der Geschlechtsunterschiede bei der Vererbung. Zum 
Schluß wird auf die Verdienste Galtons für die Psychologie hingewiesen, die oft 
gar nicht geachtet werden. 

Lehmann, Rudolf, Pädagogik und Biologie. Zeitschrift für pädagogische Psycho- 
logie. 14, 10 (Oktober 1913), S. 497—504. 

Eine biologische Grundlegung der Pädagogik ist bisher noch nicht versucht. 
Die Arbeit stellt einen Versuch in dieser Richtung dar. 

Franke, Th., Entwicklungsseelenlzhre und Erziehungswissenschaft. Evangelisches 
Schulblatt. 57, 10 (Oktober 1913), S. 448—459. 

Die Arbeit befaßt sich eingehend mit Kretzschmars Buch »Entwicklungs- 
psychologie und Erziehungswissenschaft«, das erweist, daß wir das Kind sich nicht 
einfach entwickeln lassen können, sondern daß wir es auch absichtlich beeinflussen 
müssen. 

Kabitz, W., Pädagogik und Psychologie. Der Säemann. 1913, 1 (24. Januar), 
S. 3—10. 

Zum Teil gegen Ausführungen Marbes gerichtet, die dahingehen, daß die 
Psychologie die wichtigste, wenn auch keineswegs die einzige Grundlage der Päda- 
gogik sei. Die Kinderpsychologie insbesondere verdient die größte Beachtung der 
pädagogischen Theoretiker wie Praktiker. Man kann aber nicht sagen, daß die Psy- 
chologie der Pädagogik allgemeingültige Werte, nach denen sie entscheiden könnte, 
n die Hand gibt. — Die Psychologie ist Tatsachenforschung. Als solche ist sie 


428 C. Zeitschriftenschau. 








eine zweifellos wichtige Hilfswissenschaft der Pädagogik. Von dem pädagogischen 
Forscher ist in erster Linie gründliche philosophische Bildung und erst in zweiter 
gründliche psychologische Bildung zu fordern. Wissenschaftliches psychologisches 
Studium kann nach Marbe nur in entsprechend ausgestatteten Instituten und Labora- 
torien betrieben werden, was K. bezweifelt. Er erhebt auch Widerspruch dagegen, 
daß Lehrstühle der Pädagogik (im Verfolg von Marbes Ausführungen) nur von 
experimentellen Pädagogen besetzt werden dürfen. 

Giese, Fritz, Bibliographie der Jugendliteratur. Der Säemann. 1914, 4 (April), 

S. 150—154. 

Bereits vor dem »Anfang«, der so viel von sich reden macht, hat sich die 
Jugend in Zeitschriften und Büchern geäußert. Giese stellt die Titel zusammen. 
Die Schule spielt in diesen Äußerungen eine relativ geringe Rolle. Die Erotik 
spielt allerdings namentlich zwischen 13 und 16 Jahren bei Knaben wie bei Mäd- 
chen eine gewisse Rolle. Vor dem »Anfang« selbst ist das große Publikum nach- 
drücklich zu warnen: das Sinnen und Trachten der modernen Jugend ist darin nicht 
zu spüren. (Vergl. dazu den Aufsatz von Edmund Neuendorff, Die Jugend- 
bewegung, im gleichen Heft S. 127—134.) 


Experimentelle Psychologie. 


Aall, Anathon, Zur Psychologie der Wiedererzählung. Zeitschrift für angewandte 
Psychologie. VI, 2/3 (März 1913), S. 185—210. 

Versuche an Lehrern von 20 Jahren an aufwärts. Bei der Wiedergabe kann 
man Berichterstatter und Erzähler scharf unterscheiden. Der typische Fehler bei 
der Wiedergabe von Erzählungsstoffen ist die Auslassung (weniger die Fälschung). 
Verschiedene interessante Abweichungen zeigen die beiden Geschlechter. 

Ach, Narziß, Willensuntersuchungen in ihrer Bedeutung für die Pädagogik. Zeit- 
schrift für pädagogische Psychologie. 14, 1 (Januar 1913), S. 1—11. 

Der Verfasser bespricht das von ihm und Hillgruber aufgestellte Schwierig- 
keitsgesetz der Motivation (die Schwierigkeit ist das Motiv für eine stärkere Willens- 
anspannung bezw. Aufmerksamkeitskonzentration) in seiner Bedeutung für die Er- 
ziehung des Willens, für die die Forderung, dauernd rasch und gut arbeiten zu 
lassen, durchaus günstig ist. Über die Ausdehnungsdauer der Anspannung müssen 
noch Untersuchungen gesammelt werden. — Der zweite Teil behandelt die Willens- 
hemmung und Willensbahnung in ihrer Beziehung zur Pädagogik. Ihre Bedeutung 
für die Erziehung ist eine große. Es ergibt sich von hier aus auch eine Lösung 
der Überbürdungsfrage, die in der Forderung nach »Konzentrierter Arbeit< beruht. 
— In Anmerkungen setzt sich Ach mit Meßmer auseinander. 

Anschütz, Georg, Zwei neue Ergographen. Zeitschrift für Pädagogische Psycho- 
logie. XV, 6 (Juni 1914), S. 336—338. 

Der eine Apparat soll möglichst exakt arbeiten; er ist für Untersuchungen 
im Laboratorium bestimmt. Der Preis wird etwa 135 Mark betragen. Der zweite 
Apparat soll für Massenuntersuchungen in Schulen Verwendung finden (Preis etwa 
45 Mark). Beide Ergographen werden hergestellt von der Firma Polikeit-Halle a. S.; 
die Modelle waren auf der Internationalen Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik 
in Leipzig ausgestellt. 

Anschütz, Georg, Institute für Jugendkunde. Der Säemann. 1914, 1 (29. Januar), 
S. 23-25. 

Kurze Übersicht über bisher Geschaffenes, nicht ganz frei von Überschätzung 

der Wirksamkeit des Bundes für Schulreform. 


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Zeitschriftenschau. 429 





Baldrian, Karl, Läßt sich das Erscheinen bestimmter Laute in manchen Wörtern 
psychologisch erklären? Eos. 9, 3 (Juli 1913), S. 198—200. 

Betrachtungen eines Taubstummenlehrers hauptsächlich über das Auftreten des 
Nasallautes n in verneinenden Wörtern. 

Berkovits, Renö, Über Prüfungen der kindlichen Intelligenz. A Gyermek. VII, 
1913, 9, S. 527—529. 

Der Verfasser prüfte 80 Kinder mit den Binet-Simon-Tests. Er empfiehlt, 
für 6—7jährige Kinder nur die Tests anzuwenden, denen drei Viertel der Prüflinge 
entsprechen, und die auszuschließen, die auch die meisten Debilen leicht beantworten. 
Bobertag, Otto, Neuere Arbeiten zur Intelligenzprüfung. Zeitschrift für ange- 

wandte Psychologie. VII, 1/2 (September 1913), S. 154—166. 

Sammelreferat über 24 Arbeiten, die zumeist in Zeitschriften zerstreut sind, 
mit besonderer Berücksichtigung der Methode. 

Bosse, H., Materialien zur Bearbeitung der Aufgabe: »Beziehungen zwischen der 
intellektuellen und moralischen Entwicklung Jugendlicher.e Evangelisches Schul- 
blatt. 58, 4 (April 1914), S. 156—159. 

48 Literaturangaben. — In »Neue Bahnen«, 25, 7 (April 1914), S. 333, weist 
R. Sch. darauf hin, daß die Preisträger, die bei der Bearbeitung dieser Aufgabe den 
Preis davon tragen, »noch nicht einmal ein mäßiges, sondern ein klägliches Honorar, 
auf keinen Fall einen Preis« erhalten. Die Aufgabe wurde bekanntlich gestellt von 
der Psychologischen Gesellschaft zu Berlin (vergl. diese Zeitschrift, XIX, 5/6, 
8. 376/377). 

Brahn, Max, Die experimentelle Psychologie und Pädagogik in den höheren 
Schulen. Die Pädagogische Forschung. II, 2 (Januar 1914), S. 146—153. 

Zusammenstellung einer Reihe von Problemen, die der Bearbeitung durch 
Lehrer höherer Schulen harren. In den Seminaren der höheren Schulen müßten 
experimentelle Probleme verhandelt und Arbeitsgemeinschaften gegründet werden. 
»Soll die pädagogische Ausbildung des höheren Lehrers wirklich eine vollständige 
sein, so darf nach der heutigen Lage der Dinge Kenntnis der experimentellen 
Methoden und Einsicht in ihre Bedeutung und wichtigsten Ergebnisse nicht fehlen.« 
Bredereke, Wilhelm, Bemerkungen zu den experimentellen Untersuchungen 

über Bilderunterricht. Zeitschrift für pädagogische Psychologie. XIV, 12 (De- 
zember 1913), S. 617—623. 

Wendet sich gegen Folgerungen Hasserodts aus derartigen Untersuchungen. 
Bei den Kindern besteht eine Freude an der Kunst als solcher. Das formalästhe- 
tische Urteil fehlt ihnen wie vielen (den meisten) Erwachsenen auch. Beides hat 
nichts miteinander zu tun. Man kann das Bildurteil der Kinder auch nicht als tief- 
stehend bezeichnen, weil sie nur stofflich interessiert sind. Maßgebend ist für 
Kinder der Gefühlston, den sie aber schlecht ausdrücken können, so daß Nieder- 
schriften und Fragebogenergebnisse nicht das Urteil bestimmen dürfen. Der Ver- 
fasser geht dann auf die Frage des Bilderunterrichts ein, den er verwirft. Bilder 
sollen als »stille Miterzieher«e an der Wand des Schulzimmers hängen. 

Brenken, Ew., Die sogenannte »Enge des Bewußtseins«. Österreichischer Schul- 
bote. 63, 8 (September 1913), 8. 289—297. 

Das Bewußtsein ist imstande, in einem Moment mehrere gleichwertige Ein- 
drücke zu apperzipieren, wie besonders Julius Zeitler (1900) nachwies, über 
dessen Untersuchungen eingehend referiert wird, da sie das wichtigste experimen- 
telle Material enthalten, das über den Umfang der Aufmerksamkeit bekannt ge- 
worden ist. 


430 Zeitschriftenschau. 


Budde, G., Die experimentelle Gedächtnisforschung. Deutsche Schule. 17, 9 
(September 1913), S. 538—542. 

Referiert über die Untersuchungen von Ebbinghaus, Meumann, Netscha- 
jeff, Kemsies. Ergebnisse: auch im mechanischen Auswendiglernen ist der Er- 
wachsene dem Kinde überlegen. Das Kind gebraucht einen größeren Aufwand an 
Wiederholungen und an Zeit beim Lernen als der Erwachsene. 

Büttner, Georg, Von der geistigen Entwicklung und Tätigkeit. Heilpädagogische 
Schul- und Elternzeitung. 4, 5 (Mai 1913), S. 85—91. 

Historischer Überblick über die verschiedenen Ansichten über die Wechsel- 
beziehungen zwischen Gehirn und Seele. Es steht fest, daß zwischen den materiellen 
Vorgängen in der Großhirnrinde und den psychischen Vorgängen feste Beziehungen 
bestehen. 

M. B., Prophezeiung und Experiment iu der Schule. Die Pädagogische Praxis. 
II, 5 (Februar 1914), S. 274—278. 

Polemik gegen Dickhoff, der früher begeistert für Linkskultur eintrat und 
jetzt selbst deren Fehlgriff erklären mußte. Es handelt sich dabei weniger um die 
Person Ds., sondern mehr um ein altes System, das dem Experiment feindlich 
gegenübersteht, ohne es hinreichend zu kennen. 

Claparède, Ed., Tests de développement et tests d’aptitudes. Archives de Psy- 
chologie. XIV, 53 (Fév. 1914), 5. 101—107. 

Claparöde setzt sich mit Meumanns Erweiterung und Umgestaltung der 
Binet-Simon-Tests in eigentliche Begabungs- und Intelligenzproben und in Entwick- 
lungsproben im engeren Siune (wozu bei M. noch Umgebungsproben kommen) aus- 
einander. Nach ihm stellt sich diese Unterscheidung und ihre Anwendung nicht 
so einfach dar, wie es bei Meumann den Anschein hat. 


D. Literatur. 





Mosse, M., und Tugendreich, G., Krankheit und soziale Lage. München, 
J. F. Lehmann, 1912. Erste Lieferung. 232 Seiten. Preis 6 Mark. 

Von 20 hervorragenden Gelehrten bearbeitet scheint dieses Werk geeignet, wie kein 
anderes die großen Zusammenhänge aufzudecken, die zwischen Krankheit und sozialer 
Lage bestehen. Wenige Stände vermögen diese Zusammenhänge an Einzelfällen so 
oft — wenn auch meistens nur unbestimmt — zu erkennen, wie gerade die prak- 
tischen Pädagogen und Jugendfürsorger. Daß sie deshalb mit Freuden zu einem 
Werke greifen werden, das ihnen eine Fülle von wissenschaftlicher Forscherarbeit 
in übersichtlicher Weise und in kritischer Darstellung bietet, ist gewiß. Schon auf 
Grund dieser ersten Lieferung darf man wohl mit vollem Recht die Forderung er- 
heben, daß dieses Werk in jeder Lehrerbibliothek zu finden sein muß. 

In ihrer Einleitung sagen die beiden Herausgeber über die Aufgabe des Buches: 
es sollen in ihm »die Einwirkungen der sozialen Lage auf Verhütung, Entstehung 
und Verlauf der Krankheiten aufgezeigt werden, sowie die Mittel. durch welche 
diese Einwirkungen gemildert oder beseitigt werden können«. Oder mit andern 
Worten: es ist >zu zeigen, welcher graduelle Anteil bei Entstehung und Verlauf 
der Krankheiten dem sozialen Faktorenkomplex zukommt; des weiteren, welcher 
Faktor dieses Komplexes jedesmal von hervoragender Bedeutung iste. Aus ihren 
weiteren Ausführungen geht hervor, daß die soziale Lage die bei weitem größte 
Zahl aller Menschen zwingt, in ihrer Lebensführung selbst die Mindestforderungen 


D. Literatur. 431 





der Hygiene außer acht zu lassen. Eine äußerst betrübliche Tatsache, die es um 
so geratener erscheinen läßt, sich eingehend mit diesem Buche zu beschäftigen! 

Mit den Grundzügen der Krankheits- und Todesursachenstatistik macht im all- 
gemeinen Teil dieser ersten Lieferung H. Silbergleit bekannt. Man ersieht aus 
seinen Ausführungen, wie wenig einfach derartige statistische Arbeit ist. 

An den einführenden allgemeinen Teil schließt sich sodann der zweite Teil: 
die soziale Atiologie der Krankheiten. — Wohl mit Recht hat man hier die Wohnungs- 
frage (bearbeitet vor Wernicke-Posen) an erste Stelle gerückt. Besser als aus 
wiederholten allgemeinen Hinweisen auf die Wichtigkeit dieses Werkes für die 
Schule wird man diese vielleicht aus folgendem Absatz in den Schlußausführungen 
Wernickes erkennen: »Wir alle wissen, wie die Einführung der Schulbrausebäder 
in Volks- usw. Schulen bessernd auf die persönliche Reinlichkeit eingewirkt hat. 
So muß auch die Wohnungshygiene und eıindringliche Belehrung über die Pflege 
und Behandlung der Wohnung, um sie gesundheitsgemäß zu erhalten, schon in der 
Schule stattfinden. Auch die Art und Weise der Verbreitung der ansteckenden 
Krankheiten, ihre Bekämpfung durch Desinfektions- und Reinlichkeitsmaßnahmen, 
namentlich bei der Tuberkulose, muß von der Schule aus den Kindern mit auf den 
Lebensweg gegeben werden. Die Lehre von der persönlichen Hygiene, die mit der 
Wohnung ja so vielfache Beziehungen hat, muß Gegenstand zweckentsprechenden 
Unterrichts sein. Diese Tätigkeit der Schule als Volkserziehungsanstalt muß noch 
viel mehr als bisher gepflegt werden.«e — Sicherlich hat auch die Schule die Mög- 
lichkeit, zu einer vernünftigen Ernährung unserer Bevölkerung beizutragen, wenn 
das in der Abhandlung Felix Hirschfelds (Berlin) über die Ernährung in ihrem 
Einfluß auf Krankheit und Sterblichkeit auch nicht besonders betont ist. Gegen 
Hirschfelds Auffassung ließe sich gewiß mancher Einwand erheben; das Material, 
das er bietet, ist aber von höchstem Interesse. — Neben Wohnung und Ernährung 
wird dann der Einfluß der Berufsarbeit dargestellt, und zwar von Franz Koelsch 
(München). Er weist auch energisch darauf hin, daß die Kinderarbeit nicht nur 
unhygienisch ist, sondern auch aus anatomisch-physiologischen Gründen un- 
rationell. Beachtenswert erscheint mir der Hinweis darauf, daß bei den Mittel- 
schullehrern die Krankheiten des Nervensystems als Todesursachen neuerdings zu- 
nehmen. Im übrigen weist auch Koelsch zum Schluß wieder auf die Aufgaben der 
Schule hin: er verlangt eine grundlegende Reorganisation im Sinne einer vermehrten 
körperlichen Ertüchtigung sowohl durch rationelle Körperausbildung als auch 
durch Vermittlung hygienischen Wissens; die abstrakte Lernarbeit soll beschränkt 
werden, die Gesundheitslehre soll in den Vordergrund des Unterrichts treten; vor 
allem soll die sittliche Pflicht geweckt werden, Gesundheit und Körperkraft im 
Interesse des Gemeinwohls zu erhalten und zu fördern. Auch auf die Wichtigkeit 
wohlüberlegter Berufswahl wird hingewiesen. Koelschs Forderungen werden viel- 
leicht von den meisten Pädagogen als zu weitgebend verworfen werden. Eine ge- 
wisse Berechtigung dieser Forderungen läßt sich in unserer Zeit aber nicht ab- 
streiten. Mir scheint, die Schule könnte schon Wesentliches leisten, wenn sie nur 
einen Bruchteil der in diesem Buche mitgeteilten Forschungsergebnisse in verständ- 
licher Form den Schülern darbieten würde. Das könnte im Hygieneunterricht ge- 
schehen (der ja schon wiederholt auch von Pädagogen verlangt wurde); es könnte 
aber auch im staatsbürgerlichen Unterricht geschehen, für den vor allem reiche An- 


regungen aus diesem trefflichen Werk zu holen sind. 
Jena. Karl Wilker. 


Simon, Ernst, Die staatliche Aufzucht unehelicher Kinder als Mittel 
zur Bekämpfung des Landarbeitermangels im deutschen Osten. 
Hohensalza, Deutscher Ostmarkenverein, 1914. 26 Seiten. Preis 50 Pfennig. 

Wenn es sich bei dieser Schrift auch um eine bevölkerungspolitische Studie 
handelt, so verdient sie doch auch als Vorschlag zu einer neuartigen Fürsorge für 
uneheliche Kinder Beachtung. Der Verfasser geht von der leider berechtigten und 
auch verständlichen Annahme aus, daß viele uneheliche Mütter froh sind, ihr Kind 
irgendwie los zu werden. lst die Mutter oder der Vater des Kindes einigermaßen 
begütert, so finden sich dafür ja heute schon die bedauerlichsten Möglichkeiten. 

Wie in Frankreich so könnte auch in Deutschland der Staat diese armen Geschöpfe 


432 D. Literatur. 





als sein Eigentum übernehmen und sie in »Kinderwirtschaften« in der deutschen 
Ostmark unterbringen. Wie solche Kinderwirtschaft zu denken ist, wie sie sich 
finanziell gestalten muß, all das möge man in der kleinen Schrift selbst nachlesen. 
Jedenfalls würde es sich dabei um eine Art Landerziehungsheim für unbemittelte 
Kinder handeln, das sich aus eigenen Mitteln mit Hilfe der Land- und Viehwirt- 
schaft erhalten muß unter relativ geringen Zuschüssen von seiten des Staates. In 
den in dieser Schrift gemachten Vorschlägen scheint mir die Frage des Unterrichts 
allerdings nicht ausreichend genug erörtert zu sein. Der Schulerziehung ist doch 
wohl zu wenig Wert zugemessen. Unbedingt notwendig erscheint es mir auch, die 
Kinder nicht schon als Säuglinge aufzunehmen; oder man müßte, falls man daran 
festhalten will, den Kinderwirtschaften direkt Säuglings- und Mütterheime angliedern, 
also die uneheliche Mutter mit in den Wirtschaftsbetrieb aufnehmen, so lange es an 
derartigen Einrichtungen in Verbindung mit den Entbindungshäusern noch fehlt. 
Im andern Falle möchte sich doch die gesundheitliche Lage der Säuglinge nicht 
gerade so günstig gestalten, wie das in einem solchen Heim zu wünschen ist. 

Ob eine derartige Maßnahme — noch steht sie ja nur auf dem Papier — 
wirklich den gewünschten bevölkerungspolitischen Erfolg haben wird, erscheint mir 
aus hier nicht näher zu erörternden Gründen zweifelhaft. Ich habe deshalb an 
anderer Stelle nach meiner Ansicht leichter durchführbare und in dieser Hinsicht 
mehr Erfolg versprechende Anregungen gegeben. Der Verfasser und seine Freunde 
stehen auf dem Standpunkt, daß nur die Erfahrung das lehren könne; sicherlich 
sind sie selbst aber davon überzeugt, in ihrem Plan mehr eine Lösung des 
bevölkerungspolitischen Problems gefunden, als eine neue Anregung für das (ebiet 
der Jugendfürsorge gegeben zu haben, als welch letztere wir das Schriftchen in 
erster Linie empfehlen möchten. 

Jena. Karl Wilker. 


Fortschritte des Kinderschutzes und der Jugendfürsorge. Vierteljahrs- 
hefte des Archivs deutscher Berufsvormünder. Berlin, Julius Springer, 1914. 
Erster Jahrgang, erstes Heft. S. 1—28. J. F. Landsberg, Vormundschafts- 
gericht und Ersatzerziehung. Preis 1,50 M. 
Erster Jahrgang, zweites Heft. S. 29—69. A. Bender, Der Schutz der ge- 
werblich tätigen Kinder und der jugendlichen Arbeiter. Preis 1,50 M. 
Diese Hefte sollen in handlicher Zusammenfassung über die jährlichen Fort- 
schritte unterrichten, um damit eine größere Einheitlichkeit und Gemeinsamkeit in 
der praktischen Arbeit zu fördern. Ob ihnen das vollauf gelingen wird, bleibt ab- 
zuwarten. Das erste Heft scheint sich doch etwas sehr zu beschränken. Das zweite 
Heft dagegen gibt in knapper Form eine Fülle von Tatsachenmaterial, das eigent- 
lich jeder Pädagoge kennen sollte. Wir möchten darum besonders auf dieses zweite 
Heft empfehlend hinweisen. Man wird daraus ersehen, wie viele soziale Not unter 
den Jugendlichen in unserem Volke noch behoben werden muß. 
Jena. Karl Wilker. 


Arzt und Schule. Ziele und Erfolge der Schulkommission des Ärztlichen Vereins 
München auf dem Gebiete des Mittelschulwesens. 1904—1914. München, J. F. 
Lehmann, 1914. 96 Seiten. Preis 2 Mark. 

Diese Festschrift gibt ein erfreuliches Bild von dem Interesse des Ärztestandes 
für die Schule, und zwar vor allem für die höhere Schule (in Süddeutschland 
Mittelschule), die bisher hinsichtlich der schulärztlichen Versorgung ja noch nicht 
die Fürsorge genießt wie unsere Elementarschulen. Wenn man der Schrift etwas 
besonderes wünschen will, so wird es vor allem sein: sie möchte an allen größeren 
Orten Deutschlands zur Bildung ärztlicher Schulkommissionen veranlassen, die nach 
den in ihr niedergelegten Richtlinien arbeiten. Der Inhalt gliedert sich in acht Teile, 
von denen der erste eine rein geschichtliche Übersicht über die Arbeit der Schul- 
kommission gibt, während die anderen einzelne Arbeitsgebiete behandeln. Von 
weittragenderer Bedeutung sind vor allem die Aufsätze über Sexualität und Schule 
(Dr. Lissmann) und über Leibesübungen und Schule (Dr. Uhl), die es wohl wert 
wären, auch bei Lehrerkonferenzen in anderen als höheren Schulen (wenn auch in 
diesen ganz besonders) zum Gegenstand einer Konferenzbesprechung gemacht zu werden. 

Jena. Karl Wilker. 


Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 


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A. Abhandlungen. 


Ist die Verwirklichung der Zukunftsschule von 
Ellen Key erwünscht? 
Von 
Professor Dr. Sellmann, Hagen i. W. 


Schon vor dem Kriege war viel von Schulreform die Rede. An 
allen Ecken und Enden war man nicht mehr zufrieden mit der alten 
»Lernschule«. Man wollte eine »Arbeitsschule«, eine »Lebensschule«, 
eine »Tatschule«, eine »Erziehungsschules usw. Nun ist der Krieg 
gekommen, und unsere durch die Schule gegangene Jugend ward auf 
die Probe gestellt. Im allgemeinen können wir mit den Ergebnissen 
unserer alten vielgeschmähten Schule zufrieden sein. Unsere Jugend 
hat sich gar prächtig benommen, und auch unsere jungen Mädchen 
haben den Ernst und die Größe der Zeit erkannt und sich dement- 
sprechend betätigt. Trotzdem sind die Stimmen, die da nach einer 
Schulreform rufen, auch jetzt in den Kriegszeiten nicht verstummt. 
Im Gegenteil, man hört sie jetzt mehr als sonst. Draußen in den 
Schützengräben und daheim im Vaterland macht man sich immer 
wieder Gedanken über die Schule der Zukunft. Hochstehende Schul- 
leute sammeln schon Gutachten von bedeutenden Schulmännern, um 
festzustellen, wie diese sich die Schulreform denken. 

Und wenn der Friede kommt, wird sicherlich von allen Seiten 
und Richtungen der Ruf nach Schulreform erneut erschallen. 

Das ist ja sicher, wer die Schule hat, hat die Zukunft. Wir 
möchten nicht nur in der Gegenwart ein starkes und stolzes Ge- 
schlecht, wir möchten auch, daß unsere Kinder in der Zukunft Größe 

Zeitschrift für Kinderforschung. 21. Jahrgang. 28 


434 A. Abhandlungen. 








und Ruhm des Vaterlandes nicht nur nicht erhalten, sondern wenn mög- 
lich noch vergrößern. Es ist auch kein Streit, daß jeder, der solche 
Reformvorschläge macht, dieses tut aus Liebe zu den Kindern und 
zum Vaterlande. Es ist ein Zeichen von Leben und Streben, von 
Leben und Liebe. 

Allein es ist doch berechtigt, all diesen Rufern im Streit sich 
selbständig gegenüber zu stellen und auch mit dem eigenen Urteil 
nicht zurückzuhalten, zumal da die Stimmen oft so wirr und wider- 
sprechend sind. 

Eine Richtung hat sich vor dem Kriege ganz besonders ver- 
nehmbar gemacht. Sie wird es auch nach dem Kriege tun. Ich 
meine den Individualismus, der uns entgegentritt in den pädagogi- 
schen Reformvorschlägen eines Ludwig Gurlitt, eines Berthold 
Otto, eines Artur Bonus und eines Heinrich Pudor. Doch 
all diese Genannten sind Schüler einer großen Meisterin, der 
Schwedin Ellen Key. Ihr Buch, das an der Schwelle des 20. Jahr- 
hunderts erschienen, hat grade auch in deutschen Landen weithin 
Verbreitung gefunden und findet es noch. Der Titel des Buches 
»Jahrhundert des Kindes« ist eins der bekanntesten Schlagworte 
der Gegenwart geworden. Ellen Key hat überall Zustimmung er- 
fahren, auch in Schulkreisen, auch in Elternkreisen, besonders auch 
in Frauenkreisen. Auch hervorragende Pädagogen der Gegenwart, 
etwa ein Münch oder ein Budde, versäumen es nicht, dieser 
Schwedin ihre Reverenz zu erzeigen. Ich kann nicht in diese Be- 
wunderung einstimmen. Im Gegenteil, ich bin sehr erstaunt darüber, 
daß ein derartiges Buch, das wenig Kenntnis von der Kindesnatur, 
von der Schule und vom Leben enthält, solche Zustimmung und Ver- 
breitung hat überhaupt finden können. Es gehört heute Mut dazu, eine 
andere Meinung als diese Schwedin zu haben. Stimmt man diesen 
Gedanken nicht zu, so ist man in Gefahr, als beschränkt und reaktionär 
zu gelten. Und doch muß man diesen Widerspruch klar und be- 
stimmt aussprechen, besonders dann, wenn man der Meinung ist, daß 
eine derartige Zukunftsschule, wenn sie einmal verwirklicht werden 
sollte, nichts anderes bedeutet als ein Verderb für die Kinder und 
für das gesamte Vaterland. 

Damit man jedoch klar erkennt, daß ich sehr eingehend mich 
mit Ellen Keys Gedanken beschäftigt habe und ernstlich bemüht bin, 
ruhig und sachlich zu urteilen und auch gern und freudig alles Gute 
anzuerkennen, wo es sich findet, will ich eine kurze Darstellung der 
Keyschen Gedanken vorausschicken und mit allem Nachdruck auch 
deren Vorzüge hervorheben. 


Sellmann: Ist die Verwirklichung der Zukunftsschule von Ellen Key erwünscht? 435 





Ein Vorzug des Buches ist, schon äußerlich betrachtet, ganz ent- 
schieden die blendende, feurige und anschauliche Sprache. Hier sind 
keine blassen und öden Abstraktionen zu finden. Überall sehen wir 
bunte Farben und herrliche Bilder. Und mit einer Wucht und 
Leidenschaftlichkeit weiß Ellen Key sowohl die alte Schule anzu- 
greifen, als auch die Werbetrommel für ihre Zukunftsschule zu rühren, 
daß man zunächst ein gewisses Wohlbehagen empfindet. Stark pul- 
sierendes Leben erfreut immer. Mit ihren Grundgedanken kann man 
sich ebenfalls ohne weiteres einverstanden erklären. Was soll die 
Schule? Sie soll einmal die Individualität des Kindes beachten und 
dann für das Leben, für die Wirklichkeit erziehen. Wohl wird das 
Erziehungsziel anderswo anders formuliert. Doch letzten Endes kommt 
man doch immer wieder auf diese zwei Punkte: Berücksichtigung 
des Kindes, Berücksichtigung des Lebens. 

Ellen Key singt ein hohes Lied auf die Mutter und ihren herr- 
lichen Beruf: Die Erziehung der Kinder! Darum weg mit Kinder- 
garten und Kinderschule, die nur abplattende Gesellschaftserziehung 
bieten! In diesem Elternhaus muß das Kind möglichst lange bleiben, 
bis zum 9. und 10. Lebensjahr. Erst dann geht es hinein in die 
»Gesamtschule«, wo Jungen und Mädchen der verschiedenen Gesell- 
schaftsschichten erzogen werden. Aber auch hier wird das Kind 
nach keiner Seite hin bedrängt und in ein Schema geformt. Es 
wählt sich selbst seine Unterrichtsfächer aus. Auch in dieser Ge- 
samtschule muß das Leben der Menschen und das Leben in der 
Natur das Kind umbranden. Hier muß das Kind, ohne gegängelt 
und geleitet zu werden, seine Beobachtungen machen. Das wichtigste 
Zimmer der Schule ist das Bibliothekszimmer, besonders groß und 
besonders schön. Hier hat das Kind freie Auswahl. Was schadets, 
wenn das 10jährige Kind den Faust in die Hand bekommt? Die 
Kindesnatur lehnt schon von selbst das Unpassende ab. Und draußen 
in der Natur, da beobachtet das Kind, ohne immer wieder von lang- 
weiligen Lehrern auf dieses und das gestoßen zu werden, das ge- 
heimnisvolle Wachsen und Werden. Hier sammelt es Beobachtung 
und Erfahrung. 

Die Unterrichtsfächer werden keinem aufgedrängt, sondern das 
Kind wählt sie sich selbst aus: Geschichte und Geographie, Naturwissen- 
schaft und Mathematik. Unter Umständen ist diese Auswahl von der 
Jahreszeit abhängig. Frühling und Sommer passen mehr für das 
naturwissenschaftliche Studium, der kalte und scharfe Winter mehr 
für das mathematische Studium. Dabei werden diese Studien nicht 


dazu benutzt, um das Leben draußen in der Natur durch logische 
28* 


436 A. Abhandlungen. 





Abstraktionen und Klassifikationen zu töten. Überall soll das Kind 
die großen Zusammenhänge beobachten, die Zusammenhänge im Leben 
der Natur und im Leben des Menschen. Auf Ganzheit kommt es an, 
nicht auf Zersplitterung. 

Die Sprachen werden nie langweilig sein. Vor allen Dingen des- 
halb nicht, weil der öde Grammatikunterricht so gut wie ausgeschaltet 
ist. Wenn das Kind zur Lektüre gelangt, dann hilft es sich von 
selbst weiter. Es wälzt das Lexikon und arbeitet Buch nach Buch 
durch. Das Kind beschäftigt sich gern mit zusammenhängender 
Lektüre. Das Lesebuch mit der Häppchenkost ist für immer ver- 
schwunden. 

In der Schule der Zukunft geht alles frei und fröhlich vor sich. 
System, Methode, Ordnung, Strafe, das sind Stützen der Pedanten der 
alten Schule In der neuen Schule kennt man sie gar nicht mehr. 
Nur Freiheit und Freude herrscht dort. Daß es keine Zeugnisse und 
keine Prüfungen mehr gibt, ist eine Selbstverständlichkeit. 

Auch das Äußere dieser Schule ist vornehm und schön. Draußen 
die Gärten und Sportplätze, wo sich die Jugend in Arbeit und Spiel 
frei bewegen kann. Drinnen überall große, hohe Zimmer. Klassen- 
zimmer in unserem Sinne kennt die Zukunftsschule nicht mehr. 
Dafür aber große Räume, wo die Schüler, jeder nach Herzenslust, 
jeder an seinem Platz, fröhlich und unermüdlich arbeiten. Und 
überall sind Originale und Kopien von Kunstwerken. Die Skulptur 
und die Architektur bietet ihr Schönstes der Jugend dar. Und’an 
den Fenstern sind auch im Winter Blumengärtlein angebracht, damit 
allezeit die Natur mit ihrem Leben und ihrer Schönheit veredelnd 
auf die froh arbeitende Schülerschar einwirken kann. Der Lehrer in 
der Zukunftsschule tritt zurück. Das Kind weiß ja selbst, was es 
soll. Das Kind hat vor allen Dingen auch die Bibliothek, wo es An- 
regung und Auskunft findet. Und doch soll der Lehrer der Zukunfts- 
schule keine Puppe sein. Er soll doch hin und wieder mit seiner 
Meinung bervortreten, die garnicht subjektiv genug sein kann, die 
aber niemals irgend einem Schüler aufgedrängt wird. Der Lehrer 
der Zukunftsschule muß allerdıngs eins haben: Liebe, Verständnis 
und Sehnsucht nach den Kindern. Wenn sein Probejahr herum ist, 
entscheidet ein älterer Lehrer, der ihn ein Jahr lang beobachtet hat, 
über seine Anstellungsfähigkeit, vor allen Dingen aber entscheiden die 
Kinder selbst darüber, die ja diesen feinen Instinkt für das segens- 
reiche Wirken eines Lehrers besitzen. Aus der Schule der Zukunft 
nach Ellen Key geht ein Geschlecht hervor, das nicht mehr ver- 
dummt ist, das nicht mehr ein kollektives Gewissen besitzt, sondern 


Sellmann: Ist die Verwirklichung der Zukunftsschule von Ellen Key erwünscht? 437 





das das Hirn und das Herz auf dem rechten Flecke hat und selbst 
mit Lust und Kraft sich und kommenden Geschlechtern die Zukunft 
bauen kann. 

Ellen Key ist mit diesen Gedanken nicht ganz originell. Sie 
nennt selbst Montaigne, Rousseau und Spencer als ihre Meister. 
Und in der Tat kann man viel innere Beziehungen zwischen diesen 
und Ellen Key aufzeigen. Sie nennt dann vor allen Dingen 
Nietzsche, dem sie nicht nur ihren Individualismus verdankt, 
sondern auch ihre blendende Sprache. Ist sie so abhängig, so ist sie 
andererseits auch wieder gänzlich unabhängig, auf Schritt und Tritt 
sehen wir ihre Selbständigkeit, ihre stark ausgeprägte Subjektivität. 
An und für sich scheint es, als ob Ellen Key in jeder Weise das 
Glück unserer Jugend und den Segen unserer Schule förderte. Man 
steht entzückt und bewundernd vor dem Sonnenschein und Glanz, 
der über der Zukunftsschule Ellen Keys liegt. Doch scheint dieses 
nur so. Wir müssen tiefer graben und uns nicht durch ihre prunk- 
vollen und leidenschaftlichen Worte gefangen nehmen lassen. Tun 
wir das, dann sehen wir all die großen Gefahren, die ihre Gedanken 
für unsere Jugend bedeuten. 

Ellen Key ist in jeder Weise eine Fanatikerin, eine Agitatorin. 
Sie will unter allen Umständen Eindruck machen, sie will auf die 
Massen wirken, und sie wirkt auch durch die eigentümliche Art, wie 
sie die Dinge anfaßt, auf die Masse. In deutschen Landen hat sie 
ohne Zweifei eine Massenwirkung hervorgerufen, und die Jünger und 
Jüngerinnen dieser falschen Prophetin sind Tausende und Aber- 
tausende Ihr Buch »Jahrhundert des Kindes« ist schon in einer 
hohen Auflage erschienen. Auch eine Volksausgabe ist in deutscher 
Sprache herausgegeben. 

Als echte Agitatorin geht sie mit ihren Forderungen ins Maß- 
lose. Das sieht man so recht, wenn man ihr Buch in die Hand 
nimmt. Überall Leidenschaftlichkeit und Überspanntheit. Sie kennt 
keine Grenze und kein Ziel. Sie ist aber auch in ihren Angriffen 
auf die alte Schule maßlos. Das, was sie dort angreift, ist eine 
Schule, wie sie heute kaum oder überhaupt nicht mehr existiert. Das 
ist eine Karikatur im schlimmsten Sinne des Wortes, denn über ihre 
beiden Ziele ist sich heute jede Schule und jeder Lehrer einig. 
Überall will man die Individualität des Kindes berücksichtigen und 
für das Leben erziehen. 

Ellen Key haßt die Worte: System, Methode, Plan und Ordnung. 
Das Kind soll sich in aller Freiheit entwickeln. Sie setzt dabei vor- 
aus, daß das Kind imstande sei, schon selbst den Weg zu erkennen, 


438 A. Abhandlungen. 








sich selbst die Bücher, die es braucht auszuwählen, selbst alle 
Schwierigkeiten, die im Wege liegen, hinwegzuräumen. Sie ist der 
Meinung, daß in der alten Schule nur Herdenmenschen erzogen 
würden. Sie aber will Herrenmenschen haben, Menschen, die sich 
nur von ihrem eigenen Gewissen leiten lassen. Sicherlich ist die 
Familie die natürliche soziale Gemeinschaft. Das wird ihr niemand 
bestreiten. Aber es ist doch eine Übertreibung, nun sofort behaupten 
zu wollen, als ob jeder Kindergarten und jede Kinderschule nur dazu 
da sei, um kollektive Dumme zu erzeugen. Es ist auch eine Über- 
treibung, wenn sie in der Kameradschaftlichkeit der Schule eine 
große Gefahr erblickt. Selbstverständlich kann aus der Kamerad- 
schaftlichkeit auch manches Nachteilige hervorgeben. Aber es strömt 
doch auch andererseits daraus viel Segen. 

Wenn sie diese häusliche Schule bis zum 9. und 10. Jahre aus- 
dehnen will, so vergrößert sie ungemein die Schwierigkeiten. Wer 
einmal Schulanfänger unterrichtet hat, der weiß, wie verschiedenartig 
die Kinder beschaffen sind, die uns in die Schule geführt werden. 
Das eine Kind bringt aus dem Elternhaus viel mit, das andere Kind 
wenig. Und bier muß schon etwas von der abplattenden und gleich- 
machenden Wirkung der Schule auftreten. Allein in diesem Sich- 
ineinanderfügen liegt doch auch ein großer Segen. Der Stein, der 
zum Bauwerk gebraucht werden soll, muß es sich gefallen lassen, 
daß er behauen wird. Diesen Segen der Gemeinschaft erkennt Ellen 
Key nicht. Wartet man nun mit dem Schuleintritt bis zum 9. und 
10. Lebensjahr, das wünscht ja Ellen Key, dann wird diese Ver- 
schiedenheit um so krasser hervortreten, dann wird die Schwierigkeit 
um so größer, die beiden Geschlechter aller Stände und Klassen in 
der »Gesamtschule« wirklich gemeinsam zu erziehen. Merkwürdiger- 
weise widerspricht sich hier Ellen Key. Während sie noch eben 
beim Kindergarten die Kameradschaftlichkeit als eine riesengroße Ge- 
fahr hinstellt, preist sie sie in ihrer Gesamtschule als Segen und 
Vorteil. Eben war noch die Kameradschaftlichkeit Fehler, jetzt wird 
sie plötzlich zum Vorzug. 

Die Zöglinge der Gesamtschule sollen nun ihre Fächer sich 
selbst auswählen. Ich kann doch erst dann wählen, wenn ich den 
Wert und die Art der einzelnen Gegenstände, die ausgewählt werden 
sollen, genau kenne. Man sehe sich nun einmal unsere 9 und 10- 
jährigen Kinder an, wie sie sich selbst ihre Unterrichtsfächer aus- 
wählen!? Was weiß ein Kind von 9 und 10 Jahren von dem Wert 
der Geschichte und Geographie, der Naturwissenschaft und Mathematik. 
Die Wahlfreiheit bei den Unterrichtsfächern ist in jeder Weise eine 


Sellmann: Ist die Verwirklichung der Zukunftsschule von Ellen Key erwünscht? 439 





törichte Forderung. Und dann erwartet Ellen Key, daß die Kinder 
selbständig und fleißig in den selbstgewählten Fächern ihre Arbeit 
leisten werden. Das ist ebenfalls wieder eine törichte Forderung. 
Kinder müssen zur Arbeit angetrieben werden. Kinder sind spiele- 
risch veranlagt und müssen erst zur Arbeit erzogen werden. Ohne 
einen gewissen Zwang und Druck, ohne Aufsicht und Leitung geht 
es nirgends ab. Der Krieg ist gekommen, und die Kinder bekamen 
mehr Freiheit, hatten weniger Aufsicht, und siehe da, Verwilderung 
trat ein. Es mag einmal ein Musterkind vorhanden sein, das fleißig 
vorwärts strebt. Das ist jedoch eine so seltene Ausnahme, daß sie 
nicht maßgebend sein kann, und sicherlich sind derartige Muster- 
kinder selbst nicht nach dem Geschmack von Ellen Key. Da ist 
unsere alte Schule doch viel praktischer. Da wird nicht lange ge- 
fragt, sondern gehandelt und gearbeitet. Sie führt von der Autorität 
zur Freiheit, vom Gehorchen zum Befehlen, vom Sichfügen zur Selb- 
ständigkeit. Es dürfte auch schwer sein, die Individualität eines 
Kindes von vornherein klar zu erkennen. Das Kind ist am wenigsten 
dazu geeignet, sich selbst zu erkennen. Kinder sind mit ihren Augen 
draußen in der Welt, in Wald und Feld. Sie stellen noch keine 
Selbstbetrachtungen an. Dazu sind sie noch in jeder Weise un- 
brauchbar. In vielen Fällen werden auch die Eltern nicht die Ent- 
scheidung treffen wollen, welche Fächer ihre Kinder nun wählen 
sollen. Einseitige Menschen werden sich und anderen zur Qual und 
können den Kampf ums Leben nicht erfolgreich kämpfen. Vielseitig- 
keit gibt die Möglichkeit, daß der Mensch den mannigfachen Schwierig- 
keiten des Lebens gewachsen ist. Zunächst kommt es auf eine all- 
gemeine Bildung an, die jedes Kind erhalten muß. Auch Ellen Key 
hat eine derartige allgemeine Bildung im Auge und spricht von einem 
obligatorischen Bildungsstoff, obwohl doch eigentlich das Wort »obliga- 
torische nicht in ihrem Lexikon stehen dürfte. 

Es ist auf der anderen Seite wieder höchst bedauerlich, daß bei 
den Unterrichtsfächern Ellen Keys nicht der wissenschaftliche oder 
allgemeinbildende Wert entscheidend ist, sondern einzig und allein 
die praktische Verwendbarkeit. Dieser übertriebene Utilitarismus mag 
wohl für die Schwedin Ellen Key passen, die in jeder Weise für das 
englische Volk schwärmt, das allerdings überall den praktischen 
Nutzen entscheiden läßt. Für unseren deutschen Unterrichtsbetrieb 
darf dieser Gesichtspunkt nimmermehr allein entscheidend sein. 

Wäre dieser Nützlichkeitsstandpunkt immer für unsere deutsche 
Schule maßgebend gewesen, so hätte sie nicht diese Erfolge erzielt. 
Wir pfeifen auf diesen fremdländischen Krämergeist und wollen ihn 


= TUT zii 


440 A. Abhandlungen. 





niemals in unsere deutsche Wissenschaft kommen lassen. Die Ge- 
brüder Grimm hätten sich nimmermehr mit unserer deutschen Sprache 
und dem deutschen Altertum beschäftigt, wenn sie immer nach dem 
Nutzen hinüber geschielt hätten. Echte Wissenschaft ist interessenlos 
und arbeitet nur einzig und allein der Wissenschaft halber. Und in 
unseren Schulen muß schon etwas von diesem idealen Geist gepflegt 
werden. Es gibt schon Krämerseelen genug, warum soll man auch 
in der Schule durch falsche Erziehung ihre Zahl vermehren? Ellen 
Key kehrt diesen Nützlichkeitsstandpunkt allzu sehr heraus. Weil 
ihr Grammatik und Mathematik ohne weiteres nicht nutzbringend er- 
scheinen, werden sie von vornherein abgelehnt. Ellen Key hat keine 
Ahnung, welche wissenschaftlichen und welche sittlichen Werte bei- 
spielsweise in der Mathematik stecken. Diese Fächer sind doch grade 
geeignet die Urteilskraft in den Schülern zu wecken und zu stärken. 
Wenn das Ellen Key erkannt hätte, hätte sie auch ein Wörtlein dafür 
gehabt. Aber sie hat es eben nicht erkannt. Gradezu lächerlich ist 
aber, wenn sie sagt, der Winter mit seiner kalten und klaren Luft 
eigne sich ganz besonders für die Mathematik. Sie will in ihrer 
Zukunftschule fröbliche Arbeiter erziehen und dabei macht sie deren 
Arbeit tatsächlich abhängig vom Wetter. Ich weiß nicht wann 
Pythagoras seinen Lehrsatz gefunden hat, ob es Sommers- oder 
Winterszeit gewesen ist. Wer arbeiten kann der schaut nicht aus, 
ob das Wetter zu warm oder zu kalt sei, der arbeitet eben und tut 
seine Pflicht. 

Die Fächer sollen nur große Zusammenhänge bringen. In der 
Naturwissenschaft z. B. sollen nicht biologische, physikalische, zoolo- 
gische, botanische Kenntnisse geschieden werden, sondern überall 
sollen nur große Zusammenhänge dargeboten werden, »Ganzheite, 
wie Ellen Key so schön sagt. Ebenso soll es in Geschichte sein. Es 
soll gleichzeitig Kulturgeschichte, Sprachgeschichte, Religionsgeschichte, 
Kriegsgeschichte usw. geboten werden. Wie sich das Ellen Key bei 
ihren Schülern denkt, ist mir nicht ganz klar. Ich weiß wohl, daß 
Menschen- und Naturleben kein System von scharf geschiedenen 
Klassen und Ordnungen darstellen, wie es Lehrbücher und schema- 
tische Übersichten glauben machen könnten. Wir haben überall im 
Menschen- und Naturleben organische Zusammenhänge und lebendige 
Wechselwirkung. Allein wenn ich mit meinem denkenden Verstand, 
mit meinem arbeitenden Hirn an das Menschen- und Naturleben 
herantrete, so muß ich isolieren, muß das Einzelne betrachten. Es 
geht garnicht anders, unser Denkvorgang macht das notwendig. Auch 
psychologische Überlegungen führen dahin. Ich kann nicht das Gan.:e 


Sellmann: Ist die Verwirklichung der Zukunftsschule von Ellen Key erwünscht? 441 





mit einem Blick überschauen, sondern die Enge des Bewußtseins 
nötigt mich dazu, auf einzelnes meine ganze Aufmerksamkeit zu 
richten. Es geht garnicht anders. Ich muß das Zusammenhängende 
bei meiner geistigen Arbeit irgendwie trennen. Selbstverständlich 
muß ich mir dabei bewußt bleiben, daß die Wirklichkeit immer Ganz- 
heit bedeutet, und ich muß beim Unterricht auf dieses geheimnisvolle 
Gewebe des Zusammenhanges immer wieder hinweisen. Soweit ich 
unterrichtet bin, wird auch das überall im naturwissenschaftlichen 
Unterricht getan. Ellen Key jedoch stellt von vornherein das Kind 
hilflos und ohne Anleitung diesem bunten und schillernden Menschen- 
und Naturleben gegenüber, sie erwartet, daß es Beobachtungen macht 
und sich die Wissenschaften durch selbständige Arbeit aufbaut. Sie 
setzt die Kinder unserer Gegenwart im gewissen Sinne ins Paradies 
zurück, und erwartet nun von ihrer Selbständigkeit und Urteilskraft, 
von ihrem Arbeiten und Finden, daß sie in wenigen Jahren den Gang 
bis in unsere heutige verwickelte Kultur machen können. Das Kind 
soll allein das in wenigen Jahren vollbringen, wozu die gesamte 
Menschheit Jahrtausende voller Mühe und Arbeit nötig gehabt hat. 
Die Gedanken Ellen Keys sind Phantome, Utopien, die sich nimmer- 
mehr verwirklichen lassen. Die Schüler sehen eben nicht draußen 
in der Natur, und auch nicht im flutenden Menschenstrom der Groß- 
stadt das Wichtige, Wertvolle, sie sehen nicht die großen Zusammen- 
hänge. Sie müssen zunächst von kundigen Führern darauf gestoßen 
werden. Diese kundigen Führer wissen allein, wo Hauptsachen und 
wo Nebensachen zu beobachten sind. Sie schützen allein das Kind 
vor Verwirrung und Verblendung. Wer Kinder kennt, der weiß, 
daß es Kleinigkeitskrämer sind, die niemals die großen leitenden Ge- 
sichtspunkte zuerst ins Auge fassen. Ein Kind wird niemals draußen 
in Feld und Wald eine Lebensgemeinschaft mit tieferem naturwissen- 
schaftlichem Verständnis beobachten können, wenn es nicht von 
irgendeinem Lehrer zu diesem Sehen geschult ist. Der laufende Hase 
und der fliegende Rabe nimmt wohl sein Interesse in Anspruch, an 
dem geheimnisvollen Leben und Weben in der Natur geht es da- 
gegen blind vorüber. 

So stellt auch Ellen Key ihre Schüler hinein in die reiche und 
prunkvolle Bibliothek, wo sie selbständig sich die Bücher aussuchen 
sollen. Man denke sich die Kinder inmitten einer großen Bücherei! Wie 
hilflos und ratlos sind sie, und wie freuen sie sich, wenn ein Er- 
wachsener ihnen in dieser Hilflosigkeit und Ratlosigkeit hilft! Ellen 
Key ist cabei der Ansicht, daß die kindliche Unlust ohne weiteres 
alles Unyassende und Verfrühte abstoßen würde. Wann erkennt das 


Ei Ei EEE, zn aa T 


442 A. Abhandlungen. 





Kind, daß es sich um verfrühte Lektüre handelt, die nicht für es ge- 
eignet ist? Doch erst dann, wenn es das Buch gelesen hat. Aber 
dann ist es ja schon zu spät, dann ist kostbare Zeit nutzlos verbracht. 
Handelt es sich andererseits um ein Buch, das vielleicht in sittlicher 
Beziehung für ein Kind noch nicht geeignet ist, was dann? Dann 
kann schon die Seele des Kindes vergiftet sein, und kein Erzieher 
war da, der das in der Zukunftsschule Ellen Keys verhindert hätte. 
Das Kind kann doch nicht aus der Überschrift oder aus den ersten 
Seiten sehen: Das ist nichts für mich, sondern es muß erst Zeit ver- 
schwenden und Gefahren durchmachen. Wahrlich ich möchte die 
Eltern sehen, die ihre Kinder in die Zukunftsschule von Ellen Key 
schicken möchten. Läßt man denn das Kind in körperlicher Be- 
ziehung essen und trinken, was sie wollen? 

Bei dieser Gelegenheit überhäuft sie mit bitteren Vorwürfen und 
scharfem Sarkasmus das Lesebuch. Es zersplittere und es bringe 
Stoffe, die garnicht zusammen gehörten. Und doch hat sich in den 
Schulen Fibel und Lesebuch mit kürzeren Lesestücken eingebürgert. 
Und wie kommt das? Das muß doch irgendwie psychologisch be- 
gründet sein. Um solche Fragen bekümmert sie sich nicht. Mit 
hohlen Redensarten deckt sie alle Probleme zu. Das Lesebuch, wie 
wir es haben, ist in der Kindesnatur begründet. Kinder können noch 
nicht zusammenhängende Bücher lesen, dazu ist ihre Aufmerksamkeit 
und ihre Konzentration noch nicht zäh und ausdauernd genug. Für 
unsere Schüler der Unter- und auch der Mittelklasse ist das Lese- 
buch das Lieblingsbuch. Und wenn man den Kindern selbst die Ent- 
scheidung überläßt — und das will ja Ellen Key —, dann greifen 
sie immer nach den Büchern mit den kurzen und abwechselnden 
Stücken. Das Lesebuch ist selbstverständlich nur von vorübergehender 
Bedeutung. Allmählich soll das Kind auch zum Lesen zusammen- 
hängender Werke erzogen werden. 

Wie sich Ellen Key die Arbeit in den herrlichen Räumen ihrer 
Zukunftsschule denkt, kann ich nicht erkennen. Einen solchen Riesen- 
betrieb, wo jeder einzelne Zögling seine eigenen Wege gehen kann, 
kann ich mir garnicht vorstellen. Sie will ja keine Ordnung und 
keinen Plan und kein System haben. Wenn ich mir ihre Zukunfts- 
schule verwirklicht denke, so herrscht dort etwas ganz anderes, als 
was Ellen Key sieht, es herrscht dort die größte Unordrung, Plan- 
losigkeit und Verwirrung, so daß ein regelrechter Arbeitsbetrieb eine 
Unmöglichkeit ist. 

Und welches Geschlecht wird aus der Zukunftsschule hervor- 
gehen? Ein Geschlecht voll Anspruch und voll Egoismus, ein Ge- 


Sellmann: Ist die Verwirklichung der Zukunftsschule von Ellen Key erwünscht? 443 





schlecht, das zuchtlos und launisch ist, ein Geschlecht, das einseitig 
und genußsüchtig ist. Maulhelden schlimmster Sorte werden daraus 
hervorgehen, die nicht klar sehen und nicht ernst und gewissenhaft 
handeln können, eckige, wunderliche Gesellen, die sich in nichts fügen 
und finden können, die das Leben nicht meistern. Agitatoren und 
Fanatiker werden daraus hervorgehen, die nur ihre Person durch- 
setzen wollen, denen aber das Verständnis für fremde Art und fremdes 
Wesen abgeht, selbstsüchtige Menschen, die nichts wissen von Selbst- 
hingabe und Opfer. 

Ellen Key hat wohl herrliche Worte für ihre Gedanken, aber es 
sind doch nur Worte, es sind nur Theorien, die sich niemals restlos 
in die Wirklichkeit übertragen lassen. Und wo man etwas davon in 
die Wirklichkeit überträgt, da wird nur Unheil angerichtet. Ich be- 
haupte, daß Ellen Key vier große Irrtümer in ihrem System hat. 

1. Ellen Key kennt das Kind nicht. Alles, was sie vom 
Kind sagt, zeigt eine solche psychologische Unkenntnis, daß man den 
Satz aufstellen kann, daß Ellen Key niemals denkend und beobachtend 
den Kindern gegenüber getreten ist. Sie redet immer von Kinder- 
schatten, aber nicht von Kindern mit Fleisch und Blut. Kinder sind 
zunächst unselbständig, sind nachahmelustig, sind autoritätenhungrig, 
sind Kleinigkeitskrämer, sind noch unwissend. Erst allmählich kann 
es zum Sehen, zum sicheren Urteilen, zum selbständigen Denken, zum 
starken festen Wollen, zur Freiheit, zur Persönlichkeit erzogen werden. 
Zunächst sind noch sinnliche Strafen und Belohnungen nötig, die 
Ellen Key ablehnt. Das wissen wir aus der Erfahrung, wissen wir 
von anderen Erziehern. Die Erziehung soll natürlich darüber hinaus 
führen. Das ist zunächst der Grundirrtum: Ellen Key sieht schon 
im Kind einen Erwachsenen, sie verwechselt Individualität und Per- 
sönlichkeit. 

2. Ellen Key kennt unsere Schule nicht. Alle Vorwürfe, 
die sie unserer heutigen Schule macht, mögen in einzelnen Fällen 
berechtigt sein, aber im großen und ganzen haben doch auch wir 
Lehrer Liebe und Verständnis für Kinderart. Die meisten Lehrer 
überragen darin Ellen Key, die scheinbar gar keinen Umgang mit 
Kindern gehabt hat. Manche Forderungen, die Ellen Key als neu 
aufstellt, werden schon längst von den maßgebenden Schulleuten er- 
füllt. Ellen Key hat auch niemals tiefer über den Wert der einzelnen 
Unterrichtsfächer nachgedacht. Sie hat sich auch niemals gründlich 
in Schulbetrieben umgesehen. Mit einem Wort: Ihr Buch ist zumeist 
hohles Phrasengeklingel, in jeder Beziehung wirklichkeitsfremd. 

Unsere Schule von heute hat viel größere Werte in sich, die 


444 A. Abhandlungen. 








Ellen Key entweder ganz übersieht oder als Schattenseiten ausgibt. 
Es ist gut, wenn es auch in der Schule zunächst etwas zwangvoll 
und schwierig zugeht. Der große Goethe, für den Ellen Key doch 
so schwärmt, hat seinem Buch » Wahrheit und Dichtung« die Worte 
in griechischer Sprache vorgesetzt: »Nur der geschundene Mensch 
wird erzogen.«e Ich weiß nicht, ob er da an all die Schwierigkeiten 
gedacht hat, die ihm bei seiner Entwicklung entgegen getreten sind. 
Sein Vater war etwas Pedant, das wissen wir. Aber mir will es 
nicht unmöglich erscheinen, daß grade diese Pedanterie ein Segen 
für Goethe gewesen ist. Diese väterliche Zucht hat dafür gesorgt, 
daß er mit seinen reichen und großen geistigen Gaben nicht zer- 
flatterte, zerrann, verkam. Grade die begabtesten Schüler sind in der 
Zukunftsschule Ellen Keys in Gefahr, gänzlich zu verweichlichen und 
in aller Einseitigkeit zu Grunde zu gehen. Es ist doch nun einmal 
so, daß die Eiche, die im Freien wächst, wo Wind und Wetter sie 
umtoben, am tiefsten Wurzeln schlägt und am weitesten die Zweige 
ausdehnt. 

3. Vor allen Dingen versteht eins Ellen Key nicht, die 
Frage, wie das Menschen- und Naturleben von der Seele 
der Schüler aufgenommen und dort zu neuem Leben um- 
gestaltet werden kann. Es fehlt ihr mit einem Wort jedes päda- 
gogische und methodische Verständnis. Sie haßt ja das Wort Methode, 
aber ohne Methode ist nun einmal kein erfolgreicher Unterricht mög- 
lich. Es muß irgendwie eine Methode, wenn auch unbewußt vorhanden 
sein. Die Methodenlosigkeit führt auf jeden Fall zur Ergebnislosigkeit. 
Wo Laune und Zufall herrschen, da kann nichts Großes geschaffen 
werden. Die Schüler, die Ellen Key uns schildert und die selb- 
ständig dem großen Menschen- und Naturleben oder der Bibliothek 
gegenüber stehen, sind bedauernswerte Menschen. Wie glücklich 
sind dagegen diejenigen Kinder, die einen trefflichen Führer diesen 
großen Zusammenhängen, diesen Ganzheiten gegenüber haben. Sie 
werden allmählich selbständig, während die Zöglinge Ellen Keys ewig 
unselbständig und blind bleiben. 

4. Vor allen Dingen mache ich Ellen Key zum Vorwurf, 
daß sie unsere Kinder nicht zur Selbsthingabe und Selbst- 
beschränkung erzieht. Selbstverständlich soll jedes Kind sich 
entwickeln, so gut es nur möglich ist, aber es soll doch auch gleich- 
zeitig das Bewußtsein in sich haben, daß es nicht nur für sich da 
ist, sondern für die Gesamtheit. Staatsbürgerlicher Sinn und vater- 
ländische Gesinnung muß in unserer Jugend geweckt und gestärkt 
werden, damit auch sie fähig wird, das große Erbe, das sie von den 


Sellmann: Ist die Verwirklichung der Zukunftsschule von Ellen Key erwünscht? 445 





Vätern übernimmt, weiter zu geben an kommende Geschlechter. Wohl 
sollen die Anlagen des Kindes entwickelt werden, aber dabei muß 
doch auch manches umgebildet, manches unterdrückt und gehemmt 
werden. In der Seele des Kindes wohnt Gutes und Böses neben- 
einander, beides kann nicht in gleicher Weise gefördert werden. Wo 
Kinder sind, gibt es auch Bosheit. Von diesem Kampf gegen die 
Bosheit weiß Ellen Key nichts. 

Hoffentlich hat Ellen Key, die besondere Vorliebe für England 
besitzt und auch diese im gegenwärtigen Krieg zum Ausdruck ge- 
bracht hat, nicht das Verlangen, mit ihren schulreformerischen Ge- 
danken auch fernerhin erfolgreich in Deutschland in kommender Zeit 
aufzutreten. Mag sie in England mit ihren Gedanken wirken, so viel 
sie will, wir verweigern ihr den Eintritt in unser deutsches Vater- 
land, weil sie doch nur mit ihren hochtrabenden leeren Redensarten 
Unheil und Schaden anrichten kann. 

Auch diejenigen, die in den Fußtapfen der Schwedin Ellen Keys 
wandeln, wollen wir nicht als Führende dulden. Die Zeiten, wo 
ein Ludwig Gurlitt, Berthold Otto u. a. auf dem pädagogischen 
Gebiete eine große Zuhörerschaft fanden, muß vorüber sein. Sicher- 
lich werden neue falsche Propheten aufstehen, die in kommenden 
Zeiten den radikalen Individualismus weiter predigen werden. Wir 
dürfen nicht auf sie hören. Das wäre zum Verderb unserer Kinder 
und unseres Volkes. Wir haben ganz andere Meister, denen wir folgen 
können. Ich denke da an Pestalozzi, Schiller, Fichte, Schleier- 
macher, Kant und wie sie alle heißen. Ich denke jedoch auch an 
unseren Altmeister Goethe, den so oft Ellen Key als Kronzeugen auf- 
ruft. Wohl hat Goethe als sein Bildungsideal aufgestellt, daß die 
Entwicklung der Kräfte des Menschen sein Glück bedeuten, und daß 
vor allem der Mensch sich selbst leben muß. Aber dieses Bildungs- 
ideal hat je länger, je mehr eine Ergänzung gefunden. Der Mensch 
muß auch um anderer willen leben lernen. Das wird oft zum Aus- 
druck gebracht. Ich erinnere nur an Faust, der in rastloser gemein- 
nütziger Tätigkeit den Weg zur Selbsterlösung fand. 

Bei Ellen Key fühle ich mich als Christ und als Deutscher, je 
mehr ich mich in ihre Gedankenwelt vertiefe, wie in der Fremde. 
Sie ist nicht nur unchristlich, sie ist auch undeutsch. Wollen wir 
die deutsche Zukunftsschule aufbauen, so müssen wir uns Baumaterial 
bei unseren genannten deutschen Meistern holen. Durch sie sind 
wir groß geworden, durch sie können wir einzig und allein groß 
bleiben. Durch die Verwirklichung von Ellen Keys Gedanken kommen 
wir zu Anarchie und Selbstvernichtung. 


446 B. Mitteilungen. 





Vor allen Dingen noch eins: Wir wollen uns von der hohlen 
und inhaltsleeren Phrase los machen und wieder schlicht und einfach 
unsere Pflicht tun. Ellen Keys Buch ist für mich nichts anderes als 
eine große Phrase, vorgetragen mit gefallsüchtigem Gespreize und 
hohler Pathetik, fern von Verständnis für die Jugend und unechter 
Liebe zu den Kindern. Bedauerlich ist es, daß diese große Phrase 
so viel Anklang im deutschen Volke finden konnte. Auch der Titel 
des Buches »Jahrhundert des Kindes«e wurde unter uns zur hohlen 
Phrase. Während wir immer von dem Jahrhundert des Kindes 
sprachen, nahm die Zahl der Kinder in unserem deutschen Volke von 
Jahr zu Jahr ab. Die Zahl der Särge drohte im Jahre größer zu 
werden als die Zahl der Wiegen. Geburtenrückgang und Jahrhundert 
des Kindes, wie reimt sich das zusammen? 

Auch wir sind dafür, daß das Kind zu seinem Recht kommt. 
Die Kinder sollen niemals in Not verkommen oder in Drill ver- 
kümmern. Auch wir wollen daß allezeit warmer Sonnenschein unsere 
Jugend durchflutet und helles Lachen unsere Kinderwelt durchdringt. 
Aber wir wollen unsere Kinder auch rechtzeitig an Pflichten ge- 
wöhnen, daß sie später selbst im Stand sind, warmen Sonnenschein 
und helles Lachen um sich zu verbreiten. Wir wollen dafür sorgen, 
daß sie nicht nur für sich etwas sind, sondern auch für andere. Nur 
dort ist eine große Zukunft, wo man nicht nur von Rechten predigt, 
sondern auch von Pflichten. Wenn wir alle, alt und jung in kommen- 
den Friedenszeiten unsere Pflicht tun, dann bleibt unser deutsches 
Vaterland auch in Zukunft stark und groß. 


annann 


B. Mitteilungen. 


Wie ich Memorierstoffe behandle und wie ich sie 
verwerte. 
Eine pädagogische Studie 
von Sofie Mical, städtische Kindergärtnerin in St. Pölten (Nieder-Österreich). 
(Schluß.) 


Ich gehe nun zur biographischen Behandlung meiner Arbeit über. 
[Untersuchung Meine Abteilung, die Abteilung des städtischen Kindergartens, 
auf Geschlecht zählte im Schuljahre 1911—12 34 Knaben und 18 Mädchen. 

and Aiter) Ms ist meine Absicht, zu untersuchen 1. wie sich die Ge- 
schlechter und 2. wie sich einzelne Kinder zu den Memorierstoffen verhielten. 


Wie ich Memorierstoffe behandle und wie ich sie verwerte. 447 





Bei genauester Untersuchung konnte ich feststellen, daß sowohl Knaben 
als Mädchen in der Bevorzugung der Memorierstoffe gleicher Meinung waren. 

Es ist nur der Unterschied zwischen aufgeweckten und weniger be- 
gabten Kindern zu bemerken. 

Meine Forschung hat sich nun damit zu befassen, ob das Verhältnis 
der begabten Knaben zu den begabten Mädchen ein gleiches oder ein un- 
gleiches ist. Wie ich schon erwähnte, zählte meine Abteilung 34 Knaben. 
Eine gründliche Untersuchung ergab, daß sich darunter 23 aufgeweckte 
und 11 weniger talentierte Knaben fanden. Das Verhältnis der geweckten 
Mädchen zu den schwächeren ist 12:6. Es ergibt sich somit zwischen 
begabten Knaben und begabten Mädchen in meiner Abteilung ein Verhält- 
nis von 68:67. Die Zahl der begabten Knaben überwiegt. 

Von den 23 geweckten Knaben waren einer dreijährig, acht vier- 
jährige, zehn fünfjährige und vier sechsjährige Kinder. 

Wenn ich nun wieder daran gehe, zu vergleichen, in welchem Kindes- 
alter das Interesse an Memorierstoffen am größten ist, so stellt sich folgen- 
der Prozentsatz heraus. Von vier sechsjährigen Knaben der Abteilung 
waren alle sehr aufmerksam, es sind also 100 °/, Sechsjähriger. Von 14 
Fünfjährigen brachten zehn den Memorierstoffen großes Interesse entgegen. 
Es stellen sich also 71°/, heraus. Bei den Vierjährigen läßt sich ein Pro- 
zentsatz von 610/ feststellen, denn von 13 Vierjährigen folgten 8 den 
Memorierstoffen leicht und gern. 

Von den Dreijährigen folgten nur 33°/, den Memorierstoffen leicht, 
da von 3 Dreijährigen nur ein Zögling Aufmerksamkeit zeigte. 

Bei den Mädchen derselben Abteilung lassen sich folgende Zahlen an- 
führen: Von 4 sechsjährigen Mädchen waren alle fleißig und lernten gern, 
es sind also wie bei den Knaben 100°/, zu verzeichnen. Von 6 fünf- 
jährigen Mädchen zeigten sich nur 4 begabt, das ergibt 60 °/, zum Unter- 
schiede von 71°, bei den Knaben gleichen Alters. 

Bei den vierjährigen Mädchen waren von 6 nur 3 aufmerksam, also 
50 °/, im Gegensatze zu 61°/, bei den gleichaltrigen Knaben. Die beiden 
dreijährigen Mädchen verhielten: sich den Memorierstoffen gegenüber ziem- 
lich teilnahmlos, während bei den Knaben derselben Altersstufe 33 %/, 
Anteil nahmen. 

Es ergibt sich das Resultat: »Mit zunehmendem Alter wächst das 
Interesse am Memorierstoffe.« Das ist wohl eine ganz selbstverständliche 
Folge, da sich entwicklungsgemäß der Anschauungs- und Auffassungskreis 
des Kindes von Jahr zu Jahr erweitern muß. 

Meine Aufzeichnungen, die ganz gewissenhaft gemacht wurden, führen 
zu dem Schlusse, daß Knaben im Alter von 3—6 Jahren in der 
geistigen Entwicklung den Mädchen des gleichen Alters über- 
legen sind. 

Es wäre interessant, das Resultat der Untersuchung an anderen An- 
stalten mit dem Resultate meiner Untersuchung zu vergleichen, um zu 
sehen, ob meine Aufzeichnungen nur ein zufälliges Ergebnis waren. 

Ebenso wäre eine zweite Untersuchung, wie sich Kinder, die keine 
Gelegenheit haben, das Memorieren zu üben, wie es bei mir geübt wird, 


Ta T 


448 B. Mitteilungen. 





oder die überhaupt gar nicht memorieren, Sprüchen und Liedern gegen- 
über verhalten, von großem Werte. 

Das Verhalten einzelner Kinder zu den Memorierstoffen als Ergebnis 
meiner Beobachtungen sei hier noch besonders erwähnt. 

Ein fünfjähriger Knabe, der sonst wenig Anteil an dem Memorier- 
stoffe zeigte, fiel mir dadurch auf, daß er zur Zeit der freien Beschäfti- 
gung meist Gegenstände, Tiere usw. aus dem eben behandelten Memorier- 
stoffe frei darstellte, sei es, daß er sie zeichnete, aus Papier ausschnitt 
oder mit Stäbchen, Täfelchen oder Ringen darstellte. Ein Beweis für seine 
Anteilnahme. 

{Die Memorierstoffe Im Gegensatze zu diesem Knaben war die Tätigkeit eines 
werden den Außen- anderen nahezu gänzlich untalentierten, der nichts aus sich 
paßt.) selbst schaffen konnte, aber jede Gelegenheit, bei der er memo- 
rieren konnte, mit Freude begrüßte, und es war auffallend, daß er die 
Memorierstoffe passend zur Anwendung brachte. Z. B. bei unbeständigem 
Wetter zitierte er die Verse: »Das ist ein närrisches Wetter« usw. Bei 
Regenwetter fing er zu singen an: »Nur Wasser, nur Wasser, es wird 
immer nasser.« 
[Darstellen und Ein sehr aufgeweckter vierjähriger Knabe, der auch viel frei 
Dichten. ] darstellte, hatte die Eigentümlichkeit, daß er nur solange als 
er sich unbeobachtet glaubte, alles mögliche sang und memorierte und die 
Memorierstoffe auch dramatisiertee Er machte auch selber kleine Reim- 
versuche. Der Kleine zeigte schauspielerisches Talent, verstummte aber 
sofort, wenn er sich beobachtet fühlte und stellte seine Arbeit ein. 

Ein sechsjähriger Bub aus sehr armen Verhältnissen, man könnte ihn 
nahezu verwahrlost nennen, zählte unbedingt zu den begabtesten Zöglingen 
meiner Abteilung. Er gestaltete die Memorierstoffe in Erzählungen um. 
Während der Pause scharte ich immer eine Anzahl von Kindern um ihn, 
und er gab dann die umgewandelten Memorierstoffe zum besten. Bei 
allen Erzählungen nahm der Kasperl die erste Stelle ein. Auch der Oster- 
hase reizte seine Phantasie und ich konnte ihm die drolligsten Geschichten 
von ÖOsterhase und Kasperl ablauschen. 

Freiwillige Wieder- Ein anderer Vierjähriger verhielt sich einem Memorierstoff 
BE ee gegenüber anscheinend teilnahmlos, wurde dieser aber durch 

oftmaliges Hören sein Eigentum, dann konnte er unermüd- 
lich immer und immer wieder das Gleiche sagen. Man konnte z. B. zehn- 
mal und öfter hören: »Übers rote Ziegeldach und der Schweif kommt 
hintennach.« Er hatte jedenfalls Freude über die neue Errungenschaft, 
wurde durch die Wiederholung nicht ermüdet, der Stoff verlor für ihn 
dadurch nichts an Anziehungskraft; das Kind brauchte eben sehr viele 
Apperzeptionshilfen, bis sein Geist rege wurde. 

Ein Knabe, der im Schuljahre 1910—11 allen Spielen und Beschäf- 
tigungen ganz teilnahmlos gegenüber gestanden hatte, machte mir im Schul- 
jahre 1911—12 große Freude, er war ganz verändert, zählte auf einmal 
zu den fleißigen, lerneifrigen Kindern. Jedem Memorierstoff, der wie schon 
wiederholt erwähnt, vorher erlebt worden war, brachte er großes Interesse 
‚entgegen. Auch die typische Ungelenkigkeit seiner Hände, die wohl nichts 





Wie ich Memorierstoffe behandle und wie ich sie verwerte. 449 








anderes war als das Unvermögen, Gesehenes nachzubilden, hörte wie mit 
einem Schlage auf. Es zeigte sich sogar das Erwachen der Phantasie. 
So zeichnete er unter anderm eines Tages den Wind in beifolgender Weise. 


po ae 


[Phantasiearmut.] Ein anderer sechsjähriger Knabe zeigte großes Interesse 
an allen Memorierstoffen. Er lernte sie leicht, konnte aber nur sehr 
mangelhaft aus der Phantasie gestalten. Vorgezeigtes, Vorgezeichnetes 
machte er gerne nach. Er liebte die Freibeschäftigungen nicht. 

Ein vierjähriger Knabe begleitete all sein Tun mit Hersagen oder 
Singen einiger Zeilen aus den gelernten Memorierstoffen. Ganz besonders 
gerne sang er: »Hansel, Michel kommt herbei« oder »Kennst du den 
dicken, den runden, den hellen Gesellen der Nacht?« 

Der Sechsjährige, der so schön vom Meere erzählt hatte, machte dem 
oberflächlichen Beobachter den Eindruck, als ob er dem Memorierstoff gar 
kein Interesse entgegenbringe, denn nur sehr selten sprach er so wie die 
übrigen Kinder laut mit. 

(Stark entwickeltes Ich bemerkte aber bald, daß er sich intensiv mit dem Me- 

rgefühl.] morierstoffe beschäftige, doch sprach er nicht eher laut mit, 
als bis er ihn tadellos beherrschte. War dies der Fall, was nie lange 
dauerte, so meldete er sich gerne zum Alleinsagen. 

Nun will ich auch jene Mädchen anführen, die durch ihr Verhalten 
den Memorierstoffen gegenüber auftielen. 

Ein vierjähriges Mädchen hatte ganz besondere Freude am Dekla- 
mieren, ahmte dabei ganz meine Redeweise nach und spielte sich gerne 
auf die Lehrmeisterin anderer Kinder hinaus. Ich bekam von ihm oft zu 
hören: »Na, paß auf! sag’ schön nach!« Sie brachte auch von daheim 
eiren Schatz von Liedern und Gedichten mit, deren Text just nicht kind- 
lich zu nennen war. 

[Wenig Selbst- Ein sechsjähriges Mädchen, das erst seit Beginn des Schul- 

vertrauen.] jahres 1911—12 den Kindergarten besuchte, zeigte sich an- 
fangs ganz teilnahmlos und gab jedesmal auf meine aufmunternden Worte 
zur Antwort: »Das kann ich nicht.« 

Wäre ich in das Kind gedrungen, so hätte ich es wahrscheinlich er- 
lebt, daß es eines Tages überhaupt nicht mehr in den Kindergarten ge- 
kommen wäre. Ich ließ die Kleine gewähren, zwang sie zu gar keiner 
Beschäftigung und erlebte bald die Freude, zu sehen, daß die Kleine ihre 
Scheu verlor, gerne im Chor mitsprach, und am Schlusse des Schuljahres 


Zeitschrift für Kinderforschung. 21. Jahrgang. 29 


B. Mitteilungen. 


450 
zählte sie zu meinen fleißigsten Zöglinger. Sie war sehr betrübt, als sie 
hörte, daß nun Ferien seien und sie zu Hause bleiben dürfe, 

Noch ein zweites Mädchen entwickelte sich in der gleichen Weise. 
[Freude am An einem anderen sechsjährigen Mädchen, das aus Mähren ge- 

Reime.] kommen war und nur böhmisch sprach, konnte ich beobachten, 
welche Freude die Kleine an Reimgeklingel und Rhythmus hatte. 

Sie fing die Reime auf, sprach sie zu Hause nach und wollte von 
ihrer Mutter durchaus haben, daß diese mit ihr die Gedichte weiter lerne. 
Die Mutter des Kindes kam eines Tages zu mir und bat mich, ihr die 
Gedichte aufzuschreiben, damit sie sie mit dem Kinde lernen könne, es 
sei dies der Kleinen Wunsch. 

Ein drittes sechsjähriges Mädchen war ein absolut verläßliches Kind. 
Sie konnte alle Gedichte zuerst, stockte auch nie bei Beginn einer Vers- 
zeile und half jedem zaghaften Kinde unerschrocken weiter. Sie war auch 
der Liebling aller andern Kinder. Sie räumten ihr neidlos die erste Stelle 
ein. Die Kleine stand auch bei allen andern Spielen und Beschäftigungen 
als tadelloses Vorbild da, so daß es mir ganz unmöglich war, diese Sonder- 
stellung zu verhüten. Es war gewiß zu verwundern, daß das Mädchen 
dadurch nicht eitel und vorlaut wurde. 

[Viel Mütterlichkeit.] Ein vierjähriges Mädchen von ganz seltener Begabung 
trachtete mit dem Musterkinde Schritt zu halten. Es lernte erstaunlich 
leicht und gerne und jeder, der es nicht wußte, daß das Kind erst vier 
Jahre zähle, mußte es für ein sechsjähriges Kind halten. Besonders be- 
merkenswert ist an ihm, daß es große Freude daran fand und auch nicht 
müde wurde, alle im Kindergarten gelernten Lieder und Gedichte daheim 
dem zweijährigen Schwesterchen vorzusagen und vorzusingen. Erst wenn 
das kleine Schwesterchen mitplapperte, gab sich die Größere zufrieden. 
[Dem Kindo ersteht Zum Schlusse will ich noch eines Mädchens erwähnen, das 
im Kindergarten mir immer den Eindruck eines etwas beschränkten und 
eine neue Welt] faulen Kindes machte. Es saß teilnahmlos da, wenn etwas 
memoriert oder gesungen wurde. Um so größer war mein Erstaunen, als 
ich die Entdeckung machte, daß das Kind tadellos alle Memorierstoffe inne 
habe und wie schön es diese wiedergab. Es sprach sich die Lieder und 
Gedichte bei jeder Freibeschäftigung vor und ich konnte es belauschen, 
ohne daß es davon eine Ahnung hatte. Später konnte ich auch bemerken, 
welch reiche Phantasie die Kleine beim freien Spiel entfaltete. Das Mäd- 
chen ist das Kind eines ganz armen Mannes (die Mutter ist tot), es be- 
kam daheim gar keine geistige Anregung, im Kindergarten erschloß sich 
ihm eine neue Welt. 

Bei genauer Durchsicht meiner biographischen Aufzeichnungen finden 
sich alle Punkte bestätigt, die mein erstes Resum& ergeben haben und 
darum habe ich sie in meine Arbeit aufgenommen. 

Memorieren war nicht der einzige Zweck beim Erlernen der Sprüche 
und Lieder, sie sollten im Spiele Verwertung finden, das heißt sie sollten 
dramatisiert werden, und damit bin ich bei einem weiteren Punkte meiner 
Arbeit angelangt. Was stellen die Kinder gerne dar und wie stellen 
sie es dar? 


Wie ich Memorierstoffe behandle und wie ich sie verwerte. 451 








Friedrich Fröbel, der große Pädagog und Philosoph, der die Kindes- 
seele mit voller Hingebung und Liebe studierte, hat nur zu bald erkannt, 
daß jedes normale Kind eine unbezwingliche Lust habe, alles was in seinen 
Gesichtskreis kommt, nachzuahmen. Das Ausdrucksvermögen der Kinder 
ist aber auf der Kindergartenstufe noch sehr gering. Fröbel kleidete Er- 
eignisse und Dinge, die dem Kinde nahestehen, in Spiele. Diese Spiele 
fanden in dem von ihm gegründeten Kindergarten Verwendung. Auch der 
moderne Kindergarten, der Fröbels Ideen ausbaut und vervollkommnet, 
kann der Darstellungsspiele nicht entbehren. Ich habe in meiner lang- 
jährigen Praxis diese Erfahrung gemacht. Von einer gebildeten Kinder- 
gärtnerin setzt man voraus, daß sie alles Läppische und alles Unkindliche 
aus ihrer Anstalt verbannt. 

Ich muß nun wieder auf die von mir im Schuljahre 1911—12 durch- 
genommenen Memorierstoffe zurückkommen und an ihnen zeigen, wie solche 
Darstellungsspiele in meinem Kindergarten gespielt wurden. 

Die ersten Versuche, zu dramatisieren, zeigten die Kinder beim Drachen- 
sprüchlein. Sie machten ein freundliches Gesicht und sprachen die Worte: 
»Fröhlich seine Augen schauen usw.« Die Länge des Schweifes wurde 
durch Auseinanderspreizen der Arme dargestellt. 

Das 2. Spiel »Wenn das Laub fällt« stellt schon größere Anforde- 
rungen an das Darstellungsvermögen der Kinder. An der Hand des Textes 
will ich die Ausführung dieses Spieles erklären: 


1. »Der Wind fährt durch die Bäume und bläst so laut hu, hu, 
Er schüttelt ihre Zweige, er schüttelt ihre Zweige 
Und wirft dann das Laub uns zu. 


2. Nur schnell zur Hand den Rechen, das Laub zu Haufen schnell, 
Rührt fleißig ihr die Hände, rührt fleißig ihr die Hände, 
Geht’s hurtig von der Stell. 
3. Habt ihr das Laub gesammelt hübsch säuberlich und fein, 
Dann füllet in die Körbe, dann füllet in die Körbe 
Die dürren Blätter schnell ein. 


4. Und seid ihr damit fertig, könnt ihr nach Hause gehn, 
Es schmeckt dann nach der Arbeit, es schmeckt dann nach der Arbeit 
Das Nachtmahl doppelt schön.« 


Bei diesem Spiele standen die Kinder in zwei Stirnreihen. In den 
erhobenen Händen hielten sie selbstgesammeltes, abgefallenes Laub. Sie 
stellten so die Allee vor. Ein Kind war der Wind, es lief durch die 
Reihen und blies dabei »hu, hu«, die Bäume (die Kinder) ließen dabei das 
Laub fallen. Nun kam eine Anzahl schon vor Beginn des Spieles hiezu 
bestimmter Kinder mit Rechen, Körben und einem Leiterwagen. Sie rech- 
ten das gefallene Laub zusammen, füllten es in ihre Körbe und luden es 
auf den Leiterwagen, auf dem sie es dann fortführten in eine Zimmerecke, 
die das Daheim der Kinder vorstellte. Dort ruhten die fleißigen Arbeiter aus 
und ahmten durch Hand- und Fingerbewegungen das Nachtmahlessen nach. 

Es würde zu weit führen, die Spielweise jedes Spieles nach obigem 

29* 


—— — a Ia aA 


452 B. Mitteilungen. 





Muster genau anzuführen. Ich werde mich darauf beschränken, nur die 
von den Kindern besonders gerne dargestellten Spiele anzuführen, die für 
die dramatische Veranlagung und Entwicklung der Kleinen Zeugnis geben. 


Das Schneemannspiel 


1. Kindlein eilen hin und her 
In dem Hof voll Lachen, 
Und sie plagen sich gar sehr | 
Heut beim Schneemannmachen. | 


. Eins und zwei und drei und vier, 
Isı es schon geschehen, 
Und man sieht den Schneemann hier 
Herrlich aufrecht stehen. 


3. Nun den Hut schön aufgesetzt, 


In der Hand den Stecken, 
In den Mund die Pfeife jetzt 
Sieht er aus zum Schrecken. 


4. Kindlein aber fürcht sich nicht, 


Tanzt im Ringelrunde, 
Sieht dem Schneemann ins Gesicht 
Mit dem roten Munde. 


5. Tralala und hopsasa 
Grüß dich Gott, Herr Vetter, 
Morgen sind wir wieder da, 
Wenn nicht taut das Wetter. 


Zuerst wurde ein Kreis gebildet, der den Hof darstellen sollte. Aus 
dem Kreise wurden dann die Darsteller gewählt. Ein Kind ward zum 
Schneemann erkoren, einige andere Kinder hatten die Aufgabe, den Schnee- 
mann in den Hof zu wälzen. Das Wälzen und das Wälzenlassen riefen 
Lachstürme hervor. Stand der Schneemann an seinem Platze, dann ging’s 
ans Ausschmücken. Auf den Kopf erhielt er einen Papierkappe, in die 
Hand einen Stecken und in den Mund ein Stück Holz als Pfeife. Nun 
tanzten die Kinder im Kreise um den Schneemann herum und klatschten 
dazu munter in die Hände. 

Wenn wir uns an unsere eigene Kindheit erinnern, dann wissen wir 
auch, weiche Rolle der Schneemann im Leben des Kindes spielt, und wir 
können dann begreifen, daß gerade dieses Spiel von den Kindern mit Be- 
geisterung gespielt wurde. Es ist dem Kindesleben abgelauscht, ja von 
meinen Zöglingen ausdrücklich begehrt worden. 

Das Spiel »Beim Dreschen« verdient ebenfalls besondere Erwähnung. 


1. Hansi, Michel kommt herbei, 
Drescht den Hafer eins, zwei, drei, 
Schwingt den Flegel mit Geschick: 
Tack, tack, tack und tick, tick, tick. 


. Drischt der Bauer Hafer aus, 
Spricht das Spätzlein: »Ei der Taus, 
Wie das hell und lieblich klingt, 
Wenn man so den Flegel schwingt.« | 


5. Aber naht der Frühling sich, 
Liebes Spätzlein, denk an mich, 
Hol mir dann von Baum und Strauch 
Alle bösen Raupen auch.« 


3. Kommt das Spätzlein tapp, tapp, tapp. 
Fällt für mich kein Körnlein ab? 
Schreit das Spätzlein »piep, piep, piep, 
Bäuerlein ein Körnlein gib«. 

. Und der Bauer lacht und spricht: 
»Nimm dir nur, du kleiner Wicht, 
Bist nicht groß und bist nicht schwer, 
Frißt mir nicht die Scheuer leer. 





Wie ich Memorierstoffe behandle und wie ich sie verwerte. 453 








Um die Scheuer darzustellen, stellten sich die Kinder im Kreise auf, 
ein Kind war der Bauer, zwei Knaben übernahmen die Rollen der beiden 
Knechte, Hansel und Michel. Sie standen außerhalb des Kreises und 
wurden vom Bauern in die Scheune geholt. Zwei bis drei kleine Kinder 
wurden zu Spätzlein bestimmt. Sie flogen zuerst mit Armkreisen um den 
Kreis herum, durch den Lärm des Dreschens angelockt, kamen die Spätz- 
lein zur Scheune. Gedroschen wurde in der Weise, daß der rechte Arm 
abwechselnd ausgestreckt und im Ellbogen wieder abgebogen wurde, gleich- 
zeitig stampften die Drescher mit dem rechten Fuß. Nun sangen Spätz- 
lein und Bauer im Wechselgesang und jene pickten dann die Körner auf. 

Wechselgesang gab es auch bei dem Spiele »Die Hühner und der 
Osterhase«. Die Gewandtheit und die Ausdrucksfähigkeit der Kinder hatte 
ganz besonders zugenommen. Das wird aus meiner Beschreibung des 
Spieles auch hervorgehen. Es stellte schon ganz erhebliche Forderungen 
an die Kleinen, die jedoch niemals einen Zwang empfanden, sondern das 
Spiel immer selbst vorschlugen. 


1. Vor dem Tor steht einer drauß, 5. Jede bringt ein Ei herbei, 

Will herein in unser Haus, Voll ists Körbchen, ein, zwei, drei. 
Will Besuch heut machen. Nur der Hahn bleibt stehen. 

2. Ei ihr Hennen, kommt zu mir, 6. »Eierlegen«, denkt der Wicht, 
Bringt von da und dort und hier »Ist doch meine Sache nicht«, 
Eure Siebensachen. Und beginnt zu krähen. 

3. Brauch ja viele Eier heut 7. Osterhas sagt: »Danke schön! 

Zu der lieben Osterzeit Übers Jahr auf Wiedersehn 
Für die braven Kinder. | Zu der Frühlingsfeier !« 

4. Und die Hennen ga, ga, ga, 8. Eilt dann schnell zum Walde fort, 
Eilen her von fern und nab, Sitzet still und malet dort 
Immer geht's geschwinder. Bunte Ostereier. 


Die Kinder bildeten einen Kreis, zwei von ihnen faßten sich an den 
Händen, die sie dann hochhoben, das war das Hoftor, durch das der Oster- 
hase, von einem Kinde dargestellt, mit einer Bütte am Rücken hereinkam. 
Er sang die ersten drei Strophen des Liedes. Im Kreise, unserem Hofe, 
standen kleine Körbchen, die die Nester darstellten. In jedem lagen einige 
Toneier, die die Kinder bei einer früheren Beschäftigung selber geformt 
hatten. Auf den Ruf des Hasen kamen die Hennen, die schon vor Be- 
ginn dazu gewählten Kinder, ga, ga, ga, ga rufend, herbei, entnahmen dem 
Neste je ein Ei, das sie dem Hasen in die Bütte legten. Nun sang dieser 
wieder die Verse der siebenten Strophe und lief in eine Zimmerecke, die 
unser Wald sein mußte, wo er lustig drauf los pinselte, um die Eier 
zu färben. 

Die Kinder verlangten stets stürmisch eine Wiederholung des Spieles. 

In ähnlicher Weise wurden auch alle andern Memorierstoffe verwertet. 
Die Darstellungsweise ergab sich immer aus dem Texte. Die kindlichen 
Verse und der leichtfließende Rhythmus erfreuten sich großer Beliebtheit 
bei meiner Jugend. 


454 B. Mitteilungen. 





Es ist nur schade, daß mit dem Tage, an dem dasKind die 
Schule betritt, diese Art des Spieles ein Ende hat und daß 
dann manch schönes Talent in seiner Entfaltung gehemmt, 
wenn nicht gar unterdrückt wird. 

Es müßte sich doch auch in der Schule noch Zeit finden 
lassen, das Darstellungsvermögen des Kindes ohne Zwang zu 
pflegen, zu entwickeln. 

Die zahlreichen Gegner des Kindergartens, zu denen leider auch noch 
viele Lehrer gehören, bemängeln es, daß im Kindergarten alles besungen 
werde, sie meinen, es müsse das Kind ermüden. Sie hätten nicht un- 
recht, wenn der Kindergarten beim Spiele irgend einen Zwang ausübte, 
das ist aber nicht der Fall. 

Bei mir, in meinem Kindergarten, wählen die Kleinen meistens selbst 
Spiel und Beschäftigung oder ich komme ihnen durch Anregung dessen 
wovon ich sicher bin, daß ihre Gemüter gerade jetzt dazu offen sind, ent- 
gegen. Kinder, die nicht mittun wollen, schauen zu, bis sie Lust dazu 
bekommen. 

Seit einem Jahre habe ich auch das freie Darstellen in meinen Be- 
schäftigungsplan aufgenommen, mußte es aber meiner kleinen Schar erst 
anpassen. Ich hielt es vor allem andern für unerläßlich, den Kindern Ge- 
legenheit zu geben, sich »anzuwursteln«e. Welches Kind tut das nicht 
gerne? 

Es mußte Garderobe herbeigeschafft werden. Ich sammelte zu diesem 
Zwecke von Bekannten und Verwandten allerlei Flitter, alte Hüte, Federn, 
Stoffreste, Vorhänge u. dergl. Alles wurde sorgfältig gereinigt und des- 
infiziert, allerlei Behelfe wie Blumen, eine Krone, Schmetterlingsflügel, 
bunte Kappen usw. von mir noch aus Papier angefertigt und nun konnte 
ich an die Ausführung meiner Idee schreiten. 

Vor allem andern mußten die Kinder mit dieser neuen Spielart ver- 
traut gemacht werden. Man möge im Auge behalten, daß es 3—6 jährige 
Kinder sind, mit denen ich zu tun habe. Keine gute Mutter wird Kinder 
dieser Altersstufe nicht ganz unbeaufsichtigt und ohne Anleitung spielen 
lassen, es ist also ganz selbstverständlich, daß auch die für dieses Alter vor- 
gebildete Erzieherin die Spiele ihrer Zöglinge überwacht und leitet. Vierzig 
Kinder der gleichen Altersstufe bedürfen der führenden Hand, sonst gibt es 
ein großes, wüstes Durcheinander, das keines der Kleinen befriedigen kann. 

Ich machte also meinen Zöglingen eines Tages den Vorschlag: »Was 
ists Kinder, wollt ihr heute einmal probieren, ob ihr die Geschichte, die 
ich euch Vormittag erzählt habe, auch spielen könnt?« »Ja, ja bitte, Tante,« 
so riefen die Kühnen, die Ängstlichen verhielten sich schweigend, fast 
möchte ich ihr Verhalten lauernd nennen. Auf ihren Gesichtern stand zu 
lesen: »Was soll das heißen, was machen wir jetzt?« 

Ich kam ihnen entgegen, indem ich sagte: »Wir wollen uns zum 
Spiele anziehen, so wie es im Märchen heißt, daß die Leute ausgesehen 
haben.«e ©, das gefiel nun der ganzen Schar. Nun ging es an die Aus- 
wahl der darstellenden Personen. Zuerst stellten wir fest, wie viele Dar- 
steller notwendig seien. Bei dieser Gelegenheit wurde den Kindern der 


Wie ich Memorierstoffe behandie und wie ich sie verwerte. 455 





Stoff des Märchens wieder ins Gedächtnis zurückgerufen. Dann fragte 
ich: »Wer will spielen?« Einige Mutige meldeten sich. Es fehlten aber 
noch immer einige Darsteller. Die wurden nun von den Kindern selbst 
gewählt. Weigerte sich eines der gewählten Kinder, mitzutun, so wurde 
ein anderes gewählt. 

Der erste Versuch galt dem Märchen »Das Kätzchen und die 
Stricknadeln«. Es war nichts anderes als eine mimische Darstellung einiger 
Szenen aus dem Märchen und doch sah ich aus diesem ersten Versuche, 
daß die Kinder daran Freude hatten, sowohl die Darsteller als die Zuseher, 
und daß die Kinder im Spiele die ganze Erzählung wiederholten, wodurch 
sie ihnen auch besser im Gedächtnisse blieb. 


Nun versuchte ich jede Erzählung auf diese Art zu wiederholen. 
Natürlich konnten die Kinder meines Rates nicht entbehren. Ich half 
ihnen, wo dies notwendig war. Bei Darstellung des Märchens »Schnee- 
wittchen« machte ich sie aufmerksam, daß sie zu Zwergen nur die 
kleinsten Kinder wählen könnten, daß die Königin eins der größeren Mäd- 
chen sein müsse und daß zum Schneewittchen selber nur ein Mädchen 
mit dunklem Haare tauge. 

Waren die Darsteller gewählt, so ging’s ans Kostümieren. Dabei war 
ich bestrebt, so viel als es möglich war, ein den Kindern bekanntes Bild 
nachzuahmen. Ich ließ mir von den Kindern raten und ich muß gestehen, 
daß ich mit meinen mehr als einfachen Mitteln sehr schöne Resultate er- 
zielte. Für die Zuschauer wurden die Bänke, wie im Theater, reihen weise 
aufgestellt, die kleineren saßen in den vorderen, die größeren in den rück- 
wärtigen Bänken. Nun konnte das Spiel beginnen. Die ersten Versuche 
waren. wie ich schon erwähnt habe, sehr primitiv. Die Kinder fragten: 
»Tante, was soll ich sagen? Sag’s uns vor.« So war unser Theater im 
Anfange nur ein Vorsagen meinerseits und ein Nachsagen von Seite der 
Kinder. Den Kindern machte es großes Vergnügen und sie baten gar oft 
ganz spontan: »Bitte Tante, spielen wir wieder Theater. « 

Ich ließ auch oft die Bilder aus unseren schönen Bilderbüchern stellen. 
Wir haben in unserm Kindergarten Bücher aus den ersten Verlagen wie 
Scholz in Mainz, Attenkofer in Straubing, Schreiber in Eßlingen, Schnell 
in München, Hahn in Leipzig usw. Die Kinder wurden den Bildern ge- 
treu angezogen, genau nach diesen gestellt und die Kinder hatten nun die 
Aufgabe, durch Mienen und Geberden die Verse, die ich vorlas, zu be- 
leben. Diese Art der Darstellung machte den Kindern gar keine Schwierig- 
keiten und ist sehr beliebt bei ihnen. 

Meine Voraussetzung, daß ich die Kinder auf diese Art zum selb- 
ständigen Reden bringen würde, war nicht falsch, denn schon im Früh- 
jahre 1912—13 sprachen die Kinder ohne mein Zutun. Hier sei ein 
Beispiel angeführt. Ein Vierjähriger, der schon im Vorjahre den Kinder- 
garten besucht hatte, meldete sich zum Prediger. (Wir hatten das Bild 
»Die Kinderpredigt« gewählt) Er wurde getreu nach dem Bilde auge- 
zogen. Dann kletterte er auf einen Stuhl; auf kleinen Stühlchen saßen 
die beiden Kinder, die auf dem Bilde die Zuhörer darstellen. Der kleine 


456 B. Mitteilungen. 





Prediger breitete nun seine Arme aus, so wie der auf dem Bilde, und 
sprach laut und deutlich: 


»Ein Huhn und ein Hahn, | Und haltet ’nen Schmaus. 

Meine Predigt geht an. Habt ihr was, so eßt es, 

Eine Kuh und ein Kalb, Habt ihr nichts, vergeßt es. 

Meine Predigt ist halb. Habt ihr noch ein Stückchen Brot, 
Eine Katz’ und eine Maus, So teilt es mit der Not 

Meine Predigt ist aus. Und habt ihr noch ein Brosamlein, 
Geht alle nach Haus So teilt es mit den Vögelein. 


Während der Predigt herrschte lautlose Ruhe, alle Blicke hingen an 
dem kleinen Prediger. Ganz besonders aufmerksam lauschten die zwei 
Kleinen auf ihren Stühlchen. Der kleine Prediger, der sich heuer selber 
zur Predigt gemeldet hatte, hatte im Vorjahre plötzlich zu reden auf- 
gehört, wenn er merkte, daß ich ihn belauschte.e Es ist also hier ein 
entschiedener Fortschritt zu verzeichnen. Mir ist es ein Beweis, daß 
diese Art der dramatischen Darstellung den Kindern nicht nur Freude 
bringt, sondern auch ihre sprachliche Entwicklung fördert. 

Ich meine, daß Kinder, die schon im frühesten Kindesalter die Scheu, 
vor einem Auditorium zu sprechen, überwinden lernen, für das spätere 
Leben alle Zaghaftigkeit verloren haben und ohne Schwierigkeit oder Be- 
fangenheit ihren Gedanken mündlichen Ausdruck verleihen werden. Hier 
wird am leichtesten der Grund zum Redner gelegt. 

Bei meinen Darstellungs- und Redeübungen während des Schuljahres 
1911—12 machte ich die Erfahrung, daß Kinder dieser Altersstufe (3 bis 
6 Jahre) nicht im Stande sind, frei aus sich heraus Gehörtes und Gesehenes 
zur Darstellung zu bringen, daß sie aber zu solchen Spielen große Lust 
zeigen und sehr dankbar sind, wenn man ihnen Gelegenheit gibt sich in 
dramatischer Weise zu betätigen, nur muß man sie dabei kräftig unter- 
stützen, was bei den Spielen nach Fröbelscher Art nicht notwendig ist, 
denn diese spielen sie auch ohne Hilfe der Erwachsenen. Ich habe dabei 
öfter nur den Zuschauer gemacht. 

Ich bin aber überzeugt davon, daß es für die Entwicklung der sprach- 
lichen Ausdrucksfähigkeit von ganz gewaltigem Nutzen ist, wenn die 
Darstellungsspiele Fröbel’scher Methode mit freien Darstellungsspielen, wie 
ich sie seit einem Jahre übe, abwechseln. 

Wir dramatisierten hauptsächlich Märchen. Diese waren immer am 
Vormittage erzählt worden, sie waren also noch frisch im Gedächtnisse. 
Der Erzählstoff schloß immer an den Memorierstoff und dieser an Erlebtes 
an. Die Beschäftigungen der Kleinen standen ebenfalls damit in engem 
Zusammenhange und so bildeten Memorierstoff, Erzählung und Beschäftigungen 
ein abgeschlossenes Ganzes. 

Zum besseren Verständnisse führe ich ein Beispiel an, vorgenommen 
im November 1912. Es war ein echter, unfreundlicher, trauriger November- 
tag, an dem man ohne künstliches Licht nicht arbeiten konnte. Ich plauderte 
mit meinen Kleinen über den Nebel, der ihnen allen aufgefallen war, über 
das trübe Wetter, die kurzen Tage und sprach ihnen zum Schlusse folgendes 
Sprüchlein vor: 


Wie ich Memorierstoffe behandle und wie ich sie verwerte. 457 





Nun kommt der November, der rauhe Gast, 
Der heulende Sturm fährt durch Baum und Ast, 
Und graue Nebelschleier 

Stehn über Wald und Weiher. 

Da sitzen wir traulich beim Feuerschein 
Und Märchen erzählt uns Großmütterlein, 
Wohl von den sieben Raben 

Und von den sieben Schwaben 

Und von den sieben Zwergelein. 

Ja, sieben müssens immer sein 

Im Märchen. — Ihrer Dreie 

Sinds nur beim Ringelreihe. 


Die Märchen erzählende Großmutter und ihre zwei lauschenden Enkel- 
kinder wurden, nach einem Bilde aus dem Buche: Goldne Fädchen (Verlag 
Attenkofer) mit farbiger Kreide auf die große Schultafel gezeichnet. Das 
Sprüchlein hatte Eindruck gemacht und wurde zur Wiederholung verlangt. 
In den nächsten Tagen erzählte ich die Märchen vom Schneewittchen, von 
den sieben Raben und von den sieben Schwaben. Jeden Tag ein anderes 
Märchen. Die Beschäftigungen schlossen sich eng daran. Es wurde das 
Zwergenhäuschen gebaut. Die sieben Raben wurden aus schwarzem Papier 
gefaltet, die sieben Schwaben von den Kindern frei aus der Phantasie ge- 
zeichnet. Am Nachmittage ging es ans Darstellen. Ich erlebte diesmal 
die ersten Versuche freier Rede. Die Königin sprach schon ohne mein 
Zutun: »Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen 
Land?« Die Königin wurde von einem fünfjährigen Mädchen dargestellt, 
das schon im Vorjahre die ersten Versuche des Dramatisierens mitgemacht 
hatte. 

Daß dieses Mädchen heuer schon aus eigenem Antriebe frei sprach, 
ist wohl ein Beweis, daß meine Versuche nicht ohne Erfolge bleiben. 

Auch die sieben Raben wurden gemimt und ebenso die sieben Schwaben, 
wozu wir alles in allem drei Nachmittage verwendeten. Aber auch für 
Spiele nach Fröbels Methode gab das Sprüchlein Anregung. An einem 
der nächsten Vormittage gabs für die Kinder Freude, für mich eine Über- 
raschung. Die Kinder spielten bei den Bewegungsspielen Ringelreihe und 
fingen ganz von selber zu singen an: 

»Ringel, Ringelreihe, jetzt sind wir unser Dreie, setzen uns am 
Hollerbusch, machen alle husch, husch, husch.« 

So trat auch die Volksweise in ihre Rechte. Im Großen und Ganzen 
schließe ich mich aber der Meinung Wolgasts, daß gerade die Volksweisen 
von großem erziehlichem Werte seien, nicht an. Für Kinder im Alter 
von 3—6 Jahren sind sie es gewiß nicht, denn ihnen mangelt das Ver- 
ständnis für Volkspoesie und ihre Freude am Reime kann durch passende 
Kinderlieder besser befriedigt werden, als durch die für sie oft unver- 
ständlichen Reime der Volksweisen. 

Volksweisen, die ihrem Inhalte nach den Kindern verständlich sind, 
habe ich öfter in meine Memorier- und Erzihlstoffe aufgenommen. 

Um wieder auf meinen Memorier- und Darstellungsstoff vom November 


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458 B. Mitteilungen. 





1912 zurückzukommen, möchte ich hier einfügen, daß es den Kindern 
viel Spaß machte, zu erfahren, daß im Märchen sieben gleiche Gestalten 
vorkommen, beim Ringelreihe aber nur drei nötig sind, die Zahlen sieben 
und drei sind ihnen keine unbekannten Begriffe mehr, denn sie haben den 
Unterschied selbst wahrgenommen. 

Nun will ich noch meine Erfahrungen, bezüglich der Beliebtheit des 
zu dramatisierenden Stoffes, anführen. Ich kann sagen, je phantastischer 
und märchenhafter der Stoff ist, desto lieber wird er von meinen Zöglingen 
dargestellt. 

Für sie gibt es keine Schwierigkeiten, sie sind in ihrer kindlichen 
Einfalt ganz zufrieden, wenn nur irgend etwas dem nahe kommt, was 
sie aus dem Märchen wissen. Der Stoff muß phantastisch, die Darstellung 
kann primitiv sein, ihre Phantasie ersetzt den Mangel. 

Glückliche Kindheit! 

Auch an der Darstellung biblischer Stoffe haben die Kinder großes 
Gefallen. An erster Stelle steht die Darstellung der Geburt Christi. Die 
Rollen des Öchsleins und des Esels sind allgemein beliebt, auch die heiligen 
drei Könige bei der Krippe erfreuen sich großer Beliebtheit. Unter ihnen 
ist der Mohrenkönig wieder der Bevorzugte. Die Kinder sind von ihrer 
eigenen, einfachen Darstellung ganz erbaut und die kleinen Zuschauer 
stehen in Andacht versunken da und heben die weihevolle Stimmung durch 
Singen passender Lieder. Ich muß gestehen, daß ich selbst mächtig er- 
griffen bin, wenn ich so Zeuge bin, wie meine Kleinen in ihren Rollen 
aufgehen. Man kann mit Recht diese Darstellungen als Gottesdienst der 
Kleinen bezeichnen. 

Im Gegensatze zu diesen ernsten Stoffen steht die Beliebtheit humo- 
ristischer Gestalten. Die erste Stelle nimmt hier der Kasperl ein. Meine 
Zöglinge nahmen jedenfalls ihre Anregung aus dem köstlichen Kasperl- 
buche von Fritz Herz. (Verlag Attenkofer.) Dieses Buch enthält die 
reizendste Kasperliade, die mir je in die Hände gekommen ist, lustig, 
kindlich und ohne jede Roheit. 

Meine Schwester verfertigte mir nach diesem Buche, nachdem sie sich 
die Erlaubnis des Autors und des Verlages geholt hatte, ein Kasperltheater, 
und ich spiele meiner kleinen Schar zu ihrem hellen Entzücken ab und 
zu ein Kasperlspiel vor. Es ist also ganz selbstverständlich, daß der 
Kasperl von den Kindern gerne dargestellt wird. »Kasperls heimliche 
Streiche« wurden von meinen Kleinen oft gemimt. Ein Knabe, dessen ich 
schon bei Behandlung der Memorierstoffe Erwähnung tat, spielte den 
Kasperl ganz frei, er erfand immer neue Kasperlstreichee Es ist merk- 
würdig, daß die Kinder, die beim Kasperlspiele meine Stimme hören, 
meine Hantierungen sehen, dech so in die Welt des Scheines verwoben 
sind, daß sie die Worte, die ich den einzelnen Figuren in den Mund lege, 
so aufnehmen, als würden sie von den Püppchen gesprochen. 

Als Beweis für die Richtigkeit meiner Annahme mag folgeude kleine 
Episode dienen, die sich anfangs Dezember 1912 knapp vor dem Niko- 
laustage in meinem Kindergarten zutrug. 

Ich hatte zu meinen Iheaterfiguren im Kasperltheater auch den 


Wie ich Memorierstoffe behandle und wie ich sie verwerte. 459 





Krampus gesellt. Kasperl und Krampus trafen und begrüßten sich, und 
Krampus begann zu reden: »Lieber Herr Kasperl, ich habe heute eine schwere 
Aufgabe, ich soll dem heil. Nikolaus erzählen, ob die Kinder im Kinder- 
garten brav oder schlimm sind. Ich kenne aber die Kinder gar nicht. 
Sie, Herr Kasperl, sind aber hier sehr zu Hause. Bitte erzählen sie mir 
doch von den Kindern.« 

»Sehr gern, Herr Krampus, sehr gern,« fing Kasperl an, »aber wie 
soll ich nur anfangen? Aha, ich weiß schon — zuerst erzähle ich ihnen 
die nichtsnützigen Streiche und dann sollen sie etwas von den braven 
Kindern hören. Also passen sie nur auf, Herr Krampus! Denken sie nur, 
da ist so ein kleiner Schlingel, der hat seiner Großmutter mit der Schere 
das Tischtuch zerschnitten.« (Am selben Tage hatte mir seine Großmutter 
den Streich ihres Enkels erzählt.) 

»So, so,« sagt der Krampus, »wie heißt denn der Nichtsnutz?« 

»Ja sehen sie, Herr Krampus, den Namen nenne ich ihnen nicht, 
aber vielleicht sagt ihn der kleine Schlingel selber.« 

Lautlose Stille. Auf einmal steht ein kleiner Bub aus der ersten 
Reihe auf, schleicht auf den Fußspitzen zum Kasperltheater hin und flüstert: 
»Meixner Ernstl heiß ich, aber ich tu’s eh nimmer.« 

Mir gefiel die Aufrichtigkeit des Kleinen, ich hätt ihn küssen mögen 
ob seiner kindlichen Einfalt. Er war doch sicher vollständig verstrickt in 
die Welt des Scheines und ich meine, daß ich durch dieses kindliche Spiel 
erzieherisch mehr erreicht habe, als wenn ich dem Buben eine lange Pre- 
digt gehalten hätte. 

Aber nicht nur dieses eine Mal erhielt ich den Beweis dafür, daß die 
Kinder mit mir fortgeflogen waren ins Reich der Phantasie, ich konnte 
noch oft und oft erkennen, daß die Kinder aufgehen in dem Spiel und 
daß sie sich in ihren eigenen Spielen eine neue Welt vortäuschen. 

Es wird nicht uninteressant sein, nun festzustellen, wie sich Knaben 
und Mädchen zu den Darstellungsspielen verhielten und ob sich hier das- 
selbe Verhältnis ergibt, wie bei den Memorierstoffen. 

Von 34 Knaben spielten 22 gerne und mit Eifer alle Darstellungs- 
spiele sowohl nach Fröbels Methode als auch nach freier Darstellungsweise. 

Unter diesen 22 Knaben waren vier sechsjährige, 10 fünfjährige, 
8 vierjährige und kein dreijähriger. 

Hier fällt es wieder auf, daß alle sechsjährigen Knaben meiner Ab- 
teilung mit Lust und Eifer beim Spiele waren, geradeso wie sie alle ohne 
Ausnahme den Memorierstoffen reges Interesse entgegenbrachten. 

Auch bei den Fünfjährigen ergab sich das gleiche Verhältnis. Nur 
insoweit findet hier eine Veränderung statt, als ein Knabe, der erst während 
des Schuljahres eingetreten war, beim Spiele die Scheu nicht überwinden 
konnte und deshalb niemals aktiv an ihnen teilnahm. Die Memorierstoffe 
sprach er, wie schon erwähnt wurde, nur im Chore mit. 

Ein anderer Knabe, der den Memorierstoffen kein Interesse abgewinnen 
konnte, spielte alle Darstellungsspiele nach Fröbelscher Methode gerne und 
tadellos mit. 

Auch bei den Vierjährigen lassen sich die gleichen Zahlen nachweisen, 


460 B. Mitteilungen. 





die sich bei den Memorierstoffen ergaben, nur mit dem einen Unterschiede, 
daß auch unter ihnen ein Knabe war, der während der zweiten Hälfte des 
Schuljahres in den Kindergarten eingetreten war, der zwar gerne memo- 
rierte, wenn er sich unbeachtet glaubte, bei den Spielen aber lieber den 
Zuschauer machte. Ein Knabe dagegen, der im großen und ganzen faul 
zu nennen war. spielte mit Hingebung bei allen Darstellungsspielen mit. 

Von den 4 fünfjährigen Knaben, die sich nicht gerne handelnd an 
den Darstellungsspielen beteiligten, sondern lieber den Zuschauer machten, 
war einer teilnahmlos und faul, die drei andern waren scheu. 

Unter den 5 Vierjährigen, die absolut nicht zum Darstellen zu bringen 
waren, waren zwei faul und ohne Teilnahme, die übrigen drei waren scheu. 
Einer von ihnen war kränklich und konnte deshalb den Kindergarten nicht 
fleißig besuchen, die andern zwei waren erst in der zweiten Hälfte des 
Schuljahres in den Kindergarten eingetreten. 

Von den drei Dreijährigen wollte keiner etwas vom Mitspielen wissen. 
Zwei von ihnen waren erst in der zweiten Hälfte des Schuljahres in den 
Kindergarten gekommen und waren ziemlich teilnahmlos, der dritte war 
ganz ungewöhnlich scheu, lernte aber die Memorierstoffe gerne und für 
sein Alter gut. 

An den 18 Mädchen meiner Abteilung lassen sich folgende Resultate 
nachweisen. Die 4 Sechsjährigen spielten gerne und mit Feuereifer so- 
wohl Fröbelsche als auch freie Darstellungsspiele. 

Von den 6 Fünfjährigen spielten fünf gerne die Darstellungsspiele 
nach Fröbel, ein Mädchen konnte die Scheu, sich sehen oder hören zu 
lassen, nicht überwinden, und eines verhielt sich den freien Darstellungs- 
spielen gegenüber sehr zurückhaltend. Besonders bemerkenswert ist es, 
daß ein Mädchen von denen, die den Memorierstoffen keinen Reiz abge- 
winnen konnte, bei den Darstellungsspielen beider Methoden gerne mittat. 
Die Kleine war ein wenig sprechfaul und reagierte nur auf Gesichtsreize. 

Von den 6 vierjährigen Mädchen interessierten sich vier sehr für die 
Spiele, eines sah gerne zu, beteiligte sich aber nie aktiv und das sechste war 
völlig teilnahmlos, wie es auch gegen die Memorierstoffe interesselos war. 

Die beiden Dreijährigen waren so weit entwickelt, daß sie den Spielen- 
den gerne zusahen, selber beteiligten sie sich nicht am Spiele. 

An den Darstellungsspielen nahmen also gerne aktiven Anteil: 4 sechs- 
jährige, 5 fünfjährige und kein dreijähriges Mädchen. Es ergibt sich so- 


mit ein etwas verändertes Bild im Vergleich zu dem Verhalten meiner 


weiblichen Zöglinge zu den Memorierstoffen. Im Schuljahre 1911—12 
zeigten 72° Lust und keine Scheu bei den Darstellungsspielen im Gegen- 
satz zu 28°, die teils aus Unlust, teils aus Scheu sich nicht gerne an 
den Spielen beteiligten. 

Ich habe aus meinen Untersuchungen erfahren, daß Mädchen im Alter 
von 3—6 Jahren weniger Scheu empfinden als gleichaltrige Knaben, bei 
denen die Untersuchung 65 °/ mutiger gegen 35 °/, scheuer Knaben ergab, 
doch erscheinen die Knaben dieser Altersstufe talentierter als die Mädchen. 

Nun will ich noch die Leistungen einiger talentierter und einiger un- 
geschickter Darsteller im besonderen anführen. 


— 


Wie ich Memorierstoffe behandle und wie ich sie verwerte. 461 





Das größte Talent war ein Knabe von sechs Jahren, der, wie ich 
schon erwähnte, selbst Geschichten erfand. Auch bei den Darstellungs- 
spielen leistete er ganz Außerordentliches. Wurde ein neues Spiel nach 
Fröbels Methode zum ersten Male gespielt, so wußte er es meistens, ehe 
ich erklärte, wie es gespielt werden sollte, er war sozusagen der Lehr- 
meister für seine Gespielen. Bei Spielen, die eine gewisse Schlauheit vor- 
aussetzen, setzte er seinen Ehrgeiz daran, nicht überlistet zu werden, ge- 
schah es doch ein oder das andere Mal, so konnte er vor Scham weinen. 
Er hatte schauspielerische Begabung und ein besonders lebhaftes Mienen- 
spiel. Hier mag eine seiner Darstellungsarten besondere Erwähnung finden. 
Wir spielten »Der Schneemann« nach einem Märchen von Th. Schulz. 
Der Schneemann wurde von dem erwähnten Knaben dargestellt. Er stand 
unbeweglich, wie ein leibhaftiger Schneemann, und als zum Schlusse des 
Spieles die Frühlingssonne den Schnee zergehen macht, da sank er in die 
Knie, sank immer mehr und mehr zusammen, bis er zuletzt als weißer 
Klumpen am Boden lag. Ich hatte vorher nichts über die Spielweise ge- 
sprochen, sondern nur gesagt, daß unser Schneemann im Hofe beim warmen 
Frühlingswetter zergangen war und daß er es dem Schneemann nachmachen 
müsse. Als er so langsam in sich zusammensank, machte er ein kläg- 
liches Gesicht. 

Seine Kasperldarstellungen waren ebenso drastisch. Er war ein selten 
talentiertes Kind von staunenswerter Ausdauer und rastloser Phantasie. 
Schade, daß der Knabe mit seinem Eintritt in die Schule gänzlich ver- 
wahrlosen wird, weil er von daheim keine Beaufsichtigung und Führung 
hat. Auch wird er wahrscheinlich in der 1. Klasse oft unaufmerksam sein, 
weil sein Geist während der für ihn langweiligen Vorübungen ins Reich 
der Phantasie abschweifen wird, und das wird ihm, so wie die Dinge heute 
noch stehen, oft unverdiente Strafe bringen. Der Bub bedürfte einer in- 
dividuellen Erziehung, dann wird er gewiß die Welt einst von sich 
reden machen. 

Ein anderer Sechsjähriger, auch sehr interessanter Knabe stellte be- 
sonders gerne Tiere dar. Er war ein vorzüglicher Tierstimmennachbildner. 
Auch die Bewegungen der Tiere ahmte er gerne nach. Beim Krippenspiele 
meldete er sich ganz energisch zur Darstellung des Esels. 

Noch ein dritter sechsjähriger Knabe sei erwähnt. Er spielte alle 
Fröbelspiele tadellos und war der erste, der bei den Darstellungsspielen 
ohne meine Unterstützung zu sprechen begann. 

Ein fünfjähriger Knabe ist dadurch aufgefallen, daß er die freien Dar- 
stellungsspiele ganz unendlich gerne spielte, und wenn ich einmal seiner 
vergaß, dann bat er stürmisch, doch mittun zu dürfen. Er war auch ein 
ganz guter Darsteller. 

Ein kleiner Vierjähriger, dessen ich auch schon Erwähnung getan 
habe, überraschte mich durch seine Reimversuche, ich habe nicht bald ein 
Kind getroffen, das solche Freude hatte an gebundener Rede. Die Fröbel- 
schen Darstellungsspiele interessierten den Knaben nicht halb so viel als 
die freien Darstellungsspiele. Er selber war noch nicht tätig dabei, aber 
man sah, daß er mit Leib und Seele dem Spiele als Zuschauer folgte. 


462 B. Mitteilungen. 





War er unbelauscht, so mimte er reizend, hörte aber sofort auf, wenn er 
sich beobachtet fühlte. Heuer hat er die Scheu vollständig überwunden, 
er ist der Mutige, der die Zaghaften anfeuert. 

Ein Knabe, der die Memorierstoffe ohne Ende herunterleierte, meldete 
sich stets zu den Darstellungsspielen beider Methoden, benahm sich aber 
dabei läppisch wie ein junger Hund. (Man verzeihe mir den Vergleich, 
ich finde keinen bessern.) Seine Spielart löste immer Lachsalven von 
Seiten der übrigen Kinder aus. Z. B.: Wir spielten das bekannte Spiel 
nach Fröbelscher Methode: »Häschen in der Grube sitzt und schläft.« 
Der oben erwähnte Knabe war für sein Alter groß und stark und hatte 
deshalb die Rolle des Hundes zugewiesen erhalten, der die Häschen fängt. 
Er fing aber so ungeschickt, daß ihm entweder das Häschen entwischte oder 
er griff so herzhaft zu, daß ihm ein Schürzenknopf, eine Haarmasche oder 
sonst ein etwas lose sitzender Kleiderteil in der Hand blieb, oder er griff 
gar ins Blaue und fiel langelang hin. Er war aber durchaus nicht ge- 
kränkt, wenn die anderen Kinder über seine Ungeschicklichkeit lachten, 
sondern er lachte selber herzhaft mit und wurde einmal nicht gelacht, so 
schaute er ganz hilflos umher, als wollte er sagen: »Hab’ ich’s nicht gut 
gemacht?« Ihm war das Lachen ein Zeichen der Anerkennung. 

Von den Mädchen war ein kleines vierjähriges ganz besonders ge- 
eignet zur freien Darstellung, alles was es spielte, spielte es mit Hingebung. 
Besonders herzig stellte es das Christkind in der Krippe dar. Um die 
Weihnachtszeit wurden Krippenspiele gespielt und die Kleine ward immer 
einstimmig zum Christkinde gewählt. Das Mäderl lag regungslos, ich 
möchte fast sagen mit himmlischem Gesichtsausdrucke in der improvi- 
sierten Krippe und trug durch seine Darstellung viel zu der weihevollen 
Stimmung bei, die jedesmal bei den Krippenspielen herrschte. Die Dar- 
stellungsspiele nach Fröbel spielte die Kleine ebenso gut als gerne. Bei 
einem anderen vierjährigen Mädchen fiel es auf, daß es Kinderrollen sehr 
gerne übernahm, sollte es aber einmal die Rolle der Großmutter oder irgend 
eine andere Rolle übernehmen, so kam es zu Weinszenen, die aber sonder- 
barer Weise erst während des Spieles auftraten. Die Kleine ließ sich 
ruhig anziehen, ward aber wahrscheinlich erst später gewahr, welche Ver- 
änderung ihres Aussehens durch die Verkleidung vorgegangen war. Noch 
einen zweiten merkwürdigen Zug an dem Kinde will ich erwähnen. 
Fröbelsche Darstellungsspiele, bei denen es sich darum handelte, daß ein 
Kind das andere hasche oder überhole, wollte es nicht mitspielen; es 
wollte sich weder haschen lassen, noch andere haschen. Der bloße Ge- 
danke daran, daß es gefangen werden könne oder daß es das zu fangende 
Kind nicht erreiche, löste ein Strom von Tränen aus. Die Ursache dieser 
Tränen war leider Nervosität, die sich dadurch verlor, daß ich auf die 
Kleine niemals Zwang ausübte, sondern nur das Beispiel der anderen 
Kinder auf sie einwirken ließ. Ich trachtete auch, auf die Mutter ein- 
zuwirken, damit auch diese das Kind niemals zur Ausübung einer Handlung 
zwinge, deren Ausführung es erregte. Im heurigen Jahre mimte das Kind 
schon die Knusperhexe, und bei Fangspielen liegt ihm nichts mehr daran, 
gefangen zu werden oder ein zweites Kind nicht zu erhaschen. 


Wie ich Memorierstoffe behandle und wie ich sie verwerte. 463 





Nun will ich noch von einem kleinen Mädchen sprechen, das gar 
nicht aufgeweckt war. Beim Memorieren, Erzählen und Singen blieb es 
völlig teilnahmslos. Ganz anders verhielt es sich bei den Darstellungs- 
spielen. Sowohl solche nach Fröbels Art als auch freie Darstellungsspiele 
riefen seine Aufmerksamkeit wach. Es spielte sogar ganz gut und hei 
den nach unseren schönen Bilderbüchern angeordneten Spielen, traf es 
meistens den richtigen Gesichtsausdruck und die richtigen Stellungen. Die 
Kleine hatte bei aller Phantasielosigkeit einen vorzüglich entwickelten Ge- 
sichtssinn und es fielen ihr kleine Eigenheiten eines Bildes, ja sogar einer 
Zeichnung auf. Sonst war die Kleine für ihr Alter geistig sehr, sehr 
schwach. 

Wie ich schon einmal sagte, halte ich die Darstellungsspiele beider 
Methoden für ein ganz hervorragendes Erziehungsmittel. Es ist nicht zu 
verkennen, was durch sie für die Ausdrucksfähigkeit der Kleinen geleistet 
wird. Ob in allen Kindergärten Österreichs so vorgegangen wird, wie in 
dem meinen, das weiß ich nicht, wohl aber weiß ich, daß alle Leute, die 
Gelegenheit haben, die Kleinen meiner Abteilung zu beobachten, von der 
Intelligenz meiner Zöglinge überrascht sind. Ich erzwinge und erkünstle 
gar nichts, sondern warte geduldig bis der kindliche Geist sich selbständig 
entfaltet. 

Ich glaube, genügend beleuchtet zu haben, daß zwischen den Memorier- 
stoffen und den Darstellungspielen ein inniger Zusammenhang bestehen 
soll. Anschauung, Plauderei, Memorierstoff und Darstellungsspiele sind 
nicht Selbstzweck des Kindergartens, sondern nur Mittel zum Zwecke. 
Alle diese Übungen sollen uns helfen, die Sinne der Kinder zu wecken, 
zu entfalten und es dazu zu bringen, seinen Gedanken in zusammen- 
hängender Form durch Worte und Gebärden Ausdruck zu verleihen. 
Außerdem wird das Kind durch diese Übungen Freude gewinnen am 
Schönen und es wird sich bemühen, an sich, seinen Handlungen und 
seinen Worten, alles Rohe und Unschöne zu vermeiden. 

Nun drängt sich noch die Frage auf: »Welcher Nutzen erwächst der 
Schule aus meinen Untersuchungen ?« 

Ich war bestrebt, jene Stoffe namhaft zu machen, die bei den Kindern 
ein offenes Gemüt finden. 

Daher halte ich es für besonders wichtig, daß die Lese- und Lern- 
stoffe zeitgemäß vorgenommen werden. Es sollte nicht mehr länger vor- 
kommen, daß zu einer Zeit, da Blumen und Bäume ihrer Winterruhe pflegen, 
Memorierstoffe vorgenommen werden, die von Blüten und Blumen handeln. 
Umgekehrt wird es auch keinem vernünftigen Erzieher einfallen, im 
Sommer etwas von Eis und Schnee lernen zu lassen. Auch ‚wir Er- 
wachsene sind Stimmungen unterworfen und es wird ein Frühlingsgesang 
zur Zeit der Maiblüte anders auf uns einwirken als an einem kalten, 
nebligen Novembertag. Soll uns etwas begeistern so muß unser Gemüt 
dafür offen sein. 

Die zweite große Rolle fällt der direkten Rede zu. Auch sie wäre 
bei der Zusammenstellung der Lese- und Memorierstoffe zu berücksichtigen. 
Naturlaute werden ebenfalls auf die Beliebtheit eines Memorierstoffes 


464 C. Zeitschriftenschau. 





einwirken. Z. B.: »Der Wind bläst hu hu.« Die Türe knarrt »krch 
krch« oder »husch husch war es fort« usw. 

Religiöse Memorierstoffe werden am besten dann vorgenommen, wenn 
die Seele durch kirchliche Feste zur Andacht gestimmt ist. Weihnachten, 
Ostern, Pfingsten, das sind Zeiten zu denen die Kinderseelchen weit offen 
sind für religiöse Gespräche, Spiele und Memorierstoffe. 

Aber auch die Phantasie darf nicht vergessen werden. Wir brauchen 
Märchen, Fabeln, Sagen, die sie anregen, doch heißt es Maßhalten, damit 
sich der aus ihnen erwachsende Nutzen nicht in Schaden verkehre, 

Auch hier trachte man immer den Wechsel des Jahres zu berück- 
sichtigen. So soll z. B. Dornröschen im Sommer, Frau Holle im Winter gelesen 
werden; dann werden sicher die Sinne der Kinder bei dem Märchen sein. 

Freudigkeit ist unerläßlich, soll die Schule von Nutzen sein, darum 
muß den Lernstoff schmackhaft gestalten. 

Teilt der Erzieher, der Lehrer seine Lern- und Lesestoffe in der 
oben angeführten Weise ein, so wird die Freudigkeit seiner Zöglinge nicht 
ausbleiben und er wird auch den Zweck seiner Arbeit, »Kenntnisse zu 
vermitteln« spielend erreichen. 


C. Zeitschriftenschau, 


Experimentelle Psychologie. 
Cramaussel, Edm., Le sommeil d’un petit enfant. Archives de Psychologie. XII, 
46 (Mai 1912), S. 139—189. 

Der Verfasser setzt in dieser Arbeit seine Aufzeichnungen und Untersuchungen 
über den Schlaf eines kleinen Mädchens fort. Er sucht seine Untersuchungen nach 
der psychologischen Seite hin auszunutzen. (Es ist auf das Original zu verweisen!) 
Deuchler, Gustav, Zur Morphologie und Psychologie der Schularbeit. Zeitschrift 

für Pädagogische Psychologie. 14, 2 (Februar 1913), 8. 81—90. 

Die Arbeit bietet das Programm zur Analyse der äußeren Struktur der Schul- 
arbeit und zu ihrer Erforschung auf ihren didaktischen und pädagogischen Wert hin. 
Deuchler, Gustav, Über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Päda- 

gogik und Psychologie. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie. 15, 2 (Februar 
1914), S. 114—131; 3 (März), S. 145—159; 4 (April) S. 229—242. 

Deuchler bietet eine formale Umschreibung des Gegenstandes der Korre- 
lationslehre und eine Darstellung der sachlichen Aufgaben derselben. Dann folgt 
eine eingehende Besprechung der Korrelationsformeln. Er erinnert zum Schluß 
daran, daß die beste Vorarbeit zur Herausarbeitung allgemeiner Korrelationen die 
sorgfältige phäuomenologische Analyse der vorliegenden Tatbestände ist. 

Fischer, Aloys, Moralpsychologische Untersuchungsmethoden. Neue Bahnen. 
25, 6 (März 1914), S. 245—268. 

Die Arbeit will zusammenfassen, was sich dem Autor »bisher bei der Er- 

forschung der für das sittliche Leben konstitutiven oder wenigstens wichtigen Seiten 


C. Zeitschriftenschau. 465 





der kindlichen Entwicklung als brauchbar erwiesen« hat. Für die Materialgewinnung 
kommen in Betracht die Selbstbeobachtung, die Fremdbeobachtung, das moralpsycho- 
logische Experiment, die komparativen Betrachtungsweisen. Die Untersuchungs- 
methoden müssen orientiert werden auf den Begriff der moralischen Entwicklungs- 
höhe. Die einzelnen Methoden werden besprochen. Sie werden sich noch besser 
ausbilden lassen, wenn mit ihrer Hilfe erst einmal vorläufige Resultate gewonnen 
sind. Die psychanalytische Bewegung läßt Fischer vorläufig ganz außer Betracht. 
— Ganz kurz wird zum Schluß noch zur Frage des Wertes der moralpädagogischen 
Verfahren Stellung genommen. Der Verfasser hält »die Zeit für gekommen, das 
Experiment auch in das Gebiet der Moraldidaktik und der moralischen Erziehung 
eingreifen zu lassen«. 

Franken, A., Berücksichtigung der Assoziationsstärke im Unterricht. Evangelisches 

Schulblatt. 57, 10 (Oktober 1913), S. 459—468. 

Der Aufsatz zeigt, wie das Experiment doch oft zu praktisch verwertbaren 
Ergebnissen in der Pädagogik führt. Der Verfasser greift aus der Gedächtnispsy- 
chologie das Kapitel der A'ssoziationsstärke heraus, weil deren praktische und päda- 
gogische Bedeutung selten hervorgehoben wird. 

Furtmüller, Carl, Denkpsychologie und Individualpsychologie. Zeitschrift für 
Individualpsychologie. I, 3 (Juni 1914), S. 80—91. 

Der Aufsatz soll die prinzipiellen Ergebnisse der Denkpsychologie (Külpe, 
Märbe, Ach, Watt, Messer, Bühler, Koffka) in ihren Hauptlinien darstellen 
und die Gesichtspunkte der individualpsychologischen Methode an sie heranbringen. 
Bei aller Anerkennung für die Arbeit der Denkpsychologen kommt Furtmüller 
zu folgender Ansicht: »Die Methode der systematischen experimentellen Selbst- 
beobachtung scheint mir einen prinzipiellen Fortschritt über das bisher Erreichte 
hinaus nur insofern zu versprechen, als sie sich den leitenden Gesichtspunkten der 
Individualpsychologie unterordnen kann.« Dabei ist die Individualpsychologie als 
Aufgabe gemeint, orientiert an der Idee der Leitlinie (Alfred Adlers). 


Giese, Fritz, Die Psychologie der Geschlechtsunterschiede und die Koedukation. 
Die Pädagogische Forschung. II, 1 (Oktober 1913), 8. 17—53. 

Die sehr fleißige Arbeit untersucht auf Grund der vorliegenden Literatur (in 
sorgfältiger kritischer Auswahl), ob aus den Ergebnissen der experimentellen Psy- 
chologie Anzeichen für eine verschiedene Beanlagung beider Geschlechter zu ent- 
nehmen sind und in welcher Richtung sich diese Verschiedenheiten bewegen. Das 
Material ist in vier verschiedenen Gruppen besprochen: 1. elementare psychische 
Prozesse; 2. konstante psychische Komplexe und Entwicklungsverlauf der psychi- 
schen Persönlichkeit bei der Jugend (die Intelligenz-Unterschiede sind erst relativ 
wenig untersucht; 3. nicht vom Beobachtungsprinzip ausgehende Arbeiten, bei denen die 
Schüler gewissermaßen selbst wählen (Beliebtheit der Unterrichtsfächer; künstlerische 
Leistungen wie Zeichnungen, Gedichte usw.); 4. zusammenhängende Darstellungen 
der männlichen und weiblichen Eigenart auf experimenteller Grundlage. Auf die 
Einzelergebnisse einzugehen, würde zu weit führen. »Nach dem heutigen Stande 
der Psychologie wird man zusammenfassend urteilen, daß alle Ergebnisse obne Aus- 
nahme eine Qualitätenverschiedenheit der Geschlechter andeuten, derart, 
daß das eine Geschlecht in diesen, das andere in jenen dominiert. Von einer 
absoluten Inferiorität der Frau kann nicht die Rede sein. Ebenso ist aber 
auch eine angenäherte Gleichheit der Geschlechter ausgeschlossen.« 
(S. 49/50.) Psychologisch ist die Koedukationsschule nach folgendem Schema 
möglich: 

Zeitschrift für Kinderforschung. 21. Jahrgang. 30 


466 C. Zeitschriftenschau. 








I. Elementarschule. Koedukation. 
6.—9. Lebensjahr. 
II. Mittelstufe. 
10.—16. Lebensjahr. 
Getrennter Unterricht. 
Eventuell Koedukation in Turnen, Singen, Erdkunde und Natur- 
beschreibung. 
III. Oberstufe. 
Vom 16. Lebensjahre an. 
Koedukation bei Wahlfreiheit der Fächer. 

Giese, Fritz, Die Dreiwortmethode bei Intelligenzprüfungen. Zeitschrift für päda- 
gogische Psychologie. 14, 10 (Oktober 1913), S. 524—534; 11 (November), 
S. 550—555. 

Die Dreiwortmethode ist vom Verfasser in verschiedenen Punkten verbessert 
worden, über die die Arbeit näheren Aufschluß gibt. So verwandte Giese vor 
allem durchgehends statt des schriftlichen Verfahrens das mündliche. 


Hacker, Friedrich, Die Wirkung des Antikenotoxins auf den Menschen. Fort- 
schritte der Psychologie und ihrer Anwendungen. 6 (18. April 1914), S. 321—339. 
Der Verfasser konnte in seinen Versuchen einen den bisher berichteten Er- 
fahrungen entsprechenden Einfluß des Antikenotoxins auf den Menschen nicht finden, 
der sich im Siune einer Ermüdungshemmung deuten ließ. Nach seiner Ansicht 
sind die bisher berichteten günstigen Erfahrungen nur durch »die ungemein ober- 
flächliche« Ausführung der Versuche zu erklären. 

Hahn, Mein Vorbild. Pädagogisch-psychologische Studien. XIV, 1/2, S. 5—6. 

Der Verfasser ließ die 18 Schüler seiner ersten Seminarklasse einen Aufsatz 
über das Thema »Wer oder was ist mein Vorbild?«e machen. 5 Schüler wählten 
eine, 13 mehrere Persönlichkeiten als Vorbild; 3 Persönlichkeiten der Vergangen- 
heit, 6 solche der Gegenwart, 9 solche der Vergangenheit und Gegenwart. Als 
Beispiel wird eine der besten Arbeiten im Wortlaut mitgeteilt. 

Hahn, Robert, Das Verhältnis der experimentellen Psychologie und Pädagogik. 
Deutsche Blätter für erziehenden Unterricht. 40, 48 (22. August 1913), S. 481 
bis 484; 49 (29. August), 8. 493—496; 50 (5. September), S. 505—509; 51 
(12. September), S. 517—520; 52 (19. September), S. 529—531. 

Man darf in der Pädagogik nicht etwa nur ein Anhängsel der Psychologie 
sehen; der Verfasser kennzeichnet die Stellung der Pädagogik und der experimen- 
tellen Psychologie möglichst genau. Experimentelle Psychologie und Pädagogik stehen 
ziemlich spröde nebeneinander. Die Kluft sollte durch die experimentelle Pädagogik 
überbrückt werden, deren Untersuchungsmethoden gekennzeichnet werden. Hahn 
kommt zu dem Schluß, daß die allgemeine Pädagogik als Wissenschaft nach wie 
vor das beste Rüstzeug des Erziehers ist, daß sie am besten vor Einseitigkeiten schütze. 
Die Wege zur Erreichung ihrer Ziele werde sie sich stets von der Psychologie 
zeigen lassen. Lehrstühle der Pädagogik müßten an den Universitäten geschaffen 
werden. Für die wissenschaftliche Forschung würde ein zentrales Forschungsinstitut 
vortreffliche Dienste leisten. Die bisher bestehenden Institute kommen doch nur 
ganz wenigen Pädagogen zugute. 

Hasserodt, O., Bilderunterricht. Einführung in das künstlerische Bildverständnis 
durch Besprechung und nachschaffendes Zeichnen. Zeitschrift für Pädagogische 
Psychologie. 14, 4 (April 1913), S. 210—222; 5 (Mai), S. 276—290. 

Es handelt sich um einen Massenversuch mit 28 dreizehn- bis vierzehnjährigen 


C. Zeitschriftenschau. 467 





Mädchen. Als erster Versuch wird die Feststellung des spontanen Bildurteils an- 
geführt. Das Bild (Der Postillon) war als Kunstwerk für keines der Mädchen vor- 
handen. Es folgen Besprechung und Analyse des Bildes. Die Ergebnisse wurden 
durch einen Kontrollversuch nachgeprüft. Der vierte Versuch führte durch nach- 
schaffendes Zeichnen in das Bildverständnis ein; eigenes Zeichnen der Kinder erwies 
sich als erfolgreich. Dem Zeichenunterricht erwachsen sonach für die Erweckung 
des künstlerischen Bildverständnisses große Aufgaben. Experimentelle Psychologie 
und Ästhetik müssen die behandelten Probleme noch weiter klären. 

Hasserodt, O., Zu den experimentellen Untersuchungen über Bildverständnis, 
Zeitschrift für Pädagogische Psychologie. XV, 3 (März 1914), S. 184—195. 

Erwiderung auf Ausstellungen, die Bredereke an H.’s Untersuchungen machen 
zu sollen geglaubt hatte. — Hasserodt betont noch einmal mit allem Nachdruck, 
»daß der künstlerische Genuß beim unbeeinflußten Durchschnittskinde nicht vor- 
handen ist und nicht vorhanden sein kanne. Man wird daher in der Volksschule 
gut tun, vor dem dreizehnten Jahre nur den Bildinhalt zu behandeln. Im letzten 
Schuljahr können die Kinder durch geeignete Lehrkräfte auch auf das Kunstmoment 
hingewiesen werden. 

Hertel, O., Die Begründung der Methode des Rechtschreibens durch die experi- 
mentelle Pädagogik. Deutsche Schulpraxis. XXXII, 50 (14. Dezember 1913), 
S. 396—398. 

Aus den Ergebnissen der bisherigen experimentellen Untersuchungen sind 
Schlüsse für die Unterrichtspraxis nur mit Vorsicht zu ziehen. Bewiesen haben 
sie, daß »Sehen des Wortes mit analysierendem Abschreiben, sekundär unterstützt 
durch analysierendes Sprechen« (Meumann) die beste orthographische Methode ist. 
Es werden dann einige Richtlinien für den Unterricht kritisch besprochen. 
Heymans, G., und Brugmans, H. J. T. W., Intelligenzprüfungen mit Studierenden. 

Zeitschrift für angewandte Psychologie. VII, 4/5 (Juni 1913), S. 317—331. 

Den Verfassern schwebte als Ziel vor, »eine experimentelle Bestimmung des 
Maßes, in welchem verschiedene einfachere psychische Funktionen zu intellektuellen 
Leistungen zusammenwirken«. Untersucht wurde das Gedächtnis, die Beweglichkeit 
der Phantasie, Sekundärfunktionen. Konzentration, Intellekt. 

Hoffmann, A., Vergleichende Intelligenzprüfungen an Vorschülern und Volks- 
schülern. Zeitschrift für angewandte Psychologie. VIII, 1/2 (September 1913), 
S. 102—120. 

156 Schüler verschiedener Altersklassen wurden mit den Binet-Tests geprüft. 
Ergebnis: bei der Lösung der Tests für 6 und 7jährige annáhernde Gleichheit 
zwischen Vor- und Volksschülern, größere Unterschiede in der Lösung der Tests 
für 8jährige und ältere. Von den Vorschülern wurden im Durchschnitt 75 °/,, von 
den Volksschülern 60 °/, aller Tests gelöst. Das Intelligenzalter der 9jährigen Vor- 
schüler war dem der 1Ojährigen Volksschüler gleich. Em Für oder Gegen die all- 
gemeine Volksschule (Einheitsschule) kann man aus diesen Resultaten nicht ableiten. 
Dazu bedarf es einer viel größeren Zahl von Versuchspersonen. 

Stern, W., Zum Vergleich von Vorschülern und Volksschülern. Ebenda. 8. 121 
bis 123, 

Bemerkungen zu dem vorhergehenden Aufsatz. — Stern wendet sich vor 
allem gegen die Verrechnung nach Binet. Die Vorschüler übertreffen die Volks- 
schüler um so mehr, »je schwerer und je mehr ihrem Alter vorauseilend die ver- 
langten Leistungen sind«e. Den Besuchern der höheren Schulen wünscht Stern des- 
halb kein viertes Schuljahr vor ihrem Eintritt in die Sexta. »Die Beseitigung der 

30* 


468 C. Zeitschriftenschau. 





reinen Standesschule ist gewiß anzustreben, aber nicht dadurch, daß man den 

Elementarunterricht für die Schüler der gebildeten Stände künstlich verlängert, 

sondern dadurch, daß die höhere Schule unterschiedslos für alle Kinder aller Stände 

bestimmt wiid, die auf Grund ihrer Fähigkeiten für eine weitergehende Ausbildung 

geeignet sind.« 

Huther, A., Pädagogisch-psychologische Probleme. Zeitschrift für Pädagogische 
Psychologie. 14, 2 (Februar 1913), S. 105—116; 3 (März), S. 145—160. 

Die Arbeit weist an, wie sich vermöga der Kenntnis der typischen Motive das 
praktische Verhalten der Zöglinge — es kommen namentlich solche höherer Lehr- 
anstalten in Frage — deuten läßt. Sie zeigt, in welcher Weise experimentell- 
statistische Untersuchungen über die geistigen Fähigkeiten anzustellen sind. 


Klinkenberg, L. M., Ableitung von Geschlechtsunterschieden aus Zensuren- 
statistiken. Zeitschrift für angewandte Psychologie. VIII, 3/4 (Januar 1914), 
S. 228—266. 

Etwa 49000 Knaben- und 13000 Mädchen-Noten liegen der Untersuchung zu 
Grunde. Die Untersuchungen bestätigen, daß Knaben und Mädchen in den ver- 
schiedenen Fächern nicht gleichwertige Leistungen aufweisen, wie im einzelnen 
nachgewiesen wird. Auch der Mangel der Mädchen an Examensgewandtheit wird 
durch die Untersuchungen bestätigt. 


Kohs, Samuel C., The Binet test and the training of teachers. The Training 
School. X, 9 (January 1914), S. 113—117. 

In einem sechswöchigen Kursus wurden bis dahin mit dem Problem nicht 

vertraute Lehrer gründlich und sicher in der Handhabung der Binet-Tests ausgebildet. 


Koch, Adolf, Experimentelle Untersuchungen über die Abstraktionsfähigkeit von 
Volksschulkindern. Zeitschrift für angewandte Psychologie. VII, 4/5 (Juni 1913), 
S. 332—391. 

Die bisherigen Untersuchungen, die erst seit kurzer Zeit datieren, haben eine 
brauchbare Methode ergeben, den Wert der Aufgabenstellung erkennen lassen, die 
Verwendung von Haupt- und Nebenaufgabe erprobt, den Prozeß in seinem stufen- 
mäßigen Ablauf verfolgt, das Verhältnis der Abstraktion zur Apperzeption bestimmt, 
Der Verfasser untersuchte 72 Volksschüler aus Bonn-Poppelsdorf (und zwar aus 
verschiedenen Jahrgängen). Die Einzelresultate eignen sich schlecht für ein kurzes 
Referat. Wir weisen nur auf ein Schlußergebnis hin: »Das Leistungsvermögen der 
Sehüler in unseren Versuchen ıst mehr eine Funktion der Intelligenz als des Alters 
und des erworbenen Schulwissens.« 


Lahy, J.-M., Une caleulatrice-prodige. Archives de Psychologie. XIII, 51 (Sept. 
1913), S. 209 —243. 

Eingehende psychologische Studie über außergewöhnliches Zahlengedächtnis 
(Uranie Diamandi). 

Lay, W. A., Entwicklung der Zahlvorstellungen eines Kindes bis zu seinem Schul- 
eintritt. Die Pädagogische Forschung. II, 4 (Juli 1914), S. 408—417. 

Der Verfasser verfolgte die Entwicklung eines 1906 geborenen Knaben bis 
zu seinem Schuleintritt. Die Beobachtungen über die Entwicklung der Zahlvor- 
stellungen wurden nachträglich aus den Aufzeichnungen chronologisch zusammen- 
gestellt. Lay folgert daraus: »1. Das Interesse und die Hantierung mit den Sachen 
führte das Kind zu den ersten Zahlvorstellungen. (Der Rechenunterricht soll von 
den Sachen ausgehen und wieder zu ihnen zurückkehren.) 2. Wie alles Vorstellen 
und Begreifen geht auch das Zahlvorstellen von einer Gesamtvorstellung aus und 


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e EEE 3 


C. Zeitschriftenschau. 469 





kommt durch Zergliederung zu immer kleineren Teilvorstellungen (viel, wenig, zwei, 
eins, zum Teil im Kontrast zu keins). 3. Eins ist keineswegs die erste und leichteste 
Zahlvorstellung. 4. Auf der ersten Entwicklungsstufe entsteht die Zahl nicht aus 
dem Zählen, sondern das Zählen aus der Zahl. 5. Mechanisch eingelerntes Zahlen 
stört den natürlichen Entwicklungsgang. 6. Schon vor Schuleintritt hat das Kind 
spontan die Zahlbegriffe zwei und drei auf ganz verschiedenartige Dinge angewendet.« 


Lázár, Szilárd, Über den Einfluß der Ähnlichkeit auf das Erlernen, Behalten 
und Reproduzieren mathematischer Formeln. Die Pädagogische Forschung. II, 1 
(Oktober 1913), S. 53—66; 2 (Januar 1914), S. 163—181; 3 (April), S. 258—275. 

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Ähnlichkeit der Elemente eines be- 
stimmten Lernstoffes bei den Falschleistungen der Schüler eine große Rolle spielt. 

In den Versuchen konnten beinahe sämtliche falsche Reproduktionen mathematischer 

Formeln durch Verwechslungen und Verschmelzungen infolge partieller Identität der 

Ausdrücke einheitlich erklärt werden. — Der Verfasser stellt weitere experimentelle 

Arbeiten zu dieser Frage in Aussicht. 


Lindner, Rudolf, Untersuchungen über die Rechtschreibung taubstummer und 
hörender Schulkinder. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie. XIV, 6 (Juni 
1913), S. 327—340; 7/8 (Juli/August), S. 369—380. 

Bei einem Versuche, 100 Worte mit ihren Artikeln zu schreiben, machten 
taubstumme Kinder 5—10 mal so viel grammatische Fehler als ihre hörenden Alters- 
genossen (untersucht wurde nur das Hauptwort, nicht die Artikel). Orthographische 
Fehler finden sich (mit einer Ausnahme) bei den tauben Kindern weniger, trotzdem 
sie keinerlei Rechtschreiburterricht erhalten. Die Entstehung der Fehler wird ein- 
gehend untersucht. Für den Taubstummenunterricht ergibt sich aus dem Versuch, 
daß die Methode, gehörlose Schüler sprechend in die Sprache einzuführen, auf un- 
möglichen psychischen Voraussetzungen beruht. Grundlage des Rechtschreibunter- 
richts sind klare Gesichtsbilder (nicht die Schreibbewegungsvorstellungen). 


Lobsien, Marx, Zur Psychologie eines großen Rechenkünstlers. Zeitschrift für 
Philosophie und Pädagogik. 20, 9 (1. Juni 1913), S. 381—386. 
Besprechung der von G. E. Müller veröffentlichten Leistungen des Zahlen- 
virtuosen Dr. Rückle und der von Müller dazu gemachten Bemerkungen über 
hervorragende Spezialgedächtnisse überhaupt. 


Lode, Artur, Die Unterrichtsfächer im Urteil der Schulkinder. . Zeitschrift für 
Pädagogische Psychologie. XIV, 5 (Mai 1913), S. 291—296; 6 (Juni), S. 320 
bis 326; 7/8 (Juli/August), S. 359—369. 

Bei den meisten derartigen Untersuchungen ist die Urteilsfähigkeit der Kinder 
nicht mitberücksichtigt. Der Verfasser stellte Untersuchungen an 198 Knaben und 
77 Mädchen der Volksschule (meist im Alter von 13—14 Jahren) an. Ausgehend 
von der Voraussetzung, daß bei feststehendem Urteil mehrmalige Befragungen die- 
selben Ergebnisse haben müßten, wurde jede Klasse dreimal befragt (in Zwischen- 
räumen von zwei und vier Wochen). Die Tabellen zeigen, daß ein Teil der Schüler 
schon sich durch den fragenden Lehrer beeinflussen läßt. Andere Momente kommen 
hinzu, so daß sich folgendes Endresultat ergab: »Nur bei 24 von 198 Schülern, 
d. s. 12,12 °/,, stimmt das Urteil über das beliebteste und unbeliebteste Fach bei 
allen 3 Versuchen überein, während bei 59 Schülern (29,80 °/,) eine zweimalige, 
aber bei 115 Schülern (58,08 °/,) keine vollständige Übereinstimmung zu verzeichnen 
ist.« — Einige Begründungen lassen erkennen, wodurch die Schüler zu ihrem Urteil 
bestimmt werden. 


470 C. Zeitschriftenschau. 








Lowinsky, Victor, Zur Psychologie der wissentlichen Täuschung. Zeitschrift für 
angewandte Psychologie. VII, 5/6 (Mai 1914), S. 383—506. 

Wichtig als Beirat zum Problem der Kinderlüge. — Infolge ihres großen Um- 
fangs ist die Arbeit zum Referat an dieser Stelle nicht geeignet. 

MacDonald, Artur, Eine Schulstatistik über geistige Begabung, soziale Herkunft 
und Rassezugehörigkeit. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie. XIV, 9 (Sep- 
tember 1913), S. 440—443. 

Die Untersuchungen an Schulkindern Washingtons reichen schon einige Jahre 
zurück, fanden bisher aber nicht die gebührende Beachtung. Die Kinder der Be- 
amten- und Kaufmannsschicht übertrafen an Begabung die Arbeiterkinder Amerikas. 
Die Kinder fremder und gemischter Abkunft zeigten mehr als die reinen Amerikaner 
eine mittlere Begabung. Bei den amerikanischen Kindern ergab sich, daß die Mäd- 
chen die Knaben übertrafen in Algebra, Zeichnen, Geschichte, Sprachen, Handarbeit, 
Musik, Schönschreiben, Lesen, Buchstabieren; sie standen nach in Rechnen und 
Mathematik; sie zeigten die gleiche Höhe in Geographie und Naturwissenschaften. 
Bei den fremden und gemischten Nationalitäten liegen die Verhältnisse ähnlich: 
nach der Schätzung der Lehrer übertreffen die Mädchen in der Schule im all- 
gemeinen die Knaben an geistiger Begabung, ganz einerlei wie man sıe nach Rasse 
oder sozialer Rangordnung gruppiert. 

Matz, W., Untersuchungen über das kindliche Bildurteil. Zeitschrift für angewandte 
Psychologie. VII, 1/2, S. 167—175. 

Berichtet über die grundlegenden Arbeiten von Friedrich Müller, Gustav 
Dehning und O. Hasserodt. Die beiden ersten sind besonders psychologisch 
wichtig, die letzte praktisch-pädagogisch. 

Messer, August, Neuere Untersuchungen über die Gesichtswahrnehmung und 
deren Entwicklung. Pädagogisch-psychologische Studien. XIV, 1/2, 8. 1—5. 

Es werden die Untersuchungen von Jaensch (Ȇber die Wahrnehmung des 
Raumes,« Leipzig 1911) und von Katz (»Die Erscheinungsweisen der Farben und 
ihre Beeinflussung durch die individuelle Erfahrung,« Leipzig 1911) besprochen und 
nach ihrer pädagogischen Bedeutung gewürdigt. Die Untersuchungsergebnisse zeigen, 
daß Kinderpsychologie und experimentelle Pädagogik von der allgemeinen Psychologie 
des erwachsenen Individuums mancherlei Förderung erfahren können. Der Ver- 
fasser schließt mit der Mahnung, »daß die Vertreter der verschiedenen Zweige 
unserer so reich sich entfaltenden psychologischen Wissenschaft stets enge Fühlung 
miteinander halten mögen«, 

Messmer, U., Der zeichnerische und der sachliche Blick. Die Deutsche Schule. 17, 3 
(März 1913), S. 143—157. 

Die Arbeit betrifft zunächst nur den Zeichenunterricht, enthält aber auch ‚viel 
psychologisch wertvolles Material. 

Meumann, Ernst, Die soziale Lage der Intelligenzprüfungen. Zeitschrift für 
Pädagogische Psychologie. XIV, 9 (September 1913), S. 433—440. 

Die bisherigen Ergebnisse der Intelligenzprüfungen zeigen eine Abhängigkeit 
der Intelligenz der Kinder vom sozialen Stande (besonders der Wohlhabenheit) der 
Eltern. Man muß bei der Kritik dieses Ergebnisses aber daran denken, daß die 
Tests in ihrer bisherigen Durchführung nicht zwischen dem Entwicklungs- und Be- 
gabungstatbestand unterscheiden können. Es ergibt sich nur: die Entwicklung der 
Kinder der ärmeren Stände ist eine verlangsamte im Vergleich zu der der Kinder 
der besser gestellten Kreise. Es ist nicht gesagt, daß das sich geistig langsam ent- 
wickelnde Kind nicht zu denselben Begabungshöhen aufsteigen könnte wie das sich 


C. Zeitschriftenschau. 471 





schnell entwickelnde. Man hat in Hamburg den Intelligenzprüfungen nun eine drei- 
fache Richtung gegeben: man sucht zu scheiden zwischen reinen Entwicklungs-, 
Begabungs- und Milieutests, wobei letztere wieder nach verschiedenen Seiten diffe- 
renziert werden. — Zwischen Begabung und sozialer Stellung der Eitern dürften 
insoweit Beziehungen bestehen, als günstigere soziale Stellung ein individuelleres 
Eingehen auf das Kind ermöglicht. Sozialpädagogisch besonders wichtig ist die 
Frage der Begabung unter den Volksschulkindern. Nach Goddard haben wohl nur 
4°/, der Volksschulkinder eine über den Durchschnitt stehende Begabung. Für 
Deutschland müssen noch ähnliche Zahlen gefunden werden. (Es liegen bereits Au- 
gaben vor, nach denen sich die Zahl der hervorragend befähigten in den höheren 
Schulen auf 2—10 °/, beziffert; viel anders dürften die Zahlen unter Volksschul- 
kindern auch nicht ausfallen.) 


Meyer, Semi, Gibt es eine Übung außerhalb des Gedächtnisses? Zeitschrift für 
Pädagogische Psychologie. 14, 3 (März 1913), S. 160—183. 

Meyer behauptet, daß alle Übung lediglich Gedächtnisarbeit ist, daß aller 
Übungsgewinn Gedächtnisbesitz ist, und daß nicht das Gedächtnis auf Übung, sondern 
die Übung auf Gedächtnis beruht. Für diese Anschauung wird eine Menge Beweis- 
material beigebracht. 

Moede, Walther, Chorlernen und Einzellernen. Die Pädagogische Forschung. 
II, 4 (Juli 1914), S. 383—399. 

Die Versuche ergeben bei sinnlosem Material für das Chorlernen eine Mehr- 
leistung des Gedächtnisses von etwa 33 °/,, bei sinnvollem Material um 16°,,. In 
beiden Fällen schneiden die schlechteren Schüler bei dem Chorlernen bedeutend 
besser ab, während die oberen Rangplätze ihre Leistungen nur wenig verbessern. 
Müller, H., Die Schulung des Gedächtnisses. Schul- und Kirchenbote. 48, 8 

(15. April 1913), S. 119—124. 

Besprechung von Ursachen und allgemeinen Kennzeichen der Gedächtnis- 
schwäche sowie der Behandlung namentlich pathologischer Fälle. 

Muth, G. Fr., Über Oınamentationsversuche mit Kindern im Alter von sechs bis 
zehn Jahren. Zeitschrift für angewandte Psychologie. VII, 2/3 (März 1913), 
S. 223—271. 

Die Arbeit berücksichtigt ein Vergleichsmaterial von 3 Kindern aus 4'/, Jahren. 
Die Gesamtentwicklung der drei Kinder wird geschildert. Speziell wird die Be- 
handlung der Baumformen besprochen. Es werden dann verglichen: Motivenfolge 
im Laufe der Entwicklung, Auslese und Häufigkeit der Motive, Variabilität der 
Motive, Tendenzen, die sich in der Motivenbehandlung auswirken, Verhältnis der 
Motive zueinander. — Als Aufgabe wurde gestellt: Tellerverzierung, Schildverzierung, 
Ausschmückung eines Frauenkleides. Abbildungen ergänzen den Text. 

Muth, G. Fr., Ornamentationsversuche mit Kindern. Zeitschrift für angewandte 
Psychologie. VIII, 5/6 (Mai 1914), S. 507—548. 

Über Alters-, Geschlechts- und Individualunterschiede in der Zierkunst des 
Kindes sammelte der Verfasser Material aas mehrjährigen Einzelbeobachtungen und 
aus einem Massenversuch an 106 Knaben und 105 Mädchen aus vier verschiedenen 
Schuljabren einer achtklassigen ländlichen Dorfschule. Verziert werden mußten ein 
Teller und ein Schild. Hinsichtlich der Altersunterschiede läßt sich deutlich eine 
gewisse Gesetzmäßigkeit erkennen. Am interessantesten sind wohl (bei der jetzt 
viel erörterten Frage) die Geschlechtsunterschiede: Die Arbeitsweise der Mädchen 
ist geschickt, oft fein bis kleinlich; die belebten und unbelebten Teile einer Fläche 
werden auf den höheren Stufen gut zueinander abgestimmt. Die Arbeiten der 


472 C. Zeitschriftenschau. 





Knaben sind derber zugreifend und oft originell; ihr Wert wird oft durch Eigen- 

schaften bestimmt, die außerhalb des Ornamentalen liegen. Zur Erkennung der In- 

dividualunterschiede ist ein umfangreicheres Material erforderlich, das sich über 

mehrere Beobachtungsjahre erstreckt. 

Nagy, Lad., Eine Grundfrage der intellektuellen Entwicklung. A Gyermek. VII, 
1913, 2, S. 132—135. 

Der Verfasser will der Entwicklung des Kindes einen »epochegemäßen« und 
einen »periodischen« unterscheiden. Er suchte »denjenigen epochegemäßen Zeit- 
abschnitt der intellektuellen Ausgestaltung, welcher die natürliche Entwicklung 
wesentlich abschließt« festzustellen. Zu diesem Zwecke wurden Zeichnungen von 
Soldaten und Kindern verglichen; aus dem Vergleich wird gefolgert: das Niveau 
der Zeichnungen von ungebildeten Erwachsenen ist das gleiche wie das der Zeich- 
nungen von 9 bis 10jährigen Kindern. »Beide zeigten diejenige Übergangsstufe des 
primitiven Zeichnens, wo die analytischen Ausdrucksweisen der reproduzierten Vor- 
stellungen in synthetische Ausdrucksarten übergeht« (Übergangsalter). 

Nitzsche, Osk., Illustrieren als Ausdruckskultur. Die Pädagogische Praxis. II, 3 
(Dezember 1913), S. 130—134. 

Der Verfasser betont neben den praktisch-pädagogischen Gesichtspunkten, daß 
die Illustrationen der Mädchen neben Sinnigkeit auch Ängstlichkeit und Verzagtheit 
zeigen, während die der Knaben meist den Ausdruck der Kraft und Bestimmtheit 
verraten. 

Plothow, Anna, Die Ästhetik im Leben des Krüppels. Zeitschrift für Krüppel- 
fürsorge. VII, 1 (Januar 1914), 5. 43—46. 

Das ästhetische Gefühl muß beim Krüppel wohl ausgebildet werden. Mit der 
Weckung des Ordnungs- und Reinlichkeitsgefühls ist anzufangen. Aber auch dem 
Schönheitsgefühl ist überall nach Möglichkeit Rechnung zu tragen. 

Prismann, J., Das Institut für Kinderpsychologie und Neurologie in Moskau. Die 
Pädagogische Forschung. II, 1 (Oktober 1913), S. 96—99. 

Das Institut wurde 1911 von Professor Rossolimo an den »Weiblichen Päda- 
gogischen Kursen« gegründet. Es wird noch von ihm geleitet und unterhalten. Es 
will praktische und wissenschaftliche Aufgaben erfüllen. 

Rössing, P., Vorstellungstypen und die Methode der Wortreaktion. Evangelisches 
Schulblatt. 58, 3 (März 1914), S. 112—119. 

Der Verfasser bemüht sich vor allem, zu zeigen, daß es keine reinen Typen 
gebe. Man könne höchstens von stark ausgeprägten Typen sprechen. Seine kriti- 
schen Bemerkungen lehnen sich vor allem an Beetz (Pädagogische Warte, 1907, 
Heft 12) an, betreffen aber nur die Wortreaktion. Eine Reihe »untauglicher« 
Wörter müßten von vornherein außer acht gelassen werden, da sie an sich schon 
einen überwiegenden Typus aufweisen. Möglich wäre auch eine Bildung von drei 
Wortgruppen, die visuell betonte, akustisch und motorisch ausgezeichnete Vor- 
stellungen erwecken. Auch durch Milieueinflüsse werden die Typen oft unklar ge- 
macht. Auch der Wille spielt nach dem Verfasser in den Vorstellungsmechanismus 
hinein. Er meint, daß man daher bewußte Wahlreaktionen verlangen solle, die 
doch den Typus klar erkennen lassen müßten, Statt der schriftlichen Aufzeichnung 
müßte man die Reaktionen sagen lassen. — Der Verfasser will durch seine kriti- 
schen Bemerkungen nur zu kritischem Nachdenken anregen. 


Rumiantzew, N. E., Neuere Arbeiten aus dem Gebiete der experimentellen Päda- 


gogik in Rußland. Die Pädagogische Forschung. II, 3 (April 1914), S. 327 336; 
4 (Juli), S. 417—429. 


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C. Zeitschriftenschau. 473 





Besprechung der Arbeiten der russischen Gesellschaft für experimentelle Psy- 
chologie (gegründet 1909), in ihren Hauptresultaten, 

Rumianzew, N. E., Die Frage des gemeinsamen Unterrichts für Knaben und 
Mädchen in Rußland. Die pädagogische Forschung. II,2 (Januar 1914), S. 181—189. 

Das Verlangen nach Koinstruktion wird in Rußland immer reger. Es liegen 
verschiedene Untersuchungen vor über Geschlechtsunterschiede, über die zum Teil 
kurz referiert wird. Verschiedene Kongresse haben sich in Rußland mit der Coedu- 
cation befaßt und sind für sie in Resolutionen eingetreten. 

Schaefer, M., Elemente zur moral-psychologischen Beurteilung Jugendlicher. Zeit- 
schrift für Pädagogische Psychologie. 14, 1 (Januar 1913), S. 47—59; 2 (Februar), 
S. 90—98. 

Als Moral- oder ethische Betätigung im Gegensatz zu der intellektuellen Be- 
tätigung bezeichnet der Autor die Äußerungen des sogenannten »Willenslebens<. Er 
untersucht die Frage nach der Möglichkeit, die sittliche Reife eines Kindes zu 
messen und einen Parallelismus der Wege auf dem Gebiete der Intellekts- und 
Moralitätsprüfung herzustellen. Es handelt sich also darum, den Intelligenzaltern 
»Moralitätsalter«e zur Seite zu stellen. Mit Rücksicht auf die praktische Seite der 
Frage (Jugendgerichtsbarkeit) wurden nur Kinder im Alter von 12 bis zu 18 Jahren 
untersucht. Die Materialbeschaffung machte nicht geringe Schwierigkeiten, ins- 
besondere da für die Mädchen über 14 Jahren nur freiwillige Fortbildungsschulen 
zur Verfügung standen. Die Jugendlichen sollten sich äußern zu der Frage: 
»Warum ist das Stehlen verboten?« Das Ergebnis der Untersuchung gibt kein Bild 
vom inneren Moralitätsempfinden, sondern nur ein Bild, dessen, was die Jugend- 
lichen über dieses angeben und zutage treten lassen. Der Verfasser entwarf ein 
Motivschema (in Anlehnung an Schopenhauers Preisschrift über die Grundlage der 
Moral) nach konzentrisch ethischen Kreisen. Die Rubrizierung der Antworten er- 
hellt am besten aus den zahlreichen Beispielen. — Von den normalen Jugendlichen 
waren 1109 Auskünfte (635 von Knaben, 474 von Mädchen) verwertbar. Nicht zu 
verwerten waren 2,1°/, der eingegangenen Antworten. Von schwachsinnigen waren 
94 Antworten zu verwerten; unbrauchbar waren 33,3 °/, der eingegangenen Ant- 
worten. — Die Resultate sind durch Diagramme veranschaulicht. Es genügt hier 
zu betonen, daß unter den normalen Jugendlichen bis zum Ende des 14. Lebens- 
jahres die meisten ihren Äußerungen nach Egoisten sind, daß sie nach dem 14. Jahre 
sozialethische Altruisten sind. Für die Praxis ergibt sich aus näherer Betrachtung 
der Untersuchungsergebnisse der Wunsch, das strafmündige Alter vom 12. bis 
mindestens zum 15. Jahre hinauf zu verlegen, da erst im 15. Lebensjahr die knappe 
Mehrzahl der Untersuchten (und zwar 56 °/,) moralisches Verständnis und ethisches 
Bewußtsein haben, mithin für etwaige Delikte verantwortlich zu machen wären. — 
Die Untersuchungen an den schwachsinnigen Kindern leiden vor allem an dem 
Mangel hinreichend großen Materials. In der Bewertung ist Schaefer sehr vor- 
sichtig. Man könnte sagen, daß alle Schwachsinnigen nach den Äußerungen über 
ibre moralische Grundbestimmung Egoisten sind. Bis zum Austritt aus der Schule 
ist der Egoismus etwas gedämpft durch religiöses und sozial-ethisches Empfinden. 
Übrigens stellen die Schwachsinnigen nicht immer bloß niedrigere Intelligenzstufen 
der Normalen dar, sondern sie weisen auch eine vom normalen Typus qualitativ ab- 
weichende seelische Organisation auf. 

Schalast, Karl, Welche Gedanken Wundts über das Sprechen und Denken sind 
für die Sprachschulung unserer Utraquisten besonders bedeutungsvoll? Pädago- 
gische Studien. 14. 3/4, 1913, S. 13—14. 


474 C. Zeitschriftenschau. 








Die Arbeit zeigt. wie wichtig es ist, die Sprachbildung mit der Denkbildung 
zu verbinden. 

Scheifler, H., Zur Psychologie der Geschlechter: Spielinteressen des Schulalters. 
Zeitschrift für angewandte Psychologie. VIII, 1/2 (September 1913), S. 124—144. 

Das Material ergaben zwei statistische Erhebungen: 1909 989 Knaben und 
2013 Mädchen, 1913 1242 Knaben und 1166 Mädchen aller Schulgattungen. Die 
Nachahmungsspiele werden von den Mädchen stark bevorzugt. Die körperlichen 
Bewegungs- und Kampfspiele finden bei den Knaben mehr Anklang. Bei den 
geistigen Bewegungs- und Kampfspielen (Brettspiele, Glücksspiele) spielen die Knaben 
zielsicherer, die Mädchen vielleicht temperamentvoller. Am wenigsten treten die 
Geschlechtsunterschiede bei den Bewegungsspielen hervor. In einer kleinen Sexta 
mit Coeducation konnte Scheifler von einer gegenseitigen Beeinflussung hinsicht- 
lich der Spiele nicht viel spüren. 

Schnaß, Franz, Arbeitsziele und -wege der modernen Denkpsychologie nach Prof. 
O. Külpe-Bonn. Pädagogisch-psychologische Studien. XII, 11, S. 53—55; 12 
S. 61—64. 

Nach einem kurzen Überblick über das Theoretische werden besprochen die 
Versuche zum Nachweis der Existenz von Gedanken und die Denkakte und ihre 
experimentelle Analyse. Külpe polemisiert besonders gegen die einseitige Auf- 
fassung des Anschauungsprinzips in der Unterrichtsmethode. 

Schreyer, Otto, Zur Psychologie der Rechtschreibungsfehler bei Schulkindern. 
Zeischrift für Pädagogische Psychologie. 15, 2 (Februar 1914), S. 132—134. 

Die Zahl der Fehler blieb in einer kleinen Untersuchung des Verfassers ziem- 
lich gleich, aber die Fehler wechselten enorm. »Die Kinder sind einer ihrem Alter 
und ihrer physischen und psychischen Beschaffenheit entsprechenden Aufmerksam- 
keit fähig, nach der sich die Sicherheit in der Rechtschreibung richtet.«e Praktisch 
ergibt sich daraus die Notwendigkeit, die Aufmerksamkeit zu üben. 


Schultz, Gotfred, Zur Aussagepsychologie. Zeitschrift für angewandte Psycho- 
logie. VII, 6 (September 1913), S. 547—574. 
Im Anschluß an ein Experiment mit 6 Studenten und 82 Lehrern und Lehre- 
ıinnen werden einige prinzipielle Erörterungen geboten. 
Stern, W., Psychologie der Aussage 1911/13. Ebenda. S. 577—596. 
Sammelbericht mit besonderen Abschnitten über Kinder und Jugendliche als 
Zeugen und über psychologische Prozeßgutachten über Kinderaussagen. Im letzten 
Kapitel teilt Stern einen Fall eigener Gutachtertätigkeit mit. Er stellt die Forde- 
rung auf, daß für Prozesse, in denen jugendliche Zeugen die entscheidende Rolle 
spielen, ganz andere Vorschriften nötig sind als bisher. Bei normalen Kindern ist 
der Psychologe als Sachverständiger zuzuziehen, nicht der Psychopathologe, wie das 
von psychiatrischer Seite aus gefordert ist. 


Schulze, Rudolf, Antikenotoxin. Neue Bahnen. 24, 4 (Januar 1913), S. 169 
bis 171. 

Bei künstlicher Entfernung der Ermüdungsstoffe wird wahrscheinlich die oft 
zu beobachtende Überempfindlichkeit entstehen. Die Fortsetzung der Antikeno- 
toxinversuche (Weichardt, Lorenz) erscheint zwar wünschenswert. Doch ist von 
Kinderversuchen zu pädagogischen Zwecken dringend abzuraten. 


Ders., Die Bewegungsform bei einfachen Willenshandlungen. Neue Bahnen. 24, 7 
(April 1913), S. 311—316. 
Bei einer systematischen Untersuchung einfacher Willensvorgänge lassen s.ch 


C. Zeitschriftenschau. 475 





zwei Typen der Reaktion feststellen: die sensorielle (langsamere Reaktion bei Auf- 
merksamkeitsrichtung auf den Reiz) und die muskuläre (schnellere Reaktion bei Auf- 
merksamkeitsrichtung auf die auszuführende Bewegung). Bei verschiedenen Reizen 
ergaben sich immer die gleichen Resultate. Der Verlauf der Bewegungsform bei 
einfachen Willensvorgängen wurde zuerst von Isserlin eingehend untersucht. Die 
Ergebnisse seineı Untersuchungen werden an der Hand etlicher Kurven besprochen. 
Die Untersuchungen sind für die experimentelle Pädagogik deshalb von besonderer 
Wichtigkeit, weil sie vom Studium der einfachen Willenshandlung überleiten zu den 
ergographischen Methoden zur Untersuchung der körperlichen Arbeit. 


Ders., Experimentelle Pädagogik in der pädagogischen Diaspora. Neue Bahnen. 
25, 2 (November 1913), S. 67—75. 

Kurze Anleitungen zu pädagogischen Experimenten in kleinen Städten oder 
Dörfern. Für solche Lehrer, die sich nicht in einem Institute einige Sicherheit im 
Experimentieren haben aneignen können, sind apparatlose Untersuchungen vorzu- 
ziehen, die sich oft leicht in den Rahmen der Unterrichtspraxis einfügen Jassen. 


Ders., Kind und Psychologie. Die Pädagogische Praxis. II, 1 (Oktober 1913), 
S. 18—25. 

Die Arbeit, ein Ausschnitt aus einer Festrede am Sedantag, ist wohl der erste 
Versuch, Kindern Ergebnisse und Methoden einfacher experimenteller Versuche aus 
dem Gebiete der Psychologie vorzutragen, um sie daran die Bedeutung der experi- 
mentellen Psychologie und insbesondere Wundts kennen zu lehren. 


Ders., Kinematographische Kinderaufnahmen. Neue Bahnen. 24, 3 (Dezember 
1912), S. 105—119; 12 (September 1913), S. 554—564. 

Die photographische Methode, spontane Gefühlsausbrüche, wie sie bei der Bild- 
betrachtung erfolgen, objektiv festzuhalten gibt nur einen einzigen Querschnitt durch 
das Wechselvolle des Gefühlsverlaufs. Es lag daher nahe, sie durch die kinemato- 
graphische Methode zu ersetzen. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen mit dieser 
Methode legt Schulze in dieser Arbeit an Hand zahlreicher Abbildungen vor. Sie 
sind in der Arbeit selbst nachzusehen. Die kinematographische Methode scheint 
sich nach diesen Ergebnissen für die Untersuchung der Gefühle namentlich bei 
kleineren Kindern recht wohl zu eignen. 

Ders., Kinematographische Kinderaufnahmen. Zeitschrift für Pädagogische Psy- 
chologie. XIV, 7/8 (Juli/August 1913), S. 405—407. 

Kurzer Hinweis auf des Verfassers Versuche, zur Verfolgung längerer Ge- 
fühlsverläufe die kinematographische Methode anzuwenden. 

Ders., Quer durch den Bewußtseinsstrom. Die pädagogische Praxis. II, 9 (Juni 
1914), S. 480—489. 

Eine anregende Plauderei (als Psychologiestunde im Seminar etwa) über Auf- 
merksamkeitsumfang und Bewußtseinsumfang. 

Schüßler, Heınrich, Die Korrelation zwischen Rechnen und Singen. Die päda- 
gogische Forschung. lI, 2 (Januar 1914), S. 153—163. 

Der Verfasser untersuchte bei 1000 Volksschülern die Korrelation zwischen 
Rechnen und Singen. Er faßt seine Untersuchungen folgendermaßen zusammen: 
»1. Die Gabe des Gesanges ist weit mehr Menschen verliehen als die der Rechen- 
kunst. Es gibt ungefähr 25 °/, gute, 50 °/, mittelmäßige und 25 °/, schlechte Rechner 
und ungefähr 50°/, gute, 40°, mittelmäßige und 10°, schlechte Sänger. 2. Von 
den guten Rechnern sind durchschnittlich zwei Drittel gute Sänger. 3. Von den 
guten Sängern sind aber umgekehrt nur ein Drittel gute Rechner. 4. Von den 


476 D. Literatur. 





schlechten Rechnern sind ein Drittel gute und ein Halb mittelmäßige Sänger. 

5. Von den schlechten Sängern sind ein Viertel noch gute, drei Achtel mittelmäßige 

und drei Achtel schlechte Rechner. 6. Von den mittelmäßigen Rechnern sind ein Halb 

noch gute Sänger. 7. Von den mittelmäßigen Sängern sind nur ein Siebentel gute 

Rechner. 8. Der r-Wert für die Korrelation Rechnen-Singen beträgt 0,30, der 

w. F.-Wert 0,018. — Eine Kontrolluntersuchung an 500 Knaben und 500 Mädchen 

erbrachte im wesentlichen eine Bestätigung dieser Ergebnisse. 

Tschudi, Rob., Psychische Geschlechtsunterschiede bei Schulkindern. Zeitschrift 
für Jugenderziehung. IV, 1 (15. September 1913), S. 2—8; 2 (1. Oktober), 
S. 33—38. 

In körperlicher Hinsicht zeigen sich folgende Geschlechtsunterschiede: die 
Mädchen wachsen sprunghafter, sind vom 10.—14. Lebensjahr größer und schwerer, 
haben kleineren Brustumfang, kleinere Lungen- und Schädelkapazität, Druckkraft 
und Energie als die Knaben. Die Pubertät greift tiefer in den weiblichen Organismus 
ein, beginnt früher beim Mädchen und verursacht eher physische und psychische 
Unterschiede. Bei den Mädchen ist der Nachahmungs- und Herdentrieb, beim 
Knaben der Kampftrieb und Wetteifer stärker, ebenso der analytische und synthe- 
tische Trieb und der Sammeleifer. Die Mädchen haben ein besseres Gedächtnis, 
sind phantasietätiger und leichter suggestibel, sie arbeiten persönlicher und ge- 
brauchen mehr sprachliche Wendungen als die Knaben. Die Aussagen der Knaben 
sind wahrheitsgetreuer. Anhänglichkeit und religiöse Gefühle sind bei den Mädchen 
stärker. In ihrer intellektuellen und emotionellen Entwicklung sind die Mädchen 
viel mehr von ihrer Umgebung abhängig. -- Als praktische Folgerung ergibt sich: 
die Koedukation empfiehlt sich nur für die vier ersten Schuljahre. 


D. Literatur. 


Binswanger, Otto, Die Epilepsie. Zweite, neubearbeitete Auflage. Wien und 
Leipzig, Alfred Hölder, 1913. IV und 548 Seiten. Mit 1 Abbildung im Text 
und 2 Tafeln. Preis 15,40 Mark. 

Binswangers Monographie erfreut sich allgemeiner Beliebtheit und Wert- 
schätzung; denn sie ist wohl das beste, was wir an derartigen Darstellungen über 
die Epilepsie haben. Wenn wir an dieser Stelle dieses Buch ganz kurz zu würdıgen 
versuchen wollen, so gibt uns Heilpädagogen ein besonderes Recht dazu die Über- 
legung, daß nach Sartorius Deutschland allein 16470 krampfkranke Kinder im 
schulpflichtigen Alter zählt. Wenn auch ein großer Teil von ihnen in Anstalten 
untergebracht ist, wo sie sich ständiger ärztlicher Überwachung und Fürsorge er- 
freuen, so ist doch ein nicht geringer Prozensatz solcher Anstaltspflege aus Mangel 
an geeigneten Einrichtungen und auch aus finanziellen Gründen bisher nicht teil- 
haftig geworden. Und gerade an diesen Fällen hat der Lehrer und Anormalen- 
pädagoge ein besonderes Interesse. 

Eben deshalb möchte ich Binswangers »Epilepsie« nicht nur ärztliche, sondern 
auch pädagogische Leser wünschen, die allerdings über eine gewisse medizinische 
Kenntnis verfügen müssen. 

Binswanger hat sein Stoffgebiet in neun Kapitel gegliedert, denen sich ein 
umfangreiches Literaturverzeichnis (aus der ersten Auflage übernommen) und ein 
sehr eingehendes Sachverzeichnis anschließen. 

Das erste Kapitel stellt die Gesichtspunkte für die Bearbeitung des Themas 


D. Literatur. 477 





zusammen und schließt mit folgender Feststellung des Krankheitsbegriffes: »Die 
Epilepsie ist eine ausgeprägt chronische Erkrankung des Zentralnervensystems, die 
durch die verschiedenartigsten Ursachen hervorgerufen wird. Ihre Krankheits- 
äußerungen bestehen entweder in öfters wiederkehrenden Krampfanfällen mit Be- 
wußtlosigkeit oder in Teilerscheinungen dieser Anfälle oder in psychopathischen Be- 
gleit- oder Folgeerscheinungen.« 

Das zweite Kapitel gibt eine Darstellung der allgemeinen Pathologie und Patho- 
genese, aus der sich ergibt, daß der Sitz der epileptischen Veränderung in das 
ganze Gehirn verlegt werden muß, wenn auch die gestörte Tätigkeit der Hirnrinde 
im Hinblick auf ihre hohe funktionelle Bedeutung den hauptsächlichsten Anteil an 
der Erkrankung besitzt, und daß die Natur der epileptischen Veränderung noch un- 
aufgeklärt ist. 

Die Ätiologie wird im dritten Kapitel untersucht. Hervorgehoben sei daraus: 
die Zahl der erblich belasteten Epileptiker schwankt nach den vorliegenden Unter- 
suchungen zwischen 35 und 40°,. Dabei sind die: keimschädigenden Wirkungen, 
unter denen an erster Stelle der Alkoholismus als Erzeuger zu nennen ist, nur zum Teil 
berücksichtigt. Für uns besonders interessant ist, »daß die Kınderkrämpfe einen 
direkten Rückschluß auf eine angeborene neuropathische Prädisposition nicht ge- 
statten, daß aber ihr Auftreten immer den Verdacht auf eine solche wecken muß« 
(S. 93). Die angeborenen Prädispositionen bilden (unter Hınzurechnung der Keimes- 
schädigungen und der intrauterin hinzugetretenen schädigenden Einwirkungen) »für 
mehr als die Hälfte der Fälle die vorbereitende Ursache zur Entwicklung des epi- 
leptischen Gesamtleidens« (S. 102). Bei der Ätiologie finden natürlich auch Syphilis, 
Intoxikationen (Alkohol, Blei, Nikotin), Traumata eingehende Berücksichtigung. 

Das vierte Kapitel, die Symptomatologie, zeugt von der reichen Erfahrung, 
die gerade Binswanger auf diesem Gebiete hat. Die mannigfachen eigenen Be- 
obachtungen, die durch das ganze Buch verstreut eingeordnet sind, sind außer- 
ordentlich lehrreich. — Im fünften Kapitel, das den interparoxysmalen Zustand be- 
handelt, interessiert uns besonders der Abschnitt über das psychische Verhalten, in 
dem die Zusammenhänge zwischen Epilepsie und Schwachsinn besprochen werden 
— ein Abschnitt, den jeder Heilpädagoge gelesen haben müßte. 

Das sechste Kapitel, die pathologische Anatomie, hat vatürlich vorwiegend 
medizinisches Interesse, während das siebente über die Diagnose doch auch wieder 
maoches dem Pädagogen Wertvolle bietet, so über die Abgrenzung der Epilepsie 
von der Hysterie und insbesondere auch über die Simulation. 

Aus dem achten Kapitel über Verlauf und Prognose sei vor allem betont, daß 
vielfach die Epilepsie noch immer als unheilbare Krankheit betrachtet wird. Mir 
scheint es eine dankbare Aufgabe für den Pädagogen, und zugleich eine Gelegenheit, 
seinen Willen zur Zusammenarbeit mit dem Arzte zu bekunden, dıeses verhängnis- 
volle Vorurteil beseitigen zu helfen. Allerdings bilden die im Ausgang günstigen 
Fälle nur einen kleinen Prozentsatz. Aber vielleicht ließe sich da noch manches 
erreichen durch rechtzeitige ärztliche Beratung und Behandlung. 

Wieder von vorwiegend mediziuischem Interesse ist Kapitel IX, die Therapie. 
Doch scheint mir auch wıeder hier dem Lehrer eine Möglichkeit gegeben, seinen 
oft autoritativen Einfluß geltend zu machen, wenn er sich an den prophylaktischen 
Aufgaben nach Möglichkeit beteiligte. So kann er namentlich auf dem Lande z. B. 
mit darauf hinwirken, daß Epileptiker vor der Verheiratung ein ärztliches Gutachten 
einholen. Gerade auf dem Lande ist ja die Ansicht durchaus nicht so selten, daß 
Geschlechtsverkehr von der Fallsucht befreie. Eine besondere Aufgabe ist dann 
weiterhin die Erziehung nervös veranlagter Kinder. Mehr als einmal betont Bins- 
wanger in diesem Abschnitt die Notwendigkeit des Individualisierens, das leider 
vielen Lehrern in seiner Bedeutung durchaus noch nicht hinreichend bewußt ist. 
Die besondere Fürsorge für die Epileptiker ist weiterhin von ganz allgemeiner Be- 
deutung. Noch ist sie ja ganz unzureichend; denn die wenigen Anstalten bieten 
nur einem Bruchteil der Pflege- und Hilfsbedürftigen Platz. Binswanger befür- 
wortet eine Ausgestaltung der staatlichen Anstalten für Epileptiker zu Heilanstalten 
(jetzt sind sie vorwiegend nur Pflegeanstalten) und Angliederung von gesonderten 
Nervenabteilungen an die Irrenanstalten, in denen freiwillig sich meldende und un- 
bemittelte Epilepsie-Kranke Aufnahme finden würden. Für die jugendlichen Epi- 


478 D. Literatur. 





leptiker werden eigene Erziehungsanstalten unter ärztlicher Oberleitung, am besten 
in waldreicher mittlerer Höhenlage (500—800 m), gefordert. Bis zu deren Schaffung 
empfiehlt Binswanger die Unterbringung wohlhabenderer Jugendlicher in geeigneten 
Landpfarrhäusern unter stetiger ärztlicher Kontrolle und unter der Voraussetzung 
pädagogischer Durchbildung auf Seiten des Pfarrers. — Die weitere Erörterung der 
therapeutischen Fragen, insbesondere die medikamentöse und die operative Behand- 
lung, fällt natürlich in rein medizinisches Gebiet. 

Dieser kurze Überblick über den Inhalt der Monographie kann und soll natür- 
lich nur anregende Bedeutung haben: möchten aus den Kreisen der Heilpädagogen 
— denn für die Psychiater und Kinderärzte bedarf es an dieser Stelle kaum eines 


besonderen Hinweises mehr — recht viele diese treffliche, klar geschriebene Dar- 
stellung in die Hand nehmen zu eingehendem Studium. 
Jena. Karl Wilker. 


Classen, Walther, Zucht und Freiheit. Ein Wegweiser für die deutsche 
Jugendpflege. München, C. H. Beck (Oskar Beck), 1914. XIII und 220 Seiten. 
Preis gebunden 2,80 Mark. 

Man kennt den Verfasser aus seiner Arbeit an der Hamburger Jugend, aus 
seinen Lehrlings- und Gehilfenvereinen, aus deren Leben auch dieses ganze Büch- 
lein geschöpft ist. Aber es gibt nicht trockene Anweisungen, wie man das und das 
zu machen hat. Es zeigt, wie Walther Classen es gemacht hat, wie er’s ver- 
kehrt gemacht und wie er’s richtig gemacht hat. Dadurch wird es dem Leser mehr 
als ein bloßer Ratgeber. Es wird ihm die Persönlichkeit wertvoll und interessant, 
die hinter dem allen steht. Und wenn man auch bei Classens mehr theoretischen 
Ausführungen oftmals einen Reiz empfindet, zu widersprechen, so macht das einem 
das Buch eigentlich nur noch lieber. Besondere Freude wird man aber an all dem 
erleben, was an politischen Gedanken in diesem Buche steckt, um so mehr jetzt in 
diesen Zeiten des großen Völkerkrieges. Doch das ist schließlich etwas, was den 
Kinderforscher als solchen kaum angeht. Daß das Buch — bis auf einen kurzen 
Abschnitt — nur von der Pflege der männlichen Jugend har.delt, ist begründet in 
Classens Arbeit, die sich ja vorwiegend, wenn nicht ganz, auf diese beschränkt, 
und in seiner Auffassung von der Pflege der schulentlassenen Mädchen als einer 
(allerdings sehr wichtigen) Aufgabe der Frauen. 

Jena. Karl Wilker. 


Neter, Eugen, Das einzige Kind und seine Erziehung. 5. und 6. ver- 
mehrte Auflage. München, Otto Gmelin, 1914. 76 Seiten. Preis geheftet 
1,40 Mark, gebunden 2,20 Mark. 

In gewisser Weise hat Neter mit diesem Büchlein die Anregung gegeben, 
dem einzigen Kinde erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken. Er wollte keine wissen- 
schaftliche Aufgabe damit erfüllen. Er nannte seine Schrift im Untertitel »ein 
ernstes Mahnwort an Eltern und Erzieher«. Und als solches soll sie hier in dieser 
neuen, bedeutend vermehrten Auflage nachdrücklich empfohlen werden. Das ist 
um so nötiger, als tatsächlich das einzige Kind noch immer zu den bedauerlichen 
Erscheinungen der Neuzeit gehört. Den meisten Menschen, vor allem den meisten 
Eitern einziger Kinder, mag es kaum auffallen, daß die armen Geschöpfe ihrem 
Alleinsein eine ganze Menge von Charaktereigentümlichkeiten zu verdanken haben. 
Natürlich sind sie nicht immer und nicht immer alle da. Aber bei genauem Be- 
obachten wird man doch Neters Charakteristiken kaum widersprechen können. Die 
im zweiten Teil gebotenen medizinisch-pädagogischen Ratschläge kann man nur gut- 
heißen und zur Beachtung empfehlen. 

Wir wollen bei dieser Gelegenheit auf einige weitere Schriften des gleichen 
Verfassers aus demselben Verlag hinweisen, die einzeln zu besprechen uns hier zu 
weit führen würde, die aber alle für das Elternhaus bestimmt und nicht genug zu 
empfehlen sind. Sie sollten in der Bücherei jeder Mutter zu finden sein! Wir 
meinen: 

Elternbriefe über Kinderpflege und Erziehung. 1911. 92 Seiten. Preis 
1 Mark, gebunden 1,59 Mark. 

Sorgen und Fragen in der Kinderpflege. 1910. 91 Seiten. Preis 1 Mark, 
gebunden 1,50 Mark. 


D. Literatur. 479 





Muttersorgen und Mutterfreuden. (Wie erhalten wir unsere kleinen Kinder 
Dr Ratschläge für die junge Frau.) 77 Seiten. Preis 1,20 Mark, gebunden 
ark. 
Mutterpflicht und Kindesrecht. 92 Seiten. Preis 1.20 Mark, gebunden 2 Mark. 
Die Behandlung der straffälligen Jugend. 1908. 56 Seiten. Preis 1,50 Mark, 
gebunden 2,25 Mark. 
Jena. Karl Wilker. 


Bluhm, Agnes, Hygienische Fürsorge für Arbeiterinnen und deren 
Kinder. (Weyls Handbuch der Hygiene, 17. Lieferung. Band VII, Abteilung 1.) 
Leipzig. Johann Ambrosius Barth, 1914. VI und 71 Seiten. Preis 4 Mark. 
(Subskriptionspreis 3,20 Mark.) 

Der Schutz der Arbeiterin geht uns vor allem an als Mutterschutz und Kinder- 
fürsorge. Wie wichtig er ist, ersieht man aus dem in dieser kurzen Monographie 
zusammengetragenen Material an Zahlen und graphischen Darstellungen. Durch die 
zunehmende industrielle Tätigkeit der Frau ist die Volksgesundheit aufs schwerste 
bedroht. Als Maßnahme gegen diese Gefahr empfiehlt Agnes Bluhm, die Mädchen 
wenigstens bis zum vollendeten 16. Lebensjahr aus Fabriken und gleichgestellten 
Betrieben gesetzlich auszuschließen. Für die jugendlichen Arbeiterinnen muß eine 
umfassende Fürsorge, insbesondere zur körperlichen Ertüchtigung, geschaffen werden. 
Was bisher an Arbeiterinnenschutz in Deutschland und auch im Auslande ge- 
schaffen ist, ist übersichtlich in dieser Studie zusammengestellt. Auch über die 
Wohlfahrtseinrichtungen ist eingehend berichtet. In einem Schlußkapitel wird die 
Heimarbeit behandelt, mit der ja auch die Schule vielfach zu kämpfen hat. Auch 
hier ist reiches Zahlenmaterial geboten. — Hingewiesen seı auf zwei Irrtümer: 
statt Sonneberg finden sich verschiedene andere Schreibungen dieses Thüringer 
Kreises, die nicht stimmen; auf S. 61 ist die hohe Zahl der Hilfsschulzöglinge (6 °/,) 
nach den schulärztlichen Berichten zurückzuführen auf die Ernährung der Kinder 
mit Kartoffelschnaps. 

Jena. Karl Wilker. 


Pappenheim, Martin, und Groß, Carl, Die Neurosen und Psychosen 
des Pubertätsalters. (Zwanglose Abhandlungen aus den Grenzgebieten der 
Pädagogik und Medizin, herausgegeben von Th. Heller-Wien und G. Leu- 
buscher-Meiningen, Heft 1.) Berlin, Julius Springer, 1914. X und 129 Seiten. 
Preis 3 Mark. 

Jedes Unternehmen, das die gemeinsame Arbeit von Medizinern und Päda- 
gogen fördern will, darf unserer freudigsten Zustimmung gewiß sein. Denn frucht- 
barer Zusammenarbeit dieser Disziplinen hat unsere Zeitschrift seit ihrem Bestehen 
dienen wollen und auch gedient. Und so begrüßen wir auch das Erscheinen dieser 
zwanglosen Abhandlungen, deren erstes Heft wir in diesen Zeilen der besonderen 
Beachturg unserer Leser empfehlen wollen. Denn in gedrungener Form gibt es 
einen Überblick über eins der schwierigsten und doch für uns wichtigsten Gebiete. 
Nur, was für die Pubertät von besonderer Bedeutung ist, hat in dem Buche der 
beiden Wiener Landesgerichtspsychiater Berücksichtigung gefunden. Zitate sind 
weggeblieben. Wissenschaftliche Polemiken (wenigstens ausgiebige) vermißt man 
vollständig. Und das ist ganz sicher für die Lesbarkeit des Buches von hohem 
Werte. Dabei haben die beiden Autoren immer daran gedacht, daß sie ihr Buch 
nicht in erster Linie für Fachgelehrte schreiben wollten, sondern vor allem für den 
Pädagogen, der in das Gebiet der Psychopathologie einen Einblick tun möchte. Eine 
andere Gefahr wurde dabei aber geschickt vermieden; das Buch hat durchaus wıssen- 
schaftlichen Charakter und Wert. 

Nach einer kurzen allgemeinen Einleitung werden die leichten Formen des 
Schwachsinns besprochen, dann ziemlich eingehend die psychopathischen Persönlich- 
keiten (der Psychanalyse stehen die beiden Autoren sehr skeptisch gegenüber, ins- 
besondere verurteilen sie ihre Ausübung durch nichtärztliche Berufe, wie sie jetzt 
namentlich in der Schweiz immer häufiger wird), im Anschluß daran das manisch- 
depressive Irresein, die Epilepsie, die Dementia praecox und endlich die exogenen 
Neurosen und Psychosen (diese letzteren wieder ziemlich flüchtig). 


480 D. Literatur. 





Daß über einzelne Probleme andere Auffassungen möglich sind, ist selbst- 
verständlich, braucht hier aber nicht näher nachgewiesen zu werden. Jedenfalls 
bietet das Buch eine ganz vortreffliche Einführung, die hoffentlich in den Kreisen 
der Pädagogen, und nicht nur der Heilpädagogen, die gebührende Berücksichtigung 
findet. 

Wünschenswert wäre für spätere Auflagen vielleicht ein Sachregister und 
auch eine Zusammer:stellung einiger Schriften, die zum weiteren Einarbeiten in das 
behandelte Gebiet förderlich sind. 

Jena. Karl Wilker. 


Redlich, E., und Lazar, E., Über kindliche Selbstmörder. (Heft 3 der 
zwanglosen Abhandlungen aus den Grenzgebieten der Pädagogik und Medizin, 
herausgegeben von Th. Heller-Wien und G. Leubuscher-Meiningen.) Berlin, 
Julius Springer, 1914. IV und 90 Seiten Preis 2,40 Mark. 

»Psychiatrisch untersuchte Fälle von Kinderselbstmorden gibt es eigentlich in 
der Literatur gar nicht,« meinen die Verfasser auf S. 20 ihres Buches. Und mit 
dieser Absicht haben sie recht. In gewisser Weise füllt also ihr Buch eine Lücke 
aus, indem es eine, wenn auch kleine (9), Anzahl von Fällen kindlicher Selbstmorde 
eingeher.d untersucht und kasuistisch verarbeitet. Im wesentlichen sind nur Selbst- 
morde von Kindern bis zu 14 Jahren berucksichtigt worden. Einige Zahlen orıen- 
tieren über die bisherigen Untersuchungen; doch ist gerade dieser Teil der Arbeit 
nur lückenhaft, wenn auch der Wert der daran angeknüpften Betrachtungen nicht 
verkannt werden darf Schließlich kam es ja auch nicht darauf an, die Literatur 
um ein neues zusammenfassendes Opus zu bereichern, sondern vor allem darauf, 
vom medizinischen (psychiatrischen) Gesichtspunkt aus die kindlichen Selbstmorde 
zu betrachten. Und in dieser Hinsicht bietet die kleine Studie wohl wertvolles 
neues Material, das namentlich allen denen entgegengehalten werden sollte, die mit 
der unbewiesenen Anschuldigung der Schule oder der Familie die Öffentlichkeit für 
ihre jeweiligen »pädagogischen Ideene zu gewinnen bemüht sind. 

Jena. Karl Wilker. 


Bohn, Georges, Die neue Tierpsychologie. Autorisierte deutsche Über- 
setzung von Dr. Rose Thesing. Leipzig, Verlag von Veit & Co., 1912. 

Die Tierpsychologie ist durchaus nichts Fertiges, nur bescheidene Anfänge 
sind vorhanden, aber zukünftige Erfolge sind vorauszusehen. Wesentlich ist, daß 
man von alten Streitereien absieht und die Kräfte für die Forschungen spart. Ob 
Tiere »Bewußtsein« besitzen, bleibt außer Betracht, denn solche Fragen lassen sich 
wissenschaftlich gar wicht beantworten. Auch Begriffe wie »Willen« und »Nach- 
ahmung«e werdeu grundsätzlich vermieden. »Instinkte« sind Aggregate ver- 
schiedenster Tätigkeiten und müssen stets in ihre einfachen Komponenten zerlegt 
werden. Gesetze sind bereits gefunden für die Tropismen, die Unterschiedsempfind- 
lichkeit und die Assoziation bei Gliedertieren. Bei Säugetieren. die mit Großhirn- 
rinde ausgestattet sind, treten kompliziertere Vorgänge auf, aber sie sind Gesetzen 
unterworfen. Man spricht hier schon von Intelligenz. 

Bohn zeigt das Bestreben, die psychologischen Vorgänge auf biologische zu- 
rückzuführen und betrachtet die psychologischen und biologischen Probleme vom 
Gesichtspunkt der physikalischen Chemie aus Die finalistische Erklärungsweise 
wird durch kausale ersetzt; das Selektionsprinzip wird bekämpft. 

München. Egenberger. 


Eingegangene Literatur. 


»Kinderstudie«, Paedologische Bladen, onder Redaktie van het Bestuur van het 
Amsterdamsch paedologisch Gezeilschap: Dr. G. A. M. van Wayenburg, Dr. J. 
H. Gunning, Wzn. G. M. Soeters, W. H. Ten Seldam, Prof. Dr. K. Herman 
Bouman, F. J. van der Molen, 1916 Februar, Deek I, Aflevering I, Redaktie- 
Sekretaris: W. H. Ten Seldam. Uitgever J. Ploegsma, Zwolle. 


Druck von Hormann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 


“á 


UNIVERSITY OF ILLINOIS —— YMVERSHIY OF ILLINOIS LIBRARY 
1.19 1921 


Zeitschrift für Kindirtorschung 


mit besonderer Berücksichtigung 
der pädagogischen Pathologie 


im Verein mit 


Dr. G. Anton Dr. E. Martinak Chr. Ufer Karl Wilker 


Geh. Med.-Rat u. Prof. o. ö. Prof. d. Philosophie Rektor d. Süd-Mädchen- Dr. phil. 
an der Univ. Halle u. Pädag. a. d. Univ. Graz Mittelschulei. Elberfeld in Jena i. Thür. 


herausgegeben von 


J. Trüper 


Direktor des Erziehungsheims und Jugendsanatoriums auf der Sophienhöhe bel Jena 


Einundzwanzigster Jahrgang, 11/12 
August/September-Heft 





Langensalza 
Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) 
Herzogl. Sächs. Hofbuchhändler 
Wien 
Manz’sche k. u. k. Hof-, Verlags- u. Universitätsbuchhandlung 
1916 


Preis des Jahrgangs (12 Hefte) 6 M. 


Heft 11/12. Ausgegeben am 1. November 1916. 


Inhalt. 


KÆ Die im ersten Teile dieser Zeitschrift enthaltenen Aufsätze 
verbleiben Eigentum der Verlagshandlung. "E 


A. Abhandlungen: Seite 
Ist die Verwirklichung der Zukunftsschule von Ellen Key erwünscht? Von 
Prof. Dr. Sellmann. . porcaria m ne. . 2000 433 


B. Mitteilungen: 
Wie ich Memorierstoffe behandle und wie ich sie verwerte. Von Sofie 


M1068l; > (Schluß). ana a. oa AO 
C. Zeitschriftensehau . . . : > 2: 2 nn nn nn nn. 464 
D. Literatur: 
Binswanger, Otto, Die Epilepsie. Von Karl Wilker . . . 2... 476 
Classen, Walther, Zucht und Freiheit. Von Karl Wilker . . . 478 


Neter, Eugen, Das einzige Kind und seine Erziehung. Von Karl Wilker 478 
Bluhm, Agnes, Hygienische Fürsorge für Arbeiterinnen und deren Kinder. 


Von Karl Wilker . . . 479 
Pappenheim, Martin, und Groß, Carl, Die Nonitsen und Psychosen des 

Pubertätsalters. Von Karl Wilker . . 479 
Redlich, E., und Eent; E., Über kindliche Selbstmörder. "Yon Karl 

Wilker TR nn. 480 
Bohn, Georges, Die neue Tierpsychologio. "Von Egenberger. saa a a ASO 
Eingegangene Literatur au TE dr ua de Sa ia y 480 


Beiträge aus Österreich-Ungarn sind sämtlich an Universitätsprofessor Dr. 
E. Martinak in Graz, Ruckerlberg, Polzergasse 19, zu senden, alle übrigen an 
Direktor J. Trüper, Jena, Sophienhöhe. 

Alle Beiträge werden vom Verleger mit 40 M. für den Druckbogen honoriert. 





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