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Full text of "Zeitschrift für Kinderforschung 25.1920"

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THE UNIVERSITY 


OF ILLINOIS 


LIBRARY 
372.05 


KIT 
V. 25 





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Zeitschrift für Kinderforschung 


mit besonderer Berücksichtigung 
der pädagogischen Pathologie 


Im Verein mit 


Dr. G. Anton Dr. E. Martinak Chr. Ufer Dr. Karl Wilker 


Geh.Med -Ratu.Prof. Hofrat u. o. ö. Prof. d. Rekt.d.Süd-Mädchen- Dir. d. Städt. Erziehungs- 
an der Univ. Halle Pädag. a. d. Univ. Graz Mittelsch.i. Elberfeld heimsBerlin-Lichtenberg 


herausgegeben von 


J. Trüper 


Direktor des Erziehungsheims und Jugendsanatoriums Sophienhöhe zu Jena 


Fünfundzwanzigster Jahrgang 





Langensalza 


Hermann Beyer & Söhne 
(Beyer & Mann) 
Herzogi. Sächs. Hofbuchhändler 

1920 ^ 





Alle Rechte vorbehalten. 





Inhalt. 


A. Abhandlungen: 


Gregor, Zur Bestimmung des Intelligenzalters mittels der Definitionsmethode 

Jolly, Die Ursachen und die ärztliche Behandlung der psychopathischen 
Konstitutionen 

Knauthe, Die erzieherische Behandiung der nerchrnatiischen Konstitationen 

Rothe, Pädagogische, didaktische und logopädische Winke für Lehrer an 
Sonderklassen für sprachkranke Kinder . . 

Salzsieder, Wie habe ich mich bemüht in die Eigenart der Kinder melun- 
cholischen Temperaments einzudringen und welche Folgerungen aus 
diesem Studium für die Behandlung solcher Kinder dana 

Stern, Die Entwicklung des Berufsproblems . ; 

Tagung über Psychopathenfürsorge . . è 
Moeli, Über die Bedeutung der Psychopathonfärsarge. 

Stier, Erkennting und Behandlung der Psychopathie bei Kindern und 
Jugendlichen. 

Kramer, Psychopathische Veranlagung und Straffälligkeit im Jugend- 
alter. 

Siegmund-Schultze, Wege und Ziele der Fürsorge für psycho- 
pathische Kinder und Jugendliche. 

Anton, Bedeutung der Psychopathen im öffentlichen Leben und öffent- 

` liche Fürsorge für Psychopathen. 

Dietrich, Beobachtungsheime für jugendliche Psychopathen. 

Ruth von der Leyen, Schutzaufsicht über psychopathische Kinder. 

Böttcher, Berufsberatung für psychopathische Jugendliche. 

Triebold, Heilpädagogische ne für tuberkulöse und tuberkulose- 
gefährdete Kinder . 3 

Trüper, Die Reichaschulkonferenz. in Ihrer unterrichtlichen. orichlichen, 
pationalen, sozialen und religiös-sittlichen Bedeutung 

Ude, Erzieht die Jugend zur Selbstbeherrschung! . 


B. Mitteilungen: 
Ferienkurse in Jena ne : 
Die Sonderklasse für Stotterer i in Breslau ar 
Neue Beschäftigungsmittel zur Förderung des Farbensiins und. deren An- 
wendung bei normalen und taubstummen Kindern a ee 
Ein Institut für Psychologie und Pädagogik . . . 
Kampf gegen die Tuberkulose im Kleinkindesalter . 
Polnische Kultur a Re are 


III S 


229 


341 
138 


145 
168 


171 
176 
177 
177 


IV Inhalt. 





Kommunistische Schuljugend 5 ; 

Gedanken zur Reform der Lehrerbildung s 

+ Hilfsschuldirekor Johannes Delitsch Jiva 

Der Kampf um die Reform der FREE ERE zur Zeit der deutschen ‚Bero- 
lution 1848 . . . ; de ae a a 

Was wird aus unserer Schule? 

Zum Kampf gegen Schund und Schmutz in \ Wort und Bild. 

Steigende oder fallende Kriminalität . . 

Das Leipziger Institut für experimentelle Pädagogik and Payohologie 

Ein psychológischer Fragebogen für Schulneulinge . 

Begabtenauswahl durch psychologische Methoden 

Ein Institut für Psychologie und RO 

Bethel in Not! N 

Die Stellung der privaten "Fürsorge im neuen Staat MI 

Ausbildungskursus für Leiterinnen von Hilfsschul- und Sammelklagsenhorten in 
Berlin . ; a a a A 

Ergebnis des Preihsusschreibeng: der Dörptolastittung : 

Ein Seminar für Heilpädagogik in Wien 

Zur Betonung des Positiven in der Erziehung ; 

Beobachtungen über Zahlvorstellungen bei Kinder im i vorschulpfichtigen 
Alter ; i 

Können bereits Beohsjährige poychologisoh untersucht werden‘ 2 

Ein Stiefkind des Unterrichts RT 

Zur Frage der Lehrerbildung 

t Zum Tode Wilhelm Wundts . 

Der Aufbau der Schulgemeinde ; 

Die psychopathisch A dermora in der Stratreohtaptlgo 

Echo aus der Schweiz ; 


C. Literatur: 


Bühler, Die geistige Entwicklung des Kindes und Abriß der pomas Ent- 
wicklung eines Kindes . . é > ; 

Bühler, Das Märchen und die Phantasie das Kindes. 

Eingegangene Schriften ee a 

Erbt, Die deutsche Erziehung . . 

Felisch, Ein deutsches Iugendgeselz: im Rahmen ‚der »Nonordnung der 
Marschanlieher., ; 

Hamburger Arbeiten zur Begningsförschung: Heft 1: R. Peter u. W. Stern, 
Die Auslese befähigter Volksschüler in Hamburg. — Heft II: Stern, 
William als Herausgeber, RE über die P: VORREARR N von 
Kindern und Jugendlichen . ; 

Roloff, Lexikon der Pädagogik . . i 

Suderow, Psychoanalyse und Erziehung . 


„73: 


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Zum Geleite. 


Es beginnt mit diesem Hefte der 25. Jahrgang. Was wir zu 
diesem Vierteljahrhundert, das der Jugendforschung und Heilerziehung 
gewidmet war, zu sagen haben, werden unsere Leser am Schluß 
dieses Jahrganges finden. Allerlei Gründe verhindern uns, den 
Jubiläumsjahrgang seiner Bedeutung gemäß einzuleiten. Außerdem 
drängt es uns, den Bericht der Tagung über Psychopathenfürsorge 
herauszugeben. Was dort in Berlin verhandelt wurde, ist im wesent- 
lichen eine Zusammenfassung alles dessen, was wir in den 25 Jahren 
gebracht und verfochten haben. Anfangs stand ich mit ein paar 
Freunden wie Ufer und Koch allein auf weiter Flur. Der nach- 
folgende Bericht zeigt uns, wie sehr berechtigt das war, wofür wir 
Bahn zu brechen suchten. Hätten wir früher und allgemeiner Gehör 
gefunden, namentlich in Hinblick auf die Vorbeugung der Entartung 
wie der sittlichen Ertüchtigung der Jugend, dann wäre sicher, daß 
wir den physischen und moralischen Zusammenbruch unseres deut- 
schen Volkes nicht in dem Maße erlebt haben würden, als wir ihn 
jetzt leider erlebt haben. 

Die Fragen, die wir seit 25 Jahren als Lebensfragen für unsere 
deutsche Jugend erkannt und erörtert haben, sind nun in Berlin vor 
einem sehr engen Kreis zur Sprache gekommen, nämlich vor den- 
jenigen, die die schon entartete Jugend zu heilen, zu unterrichten, zu 
erziehen und zu pflegen haben. Uns liegt aber daran, daß jeder, 
der in Haus, Schule, Kirche und Staat irgendwie für die Jugend zu 
sorgen hat, mit diesen pathologischen Zuständen vertraut sein wird, 
weil Fehler verhüten hundertmal zweckmäßiger und billiger ist, als 
Fehler verbessern, sofern sie überhaupt noch zu verbessern sind. 
Wenn wir darum dieses Doppelheft ganz der Berliner Tagung widmen, 
so werden wir sicher der Zustimmung unserer Leser gewiß sein dürfen. 


Trüper. 
Zeitschrift für Kinderforschung. 25. Jahızang. 1 | 


2 A. Abhandlungen. 


A. Abhandlungen. 


Tagung über Psychopathenfürsorge 


am 19. Oktober 1918, vormittags 9!/, Uhr im Herren- 
hause in Berlin. 


\ Veröffentlicht vom 
Gesundheitsausschuß der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge. 


Geheimrat Dietrich eröffnet die Sitzung: »Im Namen und Auf- 
trag der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge, insbesondere im Namen 
des Verwaltungsrats Templin und des Gesundheitsausschusses habe 
ich die Ehre, Sie alle bestens willkommen zu heißen. Der Herr ge- 
schäftsführende Vorsitzende, Exzellenz von Eucken, hat mich ersucht 
zu erklären, daß er sehr bedauert, dienstlich abgehalten zu sein, an 
der heutigen Versammlung teilnehmen zu können. Er begleitet sie 
jedoch mit seinen besten Wünschen. Mit besonderer Freude und 
Dankbarkeit begrüße ich die erschienenen Vertreter der Reichs-, Staats- 
und Gemeindebehörden, sowie die Vertreter der Vereine in der Hoff- 
nung und mit dem Wunsche, daß sie aus unseren Verhandlungen 
einige Anregungen mit nach Hause nehmen möchten. 

Die Frage, die uns heute beschäftigen soll, liegt der Deutschen 
Zentrale für Jugendfürsorge sehr am Herzen. Seit längerer Zeit hat 
die Arbeit in unserer Jugendgerichtshilfe die Notwendigkeit immer 
wieder in den Vordergrund gerückt, den schwer erziehbaren und 
regelwidrig veranlagten Jugendlichen, den jugendlichen Psycho- 
pathen, eine besondere Fürsorge zu gewähren. Der Krieg, der auf 
allen Gebieten unseres Volkslebens schwere Notstände mit sich ge- 
bracht hat, schuf auch eine Fülle ungünstiger Verhältnisse, die ein 
stark vermehrtes Hervortreten der jugendlichen Psychopathen ver- 
ursachte. Bei der dadurch gesteigerten Fürsorgearbeit sind Zweifel 
darüber entstanden, ob die bisherigen Maßnahmen ausreichen oder 
ob nicht vielmehr eine Erweiterung und Ergänzung erforderlich ist 
und ob auf Grund der neueren Erfahrungen neue Wege beschritten 
werden müssen, um die Not, die seelische und sittliche Not der jugend- 
lichen Psychopathen zu lindern und zu bekämpfen. Zur Klarstellung 
dieser Frage ist die heutige Versammlung einberufen, die ich hiermit 
eröffne. 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 3 


Ehe wir in die Tagesordnung eintreten, bitte ich, daß diejenigen 
Damen und Herren, die in der Aussprache das Wort ergreifen wollen, 
die Wortmeldungen hierher übermitteln. Ich bitte nunmehr Herrn 
Geheimrat Moeli zu seinem einleitenden Vortrag 


Über die Bedeutung der Psychopathenfürsorge 


das Wort zu nehmen.« 


Hochgeehrte Versammlung, meine Damen und Herren! 


Was uns hier zusammengeführt hat, die Besprechung der Psycho- 
pathie oder der psychopathischen Konstitution betrifft einen 
Gegenstand, der in seiner Bedeutung für die Allgemeinheit erst in 
den letzten Jahrzehnten erkannt ist. In der Psychiatrie meist als 
Grenzzustände (borderland) behandelt, hat die genauere Erforschung 
der Jugend und dann die Ausbildung von Unterricht und Erziehung 
die Aufmerksamkeit weiter Kreise auf diese Zustände gelenkt. Die 
Feststellung ihrer großen Häufigkeit beruht auf besserer Beachtung 
der leichteren psychischen Abweichungen, insbesondere im späteren 
Jugendalter und bei Gesetzesverletzung. Möglicherweise war im Laufe 
der Zeit auch der Umstand von Einfluß, daß, je verwickelter die 
Lebensbedingungen sich gestaltet haben, desto mehr die Personen auf- 
fällig werden, deren fehlerhafte geistige Austattung für ein soziales 
Aufkommen nicht ausreicht. Der erweiterten Kenntnis hat die Rechts- 
pflege in der Annahme verminderter Zurechnungsfähigkeit und in 
der Strafvollstreckung, vor allem die staatliche Erziehung bei 
Jugendlichen Rechnung getragen. Dem Streben nach Hilfe für diese 
Personen schon in der Entwicklung, auch abgesehen von Rechts- 
verletzungen, stehen Sie alle nahe. — Deshalb wäre es überflüssig 
und unzweckmäßig, wollte ich diese Einleitung mit einer syste- 
matischen Schilderung der äußeren Erscheinungen belasten. Dazu 
liegt um so weniger Grund vor, als das für die Erkennung Wichtigste 
noch von Herrn Professor Dr. Stier besprochen werden wird. Ich 
möchte mir daher Ihre Aufmerksamkeit für eine allgemeine Betrach- 
tung erbitten. — 

Wie Sie wissen, äußert sich die Psychopathie im Gemütsleben, 
in Änderung der Gefühle und Triebe nach Maß und Dauer und nach 
ihren Verbindungen in der seelischen Gesamttätigkeit. Daher können 
alle die Finzelfunktionen, deren Ineinandergreifen den Charakter be- 
stimmt, Abweichungen darbieten — so verschieden wie die seelische 
Art des Menschen überhaupt. — 

Was hält nun das alles zusammen? Inwieweit grenzt der Begriff 

1* 





4 A. Abhandlungen. 


Psychopathie sich ab von der Gesundheit, und was trennt die aus- 
gesprochen krankhaften Fälle von den sonstigen abnormen Seelen- 
zuständen ? 

Meine Damen und Herren! Für die erste Frage gilt eine all- 
gemeine Anschauung. Abweichungen vom Typus als dem Durch- 
schnitt der größen Menge der Artgenossen erscheinen uns als Varie- 
täten, als innerhalb der Breite der Gesundheit liegend, solange als 
nicht die Änderung in den biologischen Vorgängen eine deutliche 
Störung für den Träger oder die Gesellschaft bedingt. Das ist der 
Fall, wo die geschlossene Seelentätigkeit nicht mehr auf die normalen 
Ziele eingestellt werden kann und die durchgreifende Regelung des Ichs 
in den Beziehungen zur Außenwelt beeinträchtigt wird. — 

Unterhalb dieser Schwelle finden sich geringere Regelwidrig- 
keiten im Gefühlsleben als Eigenart des Charakters. Dieser wird 
ja wesentlich durch die Affektivität, nicht durch das Verstandes- 
leben gebildet. So ist die Bezeichnung manches nervösen, ängst- 
lichen, sonderbaren Charakters als Psychopath allerdings von seiner 
Lebensleistung abhängig. Bestimmungen, die von der großen Masse 
ausgehen, können aber bei der natürlichen Verschiedenheit der Ein- 
zelnen einen ganz genauen, sozusagen mathematischen Maßstab nicht 
bieten, es bleibt eine Übergangszone, die man willkürlich nach einer 
oder der anderen Seite ausdehnen kann. 

Das trifft allgemein für Gesundheit und Krankheit zu. Bei den 
Psychopathien ist nun die Abgrenzung auf pathologischem Gebiete, 
gegenüber anders gestalteten und benannten Krankheitsformen eben- 
falls keine einfache und scharfe. 

Man hat hierbei folgende Gedankengänge benutzt. Zunächst das 
geringere Maß der Abweichung vom Normalen, insofern in der Tat 
regelmäßig primäre Störungen auf dem Gebiete der Gedankentätig- 
keit, in der Bewußtheit usw. fehlen. 

Eine Gruppe stellt sich so als leichterer Grad oder als Vorstufe 
endogener Psychosen dar. Man legt bisweilen auch Wert darauf, 
daß die Ableitungen von dem Krankhaften aufs Soziale: auf die 
rechtliche und sittliche Verantwortlichkeit, auf den bürgerlichen Ver- 
kehr entsprechend weniger weit gehen als in der Regel bei anderen 
zur Behandlung kommenden psychischen Krankheitsformen. Darin 
ist aber natürlich nicht das Wesen begründet — derartige quanti- 
tative Abstufungen bleiben willkürlich und unbefriedigend. 

Ich darf Sie hierbei daran erinnern, daß man eine Zeitlang von 
»psychopathischen Minderwertigkeiten« gesprochen hat. Das ist nun 
zwar für die meisten der für uns praktisch wichtigen Fälle nicht 


Br. 








Tagung über Psychopathenfürsorge. 


falsch, es bleibt aber unbestimmt in bezug auf die Art der Be- 
wertung im Einzelnen. 

Dann haben wir gesehen, daß die ungewöhnlichen Züge des 
Gefühlslebens im Rahmen von Charaktereigenschaften bleiben, d. h. 
nicht allgemein zu stören, nicht »pathisch«e zu sein brauchen. Wir 
müssen weiter bedenken, daß sich unter Umständen eine Abart der 
Affektivität von ähnlicher elementarer Beschaffenheit wie bei Psycho- 
pathie: vermehrte Anspruchsfähigkeit, Beweglichkeit usw. in den 
Leistungen des seelischen Gesamtorganismus auch günstig geltend 
machen kann. Eine größere Empfänglichkeit z. B. vermag in un- 
gewöhnlicher Vorstellungsverbindung selbständige, über die landläufigen 
Gedankengänge hinausgehende (originelle) Anschauungen hervorzurufen. 
Werden sie bei starker intellektueller Begabung durch richtige Asso- 
ziation und Denkkraft geregelt, so kann Anregendes und Wertvolles 
entstehen. Ebenso kann eine zunächst einseitig gerichtete Gefühls- 
betonung bisher zu wenig Beachtetes ins rechte Licht rücken, wenn 
Gegenvorstellungen und Kritik sie zügeln. Eine der Persönlichkeit 
angehörige ungewöhnliche Gefühlsbewegung und Richtung kann, je 
nach der Entwicklung des Lebens, auch nach den äußeren Umständen, 
nachteilig sein oder als förderlich für das Schaffen sich erweisen. 
Gewiß, wir haben mit den nicht Benachteiligten praktisch nichts zu 
tun, wenn nicht körperlich ausgeprägte Störungen sich einmischen 
oder falls nicht später doch der Kranke beim Versagen in Ausnahme- 
lagen Schädigungen ausgesetzt ist. Deshalb dürfen wir aber theo- 
retisch und auch beim Studium des Einzelnen diese Seite der 
anormalen Gemütstätigkeit und die Übergänge nicht übersehen, weil 
in ihrem Vorkommen auch die Aussichten für Behandlung und Ver- 
lauf begründet sein können. — 

Wenn nun die ausgesprochenen Psychopathien als durchweg 
leichtere Erkrankungsformen von anderen Arten seelischer Anomalien 
getrennt werden sollen, so kann das überhaupt nur mit einem Vor- 
behalt geschehen. Ihr Verlauf ist keineswegs ein ganz gleichmäßiger, 
ein milderer Dauerzustand. Vielmehr kommen vorübergehend (epi- 
sodisch) stärkere geistige Störungen oft genug vor. Es zeigt sich 
häufig eine Neigung auf ungünstige Einflüsse, die vom Gesunden 
noch überwunden werden, mit sogenannter pathologischer Reaktion zu 
antworten. So treten schwerere psychische, auch Bewußtheitsänderungen 
dabei hervor. Eine derartige Widerstandslosigkeit, Anfälligkeit braucht 
nicht mit gleichmäßig ausgesprochenen Dauersymptomen zu be- 
stehen, recht oft wird nur in der stärkeren Krankheitsperiode (nach 
seelischen Erschütterungen, Haft usw.) durch ihre Eigenart das besondere 


l 


6 A. Abhandlungen. 
Krankheitsbild die psychopathische Natur des Trägers als Grundlage 
enthüllt, die sich bisher im Alltagszustand wenig bemerklich machte. 

Damit kommen wir auf eine andere wichtigere Auffassung zur 
Bestimmung des Wesens als die lediglich quantitative. Sie hat 
zu der Bezeichnung Konstitution geführt. Man sagt, die Psycho- 
pathie sei an sich kein Krankheitsprozeß, wobei der Nachdruck 
auf dem Ausdruck »Prozeß«, dem Fortschreiten und Ablaufen, liegt. 
So nennt man es, wenn die infolge veränderter Lebensbedingungen ge- 
störte Funktion eines normalen Organismus nach Eintritt und Ende 
zweifellos erkennbar wird. Man betrachtet vielmehr die Psychopathie 
als eine Beschaffenheit, die über die durch verschiedene, namentlich 
auch durch seelische Einwirkungen ausgelösten pathologischen Re- 
aktionen hinausdauert. Also nicht der äußere Anlaß bietet die Ent- 
stehungsursache auch für die zeitweiligen stärkeren, aber nicht selb- 
ständigen Krankheitszustände. Die Hauptsache ist, daß diese Dauer- 
beschaffenheit als Anlage, als vererbt oder wenigstens als vor der 
Geburt geschaffen anzunehmen ist. Der pathologische Vorgang liege 
vor dem Leben des Beobachteten in Mängeln der Keimsubstanz 
früherer Generationen. 

Man muß sich nun dabei klar sein, daß die Folgen einer An- 
lage nicht alsbald im Leben merklich zu werden brauchen. Es hängt 
von äußeren und inneren Bedingungen ab, ob sie deutlich zutage 
tritt. Erhebliche Zeichen können z. B. im Kindesalter fehlen. Jeder 
aber weiß, daß auch bei normaler Entwicklung, in der Pubertätszeit, 
vom 14. bis 17. Lebensjahr, mit den neu auftretenden Organgefühlen 
und Trieben eine gewisse Ungleichmäßigkeit entsteht. Je nach 
der Einzelanlage können Schwankungen in Stimmungsfärbung und 
Stimmungsdauer, Reizbarkeit, Überschwenglichkeit hervortreten. Die 
zur Betätigung drängenden Impulse in ihrer noch mehr kindlichen, 
einer genügenden ethischen Hemmung und intellektuellen Steuerung 
wenig zugänglichen Entstehung, geben der Übergangszeit ihr Gepräge. 
Bei regelwidriger Konstitution kommt nun Fahrigkeit und Einseitig- 
keit im Persönlichkeitsempfinden, Reizung durch Verbote, unnütze 
Kraftäußerung in vermehrtem Maße zur Geltung. Das Lügen um der 
Lüge willen, Verstimmung ohne genügendes Motiv, ja geradezu Angst- 
zustände drücken den abnormen Einschlag aus. Im späteren Lebens- 
abschnitte kann so manche Störung im Berufs- und namentlich im 
Familienleben noch entstehen. Bisweilen finden wir im Übergang in 
wahnhafte Einbildungen oder zu paranoiden Krankheitsbildern die 
deutlichste Entwicklung zu ausgesprochener Seelenstörung. 

Eines folgt mit Bestimmtheit aus dieser Genese; eine erst im 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 7 





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späteren Leben, bei Fehlen jeder Anlage, nachweisbar erworbene 
Geistesverfassung »psychopathisch«e zu nennen, haben wir keinen 
Grund, auch wenn sie ähnliche abnorme Züge des Gemüts in erster 
Linie hervortreten läßt. 

Meine Damen und Herren! Durchweg erweisen sich die gemüt- 
lichen Anteile der seelischen Vorgänge, wie am feinsten ausgebildet 
und unterschieden, so am empfindlichsten, am verletzbarsten. Die 
höhere Gefühlstätigkeit ist die letzte Stufe der Entwicklung; voll- 
ständig wird sie vom Wachsenden erst erreicht, wenn Auffassung, 
Kombination, Gedächtnis im Vorstellen längst voll tätig sind. Anderer- 
seits sehen wir bei Schädigung des erwachsenen Gehirns als eine 
Dauerfolge in der Regel Takt, feineres Empfinden, Rücksicht, ver- 
sagen, ehe größere Ausfälle im verstandesmäßigen Denken bemerklich 
werden. Schon eine mäßige Allgemeinstörung unseres Befindens von 
vorübergehender Art wirkt auf unsere Stimmung und die Richtung 
der Gefühle (z. B. auch Arbeitslust), ohne die rein intellektuellen 
Anteile wesentlich zu treffen. Die psychische Eigenart bestimmen 
eben die Gefühlselemente, die die Gedankengänge tragen und lenken, 
ohne sie bleibt das Bild der Persönlichkeit wenig ausgeprägt, farblos, 
unbelebt. — Wir haben damit die Beziehung von Vorstellung und 
Gefühl berührt. Störungen der Intelligenz, des begrifflichen und 
zusammenhängenden Denkens, in Auffassung und Urteil gehören nicht 
zu der psychopathischen Konstitution an sich. Freilich sehen wir 
häufig unrichtige oder schiefe Beurteilung, insbesondere der eigenen 
Person und ihrer Beziehungen. Aber das ist ein Gefühlsprodukt aus 
fehlerhafter Selbsteinschätzung — die Anschauung über fremde Per- 
sonen und Angelegenheiten erweist sich gut, falls nicht ein Zusammen- 
hang mit ungehörigen Gefühlstönen das Urteil fälscht. Allgemeines, 
den Kranken nicht näher Berührendes kann scharf aufgefaßt werden. — 

Bisweilen wird jedoch eine Verbindung mit Schwachsinn als 
geistige Wachstumshemmung praktisch sehr wichtig, wenn dabei 
die höheren Gefühle nur beschränkt und in geringer Spannkraft 
zur Entwicklung gelangen. Es wird beim Wegfall altruistischer, 
moralischer Gefühle (sogenannte Degenerierte) manchmal unter 
mehr triebartigen Erregungen die Neigung zu Gesetzwidrigkeit sehr 
begünstigt. Die meisten dieser Kombination (psychopath. Debile) 
schaden immerhin sich und ihrer Familie zumeist nur durch eine 
Lebensführung mit Entgleisungen, verkehrten Plänen, oberflächlichen 
Anläufen. Bei Schwäche der Auffassung werden nur monotonere 
Beziehungen des Ichs zur Außenwelt, nur eine umfänglich be- 
schränkte Affektivität entstehen. Nur bei guter Intelligenz kommt 


8 A. Abhandlungen. 

die Einheitlichkeit des psychischen Geschehens, die Wechselwirkung 
des Gefühls- und Vorstellungslebens voll zur Geltung. Das Interesse, 
ein Persönlichkeitsgefühl, erweitert den Vorstellungskreis. Umgekehrt, 
Gelegenheit zu Gefühlserlebnissen ist an Verständnis des Lebens ge- 
bunden, das Erfahren allein hebt die reifere Persönlichkeit aus der 
kindlich beschränkten, egoistisch orientierten Sphäre heraus. Nicht 
selten trifft man bei solcher Beschaffenheit des Psychopathen ein 
gewisses Krankheitsgefühl, das bei depressiven Verstimmungen 
übertrieben sein kann. 

Auch kommt bei der unbeschädigten Intelligenz öfters eine 
richtige Selbsterkenntnis »ich traue mir nicht« vor. Einsicht und 
ethischer Anklang kann dann, namentlich jenseits des Jugendalters, 
eher den Lebensgang im Gleis halten, bei Intelligenzschwäche aber 
gibt oft die hier doppelt schädliche Ungunst der Umgebung den Aus- 
schlag. 

Meine Damen und Herren! Ich habe Ihnen von den Grenzen, 
dem Wesen der Psychopathie im allgemeinen gesprochen. Kann man 
nun Gruppen schärfer abgrenzen? Systematisch läßt sich das bis- 
her nicht durchführen. Man kann versuchen, die abnormen Gefühle 
nach Erhöhung oder Verminderung zu betrachten, wie sie in Er- 
regbarkeit, Stärke — namentlich auch in der Dauer, z. B. in Flüchtig- 
keit, Umschlagen — andererseits im abnormen Haften — sei es mehr 
im allgemeinen oder, wie meist, in bestimmter Richtung besteht. Man 
stößt aber dabei auf die größten Schwierigkeiten. Innerhalb der 
Gemütssphäre und namentlich auch in den Beziehungen zu einzelnen 
psychischen Komplexen können alle möglichen Abstufungen, Ungleich- 
heiten, ja Gegensätze (Disharmonie) bestehen, Widersprüche in Lust 
und Unlust vorliegen. Wie die so häufige, übertriebene Ichbetonung 
lassen sich auch sonst der Kindheit ähnelnde Mißverhältnisse zwischen 
Gefühls- und Verstandeswirkung, Verschiebung zwischen Phantasie 
und logischem Denken leicht erkennen. Das Kind läßt z. B. beim 
Spiel (mit der Puppe oder als Soldat) seine Phantasie zur Geltung 
kommen. Auch das Anträumen einer besonderen Lage und Tätigkeit 
entspricht normalerweise dieser Stufe in der Persönlichkeitsbildung 
und bringt eine dauernde Fälschung im Vorstellungskreise nicht hervor. 
Bei dem Psychopathen aber kann der Drang in gewissen Gedanken- 
gängen von affektiver Spannung eine objektiv völlig fehlende Be- 
teiligung der eigenen Person zu schaffen auch späterhin noch so stark 
sein, daß, unter Wegfall der Kontrastvorstellungen, der Bewußtheits- 
wert eines wirklichen Erlebnisses für längere Dauer erreicht 
wird, wenn auch die Ausbreitung im Bewußtsein geringer bleiben 


Tagung über Psychopathenfürsorge. Q 





kann. Zumeist aber liegt keine elementare Störung der Gemütstätig- 
keit vor — nicht mit einem einfachen Ausdruck zu bezeichnende 
Abläufe treten uns entgegen. 

Bei den Stimmungsanomalien kann man exaltative, depressive 
Färbung und anfallsweise epileptoide Verstimmung — namentlich 
auch eine pathologische Labilität antreffen. Ungewöhnliche Gefühls- 
betonung, die sich auf Beziehungen zur Außenwelt erstreckt, äußert 
sich in Schrullen, Verschrobenheiten. Neben Willensschwäche und 
Schwanken kommt die abnorme Verankerung an Zufälligkeiten auch für 
das Handeln zur Beobachtung. Einer explosiven Diathese, Streitsucht 
steht eine Neigung zum Erleiden oder groe Bedenklichkeit, Entschluß- 
mangel gegenüber. Mit den Namen: Sensitive, Phantasten, Schwärmer, 
pathologische Schwindler usw. versucht man die hauptsächlichste Ver- 
änderung hervorzuheben; als Haltlose kann man eine große Gruppe 
mit unstätem, folgeunrichtigem Verhalten, mit Fehlen eines festen 
Kernes der Persönlichkeit mit Unselbständigkeit gegen die Umwelt 
bezeichnen. Sie sehen, solche und ähnliche Benennungen betreffen 
die äußere Haltung, die von verschiedenartigen, z. T. nicht einfachen, 
primordialen Gefühlsanomalien abhängig sein, komplizierteren seelischen 
Abweichungen entsprechen kann. Trotzdem sind die kurzen Bezeich- 
nungen der häufigsten Formen der Haltung uns unentbehrlich. Sie 
dienen der raschen Verständigung und enthalten auch einen Hinweis 
auf die praktische Behandlung, die der Bedeutung des für das Leben 
und Handeln wichtigsten Grundzugs Rechnung tragen muß. Die 
Maßregeln können also mit Erfolg an den aus Erfahrung gewonnenen 
»Typus<e sich halten, daß aber dabei der psychopathologischen 
Forschung noch viel zu tun bleibt, unterliegt keinem Zweifel. 

So will ich diese Bemerkungen, die von allgemeinen Gesichts- 
punkten aus zu der Frage der Feststellung und Behandlung über- 
leiten sollten, damit schließen: 

Alle diese verschiedenen Bilder verdanken einer Anlage, einer 
nicht erst im späteren Leben gesetzten Disposition ihre Entstehung. 
Die Beschaffenheit, die sie uns enthüllen, ist aber deshalb in ihren 
Folgen nicht schlechtweg unbeeinflußbar. Die Anlage können wir 
freilich nicht aus der Welt schaffen, aber wir können Hygiene der 
Bedingungen befolgen und eine Entwicklung und Übung günstiger 
Gefühlstätigkeit zum Ausgleiche anstreben, ihre Anknüpfung an die 
wichtigsten Vorstellungskreise und Motive betreiben. Das kann manch- 
mal durch Empfänglichkeit erleichtert werden. Jedenfalls hat solche 
orthopsychische Behandlung früh, am noch sich entwickeladen 
psychischen Organismus zu erfolgen, wo die seelischen Eigenschaften 


10 A. Abhandlungen. 


m Em nr erzielen a aaaaaamammmŘħnme 








noch in ihrer Richtung, vor allem für ein zu schaffendes Lebensziel 
beeinflußt werden können. Freilich verbleibt ein kleiner Bruchteil, 
wo ein Mangel an Ansprechbarkeit der höhern, das richtige Handeln 
bestimmenden Gefühle überwiegt und zugleich die regelwidrige Affek- 
tivität vorzugsweise in schädlichen Antrieben hervortrit. Hier muß 
man sich wesentlich mit Beschränkungen und Ableitungen begnügen, 
‘wo die Bildung eines zu geordneter T,ebensführung genügenden 
Charakters versagt. Es hat großen Wert, diese Personen rechtzeitig 
zu erkennen. Die Maßregeln zur Sonderstellung (oder gar weiter- 
gehend, eugenische Bestrebungen bisher ziemlich unsicherer Art), 
können es nur auf diese, deutlich degenerative, Untergruppe absehen. 
Für die große Menge der Psychopathen möge die fortschreitende 
Kenntnis, der Einblick in die Anomalie, auch durch systematische 
Verfolgung des Lebenslaufes, die Heilerziehung fördern, damit sie die 
selbst bei höheren Graden der Abnormität noch vorhandenen sozialen 
Werte gewinnen und zum Nutzen auch der Allgemeinheit verwenden 
kann. 


Geheimrat Dietrich übermittelt ihm für seine Ausführungen den 
Dank der Versammlung. Das Wort erhält 
Professor Dr. Stier zur Frage der 


Erkennung und Behandlung der Psychopathie 
bei Kindern und Jugendlichen. 


Die Frage, ob wir berechtigt sind, schon jetzt mit dem schwierigen 
und komplizierten Problem der Erkennung und Fürsorge für psycho- 
pathische Kinder und Jugendliche an eine breitere Öffentlichkeit zu 
treten, mag verschieden beantwortet werden. Zugeben müssen wir, 
daß es, vom rein wissenschaftlichen Standpunkt gesehen, vielleicht 
besser wäre, die Basis der Erfahrungen auf diesem Gebiet erst noch 
zu verbreitern und so den aus ihnen gezogenen Schlußfolgerungen 
eine bindendere Kraft zu geben, als es heute möglich ist, wo noch so 
viele der hier in Betracht zu ziehenden Einzelprobleme wissenschaft- 
lich erst angeschnitten sind und einer wirklichen Lösung noch nicht 
haben zugeführt werden können. 

Wenn wir trotzdem diese an sich ernsten Bedenken beiseite ge- 
stellt haben und uns heute bemühen wollen, weitere Kreise wohl- 
meinender, in der Fürsorge für die gefährdete Jugend tätiger Männer 
und Frauen für dies scheinbar kleine Sonderproblem zu interessieren, 
so leitete uns dabei einmal der Gedanke, daß auch die theoretische 
Forschung durch die Zusammenarbeit mit einer erweiterten praktischen 








Tagung über Psychopathenfürsorge. 11 


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Fürsorge wesentliche Förderung für sich selbst erhoffen kann, dann 
aber, und vor allem, der andere Gedanke, daß in der heutigen ernsten 
Zeit sowohl aus allgemein-humanitären wie aus speziell-nationalen 
Gesichtspunkten heraus alle nur denkbaren Wege und Möglichkeiten 
erschöpft werden müssen, um das heranwachsende Geschlecht vor 
sozialem und sittlichem Fehlgehen zu bewahren und ihm zu gedeih- 
licher Entwicklung zu verhelfen. 

Daß die eine Quelle und Ursache für die sittliche und soziale 
Gefährdung der Jugend in Mängeln der Zusammensetzung und des 
Aufbaues unseres gesellschaftlichen Organismus im Ganzen und des 
Verhältnisses des Einzelindividuums zu dieser Gemeinschaft gelegen 
ist, das ist eine Erkenntnis, die heute Allgemeingut aller Denkenden 
geworden ist und deren Begründung sich erübrigt; hier Abhilfe zu 
schaffen, ist das erfolgreiche Bemühen unzähliger politischer, sozialer, 
religiöser Vereinigungen. Der Weiterentwicklung und dem Aufbau 
dieser Bemühungen gilt unsere Tagung nicht. 

Der Zweck unserer heutigen Arbeit ist vielmehr, die andere 
Seite des Problems zu beleuchten, nämlich die Tatsache, daß für die 
spziale Entgleisung nicht bloß diese äußeren, kurz als Milieu-Ein- 
flüsse bezeichneten Einwirkungen ursächlich in Betracht kommen, 
sondern daß diese Entgleisung wohl ebenso häufig die bei ungenügender 
Beachtung fast unvermeidliche Folge darstellt von Mängeln der 
psychischen Gesamtkonstitution des einzelnen Kindes, die wir kurz 
als fehlerhafte Anlage zu bezeichnen pflegen. Studium und Be- 
wertung dieser Mängel des geistigen und seelischen Lebens im 
allgemeinen sowohl wie im speziellen Falle sind naturgemäß Aufgabe 
nicht so sehr des Sozialpolitikers, als vielmehr des Psychiaters. 

Die so neu an uns Psychiater herangetretene Forderung lautet 
also, die Mittel zu zeigen, die uns eine Erkennung und Objektivierung 
der psychischen Abartungen ermöglichen, durch Auffindung und Er- 
kennung der Einzelsymptome und ihres inneren Zusammenhanges, 
sowie ihrer Bedeutung für das unsoziale Handeln. Erst nach Er- 
füllung dieser Aufgabe können wir an die weitere, praktische Auf- 
gabe herantreten, mitzuhelfen an der Auffindung der Wege, auf 
denen wir die einmal als psychisch abnorm Erkannten für ihre Person 
fördern und als nutzbringende Mitglieder der menschlichen Gesell- 
schaft erhalten oder dazu sie zurückgewinnen können. 

Erfreuliche Ergebnisse dieser Bemühungen liegen bereits vor. 
Auf dem Gebiete der Intelligenz — das sind also im wesentlichen 
diejenigen psychischen Funktionen, die wir als Merkfähigkeit und Ge- 
dächtnis, als Begriffsbildung und Urteilsfähigkeit bezeichnen — ist es 


12 A. Abhandlungen. 


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gelungen durch Massenuntersuchungen größten Stils bei psychisch 
durchschnittlich entwickelten Kindern Maßstäbe aufzustellen für 
die verschiedenen Lebensjahre des kindlichen Alters, mit denen der 
Befund an abnormen im Einzelfalle verglichen werden kann und die 
uns relativ rasch und sicher ein Urteil darüber ermöglichen, ob das 
uns vorgeführte Kind auf der seinem Lebensalter zugehörigen 
intellektuellen Höhe steht, oder ob und wie weit es dabinter zurück- 
bleibt oder evtl. auch darüber hinausragt. Der außerordentliche Vor- 
zug dieser sogenannten Binet-Simonschen Methode der Intelligenz- 
prüfung besteht vor allem darin, daß sie den Faktor des Subjektiven 
bei der Beurteilung stark einschränkt zugunsten einer objektiven 
Bestimmung und daher auch für den weniger geübten und weniger 
erfahrenen, also den nicht psychiatrisch gebildeten Pädagogen und 
Psychologen verwendbar ist. Auf die Bedeutung der Methode für 
die Hilfsschulen und Sammeiklassen, für die Fortbildungsschulen für 
Schwachbefähigte und für die Berufsberatung braucht hier ebenso 
wenig eingegangen zu werden, wie auf die Begrenztheit und die Mängel, 
die der Methode noch anhaften. 

Nicht vergessen aber dürfen wir, und das ist für unsere heutige 
Betrachtung das Wichtigste, daß der Intellekt nur einen Teil des 
psychischen Gesamtindividuums ausmacht. Wir wollen ihn nicht 
unterschätzen. Durch den Intellekt allein wird ein Kind befähigt, 
einmal das festgelegte Wissen älterer Generationen, wie es in Form 
des Unterrichts als fertiges Ergebnis ihm übermittelt wird, in sich 
aufzunehmen und zu verarbeiten, dann aber auch die persönlichen 
Erfahrungen und Erlebnisse nutzbringend zu verwenden, zur Regulierung 
seines Handelns in Gegenwart und Zukunft. Ohne ausreichenden 
Intellekt ist also die Entwicklung einer freien, das Leben meisternden 
und beherrschenden Persönlichkeit nicht denkbar. 

Aber wir wollen den Intellekt auch nicht überschätzen. Bei 
Sympathie und Liebe, bei der Wahl des Freundes und des Ehegatten, 
bei allem, was einen Menschen liebenswert oder abstoßend macht, 
und überhaupt bei der Beurteilung und Wertung irgend eines anderen 
Menschen, legen wir, halb oder voll bewußt, das Hauptgewicht doch 
auf Eigenschaften, die außerhalb des Intellekts liegen, nämlich neben 
körperlichen Vorzügen vor allem auf sein Gefühls- und Willensleben, 
d. h, um nur einiges zu nennen, ob er weich und empfindsam, rück- 
sichtsvoll und anpassungsfähig, besonnen und tatkräftig, seelisch stark 
und zuverlässig ist oder ob er unduldsam und egoistisch, grob und 
brutal, nachlässig, innerlich haltlos ist und sittlich tief steht. Denn 
diese Eigenschaften erst sind es, die in ihrer Wechselwirkung mit 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 13 


den intellektuellen Funktionen das Bild der Persönlichkeit, oder als 
Schönstes der in sich geschlossenen charaktervollen Persönlich- 
keit ausmachen. Schon die Zahl der in der Sprache zur Verfügung 
stehenden Bezeichnungen weist uns darauf hin, wieviel geringer die 
individuellen Abwandlungsmöglichkeiten auf dem Gebiet des Intellekts 
sind gegenüber der schier unendlichen Variation auf dem Gebiete des 
Gefühls- und Willenslebens. 

Krankhafte Minderwertigkeit auf dem Gebiete des Intellekts be- 
zeichnen wir nun kurz mit dem Worte »Schwachsinn« und trennen 
hier vorwiegend nach dem Grade der Störung in Idiotie, Imbezillität 
und Debilität, von denen die letztere dann ohne scharfe Abgrenzung 
in die noch physiologische Minderbegabung übergeht. 

Krankhafte Minderwertigkeit auf dem Gebiete des Ge- 
fühls- und Willenslebens aber nennen wir Psychopathie 
Die möglichst reinliche Scheidung beider Arten von Störungen, die 
naturgemäß nicht selten auch in dem gleichen Individuum vereint 
vorkommen, ist sowohl allgemein wie im Einzelfalle, theoretisch wie 
praktisch, eine schwierige aber wichtige Aufgabe für uns. 

Es erhellt nun von selbst, daß bei der ungeheuren Kompliziert- 
heit und der schweren Greifbarkeit der einzelnen psychischen 
Funktionen bei den Psychopathen, der Versuch einer einfachen Grad- 
abstufung nach der Intensität der einzelnen Störungen versagt und 
daß erst durch ein kunstvolles Mosaikbild aus den im Einzelfalle sich 
findenden Abweichungen die in ihrer Gesamtheit krankhafte Persön- 
lichkeit zur wirklichen Darstellung gebracht werden kann. 

Es bedarf daher keiner Begründung für die Tatsache, daß uns 
Tests im Sinne der Binet-Simonschen Methode, die uns ermöglichten, 
rasch und sicher auch die Störungen des Gefühls- und Willenslebens 
zu objektivieren oder gar zu messen, nicht zur Verfügung stehen 
und auch nicht zur Verfügung stehen werden. Wir werden vielmehr, 
und wohl für immer, resignierend uns darauf beschränken müssen, 
aus der unendlichen Mannigfaltigkeit der hier denkbaren und tatsäch- 
lich beobachteten Abweichungen gewisse im Einzelfalle im Vorder- 
grunde des Bildes stehende, besonders intensive Abweichungen 
herauszuheben und ferner zu untersuchen, ob und in welchem Maße 
bestimmte Formen dieser Störungen mit mehr oder minder gesetz- 
mäßiger Häufigkeit mit einander verkuppelt sind zu fertigen Syndromen, 
also Symptomkomplexen, die der ganzen Persönlichkeit den 
Stempel eines bestimnten Typus aufdrücken. Ob die Aufstellung 
solcher Typen innere Berechtigung verdient und ob das Einzel- 
Individuum einem dieser Typen tatsächlich zugerechnet werden kann, 


14 A. Abhandlungen. 


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das werden wir dann, als Probe auf das Exempel, daraus erkennen, 
ob der betreffende Mensch auf die Reize der Außenwelt und be- 
stimmte Situationen, in die er versetzt wird, so reagiert, und in seinem 
weiteren Leben sich so entwickelt, wie wir auf Grund unserer Er- 
fahrungen bei diesem Typus es erwartet und vorausgesagt haben. 

Der Mangel an einer Methodik zur leichten und schnellen Ob- 
jektivierbarkeit der Störungen des Gefühls- und Willenslebens und 
die ungeheure Mannigfaltigkeit der möglichen Abweichungen in den 
Einzelkomponenten sind aber nicht die einzigen Schwierigkeiten, die 
uns bei der Erkennung der Psychopathie entgegenstehen. 

Ihnen gleichwertig sind oft die Schwierigkeiten der Diagnose- 
stellung bei dem Versuch einer Abgrenzung der konstitutionellen 
Psychopathie nach, wenn ich so sagen darf, oben und unten hin, 
d. h. gegenüber der echten Geisteskrankheit und gegenüber den 
noch in das Gebiet des Physiologischen fallenden Charaktertypen 
und individuellen Persönlichkeitsvariationen. Die Schwierigkeiten 
sind besonders groß zur Zeit der Pubertät, wo durch das plötzliche 
Einbrechen neuer triebhafter Regungen aus dem Unter- und Halb- 
bewußten in das schon relativ fertige psychische Leben des Knaben 
oder Mädchens Mißklänge und zeitweilige Störungen des seelischen 
Gleichgewichts schon normalerweise nicht ganz auszubleiben pflegen. 
Die Frage, ob es sich in solchen Fällen um die erste Welle einer 
als echte Geisteskrankheit anzusehenden Verschiebung der affektiven 
Gleichgewichtslage im Sinne einer Phase des manisch-depressiven 
Irreseins bezw., noch häufiger, um den Anfang einer zu völligem Zer- 
fall der Persönlichkeit führenden Krankbeit im Sinne des Jugend- 
Irreseins handelt, oder ob wir schließlich doch nur eine psychopathische 
Persönlichkeit vor uns haben, die auf die Pubertätsumwandlung nur 
besonders intensiv reagiert, diese Frage ist heute manchmal selbst durch 
eine Anstaltsbeobachtung nur schwer mit völliger Sicherheit zu be- 
antworten, 

Doch das sind Schwierigkeiten, die der Psychiater allein mit sich 
und seiner Wissenschaft ausmachen muß. 

Praktisch von weit größerer Bedeutung ist eine weitere Schwierig- 
keit in der Erkennung, die darin liegt, daß alle Kinder und Jugend- 
lichen ihrer unfertigen Natur entsprechend schon normalerweise in 
erhöhtem Maße durch Einwirkungen der Außenwelt beeinflußt 
werden und bei ungünstigen Einflüssen solcher Art zu unerfreu- 
lichen Reaktionen und antisozialem, ja auch gesetzlich strafbarem 
Handeln geführt werden, ohne daß derartige Reaktionen der Ausdruck 
einer krankhaften Störung des Gefühls- und Willenslebens zu sein 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 15 





brauchen. Da aber andererseits Wut- und Zornausbrüche, Fortlaufen 
und Herumtreiben, Diebstähle und Rohheitsdelikte bei echten Psycho- 
pathen ihrer abnormen Artung entsprechend besonders häufig die 
krankhafte Reaktion einer abnormen Anlage auf die Einflüsse der 
Außenwelt darstellen und diese Symptome um so eher und stärker 
sich bemerkbar machen werden, je schlechter das Milieu ist, so 
werden wir nur ausnahmsweise und bei nachweislich bestem Milieu 
aus diesen Reaktionen allein einen leidlich sicheren Schluß auf 
krankhafte Grundlage stellen können; in allen anderen Fällen aber 
werden wir unsere Diagnose auf einem sehr viel schwieriger zu be- 
schaffenden Untersuchungs- und Beobachtungsmaterial aufbauen müssen. 

Als Vorbild für die Art und Richtung unserer Untersuchungen, 
aus denen eine Erkennung der Psychopathie erwachsen soll, kann 
am besten die Methodik gelten, die der Schaffung der Binet-Simon- 
schen Intelligenzprüfung zugrunde gelegen hat. Sie fußt auf dem 
Gedanken, daß das tatsächliche, vor allem das schulmäßige Wissen, 
eines Kindes nur in beschränktem Mabe für die Beurteilung der 
Intelligenz, d. h. der Ausbildungsfähigkeit der Verstandeskräfte, heran- 
gezogen werden kann, weil ja dies tatsächliche Wissen in hohem 
Grade von der Gelegenheit zur Entwicklung (der Verstandeskräfte, 
also von der Art des Unterrichts und der Ausbildung in Haus und 
Schule abhängt. Denn es bedarf ja keines Beweises, daß bei sorg- 
fältiger Ausbildung eines an sich gering begabten Kindes sogar ein 
höheres Wissen erzielt werden kann, als es einem hoch begabten, 
aber schulmäßig schlecht geförderten Kinde oder Jugendlichen zur 
Verfügung steht. Die Methoden zur Feststellung des Schwachsinns 
und seiner Grade beruhen 'daher ebenso wie die jüngsten Methoden 
zur Herausfindung der sogenannten Hochbegabten für die neuen 
Begabten-Schulen auf dem Bemühen, die Kinder Aufgaben lösen zu 
lassen, deren Lösung sie auch nicht einmal im Prinzip schulmäßig 
erlernt haben, sondern die ihnen neu sind und als sogenanntes Lebens- 
wissen den Ausdruck dafür darstellen, wie weit die intellektuellen 
Kräfte vor allem durch die stıllen Einflüsse der Umwelt eine Ent- 
wicklung erfahren haben. Bei sehr geschickter Auswahl der Aufgaben 
und leidlich gleichen Einflüssen der Umwelt wird die Art der Lösung ' 
der Aufgaben daher unmittelbar als Maßstab dienen können für den 
angeborenen Anteil des Wissens, also die spezielle Anlage des 
Kindes, zu merken und zu reproduzieren, zur Bildung von Begriffen 
und Urteilen. ; 

Aus dem Gesagten folgt, daß ebenso wie der Mangel an Kennt- 
nissen nicht für den Schwachsinn, so auch das unsoziale oder 


16 A. Abhandlungen. 

unmoralische Handeln nicht charakteristisch sein kann für 
die Psychopathie; auch hier müssen wir vielmehr versuchen fest- 
zustellen, ob nicht in der Anlage begründete Mängel der Entwicklungs- 
fähigkeit des Gefühls- und Willenslebens zu feineren und sozial 
brauchbaren Formen vorliegen, also Störungen in der Intensität der 
triebhaften Regungen und Gefühle, ihren Maßbeziehungen zueinander 
und ihrer Beeinflußbarkeit durch Erziehung und Erlebnisse. 

Um auch auf diesem Gebiete das durch Milieu-Einflüsse, also 
bis zu gewissem Grade zufällig an das Individuum Herangetretene tun- 
lichst auszuschalten und su das von innen heraus also gleichsam von 
selbst Gewordene zu erkennen, müssen wir zunächst versuchen, die 
fraglichen psychischen Reaktionen aus dem frühesten Lebensalter 
des Individuums in Erfahrung zu bringen, wo sie sich noch in 
größerer Reinheit und geringster Komplizierung mit intellektuellen 
Elementen vorfinden, dann aber auch, aus dem uns vorliegenden 
psychischen Zustand heraus analysierend diejenigen elementaren, 
endogenen Faktoren herauszuschälen, die für den Aufbau der mehr 
oder minder abnormen Persönlichkeit von entscheidender Bedeutung 
geworden sind. 

Zu diesem Behufe aber müssen wir uns einmal klar machen, 
daß, wie der Tübinger Psychologe und Pädagoge Karl Groos in 
seinem schönen Buch über »Das Seelenleben des Kindes« es einmal 
ausdrückt, unter der lichten Welt des vernünftigen Wollens, in der 
sich der Mensch auf Grund einsichtiger Überlegung mit Bewußtsein 
Zwecke setzt, das »Tierische im Menschen« sich ausdehnt, ein dunkles 
Reich von Impulsen, die nicht der vernünftigen Überlegung, sondern 
ererbten Dispositionen des psychophysischen Organismus 
entspringen und daher dem Verstande oft wie fremdartige, aus den 
geheimnisvollen Tiefen des Seelenlebens aufsteigende Mächte erscheinen. 
Diese Impulse mit den sie begleitenden, immer starken Gefühlen 
müssen biologisch, teleologisch und grundsätzlich als zweckmäßige 
Impulse aufgefaßt werden, insofern als sie der Erhaltung des In- 
dividuums und der Art dienen. In den Mechanismus dieser für 
die Art konstanten psychischen Grundelemente greifen dann die ersten 
verstandesmäßig verarbeiteten Erfahrungen des Individuallebens zu- 
nächst nur hemmend und regulierend ein; aus ihrer Wechselwirkung 
entsteht dann später erst und allmählich, als höheres Stockwerk 
gleichsam, das fertige, so hoch komplizierte psychische Leben des 
Erwachsenen mit seinen klar bewußten Zielen und seinen abgestuften 
Willenshandlungen. 

Die Einzelgestaltung und Kraft dieser in letzter Linie triebmäßigen, 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 17 





uralten, für Erhaltung des Individuums und der Art unerläßlichen 
Impulse mit ihrem starken Gefühlswerte aber bilden das Bleibende, 
bilden den Kern der Persönlichkeit, zugleich aber auch dasjenige, 
was als dispositioneller, die gleiche Art von Persönlichkeit schaffender 
Faktor erblich übertragen wird. Erhaltung des eigenen Lebens 
durch Beschaffung und Einverleibung der Nahrung, Selbstbehaup- 
tung durch Beherrschung der toten und lebenden Umwelt, das sind 
die dirigierenden Triebe im ganzen Leben; zu ihnen kommt von der 
Pubertät an der Trieb zur Fortpflanzung der Art, und auf diesem 
erblüht der feinste, am meisten intellektualisierte Trieb zur Pflege 
und zum Schutz der Nachkommenschaft, zur Erhaltung und Förderung 
der Familie, der Sippe, der Nation. Alles, was der Befriedigung dieser 
triebhaften Tendenzen förderlich ist, wird als Lust empfunden und 
drängt zur Wiederholung, was ihr entgegensteht, wird als Unlust 
empfunden und nach Kräften vermieden oder beseitigt. Ein höheres 
und feineres, sittliches und soziales Fühlen und Handeln ist nur 
möglich, wenn diese Grundelemente des Fühlens und Wollens, für 
sich genommen und in ihrem Verhältnis zueinander, von normaler 
Stärke sind, so daß sie durch Erziehung und individuelles Erleben in 
richtiger Weise gehemmt, reguliert, ausgebaut und damit auf eine 
höhere Stufe der Entwicklung gehoben werden können. Störungen 
in der Stärke und den Maßbeziehungen dieser Grundelemente aber 
müssen schon unter dem Einfluß normaler, ungleich vielmehr aber 
unter dem Einfluß von schädlichen Lebensreizen und Milieueinwirkungen 
zu einer Verzerrung, zu einer Disharmonie der Gesamtpersönlichkeit 
führen, die wir eben konstitutionelle Psychopathie nennen; 
diese Störungen zu erkennen und richtig zu bewerten ist die Voraus- 
setzung für die Diagnose eines psychopathischen Zustandes überhaupt 
und seiner speziellen Formen im besonderen. 

Trotz voller Einsicht in die Tatsache, daß die Natur Sprünge 
nicht macht, daß eine reinliche Scheidung der gesunden und der ab- 
normen in sich einheitlichen Persönlichkeiten in feste Gruppen und 
Untergruppen nicht möglich ist, und daß nach jeder Richtung Über- 
gänge und seltenere Kombinationen beobachtet werden, glaube ich doch, 
daß eine gewisse Zweiteilung der kindlichen Psychopathen durch- 
führbar ist, wenn wir die Intensität der triebhaften Tendenzen und 
Gefühle zum obersten Teilungsprinzip wählen. 

Als erste Hauptgruppe ergäbe sich dann die Masse derjenigen 
Kinder, bei denen alle triebhaften Tendenzen und die ihnen zu- 
gehörigen Elementargefühle nicht nur stark sind und kraftvoll dauernd 
alles Denken und Handeln dominierend leiten, sondern in ihrer Stärke 

Zeitschrift für Kinderforschung. 25. Jahrgang. 2 


18 A. Abhandlungen. 

das gewünschte Maß überschreiten bis zu krankhafter Entgleisung 
und dadurch der Entwicklung aller höheren und sittlichen Strebungen 
und Gefühle hemmend im Wege stehen. Der Typus dieser Menschen 
knüpft an an entwicklungsgeschichtlich überwundene Formen der 
Menschheit, an den kulturlosen, roheren Typ längst vergangener Zeiten; 
er zeigt auch körperlich fast stets das Bild des ganz gesunden, 
allen äußeren Schädigungen trotzbietenden Organismus. Hier ist 
nichts von Weichlichkeit und Überempfindlichkeit. Weder die Nahe- 
sinne der Haut, des Geschmacks und Geruchs, noch auch die Fern- 
sinne des Gesichts und Gehörs zeigen feinere Differenzierung, sondern 
sie werden nur insoweit entwickelt und ausgebildet, als sie unbedingt 
zur Erhaltung und Behauptung des Lebens und Erhaltung der Art 
erforderlich sind; auch die Motilität entbehrt der feineren Durch- 
bildung und Ausgestaltung. 

Auf dem Gebiet der reinen Lebenserhaltung sehen wir also 
einen kräftigen elementaren Trieb zur Aneignung und Einverleibung der 
Nahrungsmittel. Nur die Quantität der Nahrung ist Ziel des Strebens; 
alle durch Aussehen, Geruch und Geschmack der Nahrung dem zivili- 
sierten Menschen von selbst sich bietenden Hemmungen fallen fort. 
Solche Kinder.nehmen unter Umständen in ungehemnter Freßgier alles 
in den Mund und Magen auf, was irgend den Namen Nahrungsmittel 
verdient, ohne Rücksicht darauf, ob es überhaupt oder feiner zubereitet 
ist, ohne Rücksicht, ob es gut erhalten, sauber und unverdorben ist; 
sie nehmen die Nahrung, wo sie sie finden, von der Straße, aus dem 
Hundenapf, aus dem Kehrichteimer, verschlingen rohe Gemüse und 
Kartoffeln, madige und faule Früchte, ja auch wirklich verdorbene, 
in Gärung oder Fäulnis übergegangene vegetabilische oder fleischliche 
»Nahrungsmittele. Als besonders krankhafte Typen sehen wir auch 
Kinder, die an sich zur Ernährung ungeeignete Dinge, wie den Kalk 
von der Wand, Papier, Kohlen, ja auch die eigenen Exkremente und 
das Sekret der Nase nicht nur in den Mund bringen, sondern sogar 
verschlingen ; diese Neigung läßt jedoch mit zunehmendem Lebensalter, 
etwa mit dem 6. Jahre so gut wie immer nach oder verschwindet 
ganz, ist daher für das jüngste Lebensalter ein besonders charakte- 
ristisches Symptom, nach dem zu fragen wir auch bei älteren Kindern 
nicht unterlassen sollten, da es spontan von den Eltern aus begreif- 
licher Scham fast nie angegeben wird. Daß aber auch weiterhin bei 
diesen Kindern der gesteigerte Nahrungstrieb eine bleibende Ursache 
für Naschen und Stehlen von Nahrungsmitteln zu Hause und bei 
Fremden bildet und die Bekämpfung dieser unsozialen Handlungen 

besonderen: Maße erschwert, erhellt von selbst. 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 19 





Als eine weitere, mit diesen Störungen zusammenhängende, vor 
allem aus der Unempfindlichkeit des Hautsinnesgebiets resultierende 
Anomalie finden wir meist bei diesen Kindern auch eine Unempfind- 
lichkeit gegen jede die Haut sonst reizende Art von Schmutz und 
Unsauberkeit, die bis zu zweifellos krankhafter Liebe zu solchem 
Schmutz ausarten kann. Die natürliche Folge ist auch hier die er- 
höhte Schwierigkeit, solche Kinder zu sauberer Pflege des Körpers 
und der Kleidung, zu sorgfältiger Behandlung des Spielzeugs und der 
Schulbücher, ja überhaupt zu Ordnung und Exaktheit zu erziehen. 

Auf dem Gebiet der Selbstbehauptung, also der Durchsetzung 
der eigenen Persönlichkeit gegenüber der toten und lebenden Umwelt, 
sehen wir die gleiche Steigerung aller triebhaften Tendenzen, mit 
der Neigung zu echt krankhafter Entgleisung. Es fehlt die Freude 
an den normalen Spielen des Kindesalters, es fehlt die Lustbetonung 
aller Übung der Augen und Ohren, der Hände und Glieder, die in- 
stinktiv, zu dem vitalen Zweck der Vorbereitung für den Kampf des 
Lebens, alles Tun und Treiben der Kinder sonst erfüllt; es fehlt die 
Freude am Gemeinschaftsspiel, das bald ein Herrschen und Anordnen, 
bald ein Gehorchen und Sich-Fügen, bald den einfachen Anschluß 
an den Altersgenossen im kameradschaftlichen Kampf der Parteien 
verlangt. Ohne Interesse für solch ausbildendes Spiel ist das Streben 
und Trachten allein auf den eigenen Vorteil, also neben Essen und 
Trinken auf die Beherrschung und Vergewaltigung der Kleinen und 
Großen gerichtet, zur brutalen Durchsetzung rein egoistischer 
Antriebe. | 

Als krankhaften Auswuchs der an sich ja noch physiologischen 
Tendenz zur Beherrschung der Umwelt sehen wir dann auch Lust- 
gefühle auftreten bei der Schädigung der anderen ohne Erringung 
eines eigenen Nutzens dabei, also Schadenfreude und Schabernacks- 
handlungen, Quälereien und Gıausamkeiten gegen Mensch und Tier. 
Diese Kinder sind es, die ihre Freude daran haben, den Fliegen die 
Flügel auszureißen, die Hunde und Katzen zu quälen, die Hühner 
zu jagen und ihnen Sand in die Augen zu streuen, die Frösche auf- 
zublasen und ihnen die Beine auszureißen, Kinder und Erwachsene 
heimtückisch zu ärgern, zu verletzen, zu schädigen. Intellekt und 
Lebenserfahrung dienen dann nur dazu, die Befriedigung dieser herrsch- 
süchtigen und boshaften Triebe zu erleichtern. Raffinierte Lügen 
und Diebstähle, bandenmäßiger Einbruch, frühzeitiges Umhertreiben 
mit geschickter aktiver Beschaffung des Lebensunterhalts, das sind 
die sozial und strafrechtlich hervorstechendsten Folgen dieser Ver- 


anlagung. Jeder Versuch zur Entwicklung altruistischer Gefühle, zu 
92% 


20) A. Abhandlungen. 

Freundlichkeit, Dankbarkeit oder gar Uneigennützigkeit und Auf- 
opferung stößt naturgemäß auf unüberwindbare Hemmungen und 
zwar um so mehr, als nicht nur die Worterziehung versagt, sondern 
auch körperliche Strafen bei der Unempfindlichkeit gegen 
Schmerz völlig eindruckslos zu bleiben pflegen, ja sogar durch Ent- 
wicklung von Rachegefühlen nur eine neue traurige Komponente dem 
unerfreulichen Charakterbild hinzufügen. 

Bei der Stärke aller triebhaften Tendenzen kann es nicht über- 
raschen, daß auch die normalerweise von der Pubertät an allmählich 
erst erwachenden sexuellen Gefühle bei diesen Kindern meist ver- 
früht und mit gefährlicher Kraft das Denken und Handeln dirigieren. 
Nicht sind es dabei die mehr einfacher kindlicher Neugier oder ver- 
frühtem Miterleben entstammenden, oft allzu ernst genommenen und 
aufgebauschten unanständigen Handlungen der Kinder, auf die es 
für die Beurteilung ankommt, sondern das verfrühte Erwachen und 
die verfrühte Einstellung des Fühlens und Interesses auf das- 
Gebiet des Sexuellen überhaupt, die schon im Spiel mit den Puppen, 
bei der Beobachtung und im Spiel mit Tieren, bei der Art der Be- 
obachtung der andersgeschlechtlichen Erwachsenen und im Verhalten 
zu ihnen ihren Ausdruck findet. Bis zu welchem frühen Lebensalter 
derartige Regungen herunterreichen können und welche schier abenteuer- 
liche Formen besonders durch die Kombinierung mit Tendenzen zur 
Grausamkeit sie annehmen können, das hier auszuführen werden Sie 
mir ersparen. Auch hierbei ist es für den Psychiater natürlich immer 
nötig, nicht den Standpunkt des moralisch wertenden Erziehers ein- 
zunehmen, sondern den des rein objektiv beobachtenden Arztes fest- 
zuhalten und die Blickrichtung nur auf das Krankhafte, das Abnorıne 
im Seelenleben solcher Kinder einzustellen. 

Es bedarf kaum besonderer Erwähnung, daß die Gesamtheit 
der hier kurz angedeuteten krankhaften Abweichungen der Gefühle 
und Instinkte nur selten in einem Individuum vereint sich findet, 
daß in der Mehrzahl der Fälle vielmehr die eine oder die andere 
Komponente das Bild beherrscht. Die innere Einheitlichkeit und 
Verwandtschaft dieser Anomalien aber wird dadurch sicher gestellt, 
daß neben den zunächst im Vordergrunde stehenden Anomalien bei 
sorgfältigerem und genauerem Eingehen und Explorieren auch von 
den anderen hier genannten Abweichungen fast stets zum mindesten 
Andeutungen sich nachweisen lassen. 

Ich selbst habe im Laufe der Jahre eine große Zahl derartiger 
Krankengeschichten gesammelt. Die Weiterverfolgung des Lebens- 
schicksals dieser Kinder gibt, soweit sich bis jetzt beurteilen läßt, 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 21 





ein recht trübes Bild. Aktives Gewohnheitsverbrechertum und 
Prostitution, das sind wohl, ohne rechzeitiges und geschicktes Ein- 
greifen, fast stets die Richtungen, nach denen dieser Typus der psy- 
ehopathischen Kinder sich weiter entwickelt. 

In offensichtlichem Gegensatz zu diesem, nur von rohen Be- 
gierden getriebenen, das Leben früh beherrschenden, alle Verstandes- 
kräfte nur in den Dienst der eigenen Lüste stellenden, im Prinzip 
aktiven Typus der kindlichen und jugendlichen Psychopathen, steht 
der andere, mehr passive Typus, bei dem alle die eben genannten, 
triebhaften Tendenzen nur schwach entwickelt sind und das Denken 
und Handeln nur so wenig wirklich leiten und beherrschen, daß ge- 
radezu eine Gefährdung des eigenen Wohls und des eigenen 
Fortkommens in der Welt daraus resultiert. 

Die Mehrzahl dieser Kinder sind Abkömmlinge der geistig höher 
kultivierten Gesellschaftsklassen und Individuen; sie sind körperlich 
meist weniger widerstandsfähig, nicht selten mit chronischen Krank- 
heiten oder Schwächezuständen behaftet und zeigen meist die mehr 
neuropathischen Symptome der Überempfindlichkeit auf allen 
Sinnesgebieten, der Übererregbarkeit des ganzen Gefäßsystems 
mit Neigung zu Kopfschmerzen, zu gesteigerter Ermüdbarkeit, Er- 
schöpfbarkeit und zu Störungen des Schlafes. 

In innigem und wohl untrennbarem Zusammenhange damit steht 
die Schwäche oder ungenügende Nachhaltigkeit aller, in letzter Linie 
aus dem normalen Zusammenarbeiten der Organe sonst resultierenden 
elementaren Willensregungen mit den ihnen anhaftenden Gefübls- 
elementen. 

Daß die Großstadt mit ihrem Stubendasein und der Erschwerung 
des Zusammenlebens der Gleichaltrigen, sowie mit der hier viel 
häufigeren Einkinder-Ehe besonders schädlich wirkt, um schon geringe 
Schwächen dieser Art ins Sichtbare oder ins Maßlose zu steigern, 
daß wir also in unserem Großstadtleben gerade diesem Typus besonders 
häufig und in den mannigfaltigsten Abwandlungen begegnen, ergibt 
sich daher von selbst. Die hier denkbaren und tatsächlich sich 
findenden Symptome und Symptomverkupplungen auch nur annähernd 
vollständig darzustellen, ist weder überhaupt möglich, noch auch an 
dieser Stelle erforderlich, da die traurigen Folgen dieser Form krank- 
hafter Veranlagung viel mehr das Indıviduum selbst als die soziale 
Gemeinschaft treffen, zu sozialen Hilfsmaßnahmen also in geringerem 
Maße Veranlassung geben. 

Die bei allen Kindern dieses mehr passiven Typus fast nie fehlende 
körperliche, nervöse und psychische Überempfindlichkeit führt 


” 


29 A. Abhandlungen. 











dazu, daß alle aus dem Organismus und aus der Umwelt stammenden 
Reize vielleicht sogar leichter merkbar werden, jedenfalls aber schon 
bei abnorm geringer Intensität Unlustgefühle erwecken, die hemmend 
auf alle Betätigung einwirken. Dazu kommt, daß das meist früh und 
reich entwickelte Verstandesleben seine ihm an sich schon zukommende 
hemmende Kraft auf alle Triebäußerungen hier besonders rasch und 
intensiv geltend macht und so das psychische Gesamtleben des Kindes 
abnorm früh dem komplizierteren, in viel höherem Maße intellektuali- 
sierten Geisteszustand des Erwachsenen annähert, ohne den Aus- 
gleich, der durch die Vielseitigkeit der Erfahrungen und die Reife 
der Urteilskraft beim Erwachsenen geboten werden kann. 

Im Vordergrund steht bei dieser Art der kindlichen Psycho- 
"pathen, oder wie Czerny ihre früheste und mildeste Form kurz nennt, 
der »sensiblen Kinder«e daher im allgemeinen das Symptom der Reiz- 
barkeit, d. h. das rasche Anklingen und Ansteigen aller, ganz be- 
sonders der negativen Gefühlstöne, verbunden meist mit kurzer zeit- 
licher Dauer, aber Neigung zum Übergreifen auf das Gebiet der Vor- 
stellungen, ja auch größerer und entfernter liegender Vorstellungs- 
komplexe. 

Auf dem Gebiet der reinen Lebenserhaltung sehen wir so eine 
Überempfindlichkeit gegen Geruchs- und Geschmacksreize, aus der 
heraus schon unsere Allerkleinsten oft die ihnen dargebotene Nahrung 
in solchem Maße ablehnen, daß geradezu eine Schädigung der Er- 
nährung und des körperlichen Gesundheitszustandes daraus erwächst. 
Neigung zu Übelkeit und zu einem nicht durch die Art der Nahrung, 
sondern vielfach rein psychisch bedingten Erbrechen ist eine be- 
kannte und unangenehme Folge davon. Auch im späteren Kindes- 
alter bleiben diese Kinder beim Essen meist wählerisch und bilden 
oft bestimmte, für die Pflege recht unbequeme Idiosynkrasien gegen 
bestimmte Nahrungsmittel heraus, die durch andere krankhafte, rein 
körperliche Reaktionen bei bestimmten Nahrungsmitteln — ich erinnere 
nur an das Nesselfieber — noch unterstützt werden. 

Die Überempfindlichkeit des Hautsinnesgebietes hat ganz im 
Gegensatz zu dem vorher skizzierten Typus die zunächst angenehme 
Folge, daß aller Schmutz der Haut und Kleidung als störend empfunden 
wird, und so ein Teil dieser Kinder abnorm früh zur Sauberkeit und 
sorgfältigen Pflege des Körpers und der Kleidung erzogen werden 
kann oder sie aus sich selbst heraus entwickelt. Die unangenehmen 
Folgen aber sind die Störungen des Wohlbefindens, die aus unver- 
meidlichen Reizen der Oberhaut, z. B. aus dem Tragen der wollnen 
Strümpfe, aus dem Schneiden der Nägel und Haare erwachsen und 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 23 





die noch viel mehr störende Überempfindlichkeit der Blase, die zu 
allzu häufiger, im Schlaf reflektorischer Entleerung der noch nicht 
vollständig gefüllten Harnblase, also dem gefürchteten nächtlichen Ein- 
nässen führt. Zur Abwehr der von den Kindern als so sehr un- 
angenehm empfundenen Hautreize an den Fingern z. B. und an den 
Haarwurzeln bilden und fixieren sich dann leicht störende, schwer 
ausrottbare Angewohnheiten, wie das Nägelkauen und das Haar- 
ausreißen, das Jucken und Kratzen am Körper, die Abwehrbewegungen 
gegen Reize von kleinen Krankheiten oder störendem Druck der 
Kleidung. Einnässen, Nägelkauen, allgemeine Gliederunruhe, echte 
Tie--Bewegungen sind daher ebenso charakteristisch für diese Art von 
Kindern, wie die Störungen des Schlafes als Folge eben dieser Über- 
empfindlichkeit aller Sinne schon gegen leichte Reize. 

Im Verkehr mit der Umwelt fehlt es diesen Kindern weiterhin 
fast stets an der Kraft zur Durchsetzung ihrer berechtigten Interessen. 
Ängstlichkeit und Schüchternheit, scheues Zurückweichen vor der 
Berührung mit anderen, vor dem Spiel mit Gleichaltrigen, zu frühe 
Verallgemeinerung einzelner unliebsamer Erfahrungen mit der Folge 
rascher Isolierung; zu inniges Anschmiegen und zu langes Festhalten 
am @Gängelband der Mutter; zu frühes Sichversenken in Wünsche, 
Träume, Hoffnungen und vor allem in ein sehnsüchtiges Verlangen 
nach Zielen, zu deren Durchsetzung es ihnen an Kraft und Aktivität 
fehlt: das sind nur einige Symptome und Züge dieses Ihnen ja allen 
bekannten Bildes. 

Die zunächst als Lichtseite solcher Veranlagung zu buchende 
leichtere Erziehbarkeit zum Guten, zu Folgsamkeit und Bravheit, Gut- 
mütigkeit und Opferwilligkeit, Anhänglichkeit und Frömmigkeit, kurg 
die leichte Entwicklung aller höheren moralischen, ethischen 
und auch ästhetischen Gefühle muß dann als psychopathisch, als 
krankhaft angesehen werden, wenn durch sie das Kind gehindert 
wird, seine eigenen berechtigten Interessen für Gegenwart und Zu- 
kunft wahrzunehmen, sich also schwächlich von anderen stärkeren 
Naturen unterdrücken oder haltlos von ihnen mißbrauchen läßt. Das 
Krankhafte liegt klar zutage, wenn Exaktheit und Sorgfalt in Pedanterie 
und Skrupulosität, Körper- und Kleidungspflege in Wasch- und Putz- 
sucht, Liebe und Respekt vor der Lehrerin in Vergötterung, Lebhaftig- 
keit des Empfindens und geistigen Gestaltens in zügellose Hyper- 
fantasie ausartet und die berechtigte Sorge vor Strafe nach kleinen 
Verfehlungen zu Angstzuständen, sinnlosem Fortlaufen mit einsamem 
Umhertreiben oder gar zu Selbstmordversuchen sich steigert. 

Auch Sprunghaftigkeit und Unausgeglichenheit im Fühlen und 


24 A. Abhandlungen. 


Handeln, einseitige Verbohrtheit der Interessen auf einen bestimmten 
Vorstellungskomplex durch Gefühlsfixierung auf ein solches Gebiet, 
sind ebenso wie die Überschwenglichkeit der Gefühle für eine Sache 
fast immer verbunden mit einer gewissen Schwäche der elementaren 
Seelenkräfte, indem dadurch eine Vernachlässigung anderer, für das 
Gedeihen des Kindes oder Jugendlichen oder die Allgemeinheit wich- 
tigerer Gebiete der Betätigung und Ausbildung bedingt wird. Solche 
Einseitigkeiten und Disharmonien des Gefühls- und Willens- 
lebens aber vermissen wir kaum je in dem psychischen Gesamtbild 
solcher Kinder. Daß sie im gleichen Maße wie die vorher genannten 
Einzelstörungen das Ziel aller Erziehung, nämlich die Entwicklung 
einer in sich abgeklärten, reifen, charaktervollen Persönlichkeit in 
hohem Maße erschweren, wenn nicht unmöglich machen, das bedarf 
ebensowenig näherer Begründung wie die selbstverständliche Tatsache, 
daß alle diese Störungen des seelischen Gleichgewichts nur allzu leicht 
für die Betroffenen die Ursache bilden für Konflikte mit dem Straf- 
gesetzbuch. Herr Prof. Kramer wird auf diese Beziehungen zwischen 
Psychopathie und Kriminalität nachher ausführlich eingehen. 

Die Schwäche aller instinktiven Tendenzen und die Neigung zur 
verfrühten Intellektualisierung aller elementaren psychischen Vorgänge 
zeigt sich schließlich in besonders charakteristischer Form auch auf 
dem Gebiet des Geschlechtlichen. Die durch Erziehung bei 
diesen Kindern besonders leicht zu weckende Schamhaftigkeit gegen- 
über dem eigenen Körper steigert sich oft schon bei den Kleinen zu 
einer als Prüderie zu bezeichnenden Ängstlichkeit, sich nackt z. B. 
dem Vater oder der Mutter zu zeigen und stört den harmlosen Ver- 
kehr mit den Gleichaltrigen des anderen Geschlechts schon in der 
frühen Kindheit. Das grundsätzlich an die Zeit der Pubertät gebunaene 
Erwachen der psycho-sexuellen Interessen überhaupt pflegt ebenso 
wie die Pubertät selbst spät einzusetzen. Durch den Mangel an 
Kraft zur Durchsetzung der schließlich doch erwachenden Wünsche 
und die meist zu frühe und zu intensive Bearbeitung dieser Wünsche 
durch gedankliche Vorgänge leidet die naive Annäherung an das 
andere Geschlecht und der natürliche Takt im Verkehr mit ihm; an 
dessen Stelle treten gar leicht die Befriedigung durch Versenken in 
eine die Sinne kitzelnde Lektüre oder eine von der Fantasie ge- 
schaffene lüsterne Welt der Träume. Bei der unvermeidlichen Be- 
rührung mit der wirklichen Welt ist dann die Gefahr, der ersten 
besten Verführung zu erliegen, besonders groß. Nicht zu vernach- 
lässigen ist auch die Gefahr, daß unter dem Einfluß irgendeines zu- 
fälligen, stark gefühlsbetonten Erlebnisses die sexuellen Wünsche an 


Tugung über Psychopathenfürsorge. 25 
ein nicht dem Naturzwecke entsprechendes Objekt fixiert werden, 
und so nicht bloß das Lebensglück des Betroffenen zerstört, sondern 
anch ein psychischer Zustand geschaffen wird, der fast unvermeidlich 
zu Kollisionen mit der sittlichen und staatlichen Ordnung führt. 
Auch auf dies unerfreuliche Gebiet im einzelnen und näher in einem 
so groBen Kreise von Hörern einzugehen, darf ich wiederum bitten 
mir zu erlassen. — 

Was nun die mehr praktische Frage angeht, wie wir im kon- 
kreten Falle, also bei einem bestimmten, uns zur Untersuchung vor- 
geführten Kinde entscheiden können, ob es als ein konstitutionell 
psychopathisches Kind anzusehen ist oder nicht, und welche spezielle 
Form der Abartung vorliegt, so erhellt wohl schon aus dem bisher 
Gesagten, daß dies auf Grund einer kurzen einmaligen Untersuchung 
allein kaum jemals ganz möglich ist. 

Das, was die Untersuchung in körperlicher Beziehung uns 
zeigen kann, das ist einmal die allgemeine mehr oder minder kräftige 
Körperkonstitution, das sind weiterhin die Feststellung der sogenannten 
Entartungszeichen, also körperlicher Mißbildungen, die aus Hemmungen 
oder Störungen der ersten Anlage resultieren und meist die Form 
atavistischer Rückschläge zeigen. Ich nenne nur Abweichungen im 
Körperwuchs, in der Art und Anordnung der Behaarung, in der 
Bildung und Stellung der Zähne und Ohren, in der Entwicklung der 
Genitalien, der Brustdrüsen und ähnlichem. Derartige Mißbildungen 
lassen nach der ärztlichen Erfahrung, wenn sie stark ausgeprägt sind 
oder bei einem Individuum gehäuft auftreten, den Schluß zu, daß 
wahrscheinlich auch in der ersten Anlage des höchsten aller Organe, 
also des Gehirns, sich gleichfalls Entwicklungsstöruugen vorfinden 
werden, die uns zwar anatomisch erst selten faßbar sind, um so 
häufiger aber wohl mit Disharmonien in der Funktion der psychischen 
Reaktionen im Zusammenhang stehen. Meist leicht erkennbar ist 
schließlich schon bei einmaliger Untersuchung die spezielle Über- 
empfindlichkeit des Gefäß-Nervengebietes, die sich in naß- 
kalten Händen und Füßen, gesteigertem Nachröten der Haut bei 
Überstreichen, jähem Farbwechsel der Haut des Gesichts und besonders 
der Ohren, raschem Schweißausbruch, überschneller Reaktion der 
Pupillen u. a. zeig. Auch die Folgen der Neigung zum Finger- 
Iutschen und Nägelkauen lassen sich an dem Zustand der Finger 
meist rasch erkennen, ebenso wie das Vorliegen einer gesteigerten 
oder herabgesetzten allgemeinen Schmerzempfindlichkeit, z. B. bei 
Nadelstichen. 

Auf dem psychischen Gebiet ist auch für den weniger Erfahrenen 


96 A. Abhandlungen. 

durch Anwendung der Binetschen Methode meist durch einmalige 
Untersuchung schon ein ausreichendes Urteil über die intellek- 
tuellen Kräfte möglich. Aus ihrem Ergebnis resultiert dann nicht 
nur ein wichtiger Fingerzeig für die Art der notwendigen weiteren 
Behandlung, sondern schon ein Urteil darüber, ob und wie weit das 
uns geschilderte antisoziale Handeln etwa aus diesen intellektuellen 
Defekten allein erklärt werden kann oder ob wir statt dessen oder 
außerdem psychopathische Anomalien mit oder ohne Milieuschäden 
werden annehmen. müssen. 

Ungleich viel schwieriger und mehr aus der persönlichen Er- 
falırung des Untersuchenden resultiert naturgemäß die direkte Be- 
urteilung des Gefühls- und Willenslebens bei einmaliger Untersuchung. 
Fingerzeige nach dieser Richtung erhalten wir aber auch schon aus 
dem Benehmen des Kindes während der Untersuchung, der Art, 
Intensität und Nachhaltigkeit der dabei beobachteten Reaktionen, also 
aus der Feststellung, ob es bei der körperlichen und intellektuellen 
Untersuchung, bei der Befragung und der Besprechung seines Lebens 
und antisozialen Handelns, das die Ursache der Untersuchung gebildet 
hat, schüchtern und ängstlich, erregt und zu Tränen gerührt oder 
ruhig und kühl, gleichgültig, verstockt und frech, einheitlich oder 
sprunghaft wechselnd sich verhält; auch über seine Aufmerksamkeit 
und Konzentration, seine Interessiertheit für das eigene Wohl und für 
höhere ethische Fragen werden wir schon bei Gelegenheit der ersten 
Untersuchung so manches Wichtige beobachten können. Des weiteren 
werden wir auch die Pflege des Körpers und der Kleidung, normale 
oder übertriebene Sauberkeit und Exaktheit, Schmutz, Unordnung und 
Vernachlässigung sorgfältig beachten müssen. 

Aber selbst für den erfahrensten und mit dem normalen und 
abnormen kindlichen Seelenleben am besten vertrauten Psychiater 
werden alle diese Ergebnisse einer einmaligen Untersuchung nur die 
Grundlage abgeben können für die allgemeine oder spezielle Diagnose 
der Psychopathie. Sie bedarf immer der Ergänzung durch Berichte 
über das tatsächliche Verhalten des Kindes im Alltagsleben und seiner 
Reaktion auf die Reize der es dauernd umgebenden Umwelt. 

Unerläßlich für die Gewinnung eines für uns brauchbaren Be- 
richts ist dabei nicht nur die aus der persönlichen Erfahrung sich 
ergebende Methode und Form, wie wir im einzelnen explorieren 
und das Mitgeteilte verwerten müssen, sondern zunächst schon das 
einfache Vorhandensein einer Begleitperson, die das Kind mit Liebe 
und Verständnis seit langem beobachtet hat und intelligent und ob- 
jektiv genug ist, um verwertbare Angaben uns machen zu können. 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 97 


mm m Id 








Auf die größten Schwierigkeiten stößt demnach die Feststellung 
einer Psychopathie bei einzelnen, von ganz Fremden oder nur Be- 
kannten des Kindes, z. B. von Nachbarn oder aus Asylen und Er- 
ziehungsanstalten uns vorgeführten Knaben und Mädchen; auf 
Schwierigkeiten aber auch, wenn die vorführenden Begleiter nur 
einzelne Seiten des kindlichen Seelenlebens, z. B. nur sein Verhalten 
in der Schule wirklich kennen, oder wenn übertriebene und einseitige 
Elternliebe die Beobachtungen getrübt hat, oder bestimmte Zwecke 
und Interessen der Vorführenden die Berichte mehr oder weniger 
wissentlich verfälschen. Der dringende Wunsch, das lästige und un- 
bequeme Kind los zu werden in den einen und das Verlangen, das 
geliebte Kind vor der Fürsorgeerziehung zu »bewahren« in den 
anderen Fällen, sind hier besonders gefährliche Quellen der Täuschung 
für uns, auf die ich ausdrücklich hinweisen möchte. 

Die wertvollsten und besten Berichte erhalten wir unter diesen 
Umständen von wohlmeinenden Stief- oder Pflegemüttern, die 
durch jahrelange Fürsorge für das Kind seine Eigenheiten gut kennen 
und ohne Trübung durch zu nahe Bande des Blutes die Objektivität 
der Beurteilung sich bewahrt haben. Viel schlechter pflegen die Be- 
richte der wirklichen Eltern zu sein. Helfend und unterstützend für 
uns tritt dabei jedoch in Wirksamkeit, daß wir dann Gelegenheit 
haben zu sehen, welcher Art die wichtigsten charakterologischen 
Eigenschaften eben dieser das Kind begleitenden Eltern sind, und 
aus der Erfahrung heraus, daß, wie ich kurz in der Poliklinik zu 
sagen pflege, vom Apfelbaum nur Äpfel und vom Pflaumenbaum nur 
Pflaumen kommen, unser Urteil über die grundlegenden psychischen 
Elemente des Kindes durch die unmittelbare Beobachtung gleicher 
oder ähnlicher Eigenarten bei den Eltern unterstützt und ergänzt 
werden kann. Diese Feststellung gewinnt noch erhöhte Bedeutung 
dadurch, daß wir von den wirklichen Eltern am besten auch über 
den weiteren Stammbaum oder richtiger gesagt die Ahnentafel des 
Kindes mancherlei erfahren können, was oft wichtige Rückschlüsse 
auf das Kind zuläßt, da eben gleichartige Vererbung um so häufiger 
anzutreffen ist, je mehr es sich um diese die Persönlichkeit bilden- 
den Grundelemente des Seelenlebens handelt. Auch verdient erwähnt 
zu werden, daß wir unverhältnismäßig häufig auch einen ungefähr 
gleichartigen Grundcharakter beider Eltern feststeilen können, da 
rohe und wenig differenzierte, brutale und egoistische Menschen ver- 
schiedenen Geschlechts meist ebenso sehr gegenseitig sich anziehen 
und sich ehelich verbinden, wie fein differenzierte, kulturell oder 
ethisch hochstehende Naturen. 


28 A. Abhandlungen. 
Bei der Befragung selbst werden wir, wie aus dem vorher Ge- 
sagten sich von selbst ergibt, meist unter Überwindung eines ge- 
wissen Widerstrebens der Angehörigen, die nur an den gegenwärtigen 
und sie besonders störenden Eigenschaften des Kindes zu haften 
pflegen, unser ganzes Augenmerk richten müssen auf die psychischen 
Eigenschaften des Kindes in seiner allerfrühesten Zeit, auf den 
Zeitpunkt des Auftreteus der einzelnen, beobachteten Störungen 
und vor allem auf diejenigen Äußerungen des Gefühls- und Willens- 
lebens, die oben als charakteristisch für das normale und für das 
psychopathische Kind zusammengestellt worden sind. Die auch dann 
noch uns unterlaufenden, nicht immer ganz vermeiabaren Täuschungen 
und Irrtümer werden am besten verringert, wenn es uns gelingt, ob- 
jektive Berichte über das Kind von verschiedenen Seiten, z. B. 
getrennt von Vater und Mutter, Pflegemutter, Lehrer, Erzieher und 
anderen Personen zu erhalten und wenn wir zugleich von sach- 
verständiger Seite auch über Fragen aus dem Milieu des Kindes 
aufgeklärt werden, die von den Eltern aus begreiflicher Scham oder 
sonstigem persönlichen Interesse verschwiegen oder abgeleugnet werden. 
Die objektiven Berichte der Helferinnen und Helfer der Jugend- 
fürsorge und der Jugendgerichtshilfe sind daher bei genügender Schulung 
dieser Helfer im Beobachten und Referieren sehr wertvoll für uns. 
Einen wirklichen Ersatz für das Fehlen solchen objektiven Be- 
richtes können wir selbst uns bisher nur schwer beschaffen. Eine 
kurzfristige Aufnahme z. B. in unsere Klinik, wo die Kinder dann zu- 
sammen mit erwachsenen Kranken untergebracht sind, hat die früher 
von uns gehegten Hoffnungen nicht erfüllt, da die damit verbundene 
Milieuänderung allzu gewaltig ist und alle Reaktionen des Kindes auf 
die Umwelt dadurch sofort in solchem Maße beeinflußt werden, daß 
man ein Urteil über die Frage, wie die gewöhnlichen alltäglichen 
Lebensreize auf das Kind einwirken, doch nicht erhält. Größere 
Hoffnungen setzen wir auf die Einrichtung von besonderen Horten 
oder Tagesheimen für psychopathische Kinder, über die am Nach- 
mittag berichtet werden soll. Ihr Wert liegt darin, daß der Unter- 
schied zwischen dem Leben zu Hause und dem Leben in solchem 
Hort grundsätzlich nur gering ist; schon nach kurzer Zeit wird auch 
hier das Kind daher alle diejenigen abnormen Reaktionen erkennen 
lassen, die aus seiner Veranlagung entspringen, und die geschulten 
Leiter solcher Horte werden hoffentlich zu wichtigen Referenten für 
uns werden. Im Gebiet der Fürsorge der Schulentlassenen werden 
uns besondere Beobachtungsabteilungen mit mehrmonatigem 
Aufenthalt vielleicht das hier besonders schwer beschaffbare Material 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 29 
bringen können. Das umfangreiche Buch von Gregor und Voigt- 
länder aus dem Heilerziehungsheim Klein-Meusdorf bei Leipzig ist 
ein schöner Anfang dazu. — 


Wesentlich kürzer, meine verehrten Damen und Herren, als die 
erste Hälfte des mir gestellten Themas, kann nun die zweite Hälfte, 
d. i. die Frage nach der Behandlung der psychopathischen Kinder 
und Jugendlichen erledigt werden. Ihre Beziehungen zu den mehr 
praktischen, am Nachmittag zu behandelnden Problemen sind so innige, 
daß ich mich hier auf den mehr theoretischen und grundsätz- 
lichen Teil der Frage beschränken und mich daher kurz fassen kann. 

Das Ziel unserer Behandlung, das ist die Abreagierung der 
zu starken und die Stärkung der zu schwachen triebhaften 
Tendenzen und Gefühle einerseits und andererseits die Ausgleichung 
der gestörten Maßbeziehungen dieser Gefühle und Willens- 
strebungen untereinander, im ganzen also die Schaffung harmonischer, 
in sich gefestigter, willensstarker Persönlichkeiten, kann nur auf dem 
Wege erreicht werden, daß wir durch Kombinierung von Belehrung 
und Erlebenlassen die meist schon eingewurzelten falschen und 
schädlichen Gefühlsbeziehungen zur Außenwelt durchbrechen, daß wir 
durch bessere sie zu ersetzen uns bemühen und sie dann durch Ge- 
wöhnung und Übung soweit fixieren und mechanisieren, daß später 
im durchschnittlichen Milieu des gewöhnlichen Lebens die Jugend- 
lichen den für sie selbst und für die Allgemeinheit nützlichen und 
richtigen Weg auch ohne unsere Hilfe zu gehen imstande sind. 

Der einfachste und zugleich erfreulichste Weg, auf dem wir dies 
Ziel erreichen können, besteht darin, daß wir die unsere Beratung 
wünschenden Eltern nach eingehender Besprechung und nach sorg- 
fältiger Untersuchung des Kindes aufklären über die innigen Be- 
ziehungen, die zwischen den seelischen Anomalien des Kindes und 
den Schwierigkeiten, die es bei der Erziehung bereitet, bestehen, und 
daß die Eltern dann unsere Ratschläge über die besondere Art der 
weiteren Behandlung ihres Kindes befolgen. Daß auf diesem Wege 
unter günstigen Umständen und bei nur mäßiger Intensität der 
Psychopathie durchaus gute Erfolge erzielt werden können, lehren 
mich so manche Fälle der Privatpraxis, die ich habe längere Zeit 
verfolgen können. 

Im ganzen genommen aber sind sie leider die Ausnahme. In 
der Regel sind beide Eltern oder ist wenigstens einer von ihnen in 
solchem Maße reizbar, einseitig oder innerlich unausgeglichen, daß 
auch der andere von ihnen selbst bei bestem Verständnis und bestem 


30 A. Abhandlungen. 
Willen eben nicht in der Lage ist, die in seinem Hause auf das 
Kind einwirkenden äußeren Einflüsse wirklich umzugestalten und das 
Milieu ruhiger Sachlichkeit und freundlicher Festigkeit bei 
der Erziehung des Kındes zu schaffen, das eben die Voraussetzung 
bildet für jeden Erfolg; oder es sind rein äußerliche Verhältnisse — 
Tod oder dauerndes Fernsein der Eltern zur Berufsarbeit, Krankheit, 
bedrängte wirtschaftliche Lage usw. — die eine Befolgung der von 
uns gegebenen Regeln für die Behandlung des Kindes verhindern. 
In der überwiegenden Zahl der Fälle ist daher leider die partielle 
oder gänzliche Herausnahme des Kindes aus dem Elternhause 
und seine Versetzung in ein neues, von uns eigens dazu geschaffenes 
Milieu, in dem es, wie im Hort, für die Freistunden, oder wie im 
Tagesheim bezw. einer wirklichen Erziehungsanstalt Tag und Nacht, 
Sonntag nnd Alltag unter dieser besonderen grziehlichen Einwirkung steht. 
Die erziehliche Einwirkung selbst ist naturgemäß doppelter Art 
und besteht einmal in Belehrung, bei den Jüngeren vor allem in 
der Form des Schulunterrichts, bei den Älteren in der Form der 
speziellen beruflichen Ausbildung; des weiteren aber in der Über-. 
wachung und sorgfältigen Regulierung des Verhaltens, besonders des. 
Gemeinschaftslebens in den Freistunden. Für beide Arten der Be- 
einflussung ist eine Trennung in Gruppen nach der Höhe der in- 
tellektuellen Begabung, also Abtrennung der Schwachsinnigen 
von den durchschnittlich Begabten ganz unerläßlich, da die Schwach- 
sinpigen sonst die intellektuelle Förderung der anderen hemmen und 
beeinträchtigen und zugleich in unerfreulicher Weise für die übrigen 
eine Versuchung bilden, sich innerlich über sie zu erheben und durch 
Necken, Hohn, Spott, Verführung sie zu schädigen. Gerade die Be- 
kämpfung solcher unerwünschten und unsozialen Gefühle, wenn sie 
da sind und die Verhinderung ihrer Entwicklung, wenn sie noch 
nicht da sind, ist ja aber eines der Ziele unserer Bemühungen. 
Unerläßlich ist weiterhin die Trennung der Geschlechter. 
Das ist an sich bedanerlich. Denn für alle Kinder und Jugendlichen, 
ganz besonders für einen Teil der Psychopathen unter ihnen, ist die 
Eıhaltung oder Anbahnung eines harmlosen Zusammenlebens und 
Verkehrs der Geschlechter miteinander, wie sie die normale Zusammen- 
setzung einer Familie bietet, von außerordentlichem Wert für die Aus- 
bildung eines harmonischen Seelenlebens. Wenn wir trotzdem schon 
für die geistig Normalen die Zusammenfassung der Geschlechter 
für die älteren Schulkinder im Unterricht ablehnen, so liegt der Grund 
darin, daß eben das Tempo der intellektuellen Reifung in der Pubertät 
und den Jahren kurz davor bei beiden Geschlechtern ein durchaus 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 31 





verschiedenes ist und bei gemeinsamem Unterricht immer entweder 
die Knaben oder die Mädchen zu kurz kommen müssen. Wenn wir 
für die Psychopathen auch die Zusammenfassung in der Erziehung 
außerhalb des Unterrichts ablehnen müssen, so liegt das darin, 
daß eben bei einem nicht unbeträchtlichen Teil von ihnen, ganz be- 
sonders der Mädchen, das sexuelle Fühlen krankhafte Frühreife und 
auch sonst Abweichungen zeigt, die zu beseitigen oder zu mildern 
eben nur bei Trennung möglich ist, und deren Fortbestehen die 
Erziehung auch der übrigen gefährden würde. 

Nötig ist ferner eine grundsätzliche Trennung der Schul- 
pflichtigen von den Schulentlassenen, um schädliche Be- 
einflussung der Jüngeren durch die schon geschlechtsreifen, vielfach 
sittlich verdorbenen älteren Knaben und Mädchen zu vermeiden. 

Nicht nötig dagegen erscheint eine noch weitere grundsätzliche 
Trennung nach dem Lebensalter, da gerade das Zusammenleben z. B. 
der älteren und jüngeren Schulkinder vielfach Gelegenheit gibt zur 
Entwicklung erwünschter, gemütlicher Beziehungen in der Form der 
Pflege, des Leitens und Beschützens der Jüngeren durch die Älteren. 
Nicht nötig ist auch, wie unsere Erfahrung in Templin zeigt, die 
Trennung etwa der einzelnen Formen der psychopathischen Kinder 
voneinander, da auch hier das Zusammenleben der verschiedenen, ja 
auch der fast entgegengesetzt gearteten Charaktere mehr ausgleichend 
als hemmend auf das Erziehungswerk einwirkt. — 

Auf den schulmäßigen Unterricht selbst einzugehen, ist kaum 
Sache des Psychiaters. Nötig ist nur, grundsätzlich, mit Rücksicht 
auf die gesteigerte Ermüdbarkeit und Konzentrationsunfähigkeit eines 
Teils unserer Psychopathen, die Dauer der einzelnen Lektionen kurz 
— nicht über 30 bis 40 Minuten — zu bemessen und für reichliche 
Abwechslung bei der Zusammenfügung der Lektionen zu sorgen. 
Daß im Unterricht selbst alles mechanische Erlernen auf ein Mindest- 
maß beschränkt und der Nachdruck bei allem auf die Bildung und 
Festigung der höheren ethischen und sozialen Gefühle gelegt werden 
muß, bedarf keiner weiteren Begründung. Religion und, Geschichte, 
besonders die vaterländische Geschichte, müssen neben der Pflege 
der Realien daher naturgemäß im Vordergrund stehen; auch ein 
richtig angelegter Unterricht in der Naturgeschichte ist geeignet, hier 
günstig zu wirken. Des weiteren können der Turnunterricht durch 
Übung der Geschicklichkeit, des Mutes und der Tatkraft diese bei 
vielen besonders des passiven Typus darniederliegenden Funktionen 
fördern und entwickeln. 

Im übrigen gibt auch schon der schulmäßige Unterricht an sich 


32 A. Abhandlungen. 

reichlich Gelegenheit zur Übung und Festigung wertvoller Gefühls- 
und Willensregungen durch den Zwang zu Exaktheit und Pünkt- 
lichkeit, zu Ordnung und Sauberkeit, zu Selbstbeherrschung und kraft- 
voller Betätigung der geistigen Kräfte, und: im weiteren zur Ab- 
dämpfung einseitiger, oder Förderung brachliegender Interessen, und 
zur Kultivierung berechtigten Ehrgeizes im Wettbewerb um die An- 
erkennung des Lehrers. Die Zügelung einer überwuchernden 
Fantasie durch immer erneute Fesselung der Aufmerksamkeit und 
des Denkens auf das wirklich Gegebene und seinen logischen Aufbau, 
das ist bei den einen; die Heraushebung der Interessen aus dem 
grob Realen in das Reich weiter gespannter Gesichtskreise des Denkens 
und der Poesie, das ist es, was bei den anderen auch schon im Un- 
terricht erstrebt werden muß und bis zu gewissem Grade erreicht 
werden kann. Voraussetzung dazu sind natürlich kleine, wenn möglich 
ganz kleine Klassen, in denen neben der erzieherisch so nötigen 
Nivellierung für die Mehrzahl der Anforderungen doch auch eine 
weitgehende Zupassung des Lehrstoffes und der Art seiner Behand- 
lung auf die pathologische, psychische Besonderheit des einzelnen 
Schülers bis zu gewissem Grade möglich ist. 

Trotz aller dieser Vorzüge des schulmäßigen Unterrichts und 
der ihnen ähnlichen der beruflichen Ausbildung liegt doch wohl der 
Schwerpunkt der erziehlichen Einwirkung auf unsere Psychopathen 
in der Zeit außerhalb des Unterrichts und der Berufsarbeit. Zu- 
nächst durch weitere Kräftigung der oben erwähnten allgemeinen 
Charaktereigenschaften, die auch schon im Gemeinschaftsleben des 
Unterrichts gefördert werden können. Dazu gehören die in fester 
Tageseinteilung und strammer Hausordnung gelegenen bildenden 
Elemente. Pünktlichkeit im Aufstehen, Essen und Schlafengehen, 
Schnelligkeit und Sauberkeit im Ankleiden und Auskleiden, Pflege 
und Erhaltung der Kleidung und Schuhe, Bewahrung des persönlichen 
Eigentums und Achtung vor dem des anderen, willige und wortlose 
Hinnahme des dargebotenen Essens, das sind nur kurz ein paar von 
diesen still, aber meist um so mächtiger wirkenden Faktoren, als die 
Mehrzahl unserer Kinder vor Aufnahme in die Anstalt unter Be- 
dingungen gelebt hat, die alle diese Elemente der Ordnung nicht ent- 
hielten und die dadurch die schon in der Anlage vorhandene seelische 
Unausgeglichenheit und Unruhe dieser Kinder zu der sozial unerträg- 
lichen Höhe gesteigert haben, derentwegen sie uns zugeführt worden 
sind. Mit größtem Interesse sehen wir daher immer von neuem, daß 
Kinder, die draußen durch ihr Verhalten zu schwersten Reibungen 
mit der Umwelt ständig Veranlassung gaben, allein schon durch 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 33 


m m. DO nn 











die Versetzung in solch ein Leben der Gleichmäßigkeit, Ordnung 
und Exaktheit zur inneren Beruhigung kommen und sofort, als fast 
unauffällige Mitglieder, der neuen Gemeinschaft still sich eingliedern. 
Mit dieser inneren Beruhigung aber ist zugleich der Boden gegeben, 
auf dem nun planmäßig weiter gearbeitet werden kann bis zur Aus- 
füllung möglichst aller seelischen Defekte und Einebnung oder Milde- 
rung krankhafter seelischer Auswüchse oder Einseitigkeiten. 

Wie die junge Pflanze gutes Erdreich, Freiheit, Licht und Sonne 
zum Gedeihen gebraucht, so brauchen auch unsere Kinder, wenn sie 
wirklich gedeihen sollen, Raum und Freiheit zur Übung ihrer Kräfte 
und zu frohem Spiel. Ein Psychopathenheim anzulegen, ohne einige 
Morgen Land für Turnplatz, Hof und Garten und womöglich auch 
Feld und Wald wäre daher verlorene Mühe. Denn gerade diese 
Freiheit der Bewegung, diese Gelegenheit zum jugendlichen Austollen 
und Austoben, zu Beschäftigung und Arbeit in einfachster, natürlicher, 
ländlicher Umgebung, das ist es, was das Knabenherz verlangt und 
dessen Entbehrung schon bei dem normalen Großstadtkinde hemmend 
einwirkt auf die freie Entwicklung der seelischen Kräfte, beim krank- 
kaft veranlagten aber die innere Unausgeglichenheit im Fühlen und 
Wollen in ganz besonderem Maße weiter zu steigern und zu schädigen 
geeignet ist. Neben Hausordnung und fester Tageseinteilung ist diese 
Möglichkeit zu lustvoller Betätigung in freier Natur das zweite, fast 
ohne unser Zutun und mächtig wirksame Moment zur Entlastung und 
zum Ausgleich aller inneren Spannungen und zur oft raschen Wieder- 
gewinnung des verlorenen seelischen Gleichgewichts. Diese Wirkung 
weiter zu fördern durch planmäßigen Ausbau der hier sich bietenden 
Möglichkeiten ist daher eine wichtige und, nicht so sehr im Prinzip, 
als ganz besonders im Einzelfalle schwierige Aufgabe. Ihr reihen 
sich als letztes an die systematische Ausnutzung des kindlichen 
Spieles im Zimmer und im Freien, für sich allein und in sorgfältig 
überwachter Gemeinsamkeit. 

Machen wir uns einmal klar, daß alles Spiel der kleinen und 
jugendlichen Menschen, ebenso wie das der höheren Tiere, soweit 
diese ein Jugendleben haben, der Ausdruck triebhafter artkonstanter 
Tendenzen ist, deren biologischer Zweck darin liegt, alle durch die 
ererbte Struktur des Zentralnervensystems und des ganzen Organismus 
gegebenen Betätigungsmöglichkeiten, oder wie Bühler es treffend 
nennt, ihre »plastischen Anlagen« durch Übung und Ausbildung zu 
entwickeln, bis daß das reife Individuum fähig wird zur selbständigen 
Erhaltung und Behauptung seines eigenen Lebens und zur glatten 
Einordnung in den staatlichen und gesellschaftlichen Organismus; und 

Zeitschrift für Kinderforschung. 25. Jahrgang. i 


Fr el ae a,” 


34 A. Abhandlungen. 


bedenken wir weiterhin, daß, wie Lloyd Morgan sich einmal aus- 
drückt, die Harmonie zwischen dem biologisch Wertvollen und der 
individuellen Befriedigung eine ursprüngliche Tatsache ist, die wir 
voraussetzen müssen, wenn wir das Leben verstehen wollen, dann 
können wir die Bedeutung des Spieles für die Entwicklung aller 
seelischen Kräfte, ganz besonders derjenigen des Gefühls- und Willens- 
lebens für unsere psychopathischen Kinder gar nicht hoch genug 
einschätzen, und müssen seiner Pflege unsere ganz besondere Sorgfalt 
entgegenbringen. Hier liegt die Quelle aller Lust und Freude, aller 
Strebungen und Betätigungen, die zu höheren Gefühlen und zu edleren 
Willensimpulsen, wie das Gemeinschaftsleben im modernen Staat es 
verlangt, zu fördern unser Ziel und unsere Aufgabe ist. 

Bei den rohen, groben, rein egoistisch eingestellten Psychopathen 
mit ihren Tendenzen zur Entgleisung der Gefühle in wilde Herrsch- 
sucht, Grausamkeit und Heimtücke bietet sich hier Gelegenheit, im 
Gemeinschaftsspiel die Folgen immer von neuem erleben zu lassen, 
die sich aus der hemmungslosen Befriedigung ihrer Wünsche ergeben. 
Die ebenso gewaltsame Reaktion gleich rücksichtsloser Kameraden 
. wirkt ganz von selbst dämpfend auf solche Betätigung und führt all- 
mählich zu der von entsprechenden Gefühlen begleiteten Erkenntnis, 
daß die Zügelung der Wünsche des Augenblicks schon für die nahe 
Zukunft höhere und nachhaltigere Freuden verschafft als das Sich- 
gehenlassen im Augenblick. Bei stündlich und täglich wiederholten 
Erfahrungen der gleichen Art verlieren so die elementaren, rohen 
Instinkte an Kraft und an ihre Stelle treten, besonders wenn der 
Leiter durch geschickte Anknüpfung an prägnante Einzelerlebnisse 
ihre Wirkung belehrend ausbaut, allmählich neue Kräfte, die zur 
Selbstzucht und Selbstbeherrschung führen; so wird die Übung 
in der Einfügung in die kleine Welt des Kindes zur Vorübung für 
die glatte Einordnung des Erwachsenen in die große Welt der sozialen 
und staatlichen Gemeinschaft. Auch kleine Belohnungen und Strafen, 
besonders in Form der Verweigerung oder Genehmigung lange be- 
stehender Wünsche nach irgend einem Genuß, können zur Zügelung 
allzu starker Affekte und zur Veredlung der triebhaften, egoistischen 
Tendenzen Wesentliches beitragen. Auch die Übertragung von kleinen 
Aufgaben und Ämtern, die Selbstbeherrschung, Ehrlichkeit und Treue 
erfordern, wie Einkäufe, besonders von Lebensmitteln, zu machen, 
Geld zur Post zu tragen, dauernd die Pflege bestimmter Haustiere 
zu besorgen und ähnliche, mit zunehmender Steigerung der dazu 
nötigen Selbstüberwindung, ist ein weiteres Mittel zum gleichen 
Ziele. 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 35 





Ist es bei dieser ersten Gruppe mehr das Hemmen, das Wehren 
und das Beschneiden allzu üppiger Antriebe, so habon wir bei der 
zweiten Gruppe umgekehrt unser Augenmerk darauf zu richten, daß 
sie ihre Schüchternheit und Ängstlichkeit überwinden, Mut und Ver- 
trauen zu sich selbst und zu ihren Leistungen gewinnen. Mehr Lob 
also und Belohnung bei kleinen Leistungen, bei gelungener Über- 
windung der Neigung zum Weinen und Verzweifeln über kleine Fehl- 
schläge, mit langsamer Steigerung der geforderten Aufgaben; weit- 
gehende Berücksichtigung ihrer Neigung zu friedlich-harmlosen Be- 
schäftigungen, wie Pflege der Blumen und kleinen Haustiere; Herab- 
minderung der so oft bestehenden Tendenz zu einsamem Grübeln oder 
allzu starker Reflexion über sich selbst, durch Öffnen von Auge und 
Ohr für die Natur und für die realen Forderungen des Lebens; 
Schulung in der Beherrschung von angenblicklichen Mißgefühlen oder 
Stimmungen; Zusammenführung ähnlich gestimmter Naturen zu 
Knüpfung von Freundschaften; Zuweisung jüngerer Kameraden, die 
sie ihrerseits beschützen und anleiten sollen, Stärkung des Selbstbewußt- 
seins durch Übertragung kleiner Ämter im Hause, die sonst nur den 
Großen und Willensstarken vorbehalten sind und wirkliche Verant- 
wortung erfordern. Das sind so einige Gesichtspunkte, die bei der 
Behandlung dieser allzu weichen und empfindsamen, zu Stimmungs- 
schwankungen und Einseitigkeiten neigenden Kinder in Betracht 
kommen. Unterstützt muß die Behandlung bei ihnen stets werden 
durch sorgfältigste Berücksichtigung ihrer oft wenig guten allgemeinen 
körperlichen Gesundheit und ihrer dauernd gesteigerten Ermüdbarkeit. 
Vermehrter Nachtschlaf, regelmäßige Mittagrube, häufigere und kleinere 
Mahlzeiten, Abhärtung des Körpers durch Luft- und Wasseranwendung 
und andere speziell medizinische Maßnahmen sind bei ihnen zur Er- 
gänzung der rein pädagogischen Behandlung kaum je entbehrlich. 
Durch die gemeinsame Wirkung solcher körperlicher, psychischer und 
unmittelbar pädagogischer Beeinflussung gelingt es auch hier fast 
immer allmählich, seelische Schwächen und Disharmonien auszugleichen 
und wenigstens leidlich willensstarke, für das Leben brauchbare 
Menschen aus ihnen heranzubilden. 

Daß unter diesen Umständen die eigentliche Leitung eines Psy- 
chopathenheimes oder, wie wir deutsch sagen können, eines Heil- 
erziehungsheimes, in den Händen eines erfahrenen Pädagogen 
liegen muß, bedarf keiner weiteren Begründung. Die Aufgabe des 
Psychiaters wird es lediglich sein, auf Grund eingehender körperlicher 
und psychischer Untersuchung die Auswahl derjenigen Kinder zu 
treffen, für die die Aufnahme in ein solches Heim unerläßlich ist 

3* 


36 A. Abhandlungen. 


— — — — 





und den Pädagogen darüber zu beraten, welche besonderen krank- 
haften Eigentümlichkeiten dem einzelnen Kinde innewohnen und auf 
welchem Wege sie erzieherisch günstig beeinflußt werden können. — 

Für die Prognose, also die Frage, ob eine Beseitigung der 
psychopathischen Anomalien durch eine solche heilpädagogische Ein- 
wirkung überhaupt möglich ist, werden wir in Betracht ziehen müssen, 
daß allen schwereren Störungen grundsätzlich Disharmonien der an- 
geborenen, meist nachweislich ererbten Funktionen des seelischen 
Lebens zugrunde liegen, eine völlige Beseitigung dieser charaktero- 
logischen Elemente also kaum zu erwarten ist. Im Gegensatz zu einer 
eigentlichen Krankheit, die eine Störung der Funktionen des Orga- 
nismus in sich begreift mit einem bestimmten Anfang, mehr oder 
minder typischem Verlauf und Ausgang, werden wir also bei den 
Psychopathen von einer eigentlichen Heilung nicht sprechen dürfen; 
wir werden uns vielmehr darauf beschränken müssen zu fragen, ob 
und wie weit es uns gelingen kann und im Einzelfall gelungen ist, 
die Störungen in der Intensität und den Maßbeziehungen der seelischen 
Anomalien zu mildern, bis zu dem erstrebten Ziel, daß die Kinder 
und Jugendlichen nunmehr fähig geworden sind, ohne unsere be- 
sondere Leitung und Überwachung auf die Reize der Umwelt des 
gewöhnlichen Lebens so zu reagieren, daß sie als brauchbare Mitglieder 
in die menschliche Gesellschaft sich einordnen können. 

Wissenschaftliche und praktische Erfahrungen über die Grenzen 
einer solchen Beeinflussungsmöglichkeit liegen noch nicht in genügender 
Zahl vor. Um sie zu sammeln ist eben ein Zusammenarbeiten 
zwischen Psychiater und Pädagogen und vor allem die Weiter- 
verfolgung des Geschickes derjenigen Kinder nötig, die nach ge- 
nauer Fixierung ihrer seelischen Anomalien Jahre hindurch einer 
solchen heilpädagogischen Einwirkung unterworfen worden sind. Die 
bisherigen Erfahrungen, besonders meine persönlichen 5jährigen Er- 
' fahrungen aus dem Heilerziehungsheim der Deutschen Zentrale für 
, Jugendfürsorge in Templin sind erfreulich und ermutigend. 

Sie haben einmal gezeigt, daß alle die Steigerungen der krank- 
haften Anlage, die durch ein ungünstiges Milieu und die individuelle 
Reaktion darauf erzeugt worden sind, relativ rasch und sicher beseitigt 
werden können, und das bedeutet allein schon einen gewaltigen Er- 
folg, der unser zukünftiges Handeln leiten muß. 

Sie haben aber auch weiterhin gezeigt, daß die endogenen psy- 
chischen und charakterologischen Besonderheiten des einzelnen Kindes 
um so weniger einer Beeinflussung zugängig sind, je näher der ab- 
norme Zustand den echten nervösen und geistigen Krankheiten steht, 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 37 





oder gar als Vorläufer dazu angesehen werden muß. Die zu endo- 
genen Verstimmungen und sinnlosen Wut- und Jähzornausbrüchen 
neigenden sogenannten epileptoiden Psychopathen eignen sich 
daher, ebenso wie die an länger dauernden Stimmungssch wankungen 
im Sinne des manisch-depressiven Irreseins leidenden oder die ganz 
bizarren, eine einheitliche Persönlichkeit überhaupt kaum noch be- 
sitzenden, der Hebephrenie nahestehenden Jugendlichen, kaum für die 
Aufnahme in ein Psychopathenheim; ist die eigentliche Natur dieser 
Kinder im Heim klar erkannt und baldige Beseitigung der Störungen 
nicht erzielt worden, dann wird vielmehr zur Vermeidung unnützer 
Geldausgaben oder von Schädigungen der übrigen, bei großer Inten- 
sität der Störungen Überweisung in eine geschlossene Irrenanstalt zu 
erwägen sein. 

In allen übrigen Fällen werden wir auf Erfolge hoffen können; 
zwar nicht in dem Sinne, daß wir die Triebstärke und Aktivität, die 
Regsamkeit, die Lebhaftigkeit der Fantasietätigkeit oder die Neigung 
zu schüchterner Abschließung, zu Selbstbetrachtung und Einseitigkeit 
gänzlich in das Gegenteil umkehren können, aber doch in dem Sinne, 
daß wir die Intensität dieser Tendenzen und Gefühlsregungen und ' 
ihre Maßbeziehungen zueinander mildern und ausgleichen und 
so die psychische Grundlage verbessern können, auf der eine individuell 
und sozial erfreulichere Persönlichkeit sich entwickeln kann. Ganz 
besonders gilt diese günstige Beeinflussungsmöglichkeit für alle die 
Fälle, in denen die Überempfindlichkeit gegen alle aus dem Organis- 
mus und der Außenwelt stammenden Reize mit ihren Begleit- 
erscheinungen der gesteigerten Reizbarkeit, Ermüdbarkeit und Kon- 
zentrationsunfähigkeit, sich kombiniert mit körperlichen Schwäche- 
zuständen. Denn hier steht uns der doppelte Weg der Besserung 
durch körperliche und psychische Behandlungsmethoden zur Ver- 
fügung, und daß gerade hier die besten Ergebnisse erzielt werden, 
darüber kann die Erfahrung schon als abgeschlossen angesehen 
werden. 

Im übrigen können wir prinzipiell nur sagen, daß die Aussichten 
auf Erfolge um so größer sind, je früher die psychopathischen Ano- 
malien bei einem Kinde erkannt werden, je schneller, sachlicher und 
andauernder sie heilpädagogisch behandelt werden und je langsamer 
und milder sich der Übergang gestaltet von dem sorgfältig über- 
wachten Anstaltsleben bis hinaus in die selbständige Betätigung in 
einem bürgerlichen Beruf. Diesen Übergang stufenmäßig zu gestalten 
und neue Einrichtungen zu schaffen zur Vertiefung und Festhaltung 
der mühsam errungenen Erfolge auch bei den aus unseren Anstalten 


38 A. Abhandlungen. 








Entlassenen wird eine letzte, und nicht die unwichtigste Aufgabe der 
Psychopathen-Fürsorge sein. — 

Große und schwierige Aufgaben also eröffnen sich uns auf allen 
Seiten. Ihre Lösung anzubahnen ist das Ziel unserer heutigen Tagung. 
Mögen ihr reiche Erfolge beschieden sein, zum Segen unseres geliebten 
Vaterlandes, das in diesen so furchtbar ernsten Zeiten seelisch ge- 
festigte, willensstarke Männer und Frauen mehr wie jemals nötig hat 
und für die Zukunft nötig haben wird. 





Geheimrat Dietrich spricht Herrn Professor Stier für seinen 
klaren und ausführlichen Bericht den herzlichsten Dank aus und er- 
teilt das Wort 

Herrn Professor Dr. Kramer- Berlin zu seinem Referat über 


Psychopathische Veranlagung und Straffälligkeit im 
Jugendalter. 


Hochansehnliche Versammlung! Meine Damen und Herren! 


Unter den Fragen, die uns bei dem psychopathischen Kinde be- 
schäftigen, steht wegen der besonderen praktischen Bedeutung mit 
an erster Stelle die Straffälligkeit. 

Wenn Sie das überblicken, was Ihnen von den Herren Vorrednern 
über die Besonderheiten des psychopathischen Kindes gesagt worden 
ist, so werden Sie daraus entnehmen können, daß bei vielen dieser 
Jugendlichen die Vorbedingungen für den Verfall in Kriminalität ge- 
geben sind. Es handelt sich hierbei nicht um eine besondere psy- 
chische Äußerung des abnormen Kindes, sondern um Handlungen, 
die sich in dem Rahmen der sonstigen Schwierigkeiten, die diese 
‚Kinder in der Erziehung machen, bewegen. Auf Grund ihrer ab- 
normen Veranlagung fügen sich viele von ihnen schwer in die Ord- 
nung, sie machen der Erziehung Schwierigkeiten, begehen Handlungen 
unsozialer Art, durch die sie dann auch schließlich in Konflikt mit 
dem Strafgesetz kommen. Das was den normalen Menschen von 
kriminellen Handlungen abhält, sind vor allem die Hemmungen, die 
ihn daran hindern, triebhaften Anregungen und Impulsen nachzugeben, 
wenn sie mit einer Schädigung anderer Menschen, mit einer Über- 
tretung der Rechtsordnung verbunden sind. Diese Henmiungen liegen 
teils auf intellektuellem Gebiet, es sind Überlegungen über die Folgen 
der Handlungen; insbesondere liegen sie aber auf affektivem Gebiet, 
es sind die ethischen Gefühle, das Mitleid mit den Geschädigten, die 
Furcht vor der zu erwartenden Strafe, ferner die affektivren Momente, 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 39 
die mit der Vorstellung der Nichtachtung anderer Menschen usw. ver- 
bunden sind u. a. mehr. Alle diese Hemmungen sind naturgemäß 
beim Kinde zunächst noch nicht vorhanden, sondern bilden sich erst 
während der geistigen Entwicklung allmählich zur vollen Wirksamkeit 
aus. Dem wird ja auch in dem Strafgesetzbuch Rechnung getragen, 
indem erst vom vollendeten 12. Lebensjahre an das Kind als straf- 
mündig gilt und für seine Straftaten verantwortlich gemacht wird.!) 
Bei dem psychopathischen Kinde sehen wir in vielen Fällen, daß die 
Entwicklung dieser Hemmungen nur mangelhaft erfolgt, bezw. zeit- 
lich zurückbleibt:. Es liegt hierbei kein Defekt intellektueller Art 
vor, denn bei den psychopathischen Kindern handelt es sich vor allem 
um Individuen, die in ihrer Verstandesentwicklung nicht zurück- 
geblieben sind, doch sehen wir, daß die verstandesmäßigen Über- 
legungen, auch wenn sie auf Befragen in ganz normaler Weise produ- 
ziert werden 'können, im Augenblick, wo stärkere triebhafte An- 
regungen erfolgen, ihre Wirksamkeit im hemmenden Sinne nicht ent- 
falten können. Das gleiche gilt auch für die Hemmungen affektiver 
Art, wobei noch hinzukommt, daß, wie Sie gehört haben, bei manchen 
Typen der psychopathischen Kinder eine Abstumpfung des Affekt- 
lebens besteht, die sich insbesondere auf die auf ethischem Gebiete 
liegenden Affektmomente bezieht. Infolge des Ausbleibens und der 
Wirkungslosigkeit der hemmenden Einflüsse kommt es, daß diese 
Kinder ihren oft auch in abnormer Weise gesteigerten triebhaften An- 
regungen unbekümmert um die daraus entstehenden Folgen nachgeben. 

Diesen theoretischen Überlegungen entspricht auch die praktische 
Erfahrung. Wir sehen es nicht ganz selten, daß Kinder, die wegen 
ihrer psychopatnischen Eigenschaften zu uns gebracht werden, uns 
dann später von ihren Eltern wieder zugeführt werden, weil sie in- 
zwischen kriminell geworden sind. 

Ferner lehrt die Erfahrung, daß sich unter der Gesamtzahl der 
straffälligen Kinder und Jugendlichen ein großer Prozentsatz psycho- 
pathischer Individuen befindet. Wir haben in Berlin eine besonders 
günstige Gelegenheit zu dieser Konstatierung, die übrigens auch den 
anderwärts gemachten Erfahrungen entspricht. An dem Amtsgericht 
Berlin-Mitte ist vor längeren Jahren unter dem Einflusse des ver- 
storbenen Geheimrates Köhne eingeführt worden, daß sämtliche jugend- 
lichen Angeklagten psychiatrisch untersucht werden. Hierdurch ge- 
winnt man einen Überblick über die Gesamtzusammensetzung dieses 


1) Diese Grenze wird jetzt fast allgemein als zu niedrig angesehen. Es wird 
deswegen angestrebt, sie bis zum 14. Jahre heraufzusetzen. 


40 A. Abhandlungen. 


Materials. Es hat sich nun ergeben, daß unter den jugendlichen 
Angeklagten etwa 50°/, psychische Anomalien zeigen. Darunter sind 
nur sehr wenige psychische Erkrankungen schwerer Art, die ja 
überhaupt im Kindesalter selten sind. Den weitaus größten Teil 
machen Schwachsinnszustände meist leichterer Art und dann die 
psychopathischen Konstitutionen aus. Den Zahlenangaben kommt natur- 
gemäß nur eine bedingte Bedeutung zu. Es handelt sich hier um 
Anomalien, die sich vielfach .auf der Grenze zwischen dem Normalen 
und Krankhaften bewegen, und die Grenzfestsetzung zwischen dem, 
was wir als normal und krankkaft anzusehen haben, ist daher immer 
einer gewissen Willkür unterworfen. Infolgedessen werden die Zahlen 
immer je nach dem Untersucher auch an dem gleichen Material etwas 
verschieden ausfallen. Es kann aber gar keinem Zweifel unterliegen, 
daß der Prozentsatz an Psychopathen unter den jugendlichen An- 
geklagten erheblich größer ist, als er der allgemeinen Häufigkeit ent- 
spricht, wie etwa die Prüfung eines beliebig ausgewählten Materials 
an Kindern ergeben würde. Daß es sich nicht nur um ein zufälliges 
Zusammentreffen handelt, sondern daß wir in diesen Fällen die psycho- 
patbische Konstitution als Ursache der Kriminalität ansehen können, 
dafür spricht neben den erwähnten statistischen Gesichtspunkten ins- 
besondere auch der Umstand, daß wir in vielen Fällen zwischen der 
Art des Deliktes und den Besonderheiten der psychopathischen Kon- 
stitution im Einzelfall eine Beziehung herstellen können, daß die 
Straftat in der Art ihrer Ausführung die charakteristischen Züge der 
psychischen Anomalien erkennen läßt. Für den ursächlichen Zu- 
sammenhang sprechen auch noch andere ‚Erfahrungen, wie etwa die, 
daß wir erfahrungsgemäß bei Kindern, die zwar angeklagt sind, aber 
nichts begangen haben, die entweder fälschlisch beschuldigt wurden 
oder Straftaten ganz harmloser Natur, die keinen unsozialen Charakter 
erkennen lassen, ausgeführt haben, psychische Anomalien erheblich 
seltener finden als bei den anderen. Ferner scheint es mir nach unseren 
Erfahrungen, die allerdings statistisch noch nicht ausreichend be- 
arbeitet sind, daß während des Krieges die Zahl der normalen 
jugendlichen Angeklagten prozentual zugenommen hat. Es ist klar, 
daß durch die besonderen während des Krieges geschaffenen Ver- 
hältnisse Kinder in Kriminalität verfallen, bei denen es unter normalen 
Bedingungen nicht der Fall wäre. Wenn hierdurch die Zahl der 
normalen, nichts Krankhaftes bietenden Kinder verhältnismäßig ver- 
mehrt wird, so geht daraus hervor, daß die psychopathischen Kinder 
diejenigen sind, die unter normalen Bedingungen in verstärktem 
Maße der Straffälligkeit zuneigen. 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 41 





Eai 


Aus dem, was Ihnen von Herrn Professor Stier gesagt worden 
ist, geht schon ohne weiteres hervor, daß keineswegs alle psycho- 
pathischen Kinder und Jugendlichen in der gleichen Weise der Ge- 
fahr in Kriminalität zu verfallen, ausgesetzt sind. Während bei 
manchen Typen diese Gefahr gar nicht, manchmal sogar vielleicht 
in geringerem Maße als beim normalen vorliegt, so neigen wieder 
andere Typen durch die Art ihrer Anomalien in ganz besonderer 
Weise zu unsozialen und straffällgen Handlungen. Hervorheben 
möchte ich, daß wir psychische Erkrankungen, die sich lediglich in 
einer Neigung zum Verbrechen, und zwar zu Verbrechen bestimmter 
Art, zeigen, medizinisch nicht kennen. Krankheitsbilder, wie sie in 
Laienkreisen häufig genannt werden, wie Kleptomanie oder Pyromanie 
und ähnliche in dem Sinne, daß hier ein unbezwingliche: Hang zum 
Stehlen oder zum Brandstiften als einzige oder wesentliche Krankheits- 
äußerung besteht, gibt es nicht. Wohl gibt es Individuen, welche 
aus krankhaften Gründen stehlen oder Brandstiftungen begehen, aber 
es sind bei diesen Menschen immer psychische Anomalien anderer 
Art nachweisbar, und die Art des Deliktes ist auch in der Regel 
nicht von der Art der Erkrankung eindeutig bestimmt, sondern hängt 
aaßerdem noch in mehr oder minder hohem Maße von den äußeren 
Bedingungen ab. 

Wenn ich im folgenden nun den Versuch mache, Ihnen an 
einigen psychopathischen Typen die für sie charakteristischen Delikte 
in knappen Umrissen zu schildern, so möchte ich noch vorausschicken, 
daß bei der großen Mannigfaltigkeit, die die psychopathischen Kinder 
in ihren Symptomen darbieten, die Einteilung erhebliche Schwierig- 
keiten macht, und daß die verschiedenen Typen vielfach Übergänge 
und mannigfache Kombinationen miteinander zeigen. 

Am bedenklichsten in sozialer Beziehung ist der Ihnen von 
Herrn Prof. Stier geschilderte Typus des rohen, brutalen, egoistischen 
Kindes, das eine Abstumpfung seiner ethischen Gefühle, Abstumpfung 
der Affekte, wie Furcht, Mitleid erkennen läßt, das seinen Trieb- 
anregungen in ungehemmter und durch Rücksichtnahme auf die Um- 
gebung nicht beeinträchtigter Weise folgt. Die Delikte dieses Typus 
liegen auf der Hand. Es sind in erster Linie Eigentumsdelikte, die 
überhaupt bei den Straftaten der Kinder und Jugendlichen den 
weitaus größten Prozentsatz einnehmen. Ein Kind dieser Art eignet 
sich in rücksichtsloser Weise die Gegenstände an, die es zu haben 
wünscht, so wie die Gelegenheit sich bietet, ißt zu Hause in egoistischer 
Weise alles Erreichbare weg, führt Raubanfälle auf andere Kinder 
aus, denen es Geld oder Eßwaren wegnimmt, begeht auch unter Um- 


42 A. Abhandlungen. 

ständen Roheitsakte gegenüber anderen Kindern. Die Strafen prallen 
meist ohne Wirkung ab, auch wirken körperliche Züchtigungen wegen 
der häufig bei diesem Typus vorhandenen Abstumpfung der Schmerz- 
empfindlichkeit nur wenig. Diesem Typus in manchen Beziehungen 
ähnlich, doch von ihm zu unterscheiden ist ein anderer. Es handelt 
sich hier um Kinder von einer gesteigerten Aktivität und Lebhaftig- 
keit, die viel interessiert, vielgeschäftig mit einem starken Betätigungs- 
drang begabt sind. Sie sind meist intellektuell gut veranlagt, zeigen 
jedoch in ihren Beschäftigungen meist keine sehr große Ausdauer, 
sind etwas sprunghaft und leicht abgelenkt. Sie verstehen es meist 
sich beliebt zu machen, ihren Vorteil gut wahrzunehmen. Diese 
Kinder “machen mit all diesen Eigenschaften, wenn sie in starker, 
das normale Maß übersteigender Weise ausgebildet sind, in der Er- 
ziehung meist erhebliche Schwierigkeiten, auch sie lassen sich in 
ihrer Rücksichtslosigkeit und gesteigerten Aktivität nicht selten Über- 
griffe zu schulden kommen, die sie in Konflikt mit dem Strafgesetz 
bringen. Die Delikte dieses Typus sind den des erst geschilderten 
oft sehr ähnlich, doch tragen sie meist nicht den gleichen bösartigen 
Charakter und ähneln in mancher Beziehung mehr dem, was man bei 
normalen Kindern findet und als Schabernack und dummen Streich 
bezeichnet. Auch tritt bei diesen Strafhandlungen neben der nicht 
zu verkennenden Rücksichtslosigkeit auch oft eine gewisse Gutmütig- 
keit zutage, die sich z. B. darin äußert, daß diese Kinder das 
widerrechtlich Angeeignete sofort an andere Kinder weiter verschenken 
und weggeben. Ich glaube nach den bisher bestehenden Erfahrungen, 
daß die Prognose dieser Art von psychopathischen Kindern erheb- 
lich besser ist, als die der erst genannten Art. Mit diesem Typus 
häufig verknüpft, aber auch in Kombination mit anderen Arten des 
psychopathischen Kindes finden wir dann die hyperphantastischen 
Formen. Es handelt sich hier um Kinder mit lebhafter Phantasie- 
tätigkeit, die es lieben, sich in ausgedachten Situationen zu bewegen. 
Es besteht eine oft erstaunliche Gewandtheit im Lügen. Die Kinder 
verstehen es mit großer Geschicklichkeit, sich herauszureden, aber 
auch — und das ist besonders für diesen Typus charakteristisch — 
werden in phantastischer Weise erfundene Erlebnisse ohne jeden 
andern Zweck als Eindruck zu machen und sich groß zu tun vor- 
gebracht. Es handelt sich um die Anomalie, die wir psychiatrisch 
als »Pseudologia phantasticac bezeichnen, und die sich von den 
leichten Andeutungen beim normalen Kinde bis zu den ausgeprägtesten 
Formen findet. Die Erfindungen bewegen sich meist auf dem Ge- 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 43 








biete von Prahlereien oder son Erzählungen eindrucksvoller Erlebnisse 
von Unglücksfällen usw. 

Es liegt auf der Hand, welche Delikte auf der Basis dieser 
Anomalien entstehen. Es sind besonders Betrügereien, die in der 
Art ihrer Ausführung mitunter schon Ähnlichkeit mit der Hoch- 
stapelei zeigen. Die besonderen Situationen des Krieges bieten 
diesen Kindern ein reichliches Feld der Betätigung dar. Sie erbieten 
sich, bei Bekannten Lebensmittel zu verschaffen, erzählen in sehr ge- 
wandter und geschickter Weise, auf welche Art sie diese besorgen 
würden und gehen dann mit dem anvertrauten Gelde durch. Auch 
gehören hierher vielfach die Fortläufer, die an die Front fahren, um 
dort Kriegsdienst zu tun oder den Vater zu besuchen, oder die in 
früheren Zeiten zur See gehen wollten oder andere abenteuerliche 
Pläne hatten, wie in die Abruzzen unter die Räuber zu gehen. 
Es ist .oft erstaunlich, mit welcher Gewandtheit diese Kinder ihre 
Pläne ausführen, wie sie in schwierigen Situationen niemals um einen 
Ausweg oder eine Erklärung ihrer ungewöhnlichen Lage verlegen 
sind. Abgefaßtwerden in Obdachlosigkeit, Eigentumsdelikte, um sich 
Nahrungsmittel zu verschaffen, Eisenbahnfahren ohne Fahrkarte sind 
die gewöhnlichsten Fulgen und bringen diese Kinder vor den Straf- 
richter. Ich möchte hier nebenbei noch bemerken, daß das Fort- 
laufen der Kinder mit seinen strafrechtlichen Konsequenzen keines- 
wegs bei diesem Typus allein vorkommt, sondern ein häufiges Vor- 
kommnis bei den verschiedensten Arten der psychopathischen Kon- 
stitutionen ist, das in seiner psychologischen Begründung ganz ver- 
schieden basiert sein kann. 

Ferner ist zu erwähnen der Typus des epileptoiden Psychopathen. 
Es ist dies eine Form, die den psychischen Erkrankungen im engeren 
Sinne schon näher steht, und die ihren Namen davon hat, daß die 
Anomalien den psychischen Symptomen der Epilepsie nahe verwandt 
sind. Gesteigerte Reizbarkeit, Neigung zu Wutausbrüchen, zu Ver- 
stimmungen charakterisieren "ihn. Die damit verbundenen Delikte 
sind vor allem die Folgen der krankhaften Erregbarkeit, die sich in 
Aggressionen auf die Umgebung, eventuell auch Körperverletzungen 
äußert. Auch neigen diese Kinder in ihren Verstimmungen und Be- 
wußtseinstrübungen zu triebartikem Fortlaufen, das sich von dem 
planmäßigen Umbherstreifen der vorher erwähnten Typen durch seine 
Sinnlosigkeit und Triebhaftigkeit unterscheidet und infolgedessen auch 
weniger leicht zu Konflikten mit dem Strafgesetz führt. 

Bei den bisher geschilderten Typen ist die Disposition zu krimi- 
nellen Handlungen ohne weiteres erkennbar, und es entspricht der 


44 A. Abhandlungen. 


Erfahrung, daß gerade diese Typen einen ‚besonders hohen Prozentsatz 
zu den Kriminellen liefern. Aber wir sehen auch bei den psycho- 
pathischen Kindern, die ihrer ganzen Natur nach keineswegs zu Über- 
griffen in die Rechtssphäre anderer neigen, unter besonderen äußeren 
Bedingungen Delikte auftreten, deren ursächliche Beziehungen zur 
Art der krankhaften Veranlagung nicht zu verkennen ist. Das Ihnen 
von Herrn Prof. Stier geschilderte schüchterne, empfindliche, ängst- 
liche Kind, das wenig Aktivität zeigt, neigt gewiß nich! zur Straf- 
fälligkeit, doch sehen wir, daß ungünstige Momente auch diese Kinder 
vor den Strafrichter bringen können. Ich möchte hier ‘als Beispiel 
3 Fälle erwähnen, die sich in vollkommen übereinstimmender Weise 
abgespielt haben. Es handelte sich jedesmal um einen Postaushelfer, 
der nach der ganzen Vorgeschichte dem geschilderten Typus angehörte. 
Er wurde mit der Briefbestellung infolge seiner Ermüdbarkeit nicht 
fertig, behielt Briefe übrig, hatte Angst vor der Schelte, die er be- 
kommen würde, wenn er die Briefe auf das Postamt zurückbrächte 
und vernichtete sie. Wir sehen hier, daß einerseits die gesteigerte 
Ermüdbarkeit, andererseits die Ängstlichkeit die Straftat herbeigeführt 
hat. Auch finden wir nicht ganz selten, daß derartige Kinder aus 
Angst vor Strafe fortlaufen, und dann, ehe sie den Mut zur Rückkehr 
finden, lieber Diebstähle begehen, als sich der gefürchteten Strafe 
aussetzen. 

Während nun die bisher geschilderten Delikte eine innere Be- 
ziehung zur Art der psychopathischen Konstitution erkennen lassen, 
sehen wir immerhin einen nicht unerheblichen Prozentsatz von 
Straftaten bei jugendlichen Psychopathen, bei denen diese Beziehung 
gar nicht oder wenigstens nicht in eindeutiger Weise erkennbar ist. 
Hier läßt sich im Einzelfall eine ursächliche Beziehung zwischen 
psychopathischer Anlage und Delikt niemals erweisen. Daß ein 
solcher Zusammenhang besteht, dafür spricht nur die statistische Er- 
fahrung, daß eben Straftaten bei psychopathischen Kindern häufiger 
sind, als bei normalen. Es sind oft nur geringfügige psychische 
Anomalien, die wir dann finden, wie etwa Bettnässen, Schlafstörungen 
(nächtliches Aufschrecken, Nachtwandeln), gesteigerte Erregbarkeit, 
gesteigerte Empfindlichkeit. Die Straftaten an sich weichen in keiner 
Weise von denen der normalen Kinder ab. Wir haben die ursächliche 
Beziehung darin zu suchen, daß die große Mehrzahl der psycho- 
pathischen Kinder triebartigen Anregungen leichter folgt, als die nor- 
malen, daß sie — dies gilt insbesondere für den schüchternen passiven 
Typus — fremden Einflüssen ungünstiger Art leichter zugänglich 
sind. Sie sind auch häufig nicht die Anstifter des Delikts, sondern 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 45 








machen diese unter dem Einfluß aktiverer Kinder mit, lassen sich 
zu allen möglichen Zwecken mißbrauchen und sind oft gerade die- 
jenigen, die wegen ihrer mangelnden Gewandtheit abgefaßt werden. 
Sie unterliegen auch den Einflüssen des Hungers oder sonstigen 
Wunschanregungen leicht und widerstenen daher schwerer den Ver- 
suchungen, denen sie in manchen Situationen, wie z. B. die Postaus- 
helfer gegenüber den Lebensmittelpaketen ausgesetzt sind. Auch Bei- 
spiele von Unredlichkeit, denen die Kinder beim Eintritt in das 
Berufsleben, in den Betrieben, in denen sie beschäftigt sind, begegnen, 
bieten eine große Gefahr gegenüber der Haltlosigkeit dieser Jugend- 
lichen. — 

Wenn ich mich nun den praktischen Konsequenzen zuwende, 
die wir aus unseren Erfahrungen. bei kriminellen psychopathischen 
Kindern ziehen müssen, so möchte ich zunächst einen allgemeinen 
Gesichtspunkt vorausschicken. Aus alledem, was Ihnen von den 
Herrn Vorrednern mitgeteilt wurde, und aus alledem was ich aus- 
zuführen mir erlaubt habe, geht hervor, eine wie große Bedeutung 
die Anlage, insbesondere die psychopathische Anlage für das unsoziale 
Verhalten, für die Kriminalität hat. Wir können gerade bei den 
Kindern den bestimmenden Einfluß der Anlage sehr viel besser er- 
kennen, als bei den Erwachsenen, weil wir die Milieuverhältnisse, 
die Bedingungen, unter denen das Kind aufgewachsen ist, erheblich 
leichter feststellen können, und weil wir an dem Vergleich mit den 
Geschwistern, die in vielen Fällen keinerlei Schwierigkeiten machen, 
keine Straftaten begehen, die Bedeutung dieses dispositionellen Momentes 
klar erkennen können. Wir dürfen aber den Einfluß der Anlage 
nicht überschätzen. Man darf nicht in den Fehler verfallen, zu dem 
das viel gebrauchte, aber-auch viel mißbrauchte Schlagwort vom ge- 
borenen Verbrecher leicht verleitet. Dieser Standpunkt würde uns 
dazu führen, den jugendlichen Verbrecher als hoffnungslos anzusehen, 
jeden Versuch, ihn zu bessern, als aussichtslos zu betrachten und 
nur auf Sicherungsmaßnahmen bedacht zu sein. Es wäre dies jedoch 
ein großer Irrtum. Die genauere Beschäftigung mit den jugendlichen 
Kriminellen ergibt, daß neben dem Anlagemoment den äußeren Be- 
dingungen, den Milieuverhältnissen eine ganz ausschlaggebende Be- 
deutung zukommt. Nur für einen sehr geringen Prozentsatz der 
jugendlichen Rechtsübertreter kann es gelten, daß sie auch unter 
günstigen Milieubedingungen zum Delikte gekommen wären. Bei der 
großen Mehrzahl liegt es so, daß sie durch ihre Anlage in stärkerem 
Maße gefährdet sind als die normalen und daß sie unter ungünstigen 
äußeren Bedingungen der Gefahr kriminell zu werden, leichter unter- 


46 A. Abhandlungen. 

liegen. Es besteht zwischen beiden Momenten eine Wechselwirkung 
und man kann sagen, daß, je günstiger die Milieuverhältnisse sind, 
eine um so stärkere, in qualitativer Hinsicht bedenklichere krankhafte 
Veranlagung ist notwendig, um das psychopathische Kind kriminell 
werden zu lassen und umgekehrt. 

Untersuchungen, die wir kürzlich gemeinsam mit Frl. v. d. Leyen 
begonnen haben, über den weiteren Lebensgang der jugendlichen 
Angeklagten, scheinen mir, soweit die Resultate bis jetzt vorliegen, 
zu zeigen, daß das weitere Schicksal in erster Linie durch die Ge- 
staltung der Milieuverhältnisse bedingt wird. Diese Erfahrungen 
müssen uns dazu veranlassen, in tatkräftiger Weise bei all den Kindern, 
bei denen die psychopathische Veranlagung die Gefahr der Kriminalität 
nahe legt oder die bereits kriminell geworden sind, nach Möglichkeit 
dafür zu sorgen, daß sie von ungünstigen äußeren Einflüssen entfernt 
und aus schädlichen Milieuverhältnissen herausgenommen werden. 

Die praktischen Fragen, die uns im Einzelfall bei ein- 
getretener Kriminalität beschäftigen, sind zweierlei. Wir haben 
erstens dem Strafrichter von den Feststellungen Mitteilung zu machen, 
die auf sein Urteil von Einfluß sind, und wir haben zweitens mit- 
zuwirken bei den Bestimmungen, die über das weitere Schicksal des 
Jugendlichen zu treffen sind. Für das Urteil des Strafrichters kommen 
2 Paragraphen des Strafgesetzbuches in Betracht, die die krankhafte 
geistige Veranlagung berücksichtigen. Es ist einmal bekanntlich der 
$ 51, welcher die Strafbarkeit einer Handlung ausschließt, wenn eine 
krankhafte Störung der Geistestätigkeit vorliegt, welche imstande 
ist, die freie Willensbestimmung auszuschließen. Dieser Paragraph 
kommt nach unseren Erfahrungen bei den jugendlichen Angeklagten 
nur sehr selten zur Anwendung. Nur Fälle schwereren Schwachsinns, 
echte Psychosen, Erregungs- und Dämmerzustände kommen hierfür 
in Betracht. — Wesentlich wichtiger ist der $ 56, der nur für jugend- 
liche Angeklagte zwischen 12 und 18 Jahren gilt, und der die Straf- 
barkeit ausschließt, wenn zur Zeit der Begehung der Tat die erforder- 
liche Einsicht in die Strafbarkeit der Handlung nicht vorhanden war. 
Dieser Paragraph nimmt Rücksicht auf die eingangs erwähnte all- 
mähliche Reifung des Jugendlichen in ethischer Beziehung. Zu be- 
mängeln ist an diesem Paragraphen die rein intellektuelle Fassung, 
die, wenn man nur den Wortlaut berücksichtigt, eine Anwendung im 
wesentlichen nur in Fällen von Schwachsinn gestattet. Es ist jedoch 
notwendig, daß daneben auch die Unreife der Ausbildung des Willens, 
des Charakters usw. berücksichtigt : ward, eine Unreife, die, wie aus 
alledem, was Sie gehört haben, he ht, bei den psychopathischen 






Tagung über Psychopathenfürsorge. 47 
Kindern lange und besonders häufig besteht. Erfahrene Jugendrichter 
haben immer kein Bedenken getragen, die Geltung des $ 56 auch 
auf diese Fälle auszudehnen, und die Jugendlichen freizusprechen. 
Auch bei der Erörterung der Reform des Strafgesetzbuches ist diesen 
Erwägungen Rechnung getragen und von verschiedenen Seiten an- 
gestrebt worden, eine diesbezügliche Änderung des $ 56 zu veran- 
lassen. So lautet der $ 56 in dem Vorschlage der Strafrechtskommission 
folgendermaßen: »Nicht schuldhaft handelt, wer zur Zeit der Tat zwar 
das 14., aber nicht das 18. Lebensjahr vollendet hat, wenn er wegen 
zurückgebliebener Entwicklung oder mangels der erforderlichen geistigen 
oder sittlichen Reife nicht die Fähigkeit besitzt, das Ungesetzliche 
seiner Tat einzusehen, oder seinen Willen dieser Einsicht gemäß zu 
betätigen.« 

In den Worten »erforderlichen sittlichen Reife«e und »seinen 
Willen dieser Einsicht gemäß zu betätigen« wird der erwähnte Ge- 
sichtspunkt berücksichtigt. Man darf jedoch nicht verkennen, daß 
die auf Grund dieser erweiterten Auffassung des $ 56 erfolgenden 
Freisprüche in vielen Fällen etwas Bedenkliches haben. So wenig 
es angebracht erscheint, ein in seiner Charakterentwicklung noch un- 
reifes, triebhaften Anregungen in abnormer Weise unterlegenes Kind 
zu verurteilen, so ist es doch auch nicht ratsam, in diesen Kindern 
die Vorstellung zu erwecken, daß sie krank sind und deswegen für 
ihre Taten nicht verantwortlich gemacht werden dürfen. Bei all 
unseren Maßnahmen, die wir treffen, sollen wir es nach Möglichkeit 
vermeiden, die psychopathischen Kinder zu der Ansicht heranzuziehen, 
daß sie krank und ihre unsozialen Handlungen entschuldbar sind. 
Gerade diese Überlegungen der Ungerechtfertigkeit der Verurteilung 
auf der einen Seite und der Unzweckmäßigkeit des Freispruchs auf 
der anderen Seite müssen uns dazu veranlassen, eine Änderung des 
Jugendstrafrechtes anzustreben. Es wird ja von vielen Seiten empfohlen, 
die Strafmaßnahmen gegenüber Jugendlichen. in weitgehendem Maße 
durch Erziehungsmaßnahmen zu ersetzen. Ich brauche hier nur an 
die Ausführungen des Oberamtsrichters Herz in Hamburg zu erinnern, 
der dafür eintritt, bei den Jugendlichen an Stelle der Kriminalstrafe 
die Erziehungsstrafe eintreten zu lassen. 

Was die Konsequenzen für das weitere Schicksal der jugend- 
lichen Angeklagten anbelangt, so möchte ich auch hier das nochmals 
unterstreichen, was Herr Prof. Stier ausgeführt hat, nämlich daß bei 
den jugendlichen Psychopathen nur in einer geringen Zahl der Fälle 
ärztliche Maßnahmen im eigentlichen Sinne erforderlich sind. Es 
handelt sich ganz überwiegend um erzieherische Maßnahmen, aber 


48 A. Abhandlungen. 








um solche, deren Auswahl und Durchführung unter ärztlicher Be- 
ratung steht. Wir werden bei allen jugendlichen Kriminellen und 
bei solchen, die uns als gefährdet erscheinen, vor allem darauf achten 
müssen, daß sie von schädlichen Milieueinflüssen ferngehalten werden. 
In vielen Fällen wird dies allein schon genügen, in andern Fällen 
wird es erforderlich sein, sie unter den Einfluß von Erziehern zu 
bringen, welche besondere Begabung und besondere Erfahrung auf 
diesem Gebiete dazu befähigt. Welche Maßnahmen hierfür in Betracht 
kommen, das brauche ich hier nur anzudeuten. Schutzaufsicht, Unter- 
bringung in einem geeigneten Hort, in einem Psychopathenheim usw., 
dies sind ja die Themen, die uns heute Nachmittag noch eingehend 
beschäftigen werden. 

Wesentlich ist dabei, daß die Fürsorge für den jugendlichen 
Psychopathen nicht zu zeitig aufhört. Wie schon erwähnt, erfolgt 
die sittliche Reifung des Psychopathen oft erst in sehr verspäteter 
Weise, und die Erfahrung lehrt, daß, wenn es gelingt, diese Jugend- 
lichen bis zu diesem Zeitpunkt, der oft erst Mitte oder Ende der 
20er Jahre erreicht ist, zu bringen, ohne daß sie sozial scheitern, 
wir brauchbare und sich in die Rechtsordnung fügende Menschen 
erzielen können. Zu berücksichtigen ist auch, daß, was wir an psy- 
chischer Eigenart bei den Psychopathen in späteren Jugendjahren 
oder im erwachsenen Alter vorfinden und was wir fälschlich lediglich 
als Produkt der Anlage betrachten, zu einem erheblichen Teil die 
Rückwirkung unzweckmäßiger Erziehungs- und Strafmaßnahmen, des 
sozialen Scheiterns ist. 

Meine Damen und Herren! Wir stehen in allen diesen Maß- 
nahmen vielfach noch im Anfange und wir verfügen bei den ver- 
hältnismäßig wenigen Jahren, die wir uns mit den jugendlichen An- 
geklagten vom psychopathologischen Standpunkt aus beschäftigen, noch 
nieht über ausreichende praktische Erfahrungen. Es wird vor allem 
eine genaue Verfolgung :des weiteren Schicksals der jugendlichen An- 
geklagten bedürfen, um daraus dann die Schlüsse ziehen zu können, 
welche Maßnahmen im einzelnen Falle als die zweckmäßigsten er- 
scheinen. Wir werden dann aber auch, was ich bestimmt hoffe, 
dazu gelangen können, die Zahl der jugendlichen Kriminellen einzu- 
schränken, die Rückfälle zu verhindern und so auch die Zahl der 
erwachsenen Rechtsbrecher vermindern können. 


Geheimrat Dietrich dankt Herrn Professor Kramer für seine 
eingehenden Ausführungen und eröffnet die Aussprache. 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 49 





Aussprache. 


Dir. D. M. Hennig-Hamburg: Drei Theoretiker haben gesprochen. 
Da sei es auch einem Mann der Praxis erlaubt, zu der Frage der 
Psychopathenfürsorge das Wort zu nehmen. Es ist mir eine große 
Freude, mich mit den Herren Vorrednern bezüglich ihrer Ausführungen 
fast durchweg decken zu können. Wir Männer der praktischen 
Arbeit sind dankbar für all die Anregungen, die wir von seiten der 
Psychiatrie für unsere Erziehungsarbeit bekommen haben. Freilich, die 
Erziehungsarbeit an schwererziehbaren und pathologischen Kindern 
ist älter als die psychiatrische Beratung. Sie besteht nun schon seit 
hundert Jahren, und rund 500 Anstalten üben bereits ihren Dienst 
an einem Heer von rund 30000 schwererziehbaren, also wohl an 15 bis 
20000 pathologischen Kindern. Aus der Kriegszeit vor 100 Jahren 
ist die Arbeit geboren. Drei Männer aus gebildetem Stand, die sich 
mit warmem Herzen zum elenden Volke neigten, waren ihre Väter: 
Jener Schüler Pestalozzis Christian Heinrich Zeller, der im Deutsch- 
Ritter-Ordensschloß Beuggen Volksmission durch Kindererziehung und 
Lehrerausbildung treiben wollte, der Geheimrat Johannes Falk, jener 
Freund Goethes, der nach dem Tode fast aller eigenen Kinder fremde 
Kinder ins eigene Haus aufnahm und unter der Losung »Bete und 
arbeite« die Kinder trefflich erzog, zugleich dem Liede im Anstalts- 
leben mit feinsinnigem Geist reichlich Raum zugestand, und endlich 
der edle junge Graf Adalbert von der Recke-Volmarstein, der in 
Overdyck bei dem heutigen Bochum umbherstreifende Kinder aufnahm 
und dort und später in Düsselthal erzog. Der die Arbeit mit genialem 
Blick und geschickter Hand organisierte, war Johann Hinrich Wichern 
in Hamburg. Er hat nach den Grundsätzen Falks seine Arbeit getan, 
aber ein neues hinzugebracht, das sogenannte Familiensystem, wonach 
nur 12 Kinder eine Gruppe bilden, die ein eigenes Haus mit eigenem 
Garten und eigenem Spielplatz bewohnen. Er knüpfte damit an die 
natürliche Erziehungsweise der Familie an. Wie in einer natürlichen 
Familie nur 6—12 Kinder etwa leben, so sollten auch schwererzieh- 
bare nicht in größeren Mengen vereinigt werden. In solchen Gruppen 
kann man jedem einzelnen Kind gerecht werden und jedes gründlich 
beobachten und kennen lernen. Boi so kleinen Gruppen gibt es auch 
keine Schwierigkeiten in der Disziplin. Wenn wir mit Dank fest- 
stellen, daß auch die großen Provinzialanstalten mehr und mehr dazu 
übergegangen sind, dieses System einzuführen, und Berlin in Struveshof 
sich aufs beste dazu bekannt hat, so müssen wir doch immer aufs 
neue bitten, die Gruppen immer mehr zu verkleinern. Gruppen mit 

Zeitschrift für Kinderforschung. 25. Jahrgang. 4 


50 A. Abhandlungen. 


20 und 25 Knaben sind für ein gedeihliches Erziehungswerk noch 
zu groß. 

Für die Beobachtung der Kinder hat uns die Psychiatrie treff- 
liche Richtlinien gegeben, wenn auch bei der schwierigen Beurteilung 
seelischer Vorgänge die Gruppierung der krankhaften Kinder eine 
verschiedenartige sein mag. Auch die beiden Herren Referenten 
stimmten darin nicht ganz überein, wie das nicht anders zu erwarten 
ist. Uns hat jede neue Zeichnung gewisser Typen den Blick zu 
neuer Beobachtung geschärft, und wir wünschten nur, daß wir auch 
noch bessere Berichte über die Kinder bekämen, welche uns zugeführt 
werden. Daran fehlt es gar oft. Bald sind die Eltern nicht selbst 
zur Stelle, so daß wir sie nicht befragen können, bald wissen die 
Eltern nicht genügend sich des einzelnen zu erinnern. Ich gedenke 
eines Falles, daß ein Vater einen Knaben uns zuführte, bei dem 
augenscheinlich eine psychogene Störung vorlag. Wir fragten den 
Vater, ob der Sohn keinen Unfall gehabt, keinen Sturz oder dergl. 
erlebt habe, der etwa den Anlaß zu einer Störung gebildet haben 
könnte. Der Vater verneinte. Schon am nächsten Tage erschien er 
wieder und meldete: Meine Tochter hat mir gesagt, mein Sohn ist 
in der Tat vor einigen Jahren von einem Balken der Scheune tief 
gefallen und ohnmächtig liegen geblieben. Man hat mir den Vorgang 
nicht gemeldet, weil man Bestrafung des Knaben fürchtete. So können 
wichtige Ereignisse im Kindesleben, die wir zur Beurteilung des 
Kindes notwendig wissen müssen, unter Umständen verborgen bleiben. 
Wir können nur bitten, daß die jungen Mütter alle Sorgfalt darauf 
verwenden, über die Entwicklung ihres Kindes genauen Bericht nieder- 
zulegen. Das ist eine Freude für die Mütter und auch für die Kinder, 
wenn sie herangewachsen sind. 

Aber nun möchte ich mir erlauben, noch einiges zu der Be- 
handlungsweise, die der zweite unserer verehrten Herren Redner 
empfahl, nachzutragen. Als Erziehungsmittel sind uns neben den ge- 
nannten unentbehrlich: die Arbeit, das Lied und die religiöse Be- 
einflussung. Die Arbeit zuerst: Knaben mit überlebhafter Phantasie 
sind nicht anders von einer vielfach ungesunden Gedankenwelt zu 
befreien, als indem man sie durch Arbeit ablenkt. Zarte Kinder 
können aus ihrer Schwächlichkeit und Schlaffheit nicht heraus, wenn 
nicht ihr Organismus durch mäßige Arbeit angeregt und gekräftigt 
wird. Kraftstrotzende Naturen werden nicht anders richtig geleitet, 
als wenn sie in der Arbeit ihren Kraftüberschuß richtig verwerten 
können. Schwachwillige wiederum können nur erstarken, wenn sie 
auch am Nachmittag in die praktische Arbeit gestellt werden. Und 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 51 
schließlich können wir einen Knaben niemals richtig beurteilen, wenn 
. wir ihn nicht auch in der praktischen Arbeit sehen, die doch ganz 
andere Kräfte entbindet als die theoretische Arbeit in der Schule. 
Ja, fast möchte ich soweit gehen, zu sagen: In der praktischen 
Arbeit, besondeg in der in Feld und Garten, liegen noch größere 
Erziehungswerte verborgen als in der unterrichtlichen Arbeit, wie sie 
die Schule bietet, — so groß meine Hochachtung vor der gesamten 
Schularbeit is“. Einst besuchte ich eine Anstalt für pathologische 
Knaben. Man sagte mir: Wenn die Knaben vormittags Schularbeit 
haben, so ist das Anspannung genug. Ich kann nur sagen, daß ich 
eine derartige Anstalt ohne jede praktische Beschäftigung der Knaben 
für fehlerhaft organisiert ansehen muß. 

Sodann brauchen wir als Erziehungsmittel das Lied. Gerade bei 
unseren gemütsarmen Knaben müssen wir alle nur möglichen Mittel 
benutzen, um die Saiten ihres Seelenlebens, die verkümmert oder ver- 
nachlässigt sind, anklingen zu lassen und stark in Bewegung zu setzen. 
Und dazu dient das Lied wie kaum ein anderes Mittel. Wie gern 
singen die Kinder abends nach getaner Arbeit Lied um Lied! Wie 
klingt frisch ihr Lied bei der Hausandacht! Was sind den Kindern 
die Lieder zur Weihnachtszeit! Müßten wir das alles entbehren, so 
würde unser Anstaltsleben verarmen. 

Und dazu das dritte: die religiöse Beeinflussung. Wie sollen 
wir einem Kinde innerlich zurecht helfen, wenn es nicht das, was es 
auf dem Herzen hat, endlich einmal durch Bekenntnis von sich ab- 
legen darf! Es ist überraschend, wie sehr die Kinder unter dem Druck 
alter Übeltaten stehen. Wie oft frage ich Knaben: Wann hast Du 
zuerst gestohlen? und meist wissen sie es ganz genau, auch wenn 
der Vorgang viele Jahre hinter ihnen liegt. Da zeigt sich die Macht 
des Gewissens, das Bedürfnis nach Vergebung. Und wie wird das 
Angesicht des Knaben frisch und fröhlich, wenn er das erfährt, daß 
wir das Alte vergessen und vergeben lassen sein dürfen. Wie soll 
ich einem Knaben zur Kraft in der Versuchung helfen, wenn ich 
ihm nicht sagen kann: Gott sieht dich und ist Zeuge auch der ver- 
borgenen Tat? 

Mit diesen Mitteln und den vorhin im Vortrag skizzierten arbeiten 
wir in unseren Anstalten an Schulpflichtigen und an Schulentlassenen 
und haben die Freude, daß solche Arbeit nicht vergeblich ist. Man 
berechnet, daß rund 70°/, der Kinder aus unseren Anstalten gut ge- 
raten, weitere 18°, verfehlen sich wohl gelegentlich, entwickeln sich 
aber doch auch noch zufriedenstellend, nur der Rest geht den ver- 
kehrten Weg. Wenn wir solche Zahlen feststellen können und hören, 

4* | 


52 A. Abhandlungen. 
daß von allen diesen Zöglingen etwa 50 — vielleicht 60°, psycho- 
pathisch veranlagt sind, so dürfen wir guten Mutes und getrost auf 
die Arbeit dieser Anstalten schauen und hoffen, daß sie auch ferner 
dem deutschen Volke zum Segen werde. 

è 

Direktor K naut-Berlin: Ich wollte mir erlauben, vom Stand- 
punkte der Fürsorgeerziehung aus einiges zu den Ausführungen der 
Vorredner zu sagen. Es ist Ihnen wohl bekannt, daß die Fürsorge- 
erziehung sich lebhaft mit der Erkennung und Behandlung gerade 
der Psychopathie von jeher beschäftigt hat. Die Untersuchungen von 
Mönkemöller, Kramer, Ziehen und andern hatten uns gezeigt, daß 
ein recht beträchtlicher Prozentsatz der in Fürsorgeerziehung über- 
wiesenen Zöglinge Psychopathen sind, krank sind auf dem Gebiete 
des Gemütes, Willens und Geistes bis zu 60 und 70°/,. Damals er- 
hob sich bei vielen Pädagogen ein starker Widerspruch gegen die 
Feststellung der Psychiater, besonders gegen ihre Forderung, diese 
Zöglinge gehörten eigentlich nicht dem Pädagogen, sondern wesentlich 
unter die Behandlung der Mediziner. Das sagten nicht alle Psychiater, 
aber doch einige, und glücklicherweise ist aus dem lebhaften Streit, 
der sich damals zwischen Pädagogen und Psychiater erhob, ein sehr 
annehmbares Zusammenarbeiten entstanden, aus der Thesis und der 
Anithesis erwuchs eine Synthesis, aus dem Streit ein schöner Ver- 
ständigungsfriede zum Besten der uns anvertrauten Kinder. Es hat 
sich dabei eine solche Fülle von Aufgaben für die Psychiater er- 
geben, daß die Kommunalverbände dazu kommen müssen, einen eignen 
Psychiater für die Fürsorgeerziehung in ihrem Bezirk anzustellen. 

Lassen Sie mich kurz einmal die Hauptpunkte hervorheben, in 
denen z. B. der Kommunalverband Berlin die Mitwirkung des Psy- 
chiaters in der Fürsorgeerziehung verlangt. 

1. Der Psychiater soll schon im Einleitungsverfahren auf Wunsch 
des Vormundschaftsgerichts in besondren Fällen prüfen, ob ein krank- 
haft erscheinendes Kind. für die Fürsorgeerziehung in Betracht kommt. 
Er stellt fest, daß der Jugendliche so krankhaft veranlagt ist, daß er 
nicht erziehungsfähig ist. Er wird dann vor der Fürsorgeerziehung 
bewahrt und die Fürsorgeerziehung vor ihm. Zweifellos ist also hier 
die Mitwirkung des Psychiaters von großem Wert. Es wird freilich 
nicht jeder Zögling schon im Einleitungsverfahren untersucht zu 
werden brauchen. 

2. Dagegen halten wir die psychiatrische Untersuchung jedes 
Jugendlichen, der einmal in unsere Erziehung hineingekommen ist, 
für notwendig. Seit 6 Jahren haben wir die Einrichtung getroffen, 





Tagung über Psychopathenfürsorge. 53 


daß alle neu überwiesenen Zöglinge in Beobachtungs- und Verteilungs- 
stellen gesammelt werden, wo sie von Psychiatern beobachtet werden. 
Auf Grund des Gutachtens des Lehrers, Erziehers und des Psychiaters 
wird dann bestimmt, für welche Art der Erziehung der Zögling sich 
eignet, insbesondere auch, ob für ihn die Unterbringung in einem 
Psychopathenheim in Betracht kommt. Wir freuen uns, daß unsere 
Psychiater nicht gleich jeden mit krankhaften Merkmalen behafteten 
Zögling in ein Psychopathenheim bringen wollen. Es ist interessant 
zu erfahren, daß sogar nur ein ziemlich geringer Prozentsatz der 
Unterbringung in einem Psychopathenheim bedarf. Es sind nach 
unseren Erfahrungen etwa 3—4°/, unserer uns jährlich überwiesenen 
Zöglinge, die einer besonderen Behandlung in dem Psychopathenheim 
bedürfen. Die übrigen können in unseren Erziehungsanstalten oder 
Pflegestellen bleiben und im wesentlichen nach den gleichen Prin- 
zipien erzogen werden wie die anderen Zöglinge. 

3. Mit dieser Beratung im Anfang der Fürsorgeerziehung ist 
aber keineswegs die Aufgabe des Psychiaters abgeschlossen. Er hat 
nun auch die in Psychopathenheimen untergebrachten Zöglinge weiter 
zu beobachten und zu behandeln und den Erziehern Ratschläge zu 
geben. Er hat ferner sämtliche Erziehungsanstalten regelmäßig zu 
besuchen und die ihm von den Leitern der Anstalten als krankhaft 
und auffällig bezeichneten Zöglinge sich vorstellen zu lassen und auch 
sie zu untersuchen und Gutachten zu erstatten. So hat sich in den 
Erziehungshäusern ein sehr erfreuliches Zusammenarbeiten zwischen 
Pädagogen und Psychiatern herausgebildet. Diese äußern sich durch- 
aus anerkennend über die Hilfe, die sie von den Leitern der An- 
stalten haben. 

4. Es folgt weiter die Begutachtung der straffällig gewordenen 
Fürsorgezöglinge, die nach der Beobachtung der Anstaltsleiter krank- 
hafte Züge zeigen. Wir wünschten, daß die Gerichte häufiger als es 
geschieht, den Psychiater und Anstaltsleiter als Sachverständige hörten. 

5. Von großer Bedeutung ist ferner die Untersuchung der Zög- 
linge, die zum Militär kommen, d. h. derer, die in den Anstalten oder 
in der Familienpflege als psychopathisch aufgefallen sind. Es ist 
geradezu eine Pflicht, einen solchen krankhaft veranlagten Jungen 
vor dem Heer und das Heer vor ihm zu bewahren. Die Militär- 
behörde hat leider oft trotz unseres Warnens solche Psychopathen ein- 
gestellt und schlechte Erfahrungen mit ihnen gemacht. Wir haben 
alle Anstalten uud Fürsorger angewiesen, die ihnen als krankhaft ver- 
dächtigen zu benennen, damit wir sie von dem Psychiater begutachten 
lassen und das Gutachten an die Militärbehörde weitergeben können. 


54 A. Abhandlungen. 





6. Weiter spielt _bei der Entmündigung von Psychopathen der 
Psychiater eine große Rolle. Ein Teil der Psychopathen wird asozial 
und unfähig bleiben, seine Geschäfte selbst zu regeln und sich im 
Leben zurechtzufinden. Da ist es sehr wichtig, daß es gelingt, noch 
vor erreichter Volljährigkeit die Entmündigung durchzusetzen. In 
letzter Zeit haben wir die Erfahrung machen können, daß wir mit 
den Gutachten der Psychiater wesentlich weitergekommen sind in der 
Durchsetzung der Entmündigung als früher. Ist die Volljährigkeit 
erreicht, so bleibt der entmündigte Zögling in der Anstaltspflege, und 
die Kosten werden bei uns von der Armenverwaltung getragen. 

7. Endlich ist noch bei der Ausbildung unserer Erzieher die 
Mitarbeit der Psychiater wertvoll. Sowohl bei den Ausbildungs- und 
Fortbildungskursen als auch in der Erzieherschule für Kriegsbeschädigte 
werden von dem Psychiater Vorträge über die Erkennung und Be- 
handlung von Schwachsinn und Psychopathie Jugendlicher gehalten. 
Die Erzieher sollen lernen, krankhafte Symptome zu beobachten. Es 
ist also ein reiches Gebiet gemeinsamen Arbeitens der Psychiater 
und Pädagogen in der Erkennung und Behandlung psychopathischer 
Zögiinge. Wir dürfen hoffen, daß wir, je weiter wir in dieser ge- 
meinsamen Arbeit kommen, desto mehr Zöglinge zu nützlichen Gliedern 
unserer menschlichen Gesellschaft erziehen können. | 


Sanitätsrat Dr. Schnitzer-Stettin: Wir Psychiater können mit 
Befriedigung feststellen, daß das Verhältnis zwischen Psychiater und 
Pädagogen ein durchaus erfreuliches geworden ist; darin befinde ich 
mich in Übereinstimmung mit den Ausführungen von Herrn Direktor 
Knaut. Bei allen unseren Untersuchungen haben wir immer betont, 
daß doch nur ein verhältnismäßig kleiner Prozentsatz von psycho- 
pathischen oder schwachsinnigen Fürsorgezöglingen den Anstalten ent- 
zogen werden soll. Immerhin bleiben noch einige wenige übrig, die 
irgend wo anders unterkommen müssen, die in Sonderanstalten, dann 
allerdings psychiatrisch geleiteten weiter behandelt werden müssen. 
Da bieten uns diese ganz schwererziehbaren Psychopathen eine recht 
schwere Aufgabe, sie stellen uns vor gewaltige Probleme. Nicht jeder 
von uns hat ja die Erfahrung wie Pastor D. Hennig, wir können 
nicht gleich den Zöglingen ohne weiteres abfühlen, was mit ihnen 
vorgegangen ist. Aber wenn wir in sein Vorleben hineinleuchten, 
dann finden wir doch manches, was uns eine Handhabe bietet für 
seine spätere Erziehung und Behandlung. Und ich möchte mir nur 
erlauben, ein ganz kurzes Wort über die Ertüchtigung von diesen 
schweren Psychopathen für das spätere Leben zu sagen. Wenn diese 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 55 





Zöglinge in psychiatrischen Anstalten untergebracht sind, werden sie 
natürlich nach den psychiatrischen Grundsätzen behandelt, mit Bett- 
ruhe bei Erregungszuständen usw. Aber es gibt noch einen weiteren 
Ausbau in der Behandlung analog der Familienpflege bei Irren- 
anstalten. Da würden wir das Ideal, das uns Herr D. Hennig in so 
packenden Worten vorgeführt hat, vielleicht noch besser erreichen, 
wenn wir diese einzelnen psychopathischen Zöglinge in kleinen 
Familien unterbringen, bei Bauern. Es sind dies ja Versuche, die 
mit allen Fürsorgezöglingen gemacht werden, wir wissen, daß in den 
Fürsorgeerziehungsanstalten die Zöglinge, wenn sie sich eine Zeitlang 
bewährt haben, der Freiheit übergeben werden, man schickt sie auf 
das Land. Mit den schweren Psychopathen sind solche Versuche 
auch gemacht worden, aber sie sind meistens mißglückt, und dann 
ist von diesen Versuchen Abstand genommen worden. Die Erziehungs- 
anstalt kann mit ihnen nichts mehr anfangen und nun fallen sie der 
psychiatrischen Anstalt anheim. Auch in einer solchen Anstalt können 
derartige Versuche noch einmal wiederholt werden, wenn eine längere 
Behandlung Platz gegriffen hat. Ich kann aus meiner Praxis sagen, 
daß in einigen Fällen diese Versuche doch von Erfolg begleitet worden 
sind, die Betreffenden haben sich in den Familien, in denen sie 
untergebracht waren, gehalten. Wir sind in Stettin in einer ganz 
günstigen Lage. In der Nähe unserer Anstalt ist ein größeres Dorf, 
in welchem unsere Pfleglinge bei einzelnen Bauernfamilien unter- 
gebracht sind. Diese Versuche haben wir nicht nur mit unseren 
Schwachsinnigen, sundern auch mit unseren Psychopathen erfolgreich 
durchgeführt. Sie werden von der Anstalt regelmäßig besucht, der 
Arzt der Familienpflege fährt jede Woche nach dem Dorf hinaus, 
spricht mit den Bauern und nimmt sich die einzelnen Zöglinge vor. 
Ich selbst fahre alle 4—5 Wochen hinaus und kann mich überzeugen. 
daß die Unterbringung dieser Zöglinge in den Familien als ganz be- 
sondere Vergünstigung angesehen wird und daß diese sich hüten, 
dieser Vergünstigung wieder verlustig zu werden. | 

Das andere was ich sagen wollte, betrifft die Entmündigung, von 
der Direktor Knaut sprach. Wenn in Berlin von dieser Weiter- 
behandlung der psychopathischen Zöglinge, die ja schon lange an- 
gestrebt wird, besonders günstige Erfolge erzielt wurden,/ so ist das 
außerordentlich erfreulich. Es ist nicht überall in Deutschland ebenso. 
Hier in Berlin liegen die Verhältnisse anscheinend ganz besonders 
günstig. Ich arbeite seit ungefähr 8 Jahren mit allen in Betracht 
kommenden Instanzen, gebe mir die größte Mühe, etwas dabei zu er- 
reichen, aber irgend welche Erfolge habe ich nicht gehabt. Es ist 


56 A. Abhandlungen. 


mir wohl hier und da gelungen, eine Entmündigung durchzusetzen. 
Das erste, was der Vormund in einem Fall tat, wo ich die Ent- 
mündigung bei einem sexuell stark gefährdeten Mädchen erreicht 
hatte, war, daß er die Entlassung aus der Anstalt vornahm. Solche 
Erfahrungen sind, glaube ich, nicht vereinzelt. 

Es wäre vielleicht die Aufgabe der Deutschen Zentrale für 
Jugendfürsorge, auch außerhalb Berlins diese Bestrebungen weiter 
fortzusetzen, um auf dem Wege der Entmündigung für die Zukunft 
dieser schwer krankhaften Elemente zu sorgen. Ich möchte dabei 
noch erwähnen, daß die Behörden hinsichtlich der Entlassung der 
schwierigen Elemente und solcher, die in Gefahr stehen zu verwahr- 
losen, doch nicht überall das genügende Verständnis entgegengebracht 
wird. Es ist z. B. in einem Fall von der ausschlaggebenden Behörde 
angeführt worden, daß die Gefahr der sittlichen Verwahrlosung absolut 
kein Grund ist, eine krankhafte Persönlichkeit in der Anstalt zurück- 
zuhalten. Das ist eine Auffassung, der wir nicht beistimmen können. 
Vielleicht werden sich die Verhältnisse allmählich so zuspitzen, daß 
von dieser Auffassung abgegangen wird, vorläufig liegen die Dinge 
jedoch noch recht schwierig. 


Dr. Gallus-Potsdam: In der Diskussion ist besonders die . 
Behandlung der Psychopathen in der Anstalt betont worden, und es 
ist kein Zweifel, daß ein guter Teil in die Anstalten gehört. Auch 
der Wunsch nach Sonderanstalten ist angedeutet worden, und es wird 
wohl auch am Nachmittag noch dazu kommen, diesen Wunsch stärker 
zu unterstreichen. Es wird kaum möglich sein wegen der sonstigen 
zu erwartenden finanziellen Lasten, die Deutschland tragen wird, im 
srößeren Umiang neue Anstalten zu gründen, und es ist daher durch- 
aus naheliegend, daß eine Anlehnung an vorhandene Anstalten ge- 
sucht wird. So hat die Provinzialverwaltung von Brandenburg Anlaß 
genommen, für die Psychopathen im Zusammenhang mit den Pots- 
damer Provinzialanstalten zu sorgen. Diese Potsdamer Anstalten, die 
ich in der Reihe der Kriegsjahre geleitet habe, bergen außer Epilep- 
tikern und Schwachsinnigen auch eine größere Anzahl von Psycho- 
pathen. Gegen diese Verhältnisse würde das Urteil von Prof. Stier 
sich richten, der eine solche Kombination widerrä. Da ich diese 
‚Anstalt solange geleitet habe, halte ich es für meine Pflicht, hier 
kurz darauf einzugehen. Es hieß seitens Prof. Stier, daß die erzieh- 
liche Förderung der Psychopathen in ungünstiger Weise dort vor sich 
gehe, weil das Zusammensein mit geistig Schwächeren die Psycho- 
pathen zur Selbstüberhebung treibe und sie auch in anderer Weise 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 57 


schädige. Gewiß ist das Zusammensein mit den Kranken nicht das 
Idea. Aber wie ich schon sagte, zunächst ist man unbedingt auf 
vorhandene Anstalten angewiesen, um der Fürsorge für die große Zahl 
von Psychopathen überhaupt Herr werden zu können. 

Noch ein Weiteres ist zu bedenken. Man nehme sich einmal 
die älteren Jahrgänge der schwierigen Psychopathen vor. Welche 
bedenklichen Verhältnisse bekommt man, wenn man die Psychopathen 
nur allein hat. Mir wäre das nicht möglich, und ich muß mich hier 
auch als ein Mann der Praxis vorstellen, denn wir haben Hunderte 
gleichzeitig in der Anstalt. Ältere psychopathische Fürsorgezöglinge 
allein unterzubringen, zu behandeln und zu erziehen, halte ich für 
außerordentlich schwierig. Man muß auch darauf hinweisen — und 
das geschieht seitens meines früheren Chefs, Dr. Kluge, immer wieder 
— daß das Zusammensein mit geistig und körperlich Schwächeren 
allerhand sittliche Motive und fördernde Momente mitsichbringt und 
auslöst: Die Fürsorge für die Schwachen, das Sichannehmen der 
Hilflosen ist in diesem Sinne besonders hervorzuheben und zu werten. 
Und schließlich möchte ich darauf hinweisen, daß eine große Anstalt 
doch allerhand Möglichkeiten zur Differenzierung bietet. Wir haben 
Sonderabteilungen, kleine Sonderanstalten von 40—50 Köpfen, wo 
überhaupt nur psychopathische Kinder untergebracht sind neben eigent- 
lichen Krankenabteilungen, in denen die schwierigeren Elemente mit 
den Kranken zusammen behandelt werden. Ich glaube daher, daß 
man auch in einer derartigen Krankenanstalt, wie es die Potsdamer 
ist, für die Psychopathen in ganz zweckmäßiger Weise Sorge tragen 
kann. 


Direktor Weiskopf- Fürth i. B., »Sonnenblick«: Gestatten Sie 
noch einem Manne der Praxis das Wort zu diesen Fragen zu er- 
greifen. Ich möchte in erster Linie auf die Ausführungen des Herrn 
Professor Stier zurückkommen, die ja in jeder Hinsicht so vorzüglich 
waren, daß eine eingehende sachliche Diskussion darüber sich eigentlich 
erübrigt. Es sei daher nur versucht, einige Ergänzungen zu bringen; 
und da darf ich vielleicht an einen Gedankengang des Referats an- 
knüpfen, der mir doch nicht ganz gerechtfertigt zu sein, ja einen 
Widerspruch in sich selbst zu enthalten scheint: nämlich die Stellung, 
die Prof. Stier zur gemeinsamen Erziehung psychopathischer Knaben 
und Mädchen einnimmt. Wenn ich recht verstand, soll also grund- 
sätzlich abgelehnt werden, psychopathische Kinder beiderlei Ge- 
schlechts in einer Anstaltsgemeinschaft zusammen zu erziehen, be- 
sonders im Hinblick auf die vielleicht noch nicht so sehr häufige 


58 A. Abhandlungen. 


Tatsache einer frühen geschlechtlichen Entartung bei manchen 
Psychopathen, oder einer alle anderen Triebe stark überwuchernden 
Libido, die frühzeitig zu sexuellen Exzessen führen kann oder bereits 
geführt hat. 

Mit dieser grundsätzlichen Ablehnung der gemeinsamen Erziehung 
wegen der sexuellen Überreizung einzelner Kinder und deren mög- 
liche moralische, soziale, rassenhygienische und strafrechtliche Folgen 
scheint mir aber ein ebenso grundsätzlicher pädagogischer Fehler 
gemacht zu werden. Ganz abgesehen davon, daß ein berechtigter 
und gesunder Trieb zum andern Geschlecht noch lange nicht immer 
ein sexueller Betätigungsdrang zu sein braucht, so kann die Aufgabe 
der heilpädagogischen Beeinflussung psychopathischer Kinder, besonders 
sexuell entarteter, doch auf keinen Fall ausmünden in eine Vogel- 
Strauß-Politik; die läge aber in gewissem Sinne darin, daß .den be- 
treffenden Kindern und Jugendlichen durch ihre strenge Absonderung 
gar keine Gelegenheit gegeben wäre, gerade im Zusammenleben 
mit anders geschlechtlichen ihre gesunden Triebe in natür- 
lichen Grenzen zu betätigen und ihre Willens- und Gemüts- 
fehler und ihre allenfalls zu starken Sexualtriebe zu be- 
kämpfen, wenn sie also — und hierin liegt wohl die soziale Seite, 
wie auch der pädagogische Kern des Problems — gar nicht die Mög- 
lichkeit hätten durch die heilpädagogische Führung und Kunst das 
zu erlernen, was sie ja eigentlich erlernen sollten, nämlich: diese 
Triebe unter allen Umständen zu beherrschen, statt sich von 
ihnen beherrschen zu lassen. 

Die völlige Absonderung unter Gleichgeschlechtlichen jedoch be- 
wirkt bestenfalls ein zeitweises Abklingen und Einschlummern allzu 
starker Triebe, kann aber ebenso gut oft auch noch zu einer weiteren 
Verschärfung und Entartung, ja zur gleichgeschlechtlichen und anor- 
malen Befriedigung des Sexualtriebes führen; das sind ja die allgemein 
bekannten »Gefahren der Internate« schon für völlig normale Knaben 
und Mädchen, geschweige denn für Pschopathen. Ein absoluter Schutz 
und Erfolg kommt also der getrennten Erziehung in dieser Hinsicht 
schon an sich nicht zu. Wenn aber ein solches Kind, dem jahrelang 
keine Möglichkeit zur Übung in der Selbstbeherrschung 
dem richtigen Objekt gegenüber gegeben war, die sichere Hut 
der Anstalt verläßt, so wird ganz unabwendbar in diesem Augenblick 
der künstlich zurück und zu kurz gehaltene, unterdrückte Trieb zum 
andern Geschlecht mit elementarer Wucht ans Licht drängen; denn 
jetzt, wo es in die soziale Gemeinschaft seines häuslichen und beruf- 
lichen Milieus zurückkehrt, tritt der anders geschlechtliche Mensch 


Tagung über Psychopathenfürsorge, 59 











und damit der Geschlechtstrieb plötzlich und unvermittelt wieder in 
sein Bewußtsein, ja in den Mittelpunkt seines Interesses als etwas 
Neues, lang und schmerzlich Entbehrtes; und zwar wird dies dann 
mit solcher Eindringlichkeit und Kraft geschehen, daß alle Schranken, 
welche eine auch noch so tüchtige Anstaltserziehung unter lauter 
Menschen gleicher Art und gleichen Wesens aufgerichtet hat, im Nu 
vor den gänzlich anderen Verhältnissen und Lagen des freien Lebens, 
besonders bei unserer Mietskasernenwirtschaft niedergerissen werden, 
so daß es dann erst recht zu unerhörten Exzessen kommen kann, ja 
fast möchte ich sagen, kommen muß. 

Ich möchte das Problem, das hierin offenbar liegt, noch so um- 
schreiben, daß ich sage: wir dürfen das psychopathische Kind, wenn 
wir es mit dauerndem Erfolg erziehlich beeinflussen, wenn wir es 
heilen und wahrhaft bessern wollen, nicht durch die Anstalt in eine 
Lebenssphäre bringen, die vom Leben draußen gänzlich und grund- 
sätzlich verschieden ist, die durch das Zusammenleben mit lauter 
Männern und Knaben z. B. künstliche Verhältnisse schafft, die das 
wirkliche Leben, die soziale Gemeinschaft der Familie usw. gar nicht 
kennt. Das muß sonst Treibhausblüten geben, die der erste rauhe 
Luftzug des wirklichen Lebens sicher tötet. Damit würden wir von 
vornherein unsere Heilpädagogik an Psychopathen zur Unfruchtbarkeit 
verdammen. 

Also grundsätzlich dürfen und brauchen wir eine Trennung 
der Geschlechter hier nicht durchführen, sondern grundsätzlich muß 
vielmehr das Anstaltsleben so treu als möglich das wirkliche 
Leben in all seinen Beziehungen widerspiegeln und da ge- 
hört die richtige Mischung der Geschlechter als untrennbarer und 
wesentlicher Bestandteil notwendig und selbstverständlich eng dazu. 
Eine alleinige Ausnahme darf nur in den wenigen Fällen und eben 
dann nur als Ausnahme Platz haben, wo eine besonders starke und 
unhemmbare geschlechtliche Veranlagung nach der negativen Seite 
mit Sicherheit erwarten ließe, daß anders geschlechtliche Kinder da- 
durch sittlich und körperlich schwer geschädigt würden. Und diese 
Trennung dürfte auch nur grundsätzlich für den Anfang der heil- 
pädagogischen Beeinflussung statthaben bis zu dem Zeitpunkt, wo es 
eben der neuen Heilerziehung gelungen ist, das Gute und Lebens- 
tüchtige in dem betreffenden Menschenkinde so zu stärken, daß 
wieder eine gemeinsame Erziehung mit anders geschlechtlichen Kindern 
versucht werden kann, ja als Vorbereitung auf die Lebensschule ver- 
sucht werden muß. 

So wie hier das Grundsätzliche nur in der Widerspiegelung der 


60 A. Abhandlungen. 

einfachen und natürlichen Verhältnisse des Lebens gesucht werden 
kann, so noch in einer zweiten Seite des Anstaltslebens, die mir 
ebenso am Herzen liegt und aus den gleichen Gründen. 

Es ist selbstverständlich, daß der bisherige Begriff der »Anstalt« 
fallen muß. So wie die Mietskaserne ein Massengrab der Volks- 
gesundheit und Volkssittlichkeit war, so sind die heutigen Massen- 
zwangserziehungshäuser im Kasernenstil das Grab jeder Pädagogik. 
Unser deutsches Volk ist durch die Zeitverhältnisse in eine Lage 
versetzt worden, daß heute jedes Menschenkind in unserem Volk als 
wertvoller denn je Anspruch auf erhöhte Fürsorge seitens der 
Gesellschaft hat. Ich möchte neben dem rassenhygienischen und dem 
bevölkerungstechnischen auch den volkswirtschaftlichen Gesichtspunkt 
der Psychopathen-Fürsorge noch besonders hervorheben. Wir müssen 
uns vergegenwärtigen, daß für psychopathische Kinder Geld aus- 
zugeben wohl das Allerwertvollste und Notwendigste in der oft 
geforderten »Sparsamkeit im Staatshaushalt« ist, weil gerade diese 
psychopathischen Kinder auch volkswirtschaftlich noch durchaus wert- 
volle, ja vollwertige Glieder der menschlichen Gesellschaft werden 
können und weil durch Psychopathenerziehung nicht allein positiv 
produktive Menschen geschaffen werden, sondern die Entstehung oder 
Entfaltung negativ zehrender Menschen als Insassen unserer Gefängnisse, 
Kranken- und Irrenhäuser, als politische Schädlinge usw. verhindert 
wird. Die Gesellschaft darf also hier nicht mit Geld sparen wollen; 
es darf aus Rücksicht auf die Grenzen der finanziellen Leistungs- 
fähigkeit des Staates und der Gemeinden nicht dahin kommen, daß 
große Anstalten im Mietskasernenstil weiterhin für Psychopathen, 
Fürsorge-Zöglinge usw. geführt oder gar neu errichtet werden; sondern 
die vom ersten Debatteredner, dem Direktor des »Rauhen Hauses« in 
Hamburg, mit so beredten Worten geschilderte Methode der Klein- 
siedelung muß durchgeführt werden. Also kleine Heime brauchen 
wir, die allerhöchstens 20 Kinder und zwar beiderlei Geschlechts 
beherbergen dürfen; und innerhalb dieser Heime müssen wieder je 
nach Alter und Eigenheiten kleine Familiengruppeu unter 3—4 
Erziehern und Erzieherinnen zusammengefaßt werden, ähnlich wie ich 
es in meinem eigenen kleinen Kindersanatorium und Psychopathen- 
heilerziehungsheim »Sonnenblick« in Zirndorf bei Nürnberg — das 
als ein Privatunternehmen leider nur für Kinder wohlhabender Stände 
in Frage kommen kann — durchgeführt habe. Anstaltserziehung darf 
sich, wenn sie wahrhaft in die Tiefe wirken soll, grundsätzlich niemals 
weit von Familienerziehung entfernen. Dieses Ziel kann nur dann 
erreicht werden, wenn Anstaltsleitung, Angestellte und Kinder wirklich 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 61 





—— m mi Ř— — —_— 





eine lebensvolle Einheit wie in einer großen Familie bilden; eine 
solche Einheit ist aber nur möglich, wenn die Familie nicht zu groß 
ist. Sonst ist es eben keine Familie mehr. Darum beschränkt sich mein 
Heim z. B. grundsätzlich auf eine Höchstzahl von 18 Zöglingen — 
je nach Lage der Fälle unter Umständen auch auf weniger — damit 
nicht »individuelle Behandlung« und »Familienerziehung« die heute 
allenthalben mit Recht so hoch im Kurse steben zu inhaltslosen 
Schlagworten und verlogenen Phrasen werden und ganz in die Hände 
von unverantortlichen und schwer kontrollierbaren Angestellten 
gleiten. 

Und damit komme ich zur dritten Ergänzung, die ich dem 
glänzenden Referat des Herrn Prof. Stier anfügen möchte, zu der 
Frage, mit der eigentlich das ganze Problem der Psychopathenfürsorge 
steht und fällt: die Frage des geeigneten Erzieherpersonals. 

Es unterliegt keinem Zweifel, daß die erfolgreiche Erziehung von 
Psychopathen das schwerste Problem der ganzen Erziehung überhaupt 
darstellt. Hier muß die Erziehung mit einer Tiefe und Fertigkeit 
gehandhabt werden, die eine Eignung zu diesem Beruf nach der 
persönlichen und wissenschaftlichen Seite voraussetzt, wie wir sie 
heute leider nur in äußerst seltenen Fällen vereinigt finden. Gerade 
für diesen Zweig der Erziehung genügt ein wenig psychiatrische und 
ein wenig theologische Kenntnis der Zusammenhänge in Gehirn und 
Seele nicht. Was vielmehr vor allem bei der Auswahl der Psycho- 
pathenerzieher beobachtet werden muß, ist die Frage, 9b der oder 
die betreffende sich als Mensch, als ganze Persönlichkeit überhaupt 
dazu eignet. Lehrer als bloße Stundengeber, Drill- oder Stockmeister 
sind im Psychopathenheim weniger als irgend einer andern Stelle am 
Platz. Für kein anderes als für das psychopathische Kind mehr ist 
ein sensibler, feinfühliger, ein intelligenter und geweckter 
Mensch nötig, der Strenge und Güte in richtiger Mischung in sich 
vereint und schon durch ein bloßes Dasein autoritiv zwingend und 
suggestiv auf die Kinder wirkt. Nirgends weniger wie in der Psycho- 
pathenerziehung macht es die Wissenschaft und die sog. Bildung und 
Ausbildung allein. Ich weiß es aus peinvollen Erfahrungen als Leiter 
meines eigenen Heims leider nur zu genau, wie wenig hier Wissen 
und noch so gute Zeugnisse, dagegen wie viel hier Persönlichkeit 
bedeutet. Heute bin ich so weit, daß ich alle psychiatrischen, theo- 
logischen und pädagogischen Fachkenntnisse gern wegschenke, wenn es 
mir gelingt, einen Menschen als Erzieher zu finden, der auch intuitiv 
alles zu erfassen in der Lage ist, was ein anderer, weniger Berufene, 
trotz aller seiner Fachkenntnisse niemals erfäßt. Solche Menschen auf- 


62 A. Abhandlungen. 











zuspüren und dann mit den nötigen pädagogischen und psychiatrischen 
Kenntnissen auszustatten, scheint mir die sicherste Gewähr dafür zu 
sein, daß das ganze Erziehungsproblem des psychopathischen Kindes 
in eine neue aussichtsreichere Bahn als bisher geleitet wird. Denn 
auch in der Geschichte der Pädagogik war, was die wirklich großen 
Pädagogen gemacht hat, nicht allerlei Kenntnis der realen Dinge, die 
ihnen z. B. in psychiatrischer Hinsicht noch völlig gefehlt hat, sondern 
war einzig und allein die ihnen innewohnende Kraft der Intuition. 
Solche Menschen mit pädagogischem Spürsinn, »mit der sehenden Hand 
und dem fühlenden Auge eines Gärtners« allenthalben zu entdecken 
und zu bilden, das erscheint mit die allererste Aufgabe, ja geradezu 
die Voraussetzung einer wahrhaft großzügigen Psychopathenfürsorge 
in deutschen Landen zu sein; und ich hoffe, daß bald ein ähnlicher 
Kongreß sich vor allem mit der Frage der Wahl und Ausbil- 
dung des Erzieherpersonals an den Anstalten für Psychopathen 
beschäftigen wird. 


Nachmittagssitzung. 


— mMM- 


Geheimrat Dietrich eröffnet die Sitzung und bittet Lizentiat 
Siegmund-Schultze sein Referat über 


Wege und Ziele der Fürsorge für psychopathische 
Kinder und Jugendliche 
zu übernehmen. 

Lizentiat Siegmund-Schultze: In den Referaten des heutigen 
Vormittags ist eins vielleicht noch nicht zu ganz deutlichem Ausdruck 
gekommen, nämlich die Tatsache, daß sich die Zahl der psychopathischen 
Konstitutionen im Kriege vermehrt hat. Wenn ich diesen Satz aus- 
spreche, so bin ich mir bewußt, daß, weil es sich um Konstitutionen 
handelt, man kaum über eine Vermehrung derselben mit vollem 
Bedacht sprechen kann. Vielmehr steht es so, daß diese Kon- 
stitutionen durch den Krieg so zahlreich offenbart worden sind, daß 
wir Praktiker tatsächlich von einer wesentlichen Vermehrung reden 
müssen. Wenn man vor 100 Jahren in den Rettungshäusern und 
Erziehungsanstalten noch nichts von psychopathischen Konstitutionen 
gewußt und noch nicht von ihnen gesprochen hat, so liegt das nicht 
nur daran, daß damals die Psychiatrie noch in ihren Kinderschuhen 
war, sondern es liegt auch daran, daß die nervösen Konstitutionen 
selbst damals in ihren Kinderschuhen waren. Tatsächlich haben wir 
in Berlin nach den Erfahrungen der Jugendgerichtshilfe und Jugend- 
beratung mit einer ungleich größeren Zahl dieser Fälle zu tun und 
haben uns gerade vom dritten Kriegsjahre ab umsehen müssen, wie 
wir dieser großen Gefahr und Not begegnen können. Wenn ich 
nun die Wege, die sich uns aufgetan haben, in folgendem schildere, 
bin ich mir bewußt, nur Bekanntes für den Kreis unserer ein- 
geweihten Freunde und Mitarbeiter zu sagen. 

Mein einleitendes Referat soll nur den Rahmen geben, der dann 
durch das Referat der nachfolgenden Redner ausgefüllt wird. 

Ich kann mich dabei auch ganz stützen auf die Darlegungen 
der Herren Psychiater: alles was Erkennung, Behandlung, Straffälligkeit 
der psychopathischen Kinder betrifft, bildet die Grundlage der folgen- 
den Ausführungen. 

Eine Feststellung, die für die Fürsorge an dem Psychopathen 
wesentlich ist, ist vielleicht nicht erwähnt worden, daß die Erkennung 
der psychopathischen Konstitution meist in die zweite Hälfte des 


64 A. Abhandlungen. 


schulpflichtigen Alters fällt. Die Folge ist die, daß die Heilbehand- 
lung meist erst bei diesem Alter eingesetzt hat. Das gilt sowohl 
für die Rettungshäuser wie für die Anstalten, die dem Zweck der 
Heilbehandlung psychopathischer Konstitutionen dienen. Wie weit 
künftig im Säuglings- und Kleinkinderalter Erkennung möglich wäre, 
ist eine noch von den Ärzten wenig geklärte Frage. Im Schulkinder- 
alter müßte die Beobachtung früher einsetzen. Wir haben in zahl- 
reichen Fällen feststellen müssen, daß die richtige Zeit für eine 
Heilbehandlung verpaßt war, als die Kinder vorgeführt wurden. 
Lehrer und Schulärzte müßten verpflichtet werden, ihr Augenmerk 
auf die Erkennung der psychopathischen Konstitution zu richten. Die 
Lehrer sollten die Psychopathen einer besonderen Behandlung zu- 
weisen, und hierfür wären etwa folgende Grundsätze festzulegen: 

1. Psychopathen sind nicht schwachsinnig, sind auch nicht gleich 
zu setzen mit geistig Minderwertigen; im Gegenteil, wie Genie 
und Wahnsinn sich berühren, berühren sich extraordinäre Be- 
gabung und Psychopathie. Es ist daher ein furchtbares Leiden 
für einen psychopathischen Knaben, wenn er in eine Schule 
mit Schwachsinnigen gebracht und mit ihnen unterrichtet wird. 
Diese Methode muß aufhören. | 

2. Ähnliches gilt für die Gleichsetzung von Psychopathie und 
Irrsinn. Psychopathen, die in Irrenanstalten gebracht werden, 
werden durch ihre Umgebung in eine Verschärfung ihrer 
Krankheit getrieben. Bei der Sensibilität der meisten 
Psychopathen wirkt eine solche Umgebung schwer schädigend. 

3. Es wäre aber auch falsch, diese Kinder nur auf Grund ihrer 
psychopathischen Veranlagung der Fürsorgeerziehung zu über- 
weisen, es müßte denn sein, daß gewisse Gründe trotz der 
psychopathischen Begabung das notwendig machen. Wir 
werden aber so urteilen müssen, daß auch wenn dieselben Ver- 
gehen vorliegen wie bei Kindern, die sonst in F. E. unter- 
gebracht werden, doch bei Psychopathen dieselben Ver- 
gehen nicht zu denselben Bestrafungen führen 
sollten, sondern eine Heilbehandlung eintreten sollte. 

Es sind also im schulpflichtigen Alter folgende Mittel nötig: 

1. Einrichtung von Hilfsklassen für schwere Psychopathen 
in größeren Städten. Dasselbe gilt auch für Fürsorge- 
erziehungsanstalten. Schon wegen der besonderen Ausbildung, 
derer die Lehrer für eine richtige Behandlung von Psycho- 
pathen bedürfen, ist diese Kinrichtung besonderer Klassen für 
Schwerkranke nötig. 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 65 








2. Die Einrichtung besonderer Erziehungsanstalten für 
psychopathische Kinder ist nötig. Die Grundsätze, die ich 
hierfür kurz aufzähle, sind im wesentlichen die, die Geheimrat 
Ziehen in der Gründung unseres Heimes in Templin zur Er- 
füllung gebracht hat. 

a) Nach unseren Erfahrungen müssen Knaben und Mädchen 
getrennt untergebracht werden aus dem Grunde, weil bei 
psychopathischen Konstitutionen das sexuelle Moment eine 
so große Rolle spielt, daß wir es bei jeder Maßiregel beachten 
müssen. Wir stimmen dem heut ausgesprochenen Grundsatz 
zu, daß, wenn möglich, auch diese Kinder schon früh für die 
gemeinsamen Erlebnisse erzogen werden sollen, daß sie gerade 
im Verkehr miteinander lernen sollen, wie sie sich im Leben 
bewegen müssen. Die tatsächliche Erfahrung aber lehrt uns, 
daß bei den Knaben, die uns eingeliefert werden, es vor- 
läufig nicht möglich wäre, diese Methode anzuwenden. 

b) Ein zweiter Grundsatz für die Psychopathenheime wäre 
der, daß Schulkinder und Schulentlassene getrennt 
behandelt werden. Es ist eigentümlich, daß im Alter von 13, 
"14 Jahren sich eine wesentliche Veränderung gerade bei 
diesen Psychopathen zeigt, die es nicht wünschenswert er- 
scheinen läßt, sie mit den jüngern zusammen zu lassen. 

c) Die Anstalten müssen unbedingt auf dem Lande angelegt 
werden, da nur dort eine Gesundung zu erhoffen ist. Die 
Landarbeit ist geradezu wesentlich für jede Heil- 
behandlung der Psychopathen. 

d) Die Heime müssen klein sein; wenn durchaus wegen der 
großen Verhältnisse einer Stadt große Heime angelegt 
werden, dann müssen dieselben in Familien geteilt sein. 

e) Diese Anstalten müssen nach Möglichkeit offen, d. h. 
nicht vergittert, innerlich und äußerlich, sein; wir haben in 
Templin und auch an anderen Stellen damit die besten 
Erfahrungen gemacht. Gerade solche Psychopathen, die als 
Ausreißer bekannt waren, wurden in einem freiwilligen, 
freudigen Zusammenleben der Zöglinge zu einer gewissen 

_ Liebe zu ihrem Heim gebracht. 

f) Jedes dieser Heime muß selbstverständlich einen Psychiater 
als Ratgeber und Arzt haben, der auf die ganze Gestaltung 
des Heimes einen wesentlichen Einfluß hat, wobei ich vor- 
aussetze, daß das Heim selbstvon Pädagogen gewöhnlich 
geleitet wird. 

Zeitschrift für Kinderforschung. 25. Jahrgang. 5 


66 A. Abhandlungen. 


Aber diese Mittel, d. h. Hilfsklassen und besondere Heime, ge- 
nügen nicht. Zweierlei sollte hinzukommen, was bisher nur in den 
wenigsten Fällen vorhanden ist: 

1. Die Einrichtung von Beobachtungs- und Unterbringungsheimen 
für diese Kinder in der Stadt selbst. Wenn ich sagte, daß 
diese Einrichtung in den seltensten Fällen zur Ausführung ge- 
kommen ist, kann ich doch konstatieren, daß in einigen Städten, 
auch in anderen Ländern schon Erfahrungen mit solchen Ein- 
richtungen gemacht” worden sind. Es handelt sich um Be- 
obachtungsstellen für psychopathische Kinder, die von Ärzten 
bezw. Professoren eingerichtet sind, vielfach nicht eigentlich 
Fürsorgezwecken, sondern mehr den Zwecken der Psychiater 
dienen sollen, die sich aber trotzdem in zahlreichen Fällen im 
In- und Auslande in eigentliche Fürsorgestellen haben um- 
wandeln lassen. Dann besondere Kinderhorte, die sich teils aus 
solchen Anstalten entwickelten, teils auch andere Entstehungs- 
gründe hatten. Ferner die Tagesheime, also ausgebaute 
Horte, die den Eltern die Beaufsichtigung und Erziehung der 
Kinder völlig abnehmen, und endlich Tages- und Nachtheime. 
Es handelt sich im wesentlichen um Stufenfolgen dabei. Je 
mehr geboten wird, desto besser wird in vielen Fällen die 
Hilfe für die Psychopathen sein. Eine Kombination der hier 
genannten Möglichkeiten ist auch denkbar. 

Auch für die Beobachtungsstellen möchte ich einige Grund 
sätze aus der Erfahrung festlegen: 

a) Es scheint erwünscht zu sein, daß die Geschlechter 

getrennt sind. 

b) Es scheint notwendig, daß die psychopathischen Kinder von 

den gesunden Hortkindern getrennt werden. Es scheint 
sich nicht zu bewähren, daß etwa eine Hälfte gesund, und 
die andere Hälfte psychopathisch ist. Wohl kann man in 
einem Hort gesunder Kinder zur Not einmal zwei bis drei 
Psychopathen unterbringen, aber eine größere Zahl hinein- 
zubringen, scheint nicht ratsam. 
Diese Horte und Tagesheime dürfen sich nicht zu weit 
von der Wohnung der Kinder befinden. In größeren 
Städten macht es sich notwendig, daß nicht nur ein Hort 
eingerichtet wird. Ein langer Weg ist keinesfalls zu 
empfehlen. Er bringt es mit sich, daß der Jugendliche 
durch diesen Hort eher geschädigt, als gefördert wird. Also 
brauchen wir in größeren Städten mehrere Horte. 


— 


c 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 67 

d) Selbstverständlich ist auch in den Horten eine Beobachtung 
durch einen Psychiater wie auch sonstige hygienische und 
ärztliche Aufsicht vonnöten. 

e) Weiter sollte mit jedem solchen Hort Gartenarbeit verbunden 
sein, wo möglich im Winter auch Werkstattarbeit. 

f) Endlich ist ja selbstverständlich, daß gerade auch in diesen 
Horten nicht ein Polizeiton, sondern ein froher Ton herrscht 
und daß zugleich auf das Spiel solcher Kinder besonderer 
Wert gelegt werden muß. 

. Ich komme jetzt zu der Ergänzung der Mittel für die Kinder 

im schulpflichtigen Alter, an der es bis jetzt am meisten fehlte, 

der Einrichtung einer offenen Fürsorge für diese 

Kinder. Es ist dies die offene Fürsorge in den Familien, die 

natürlich nicht geschehen kann durch die bisher genannten 

Organisationen, sondern für die wir besondere Persönlichkeiten 

gewinnen müssen. In vielen Fällen wird es ein Arzt oder 

Psychiater sein können; im allgemeinen wird es sich am meisten 

empfehlen, den Hortleiter auch für diesen Zweck anzustellen. 

Wenn eine Stadt bereits einen Psychopathenhort hat, wird der 

Hortleiter imstande sein, nicht nur die Familien der Kinder 

zu besuchen, die in seinem Hort sind, sondern auch die 

übrigen Kinder, die ihm genannt werden, und er wird auch am 
besten imstande sein, den Eltern die richtigen Ratschläge zu 
geben. Die offne Fürsorge ist deswegen so notwendig, weil die 

Eltern bisher fast nie über die richtige Behandlung ihrer Kinder 

Bescheid wußten. Nehmen wir allein eine solche Frage, wie 

das Versagen der körperlichen Strafen: Wie wird da gerade 

gesündigt von den Eltern, die es mit ihren Kindern am 
besten meinen. Und so gibt es viele Fragen, die geklärt werden 
müssen. Ich halte trotzdem daran fest, daß die Familie für 

Psychopathen der Boden.ist, auf dem sie sich am besten ent- 

wickeln können. -Es will mir scheinen, als sei die Familie, die 

selbst intakt ist, auf keine andere Weise, weder durch Hort 
noch durch Heim, zu ersetzen. Wenn es das Ziel der Kinder- 
fürsorge ist, harmonische Persönlichkeiten aus diesen Kindern 
zu machen, so ist aus diesem Grunde notwendig, daß die Familie 
der Boden bleibt, auf dem diese Kinder wachsen. Bei der 
offenen Fürsorge spielt eine besondere Rolle die Jugendgerichts- 
hilfe. Es besteht die unbedingte Notwendigkeit einer Beob- 
achtung sämtlicher straffälliger Jugendlicher durch den Psychiater. 
Diese findet jetzt meist nur unter juristischen Gesichtspunkten 
5* 


68 A. Abhandlungen. 


— mm. ae —— 











statt. Hier in Berlin ist man aber dazu übergegangen, gerade 
die Jugendgerichtshilfe auch dazu zu benutzen, daß man in 
die Frage der Heilbehandlung eingreift, und wir haben bereits 
über den Kreis derer hinaus, deren Psychopathie für das Ge- 
richt in Betracht kommt, auch auf dem Wege der Jugend- 
gerichtshilfe psychopathische Konstitutionen feststellen müssen, 
die nur für die Heilbehandlung in Betracht kommen. Daß 
die Jugendgerichtshilfe ihre Arbeit überall ausdehnt und wir 
mit ihrer Hilfe zu der Erkenntnis und richtigen Behandlung 
der Psychopathen kommen, ist eine Forderung, die gerade 
innerhalb der Notwendigkeit einer Familienfürsorge erhoben 
werden muß. 

Mit dieser Tatsache, daß eine solche offne Fürsorge eintreten 
muß, kann die Konsequenz gezogen werden, daß die Fürsorge nicht 
aufhören darf mit der Schulentlassung. Auch hier sind wir bei einem 
Punkt, der in der Großstadt im allgemeinen ein neues Arbeitsgebiet 
darstellt. Fürsorge für schulentlassene Psychopathen hat es im all- 
gemeinen außer in den Anstalten oder in Verbindung mit diesen 
wenig gegeben. Wir haben uns im allgemeinen um Psychopathen, 
die in den Großstädten lebten, die nicht von Schulen und anderen 
Stellen erreicht wurden, nicht gekümmert. Die Fürsorge für die 
Kinder muß selbstverständlich auch über das 14. Jahr hinaus 
weitergehen, und zwar ist es klar, daß es sich um Aufgaben 
handelt, die für viele Jugendliche die wichtigsten für das ganze 
Leben sind, um Aufgaben, die gerade in diesem Zeitpunkt der Schul- 
entlassung einsetzen, die sich zusammenfassen lassen in das Wort 
Berufsberatung. Wir machen die Erfahrung, daß Psychopathen, mit 
denen wir zu tun haben, fast immer Laufbursche und Gelegenheits- 
arbeiter werden wollen; nicht nur, daß viele Jungen und Mädchen 
gern verdienen und viele Eltern ihre Kinder dazu ausschicken, sondern 
bei den Psychopathen liegt auch eine körperlich- geistige Veranlassung 
zu diesem Wunsche vor. Sie wollen sich nicht so fest und hinter- 
einander mit einer bestimmten Sache beschäftigen. Darum wählen sie 
eine Arbeit, die möglichst viel Wechsel mit sich bringt. Wenn man 
ihnen daher zu einem Berufe rät, muß man irgendwie auf diese 
Eigenheiten Rücksicht nehmen, natürlich nicht soweit, daß man den 
Schaden, der ohnehin in ihnen steckt, weiter vergrößert. Als eine 
Arbeit, die hier die Mitte hält, würde ich etwa die Gärtnerei be- 
zeichnen. Sie ist nicht zu schwer, ist gesund, abwechslungsreich, der 
Jugendliche lernt zugleich etwas Festes. Natürlich ist für ihn über- 
haupt das Handwerk besser als jede andere Arbeit sonst. Unter dem 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 69 
Handwerk wiederum das Handwerk nicht, das zu viel Leichtigkeit in 
sich enthält, wie z. B. das Friseurhandwerk. Das Tischlerhandwerk 
hat sich als geeignet erwiesen. Auch Fabrikwerkstätten könnten in 
viel größerem Maße als bisher herangezogen werden, zumal die Zahl 
der Lehrstellen in den Fabriken bald größer sein wird, als die der 
Lehrstellen bei den Meistern. Am meisten würde sich immer emp- 
fehlen, die Jugendlichen unter die Aufsicht guter Meister zu stellen. 
Über Berufsberatung möchte ich nicht.mehr sagen, weil wir darüber 
Einzelreferate hören und nur eins nochmals hervorheben: Man muß 
darauf achten, daß eine regelmäßige körperliche Arbeit in gesunder 
Luft gefördert wird. 

Neben der Berufsberatung muß es sich um eine dauernde 
sittliche Beeinflussung handeln, die sich am besten vollzieht, 
wenn regelmäßige Verhältnisse vorliegen, wenn auch gegen den Willen 
des Jugendlichen eine feste Hand vorhanden ist. Daneben kommt 
die Einzelfürsorge mit dem Einfluß des Schutzaufsichtführers in Be- 
tracht, womöglich die Schutzaufsicht, wie sie auf Grund des neuen 
Erlasses des Justizministers jetzt möglich ist. Man sollte aber auch 
hier die Jugendpflege nicht unterschätzen. Diese Jugendlichen, 
die wir als Psychopathen bezeichnen, haben meist noch mehr Sinn 
für Kameradschaft als die Jugendlichen sonst. Man kann sie meist 
packen, wenn man sie nicht nur als Einzelobjekte der Jugendfürsorge, 
sondern durch das Medium der Kameradschaft behandelt und da- 
durch zu einem Entschluß bringt. 

Neben dieser offenen Fürsorge für die Schulentlassenen handelt 
es sich natürlich auch um einen Ausbau der Anstaltsfürsorge für sie. 

Wir haben gesehen, daß viel mehr als bisher Anstalten mit dem 
Zwecke der Behandlung dieser Psychopathen gegründet werden 
müßten. Für Berlin empfinden wir den Mangel außerordentlich stark. 
Wir haben in Templin z. B. die Jugendlichen während ihrer Schul- 
zeit gehabt, sie dann bei Meistern unterzubringen gesucht, einige 
wieder nach Berlin gehen lassen müssen und zum Teil erlebt, daß 
diese Jugendlichen, die von Arzt und Leiter der Anstalt als geheilt 
bezeichnet waren, innerhalb eines Jahres wieder auf schlechte Wege 
gekommen sind, und in solchen Fällen pflegt ja die Verschlechterung 
der äußeren Lebensverhältnisse mit der Verschlimmerung der sittlichen 
Verwahrlosung Hand in Hand zu gehen. 

Auf den Schüleranstalten müssen sich Schulentlassenenanstalten auf- 
bauen. Nicht nur in Fürsorgeerziehungsanstalten müssen Psychopathen 
in den oberen Altersstufen weitergeführt werden, so daß auf diese Weise 
die Frage des Berufes innerhalb der Anstalten zu einer befriedigenden 


70 A. Abhandlungen. 


Lösung gebracht wird. Es sind auch da schon Versuche gemacht 
worden. Es würde sich darum handeln, mit den Anstalten Werk- 
stätten zu verbinden und zu sehen, daß diese Werkstätten nicht um 
ihrer selbst willen, sondern um der Jugendlichen willen da sind, daß 
sie von dort aus zu Meistern gebracht werden können oder daß sie 
dauernd der Anstalt erhalten bleiben. So würde es sich auch er- 
möglichen lassen, eine Fortbildung für diese Jugendlichen zu 
schaffen. Ich bin nicht dafür, daß für Psychopathen auch im 
Fortbildungsunterricht besondere Hilfsschulklassen eingerichtet 
werden; denn in diesem Alter muß, wenn man sie überhaupt frei 
läßt, die Unterscheidung aufhören. Die Unterscheidung dem Jugend- 
lichen gegenüber soll überhaupt möglichst vermieden werden. Man 
soll ja auch den Hort nicht Psychopathenhort nennen. Es muß 
nach Möglichkeit vermieden werden, daß der Jugendliche, der sehr 
dazu neigt, etwas Besonderes sein zu wollen, auf seine Psychopathie 
stolz wird. 

- Um diese Neuerungen durchzuführen, muß es natürlich in jeder 
Stadt eine Stelle geben, die über das Schicksal solcher Kinder buch- 
führt. Jede große Stadt braucht einen Verein oder eine Stelle für 
Psychopathenfürsorge: ähnlich wie in Berlin bisher vom Verwaltungsrat 
Templin eine entsprechende Arbeit geleistet wurde oder für die 
Schwachsinnigen der Verein zur Fürsorge und Erziehung Schwach- 
sinniger wirkte. Es muß ein Verein begründet werden, dessen Auf- 
gaben ich noch kurz bezeichnen möchte: 

1. Anlegung einer Kartothek der Psychopathen mit Hilfe der 
Schule, und zwar sowohl der Personalbogen der Lehrer, wie sie 
augenblicklich die Schulverwaltung für die Psychopathen ein- 
richtet, wie mit Unterstützung der Schulärzte und Schul- 
schwestern. Beide Mittel werden angewendet, um die Zentral- 
stelle zu benachrichtigen. Nicht nur psychopathische Kon- 
stitutionen, sondern auch Vorzeichen starker Sensitivität 
müssen beobachtet werden. Selbstverständlich würde auch die 
Armen- und Waisenpflege wie die gesamte öffentliche Jugend- 
fürsorge herangezogen werden, damit eine vollständige Erfassung 
aller Psychopathen möglich ist. 

2. Im Anschluß daran die Einführung einer Zentralberatungs- 
stelle, die in vielen Fällen mit dem Hort und Tagesheim ver- 
einigt sein könnte, die die Aufgabe hätte, zunächst regelmäßige 
Sprechstunden zu halten, die einerseits von Psychiatern und 
Ärzten und andrerseits von Pädagogen gehalten würde. Neben 
dem Zweck der Berufsberatung hätte die Sprechstunde die 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 71 





andere Aufgabe, die Pflegschaft (nicht im juristischen Sinn) 
bezw. Schutzaufsicht für alle Fälle, die dort behandelt werden, 
zu übernehmen. 

. Die Aufgabe dieses Vereins für Psychopathenfürsorge wäre auch 
die Einrichtung von Heilerziehungsheimen auf dem Lande 
und zwar die Einrichtung von Heimen für Schulknaben, für 
Schulmädchen, für männliche und weibliche Schulentlassene; 

4. Die Einrichtung von Beobachtungs- und Aufsichtsheimen in 

der Stadt. 
a) Einrichtung von Horten in verschiedenen Stadtgegenden. 
b) Einrichtung eines Beobachtungsheimes für das Landheim, 
c) womöglich Einrichtung eines Tages- und Nachtheimes. 
5. Aufklärung der Eltern und Erzieher. Die richtig erkannte 

ı Methode der Psychopathen-Behandlung müßte vor allem dem 

Erzieher bekannt sein. Es ist auch wichtig, die Eltern in 
öffentlichen Versammlungen aufzuklären, diese Frage 
also auf Eltern- und Mütterabenden zu behandeln. 

Hierzu gehört Einfügung der Frage in die Ausbildung der 
Lehrer. 

Mit diesen letzten Aufgaben sind wir bereits zu den Aufgaben 
gekommen, die über den Rahmen einer lokalen Beeinflussung hinaus- 
gehen. Wie diese Versammlung die Aufgabe hat, nicht nur für Berlin 
bestimmte Grundsätze aufzustellen, sondern wir dadurch versuchen 
wollen, die Psychopathenfürsorge weithin in unserem Vater- 
lande anzuregen und zu stärken, so würde auch selbstverständlich 
die Aufklärung über diese Frage, wie sie jeder größere Lokalverein 
zu treiben hätte, weit hinaus führen über die lokalen Verhältnisse. 
Die Herausarbeitung der Grundsätze der Psychopathenfürsorge würde 
dazu führen, daß man endlich in Deutschland auch irgend eine 
Stelle weiß, bei der man sich über diese Frage Rat holen kann. 
Und wir hoffen, daß diese Versammlung und die bereits für heute 
abend angekündigte Sitzung, in der sich voraussichtlich ein deutscher 
Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen bilden wird, dazu 
beitragen soll, daß die bessere Behandlung dieser Frage auch in der 
breiten Öffentlichkeit vor sich geht. 


os 


Geheimrat Dietrich teilt mit, daß Geheimrat Anton, der die 
Güte hatte, das nächste Referat zu übernehmen, hat absagen müssen, 
aber zugesagt hat, das Manuskript zu übersenden. Er weist darauf 
hin, daß in der nächsten Nummer der Zeitschrift mehrere bemerkenswerte 
Artikel enthalten sind, die die Fragen der heutigen Themen berühren. 


| 


T A. Abhandlungen. 


Bedeutung der Psychopathen im öffentlichen Leben 
und öffentliche Fürsorge für Psychopathen. 
Von Professor G. Anton, Halle a/S. 


Der Zielpunkt für die Jugendfürsorge ist das Kind, und scin im 
kindlichen Wesen begründetes Schutz- und Erziehungsbedürfnis. ' 

Das Endziel der Jugendfürsorge ist die körperliche, geistige, sitt- 
liche, wirtschaftliche soziale Tüchtigkeit der Jugend. 

Die Jugendfürsorge ist somit ein Gebiet, auf dem die Vertreter 
der verschiedensten Lebensberufe tätig zu sein haben; Ärzte und 
Seelsorger, Erzieher und Juristen, unter den letzteren die Vormund- 
schaftsrichter, die Verwaltungsjuristen, auch die Strafrichter. 

Was die Arbeitsteilung trennt, findet sich hier wieder vereint im 
reinen Menschentum. 

Sorgt für die Kinder, und Ihr braucht den fertigen Wsnschen 
nicht mehr zu bessern und zu strafen, denn die Vagabondage des 
Kindes ist der Beginn der Kriminalität des Mannes, rief ein berühmter 
französischer Schriftsteller. i 

Wir Ärzte wissen aber, daß beides zum großen Teile auf eine 
Grundursache zurückzuführen ist, auf die Veranlagung des Kindes. 

Mit Recht wurde geltend gemacht, daß die verwabrlosten und 
schlecht erzogenen Kinder nicht nur für ihr eigenes Fortkommen 
Schaden leiden, sondern daß sie in der Familie, in der Schule, im 
weiteren Lebensberufe auch im öffentlichen Leben Schaden bringen, 
so daß der Staat, sagen wir die Allgemeinheit nicht nur bezüglich 
des einzelnen Kindes, sondern bezüglich der Familie und bezüglich 
der Allgemeinheit hier Fürsorge zu tragen hat. 

Wir alle sind in tiefster Anlage nicht nur als Menschen, sondern 
als Mitmenschen organisiert. 

Wir alle empfinden die wohltätige Wirkung eines vollwertigen, 
gut regulierten und ausgeglichenen Menschen. 

Wir empfinden aber noch mehr den Einfluß erregter, ungleich- 
mäßiger, krankhaft gerichteter Menschentypen. 

Die seelisch krankhaft Veranlagten sinken häufig mit der Not- 
wendigkeit eines Schicksals unter. 

Doch sind auf ihrem Lebenswege die Spuren der Zersetzung, der 
Erregung, der üblen Beispiele oft deutlich erweisbar. 

Ja, wer ins öffentliche Leben hineinblickt, der sieht, daß das 
Bizarre, das Verschrobene, das Auffällige im Kampfe um die Auf- 
merksamkeit im öffentlichen Leben stärker hervortritt und vorüber- 
gehend die stärkeren Wirkungen verursacht, während die schweren 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 73 
Leistungen der Selbstbeherrschung, des Vorausdenkens, die Hemmungs- 
leistungen der Rücksicht, der Bescheidenheit sich im öffentlichen 
Leben nicht so sichtbar zur Geltung bringen. 

Dieses Übergewicht der Psychopathen macht sich derzeit vielfach 
ungebührlich geltend im Schrifttum, aber auch im Straßenleben und 
bei den öffentlichen Versammlungen. 

Ausdrücklich muß die tägliche Erfahrung hervorgehoben werden, 
daß es unter den Psychopathen auch edle und aufopfernde, be- 
geisterungsfähige gibt, welche gerade durch ihie Erregbarkeit sich 
wirksam entfalten. 

Andrerseits muß noch eine große Zahl jener veranschlagt werden, 
welche der menschlichen Einfühlung und der normalen Gemüts- 
regungen bar sind und üble Wirkungen bringen von der Kindheit 
bis in die Berufszeit: die krankhaft moralisch Abgearteten. 

Die Psychopathen sind fast durchwegs schlecht reguliert und 
lassen die normale Anpassungsfähigkeit vermissen. 

Siesind daher meistens die geborenen Feinde der gegebenen Ordnung. 

Ja, es ist auffällig, daß ihnen meistens die Arbeit und Mühe ver- 
haßt wird, sobald diese ihnen zur Pflicht wird, denn das Sollen und 
Wollen ist bei ihnen nie in Einklang zu bringen. 

Dazu kommt noch die stetige Erfahrung, daß gerade die Psycho- 
pathen für einander eine rassenmäßige Anziehung haben. 

Sie bilden gewissermaßen eine eigene Kaste. 

So sehen wir auch in Halle improvisierte Jugendorganisationen 
entstehen, welche sich absondern von der menschlichen Gesellschaft, 
in denen auch Aufopferung und Gegenseitigkeit zutage tritt, welche 
aber immer von kurzer Dauer sind. 

Die Einflüsse derselben sind meistens verderbend und antisozial. - 
Denn Herabziehen ist viel leichter als Hinaufziehen. 

Die Ärzte und Seelsorger können viel erzählen, wie zersetzend, 
eıregend, arbeitshemmend ein einziger übel Gerichteter in ganzen 
Familienbeständen wirken kann. 

In der Kriegszeit war es uns ein stetiges Erlebnis, daß solche 
Psychopathen als untauglich aus dem Kampfgebiete zurückgebracht 
wurden mit dicken Aktenstößen, welche im Extrakt davon erzählten, 
wieviel Zersetzung und Störung für den Geist der Truppe, aber auch 
wieviel Mühe und Zeitverlust für die Verantwortlichen durch einen 
einzigen hervorgerufen werden kann. 

Vielfach aber ließ die lange Liste der Vorstrafen erkennen, daß 
auch in der früheren Entwicklung bereits die antisoziale Richtung 
böse Früchte trug für Familie, für Nachbarn und Gemeinde. 


74 A. Abhandlungen. 


Keineswegs können wir uns da auf den Standpunkt des aus- 
gezeichneten Menschenfreundes Dr. Reichert stellen, welcher in 
seinem berühmten Buche über die Verwahrlosung meinte, daß bei 
Verbrechen der Jugendlichen die Eltern und Vormünder auf die 
Anklagebank gehören. 

Vielmehr müssen wir klar ins Auge fassen, daß hier das Schicksal 
zum Teil in der Anlage gegeben ist, und daß das Wort von Tarde 
zutrifft: die üblen sozialen Folgen sind oft nur eine Fortsetzung 
(rallonge), der in der Anlage gegebenen Tatsachen. 

Trotzdem will ich hier keineswegs den fatalistischen Stand- 
punkt vertreten, vielmehr vollauf anerkennen, daß auch bei Psycho- 
pathen es sehr wohl möglich ist, die üble Geistesrichtung zu be- 
kämpfen, und daß es mitunter von Jugendeindrücken abhängt, ob ihre 
Fähigkeiten in zerstörende oder menschennützende Richtung gelenkt 
werden. 

Ja, ich möchte wiederum anerkennen, daß es Psychopathen gibt, 
welche in Kunst und Literatur wie auch auf religiösem Gebiete viel 
Erfolg und Aufopferung aufwiesen und welche mit ihren erregbaren, 
sensiblen Nerven für das Höchste sich empfänglich zeigten und selbst 
mithalfen, die Degeneration zu bekämpfen. 

Viele von ihnen zeichnen sich eben aus durch erhöhte Empfäng- 
lichkeit für edle und ideale-Richtungen, ebenso wie für zersetzende 
und zerstörende Sie sind übermäßig suggestibel. 

Ihr Einfluß entfaltet sich mehr als beim Normalen unbewußt. 

Die Versorgung, Behandlung und Unterbringung der Epileptiker 
ist sowohl für die rein ärztliche Aufgabe wie auch für jene eine 
schreiende Notwendigkeit, welche den Schutz der einzelnen und den 
Schutz der Gesamtheit als Amt und Beruf übernommen haben. 

Man rechnet im allgemeinen 3 Epileptiker auf tausend. 

Das gibt bei 70 Millionen im Deutschen Gebiete 210000; die 
Zahl ist in Wirklichkeit größer. 

Es besteht eben kein Zweifel, daß die Erkrankung viel häufiger 
sich findet, als sie amtlich angesagt wird. 

Ja, sie besteht oft unerkannt durch Jahrzehnte. 

Es ist wohlbekannt, daß die Krampffälligen in einem großen 
Prozentsatze geistige Einbuße erleiden; sicher gibt es eine große An- 
zahl, welche dauernd arbeits- und berufsfähig bleiben. 

Doch gibt es auch unter diesen günstigen Erkrankungsformen 
zahlreiche, welche trotz guter Leistungen im sozialen Kampfe nicht 
bestehen, da der Anblick der Krämpfe auf die meisten Menschen 
einen erschütternden Eindruck hervorbringt. 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 75 


Auch zeigt sich schon in der Kindheit ein leicht entzündliches, 
erregbares Gemütsleben mit Neigung zu motorischer Entladung, so 
daß die Personenkonflikte sich bei Epileptikern besonders häufig finden. 

Es ist also nicht der Betroffene und die Familie, sondern auch 
die Allgemeinheit dringend darauf angewiesen, daß PEDRBONGHR, Be- 
ratung, Vorbeugung schnellstens ermöglicht werde. 

Die erwachsenen Epileptiker, welche stärker betroffen sind, finden 
in Deutschland in ungefähr 17 Spezialanstalten Unterkunft. 

Ausdrücklich muß bemerkt werden, daß viele von ihnen durch 
eigene Intelligenz, durch zweckmäßige Beihilfe in ihrem Berufsleben 
sich behaupten, selbst in wichtigen Stellungen verbleiben. 

Die Kinder aber sind keineswegs ausreichend versorgt. 

Bei ihnen treten mehr die körperlichen Erscheinungen in den 
Vordergrund. 

Die höhergradigen Aufregungen bleiben ihnen meistens erspart. 

Immerhin sind sie außerordentlich hilfsbedürftig. 

Sie können nicht ständig unter den Altersgenossen belassen 
werden. 

Auch in der Schule muß die Rücksicht auf die anderen Schüler 
die Lehrer bestimmen, sie zu entfernen. 

Sie sind auch störend im Familienkreise und doch bedürfen sie 
der Aufsicht, 

Ein solches Kind kann das ganze Familienleben erheblich stören, 
so daß die Obsorge der anderen Kinder leidet und die Erwerbstätig- 
keit der Mutter in Frage gestellt wird. 

Dabei kommt noch oft io Betracht, daß diese Kinder in der In- 
telligenz leiden und in ganz anderer Art erzogen und unterrichtet 
werden müssen. 

In den Anstalten für Schwachsinnige finden sie gewöhnlich keinen 
Platz, weil aus praktischen Gründen Krampffällige ausgeschlossen 
werden. 

Dazu kommt, daß die Eltern aus begreiflichen, menschlichen 
Gründen sich nicht gerne auf weite Entfernung von diesen Kindern 
trennen, sintemal sie wochen- und monatelang ungestörtes Befinden 
darbieten können. 

Es schreit auch hier das Bedürfnis nach einem freieren Inter- 
nate in der Stadt, wo die Kinder sachgemäß versorgt sind, wo 
Schulunterricht ermöglicht werden kann, wo der mitunter wohltätige 
Zusammenhang mit der Familie aufrecht erhalten bleibt, wo endlich 
auch die keineswegs hoffnungslose ärztliche Behandlung in der Nähe ist. 

Von den vielen Formen der psychopathischen Kinder 


76 A. Abhandlungen. 





— EEE 


wurden besonders jene namhaft gemacht, welche durch krankhafte 
Abartung des Gemütes und durch artfremde, gewohnheitsmäßige 
Reaktionen, also verzerrten Charakter, der Erziehung und Anpassung 
unüberwindliche Hindernisse entgegenstellen. 

Nur ein Teil von ihnen kann gleichzeitig als schwachsinnig be- 
zeichnet werden. | 

Bei vielen tritt die Gemütsentartung oder mangelnde Gefühls- 
entwicklung als Hauptsymptom in den Vordergrund. 

Ein großer Teil dieser psychopathischen Kinder ist von väter- 
licher oder mütterlicher Seite, mitunter von beiden Seiten erblich 
belastet. 

Die Formen der psychopathischen Artung sind ja sehr vielgestaltig. 

Es werden derzeit unterschieden die Erregbaren und die Stumpfen, 
die stets Ungleichmäßigen und Haltlosen, die periodisch Schwankenden, 
‚, die Phantastischen, auch die zu Lügen und Fabulieren übermäßig 
Geneigten. 

Bei aller nötigen Anerkennung der Vorbedingung, der inneren 
Anlage zur Verwahrlosung muß doch ausdrücklich anerkannt werden, 
daß die äußeren und Lebensverhältnisse mächtigen, bestimmenden 
Einfluß haben, gute oder üble Richtung geben den Normalen wie 
den Minderwertigen und Widerstandsunfähigen. 

Gerade diese Einflüsse sind es ja, welche den Kinderfreund be- 
sonders zur Beachtung zwingen, da wir hierin auch vielfach Mittel 
und Wege zur Abwehr und Beseitigung finden können. 

Dies gilt sowohl für die großen Städte wie für die Landbevölke- 
rung, wo die Erziehung auf natürlichem Wege erfolgt, wo gewisser- 
maßen das Dorf der Erzieher ist. 

Um dies zu illustrieren, will ich einen kurzen Blick auf die 
schärfer ausgeprägten Verhältnisse im alten Österreich werfen. 

Die Verwahrlosung ging dort nach sehr kompetenten Berichten 
in einzelnen Provinzen Hand in Hand mit dem Fortschreiten der 
Industrie. 

In anderen Provinzen, besonders Krain und Dalmatien, rekru- 
tierten sich die Verwahrlosten aus den Amerika-Kindern, d. h. aus 
Kindern von Eltern, welche zu Verdienstzwecken nach Amerika 
wandern. | 

In Tirol sind es die sogenannten Hütekinder, welche zum Vieh- 
hüten nach Baden und Württemberg verdungen werden. 

Auch die Kinder der »Dörcher und Karrenzieher«, d. i. jener, 
welche ein unstetes Wanderleben führen, werden als verwahrloste 
Kaste bezeichnet. 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 7T 


— 











In Dalmatien, wo der Schulbesuch noch wenig durchgeführt ist, 
wird die Verwahrlosung durch Mangel an Schulbesuch, durch Mangel 
an Erziehung überhaupt hervorgerufen. 

Doch wird ausdrücklich gemeldet, daß dort aus diesen Verwahr- 
losten späterhin sehr brauchbare Matrosen, Soldaten und Arbeiter 
werden. 

In der Tat, wer dieses Land kennt mit seinen hohen, kahlen, 
aber sonnigen Felsen, wo die Menschen in stiller Natur verweilen 
und durch Selbsthilfe erzogen werden, der begreift, daß hier zwar 
Unbildung und Wildheit, weniger aber die Verkommenheit gezüchtet 
werden. 

Es führt dies auf ein anderes Gebiet, auf die Verwahrlosung, 
welche in den großen Städten, besonders in den Straßen der Vor- 
städte, in die Erscheinung tritt für jeden, welcher die Augen hierfür 
geöffnet hat. | 

Prof. Brunner sagt, daß bei der stark verbreiteten jugendlichen 
weiblichen Prostitution in den Vorstädten Berlins der junge Mann 
selbst tagtäglich vor dem Verbrechen und vor dem Zuchthause vor- 
übergeht. 

In einer deutschen Stadt, die ich nicht nennen will, hatte sich 
durch eine Zeit der Brauch der Straße entwickelt, daß die kleinen 
Mädchen dort in der Dunkelheit anrufen: ich bin schon 14 Jahre alt. 

Viele Einzelheiten könnte ich geben aus der Tätigkeit als poli- 
klinischer Arzt, wo wir oft mehrere Familien in einem Wohnzimmer 
vereinigt fanden, die Wohnungszimmer nur durch einen Kreidestrich 
voneinander getrennt. 

Alle Geschlechter lebten und verkehrten dort und lernten eine 
Zügellosigkeit, von der, Gott sei Dank! nur ein kleiner Teil in die 
Öffentlichkeit dringt. 

Besondere Veranlassung gibt der Zerfall des Familienlebens, 
wie er jetzt naturgemäß im Kriege zur Massenerscheinung geworden ist. 

Die Verwahrlosung der vaterlosen Familien war ja auch hier in 
Halle die Veranlassung, daß von vielen Seiten dringend nötige Ab- 
hilfe gesucht wurde, und ein kleiner Ausschnitt dieser Abhilfe hat 
sich in der hiesigen Beratungsstelle für abwegige Kinder ent- 
wickelt. 

Bald wurde uns klar, daß es mit der einfachen Beratung nicht 
geht, und die auf der Straße aufgesammelten Kinder wurden in einem 
Internat gesammelt und vor den üblen Einwirkungen der Straße be- 
hütet. 

Bald aber war auch mit einem Tagesinternate das Auslangen 


78 A. Abhandlungen. 

nicht zu finden, und es war ein schönes Verdienst der Jugendhilfe, 
daß wenigstens den schreiendsten Übelständen durch einen Hort ab- 
geholfen wurde, welcher die verwahrlosten Kinder ständig in Obsorge 
nehmen konnte. 

Wenn auch die Zalıl eine beschränkte sein mußte, so ist es doch 
möglich, mit vereintem Wirken Hunderte von Kindern von weiterer 
Verkommenheit fernzuhalten, besonders aber die Familien und Ge- 
schwister vor gleichem Unheil zu bewahren. 

Es war auch dadurch möglich, die Mütter zu entlasten und ihre 
Tätigkeit zugunsten der hofinungsvolleren Kinder zu ermöglichen. 

Wer die Erfolge an abwegigen Kindern studieren wollte, der 
‚brauchte nur dies Institut zu besuchen und die Kinder bei der regu- 
lären Tätigkeit und bei fröhlichem Spiel zu besichtigen. 

Dies alles geschah zurzeit, wo es am Nötigsten mangelte, wo oft 
mit größter Schwierigkeit die nötige Wäsche, die Badegelegenheit be- 
sorgt werden konnte und wo die Arbeitsgelegenheit der Zöglinge an 
den nötigen Mitteln scheiterte. 

Es hat Prof. Ziehen schon hervorgehoben, daß die guten Er- 
folge, welche sehr wohl möglich sind, bei psychopathischen und ab- 
wegigen Kindern, am besten nachzuweisen sind in den Erziehungs- 
anstalten für bemittelte Kreise, wo die Erziehung und Einübung in 
nützliche Arbeit mit großem Erfolge durchgeführt wird. 

Für die Schwachsinnigen, Zurückgebliebenen taubstummen und 
blinden Kinder ist wenigstens ein Stück Fürsorge getan. 

Für die psychopathischen, an sich bildungsfähigen Kinder aber 
ist wenig vorgesorgt. 

Gerade aber diese eignen sich nicht für Unterbringung in Schwach- 
sinnigenanstalten, geschweige denn in Irrenanstalten, weil sie dort 
verkümmern und verderben. 

Andererseits aber stellen die Psychopathen für die Familie die 
schwierigere Aufgabe, für die Öffentlichkeit die größere Gefahr. 

Der Wegweiser des Schicksals für schwer psychopathische Kinder 
zeigt in verhäugnisvolle Zukunft. 

Ein nicht geringer Teil gerät in Irrenanstalten, viele Mädchen 
zu frühzeitiger Prostitution. 

Ein großer Teil gerät auf verbrecherische Laufbahn und be- 
schäftigt in ewigen Rückfällen die Gerichte und bedroht die ganze 
Gesellschaft. 

Eine weitere Zahl finden wir frühzeitig in Armen- und Siechenhäusern. 

Auch die Trunkfälligen und Schnapslumpen sind häufig unter 
ihnen vertreten. 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 79 


Ich füge auch hinzu, daß auch eine große Anzahl von solchen, 
welche zu frühzeitiger Arbeitslosigkeit und unberechtigten Rentenstreit 
gelangen, aus den Reihen der Psychopathen stammt. 

Unter den Fürsorgezöglingen werden entgegen anderen Schätzungen 
von kompetenter psychiatrischer Seite bis 45°/, Psychopathische und 
Anormale gezählt. 

Schon diese einfache Aufzählung läßt jeden sozial Fühlenden er- 
kennen, wieviel Ungemach, vieviel Leid und Verderbnis durch einen 
einzelnen für die gesamte Familie veranlaßt wird, wie sehr die Tätig- 
keit des Lehrers, Seelsorgers, der Gemeinden und schließlich der 
Länder gestört und belastet wird, insbesondere auch welch enormer 
wirtschaftlicher Schaden hier herangezüchtet wird, wenn die schweren 
Formen der Psychopathie von Kindheit an der Verwahrlosung und 
Verkommenheit überlassen werden. 

Es wäre wohl möglich, ökonomisch auszurechnen, daß die humane 
und zweckmäßige Fürsorge für diese mißglückten Menschenkinder 
gleichzeitig wirtschaftlich als die sparsamste Maßregel erscheint. 

Die Geschichte der Kinderfürsorge zeigt in allen Ländern, bei 
allen Kulturvölkern, daß die Empfindung der Lage und die Abwehr 
des Kinderelendes den Herzen hochgesinnter und edler Menschen 
entstammt und das erst allmählich die öffentlichen Machthaber 
zur Mithilfe zu veranlassen sind. 

Auch wir durften nicht untätig zuwarten, bis die staatliche Ini- 
tiative und die viel belasteten Gemeinden dies Werk der Mildtätig- 
keit in Angriff nehmen, sondern müssen selbst mit Tatkraft und 
opferwilllg beseelt herantreten an das nunmehr erkannte öffentliche 
Kinderelend. 

Allen Berufskreisen ist hier die schöne Möglichkeit gegeben, end- 
lich .einmal unter der Flagge der einigenden Menschenliebe dem 
Elend vorzubeugen und Gemeinnützliches zu schaffen. Dies gilt 
gegenüber der schreienden Not der Jetztzeit, ebenso wie der Zukunft 
des Volkes. 

Geheimrat Dietrich erteilt das Wort Herrn Oberregierungsrat 
Dietrich-Leipzig zu seinem Referat: 


Beobachtungsheime für jugendliche Psychopathen. 


Die Frage der völligen und umfassenden Fürsorge für die 
jugendlichen Psychopathen ist zunächst eine Frage der Ersatz- 
erziehung. Ersatzerziehung ist jedwede Art von Erziehung, die 
bestimmt ist, die an sich natürliche und gebotene Erziehung in der 


80 A. Abhandlungen. 


eigenen Familie zu ersetzen, wenn diese überhaupt fehlt oder zur Er- 
ziehung nicht geeignet ist. Die Mehrzahl der Psychopathen muß gerade 
infolge ihrer Beschaffenheit früher oder später der Eısatzerziehung 
anheimfallen. Sie reagieren abnorm auf die Reizungen des Lebens, 
kommen mit ihren Mitmenschen, mit dem Sittengesetz und mit 
dem Strafgesetz in Konflikt; sie stören so die gute allgemeine 
Ordnung, und es ist ein Einschreiten von Staat und Gemeinde er- 
forderlich. 

Das am schärfsten umrissene Gebiet der Ersatzerziehung ist die 
Fürsorge- oder Zwangserziehung. Ihre Voraussetzungen sind durch 
das Gesetz festgelegt, und sie vollzieht sich nach den gesetzlichen 
Vorschriften. Die ihr Überwiesenen stellen die Hauptmasse der 
gefährdeten und verwahrlosten Jugend des Volksganzen dar. 

Sollen nun die Psychopathen unter den Fürsorge- 
zöglingen erfaßt und erkannt und unter Beachtung ihrer Eigenart 
behandelt, verpflegt, erzogen werden, so bedarf es besonderer Maß- 
nahmen. Für diese müssen wir uns zunächst an den Erfahrungssatz 
erinnern: Jedwede Ersatzerziehung kann nur dann von Erfolg be- 
gleitet werden, wenn der von ihr Betroffene von vornherein an den- 
jenigen Ort kommt, wo die für ihn richtigste und geeignetste Er- 
ziehung geboten werden kann. Dies nötigt uns, gleich zu Beginn der 
Fürsorgeerziehung festzustellen, wes Geistes Kind der Zögling ist, 
welche Schwächen und Fehler ihm anhaften. Um dies zu ermitteln, 
‘genügt aber nicht, daß wir uns auf das verlassen, was über den 
Zögling an Aussagen und Berichten bisher in den Akten enthalten 
ist. Die Eltern pflegen in ihren Angaben entweder zu übertreiben, 
oder sie sind geneigt zu verheimlichen. Für die Äußerung des 
Lehrers kommt in Betracht, daß er bei seiner starken Inanspruchnahme 
durch große Schülerzahlen oft nur die Schulleistungen, nicht aber das 
Verhalten außerhalb der Schule, kennen zu lernen vermocht hat. 
Der Geistliche aber und der Arzt sind für ihre Urteile meist nur auf 
vorübergehende Eindrücke angewiesen gewesen. Manchmal entstammen 
einer Schutzaufsicht eingehendere Berichte. Alles, was da geboten 
wird, gibt uns gewiß wertvolles Material in den verschiedensten 
Richtungen an die Hand. Es reicht aber nicht hin, um uns das er- 
schöpfende und umfassende Bild der Wesensart des Zöglings zu 
schaffen, welches wir auch besitzen müssen, um die überaus schwierige 
und verantwortungsreiche Entschließung über die Unterbringung des 
Zöglings fällen zu können. Verantwortungsreich gegenüber dem 
Zögling, weil die Wahl seiner Unterbringung bestimmend für seine 
ganze Zukunft sein kann. Verantwortungsreich gegenüber den Eltern, 


Tazung über Psychopathenfürsorge. 81 


—m— - 0-1 070 nn — mn m 








— 


denen unter Umständen kraft Gesetzes mit Gewalt das Kind genommen 
worden ist; dazu kommt, daß, wenn für seine Erziehung in der 
eigenen Familie ein Ersatz geboten werden soll, dann das menschen- 
möglich Beste gegeben werden muß. Verantwortungsreich endlich 
gegenüber der Allgemeinheit; denn es kann ein jeder, der zu den 
öffentlichen Lasten beiträgt, verlangen, daß mit den erheblichen auf- 
gewendeten Mitteln für die Fürsorgeerziehung nur gerade der zweck- 
mäßigste Gebrauch gemacht wird, und daß insbesondere verfehlte 
Unterbringungen mit ihren großen unnötigen Aufwendungen unter- 
bleiben. 

Soll daher eine hinreichende Unterlage geschaffen werden, so ist 
dies nur möglich durch eingehende Beobachtung. Diese muß sich 
erstrecken auf alle Wesensäußerungen innerhalb eines angemessenen 
Zeitraums und in den verschiedensten Lebenslagen, wie sie das ge- 
wöhnliche Leben eines Jugendlichen mit sich bringt; das macht die 
längere Beobachtung in einer besonders eingerichteten Anstalt er- 
forderlich, dem Beobachtungshaus oder Beobachtungsheim. 

Die Beobachtung muß vorgenommen werden durch geeignete 
Sachverständige, welche unter Beachtung der Lehren der Wissen- 
schaft und der Erfahrung das Einzelwesen in seiner besonderen 
Eigenart, namentlich nach der krankhafton Seite hin, zu erkennen 
und zu beurteilen und die besten Abhilfmaßnahmen anzugeben ver- 
mögen. Als solche Sachverständige kommen nur der psychiatrisch 
geschulte Arzt und der psychologisch durchgebildete Pädagog in 
Betracht, und wie dem Arzte auch psychologisches Wissen zur Seite 
stehen muß, wird ebenso der Pädagog psychiatrische Kenntnisse nicht 
entbehren können. Beide müssen, in gegenseitiger Anerkennung ihrer 
Gleichberechtigung auf diesem wichtigen Gebiete und in einträchtigem, 
harmonischem Zusammenwirken einander ergänzend, auf das eine 
Ziel zustreben: erschöpfende, nach menschlicher Möglichkeit bis zur 
Vollkommenheit gesteigerte Erfassung und Erkennung der Eigenart 
des Jugendlichen mit Ermittelung aller Abweichungen von dem 
normalen Durchschnitte. 

Es ist nicht möglich, eine schärfere Abgrenzung der Tätigkeiten 
des Arztes und des Pädagogen zu geben, doch werden äußerlich zwei 
Perioden zu unterscheiden sein, eine Zeit der Beobachtung durch den 
Arzt und eine Zeit der Beobachtung durch den Pädagogen. Für den 
Arzt wird es darauf ankommen, nach Ausschaltung aller störenden 
Einwirkungen, insbesondere durch hinreichende Bettruhe, die körper- 
liche und geistige Beschaffenheit durch persönliche Untersuchungen 
zu ermitteln und hierbei besondere Methoden anzuwenden, wie die 

Zeitschrift für Kinderforschung. 25. Jahrgang. 6 


82 A. Abhandlungen. 


Intelligenzprüfung nach der Methode Binet-Simon oder der Definitions- 
Methode. Seine Beobachtung wird in der Regel in einem Zeitraum 
von 2 Wochen abgeschlossen sein können. Dem Pädagogen liegt 
dann in der Folgezeit ob, diese Beobachtungen fortzusetzen und zu 
ergänzen durch die Wahrnehmungen, wie die Jugendlichen sich auf die 
Reizungen des gewöhnlichen Lebens im Zusammensein mit anderen ver- 
halten, so bei Spiel und Unterricht, bei der Arbeit, bei Gespräch und 
Spaziergang, beim Essen und anderen Tätigkeiten. Die Beobachtung 
wird in der Regel in etwa 4 Wochen abgeschlossen sein können. 
Handelt es sich um schwierige Fälle, so wird für den Arzt wie für 
den Pädagogen eine längere Beobachtungszeit geboten sein, die sich 
bis zu einem Jahre und darüber erstrecken kann, wobei sich die 
Abgrenzung ihrer Forschungstätigkeit nach Lage des besonderen 
Falles in gegenseitigem Einvernehmen regeln wird. Bei Fällen, die 
sofort als zweifelsfrei erkannt werden, kann eine weitere Beobachtung 
überhaupt unterbleiben. 

Nur auf diese Weise wird es möglich sein, die Eigenart des 
Zöglings völlig zu enthüllen, in des Wortes eigentlichster Bedeutung, 
und den wirklichen Wesenskern herauszuschälen. Was diesen über- 
deckt und verschleiert — Erscheinungen der Verstellung, der Nach- 
ahmung, der Abspannung oder Erregung, der Pubertätszeit und alle 
Dinge, die man unter Psychopathologie des täglichen Lebens zusammen- 
fassen kann — wird nicht irre führen und zu einem Fehler in der 
Feststellung nicht Ursache sein, weil es wegfällt, oder, wenn geblieben, 
in seiner wahren Bedeutung erkannt und richtig bewertet wird. 

Ein solches Ergebnis kann nur erzielt werden, wenn dem Be- 
obachtungsheim das geeignete Personal zur Seite steht. Dieses muß 
sich aus pädagogisch und psychologisch Gebildeten und Erfahrenen 
und aus solchen zusammensetzen, welche in der Behandlung geistig 
Erkrankter geübt und vor allem von Passion und Liebe zur Sache 
erfüllt sind. 

Ob die Leitung zweckmäßig dem Arzte oder dem Pädagogen 
anzuvertrauen sein wird, ist eine Frage der historischen Entwicklung 
jedes einzelnen Institutes und dann eine Frage der Person. Nicht 
außer acht wird gelassen werden können, daß sich fragt, ob es sich 
nicht empfiehlt, den Arzt seiner eigentlichen Aufgabe dadurch zu 
erhalten, daß er von der erdrückenden und lähmenden Fülle der 
täglich wachsenden, immer schwieriger und verdrießlicher werdenden 
Verwaltungsgeschäfte großer und kleiner Art freigelassen wird und 
so eine Beeinträchtigung seiner Schaffenskraft in keiner Weise 
erfährt. 


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BE b G Bi _ — 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 83 

Der unleugbare Vorteil einer solchen Beobachtuug aber muß allen 
der Fürsorgeerziehung Überwiesenen gleichmäßig zuteil werden, nicht 
bloß einzelnen. Ein jeder hat Anspruch darauf. Es darf nicht gelten 
das System der Auslese. Nicht nur diejenigen sollen beobachtet 
werden, welche nach den vorhandenen Berichten oder nach den An- 
gaben ihrer Erzieher zu Zweifeln über ihre geistige Beschaffenheit 
Anlaß geben. Dies würde dazu führen, daß nur solche, welche 
eklatante Äußerungen geistiger Anormalität von sich geben, der Be- 
obachtung unterzogen werden, während solche, die unter dem Schein 
eines klaren Falles eigentlich die größten Rätsel aufgeben, un- 
beobachtet bleiben. 

Es muß also gelten das System der Einweisungspflicht. 
Jeder der Fürsorgeerziehung Übverwiesene muß der Beobachtung in 
einem Beobachtungshaus zunächst zugeführt werden, und man wird 
hiervon vielleicht nur solche ausschließen können, die bisher keinerlei 
Verwahrlosungserscheinungen bekundet haben und lediglich zur Ver- 
hütung der Verwahrlosung ihren zu ihrer Erziehung nicht geeigneten 
Eltern entzogen werden. Aber auch für sie dient das Beobachtungs- 
heim als Möglichkeit sofortiger Unterbringung, wenn es gilt, 
sie alsbald aus ihrer Umgebung herauszunehmen, und als Ver- 
teilungsstelle für Unterbringung in Familie und Anstalt. So bietet 
die Einweisungspflicht die Möglichkeit der Schaffung einheitlicher 
Unterlagen für die Behandlung sämtlicher der Fürsorgeerziehung 
Überwiesenen und ihrer Verteilung nach einheitlichen Grundsätzen. 
Ein besonderer Vorteil der Einweisungspflicht ist übrigens, daß nur 
die Erfahrungen, welche in einem auf Grund der Einweisungspflicht 
aller Zöglinge gleichmäßig dienenden Beobachtungsheime gewonnen 
werden, eher geeignet sind, verallgemeinert zu werden, während es 
gefährlich erscheint, von Ergebnissen der Untersuchungen ausgewählter 
Auslesefälle auf die Allgemeinheit zu schließen. Damit wird das 
Beobachtungsheim zur Stätte wissenschaftlicher Forschung. 


Auf dem vorstehend gekennzeichneten Wege ist es möglich, 
restlos die Psychopathen unter den Fürsorgezöglingen zu ermitteln 
und auf Grund dieser Feststellung sie von vornherein in diejenige 
Anstalt zu bringen, wo für sie die richtigste und geeignetste Er- 
ziehung geboten werden kann, also die nötige Differenzierung 
vorzunehmen. Leichte Psychopathen werden in jeder Anstalt ohne 
Nachteile für sich und ihre Mitzöglinge untergebracht werden können. 
Für die mittleren Fälle der Psychopathie müssen besondere Anstalten 
geschaffen werden, „während die schweren Fälle dauernder psychi- 

6* 


84 A. Abhandlungen. 


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atrischer Behandlung bedürfen, so daß sie am besten in besonderen- 
Abteilungen des Beobachtungsheims verbleiben. 

Der besondere Wert der eingehenden Feststellungen im Beobachtungs- 
heim liegt auch darin, daß diese in der Anstalt der ferneren Unter- 
bringung fortgesetzt und ergänzt werden können. Unter Umständen 
kann bei erneuten Zweifeln über die geistige Beschaffenheit, oder bei 
auftretenden neuen und überraschenden Erscheinungen eine Rück- 
nahme in das Beobachtungsheim zur ferneren Beobachtung erfolgen. 

Die Überzeugung der Richtigkeit des gekennzeichneten Weges hat 
dazu geführt, daß der Fürsorgeverband Leipzig, das Heilerziehungs- 
heim Kleinmeusdorf im Jahre 1913 errichtet hat. Seit 25. Oktober 
1913 in Betrieb bietet es Raum für 225 Zöglinge, ist nach dem 
Familiensystem eingerichtet, und es sind dorthin bereits 2093 
Zöglinge eingewiesen und beobachtet worden, so daß gesagt werden 
kann, es ist für sie nach menschlicher Möglichkeit ihre geistige Be- 
schaffenheit ermittelt und demgemäß ihre Unterbringung in die 
geeignete Anstalt oder Familie eingeleitet worden. Die Zahl der 
Psychopathen unter den Fürsorgezöglingen ist nicht unerheblich. Von 
den in das Heilerziehungsheim Eingewiesenen waren Psychopathen: 


1914 1915 1916 
% Wé fs 
schulpflichtige Knaben . . 48,7 45,8 41,8 
schulentlassene $„, . . 594 61,5 61,8 
schulpflichtige Mädchen . . 32,8 45,5 44.2 
schulentlassene „, 40 37,6 31,6 


Mit Absicht ist die Nähe einer Irrenanstalt, der staatlichen Heil- 
anstalt Dösen, gewählt worden. Sie bietet die Möglichkeit der täglichen, 
unter Umständen sofortigen Anwesenheit eines in allen Zweigen seines 
ganzen wissenschaftlichen Gebietes fortdauernd tätigen Psychiaters; 
außerdem können der Irrenpflege Bedürftige sofort und ohne be- 
sondere Umstände der Irrenanstalt zugeführt werden. 

Die vorgetragene theoretische Auffassung und ihre praktische 
Erprobung im Heilerziehungsheim Kleinmeusdorf zunächst für das 
Gebiet der Fürsorgeerziehung, führt zu den von mir nochmals zu- 
sammengefaßten Schlußfolgerungen: 

1. Zur Ermittelung von Psychopathen unter den Fürsorgezöglingen 
ist eine längere Beobachtung in einem Beobachtungsheim erforderlich. 

2. Die Einweisung in ein solches darf nicht auf Grund einer 
Auslese erfolgen, es muß der Grundsatz der Einweisungspflicht für 
alle Zöglinge Anwendung finden, wovon nur für zweifelsfreie Fälle eine 
Ausnahme zu machen ist. 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 85 


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3. Die Beobachtung darf nicht nur durch den Arzt und nicht nur 
durch den Pädagogen erfolgen, sondern durch beide gemeinschaftlich. 

4. Die Beobachtung im Beobachtungsheim kann nicht durch ein- 
malige psychiatrische Untersuchungen ersetzt werden, namentlich gilt 
dies für‘ Massenuntersuchungen, welche nur als Notbehelf zu be- 
trachten sind. 

Die so zunächst für die Psychopathen unter den Fürsorgezöglingen 
gewonnenen Grundsätze haben auf Erfassung der jugendlichen Psycho- 
pathen, die außerhalb der Fürsorgeerziehung stehen, ent- 
sprechende Anwendung zu finden. Auch für sie sind Beobachtungs- 
heime diejenigen Einrichtungen, welche allein eine einwandfreie Er- 
mittlung ihrer psychopathischen Veranlagungen verbürgen, und es 
möchte von ihnen der weitgehendste Gebrauch gemacht werden. 

Dem steht zunächst entgegen, daß hierfür zur Zeit nur wenige 
Beobachtungsheime und auch diese nur in beschränktem Maße zur 
Verfügung stehen. Es ist hier also ein Mangel vorhanden, dem un- 
bedingt abgeholfen werden muß. Zu betonen ist jedenfalls, daß die 
an sich denkbare Beobachtung eines Jugendlichen in einer Irrenanstalt, 
wenn irgend angängig, vermieden werden möchte, aus guten Gründen, 
die auch auf der Hand liegen. 

Solchen Beobachtungsheimen werden die nicht von der Fürsorge- 
erziehung ergriffenen Jugendlichen freilich nur auf Grund einer ge- 
troffenen Auslese zugeführt werden können; doch sollte der Grundsatz 
der Einweisungspflicht wenigstens unter gewissen Voraussetzungen, 
soweit es irgend möglich ist, durchgeführt werden, z. B. für alle 
Jugendlichen, gegen die wegen strafbarer Handlungen Anklage er- 
hoben wird, insbesondere zur Gewinnung von Unterlagen für die 
Beurteilung ihrer Einsichtsfähigkeit, weiter für alle Schüler, für welche 
Hilfsschulunterricht in Frage kommt, um auf Grund der durch die 
Beobachtung gewonnenen Unterlagen von vornherein eine richtige 
Behandlung in der Hilfsschule sicher zu stellen und stark Schwach- 
sinnige auszuschalten, endlich auch für Jugendliche, welche von Miß- 
handlungen betroffen worden sind. Es ist ja bekannt, daß Kinder- 
mißhandlung oft nur das Ergebnis der ständigen Reibung zwischen 
einem psychopathischen Kinde und seinen Eltern oder Erziehern ist, 
welche es nicht zu verstehen vermögen, einer Reibung, die sich zum 
dauernden und verhängnisvollen Konflikt steigern muß, wenn die 
Eltern oder Erzieher selbst psychopathisch veranlagt sind. 

Im übrigen wird es vor allem die Schule sein, die in der Lage 
ist, Jugendliche, deren geistige Beschaffenheit zu Zweifel Anlaß gibt, 
einem Beobachtungsheim zuzuführen. Diesem Zwecke dienen auch 


86 A. Abhandlungen. 


ärztliche Sprechstunden, wie sie der Fürsorgeverband Leipzig ein- 
geführt hat, wo Eltern und Erzieher Kinder, deren (eisteszustand sie 
nicht zu verstehen vermögen, vorstellen und entsprechend gute Rat- 
schläge empfangen, unter Umständen nahe"gelegt erhalten, ihre Kinder 
einige Zeit einem Beobachtungsheim zu überweisen. 

Von besonderem Wert sind die in den Beobachtungsheimen ge- 
wonnenen eingehenden Unterlagen für die psychopathischen Jugend- 
lichen noch dadurch, daß sie bei der Berufsberatung zugrunde 
gelegt und für diesen Zweck unter Anwendung geeigneter Methoden 
von vornherein zielbewußt gestaltet werden können. | 

Von einigen Seiten ist darauf hingewiesen worden, daß die 
Psychopathen ein Teil unseres Volkskörpers seien, dessen Vermehrung 
und Fortpflanzung nicht zu erwünschen sei und deshalb in Frage 
komme, durch Sterilisation für sie die Nachkommenschaft zu ver- 
hindern, wie es bei Geisteskrauken in der Schweiz und bei Ver- 
brechern und Geisteskranken in einigen Staaten Nordamerikas schon 
geschehen ist. Die Frage der Sterilisation erscheint aber noch lange 
nicht spruchreif. Sollte man später einmal zu ihrer Anwendbarkeit 
gelangen, so wird dem Beobachtungsheim für die Feststellung der 
Psychopathen eine besondere Bedeutung zukommen. 

Diese Bedeutung werden sie sicher schon jetzt in Fällen haben, 
wo die Entmündigung des Jugendlichen angestrebt wird, weil er 
sich infolge seiner psychopathischen Veranlagung allein im Leben 
nicht zu behaupten vermag. Das Beobachtungsheim wird in der Lage 
sein, dem Gericht für seine Entschließung einwandfreie Unterlagen zu 
liefern, die auf volle Beachtung unbedingten Anspruch haben. 

Endlich sind die Beobachtungsheime auch geeignet, in besonderen 
Abteilungen bei sich Psychopathen aufzunehmen, die zwar der Auf- 
nahme in einer Irrenanstalt nicht bedürfen, aber doch so beschaffen 
sind, daß sie in dauernder psychiatrischer Beobachtung und 
Behandlung stehen müssen. KTS | 

So sind die Beobachtungsheime fähig, jimmer} mehr; für die 
Jugendfürsorge im allgemeinen wie für die psychopathischen Jugend- 
lichen im besondern an Wert und Bedeutung zu gewinnen, und man 
wird daran gehen müssen, sie als ein hervorragendes Werkzeug zur 
Erkennung der Eigenart und zur Erforschung des Geheimnisvollen 
und Rätselhaften in unseren Jugendlichen in immer höherem Maße 
zu vermehren und auszubauen. 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 87 





Schutzaufsicht über psychopathische Kinder. 
Von Ruth von der Leyen. 


Um zu der Frage, ob eine Schutzaufsicht über jugendliche Psycho- 
pathen möglich ist, Stellung nehmen zu können, müssen wir uns 
zunächst darüber klar werden, was Schutzaufsicht ist. Die Schutz- 
aufsicht entbehrte bisher jeder gesetzlichen Grundlage, trotzdem sie 
in den verschiedensten Arbeitsgebieten der Jugendfürsorge ausgeübt 
wurde; ich erinnere nur an die Schutzaufsicht über straffällig ge- 
wordene Kinder, über mißhandelte Kinder, über Trinker. Durch den 
Erlaß des Preußischen Justizministers vom 18. Februar 1918 hat die 
Schutzaufsicht zuerst die ihr gebührende Stellung auf dem Gebiet der 
Jugendfürsorge gefunden; sie soll auf alle gefährdeten — und zwar 
sowohl die körperlich als auch die moralisch gefährdeten — Kinder® 
ausgeübt werden. Zu diesen Gefährdeten im weitesten Sinne des 
Wortes gehören die Psychopathen. Bei ihnen, die besondere Schwierig- 
keiten in der Erziehung machen, soll die Schutzaufsicht ein Er- 
ziehungsmittel sein. Wird ihre Durchführung möglich sein? Diese 
Frage ist unter bestimmten Voraussetzungen zu bejahen, Voraus- 
setzungen die sowohl im Wesen des Kindes, als im Wesen der Eltern, 
aber auch im Wesen und in der Begabung des Fürsorgers liegen, und 
ihre richtige Ausübung beruht schließlich auf der engen Zusammen- 
arbeit zwischen dem Arzt und dem Pädagogen sowie zwischen den 
Organen der freiwilligen Liebestätigkeit. 

Es muß festgestellt werden, daß sich seit Kriegsausbruch bei 
einer großen Anzahl von Kindern Erziehungsschwierigkeiten heraus- 
gestellt haben, die scheinbar auf einer psychopathischen Konstitution 
beruhen. Hiermit ist nicht gesagt, daß tatsächlich die Zahl der 
Psychopathen sich vermehrt hat, es wird nur gesagt, daß die Er- 
ziehungsschwierigkeiten, die auf Grund einer psychopathischen Kon- 
stituton bei vielen Jugendlichen vorhanden sind, durch die Zeit- 
umstände mehr zutage treten. 

Inwiefern hat die Kriegszeit auf unsere psychopathischen Jugend- 
lichen verschlimmernd eingewirkt? Es wären zu nennen, die Auf- 
sichtslosigkeit der Kinder, die zum Schuleschwänzen, zum Herum- 
treiben führt; die Inanspruchnahme der Mütter, hervorgerufen 
durch die Pflicht für den Lebensunterhalt zu sorgen, die sie daran 
hindert, der Erziehung ihrer Kinder wie früher intensive Aufmerk- 
samkeit zu schenken. Die Mütter sind beim Heimkommen von der 
Arbeit gereizt, übermüdet und können sich nicht mehr auf das psycho- 
pathische, lebhafte Kind, das in ihrer Abwesenheit Dummheiten ge- 


88 A. Abhandlungen, 





trieben hat, mit Ruhe einstellen. Hierdurch fühlt sich das empfind- 
same Kind verletzt, es entsteht eine Entfremdung zwischen Mutter 
und Kind, die schließlich dazu führen kann, daß das Kind, das sich 
schlecht behandelt vorkommt, von zu Hause ausrückt. Es kommt 
hinzu der Mangel an Lebensmitteln, unter dem die psychopathi- 
schen Jugendlichen ganz besonders zu leiden haben, denn sie ver- 
mögen dem Hungergefühl noch weniger Widerstand als ein gesundes 
Kind entgegenzusetzen. Der Mangel an geeigneten Berufs- 
arbeitern, der es mit sich bringt, daß die jugendlichen Psychopathen 
in Berufsstellungen gebracht werden, die ihrem ‘mangelnden Ver- 
antwortlichkeitsgefühl, ihrem sprunghaften Wesen, ihrer Hinneigung, 
Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen, entgegenkommen. Der 
Reiz zum Bestehen von Abenteuern. dem die jugendlichen 
"Hyperphantasten besonders stark unterliegen, der sie dazu treibt, selbst 
solche Abenteuer zu bestehen, die sie leicht zu Vagabunden machen 
können. Alle diese Zeitumstände schaden unsern jugendlichen Psycho- 
pathen. — Ich bin weit davon entfernt zu glauben, daß eine Schutz- 
aufsicht für alle diese Gefährdeten ausreichen wird. Sie kann aber 
bei rechtzeitigem Einsetzen die Wirkung dieser Zeitumstände mildern, 
sie kann die mangelnde Erziehung ergänzen, die Aufsichtslosigkeit 
verhüten, sie kann durch Umgebungswechsel weiterer Verwahrlosung 
vorbeugen, sie kann bei der Berufsberatung helfend eingreifen, sie 
kann durch Aufklärung der Eltern — insbesondere der Mütter — 
durch Beratungen mit dem Lehrer, durch intensives Eingehen auf die 
Eigenart des Kiudes, vieles erreichen, sie kann insbesondere die weitere 
Heilerziehung vorbereiten und sie in die richtigen Wege leiten. 
‘Wie ist eine derartige Schutzaufsicht im einzelnen durchzuführen ? 
Wir haben einen Schulschwänzer vor uns! Weswegen schwänzt das 
Kind die Schule? Die Mutter geht frühzeitig auf Arbeit, so früh, 
daß das Kind die alleinige Verantwortung für das rechtzeitige Auf- 
stehen hat; es soll allein zur Schule wandern. Mit einem Zuspät- 
kommen fängt es an, es kriegt Schelte, es will sich dieser Schelte 
entziehen, es schwänzt einmal, es wird nicht gleich gemerkt, das 
Herumstreunen beginnt, auch schon aus Angst vor den Neckereien 
und Hänseleien der Mitschüler, und so entsteht aus diesem Mangel 
an Beaufsichtigung ein dauerndes Schulschwänzen, ein dauerndes 
Herumtreiben. Wird festgestellt, daß dieses Schuleschwänzen, diese 
Angst vor Schelte auf einer psychopathischen Konstitution beruht, 
wird rechtzeitig ein Helfer, der in der Nähe des Kindes wohnt, be- 
stellt, so kann dieser dafür sorgen, daß das Kind durch Kameraden 
früh in die Schule geholt wird, daß der Lehrer den Schulbesuch be- 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 89 
stätigt, er kann auch für Beaufsichtigung der Schularbeiten Sorge 
trazen. Die Psychopathen sind ja einer liebevollen Erziehung so 
leicht zugänglich, sie sind oft durch so kleine Hilfsmittel zu regel- 
mäßiger Arbeit, zu fortdauerndem Schulbesuch zu bewegen, sie sehnen 
sich gewissermaßen nach fester, konsequenter Leitung. So wird uns 
berichtet, daß ein jugendlicher Psychopath, der wöchentlich mehrmals 
die Arbeit schwänzte, dadurch zu regelmäßiger Arbeit angehalten 
wurde, daß der Helfer ihm einen Kalender schenkte, in dem täglich 
die Arbeitstage rot angestrichen werden durften, und der Ehrgeiz des 
Jungen war geweckt, er setzte seinen Stolz darein, dem Helfer Ende 
der Woche einen rotgefärbten Kalender vorzulegen. Kann man den 
jugendlichen Schulschwänzer durch solche verhältnismäßig geringen 
Mittel, bei denen das Wichtigste die Stetigkeit ihrer Durchführung 
ist, wieder zum regelmäßigen Schulbesuch bringen, so hat man damit 
den Grund zu weiterer Verwahrlosung des Kindes abgeschnitten. Denn 
aus dem Schulschwänzen entsteht das Herumtreiben, zunächst tags- 
über, dann auch über Nacht, und der Verkehr, in den diese Kinder 
dann kommen, ist nur dazu angetan, sie immer mehr zu gefährden. 
Auch die Nachmittagsbeschäftigung bedarf bei Schulschwänzern der 
eingehendsten Prüfung durch den Helfer. Der Helfer muß versuchen 
das Konzentrationsvermögen solcher Kinder zu stärken, langsam aber 
stetig müssen die Aufgaben, die dem Kinde gestellt werden, gesteigert 
werden, es muß mit Vergnügungen belohnt werden, nicht etwa kost- 
spieligen Vergnügungen, nein, schon das Vorlesen eines Märchens, 
einer schönen Geschichte, wird das Kind zum Arbeiten anspornen. 
Mit den kleinen Abenteurern sind die Vergnügungen zu unternehmen, 
die sie sich während ihres Schuleschwänzens verbotenerweise verschafft 
haben. In Berlin geht die Sehnsucht jedes Schulkindes nach den 
Linden, dem Zeughaus, dem Schloß. Der Helfer soll mit dem Kind 
zusammen dahin gehen und somit diesen Herrlichkeiten den Reiz des 
Verbotenen nehmen. Endlich aber ist es Aufgabe des Helfers, das 
Kind nicht von ihm allein abhängig zu machen, sondern für Freunde 
zu sorgen, die das Kind unter ihren Einfluß nehmen können; durch 
nachmittägliche Beschäftigung, ein-, zweimal in der Woche, ‘von 
mehreren Kindern wird es vielleicht gelingen, die geeigneten Elemente 
zusammenzubringen. Auch durch das Herstellen von kleineren Ge- 
schenken im Handfertigkeitsunterricht (ich erinnere nur an die früher 
bestehenden Schülerwerkstätten) kann den lebhaften, intelligenten, nach 
geistiger Anregung dürstenden und von einem starken Tätigkeitsdrang 
beseelten Psychopathen leicht geholfen werden. Durch eine solche 
regelmäßige Beschäftigung, durch die hierdurch eintretende Ruhe und 


90 A. Abhandlungen. 


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Stetigkeit des Lebens wird das Kind davor bewahrt, sich allzuviel mit 
sich selbst, mit seiner Phantasie, mit seinen Plänen zu beschäftigen; 
denn der Psychopath mit seiner gesteigerten Phantasietätigkeit neigt 
dazu sich Heldentaten auszudenken, in die er sich dann solange hinein- 
steigert, bis er zu stark asozialen Handlungen kommt und andere mit 
dazu verführt. Andererseits wird ein willenloses Kind, das nachmittags 
ohne Beschäftigung und Aufsicht ist, das vormittags herumstreunt, 
leicht zum Werkzeug anderer ihm an Intelligenz und Willenskraft 
überlegener Kameraden werden. So ist es auch Aufgabe des Helfers 
engste Verbindung mit der Jugendpflege zu suchen, und hier sollten 
meiner Überzeugung nach die von Herrn Licentiat Siegmund- 
Schultze vorgeschlagenen Jungenklubs für 12—14jährige Jugend- 
liche ausgebaut werden. Aber auch die Abendvorträge für Schul- 
entlassene, die Wanderungen mit ihnen, durch die der Wanderlust 
dieses Alters entgegengekommen wird, Vereine, in denen die schul- 
entlassenen Mädchen abends Anregung finden können, in denen sie 
mit netten Elementen zusammen sind, werden schon vielfach den 
Auswüchsen der jugendlichen Psychopathen entgegenwirken. Man 
wende nicht ein, daß solche Elemente, die Ziele der Klubs, der 
Jung - Männer- und Mädchen - Vereine störten; ist es doch gerade 
Aufgabe des Helfers, der die Schutzaufsicht führt, den Jugendlichen 
so rechtzeitig in seine Obhut zu nehmen, daß er keinen schädigenden 
Einfluß auf seine Umgebung ausüben, daß er sich noch an seine 
gesunde Umgebung assimilieren kann. Genügen diese Maßnahmen 
der Aufsicht, der Anregung, der Selbstbetätigung für die Jugendlichen 
nicht, so ist immer noch eine Unterbringung auf dem Lande, eine 
Verpflanzung in ganz neue Umgebung möglich. Bei wie vielen 
Psychopathen beruhen die Erziehungsschwierigkeiten auf einer nicht 
nur mangelnden, sondern tatsächlich ungeeigneten Erziehung, auf einer 
Verständnislosigkeit der Eltern, auf einer zu großen Liebe der Er- 
zieher, die alle Ungezogenheiten und Widerwärtigkeiten des Kindes 
mit einem »>er kann ja nichts dafür« entschuldigen. Diese Kinder in 
privaten Pflegestellen oder kleinen Heimen unterzubringen, ist dann 
Aufgabe des Helfers. Manchmal ist aber nur die Verpflanzung in 
eine Umgebung, in der das Kind sich satt essen kann, notwendig, um 
es wieder zu einem vernünftigen Menschen zu machen. Gerade die 
Jungen und Mädchen, bei denen die Mütter als Beweggrund zu der 
poliklinischen Beratung angeben, >das Kind ißt mir alles weg, es ver- 
kauft meine Brotkarten, es nascht mir alle Vorräte fort, es erbricht 
die Speisekammer«, gerade diese Kinder werden wieder gesund, wenn 
man ihnen die Möglichkeit des Sattessens gibt, das Hungergefühl ist 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 91 








— — - — 


bei ihnen oft die alleinige Triebfeder zu derartigen asozialen Hand- 
lungen. Der Hunger kann aber auch bei den jugendlichen willens- 
schwachen Psychopathen zur Begehung von Straftaten im Beruf führen, 
wie Herr Prof. Kramer Ihnen ja schon berichtet hat. 

Die Wichtigkeit der Berufsberatung kann ich hier auch 
nur streifen. Auch hier muß betont werden, daß das Kind nur nach 
eingehender Kenntnis seiner Eigenarten einem richtigen Beruf zu- 
geführt werden kann. Das halbstündige Kennenlernen im Lehrstellen- 
nachweis genügt nicht — der Helfer muß seine Kenntnis von dem 
Charakter des Kindes dem Beratenden zur Verfügung stellen. Der 
Ausbau der Berufsberatungsstellen (vielleicht Angliederung besonderer 
Abteilungen für jugendliche Psychopathen) scheint mir ein dringendes 
Erfordernis zu sein, um festzustellen, für welchen Beruf das Kind seiner 
Veranlagung nach geeignet ist. Die Lehrunterbringung von Psycho- 
pathen — bei Mädchen auch die Unterbringung in einer Dienststelle 
— erscheint mir stets von besonderer Wichtigkeit. Beides wird stets 
eine gewisse innere Ruhe gewährleisten, im Gegensatz zu der Unter- 
bringung in ungelernter Arbeit; dabei wird dem Jugendlichen durch 
das Vorwärtskommen innerhalb des Berufs, durch alles, was auch in 
einer Dienststelle zu erlernen ist, die notwendige Anregung gegeben. 
Die jugendlichen Lehrlinge müssen auf ein bestimmtes Ziel hinarbeiten; 
Lehre und Dienst gewährleisten eine größere Stetigkeit; handelt es 
sich doch bei den jugendlichen Psychopathen gewöhnlich nur darum 
` Ihnen über die Pubertätsjahre zu helfen, und fällt doch diese Zeit 
mit der Berufsausbildung zusammen. 

Bei der ganzen Tätigkeit des Helfers ist Voraussetzung, daß er 
es fertig bringt, mit den Eltern, mit den Lehrern, den Arbeitgebern, 
Dienst- und Lehrherren zusammenzuarbeiten. Wo insbesondere die 
Zusammenarbeit mit den Eltern fehlt, wo es dem Helfer nicht ge- 
lingt, die Eltern von der Notwendigkeit einer besonders eingehenden 
Erziehung und Überwachung ihres Kindes zu überzeugen, um es vor 
sich selbst, seinen Trieben, seiner Willenschwäche, seinen Stimmungs- 
schwankungen zu schützen, wo diese Zusammenarbeit nicht gelingt, 
erscheint ein Erfolg fast ausgeschlossen, und die Entfernung des Kindes 
aus dieser Umgebung muß versucht werden. Das zu betreuende Kind 
muß sich dessen bewußt werden, daß alle, die mit seiner Erziehung 
zu tun haben, an einem Strang ziehen zu seinem Besten, bis es 
schließlich wohl oder übel den Weg geht, den ihm seine Umgebung 
vorzeichnet. 

Man wird mir einwenden, daß häufig die Versuche einer Be- 
einflussung durch die Schutzaufsicht der rechtzeitigen Unterbringung 


92 A. Abhandlungen. 





in einem Heilerziehungsheim schaden können. Meiner Überzeugung 
nach wird aber die Zeit der Schutzaufsicht,; wenn sie durch einen 
richtigen Helfer ausgeübt wird, für ein Kind niemals verloren sein, 
immer vorausgesetzt, daß von vornherein die enge Fühlungnahme 
zwischen Arzt und Helfer besteht. Aufgabe des Arztes wird es sein, 
bei der ersten Untersuchung festzustellen, ob eine Schutzaufsicht ver- 
sucht werden darf oder sofort Anstalts- oder Heimunterbringung er- 
folgen muß. Reicht die Schutzaufsicht nicht aus, sind die Einflüsse, die 
auf das Kind von außen wirken, zu stark, so kann immer noch eine 
Heimunterbringung erfolgen. Alsdann ist es Aufgabe des Helfers, 
den Anstaltsleiter von den Beobachtungen, die er mit seinem Schütz- 
ling gemacht hat, zu unterrichten. — 

So weit das erste Gebiet der Schutzaufsicht für psychopathische 
Kinder. ‚Weit kürzer kann ich mich bei der zweiten Aufgabe fassen, 
die der Schutzaufsicht zufällt, der Beaufsichtigung der aus dem 
Heilerziebungsheim Entlassenen sowie derer, die aus der Be- 
obachtungsstation zu den Eltern entlassen werden, weil nach Ansicht 
des Arztes eine offene Fürsorge für sie genügt. Diese Tätigkeit wird 
dadurch bedeutend erleichtert, daß der Helfer sich durch den Anstalts- 
leiter schon Winke für die Behandlung seines Schützlings geben 
lassen kann. Viele Erfolge der Heilerziehung werden nach unserer 
Erfahrung dadurch zunichte gemacht, daß die Kinder gleich von der 
Anstaltserziehung in die Freiheit entlassen werden, und selbst wenn 
diese Freiheit eine Freiheit der Lehre ist. Die weitere Beeinflussung 
im Sinne des Heilerziehungsheims, das Aufrechterhalten der Verbindung 
zwischen dem Lehrherrn und den Eltern, die abendliche Anregung, 
die geistige Weiterförderung, furtgesetzte Willensstärkung des Jugend- 
lichen, ist Aufgabe des Helfers. Auch hier wieder: ein Zusammen- 
arbeiten aller Erziehungsfaktoren. Hier den Schlußstein zu der Heil- 
erziehung zu legen ist wohl eine wundervoll lohnende Aufgabe und 
in gewisser Weise leichter als die Ausübung der Schutzaufsicht über 
Kinder, die dem Helfer noch ein unerschlossenes Gebiet sind, bei 
denen er im Dunkeln suchen und bei jeder seiner Maßnahmen erst 
vorsichtig tasten muß, ob sie auch der Eigenart des Kindes ent- 
sprechen. 

Vielleicht erscheint es Ihnen unmöglich, Männer und Frauen 
zu bekommen, die sich einer solchen Schutzaufsicht unterziehen. 
Es ist selbstverständlich Vorbedingung, daß die Helfer das ein- 
gehendste Interesse und Verständnis für diese schwer erziehbaren 
Kinder haben, sie können auch nur ein, höchstens zwei solcher 
Kinder betreuen. Ich bin der festen Überzeugung, daß je mehr sich 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 95 


die Erkenntnis von der Not der jugendlichen Psychopathen, gleichzeitig 
aber auch von der Möglichkeit ihrer Beeinflussung, ihrer Erziehbarkeit 
auf weitere Kreise ausdehnen wird, desto mehr Menschen sich auch 
finden werden, die sich einer solchen Aufgabe gern unterziehen 
werden. Die theoretischen Kenntnisse hoffen wir in der Zukunft einmal 
durch kleine Helferkurse vermitteln zu können. Bis dahin heißt es 

Erfahrungen in der Praxis sammeln; unsere Ärzte, unsere Jugend- 

fürsorgevereine werden stets bereit sein, den Helfer aus dem Schatz 

ihrer Erfahrungen zu beraten. Auch aus dem KErfahrungsaustausch 
der Helfer, die durch die Geschäftsstelle des Jugendfürsorgevereins 
zusammengehalten werden können, wird sich mancherlei lernen lassen. 

Die Helfer, die sich jetzt, wo die Aufgabe der Schutzaufsicht an psycho- 

pathischen Kindern noch so neu ist, zur Übernahme eines solchen 

Amtes bereit erklären, tragen mit dazu bei, die offene Psychopathen- 

fürsorge auszubauen; eine jede ihrer Erfahrungen wird zu einem 

weiteren Baustein werden, und die Aufgabe ist so besonders lockend, 
weil sie noch so neu ist, weil»sie den eigenen Ideen, der eigenen 

Initiative so weiten Spielraum läßt. 

Ich fasse zusammen: 

I. Die Schutzaufsicht ist anzuordnen: 

1. als endgültige Maßnahme bei Kindern mit einer leichten 
psychopathischen Konstitution, auf die nach ärztlichem 
Rat durch eingehende Beaufsichtigung im Wege der freien 
Liebestätigkeit erzieherisch eingewirkt werden kann. 

2. Als vorläufige Maßnahme zur Beobachtung, ob als endgültige 
Maßnahme die Unterbringung des Psychopathen in einem 
Hort, einem Tagesheim oder in einem Heilerziehungsheim 
erforderlich ist. 

3. Als nachgehende Fürsorge bei Anstalts-Entlassenen. 

IH. Die Vorbedingungen zu einer offenen Fürsorge sind eingehende 
Zusammenarbeit aller Personen, die zu der Erziehung des 
Kindes verpflichtet und an seiner Weiterentwicklung zu einem 
selbständigen Menschen interessiert sind. 

IH. Erforderlich ist ein engster Zusammenschluß derer, die in der 
offenen Fürsorge arbeiten, zun Zweck des Erfahrungsaustausches 
und Ausbaues der Schutzaufsicht über psychopathische Kinder. 

Möchten sich viele Menschen bereit finden an dieser offenen 

Fürsorge für jugendliche Psychopathen mitzuarbeiten. 


94 A. Abhandlungen. 


= = mm m nn 2 


Dann referiert Oberregierungsrat Böttcher-Bräunsdorf über 


Berufsberatung für psychopathische Jugendliche. 


Wer über Berufsberatung an Psychopathen sprechen soll, dem 
liegt es nahe, an die psychologische Berufseignungforschung anzu- 
knüpfen, von der man in letzter Zeit öfters gelesen und gehört hat. 
Sie stellt sich die Aufgabe, für jeden Betrieb, der sie um Rat angeht, 
die geeignetsten Arbeiter und für jeden Arbeiter den geeignetsten 
Beruf und Arbeitszweig auszusuchen. Dabei hat sie zunächst normale 
Menschen im Auge. Kann man für einen Jugendlichen, der einen 
Beruf sucht, den Beruf ausfindig machen, der seinen Fähigkeiten und 
Neigungen ganz entspricht, so hat der Berufsuchende nicht nur den 
äußeren Vorteil, Zeit zu sparen, die sonst durch vergebliches Ver- 
suchen, durch probeweises Beginnen und Wiederaufgeben eines Lehr- 
verhältnisses verloren sein würde, sondern er hat den viel höheren 
inneren Gewinn, daß er bald mit seinen Zukunftsplänen zur Ruhe 
kommt, daß er bald weiß was er will, weil er weiß was er kann. 
Die psychologische Berufseignungforschung arbeitet an der Erreichung 
dieses Zweckes mit wissenschaftlichen Methoden, sie erforscht die 
Anforderungen, die jeder einzelne Beruf an die geistigen und körper- 
lichen Fähigkeiten und Eigenschaften des Arbeiters stellen muß, sie 
beklopft aber auch den Berufsuchenden und sucht, zum Teil auf dem 
Wege des Experiments, zu erforschen: wo sind deine starken Seiten. 
welches sind deine Schwächen auf den Gebieten z. B. der Aufmerk- 
samkeit, der Entschließungsgeschwindigkeit, der Willensbeharrung, der 
künstlerischen Phantasie und auf vielen anderen Gebieten. Daneben 
gibt es aber eine einfachere Methode, die jeder Vater oder Erzieher 
anwendet, wenn er seinem Kinde behilflich sein soll, einen Beruf zu 
wählen, nämlich die populäre Methode, die sich nach der dem Be- 
obachter bekannt gewordenen Neigung und Befähigung beziehentlich 
Abneigung und Ungeschicklichkeit richtet, und die manchmal die not- 
wendige Ergänzung zur experimentellen Untersuchung liefern muß, 
denn es gibt Eigenschaften, die durch Experimente nicht nachzu- 
weisen sind, wie z. B. Zuverlässigkeit, Anhänglichkeit, Ehrlichkeit, 
Verschwiegenheit, Selbstlosigkeit. Populäres Urteil über Berufseignung 
ist es, wenn ein Vater sagt: Schneider kannst Du nicht werden, Du 
kannst ja nicht still sitzen, oder: der Junge muß Kaufmann werden, 
der weiß aus dem Pfennig einen Groschen zu machen. Ein mir 
nahestehendes Ehepaar hatte einen sehr schwach begabten Knaben 
von klein auf in Pflege und war in Sorge um seine Berufswahl. Da 
legte der Knabe den Pflegeeltern am letzten Weihnachten vor der 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 95 





Schulentlassung unter den Christbaum 2 Radieschen, die er mitten 
im Winter in einer Zigarrenkiste mit viel Sorgfalt heimlich gezogen 
hatte. Nun war es klar: Der Junge wird Gärtner. Und er wurde 
Gärtner und ist ein guter Gärtner geworden. Sein Tun war ein Be- 
weis für eine bestimmte Neigung und für ein großes Maß von ziel- 
bewußter Ausdauer. Wahrscheinlich würde sich dasselbe ergeben 
haben, wenn er wissenschaftlich untersucht worden wäre. Es trifft 
ja oft zusammen, was die Wissenschaft in langer Methode heraus 
arbeitet und was ein einfacher gesunder Menschenverstand gleichsam 
mit einem Blick sieht. Aber es trifft leider nicht in jedem Falle zu- 
sammen, und darum wollen wir des neuen Zweiges der angewandten 
Psychologie uns dankbar freuen und seine Hilfe benutzen. 
Berufsberatung, ob wissenschaftlich oder nicht, wird vielfach dort 
nötig sein, wo nicht bereits im heranwachsenden Kinde der Wille zu 
einem bestimmten Berufe fest geworden ist. Leider sind solche Fälle 
nicht häufig. In der guten alten Zeit ergriff der Sohn den Beruf 
des Vaters und die Tochter verheiratete sich. Heutzutage ist das 
anders. Unter den mehr als 200 Zöglingen, die ich jährlich bei der 
Berufswahl zu beraten habe, sind nur wenige, die selbst wissen, was 
sie werden wollen. Eine beträchtliche Anzahl richtet sich einfach nach 
dem Rate der Eltern, der nicht immer vernünftig ist, und die große 
Masse schwankt bis zur Schulentlassung, ja Einzelne noch bis in die 
Lehrzeit hinein. Bei den Schülern höherer Schulen ist es noch 
schwerer, denn die höheren Berufe sind überfüllt. Wenn die Berufs- 
wahl Schwierigkeiten macht bei normalen und sogar höher gebildeten 
Jugendlichen, die durch normale, verständige Eltern beraten werden, 
so ist begreiflicherweise der Notstand viel größer bei den Psycho- 
pathen, die infolge ihres Zustandes entweder weniger scharf aus- 
geprägte Neigungen empfinden, oder von phantastischen Neigungen 
einseitig gefesselt werden, entweder schwer zu einem Entschlusse 
kommen oder in ihren Entschlüssen überaus leicht wechseln, die also 
in ihrem Gefühls- und Willensleben nicht die gesunden Voraus- 
setzungen für eine selbständige, zielbewußte Berufswahl haben, und 
die obendrein oft Eltern haben, die selbst wenig zur Berufsberatung 
befähigt sind. Das Wort: »freie Bahn dem Tüchtigene könnte uns 
bange machen für unsere Psychopathen, denn bei aller etwa vor- 
handenen Intelligenz sind sie nicht in vollem Sinne tüchtig, manche 
sind nie tüchtig, andre haben wenigstens Perioden, wo ihnen etwas 
zur Tüchtigkeit unerläßliches fehlt, z. B. die Ausdauer. Wenn wir, 
die wir an Fürsorgezöglingen arbeiten, einen nicht unwesentlichen 
Teil unserer Tätigkeit darin sehen, daß wir unseren Zöglingen helfen, 


6 A. Abhandlungen. 


| “&D 





einen rechten Beruf zu suchen, oder aus einem unpassenden Berufe 
in einen besser geeigneten überzugehen, wenn wir einsehen, daß ein 
l4jähriges Kind selten und ein l4jähriger Anstaltszögling fast nie im- 
stande ist, ohne Beratung seinen Weg zu finden, wenn wir bemerken, 
daß unsre Berufsberatung bei normalen oder leicht schwachsinnigen 
Zöglingen schon sehr schwierig und mit manchen Fehlschlägen ver- 
bunden ist, so werden wir erst recht unsre Aufmerksamkeit und 
unsren Fleiß auf die berufsuchenden Psychopathen wenden. Ich meine 
nicht, daß wir alle Psychopathen unter unsren Zöglingen in diesem 
Punkte grundsätzlich anders und neuartig bei der Berufsberatung be- 
handeln sollen, aber ein Mehr an Arbeit und Sorgfalt wird nötig sein. 

Die Lebensaussichten für die Psychopathen sind ungünstig, für 
den Kampf ums Dasein sind diese Unglücklichen nicht genügend aus- 
gerüstet, sie bedürfen darum helfender Hände. Sie bedürfen deren 
mehr noch als die Schwachsinnigen, eben weil sie selbst weniger das 
Schutzbedürfnis empfinden und weil sie wegen ihres meist ungetrübten 
Intellekts von der Umgebung für vollkommen verantwortlich gehalten 
werden. weil sie weniger als die Schwachsinnigen die Fähigkeiten 
haben, sich in den Rahmen einer Familie oder eines Arbeitsbetriebes 
einzuordnen und darin für lange Zeit festzuwurzeln. Die Berufs- 
beratung wird also bei ihnen von vornherein auf Mißerfolge gefaßt 
sein müssen, wird aber andrerseits nicht ermüden dürfen in ihren 
Versuchen, so viele Psychopathen wie möglich vor weiterem Hinab- 
gleiten zu bewahren und ihnen zu einem harmonisch verlaufenden 
Leben zu verhelfen. 

Was sollen wir nun unseren Schützlingen raten, wenn sie 
wünschen, daß wir ihnen einen Beruf vorschlagen? Die Frage wird 
richtiger lauten: von welcher Art von Berufen sollen wir abraten? 
Wir raten ab von allen Berufen, wo unser Schützling eine große Ver- 
antwortung für Leben und Gesundheit anderer tragen würde, wo eine 
plötzlich eintretende Geistesstörung oder vielleicht schon eine durch 
Gemütsverstimmung hervorgerufene Nachlässigkeit großen Schaden an- 
richten könnte, wie z. B. auf dem Posten eines Eisenbahnbetriebs- 
beamten. Wir raten ab von jedem Berufe, wo unsern Schützling 
eine Last von Sorge und Aufregung erwartet, wo er wetten und 
wagen muß, das Glück zu erjagen, wo der Kampf ums Dasein be- 
sonders heftig tobt. Infolgedessen raten wir ab von den Berufen 
selbständiger Inhaber eines größeren nicht ganz sicheren Betriebes 
und verweisen den Ratsuchenden lieber dahin, wo er als Glied eines 
Organismus arbeiten kann in abhängiger Stellung, wo die Einordnung 
in den Betrieb eines Collegiums, eines Kontors, einer Werkstatt, einer 


Tagung über Psy chopathenfürsorge. 97 

















Fabrik, zwar ihm, dem Psychopathen, vielleicht anfangs besonders 
schwer fallen, aber ihm doch schließlich einen Halt gewähren wird. 
Wir raten ab von allen Berufen, die den Schützling zu sehr mit 
Arbeit überhäufen, wie z. B. von Eisenwerksarbeit mit 12stündigen 
Schichten; aber ebenso von solcher Tätigkeit, die ihm zu viel Zeit 
zum Träumen läßt. Wir suchen zu bremsen, wenn einer zu hoch 
über den Stand seines Vaters hinauf will, ohne daß in seiner Be- 
gabung ein zwingender Grund läge, wo vielleicht nur Großmannssucht 
oder schwärmerische Kunstbegeisterung vorliegt. Wir sind deshalb 
vorsichtig, akademische Berufe vorzuschlagen, besonders wegen der 
freien Studentenzeit, die den einen zum Bummeln, den anderen zu 
wissenschaftlichem, uferlosem Genießertum verführen könnte, und so- 
dann wegen der drohenden Examenangst, an der schon mehr ge- 
scheitert sind, als am Examen selbst. Wir suchen den Kunst- 
begeisterten oder seine Eltern zu der Einsicht zu bringen, daß die 
Kunst mehr Genuß bietet, wenn sie als Erholung in der Freizeit be- 
trieben wird, als wenn sie bei nur mittelmäßiger Begabung Lebens- 
beruf und Brotberuf sein soll. Wir sind aber auch vorsichtig, einem 
jungen Manne zu raten, daß er einen Beruf wählen soll, der ihn 
sozial wesentlich tiefer stellen würde als seinen Vater. Und wenn 
es aus Gründen mangelnder Fähigkeiten doch unumgänglich ist, so 
versuchen wir, ob nicht wenigstens durch Erreichung des Einjährigen- 
dienstes ein Ausgleich geschaffen werden kann. Doch wir werden 
verhältnismäßig selten um unseren Rat gefragt werden von Personen 
aus Kreisen, wo derartige Standesfragen wichtig sind. 

Jedenfalls raten wir nach Möglichkeit ab von ungelernten Be- 
rufen mit ihrer Möglichkeit zu häufigem Wechsel. Es liegt zwar 
nicht im Interesse des Handwerks, wenn man ihm recht viel Psycho- 
pathen oder auch Schwachsinnige milderen Grades zuweist, und andrer- 
seits liegt in der Fabrikarbeit mit ihrer straffen Ordnung ein erziehe- 
rischer Wert. Aber doch können wir nicht umhin, dem Handwerk 
für unsre Psychopathen den Vorzug vor der Fabrikarbeit zu geben, 
dann nämlich, wenn der Handwerkslehrling beim Meister Familien- 
anschluß finden kann, ein Vorteil, der dem Fabrikarbeiter in der 
Regel nicht zuteil wird. Und die Aufnahme in eine geeignete Familie 
ist für uns äußerst wichtig. Sehr zu raten ist die Wahl eines Be- 
rufs, der den Psychopathen in die freie Natur führt, wo er seinen 
Körper und seine Nerven kräftigen kann, wo er genügende, abwechs- 
lungsreiche Arbeit hat und doch dazwischen auch Ruhezeiten. Das 
bietet der Beruf des Landwirtes, der für Burschen aus einfachen wie 
aus sozial höher gestellten Familien Arbeitsgelegenheit gibt, und in 

Zeitschrift für Kinderforschung. 25. Jahıgang. 


98 x A. Abhandlungen. 


dem auch Mädchen passende Unterkunft finden. Die Löhne sind zwar 
nicht hoch und die Großstadtjugend wird auf dem Lande viel ver- 
missen. Aber selbst wenn sie später sich von der Landwirtschaft 
wieder wegwenden, so werden ihnen einige Dienstjahre auf dem Lande 
viel Gewinn gebracht haben für ihre Gesundheit. So schön und für 
Psychopathen empfehlenswert der Gärtnerberuf ist, so ist doch vor 
dem Irrtum zu warnen, daß man meint, ein Bursche, der für‘Land- 
wirtschaft zu schwächlich ist, könne Gärtner werden. Nein die Gärtner- 
arbeit ist im allgemeinen schwerer als die Bauernarbeit, z. B. das 
Schleppen der Gießkannen und vor allem das tagelange Bücken beim 
Verstopfen und bei Wurzelhalsveredelungen stellen hohe Anforde- 
rungen an die Ausdauer der Muskelkräfte. Will man den Anstalten 
für Psychopathen Werkstätten angliedern, in denen die Jugendlichen 
auslernen können, so wolle man bedenken, daß der Sprung aus der 
Anstalt hinaus in die freie Stellung eines Gesellen sehr groß und 
darum nicht ungefährlich ist. 

Wie schon gesagt, wird außer der Befähigung auch die Neigung 
des Berufsuchenden zu berücksichtigen sein. Wie aber, wenn keine 
ausgesprochene Neigung sich zeigt, oder wenn die Neigungen hin und 
her schwanken? Gerade bei Psychopathen ist die Unentschlossenheit 
und das häufige Wechseln der Entschlüsse eine naheliegende Gefahr. 
Soll man dem Herumprobieren in verschiedenen Werkstätten statt- 
geben? Ganz ausschließen werden wir das Herumprobieren nicht 
können, denn wir können ja in vielen Fällen keinen Zwang ausüben. 
Aber nach Möglichkeit muß man doch suchen es zu vermeiden, da 
es eine fortgesetzte Reihe von Enttäuschungen für den Psychopathen 
mit sich bringt. Wohl dem, der in einer Anstalt eine genügende 
Auswahl von Arbeitszweigen kennen zu lernen Gelegenheit hatte. 
Besonders betonen möchte ich, was ich vorhin schon andeutete, dab 
nämlich wichtiger als die Berufswahl die Wahl der Familie ist, in 
der der Psychopath Unterkunft finden soll: Die eigene Familie ist 
nicht immer die geeignetste. Im Gegenteil: bei fremden Leuten wird 
sich ein großer Teil der weniger schwer Belasteten veranlaßt fühlen, 
sich zusammenzureißen, und dieser Zwang zur Selbsterziehung wird 
ihnen nützlicher sein, als allzu milde Nachgiebigkeit. Aber eine ge- 
eignete Familie zu finden, wo man dem Psychopathen Verständnis 
. und Liebe, Energie und Geduld entgegenbringt, ist nicht leicht, denn 
erstens gibt es wenig solche Familien, zweitens sind sie nicht immer 
bereit und haben oft aus wirtschaftlichen Gründen nicht die Möglich- 
keit, sich mit einem Arbeiter zu befassen, bei dem hinter allen tüch- 
tigen Eigenschaften doch bald einmal die Abnormität hervortritt, und 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 99 








endlich ist es dem Psychopathen und seinen Angehörigen nicht leicht, 
gerade solche Familien, die irgendwo vorhanden sein mögen, wirklich 
ausfindig zu machen. Da muß eben die Berufsberatung mit ihren 
beschränkten Kräften hilfreich eintreten. — Ich kann schließlich nicht 
unerwähnt lassen, daß noch Psychopathen übrig bleiben, bei denen 
Berufsberatung überhaupt nicht am Platze ist, bei denen man raten 
muĝ: laßt ihn keinen Beruf ergreifen, sondern bringt ihn in den 
Schutz einer Anstalt — für lange Jahre, vielleicht für immer, nicht 
in eine Irrenanstalt, nicht in ẹine Korrektionsanstalt laßt ihn kommen, 
vor beiden soll er geschützt werden, sondern führt ihn in eine Schutz- 
anstalt. 

Wer nun soll die Berufsberatung ausüben, so fragen wir zuletzt. 
Einfach ist das bei solchen Psychopathen, die als Fürsorgezöglinge 
unseren Anstalten anvertraut sind, zumal wenn sie bestimmungsgemäß 
auch nach der Zeit des Anstaltsaufenthaltes noch im Zusammenhang 
mit der Anstalt stehen. Da übt die Anstalt ohne weiteres die Berufs- 
beratung aus und da kommt zum Rat auch die Tat, da kann dafür 
gesorgt werden, daß — in der Regel wenigstens der Rat auch wirk- 
lich befolgt wird. Ganz anders bei solchen Jugendlichen, deren Eltern 
in keiner Weise gebunden oder verpflichtet sind, bei der Berufswahl 
für ihr Kind Rat zu suchen und zu befolgen. Hier wird der Rat eine 
Wohltat sein, die man nicht aufdıängen kann, die man aber anbieten 
muß. Wer soll das tun? Zunächst wird die Mitarbeit der Schule 
dankbar anzunehmen sein. Der Lehrer ist der erste, der dem Jugend- 
lichen objektir beobachtend gegenübertritt und der ausführliche Ge- 
legenheit hat, dies in einem längeren Zeitraum zu tun, dem auch in 
vielen Fällen der Schularzt sich beigesellt. Beide werden besorgten 
Eltern, die sich ratsuchend an sie wenden, ihre Winke und Warnungen 
gern mitteilen, und da ihr Rat sich auf gründlicher Beobachtung auf- 
baut, wird er gern befolgt werden. 

Sollen auch die Jugendämter sich mit dieser Aufgabe befassen? 
Soweit Nachweis von Arbeitsgelegenheit in Frage kommt, kann das 
wohl manchmal erfolgreich sein, obwohl zu bedenken ist, daß nach 
dem Kriege die Fürsorge für die Kriegsbeschädigten und für andere 
Arbeitsuchende den allergrößten Teil der Arbeitsgelegenheiten in An- 
spruch nehmen wird. Aber es ist wohl technisch kaum ausführbar, 
daß eine Abteilung des Jugendamtes die Untersuchungen und Be- 
obachtungen anstellt, die einer maßgebenden Raterteilung vorangehen 
müssen, und für die bei Psychopathen nicht immer eine nach Stunden 
bemessene experimentelle Untersuchung genügen wird, sondern die 
sich oft auf längere Bekanntschaft erstrecken müssen. Wenn das 

7* 


100 A. Abhandlungen. 


Jugendamt nicht selbst eine Art poliklinischer Berufsberatungsstation 
einrichten will und kann, so scheint es mir darum vorteilhaft zu sein, 
daß ratsuchende Eltern von den Jugendämtern und von jedem, den 
sie fragen, an diejenigen im Lande verstreuten Anstalten gewiesen 
werden, die sich mit Behandlung von Psychopathen befassen. Diese 
Anstalten haben einen Arzt, der in die Erkennung solcher Fälle ein- 
gearbeitet ist, sie haben Pädagogen, die auf diesem Gebiete seit Jahren 
Erfahrungen gesammelt haben, sie können den Ratsuchenden nötigen- 
falls auffordern, auf einige Zeit sich ihnen anzuvertrauen, und: sie 
haben, soweit es sich um einfache Berufe handelt, meist eine ge- 
nügende Anzahl von Familien an der Hand, die in der Erziehung, 
schwieriger Charaktere sich schon bewährt haben. Das Zusammen- 
wirken von Schule, Jugendämtern und Anstalten dürfte genügen, um 
über die Länder hin ein Netz von Beratungsstellen zu spannen. Wie 
weit diese Organe sich zu praktischen Zwecken zusammenschließen 
wollen, muß ihnen überlassen bleiben. Zum Zwecke des Stellennach- 
weises wird dies kaum tunlich sein, da dieser doch nach Landschaften 
gegliedert sein muß. Ich fordre also nicht eine deutsche Zentrale 
für die Berufsberatung an Psychopathen, sondern meine, daß die vor- 
handenen Anstalten die gegebenen Zentren sind. Andere bereits be- 
stehende Organe der Berufsberatung, z. B. in Berlin und München, 
die zurzeit nur geistig normalen Personen dienen, werden wohl nur 
einer Anregung bedürfen, um auch auf die Beratung von Psycho- 
pathen sich einzurichten. 

Was wir dem Berufssuchenden sagen, wird freilich nur. ein Rat 
sein können. Ob die Eltern sich veranlaßt fühlen, sich in Ausübung 
des ihnen zustehenden Elternrechtes von uns beeinflussen zu lassen, 
hängt von ihrer Einsicht ab, und wir können nur hoffen und wünschen, 
daß recht viele Eltern Rat suchen und befolgen zum Heile ihrer 
Kinder, unserer hilfsbedürftigen Schützlinge. 


Geheimrat Dietrich dankt den Vortragenden für ihre Referate.. 
Der vorgeschriebenen Zeit halber bittet er die Redezeit in der Dis- 
kussion auf 5 Minuten zu beschränken und erteilt das Wort Herra 
Ambühl, dem Leiter des Psychopathenhorts der Deutschen Zentrale 
für Jugendfürsorge. 





Tagung über Psychopathenfürsorge. 101 


_— 4 7... 


Aussprache. 


Herr Ambühl-Berlin (Leiter des Psychopathenhorts der Deutschen 
Zentrale für Jugendfürsorge): Ich habe heute etwas vermißt bei den Be- 
ratungen über die Fürsorge an den Psychopathen, und zwar eine große 
Hauptsache, die riemand angedeutet hat, das Verhältnis zwischen dem 
Pädagogen und dem Arzt zu den Eltern der psychopathischen Kinder. 
Die Erfahrung hat gelehrt, daß der Pädagoge sehr gut fertig wird 
mit dem psychopathischen Kind, wenn er Fühlung mit den Eltern 
nimmt. Die Tagesheime sind keine Anstalten, wo man die Kinder 
den ganzen Tag hat und sie zwangsweise den ganzen Tag festhält, 
sondern es beruht alles auf Freiwilligkeit. Man muß bedenken, daß 
das Kind jedesmal am Abend wieder nach Hause muß. Hier liegt 
die Schwierigkeit für das Kind und für den Leiter. Er hat es vom 
Morgen bis zum Abend, aber vom Abend bis zum Morgen ist es der 
Familie ausgesetzt, in der es oft entartet. Diese Einflüsse machen 
sich oft wieder geltend, wenn nicht ein sehr starker Einfluß ausgeübt 
werden kann auf die Eltern, bezw. auf die Mutter; die Väter sind 
meistens noch verständig, Die Aufgabe eines Tagesheimes — die 
Institution ist ja neueren Datums — erschwert sich dadurch. Sie ist 
ins Leben gerufen namentlich, weil Psychopathenheime fehlen oder 
weil sie überfüllt sind und die Zahl der Psychopathen tatsächlich im 
Kriege zugenommen hat, oder weil wir mehr festgestellt haben. Um 
sie nun nicht in der Fürsorge zu lassen, weil sie meistens auch gar 
nicht dahin gehören oder um sie nicht ganz verwahrlosen zu lassen, 
hat man gesagt, man will sie wenigstens am Tage bei sich behalten 
und einen Einfluß auf sie und zugleich auf die Eltern ausüben. Und 
das ist die Hauptsache, denn wenn ich die Eltern, namentlich die 
Mutter habe, habe ich das Kind. Die Hauptaufgabe bei diesen Tages- 
heimen ist immer und ewig der Einfluß auf das Elternhaus, weil wir 
die Kinder am Abend wieder abgeben müssen. Am Morgen müssen 
wir immer wieder von vorn anfangen und haben nichts erreicht. Die 
Tagesheime, wie sie bis jetzt errichtet worden sind, sind gedacht als 
Horte am Tag, wo die Kinder ihre Schulaufgaben machen, wo sie 
miteinander spielen unter Aufsicht, wo sie auch in den Werk- 
stätten arbeiten können und wo namentlich auf ihre Eigenart ein- 
gegangen wird. Es ist aber dabei für den Leiter zu viel, der sich 
mit dem Verhältnis zu den Eltern noch beschäftigen muß. Er hat 
wenig Zeit, sich persönlich mit den Kindern zu beschäftigen oder sein 
Hauptaugenmerk darauf zu richten, Hemmungen zu erkennen, die 
nicht im Heim zum Vorschein kommen, sondern erst dann, wenn das 


102 A. Abhandlungen. 
Kind nach Hause kommt. Diese Tagesheime haben ja auf viele Kinder 
schon große Einflüsse ausgeübt. Ich weiß von einem kleinen Mädchen 
von 11 Jahren, das morgens früh mit Nachschlüsseln das ganze Haus 
abgesucht hat, um zu stehlen, das die Mutter der Polizei übergeben 
wollte, weil sie nichts mit ihm anzufangen wußte. Schließlich brachte 
sie es zu mir, und es hat nie mehr gestohlen; nicht weil ich ein 
Wunder tat, sondern weil es seinem Milieu entrissen wurde und eine 
ihm erträgliche Behandlung erfuhr. Die Zeit erlaubt es nicht, ein- 
gehender zu sein. Die Tagesheime sind ja auch gedacht als Nacht- 
heime. Die Fälle sind zu groß, wo man vielfach ein Kind einfach 
wegnehmen muß, sei es auch nur für ein paar Tage oder für ein 
paar Wochen. Nur diese Versetzung in ein besseres Milieu hinein 
und andere Umgebung tut oft Wunder. 

Was eine Hauptsache ist für die Leitung, ist, daß bei den meisten 
Kindern Angstzustände festgestellt werden, in unserem Heim in Halle 
bei 90°/,. In den meisten Fällen waren sie motiviert. Da hieß es 
in erster Linie, diesen Kindern Rückgrat schaffen. Man muß den 
Kindern eine Last vom Herzen nehmen, man muß ihnen ein Sicher- 
heitsgefühl schaffen. Sobald man ihnen das geschaffen hat, hat man 
sie zum Teil schon gewonnen, und dann folgt auch das Sicherheits- 
gefühl, daß sie sich vor nichts mehr fürchten, weder vor dem Eltern- 
hause, noch vor etwas anderem. 

Hauptaufgabe in diesen Tagesheimen ist namentlich auch die Be- 
schäftigung der Kinder. Nicht die Kinder allein lassen, das Spinti- 
sieren, das Fantasierem ist vom Übel. Körperliche Beschäftigung ist 
das beste. Ein Junge, der jetzt in der Auguststraße ist, hat gezittert 
vor Freude, als es hieß, das Heim bekommt eine Werkstatt, in der 
er alles machen könnte. Er fragt jetzt jeden Tag, wann die Hobel- 
bänke kommen. Aber die Hobelbänke kommen nicht! Die Arbeit des 
Leiters von Tagesheimen beschränkt sich nicht nur auf das Kind, 
sondern besteht vornehmlich in Hausbesuchen. Es hat Tage gegeben 
in Halle, wo ich zu jeder Stunde der Nacht auf den Beinen war. 
Wenn man etwas erreichen will, muß man hinterher sein, kann nicht 
schlafen und essen, wie man will. Und bei den Elternbesuchen trifft 
man die meisten doch nur am Abend. 

Aber da ich eben eine Glocke gehört habe, möchte ich mit einem 
Wort schließen, das ganz aus der Erfahrung herauskommt. Mit der 
bloßen Schulung und dem bloßen Pflichtgefühl diesen Kindern gegen- 
über erreichen wir gar nichts, wenn wir nicht mit unserem Herzen 
voll und ganz die Seele dieser Kinder an uns zu fesseln suchen. 
Dann werden wir viel erreichen. Aber erst heißt es, die Seele dieser 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 103 


Kinder suchen, mit unsern ganzen Kräften, bei Tag und Nacht, bis 
‘wir sie finden. Dazu brauchen wir keine Berufspädagogen, wohl aber 
— Persönlichkeiten. 


Das Wort wird dem Leiter des Heilerziehungsheims Templin 
Herrn Schlegel erteilt: 

Die Psychopathen in der Großstadt sind selbstverständlich viel 
mehr gefährdet als anderswo. Auf dem Boden der psychopathischen 
Konstitution erwachsen Regelwidrigkeiten und dazu kommen noch 
Fehler des Milieus, die wir ganz besonders bei Kindern der ärmeren 
Bevölkerungsschichten treffen, Fehler die entstehen durch mangelhafte 
Erziehung und mangelhafte Beaufsichtigung. Um diese Kinder zu 
retten, hat die Deutsche Zentrale für Jugendfüsorge in Templin ein 
Heilerziehungsheim eingerichtet. Bis jetzt sind dort 73 Zöglinge auf- 
genommen worden. Templin liegt nicht allzuweit ab von Berlin. Es 
ist in Friedenszeiten. bequem zu erreichen und doch liegt es so weit 
ab, daß viele Besuche, die die Kinder aus dem Gleichgewicht brächten, 
nicht unternommen werden können. Es lehnt sich an einen großen 
ausgedehnten Wald, den Blick über weit ausgedehnte freie Felder. 
Wer hinkommt, sagt, hier ist Ruhe. Und diese Ruhe tut unseren 
Kindern so außerordentlich gut. Wir sehen es immer, wenn hoch- 
gradig nervöse Kinder kommen. Schon wenige Tage genügen, und 
die sogenannten Ticks, die Gliederbewegungen lassen nach und wenn 
noch die Ruheübungen hinzutreten, sind sie nach kurer Zeit be- 
seitigt. 

Im Unterricht legen wir den Lehrplan der Berliner Gemeinde- 
schule zugrunde und ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß er 
völlig erreicht wird. Kinder, die abgehen, kommen in Klassen, in die 
wir sie gar nicht hineinstecken würden. Der Unterricht hat eine 
hohe Bedeutung. Der Wille wird durch die Schularbeiten, die die 
Kinder aufbekommen, gestärkt. 

In der Erziehung sehen wir darauf, daß das Kind zur Arbeit 
erzogen wird, daß ihm die Arbeit ein Bedürfnis wird, daß beschlossene 
Arbeiten auch völlig erreicht werden müssen. Dazu dient uns be- 
sonders der große Garten. Jedes Kind hat sein Beet und an diesem 
Beet arbeitet es nach Herzenslust. Doch müssen die Kinder auch 
den großen Garten, der der Allgemeinheit gehört, bearbeiten. Wir 
beobachten, wie sie mit Lust und Liebe dabei sind, wenn sie das 
eigene Beet pflegen und wie man sie zur Pflege des Anstalts- 
gartens heranziehen muß. Der Egoismus überwiegt eben. Sie können 
es nicht erwarten, bis die Pflanzen herauskommen. “Von dem, was 


104 A. Abhandlungen. 








sie auf ihrem eigenen Beet erwerben, bekommt die Anstaltsküche 
nichts zu sehen. 

Es ist zu bedauern, daß nicht mehr Kinder dort aufgenommen 
werden können. Es sind Kinder da, die wir fortbringen mußten, 
obwohl ihre häusliche Umgebung die Erziehungserfolge wieder in 
Frage stellt. 

Vor einigen Tagen schrieb mir eine Mutter: Das Kind, das vor 
1/, Jahr mir überwiesen worden ist, hat das Vergehen, dessentwegen 
es hauptsächlich dorthin kam, nicht begangen. Der Vater hat den 
Diebstahl ausgeführt. Er hat regelmäßig Gegenstände, die das Kind 
genommen haben soll, versetzt, und schickt jetzt aus dem Felde die 
Pfandscheine zurück. Das Kind hat behauptet, die Aussagen der Eltern 
wären unwahr. In welchen Konflikt gerät solch ein Kind! Es fühlt, 
du bist nicht schuldig, wird von Vater und Mutter fortwährend be- 
stürmt, muß endlich eingestehen und wird nun dorthin gebracht. 

Die Entwicklung des Willens beginnt ja bei dem Kinde 
eigentlich nach der Schulzeit, das ist die Zeit, in der wir in 
Templin die Kinder wieder ins Leben hinausgeben müssen. Es wäre 
also im höchsten Grade erwünscht, daß solche Anstalten ausgebaut 
würden und auf schulpflichtige Jahre ein Heim folgte, das die Kinder 
auch weiterbewahrt und ihren Willen so kräftigt, daß man sie ohne 
allzu große Besorgnis ins Leben hinausschicken kann! 


Sanitätsrat Dr. Schnitzer-Stettin: Oberregierungsrat Dietrich 
hat uns ein Bild von der Psychopathenfürsorge des Fürsorgeverbandes 
Leipzig entworfen und wir müssen mit großer Befriedigung anerkennen, 
daß diese Fürsorge in Leipzig in geradezu vorbildlicher Weise durch- 
geführt ist, und wir wissen, daß Dietrich in erster Linie das Verdienst 
zukommt, diese Arbeit geleistet zu haben. Das möchte ich voraus- 
schicken, wenn ich auf das Thema Beobachtungsheime mit einigen 
Worten eingehen will. Ich bin der Meinung, jeder Fürsorgezögling 
sollte durch eine solche Beobachtungsanstalt hindurchgeben. Ich habe 
mit verschiedenen Vertretern der Ausführungsbehörde über diesen 
Punkt wiederholt gesprochen und es wurde mir immer erwidert: Das ist 
nicht durchführbar und auch nicht erforderlich. Was die Undurch- 
führbarkeit anbetrifft, so wissen wir ja, daß die Auffassungen sich da 
ändern können, was heute für ganz unmöglich gehalten wird, ist 
morgen sehr wohl möglich, und was die Notwendigkeit anbetrifft, so 
glaube ich, muß sie allgemein anerkannt werden, schon wegen der 
Beantwortung der Frage: In welchem Rettungshaus, in welcher An- 
stalt bringen wir den Zögling am besten unter. Jetzt wird ja in 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 105 


etwas mechanischer Weise von der Ausführungsbehörde bei der Über- 
weisung der Zöglinge nach Einforderung der Listen von den zur Ver- 
fügung stehenden Anstalten verfahren. Wo Plätze frei sind oder die 
Leiter Zugänge wünschen, da werden die Zöglinge hingeschickt. Und 
da müssen wir sagen, es sind durchaus nicht alle Anstalten gleich- 
wertig, es finden sich solche, die hinsichtlich der Persönlichkeit des 
Leiters für bestimmte Zöglinge in ganz besonderer Weise geeignet sind. 

Es wäre aber noch in Kürze die Frage zu streifen, wo man 
zweckmäßig Beobachtungsheime einrichtet. Für den Fürsorgeverband 
Leipzig ist eine solche Anstalt in Verbindung mit einer Irrenanstalt 
errichtet. Ich möchte da keine bestimmten Vorschläge machen, son- 
dern ganz allgemein sagen, daß solche Einrichtungen vielleicht bei 
bestehenden Anstalten — ob nun Schwachsinnigen- oder Irren- 
anstalten, das mag im Augenblick dahingestellt sein — geschaffen 
werden, vorausgesetzt, daß sie die Bedingungen erfüllen, die hier zu 
stellen sind. Wo Schwachsinnigenanstalten vorhanden sind, die der 
Zentralbehörde solche Einrichtung zur Verfügung stellen, würde ich 
in erster Linie die Schwachsinnigenanstalt empfehlen, weil die Schwach- 
sinnigen den Psychopathen am meisten wesensverwandt sind und die 
Schwachsinnigenanstalten auch über allerlei Einrichtungen verfügen, 
die gerade auch für die Versorgung der Psychopathen in Betracht 
kommen. 

Ich würde mich also dafür aussprechen, daß Beobachtungsheime 
im Anschluß an Schwachsinnigenanstalten errichtet werden, und daß 
die Zentralbehörde grundsätzlich jeden Fürsorgezögling, bevor er einem 
Rettungshause oder einer anderen Anstalt definitiv überwiesen wird, 
erst einmal längere Zeit beobachten läßt. Es kann nun, wie Dietrich 
vorgeschlagen. mit der Beobachtung auch eine gewisse Behandlung 
verbunden sein, und es kann sich in solchen Fällen, wo eine Über- 
weisung an ein Rettungshaus nicht tunlich erscheint, auch in dem 
Beobachtungsheime eine dauernde Behandlung für diese Psychopathen 
ermöglicht werden. Ä 

Ob nun alle Jugendlichen, deren geistiger Zustand irgendwie 
verdächtig erscheint, in diese Beobachtungsheime aufgenommen werden 
könnten, erscheint mir fraglich, da würde die Kostenfrage doch ein 
sehr gewichtiges Wort mitzusprechen haben, und wir wissen, daß die 
öffentliche Fürsorge für die Psychopathen in den Bundesstaaten noch 
nicht eintritt. 

Noch ein kurzes Wort über die Bemerkung von Herrn Siegmund- 
Schulze, was die Steigerung der Psychopathen im Kriege anbetrifft. 
Ich habe ja eine ganze Anzahl von Psychopathen im "Heeresdienst 


106 A. Abhandlungen. 


beobachtet, da ich in unserer Anstalt ein großes Lazarett leite, in dem 
seit Kriegsbeginn zahlreiche Psychopathen untergebracht sind; da 
kann man sagen, daß latente Eigenschaften der Psychopathen durch 
die besonderen Kriegsverhältnisse manifest geworden sind. Ich glaube, 
in dem Sinne hat das auch Herr Siegmund-Schultze gemeint, wenn 
er sagte, daß der Krieg psychopathische Veranlagungen hervorgerufen 
hat. Das kann ich durchaus unterschreiben. Es sind viele, die sich in 
Friedenszeiten ganz leidlich gehalten haben, aber unter den besonderen 
Verhältnissen des Krieges sehr schwere krankhafte Störungen gezeigt 
haben. 

Noch eine ganz kurze Bemerkung aber, die vielleicht hier nicht 
ganz zur Sache gehört, die aber mit der Psychopathenfürsorge in 
einem gewissen Zusammenhange steht. Ich habe gestern einer Sitzung 
in unserem Oberpräsidium beigewohnt, in der über die Ausbildung 
von Wohlfahrtspflegerinnen gesprochen wurde, von Damen, die eine 
vierjährige Ausbildungszeit durchmachen müssen, und die später einen 
großen Einfluß haben werden auf die Wohlfahrtspflege in Stadt und 
Land. Da meine ich, ist es unsere Sache, dafür einzutreten, daß 
diese Damen und ihre Helferinnen sich auch mit den Aufgaben bei 
der Versorgung der Psychopathen vertraut machen. 


Oberarzt Dr. Kleefisch-Essen: Es ist leider bei der Fülle des 
Stoffes nicht möglich, systematisch zu den Fragen Stellung zu nehmen, 
die heute alle erörtert worden sind, um so mehr, als Leitsätze nicht 
vorliegen. Aber gewisse Punkte möchte ich doch hervorheben, weil 
sie wichtig sind. Sbhon die Frage der Weiterentwicklung der prak- 
tischen Psychopathenfürsorge, ob im neu zu gründenden Psycho- 
pathenheim oder im Anschluß an eine vorhandene Anstalt, ist wichtig. 
Mein Vorredner machte schon die Bemerkung, daß es vielleicht zweck- 
mäßig wäre, die Schwachsinnigenanstalten noch weitgehender für die 
Unterbringung in Aussicht zu nehmen und anhängige Einrich- 
tungen zu schaffen, die die Psychopathenfürsorge übernehmen. Ich 
möchte das unterstreichen. Es sind einerseits ökonomische Gründe, 
die da maßgebend sind, und andererseits Gründe, die resultieren aus 
den Persönlichkeitsfragen. Bei den Schwachsinnigenanstalten hat in 
Hinsicht auf letzteren Grund schon eine Aussiebung stattgefunden. 
Die Ärzte, die sich dahin begeben, haben pädagogisches Interesse. 
Die Gestlichen und Lehrer haben psychopathologisches Interesse, so 
daß diese Fragen der persönlichen Berufseignung schon geregelt sind, 
— meiner Ansicht nach, fundamentale Fragen! Die Erzieher stehen 
auch ständig unter ärztlich-sachverständiger Belehrung und Beratung. 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 107 
Will man das alles aus dem Handgelenk in einer freistehenden An- 
stalt schaffen, so wird das sehr schwierig werden. Hier ist also ein 
Weg gezeigt, um das schon Vorhandene für die Zukunft auszunutzen. 

Eine andere Frage, die das speziell Erziehliche angeht, ist die 
Frage der Eignung der Ärzte, besonders der Schul- und Anstalts- 
ärzte. Unsere Anstalt hat 600 Pfleglinge und hat ein großes ärzt- 
liches Hinterland. Man hat da Gelegenheit, zu beobachten, inwieweit 
die Ärzte geeignet sind, über diese Fragen mitzureden. Ich muß be- 
tonen, daß da noch erhebliche Mängel bestehen. Es ist deswegen 
eine Kardinalfrage, daß sich die Psychiater der Ausbildung der Schul- 
und Anstaltsärzte annehmen. Diese Glieder übermitteln den Übergang 
zwischen Ärzteschaft und Lehrerschaft, und wie jeder Import- und 
Exporthafen besondere Bedeutung hat, so auch bei den Vermittlern 
der Wissenschaft. An einer nicht ausgebildeten, ungeeigneten Mittels- 
person kann die schönste Idee scheitern. Die Spannung zwischen 
Lehrer- und Ärzteschaft, die oft geherrscht hat, ist darauf zurück- 
zuführen, daß manche psychopathologisch ungebildeten Ärzte bei 
pädagogischen Gesichtspunkten kein Verständnis zeigten. 

Es ist ferner die Ausbildung der Pädagogen sehr wichtig. 
Das Kultusministerium unterstützt die Hilfsschulkurse in Essen, 
Stettin und Charlottenburg, die zur speziellen Ausbildung der Lehrer- 
schaft in der Schwachsinnigen- und Psychopathenfürsorge eingerichtet 
sind. Ich möchte die Aufmerksamkeit der Versammlung auf diese 
Einrichtung hinlenken. Es ist der erste offizielle Versuch, der ge- 
macht worden ist, bei dem die Psychiatrie praktisch, nicht nur im 
Lehrbuch, mit der Pädagogik zusammengeht im Ausbildungswesen der 
Erzieher und Fürsorger. Von der Weiterentwicklung dieser Ein- 
richtung wird es sehr abhängen, ob wir weiter kommen im prak- 
tischen Leben. 

Ferner ist es nötig, daß die Leiter und Lehrer an den Anstalten 
für Psychopathen die Hilfsschullehrerprüfung ablegen. Die Hilfs- 
schullehrerprüfung ist nun mal die geschaffene Institution, die das 
Wissen und Können in der Schwachsinnigen- und Psychopathenfürsorge 
bestätigt. Und da ist es nötig, daß diejenigen, die sich mit der 
Leitung der Anstalt, mit Erziehung und Unterricht der Kinder be- 
fassen, sich das gegebene Rüstzeug verschaffen, um den Aufgaben 
gewachsen zu sein. Dasselbe muß in geeigneter Form auch für die 
Sehulärzte und Geistlichen gelten. 

Die Pfleger und Pflegerinnen müssen entsprechend zu Heil- 
erziehungspflegern weiter ausgebildet werden. Das ist eine außer- 
ordentlich schwierige Aufgabe. Es ist schon schwer, einen Pfleger 


110 A. Abhandlungen. 
schon vorher als das unglaublichste Kind der Welt geschildert worden 
war. Ich wäre ein halber Gott, sagten die Leute, wenn ich den 
Jungen zur Vernunft brächte und mit ihm erreichte, daß er sich füge 
und man etwas mit ihm fertig brächte. Es erwies sich, daß dieser 
Junge eine überwertige Intelligenz hatte ünd besonders nach der 
kritischen Seite überaus begabt war, daß er also die Schwächen 
seiner bisherigen Erzieher weidlich durchschaut und ausgenützt hatte, 
Vom dritten Tage an ließ er sich nach unserer Sonnenblick-Methode 
schon um den Finger wickeln und hat sich dann in den 6 Wochen, 
die er bei mir war, nicht nur körperlich sehr gut herausgemacht — 
wir Bayern sind ja in der Lebensmittelversorgung noch sehr gut 
dran — sondern er hat sich auch sonst sehr zu seinem Vorteil ver- 
ändert, daß er kaum wieder zu erkennen war. Als ihn seine Mutter 
holte, konnten wir ihr erzählen, wie tadellos der Junge sich bei uns 
geführt und was er alles Gutes gelernt und angenommen habe. Ja, 
aber die Mutter! Ein Ausbund von Nervosität und pädagogischem 
Unverstand! Der Junge krankte an seiner Mutter, sonst an 
nichts weiter. Die Mutter mit ihren pädagogischen Verkehrtheiten 
war Quelle und Inhalt seiner Psychopathie, deren Äußerungen 
ich geradezu als einzige, dem Kinde selbst natürlich unbewußte große 
Abwehr- und Protestbewegung gegen seine Mutter bezeichnen 
möchte, so lieb sich die beiden auch sonst hatten und so sehr gut 
die Mutter es meinte. 

Da eröffnet sich denn ein Gesichtspunkt, der bei Bewertung und 
Behandlung der Psychopathie noch einer sehr viel schärferen Be- 
achtung als bisher bedarf. Ich habe für diese Erscheinung einen 
Ausdruck geprägt, der vielleicht Gemeingut der psychiatrischen und 
heilpädagogischen Terminologie werden kann: solche Kınder sind 
»mutterkranke«. Ich verstehe unter »mutterkrank« diejenigen psycho- 
pathischen Kinder, bei denen der Grund ihres Leidens nicht so 
sehr in ihnen selbst, also in ihrer Konstitution, sondern vielmehr 
in ihrer Umwelt liegt. Meist die Mutter, in sehr viel selteneren 
Fällen der Vater, die Großmutter, eine ältere Schwester oder sonst 
wer in der Familie des Kindes, also meist eine einzelne Person, ver- 
setzt durch ihre Charaktergegensätzlichkeit oder -gleichartigkeit das 
Kind in einen dauernden Reizzustand, der schließlich auf Grund 
einer latenten Veranlagung, einer allgemeinen nervösen Disposition 
die Exaltationen der Psychopathie auslöst. 

Wir haben es hier meist mit, wie ich sie bezeichnen möchte, 
pseudo-konstitutionell-psychopathischen Kindern zu tun, 
also mit Kindern, die völlig geheilt werden können, weil ihre Kon- 


Tagung über Psychopathenfürsorge. 111 








stitution an sich wohl auf Psychopathie eingestimmt, aber nicht 
dauernd und von Grund auf psychopatlıisch ist. 

Diebstähle und viele ähnlichen Geschichten gehen, wenn man 
sie bis in ihre Wurzel verfolgt, vielfach auf eine Art Protesthandlung 
zurück, die aus dem Unbewußten heraus gegen eine solche Mutter, 
einen solchen Vater gerichtet sind. Hier tut sich noch ein dankbares 
Forschungsgebiet für den Pädiater und Psychologen auf. Therapeutisch 
geht daraus die Notwendigkeit hervor, die Mutter oder das betreffende 
Familienglied, etwa auf die Art, wie sie Herr Ambühl in Halle ver- 
sucht hat, auf das Geheimnis ihres Kindes, also auf ihre eigenen 
Fehler hinzuweisen. 

Hier liegen, wie Sie sehen, noch große Aufgaben für die dauernde 
Bekämpfung und Heilung der Psychopathie. Diese Tatsachen sind 
zum großen Teil daran schuld, daß die Kinder bei vorübergehender 
oder däuernder Rückkehr in ihre Familie — so wie ich es auch 
aus den Erfahrungen meines eigenen Heims weiß, wo die Kinder in 
den Ferien nach Hause gehen — vielfach die stärksten Rückfälle 
erleiden so lange, bis die Eltern über die inneren Zusammenhänge 
der psychopathischen Erscheinungen genügend aufgeklärt sind, sie an 
ihren eigenen Erfahrungen nachprüfen und sich dann, weil sie ein- 
sehen, daß es so ist, ernstlich zusammennehmen und in unserem 
Sinn mitarbeiten, d. h. also die Psychopathie ihres Kindes zunächst 
an sich selbst bekämpfen. 

Erst dann kann das betreffende Kind wirklich gerettet und noch 
für die Gesellschaft ein nützliches Glied werden. Hieraus folgt aber 
auch für die Pflegerinnen solcher Kinder in den Tagesheimen, daß 
es in der Hauptsache, wie Herr Ambühl ausgeführt hat, darauf 
ankommt, die ‚Kinder auch durch ihr Milieu zu erfassen, um- 
gestaltenden Einfluß zu gewinnen in allererster Linie auf ihr häusliches 
und Familien-Milieu. Wenn das mit Ernst und echtem Verständnis 
geschieht, kann man mitunter die Kinder sogar in ihrem Milieu be- 
lassen, nimmt sie nur am Tage heraus ins Heim, wo sie sich selbst- 
verständlich gut führen und sucht die Wurzel ihres Leidens auszu- 
rotten, indem man das Milieu nachhaltig beeinflußt. 

Hier scheinen mir die meisten und dankbarsten Zukunftsaussichten 
prophylaktischer Natur auch für die soziologische Bedeutung der Psycho- 
pathie zu liegen. Ich hoffe und wünsche, daß eine spätere Tagung 
vielleicht auch diese Zusammenhänge mehr ins Auge fassen wird. 


Professor Dr. Stier: Gute Anfänge nach der Richtung einer 
besseren Ausbildung der Erzieher, Fürsorger und Ärzte bestehen hier 


114 A. Abhandlungen. 


aufgenommen, möchte ich entgegentreten. Ich bin der Ansicht, daß 
das nicht erforderlich ist. Habe ich Akten, woraus sich zweifellos 
ergibt, daß ein schulentlassener Fürsorgezögling auf jeden Fall in eine 
Erziehungsanstalt kommen muß, so steht dem absolut nichts im Wege, 
sofern ich weiß, daß in jener Anstalt ein Arzt zur Verfügung steht, 
der entsprechend vorgebildet ist. 

Wenn vorhin angeregt wurde, ob es nicht gut wäre, unsere Zög- 
linge rechtzeitig vor Vollendung der Volljährigkeit zu entmündigen, 
so möchte ich darauf erwidern, daß das Mittel theoretisch sehr sıhön, 
praktisch aber unbrauchbar ist. In allen Fällen, die so liegen, daß 
der Vormundschaftsrichter tatsächlich die Entmündigung des Psycho- 
pathen ausspricht, wird der Psychopath ebensogut auch als geistes- 
krank bezeichnet werden können. Es handelt sich da also nur um 
ganz wenige Grenzfälle. Im übrigen haben die Gerichte bei der Ent- 
mündigung von Psychopathen stets die größten Schwierigkeiten ge- 
macht. Da hilft nur etwas anderes: Unser ganzes staatliches Fürsorge- 
erziehungswesen muß mehr ausgebaut werden. Mit dem 21. Lebens- 
jahr hört jetzt die behördliche Fürsorgeerziehung auf und dann läuft 
der junge, schutzbedürftige Mensch hilflos in der Welt herum. Der 
Staat hat Tausende ausgegeben für ein Erziehungswerk, das er an- 
fängt und da, wo es beginnt, etwas zu werden, bricht er es ab. Wir 
müssen durch Gesetze in die Lage gebracht werden, auch noch nach 
dem 21. Lebensjahre die schützende Hand auf solche junge Leute 
legen zu können. Man mag es Schutzaufsicht nennen; jedenfalls 
müssen wir das Recht haben, noch weiter für solche Jugendliche zu 
sorgen. Durch Entmündigung wird offenbar mehr geschadet als ge- 
nützt. - 


Schlußwort 
(nach der Debatte). 


Oberregierungsrat Dr. Dietrich, Leipzig: Herr Professor Dr. 
Stier war so freundlich, noch auf einige theoretische Bedenken auf- 
merksam zu machen, die gegen das sprechen, was ich mir erlaubt 
habe vorzutragen. Ich bin Herrn Professor Dr. Stier dankbar, daß 
er mir Gelegenheit gibt, hierzu Stellung zu nehmen. Wenn von ihm 
das Bedenken erhoben worden ist, daß eine längere Beobachtung in 
einem Beobachtungsheim nicht in allen Fällen notwendig sei, auch 
aus dem Grunde, weil die Arbeit dort sehr teuer, sehr umständlich, 
sehr zeitraubend und sehr schwierig ist, so ist demgegenüber folgendes 
geltend zu machen: 





Tagung über Psychopathenfürsorge. 115 

Zunächst ist schon auch bei Aufrechterhaltung des Grundsatzes 
der Einweisungspflicht die Möglichkeit vorgesehen, ganz zweifels- 
freie Fälle von einer besonderen Beobachtung auszunehmen, da 
diese ja unter Umständen garnichts neues fördern kann. Im übrigen 
aber möchte der Grundsatz der Einweisungspflicht möglichst strikte 
durchgeführt werden. 

Es kommt darauf an, daß ein Zögling, bei dem sich Fürsorge- 
erziehung als notwendig erwiesen hat, so frühzeitig wie möglich aus 
seiner bisherigen, ihn gefährdenden Umgebung entfernt wird. Ohne 
daß die Vollzugsbehörden nötig haben, sich über die fernere Unter- 
bringung sogleich vollkommen Klarheit zu schaffen, bietet dann das 
Beobachtungsheim auch die Möglichkeit sofortiger Unter- 
bringung. Dadurch wird insbesondere vermieden, daß die Vollzugs- 
behörden in Unschlüssigkeit verharren und der Zögling unnötig lange 
in seiner bisherigen Umgebung verbleibt und der Gefährdung durch 
sie weiter ausgesetzt ist. 

Erfolgt aber die Einweisung, obwohl eine längere Beobachtung 
nicht nötig ist, so kann ohne eine solche sofort ein Vorschlag für 
die fernere Unterbringung gemacht werden, und das Beobachtungs- 
heim dient dann als Verteilungsstelle. 

Die Bezeichnung ‚Beobachtungsheim‘ ist auch für das Heil- 
erziehungsheim Kleinmeusdorf vermieden worden und es ist der 
neutrale Ausdruck ‚Heilerziehungsheim‘ angewendet worden. 

Die 26 Vollzugsbehörden im Bezirke des Fürsorgeverbandes 
Leipzig sind sehr dankbar, daß ihnen von fachkundiger Seite ein 
Vorschlag für die Unterbringung gemacht wird, namentlich die 
kleineren, bei denen seltener Einweisungen erfolgen und die daher 
über die nötige Sachkenntnis nicht verfügen können. 

Der Grundsatz der Einweisungspflicht 

sichert aber vor allem die Beobachtung und Beurteilung 
des gesamten Zöglingsmaterials nach einheitlichen Grund- 
sätzen, was bei Beurteilung durch verschiedene Ärzte aus- 
geschlossen ist, sichert die Verteilung der Zöglinge auf 
verschiedene Anstalten nach einheitlichen Grundsätzen, 
sichert die Schaffung einheitlicher Grundlagen für das 
gesamte Zöglingsmaterial, die für die Erziehung des einzelnen 
wie für die gesamte Ersatzerziehung von besonderem Wert sind. 

Die Kosten aber sind nicht erheblich höher als die anderer 

Anstalten und selbst wenn sie höher wären, kommt in Betracht, 
daß der eine Anstaltswechsel infolge Durchgangs durch das 
Beobachtungsheim deshalb in Kauf genommen werden muß, 
8e 


116 A. Abhandlungen. 
an Stelle sonst möglicher häufiger Anstaltswechsel, im all- 
gemeinen aber vor allem der Grundsatz zu beachten ist, daß 
die für Erziehung aufgewendeten Kosten die rentabelsten sind. 


Geheimrat Dietrich: »Wir stehen nun am Ende der Rednerliste. 
Ich möchte den Rednern herzlich danken für die wertvollen An- 
regungen. 

Die Verhandlungen haben gezeigt, welch wichtiges Gebiet die 
Psychopathenfürsorge umfaßt, wie wir mit allen Kräften und Mitteln 
daran arbeiten müssen, um diesen Notstand zu lindern und zu be- 
kämpfen. 

Ich darf vielleicht darauf hinweisen, daß nun eine Sitzung im 
Vorstandszimmer des Herrenhauses stattfinden wird, mit dem Zweck, 
einen Verein für Psychopathenfürsorge zu begründen. Der Stamm 
wird der Verwaltungsrat des Heilerziehungsheim Templin sein und 
ich möchte alle Herren und Damen, die dafür interessiert sind, bitten, 
sich an dieser Sitzung zu beteiligen. 

Ich schließe die Sitzung. 


Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge E. V. 
Berlin N. 24, Monbijouplatz 311, 


Berichtigung. 


In der Ankündigung des Buches 


„Die Jugendfürsorgevereine 


im Deutschen Reich“ 


herausgegeben von der 
Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge 
muß es heißen: Preis M. 7,50. 


Für Mitglieder bei direktem Bezug von der Zentrale M. 5,50. 





Vruck von Hermann Beyer 4 Söhne (Beyer & Mann) in Langoneaizu. 





ERS ERBEN 


= en 


A. Abhandlungen. 


1. Zur Bestimmung des Intelligenzalters mittels der 
Definitionsmethode. 
Von 
Prof. Dr. Adalbert Gregor. 


Bei der Bearbeitung des bisher veröffentlichten Materials von 
Definitionsleistungen war in erster Linie an eine qualitative Bewertung 
der an normalen und pathologischen Individuen in Definitionsversuchen 
gewonnenen Resultate zu diagnostischen Zwecken gedacht. In dieser 
Hinsicht hatte sich die Definitionsmethode bei fortlaufender Ver- 
wendung im Heilerziehungsheim Kleinmeusdorf auch bewährt; ins- 
besondere findet die oft schwierige Unterscheidung leichterer patho- 
logischer Schwachsinnsformen von der sogenannten normalen Be- 
schränktheit in ihr ein wesentliches Hilfsmittel. 

Die an anderer Stelle!) von mir gebrachte Gegenüberstellung von 
Leistungen, welche Individuen verschiedener geistiger Artung und 
intellektueller Höhe bieten, zeigt deutlich, daß man auf diese Weise 
sehr greifbare Unterschiede festzustellen vermag, die ohne weiteres 
zu Schlüssen über den Grad intellektueller Entwicklung berechtigen. 
Zudem hat die Auswahl von Begriffen, die möglichst entfernt vom 
geläufigen Schulstoff liegen, und die zum Teil erhebliche Ansprüche 
an das Denken stellen, der Methode in besonderer Weise die Eignung 
zur Feststellung von Begabungsunterschieden gegeben. In jüngster 
Zeit wurden von H. Lehmann?) die Definitionsleistungen normaler 


1) Die Verwahrlosung, ihre klinisch -psychologische Bewertung und ihre Be- 
kämpfung. Berlin 1918. 

?) Vergleichende Untersuchungen über die Definitionsleistungen psychisch in- 
takter und leicht schwachsinniger Kinder. Ztschr. f. d. ges. Neurologie u. Psych- 
iatrie. Bd. 47. S. 387. .1919. 

Zeitsehrift für Kinderforschung. 25. Jahrgang. 9 


118 A. Abhandlungen. 

und intellektuell reduzierter Individuen einer genaueren Analyse 
unterzogen und dadurch eine Reihe von Momenten ermittelt, welche 
die intellektuellen Funktionen leicht Schwachsinniger im Unterschied 
und Gegensatz zu psychisch Gesunden charakterisieren. Er ist dabei 
zu bemerkenswerten Aufschlüssen über das Wesen derartiger Intelli- 
genzstörungen gelangt, welche auch für die pädagogisch-therapeutische 
Praxis Direktiven ergeben. 

Die bisherige Anwendung der Definitionsmethode setzt, wie leicht 
ersichtlich ist, eine ausreichende Erfahrung voraus, die allein eine 
Sicherheit in der Deutung der Resultate ermöglicht. Das Verwendungs- 
gebiet der Methode ist aber keineswegs auf die wissenschaftliche Er- 
forschung von Denkleistungen beschränkt, vielmehr kommt sie auch 
dem praktischen Bedürfnis entgegen, das viele Kreise an der In- 
telligenzprüfung haben, wie etwa Erziehungsanstalten, die eine tiefere 
Kenntnis der psychischen Individualität und ihrer intellektuellen An- 
lagen anstreben, oder Ärzte, welche den Geisteszustand eines Indivi- 
duums zu beurteilen haben. Bei dieser Erweiterung des Anwendungs- 
bereiches muß es wünschenswert erscheinen, Mittel und Wege zu 
schaffen, um das Einarbeiten in die Methode und die Deutung ihrer 
Resultate zu erleichtern und auch jenem eine Sicherheit im Gebrauch 
zu ermöglichen, der sie nur gelegentlich verwendet. Der ausgedehntere 
Gebrauch fordert aber auch die Bewertung zu vereinheitlichen und 
zur leichteren Verständigung eine gleichmäßige Beurteilung der Defi- 
nitionsleistungen anzubahnen, indem über die wesentlichen Gesichts- 
punkte, nach welchen die Resultate bewertet werden, Einigung erfolgt, 

Damit erhebt sich die weitere Frage, inwiefern es nach den 
Grundlagen der Methode gelingt, das bei den verschiedenen Versuchs- 
personen gewonnene Resultat auf einen einfachen und leicht vergleich- 
baren Ausdruck zu bringen. Es wäre ja zweifellos von besonderem 
Vorteil, bei der breiteren Basis, welche dieses Verfahren vor anderen 
Methoden der Intelligenzprüfung voraus hat, nach ihm ein Maß für die 
Intelligenzleistung zu gewinnen. Um diesen Zweck zu erreichen, ist 
eine quantitative Bewertung der Resultate nötig und es empfiehlt 
sich um so mehr, eine exaktere Methode der Intelligenzprüfung nach 
dieser Richtung auszubauen, als das bereits weiter verbreitete Binet- 
Simonsche Verfahren, wie namentlich Ziehen!) nachdrücklich dar- 
getan hat, wissenschaftlich nicht als einwandfrei gelten kann; zu- 
dem wird derjenige, der sich auf diese Methode beschränkt, in den 
höheren Altersklassen jugendlicher Individuen im Stich gelassen, weil 





1) Ziehen, Die Geisteskrankheiten des Kindesalters. Berlin 1917. 











Gregor: Zur Bestimmung des Intelligenzalters mittels der Definitionsmethode. 119 


sie nur bis zum 12. u. 13. Jahre ausgewertet ist. Da die meisten 
übrigen Methoden der Intelligenzprüfung eine quantitative Feststellung 
ihrer Resultate schon nach ihrem Prinzip nicht zulassen, so lag es 
nahe, die Leistungsfähigkeit der Definitionsmethode in dieser Hinsicht 
zu prüfen, wozu in meinen Untersuchungen über die Entwicklung 
einfacher logischer Leistungen,!) die ich an Individuen verschiedener 
Altersstufen unternommen habe, eine geeignete Grundlage gegeben 
ist. Überlegungen solcher Art sind auch bereits von Stern?) an- 
gestellt, der die Ergebnisse meiner Versuche quantitativ auszuwerten 
unternommen hat. Um ein abschließendes Urteil zu gewinnen, stand 
aber noch im Wege, daß mein Material infolge der Ungunst der Ver- 
hältnisse einige Lücken enthielt. Das 1914 gesammelte und infolge 
des Kriegsausbruches unvollständig gebliebene Material wurde jetzt 
durch neue Versuchsserien, die wie damals kurz vor oder nach Ostern 
angestellt wurden, ergänzt. Die Versuchsreihen schließen nach unten 
mit der 6. Klasse ab, da bei noch jüngeren Individuen die Un- 
geschicklichkeit im Schreiben die Leistung zu stark beeinträchtigt. 
Die neuen Versuche, welche ich dem freundlichen Entgegenkommen 
des Herrn Schuldirektor Fritzsche (XXX. Volksschule, Leipzig- 
Stötteritz) verdanke, wurden in je 2 Parallelklassen angestellt, auf 
welche Weise sich eine breite Basis der Beurteilung gewinnen ließ. 
Interessante Befunde, die sich aus dem Vergleiche des vor und nach 
dem Kriege gesammelten Materiales ergeben, werde ich in der Zeit- 
schrift für pädagogische Psychologie veröffentlichen. 

Die Lösung der oben angeregten Frage ist von mir zunächst in 
der Weise versucht worden, daß aus den Leistungen des Gesamt- 
materiales Tabellen zusammengestellt wurden, nach denen man auf 
bestimmten Altersstufen für jede Antwort dem Individuum ein be- 
stimmtes Intelligenzalter ablesen konnte, um daraus schließlich einen 
Durchschnittswert zu berechnen. Ein derartiges Verfahren ist dadurch 
nahe gelegt, daß bestimmte Leistungen mit bestimmten Altersstufen 
verknüpft sind; so hat nach meinen früheren Zusammenstellungen 
auch Stern bemerkt, daß die als richtig und korrekt bezeichneten 
Definitionen erst mit dem 7. Schuljahre, also etwa dem 13. Lebens- 
jahre, 75°/, in der Gesamtleistung einer Klasse ausmachen. 

Gegen ein solches Verfahren, wie ich es ursprünglich im Auge 
hatte, sind mir jedoch im Laufe der Bearbeitung nachstehende Be- 


— 





_— 


1) Ztschr. f. angew. Psychologie. Bd. X. S. 339. 1915. 
?) W. Stern, Über Alters-Eichung von Definitionstests. Ztschr. f. angew. 
Psychologie. Bd. XI. S. 90. 1916. 
9* 


120 A. Abhandlungen. 


denken gekommen: 1. machte sich dabei die Anlage zahlreicher 
Tabellen erforderlich, die das Verfahren umständlich gestalteten, denn 
eine richtige, falsche oder primitive Antwort hat je nachdem sie von 
einem älteren, jüngeren, männlichen oder weiblichen Individuum ge- 
geben wird, in dem gedachten Systeme einen verschiedenen Wert. 
In einem Falle kann dieselbe Leistung adäquat sein, d. h. der Ge- 
samtleistung der Altersstufe entsprechen, bei einem jüngeren Indivi- 
duum bedeutet aber die gleiche Reaktion eine höhere Leistung, die 
ihm in der Altersklasse einen höheren Platz anweist. 2. Sind die 
Antworten nicht für jedes Alter charakteristisch, vielmehr stehen sich 
die Leistungen einzelner Jahrgänge, wie der 4. u. 5. Klasse, ziemlich 
nahe. 3. Erscheint es nicht angebracht, bei der Bewertung intellek- 
tueller Leistungen die Aufgabe des Untersuchers zu stark zu schema- 
tisieren, so wie es beim Binet-Simonschen System der Fall ist und 
seine Aufmerksamkeit von der Qualität der Antwort abzulenken. Aus 
diesen Gründen habe ich ein anderes Verfahren gewählt, das nur mit 
einer Tabelle für Knaben und Mädchen arbeitet und der beurteilenden 
Person lediglich eine Stütze der Bewertung bietet, indem sie in über- 
sichtlicher Weise die in verschiedenen Altersklassen festgestellten 
Reaktionen veranschaulicht. 

Bei der neuerlichen Zusammenstellung des Materiales wurde die 
Klassifikation der einzelnen Leistungen einer abermaligen Prüfung 
unterzogen, zumal da die Untersuchung von Lehmann für ihre be- 
sonderen Zwecke von der früheren Beurteilung der Reaktionen abwich 
und ihr eine eingehende logische Einteilung zugrunde legte. Aller- 
dings gestaltet sich eine derartige Auflösung der Reaktionen in eine 
größere Anzahl von Gruppen unübersichtlich und es ist bezeichnend, 
daß sich dieser Autor später zur Zusammenfassung von Definitions- 
formen zur Gruppe eines niederen Definitionstyps veranlaßt sieht und 
sich damit meiner Klassifikation wieder nähert. 

Tritt man unvoreingenommen an das in den Definitionsversuchen 
gewonnene Material heran, so fallen einem ohne weiteres einige sehr 
bezeichnende Unterschiede zwischen den Leistungen auf, die die um- 
stehend wiedergegebene Zusammenstellung der Definitionen einer 
3. Mädchenklasse für den Begriff »Schiff« veranschaulichen kann. Wir 
finden hier Erklärungen, die formal und sachlich einwandfrei sind, und 
oft durch die Verwendung abstrakter Namen den logischen Gebrauch 
eines reicheren Sprachschatzes anzeigen. Wir nennen derartige Defi- 
nitionen korrekt (k), vergl. Nr. 5 der Zusammenstellung. Häufiger 
sind hier Reaktionen vertreten, die in mehr oder weniger guter Stili- 
sierung das Wesen des Begriffes kennzeichnen, wir benennen sie die 


Gregor: Zur Bestimmung des Intelligenzalters mittels der Definitionsmethode. 





l. 
2. 
3. 


pas 


21. 


EBBES58 SSSSESKR 





Definitionen vom Schiff. Ill. Mädchenklasse. (Tab. 


EEE nn. an _ — 





Ist aus Holz gebaut, mit ne kain > man auf dem Wasser shren 

Es fährt auf dem Wasser, hat Mastbaum . pe a 

Ein Schiff ist ein langes Ding ans Holz mit Eisen beschiaren, Ha 
mit fährt man auf die See . 


„| Das Schiff in der Kirche sind Bänke, das Schiff it iii Wasser 


ist eine Fähre . . 

Ein Schiff ist ein Fahrzeug auf dem. Wanne. 

Ein Kasten aus Holz . . . 

Ein Fahrzeug auf dem Wasser, e es gibt Kriegsschiffe, Handelsschifie 

Es setzt die Menschen zu anderen Erdteilen über . . 

Ein riesiger Gegenstand, der auf dem Meer schwimmt 

Es fährt durch das Wasser, und man kann im Schiffe ihnen 

Ein Schiff fährt auf dem Wasser. Es ist zum Teil aus Holz und 
zum Teil aus Eisen gebaut . ; - 

Ein Schiff ist ein Ding aus Holz, was auf dem Wisan fährt . s 

Ein Schiff ist aus Holz und Eisen. wo man auf dem Wasser 
fahren kann . 

Das Schiff ist ein Ding, wemit man Fr dem Wasser fahren kiah 

Ein Schiff ist ein Ding, das im Wasser fährt 

Ein Schiff ist ein Fahrzeug . ur 

Ein Schiff fährt auf dem Wasser 

Wo man auf dem Wasser fahren kann 

Ein Schiff ist ein langes — — 

Das ist ein Ding, das auf dem Wasser fährt . É 

Ein Schiff ist, daß man über das Wasser fahren Kann 

Ein Schiff ist ein Ding, das im Wasser fährt 

Ein Schiff ist ein Dampfer aus Holz 

Es ist aus Holz gebaut und fährt auf dem Wiar 

Ein Schiff ist, wo jemand fährt . Bu 

Ein Schiff ist ein zweieckiger Kasten 

Damit kann man auf dem Meere fahren . . 

Ein Schiff ist ein halbrundes Pe Loch, worin Menncheh über 
die See fahren wollen ; 

Ein Schiff ist ein Gegenstand, der uns m dem Wasser trägt. 

Ein Schiff ist, damit man auf dem Wasser fahren kann. 

Auf dem man über das Wasser gelangen kann . . . . ., 

Ein Schiff ist zum Fahren auf dem Wasser . 


.| Ein Schiff ist zum Fortfahren . 


Ein Schiff ist, wo wir auf dem Wasser ahren, es "hat eine ng, 
liche Gestalt . Ra ne GS 


1.) 


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„ng Em HH On Hu nn 


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pr 


pr 


4 


richtigen (r); ferner sind solche zu finden Geste, Nr. 4, 9, 23, 25, 
26, 28), welche ein unwesentliches Merkmal heransgreifen und die 
Aussage in ungelenker und kindlicher Weise formulieren; wir be- 
zeichnen sie als die primitiven (pr). Endlich sind fehlerhafte Reaktionen 


122 A. Abhandlungen. 

und Nullfälle zu unterscheiden. Trotz der Einfachheit dieser Klassi- 
fikation kann es in einzelnen Fällen zumal bei ungenügender Übung 
zweifelhaft sein, eine Definition einer der Gruppen zuzuweisen. Um 
eine Einheitlichkeit der Beurteilung anzubahnen, habe ich daher für 
alle von mir verwendeten Begriffe typische Reaktionen nach den 
einzelnen Gruppen zusammengestellt. 

(Siehe Zusammenstellung auf nebenstehender Seite.) 

Bei Bewertung des nach verschiedensten Richtungen differen- 
zierten Materiales hat sich die Definitionsmethode als sehr empfind- 
liches Instrument erwiesen. Ihre Schärfe war aber hier, wo es auf 
die Gewinnung von Durchschnittswerten zur Lösung quantitativer 
Fragen ankam, unerwünscht. Ganz auffällig war z. B. der Unter- 
schied in den Leistungen von gleichalterigen Individuen aus einer 
Bezirks- und einer Bürgerschule. Es wird die Aufgabe weiterer 
Untersuchungen sein, diese Eigenschaft des Verfahrens, die nament- 
lich für die Feststellung von Begabungsunterschieden wertvoll ist, 
auszunützen. In unserem Falle aber mußte man bestrebt sein, die 
störenden Differenzen zu überwinden, was nur in der Weise möglich 
war, daß in strittigen Fällen mehrere gleichalterige Klassen zur Be- 
rechnung der Mittelwerte herangezogen wurden. Bei speziellen Unter- 
suchungen, insbesondere bei der Feststellung von Begabungsunter- 
schieden dürfte es nötig werden, eigene Vergleichswerte zu sammeln, 
indem man die Örtlichkeit der Schule und die besondere Zusammen- 
setzung des Schülermateriales berücksichtigt. 

Auf die Ergebnisse, zu welchen die Untersuchungen mit der 
Definitionsmethode bisher geführt haben, kann hier nicht eingegangen 
werden. Ich begnüge mich deshalb bloß mit dem Hinweise auf meine 
Untersuchungen über die Entwicklung einfacher logischer Leistungen, !) 
wo auch die Unterschiede zwischen den Definitionen männlicher 
und weiblicher jugendlicher Individuen berücksichtigt wurden. Diese 
Differenzen machten eine gesonderte Behandlung des Materiales für 
die quantitative Bestimmung nötig, wodurch sich eine Gliederung der 
hier gegebenen Zusammenstellung in den Tab. 2 u. 3 nach männ- 
lichen und weiblichen Leistungen ergab. Beiläufig möchte ich nur 
an der Hand der Tab. 1 auf die Beziehungen zwischen Qualität der 
Definitionen und den Schulleistungen hinweisen, da die Tabelle in 
dieser Beziehung ein typisches Resultat enthält. In ihr sind die 
Versuchspersonen nach den Zensuren geordnet und es wird nun er- 
sichtlich, daß im ersten Teile der Reihe, welcher die Schüler mit 


Gregor: Zur Bestimmung des Intelligenzalters mittels der Definitionsmethode. 1923 


Zusammenstellung typischer Definitionen. 











Begriff: Korrekt | Richtig Primitiv Falsch 
Stuhl Möbelstück. Zum Sitzen. Ich sitze auf dem | Dingwort. 
Sitzgelegenheit. | Wo man sıch drauf- Stuhl. Ist gelb. 
Stubengerät. setzt. Holzstuhl. 
Auf den Stuhl setzt 
man sich. 
Tisch Möbelstück. Dient, braucht man | Ist zum Essen. Eigenschafts- 
Gerät. zum Draufstellen. | Hat vier Beine. wort. 
Schreibtisch. Tische. 
Schrank | Möbelstückinden | Dient zum Kleider- | Kleiderschrank. Glas. 
man Kleider hineinhängen. Zum Kleidern. Tür, 
hängen kann. 
Mantel Kleidungsstück. | Zieht man an, wenn | [chzieheden Mantel 
es kalt ist. an. 
Ist zum Anziehen. 
Rohr Stange. die innen | Dient zum Fort- | Ofenrohr. Ist lang. 
hohl ist. leiten von Gas od. | Wir haben ein Gas- | Wasser. 
Leitungsmittel. Wasser. rohr. Röhre. 
Zum Ofen. 
Grenze Scheidungslinie. | Da wo das Land | Deutschland hat |Ein Reich. 
Trennungsstück. | aufhört. eine Grenze. Ein Ding. 
Zoll bezahlen. Ist zum Sol- 
Garten ist umsäumt. | daten. 
Arm Glied. Braucht man zum | Ist beweglich, Ordnung. 
Körperteil zum | Schreiben, zum |Ist stark. Zum Mensch. 
Arbeiten, Zu- | Arbeiten. Ich habe zwei Arme. | Leute. 
greifen. 
Bein Glied. Dient zum Laufen. | Ist beweglich, lang. | Wandern. 
Körperteil zum 
Gehen. 
Auge Sinn. Dieut zum Sehen. | Ich habe Augen zum | Ein Ding. 
Organ. Gucken. [st weit. 
Sehkraft. Ist rund. Blau. 
Sieht. 
Mund Öffnung im Ge- | Hat man, dient zum | Hat Zähne. Ist breit, klein. 
sicht. Sprechen, Essen. | Der ißt. 
Organ z.Sprechen. 
Lunge Atmungsorgan. Braucht man zum | Nützlich zumLeben. | Ist Fleisch. 
Atmen. Hat Mensch und | Lungenkrank. 
Tier. 
Gehirn Denkkraft, Braucht man, ist| Braucht man zum | Ist bös. 
Denkorgan. zum Denken. Leben. Ist Fleisch. 
Zum Rechnen. Horn. 
Haus Menschliche Braucht man, ist| Wir bauen ein Haus. | Ist rund. 
Wohnung. zum Wohnen. Steht auf Straße. | Eine Figur. 
Bauwerk. Ist aus Stein. Schmal. 


Gebäude. 


124 A. Abhandlungen. 












Korrekt Richtig | Primitiv 








Zelt Stangengerüstmit| Zum Lagern für RE wohnen im | Ist ein Ding. 
Tuch überzogen. | Wanderer. Zum Geld. 
Wohnung aus |lIst aus Leinwand. » | zum. Spielen, 

Leinwand im | Diert zum Rasten. | Schlafen. 
Freien. Ist rund. 

Laube Uuterkunft im |Steht im Garten. |In der Laube sind 
Garten. Im Sommer setzt| Kaninchen. 

Gartenhäuschen. | man sich hinein. | Setzen. 
Aus Holz. 
Schiff Wasserfahrzeug. | Fährt auf dem ;Hat Segel. 
Wasser. |z Zum Fahren. 
: Womitmanauf dem ' Was auf dem 
' Wasser fährt. | Wasserschwimmt. 

Tür Eingang des Dient zum Ein- und | Lange Platte. Klein. 

Hauses. Ausgehen. ı Ist hoch. Braun. 
Zum Verschließen. Ist am Haus zum 
| | Aufmachen. 

Arbeit Tätigkeit. Mit der Arbeit ver- | Ich, Vater, Leute 
Beschäftigung. dient man Geld. | gehen auf Arbeit. 
Anstrengung. ‚Ist schwer. 

Tausch Handel. Wo sich Menschen | Ich, wir, Leute | Ist groß. 
Wechsel von gegenseitig geben. tauschen. Kartenspiel. 

Gegenständen. | Zum Ge- 
| winnen, 

Pfand Sicherung für Ge- | Wenn man Geld| Wenn man sich|Wenn man go- 
liehenes. borgt. borgt. funden hat. 
Bürgschaft. Wenn man nicht | Leute geben Pfand. | Geld. 
Versprechen. gleich bezahlen | 

kann, so gibt man 
ein Pfand. 

Ordnung | Sauberkeit. Wenn man alies | In Schule, Haus ist 
Reinhalten. sauber hält. | „Ordnung. 
Eigenschaft. | | Ich halte sauber, 

mache Ordnung. 

Pacht Zins. WennmaneinStück | Ich, Vater hat | Was man 
FürgeborgtesGut.| Land abmietet. Garten gepachtet. | kauft. 
Vermietung. Wir bezahlen Pacht. 

Bündnis | Vereinigung. Wenn sich mehrere | Vater ist im Turner- | Buch- 
Verbündungen vereinigen, zu- | bund, ich halte, | umschlag. 

der Völker. sammentun. Kinder machen |Knoten im 
Bündnis. Bindfaden. 
Kolonie | Ländereiim frem-| Wenn ein Volk in|Kinder gehen in (Ist bei Sol- 


den Erdteil. anderen Ländern | Kolonie Milch- daten. 
Ansiedelung,, ein Stück gewon-| trinken. 

nen hat. 

Deutschland, Eng- 

land hat Kolonien 

in Afrika. 


Gregor: Zur Bestimmung des Intelligenzalters mittels der Definitionsmethode. 125 





-— m mM ee E 


, ; | 
Begriff : Korrekt | 
| 





Richtig | Primiiv | Falsch 





Gemeinde | Religiöse Ver- | Einwohner eines |Ist auf dem Dorfe. | IstzumBauen, 























bindung. Dorfes. Auf dem Rathaus. | zum Aus- 
Gesellschaft. Kleiner Ort. zahlen. 
Gesetz Bestimmung, Man richtet sich | Dasman nichtüber- | Wo man sich 
Verordnung. nach dem Gesetz. | treten darf. hinsetzt. 
Muß befolgt werden | Herrscht auf dem 
| Gericht, im Kate- 
| ehismus. | 
Obrigkeit | Macht, die uns| Hat zu regieren. Ist der Stadtrat. Im Katechis- 
beherrscht. Hauswirt. mus. 
Herscher, Gewalt. 
Brklärung | Auseinander- Wenn man jemand | Die Feinde erklären | Wort,dasman 
setzung. etwasauseinander- | Krieg. nicht ver- 
Deutliche Darstel-| setzt, beschreibt. | Der Vater, Lehrer | steht. 
lung. erklärt 
Absicht | Vorhaben. Etwas machen zu [Ich usw. hat mit| Wenn man 
Gedanke,denman| wollen. ; Absicht getan, absieht, ab- 
ausführen will. | wennman wasaus- | guckt. 
| wischen will. | 
Ursache |Grund einer Ich, Polizei forscht | Was einem 
Sache. nach der Ursache. | nichtsangeht. 
| . Ausalter Zeit. 
| | Keine Ur- 
i sache. 
Wider- | Gegenspruch. Wenn man dagegen Wenn ga was ge- Wenn man . 
spruch | Gegenrede. redet. sagt und | nachspricht, 
wi Roche haben. | wiedersagt. 
Wenn man je- 
Böses getan hat, | Urteil ist auf dem | mand tot 
wird er verurteilt. | Gericht. macht, ver- 
haftet, klagt. 
Mut Tapferkeit. Wenn jemand tap- | Soldat hat Mut. Wenn man 
Kaltblütigkeit. fer ist. Wenn jemand Lust | was haben 
Ä hat zum Turnen. | will. 


Wenn man 
etwas recht 


Gerechtig-] Gleichmäßige Wenn man Schul- | Wenn ein Kind von 
keit 


Strafverteilung. | dige bestraft. der Mutter be- 


hauen will. 
Haben die Feinde. 


tigkeit. wir wollen es wie- 


| 
Urteil Rechtsspruch. | Wenn jemand etwas | Richter hat Urteil. 
der tun. 


Unparteiischer | Wenn einer soviel| kommt, wie das| macht. 
Richterspruch. | Recht hat wie der | andere. 
andere. 
Mitleid Erbarmen über | Wenn ein Mensch | Mutterusw.hat Mit- Wenn man 
Menschen. einem Armen hilft. | leid mit Bettler. | jemand schla- 
Gefühl mit an- gen will. 
derem. 

Irrtum Falsches Denken. Wenn man was | Wenn man jemand | Wenn man 
Verwechslung. falschgemacht hat. | zu wenig gibt. denkt. 
Versehen. Sichim Wald verirrt. 

Rache Vergeltung für | Wenn uns jemand | Wennman Wuthat. | Fisch usw. hat 

frühere Schlech-| etwas getan hat u. | Wenn man jemand | Rachen. 


126 A. Abhandlungen. 








m m 7020702720200 ŘÃŐĂŐ 


besseren Zensuren enthält, eine Häufung der höheren Leistungen (r) 
vorliegt, im zweiten die primitiven Definitionen überwiegen. Doch 
weisen auch einzelne Schüler mit guten Schulleistungen primitive, 
und relativ schlechte Schüler gute Definitionen auf. 

Das hier entwickelte quantitative System bezweckt, den Unter- 
sucher in die Lage zu versetzen, jede Reaktion im Hinblick auf die 
für das Lebensalter des Geprüften zu erwartende Leistung zu be- 
urteilen. Daher wurden nach ausgedehnten Versuchsreihen Mittel- 
werte festgestellt und derart in Tabellen (2 u. 3) geordnet, daß für 
jeden einzelnen Begriff bei Knaben und Mädchen vom 9. bis zum 
14. Lebensjahre bezw. VI. bis I. Klasse in einer Spalte die für diese 
Stufe charakteristische Qualität der Reaktion angegeben ist. Dabei 
wurde für die Summe der richtigen und korrekten Fälle ein +, für 
die primitiven ein —, für die falschen und Nullfälle eine 0 eingesetzt, 
wenn die überwiegende Zahl der Versuchspersonen eine derartige Er- 
klärung lieferte. Bei einer größeren Streuung der Werte, wenn also 
keine der eben erwähnten drei Qualitäten den Prozentsatz 50 er- 
reichte, wurde die Verhältniszahl der richtigen Fälle in Klammer ge- 
stell. Die nebenstehende Reihe enthält den Prozentsatz korrekter 
Definitionen, dabei wurde die Zahl in Klammer gesetzt, wenn es sich 
lediglich um die Leistung einzelner hervorstechender Versuchspersonen 
handelte. Die korrekten Definitionen besonders hervorzuheben, er- 
schien darum am Platz, da über ihre Zuordnung kein Zweifel besteht 
und sie sichere Anhaltspunkte für die Annahme einer höheren geistigen 
Entwicklung bieten. Zur Bewertung der Definitionsleistungen von 
Individuen über das 14. Lebensjahr sei bemerkt, da bei Gebildeten 
ein weiterer Fortschritt zu einem Optimum von 100°/, korrekter Fälle 
statt hat, Ungebildete lassen dagegen keine wesentliche Erhöhung der 
Leistung erkennen; ungebildete weibliche Versuchspersonen bleiben 
in späteren Jahren sogar etwas hinter den Leistungen von 14 jährigen 
zurück. 

Im folgenden soll auf Grund einiger Definitionsversuche bei 
jugendlichen Individuen von verschiedener intellektueller Entwicklung 
mit Hilfe der beigefügten Tabellen eine Einführung in die quantitative 
- Verwendung der Methode gegeben werden. 

Herbert R. 10 Jahre 3 Monate. Intelligenzalter nach Binet- 
Simon 12 Jahre. Die Definitionsversuche ergaben für konkrete Be- 
griffe fast durchaus richtige Erklärungen, wie sie nach der Tabelle 
noch bis ins 9. Lebensjahr zu finden sind. Da R. aber auch Rohr 
und Grenze richtig erklärt, tritt er auf die Stufe von 11- und 12 jährigen 
Individuen. Die primitive Erklärung von Arm fällt nicht schwerer 





Gregor: Zur Bestimmung des Intelligensalters mittels der Definitionsmethode. 127 





R., Herbert. 





Reaktionszeit 
in Sekunden 


3! 


Oo A a A OO OT He He U 


11 


68 
12 


1 n a 


Stuhl? Das ist wo man sich draufsetzt. 

Schrank? Das ist wo man Sachen neinhängt. 

Tisch? Das ist wo man Zeug draufstellt. 

Mantel? Den kann man anziehn. 

Rohr? Das ist ein Stock, nein das ist wo Wasser durchfließt. 

Grenze? Das ist wo ein Feld alle ist, das ist eine Grenze. 

Arm? Hat ein Mensch. 

Bein? Das ist womit ein Mensch läuft. 

Mund? Damit redet man. 

Lunge? Die hat ein Mensch. 

Auge? Damit sieht der Mensch. 

Gehirn? Das hat ein Mensch. 

Haus? Da wohnt der Mensch. 

Laube? Die steht im Garten. 

Zelt? Darin wohnen die Soldaten. 

Schiff? Da fährt man in dem Wasser. 

Tür? Die ist vor dem Zimmer. 

Arbeit? Die tut der Mensch. 

Tausch? Tauschen tut der Mensch, wenn er was hingibt und der 
andere gibt ihm etwas anderes dafür. 

Pfand? Das ist, da gibt man es solange hin, bis man dafür etwas 
getan hat. 

Ordnung? Da muß man alles aufräumen, da darf nischt rumliegen. 

Pacht? Wo man ein Gut gepachtet hat. 

Bündnis? Wenn die Garben gebunden sind, da ist es ein Bündnis. 

Kolonie? Wenn viele Kinder auf die Ferien gehen, da nennt man 
das eine Kolonie. 

Gemeinde? Das ist eine Stadt. 

Gesetz? Die Gebote, das sind Gesetze. 

Obrigkoit? un. 

Erklärung? Ist wenn jemand uns etwas erklärt, was das ist. 

Absicht? Ist wenn jemand einen was zugetan hat und dann 
fragt man, ob er es mit Absicht gemacht hat. 

Ursache? ......; . 

Widerspruch? Das ist, wenn man sich widerredet, wo es ver- 
boten worden ist. 

Urteil? Wenn jemand verurteilt worden ist, so nennt man es ist 
ein Urteil. 

Mut? Wenn ein Soldat froh in Krieg zieht, da hat er Mut. 

Gerechtigkeit? Wenn der eine soviel bekommt wie der andere 
soviel bekommt. 

Mitleid? Das ist Erbarmen, 

Irrtum? Wenn sich jemand wo in die Irre gelaufen hat. 

Rache? Wenn jemand einen Menschen verachtet. 


128 A. Abhandlungen. 


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ins Gewicht, da dieser Begriff die Reihe der körperlichen einleitet und 
es hier der Versuchsperson noch an der richtigen Einstellung fehlt. 
Diese wird denn auch beim folgenden Begriffe gefunden. Wenn R. 
bei Lunge und Gehirn trotzdem keine Funktion angibt, so ist dies 
schon entschieden als Mangel zu werten. Mit der primitiven Reaktion 
von Gehirn ist nach unserer Tabelle noch die Altersstufe 10 vereinbar, 
mit der primitiven Erklärung von Lunge kaum mehr die 11. Unter 
den sozialen Begriffen fällt die richtige Definition von Tausch auf, 
was allerdings nur anzeigt, daß das Individuum das Intelligenzalter 9 
überschritten hat. Die verfehlte Erklärung von Bündnis ist mit 
der 10., die primitive von Kolonie und ebenso die Nullreaktion von 
Obrigkeit mit der 11. Altersstufe vereinbar. Ähnlich gestaltet sich 
die Bewertung der folgenden Reaktionen. Relativ gute Leistungen hat 
R. bei den ethischen Begriffen aufzuweisen. Die Erklärung von 
Mut, Gerechtigkeit, Mitleid weisen auf die Altersstufe 13 hin, 
während die Reaktion auf Rache das Urteil wieder herabdrückt. 

Danach ist die Intelligenz auf Grund des Ausfalles der Definitions- 
versuche dahin zu bewerten, daß R. in seinen Leistungen gewiß den 
Durchschnittswerten gleichalteriger Individuen entspricht, daß er sich 
aber nicht in entschiedener Weise über dieses Niveau erhebt, nament- 
lich der fast völlige Mangel von korrekten Definitionen schließt die- 
Annahme einer höheren Begabung aus. Das Ergebnis des Binet- 
Simonschen Verfahrens, das hier zur Altersstufe 12 führte, muß 
somit bezweifelt werden. Anderseits ist aber auch das Resultat der 
übrigen klinischen Intelligenzprüfung zu korrigieren, die auffälligere 
Defekte ergab (Hauptstadt von Sachsen: Leipzig. Erdteile: Schweiz, 
Europa, Deutschland, Rußland. 1 km: 100 m). Man muß dabei viel- 
mehr an den Mangel von gedächtnismäßigem Erwerb denken, da R. 
starker Schulschwänzer war. Das Ergebnis der Definitionsversuche:- 
im Gegensatz zu Binet-Simon findet aber wieder durch die Resultate 
der Unterschiedsfragen Bestätigung. Der Unterschied zwischen Teich 
und Fluß wird von R. erst in der Größe, dann in der Tiefe gesucht.. 
Der Unterschied zwischen Kind und Zwerg: Kind ist kleiner. Leiter 
und Treppe: gerade — schief. 

Kurt A. Lebensalter 12 Jahre $ Monate. Intelligenzalter nach 
Binet-Simon 10. Hier fällt schon bei konkreten Begriffen das Über- 
wiegen von primitiven Reaktionen auf, wodurch dem Individuum ent- 
schieden ein tieferes Intelligenzalter angewiesen wird als seinem Lebens- 
alter entspricht. Eine genauere Bestimmung ermöglichen hier die Er- 
klärungen abstrakter Begriffe. Seine Leistungen in der Gruppe der 
sozialen Begriffe entsprechen dem Typus 9jähriger Individuen. Die- 









































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130 


A. Abhandlungen. 


Abstrakte Begriffe. (Tab. 3.) 
































8 Soziale Begriffe | Politische Begriffe | Logische Begriffe | Ethische Begriffe 
g a a a S A 
= Arbeit Bündnis Erklärung Mut 
-< o k Sei 
= & | Knaben | Mädchen Knaben | Mädchen Knaben | Mädchen Knaben | Mädchen 
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131 1] + |a| + |451 + |26| + 10] + 15] + 110] + |2| + 18 
21a) + | 6, +27 + | Si + lo O = 181 — 1.87 Fe 
age = 1101 120 li riet E | 4| — | o|c+43)| 0 
101 VI + | 6| + (24| 0 |0| 0 jo] — |B] — | 0I — — i 
SEVU — VO 9 a 02.70 9 ol Ee 0101 0 T] o {0 
Tausch Kolonie Absicht Gerechtigkeit 
141 I| + |54| + |58| + |162| + |5| + 1388] + |10|. 0 [13] 0 |I4 
13| 1] + |39) 54| + |60| + (+27) 6| + J11l(+31))14| :0 | 2 
121 III (+38) 7 (+48) 14| + 130| + | 0 |(+33)) 17 (+26) 0} — | 0| — 40 
111 IVK+36)| 7| + 101 — | 0| — |3]| — |0I - 1,0] — I 0] 
10| V+) 7| — |6| — | 0| — |3| 0/0; 0,0] 0,0; 0 |0 
9Ivıl — |@) o — |o olol 0o13] 0 ol © lo] 0% 
Pfand Gemeinde Ursache Mitleid 
141 II + 9+ 3912 + |41| + | 7i + | 0(4+2720| + 119] +1 
13] 1i] 4119) + |23) + |0 (+26) 6 (+20) 5| + |17| — p9 
12{11] — | 0 (+37)| 3({+40 0 + 0] 0 7| 0O |Off — |9| — j] 6 
LEIST = Be pO, D 0 |o! 0,0] — | 3({+45) 8 
101 vI 0 tal 0 JA —=!0 0 |01I 010 010 = 10. 
9Ivi| 0 Iı3} 0 |5I 0o | 3] 0|0| © 01 olo o i s| = 
Ordnung Gesetz Widerspruch Irrtum 
141 I| + |38| + 154i + 1201 +171 + 124 (4+4 31 + 1171 +70 
131 n0I + |5| + |54| + |27| + (+30) 9 (+35) 7I(+40))16| — | 0 
132101 — | 3) + i2] + |20) + | 5 (+30) 22 (+18) 31 — | 0| — 10 
11j1v +33) 5] + I31f +22) 0| + |31 0 | 0(+20) = | 0| —'] 6 
10| V (+34) 7i #& | 6 — | 00101 © | 01:0 I 01 — | 0| DO | 
9 vi — | IH o |o| 0 |o| 0 | 35] 0 |0| 0 | 3] — HP | 
Pacht Obrigkeit Urteil Rache 
14| I 24 15| + |42] + |2| + 142| + | 3| + | 6(+39] 5 
13] II 24 (+42) 36 | + !0I + |21| + | O48389 8] — 1A 
12 | 111 K+35)| 8I(+28)) 0k42) 0| + [o| — |2| — | of — | o| —- I 3 
111IvVI — | 0| 0 | 3] 0 | o(+39 0l — | 0| — | 0I — | 0] — 0 
10] VI — | 2| 0 0] 0 0 — |0 0 0| — | 0| — | 0| — 0 
9IVIj Q I 0 DEE ON DO 0 0| 0 0| 0 3 10) 0 











Gregor: Zur Bestimmung des Intelligenzalters mittels der Definitionsmethode 131 


Reaktionszeit 
in Sekunden 


Stuhl? Das ist ein Stuhl, wozu? 
Tisch? Das ist ein Tisch, — ein Eßtisch. 
Schrank? Ist wo man die Kleider neinhängt. 
Mantel? Den man anzieht. 

Rohr? In das man elektrisch legt. 
Grenze? Zwischen zwei Felder. 

Arm? Ist ein Arm mit dem man ißt. 
Bein? Ist mit dem man läuft. 

Auge? Ist mit dem man sieht.” 

Mund? Ist mit dem man ißt. 

GoHirn? e picts 

Haus? In dem man wohnt. 

Zelt? In dem man übernachtet. 

Laube? In der man im Sommer ist. 
Schiff? In dem man fährt. 

Tür? Wo man durchgeht, 

Arbeit? Im Felde. 

Tausch? Ist wenn man eine Kuh und eine Gans nimmt. 
Pfand? Ist was man gefunden hat. 
Ordnung? Ist wenn man sich führt. 
Pacht? Wenn man gepachtet hat. 
Bündnis? „us: 

Kolonie? : oaae 

Gemeinde? In die ein Dorf führt. 
DOSBIET 5.45.08 

4 Erklärung? Was man erklärt. 

11 Absicht? Wenn man was sieht. 
Ursache? ..;..- 

Widerspruch? Das man lernt. 

Urteil? Wenn man was gemacht hat. 
Laster? aa «ur 

Mut? Ist wenn man tüchtig kämpft. 
Gerechtigkeit? Ist wenn man recht klug ist. 
Mitleid? Ist wenn was passiert ist. 
Irrtum? Ist wenn man sich verirrt hat, 
Rache? Ist ein großes Tier. 


Nullreaktion bei Bündnis ist noch mit der Altersstufe 10 vereinbar. 
Schwerer wiegt der Ausfall bei Kolonie, die auch noch von 9 jährigen 
primitiv erklärt wird. In der Erklärung logischer Begriffe sehen wir 
A. nirgends auf der seinem Lebensalter entsprechenden Intelligenz- 
stufe. Günstiger ist das Ergebnis bei den ethischen Begriffen, indem 











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132 A. Abhandlungen 


er mit der richtigen Erklärung von Mut auf der Stufe 13, bei Mit- 
leid und Gerechtigkeit mit seinen primitiven Aussagen auf der 
Stufe von 10 und 11 steht. Mit der ganz verfehlten Erklärung von 
Rache sinkt er allerdings wieder auf ein tieferes Niveau herab. 

Die Definitionsmethode ergibt bei dieser Versuchsperson einen 
intellektuellen Rückstand von mehreren Jahren und stimmt mit der 
klinischen Beobachtung, die ausgesprochene intellektuelle Defekte 
(Diagnose: Debilität) ergab, sowie mit dem Ausfall des Binet- 
Simonschen Verfahrens, das einen Rückstand von mehr als 2 Jahren 
anzeigte, überein. 

Elsa R. Lebensalter: 13 Jahre 10 Monate. Die erste Gruppe 
konkreter Begriffe zeigt lauter richtige Erklärungen, die an sich der 
Intelligenz noch keine bestimmte Stellung anzuweisen vermögen. In 
der folgenden Gruppe ist die Definition von Arm durch Muskel auf- 
fällig, ihre Stellung wird aber erst aus den folgenden Reaktionen 
kenntlich, in denen Elsa R. bestrebt ist, für das Wort einen Ober- 
begriff zu finden, was bei einzelnen Beispielen dieser Gruppe auch 
derart gelingt, daß man hier schon von höherwertigen Leistungen 
reden darf, wie sie regelmäßig erst im 13. und 14. Lebensjahr ge- 
funden werden. Die Erklärungen von Wohnstätten entsprechen wieder 
jenen der Hausgeräte. Unter den sozialen Begriffen wird Tausch 
und Ordnung in korrekter Weise definiert, und damit wieder die 
Intelligenzstufe 13—14 jähriger Mädchen erreicht; während die Reaktion 
mit Grundstück bei Pacht eine Wortergänzung vorstellt, wobei zu 
berücksichtigen ist, daß dieser Begriff den meisten Versuchspersonen 
größere Schwierigkeiten bietet. Die Definition von Arbeit durch Zeit- 
vertreib spricht von einem entwickelten Sprachschatz. Im übrigen ist. 
hier durch die Dauer der Reaktionszeit (34 Sek.) die Berührung eines 
naheliegenden Komplexes anzunehmen. Bei den politischen Begriffen 
liefert die Versp. Ausdrücke, die auch bei l4jährigen Mädchen nur 
ausnahmsweise zu finden sind. Von den logischen Begriffen wird 
Erklärung mit einem abstrakten Synonym bezeichnet und ebenso ent- 
spricht auch die Reaktion Grund auf Ursache guten Leistungen 
14 jähriger Mädchen. Die Erklärung von Widerspruch ist als richtig 
zu werten, auch damit tritt sie in die Reihe 14 jähriger; dagegen liefert 
sie auf Urteil eine Fehlreaktion. Bei den. ethischen Begriffen finden 
wir vorwiegend treffende abstrakte Ausdrücke, für Rache eine leid- 
lich richtige Erklärung, die bei den sonst mit diesem Begriff erzielten 
schlechten Resultaten im positiven Sinne zu schätzen ist. 

Das Ergebnis dieser Versuchsperson ist: treffende Zweckerklärungen 
bei einfachen konkreten Begriffen und ein Anstieg der Leistung bei 


Gregor: Zur Bestimmung des Intellirenzalters mittels der Definitionsmethode. 133 








R., Elsa, 13 Jahre 10 Monate. 





Reaktionszeit 
in Sekunden 





Stuhl? Ist damit man sich drauf setzen kann. 
Tisch? 1st damit man das Geschirr drauf stellen kann. 
Schrank? Zum Kleidern hineinhängen. 
Mantel? Zum Anziehen. 

Rohr? Damit das Wasser herabläuft. 
Grenze? Das Ende des Reiches. 

Arm? Ein Muskel. 

Bein? Bewegungsstück. 

Auge? Edles Organ. 

Mund? Ein Sprach- Organ. 

Gehirn? Ein Gefühl. 

Haus? Damit man drin wohnen kann. 
Zelt? Wo die Kriegsleute drin sind. 
Laube? Die Zierde des Gartens. 

Schiff? Das die Waren befördert. 

Thür? Womit man aus und eingehen kann. 
Arbeit? Ein Zeitvertreib. 

Tausch? Handel. 

Fland? 24004 | 

Ordnung? Reinlichkeit. 

Pacht? Das Grundstück. 

Bündnis? Freundschaft. 

Kolonie? Im Deutschen Staat. 
Gemeinde? Kirchenversammlung. 

Gesetz? Ein Gebot. 

Erklärung? Eine Besprechung, 

Absicht? Mit Mutwillen. 

Ursache? Der Grund. 

Widerspruch? Wie man gegen jemand ist. 
Urteil? Das Versprechen. 

Laster? Die Sünde. 

Mut? Tapferkeit. 

Gerechtigkeit? Gleichheit. 

Mitleid? Jemanden bedauern. 

Irrtum? Jemanden bereden. 

Rache? Jemand nach dem Tode trachten. 


Sees N A T E OE E S 


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Á= 


m ann 
OO DO Da DM OO ma ww CD MM a 


a8os 


abstrakten mit dem Gebrauche von abstrakten Synonymen. Die In- 
telligenzstufe des Lebensalters von R. ist mindestens erreicht. 
Das Studium dieses Falles im Heilerziehungsheim Kleinmeusdorf 


Zeitschrift für Kinderforschung. 25. Jahrgang. |, 


134 A, Abhandlungen. 
hat ergeben, daß es sich hier nach meiner!) Nomenklatur um moralische 
Schwäche bei einem psychisch gesunden Individuum mit normal ent- 
wickelten intellektuellen Funktionen und Alter und Abstammung ent- 
sprechender seelischer Differenziertheit handelte. 

Elsa L. 12 Jahre. Die Begriffe der ersten Gruppe werden bis 
auf Grenze richtig erklärt, hier aber eine sehr primitive Definition 
gegeben, wie es bei Individuen vor dem 12. Jahre zu beobachten ist. 
Für die körperlichen Begriffe ist die Erklärung von Lunge mangel- 
haft, doch zeigt die Tabelle, daß für diesen Begriff die korrekten 
Definitionen noch im 11. und 12. Lebensjahr in der Minderzahl sind. 
Mit der Erklärung von Gehirn erscheint das Individuum über die 
Intelligenzstufe von 10jährigen hinaus. Wohnstätten werden richtig 
erklärt, nur auf Laube in primitiver Weise reagiert. Ähnlich sind 
auch die für Pfand und Tausch gegebenen Erklärungen, was auf 
die Intelligenzstufe 10—11 verweist, während die richtige Erklärung 
von Arbeit nur anzeigt, daß das Individuum das Intelligenzalter von . 
9 Jahren überschritten hat. Bei den folgenden schwierigeren abstrakten 
Begriffen finden wir zahlreiche Ausfälle, so wird von politischen Be- 
griffen nur Kolonie und zwar falsch definiert. Unter den logischen 
Begriffen ist die Definition von Erklärung ganz primitiv gehalten, 
doch ist damit sowie mit den meisten übrigen Erklärungen logischer 
Begriffe in diesem Falle nach den Durchschnittsleistungen von Normalen 
keine präzisere Bestimmung zu gewinnen. Die Nullreaktionen hei 
‘ dieser und der vorhergehenden Gruppe sprechen für das Intelligenz- 
alter von 10 Jahren, im gleichen Sinne die primitive Reaktion bei 
Mut, während die primitiven Erklärungen der folgenden ethischen 
Begriffe zu keiner genaueren Altersbestimmung zu verwerten sind. 
Aus den Definitionsversuchen ergibt sich hier nachstehendes Urteil: 
wir haben es in diesem Falle mit einem intellektuellen Rückstand 
von 1—2 Jahren zu tun. Die relativ brauchbaren Definitionen von 
konkreten Begriffen und von einfacheren abstrakten sprechen gegen 
die Annahme eines pathologischen Intelligenzdefektes. Zum gleichen 
Resultate führte eine eingehende klinische Intelligenzprüfung, nach 
der nicht pathologische Beschränktheit angenommen wurde. 

Gertrud H. 16 Jahre 9 Monate. Wird zunächst durch die 
langen Reaktionszeiten in den ersten Definitionen auffällig. Bei den 
folgenden Erklärungen findet wohl eine wesentliche Abnahme der 


1) Zur Abgrenzung von Stufen moralischer Entwicklung und von Ver- 
wahrlosungstypen. Zentralblatt f. Vormundschaftswesen 1917, Nr. 1. Vergl. auch 
Gregor-Voigtländer, Die Verwahrlosung. Berlin 1918. 


f 
f 





Gregor: Zur Bestimmung des Intelligensalters mittels der Definitionsmethode. 135 


L., Elsa, 12 Jahre. 








Reaktionszeit 
in Sekunden 
6 Stuhl? Ist wo man drauf sitzt. 
21, Schrank? Ist wo man seine Sachen rein hängt. 
21, Tisch? Ist wo man drauf ißt. 
21, Mantel? Ist den man anziehen tut. 
4 Rohr? Ist wo das Wasser runterläuft. 
51 Grenze? Ist wo die Feinde nicht rüber können. 
4 Arm? Ist womit man arbeiten tut. 
3 Bein? Ist wo man drauf gehen tui. 
2 Auge? Ist womit man sieht. 
81/3 Mund? Ist dazu damit man sprechen kann. 
10 Lunge? Damit man leben kann. 
5 Gehirn? Ist womit man denken kann. 
21, Haus? Ist wo man drinnen wohnt. 
5 Zelt? Ist wo die Verwundeten reinkommen. 
6 Laube? Ist wo man im Sommer spielen kann. 
3 Schiff? Ist worauf man fahren kann, 
31/3 Tür? Ist dazu, daß man rausgehen und reingehen kann. 
6 Arbeit, Ist womit man Geld verdient. 
9 Tausch? Wenn ich an andere was gebe. 
81/3 Pfand? Wenn ich meiner Freundin 1 Ring gebe und ich sage, 
. sie soll ihn mir wieder geben, daß ich ganz bestimmt 
wieder komme. 
2U, Ordnung? Wenn alles in Ordnung steht. 
— PAOD e 0%. 
— Bündnis? ...... 
7 Kolonie? Bei den Soldaten ist auch eine Kolonie. 
— Gemeinde? ...... 
— GeBotz? etha 
— Obrigkeit? roui a 
6t/ Erklärung? Ist wenn mir meine Mutter was erklärt. 
— ADBICHER 1.45 00; 
_ Ursache? 5%... 
4 Widerspruch? Ist wenn ich etwas wieder erwidere. 
5 Urteil? Ist wenn einer aufs Gericht kommt, spricht der Richter 
ein Urteil. 
— LEBEONT 20, 4 n 
14 Mut? Wenn die Mutter nicht zu Hause ist und ich soll nichts 
machen, aber da wasche ich auf. 
6 Gerechtigkeit? Ist wenn alles ihm gerecht ist. 
3ta Mitleid? Ist wenn einer weint, dann weine ich auch mit. 
3, Irrtum? Ist wenn ich mich irre. 
3 Rache? Ist wenn ich auf einen Rache habe. 


10* 


136 A. Abhandlungen. 


a lm — k -——— — - - _ — — 





H., Gertrud, 16!/, Jahre. 








Reaktionszeit 
in Sekunden 

37 Stuhl? Wozu dient? Zum Sitzen. 
50 Schrank? Wozu dient? Da tut man was rein. 
6 Tisch? Wo man drauf sitzt. 

13? Mantel? Den zieht man an. 

= Rohr? 31:4; 

= GTOUE8T. „wirds iva 

114 Arm? Damit schreiben wir. 

2° Bein? Damit laufen wir. 

3 Auge? Damit sehen wir. 

22 Mund? Damit sprechen wir. 

_ EusßBd?r- . +0“ 

_ Gehirn? 5.0 

55 Haus? Da wohnen wir. 

— BOIER oai aoni 

11° Laube? In der Laube sitzen wir. 

3*4 Schiff? Auf dem Schiff fahren wir. 
15 Tür? Die Türe geht auf. 
20° Arbeit? Da arbeiten wir. 

18 Tausch? Da tauschen wir. 

5? Pfand? Da pfänden wir. 

9 Ordnung? Alles in Ordnung halten, 
98 Pacht? Da pachten wir. 

— Bündnis? vrs reis 

— Kolonio? sua iwa 
28 Gemeinde? Das ist gemeinschaftlich. 
39 Gesetz? Das ist gesetzlich. 

— Obrigkeit: soinuan 

2 Erklärung? Da erklären wir. 

— Absicht?" oerni 

5 Ursache? Das ist ursächlich. 

3? Widerspruch? Da widersprechen wir. 
05 Urteil? Da urteilen wir. 

6? Laster? Da lästern wir. 

5 Mut? Wir sind mutig. 

2 Gerechtigkeit? Wir sind gerechtig. 
0° Mitleid? Wir sind mitleidig. 

5 Irrtum? Wir irren uns. 

5? Rache? Wir rächen uns. 


Dauer statt, doch treten immer wieder, zumal beim Übergange zu 
neuen Gruppen Zeiten auf, deren Länge stark von der Qualität der 
Leistung absticht. Zudem machte sich bei der ersten Aufgabe noch 





Gregor: Zur Bestimmung des Intelligenzalters mittels der Definitionsmethode. 137 


die Stellung einer Hilfsfrage nötig, was bei normalen älteren Ver- 
suchspersonen nie stattfindet. Die Definitionen konkreter Begriffe 
sind an sich richtig, aber für ein 16jähriges Individuum entschieden 
zu primitiv gehalten. Nirgends besteht ein Ansatz zum Gebrauche 
abstrakter Namen. Die ersten beiden Gruppen ergeben je für die 
letzten zwei schwieriger zu definierenden Begriffe Nullfälle, die bei 
Normalen für Rohr und Grenze bis zum 9. Lebensjahr geliefert 
werden. * Die positive Leistung bei der Definition von Mund, für 
welchen Begriff bei Mädchen aus naheliegenden Gründen öfters Null- 
reaktionen beobachtet werden, weist nur auf die 11. Intelligenzstufe 
hin. Bei den Wohnstätten bleibt der schwierige Begriff Zelt undefiniert, 
für Tür wird eine primitive Erklärung geliefert, was den Leistungen 
9jähriger Individuen entspricht. Bei den sozialen Begriffen erfolgen 
zwar überall Reaktionen, aber das Individuum bewegt sich hier in 
Tautologien, die zwischen falschen und primitiven Reaktionen zu werten 
sind, womit das Individuum auf die Stufe der Leistungen von 10- bis 
lljährigen normalen Versuchspersonen tritt. Die folgenden abstrakten 
Begriffe ergeben außer Nullfällen mehrfach als falsch zu wertende 
Aussagen. Überall tritt mit der Bindung durch den Klang eine 
mangelhafte Beweglichkeit des Denkens und ein geringes Wortwissen 
hervor. 

Die Definitionsversuche ergeben für Gertrud H. einen intellektuellen 
Rückstand um mehrere Jahre und stehen in Übereinstimmung mit 
der klinischen Beobachtung, die zu der Diagnose Imbecillität führte. 

Auch die obigen Beispiele haben wohl dargetan, daß die Definitions- 
methode ein geeignetes Mittel zur qualitativen Beurteilung der In- 
telligenz vorstellt und daß sie auch quantitativ zur Schätzung des 
Intelligenzalters verwendet werden kann. Dabei ist das Resultat der 
Definitionsmethode z. T. im besseren Einklang mit der klinischen Be- 
obachtung gestanden, als das Binet-Simonsche Verfahren. Diesem 
gegenüber ist die Tatsache, daß die Definitionsmethode sich nicht auf 
ein bestimmtes Intelligenzalter festlegt, sondern qualitative Momente 
in den Vordergrund stellt, eher als ein Vorteil zu werten. Damit er- 
scheint aber auch nahegelegt, mit der Definitionsweise jener Typen, 
auf deren Erkennung es in erster Linie ankommt, nämlich intellektueller 
Defektzustände, sich näher zu befassen, was in einer weiteren Ver- 
öffentlichung geschehen soll. 


138 A. Abhandlungen. 


2. Erzieht die Jugend zur Selbstbeherrschung! 
Ein ernstes Wort an Eltern, Lehrer und Erzieher. 


Von 
Universitätsprofessor Dr. Johann Ude-Graz. 


Wie beugt man bei Kindern moralischen Krankheiten vor? 
— Diese Frage muß sich jeder Erzieher, müssen sich also in erster 
Linie die Eltern und Lehrer stellen. Denn das Erziehen ist in ge- 
wissem Sinn ein fortwährendes Vorbeugen und Behüten vor leib- 
lichen und moralischen Schäden. Erziehen heißt ja, das Kind immer 
höher hinaufführen zum Ideal eines vollkommenen Menschen. Der 
vollkommene Mensch ist aber der allseitig und harmonisch aus- 
gebildete Mensch, der in sich vollkommen geordnet ist und in rich- 
tigem Verhältnis steht zu seiner gesamten Umgebung. Das hervor- 
stehendste Merkmal des Idealmenschen ist aber die Charakterfestig- 
keit, so daß man mit Recht sagen kann: Das Kind erziehen heißt 
— das Kind charakterfest machen. Charakterfest sein heißt wiederum 
die richtigen Grundsätze des Handelns haben und nach diesen Grund- 
sätzen mit festem Willen fort und fort handeln. Erziehen ist also 
Anleiten zum festen Wollen nach wahren richtigen Grundsätzen. Nur 
der willensstarke Mensch bringt es zustande, den Schicksalsschlägen 
zu trotzen, während der willensschwache Mensch feige den Kampf 
aufgibt. Der willensstarke Mensch nur wagt es, der ganzen Welt 
gegenüber seine eigene Überzeugung aufrecht zu halten, und für sie 
einzutreten, während der willensschwache Mensch wie ein Schilfrohr 
überall zusammenknickt. 

Es ist selbstverständlich, daß der ganze Mensch bei der Erziehung 
berücksichtigt werden muß, nicht bloß der Leib, sondern auch die 
Seele, nicht bloß das sinnliche Leben, sondern vor allem die geistigen 
Fähigkeiten, nicht bloß der Verstand, sondern unbedingt auch das 
Herz und der Wille, und dieser in erster Linie, wenn anders es wahr 
iss, daß der willensstarke Mensch derjenige ist, der Aussicht hat, im 
Lebenskampfe zu bestehen. Harmonisch müssen alle Kräfte und An- 
lagen im Kinde geweckt und gefördert und nach den Grundsätzen 
der Vernunft geregelt werden. Keine Anlage darf auf Kosten der 
andern überwuchern. Vor allem ist darauf Bedacht zu nehmen, daß 
das sinnliche Leben, das sinnliche Begehren in .der richtigen Weise 
der vernünftigen freien Selbstbestimmung untergeordnet werde. Das 
Kind muß zum Wissen geführt werden, damit es nach diesem 
Wissen auch wolle In diesem Wissen, das uns durch die Ver- 
nunft für unser Handeln vorgeführt wird, spielt nun auch die Religion 


Ude: Erzieht die Jugend zur Selbstbeherrschung ! 139 
mit ihrem vernünftig begründeten Glauben eine große, ausschlagebende 
Rolle. Die Abhängigkeit und Verantwortlichkeit Gott gegenüber wirkt 
nämlich in hervorragender Weise bestimmend auf unser gesamtes Ver- 
halten. Die Aufgabe des Erziehers ist es daher auch, die Wahrheiten 
der Religion für die Erziehung wirksam zu machen, also das Kind 
religiös-sittlich zu beeinflussen. 

Die große Kunst des Erziehens erstreckt sich also darauf, die 
im Kinde schlummernden guten Anlagen zu wecken und zu bilden, 
die schlechten Keime zurückzudrängen und zu unterdrücken und so 
zunächst das Innenleben des Kindes unter der Herrschaft des von 
der Vernunft und dem Glauben erleuchteten Willens harmonisch zu 
gestalten. Eine solche harmonische Innenbildung des Kindes wäre 
aber unmöglich, wenn der Erzieher den Einfluß der Umwelt nicht 
in Rechnung zöge. Der Erzieher muß also auch die Umwelt in den 
Dienst seiner erzieherischen Tätigkeit stellen, indem er von seinem 
Zögling alles fern hält, was die Erziehung benachteiligt, und nur jene 
äußeren Einflüsse zuläßt, welche die Erziehung im günstigen Sinne 
bestimmen. Da es aber unmöglich ist, alle die Moral schädigenden 
Wirkungen vom Zögling auf die Dauer fernzuhalten, so muß es der 
Erzieher darauf anlegen, das Kind gegen diese schädigenden 
Einflüsse von vornherein zu feien, in ähnlicher Weise, wie man 
den Körper etwa gegen die Unbilden der Witterung abhärtet. 

Der Erzieher hat demnach zunächst positive aufbauende 
Arbeit zu leisten durch fortwährende Belehrung und Aufklärung und 
Anleitung zu sittlich guten Handlungen, durch Warnen, durch Auf- 
decken von Gefahren und selbst durch Verhängung von entsprechenden 
Strafen, wenn es nicht anders geht, um das Kind zu energischem 
Wollen zu führen. Das Buch der Bücher, die Heilige Schrift, sagt 
nicht umsonst (Sprichw. 13, 24): »Wer die Rute spart, hasset seinen 
Sohn, wer ihn aber liebt, hält ihn beständig in Zucht.« Der Erzieher 
muß für das Kind denken, wo dieses noch der Überlegung nicht 
fähig ist. Das Wollen muß jedoch das Kind ganz selbst be- 
sorgen. 

Mit dieser positiven, unmittelbar auf das Kind einwirkenden Er- 
ziehungsarbeit, geht Hand in Hand die vorbeugende Erziehungs- 
arbeit, welche alle das sittliche Leben gefährdenden Schädigungen 
fernzuhalten bezw. das Kind gegen dieselben widerstandsfähig zu 
machen sucht. Diese von außen an das Kind herantretenden Schädi- 
gungen sind die Lockungen und Versuchungen der Welt und der 
schlechten Menschen, die zu sittlichen Übertretungen reizen. Sie 
werden dadurch so gefahrbringend, weil sie in dem sinnlichen Ver- 


140 A. Abhandlungen. 








Jangen des Menschen, in seinen Leidenschaften einen gefährlichen 
Bundesgenossen haben und so zu moralischen Krankheiten führen. 
Diese moralischen Krankheiten sind nichts anderes als die Störung 
des Gleichgewichtes, das im Innenleben und im Verhältnis des Innen- 
lebens zum Außenleben bestehen soll. Vernunft und Wille kommen 
in Widerspruch. Der Mensch will nicht mehr so, wie die rechte 
Vernunft und wie der Glaube vorschreibt. Zumeist ist es das sinn- 
liche Begehren, das im Widerspruch zu rechtem Wollen befriedigt 
wird und so das sittliche Gleichgewicht stört. Je mehr nun der 
Mensch diesem angeordneten Verlangen nachgibt, desto schwächer wird 
der Wille, bis er ganz die Oberherrschaft aufgibt und sich gänzlich 
dem Spiel der Leidenschaften ausliefert. Solcher moralischer Schädi- 
gungen von außen gibt es gar viele. Ich erinnere unter anderem 
nur daran, wie viele Schädigungen für die Kinder auf der Straße 
lauern. Der Verkehr mit moralisch schlechten Kindern, die Schau- 
fenster mit ihren sittenlosen schlüpfrigen Abbildungen, welche die 
Phantasie des Kindes verderben usw. Alles das muß vom Kinde 
ferngehalten werden. 

Dem Gesagten zufolge ist auch die gesamte positive Er- 

ziehungsarbeit Vorbeugungsarbeit. Denn die Ausbildung des 
gesamten Innenlebens des Kindes soll dieses ja in den Stand setzen, 
seine sittliche Persönlichkeit unentwegt zum Ausdruck zu bringen 
und unentwegt unter allen Umständen zu behaupten, d. h. immer 
und überall sittlich gut zu handeln. 
. Jener Erzieher leistet daher die beste vorbeugende Erziehungs- 
arbeit, welcher das Kind willensstark macht. In dieser Willens- 
stärke liegt die Bürgschaft zur Gestaltung einer sittlich hochstehenden 
Persönlichkeit, vorausgesetzt nämlich, wenn der Erzieher dem Kinde 
die richtigen Grundsätze, welche Vernunft und Religion uns bieten, 
tief eingeprägt und das Kind gewöhnt hat, nach diesen Grundsätzen 
zu handeln. Die Vorbeugungsarbeit erstreckt sich demnach auf 
richtige Belehrung des Kopfes, d. i. auf die Beibringung der 
richtigen Grundsätze des sittlichen Handelns und auf die stramme 
Schulung und Eingewöhnung des Willens, oder mit andern 
Worten: Die vorbeugende Erziehung ist in hervorragender Weise 
Erziehung zur Selbstbeherrschung. 

Selbstbeherrschung ist nichts anderes als die Grundlegung der 
ständigen Herrschaft des Willens über das sinnliche Leben der Triebe 
und Leidenschaften nach den Grundsätzen der Vernunft und der 
Religion. Durch die Selbstbeherrschung wird der Mensch in den Stand 
gesetzt, den Weg der Tugend, den Weg der sittlichen Vollkommen- 


Ude: Erzieht die Jugend zur Selbstbeherrschung! 141 





heit zu wandeln. Wissen wir doch alle, daß es in erster Linie 
unser sinnliches Begehren, daß es Zorn, Eitelkeit, Wollust, Trägheit, 
Launenhaftigkeit, Vergnügungssucht und dergl.. kurz und gut, daß 
es das tierisch Sinnliche in uns ist, was uns fort und fort die 
größten Schwierigkeiten bereitet, den Weg der Tugend und der 
Pflicht zu gehen. Dem kategorischen: >Du sollst«, das uns Ver- 
nunft und Religion entgegenhält, jenem zehnfachen »Du sollst«, wie 
es uns in den Zehngeboten gebieterisch entgegentritt, stellt sich nur 
zu oft das sinnliche sich möchte« entgegen, und beim Kind noch 
viel mehr. Vernunft und Religion sagen uns aber, daß die wahre 
sittliche Größe des Menschen im Verzichten und Entsagen, 
im Sichselbstbezwingen, in der richtigen Abtötung des sinnlichen Be- 
gehrens, im Kreuztragen, kurz und gut: in der Selbstbeherrschung 
gelegen ist. Doch davon will der sinnliche Mensch nichts wissen; 
er will nur genießen; er will nichts ertragen; er schreckt vor An- 
strengung und Leid verzweifelt zurück. In diesen Widerstreit zwischen 
sittlicher Verantwortung und sinnlichem Sichgehenlassen muß der Er- 
zieher mit kundiger Hand zielbewußt eingreifen und muß die Herr- 
schaft der von sittlichen Grundsätzen erleuchteten Vernunft im Kind 
tief grundlegen, damit immer mehr ein energisches »ich' will sittlich 
gut handeln« im Kinde zur Geltung komme — ich will, wie die 
richtige Vernunft, d. h. ich will, wie Gott will. 

Diese zu sittlich gutem Handeln unerläßliche Erziehung zur Selbst- 
beherrschung muß schon in der allerfrühesten Jugend, beim Säug- 
ling schon beginnen. Der Säugling muß an Regelmäßigkeit in Be- 
friedigung seiner leiblichen Bedürfnisse gewöhnt werden. Er muß 
regelmäßig zur bestimmten Stunde Nahrung bekommen, er soll zur 
bestimmten Stunde sein Schlafbedürfnis befriedigen, er soll zu fest- 
gesetzten Zeiten gebadet und zu festgesetzten Zeiten ins Freie geführt 
werden. So gewöhnt sich der junge Weltbürger gleich von seinen 
ersten Lebenstagen an unbewußt an stramme Ordnung und Regel- 
mäßigkeit und lernt so allmählich, sich nicht vom augenblicklichen 
Sinneseindruck beherrschen zu lassen, und wird auf den Grundsatz 
eingeschult, daß der Mensch sich nicht willenlos von den Gefühlen 
der Lust und der Unlust beherrschen lassen darf. Wie unvernünftig 
handeln daher jene Eltern, die dem kleinen Schreier beim geringsten 
Schreien den Luller in den Mund stecken und zu essen, bezw. zu 
trinken geben, wenn es auch wirklich nicht notwendig ist; denn da- 
durch wird nur die Launenhaftigkeit großgezogen und das ungeordnete 
Verlangen gefördert, den Regungen des sinnlichen Begehrens willenlos 
nachzugeben. 


142 A. Abhandlungen. 








Neben dieser Gewöhnung an eiserne Regelmäßigkeit, die fort und 
fort im Laufe der weiteren Erziehung eine wichtige Rolle spielt, geht 
mit zunehmendem Auffassungsvermögen Hand in Hand die Belehrung 
über Gut und Böse, die Belehrung über die Beherrschung der 
ungeordneten Leidenschaften. Der Nahrungstrieb darf nicht in 
Naschhaftigkeit ausarten — also regelmäßige Mahlzeiten! Der Spiel- 
trieb darf nicht der Launenhaftigkeit ausgeliefert werden — darum 
stramme Überwachung des Tuns und Treibens des Kindes! Frühzeitig 
muß das Kind zur Rücksichtnahme auf die Erwachsenen erzogen 
werden. Zarte Teilnahme für Arme soll der Erzieher im Kinde 
wecken, soll das Kind anleiten, aus Liebe zum Armen auf etwas zu 
verzichten, um es dem Armen zuzuwenden. So wird dem abscheu- 
lichen Egoismus wirksam vorgebeugt. Der Erzieher wird dem Kinde 
oft und oft sagen, wie schön es ist, wenn er dies und jenes tut; er 
wird es auf die Pflicht zum guten Handeln aufmerksam machen, 
wird es hinweisen auf die Verantwortlichkeit Gott gegenüber. Sobald 
das Kind sich gehen läßt, sich sittlich verfehlt, muß der Erzieher 
sofort aufklärend, aneifernd auf das Kind einwirken und muß schließ- 
lich zur Strafe schreiten, falls die Güte nichts ausrichten sollte. Das 
Schmerzgefühl der Strafe ist oft ein gewaltiger Ansporn zu tatkräftigem 
Wollen. Freilich setzt das voraus, daß der Erzieher selbst sittlich 
hoch steht und selbst sittlich gut handelt. Sittlich große Vorbilder 
sollen dem Kind vorgeführt werden, denn Worte bewegen bloß, Bei- 
spiele aber ziehen an. 

Das Kind muß sich ferner bewußt werden, welch große 
starke Kraft in seinem Innern wohnt. Hat das Kind erst ent- 
deckt, wie stark sein Wille ist, wie es mit energischem Wollen 
vieles erreichen, viel Ungemütliches überwinden kann, und hat man 
das Kind angeleitet, über sein Tun und Lassen sich stets Rechen- 
schaft zu geben, nachzudenken, so wandelt das Kind schon aut dem 
Weg der Erziehung zur Selbstbeherrschung, so ist in ihm das Be- 
wußtsein, daß es zum guten Handeln verpflichtet ist, bereits lebendig. 
Und wie freut sich das Kind, wenn es ihm gelungen ist, mit starkem 
Willen etwas Schwieriges zu erreichen. Diese Freude am eigenen 
tatkräftigen Wollen, das sich nicht in letzter Linie in der Überwindung 
körperlicher Schwierigkeiten und körperlichen Ungemaches bei An- 
strengungen zeigt, ist ein wirksamer Sporn zu weiterer Willenschulung. 

Gänzlich verfehlt handeln jene Erzieher, die das Kind zum guten 
Handeln anleiten, indem sie ihm immer eine Belohnung versprechen: 
Wenn du das und das tust, bekommst du das und das .... Nach 
diesem System wird das Kind nur zur Genußsucht erzogen, und 


Ude: Erzieht die Jugend zur Selbstbeherrschung! 143 





zum Egoisten ausgebildet. Keine schlimmeren Feinde der Selbst- 
beherrschung und der Sittlichkeit aber als die Genußsucht und der 
Egoismus! Man mißverstehe mich aber nicht, denn ich will nicht 
behaupten, daß man dem Kinde gar keine Freude, nie eine Belohnung 
in Aussicht stellen soll, um es zu sittlichem Tun anzueifern. Tut es 
doch Gott im Himmel selbst, indem er dem Menschen den Himmel ` 
und die Seligkeit als Lohn für sittlich gutes Handeln verspricht. Was 
ich sagen will, ist vielmehr das: Das Kind soll in erster Linie lernen, 
das Gute zu tun um des Guten willen, um dadurch der Forderung 
seiner Pflicht und Verantwortlichkeit zu genügen. Dem Kind muß 
es schon zum Bewußtsein gebracht werden, daß es durch sein ge- 
ordnetes Tun und Lassen mithilft an der Höherhebung der Mensch- 
heit. Das Kind muß angehalten werden, so zu wollen, daß durch 
sein Wollen nicht nur niemand Schaden leide, sondern daß das Gute 
in der Menschheit befördert und verbreitet werde. 

Ein Hauptaugenmerk bei der Erziehung zur Selbstbeherrschung 
hat der Erzieher dem Temperament seines Zöglings zuzuwenden. 
Gute, kluge, geduldige Belehrung, wie sich das Kind in den jeweiligen 
Lebenslagen und Umständen zu benehmen hat, wird von Erfolg be- 
gleitet sein. Man macht das Kind jedesmal auf das Schöne, bezw. 
Schlechte seiner Temperamentsanlagen aufmerksam. Einem zornes- 
mütigen sanguinischen Kind wird man vorhalten, wie abscheulich sein 
Zorn ist, wie der Zorn den Menschen so unendlich herabwürdigt und 
dem Menschen die Achtung seiner Mitmenschen raubt, wie der Zorn 
zu gar nichts nütze ist usw. Einem rechthaberischen, ungehorsamen, 
cholerischen Kinde wird man das Unvernünftige des Ungehorsams 
aufzeigen, wird ihm klar machen, wie der Gehorsam, wie die richtige 
Unterordnung den Menschen als wahrhaft sittlich groß und wahrhaft 
vernünftig ausweist, wie gerne der Gehorsam ein- Zeichen von Willens- 
stärke ist. Ein teilnahmsloses phlegmatisches Kind wird man unter 
Hinweis auf das Schöne und Edle und Nützliche, das es durch 
energisches Wollen erreichen kann, zu festem beharrlichen Wollen 
aneifern. Ein melancholisches Kind muß durch Hinweis auf freudige 
pflichtgemäße Lebensbejahung zu zielbewußtem werktätigen Wollen 
angeleitet werden. Der Erzieher muß daher wenigstens praktisch ein 
tüchtiger Psycholog sein, muß Seelenkenntnis besitzen. Jede Arbeit, 
jede Handlung des Kindes, die gute, wie die böse, wird der Erzieher 
beurteilen nach der Antwort auf die grundlegende Frage: Wie trägt 
diese Arbeit, diese Handlung des Kindes dazu bei, des Kindes 
Willen zu stärken, das Kind in der Selbstbeherrschung zu 
fördern? Nur so wird der Erzieher das Kind Schritt für Schritt auf 


144 A. Ahhandlungen. 


die große, schier unüberwindliche Kraft aufmerksam machen, die in 
unserem freien Willen steckt. So wächst mit dem Alter des Kindes 
seine Willensstärke und mit den durch Willenskraft erzielten Erfolgen 
das edle Selbstbewußtsein. So wird dem Willen auf Grundlage der 
ewigen sittlichen Grundsätze die Vorherrschaft gesichert, so lernt das 
Kind seine Leidenschaften und die Materie bezwingen. Ich will — 
ich will nicht: Das ist sittlich gut — daher will ich es; das ist 
sittlich schlecht — daher will ich es nicht. 

Was ist aber sittlich gut, was ist”sittlich schlecht? Das Kind hat 
im Laufe der Erziehung zur Selbstbeherrschung immer wieder aus 
dem Munde des Erziehers gehört: Höre auf die Stimme der richtigen 
Vernunft, öffne dein Ohr den Lehren der Offenbarung, der Religion 
— und du weißt, was du zu tun, was du zu lassen hast. Und des 
Kindes Wille ist elastisch geworden, sofort auf die Stimme der Ver- 
nunft und der Offenbarung hin sich zu betätigen. Ja das ist das 
große Geheimnis der Erziehung zur Selbstbeherrschung, nämlich, das 
Kind dahin zu bringen, daß es seinen Willen in sich entdeckt 
und ihn nach den Vorschriften der Vernunft und der Offenbarung 
gebrauchen lernt. Alle Vorkommnisse des tätigen Lebens muß der 
Erzieher zielbewußt unter dem Gesichtspunkt der Erziehung zum 
energischen sittlicben Wollen betrachten und ausnützen. Er muß das 
Kind anleiten, unter Umständen selbst auf Erlaubtes zu verzichten, 
nur um den Willen zu kräftigen, ganz abgesehen davon, daß das Kind 
lernen muß, auf das zu verzichten, was der Eitelkeit schmeichelt, was 
nur die Genußsucht befördert, was nur Ausiluß der Launenhaftigkeit 
ist. Das Kind muß lernen, nicht alles zu haben, was angenehm ist, 
nicht alles zu sehen, was den Augen schmeichelt, nicht alles zu hören, 
was lediglich nur die Neugierde befriedigt. Kurz und gut: Er- 
ziehung zur Selbstbeherrschung ist das Um und Auf der 
Erziehung zur sittlichen Größe. 

Als selbstverständlich darf ich wohl voraussetzen, daß die mate- 
rielle Unterlage der Anerziehung eines festen Willens ein ge- 
sundes Gehirn ist. Ein Kind mit krankem Gehirn wirst du ver- 
geblich zu festem Willen erziehen. Darum muß jener Erzieher, der 
das Kind zur Selbstbeherrschung erziehen will, in erster Linie den 
Alkohol, den Gehirnschädling schlechthin, vom Kind ferne 
halten. Da aber der Alkohol auf dem Umweg durch die Zeugung 
schon das Kind erblich belastet, so haben unter sonst gleichen Um- 
ständen die alkholenthaltsamen Eltern die größte Aussicht, ge- 
hirngesunde Kinder zur Welt zu bringen. Alkoholenthaltsamkeit für 
Eltern und Kind garantieren demnach unter sonst gleichen Umständen 


1. Ferienkurse in Jena. 145 








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von vornherein eine richtig disponierte materielle Unterlage zu aus- 
sichtsreicher Erziehung zur Selbstbeherrschung. 

Wenn wir aber nun zum Schlusse den Blick in die Umwelt 
hinauswerfen — welche Charakterlosigkeit, welche Willens- 
schwäche, welche Willenslosigkeit — lauter Wetterfahnen, er- 
bärmliche Charaktere! Wo sind die willensstarken Männer und Frauen, 
die dem Kampf des Lebens mutig die Stirne bieten, die lieber als 
Sieger auf dem Felde der Sittlichkeit untergehen, als charakterlos zu 
handeln und mit dem Stempel der Charakterlosigkeit gebrandmarkt 
weiterzuleben? Warum diese Genußsucht, woher die wilden Orgien 
einer perversen Sinnlichkeit, woher die Verbrechen und die vielen 
Selbstmorde, diese Erbärmlichkeit unserer Zeit? ... Die Menschen 
von heute haben keinen sittlichen Willen mehr. Es ist eine Herde 
willenloser Sklaven der Sinnlichkeit und des Augenblicks, auf die 
nur Geld, Genuß, Erfolg und Macht noch einen Reiz ausüben. 
Sie sind aber so geworden, weil ihre Erzieher es vielfach vergessen 
haben, dieselben von frühester Jugend an systematisch zur Selbst- 
beherrschung zu erziehen. 

Darum Erzieher! Eltern und Lehrer! Ihr alle, denen das Wohl 
der, Jugend anvertraut ist, besinnet euch auf eure große furchtbare 
Aufgabe. An euch liegt es in erster Linie, ob die kommende Gene- 
ration ein willensstarkes, sittlich großes, oder ein willensschwaches, 
erbärmliches Geschlecht sein wird. Wollt ihr Charaktere heranbilden, 
so erzieht die Jugend zur Selbstbeherrschung! Seid aber zuerst selbst 
willensstark, beherrschet euch zuerst selbst, bevor ihr andere zur 
Selbstbeherrschung erziehet! 


B. Mitteilungen. 


1. Ferienkurse in Jena 
Vom 4.—17. August 1920 


Zum ersten Male nach dem Krieg sollen sich in diesem Jahre die 
Tore Jenas wieder seiner alten Sommeruniversität, den Ferienkursen, 
öffnen. Alle ihre alten Freunde, Frauen und Männer, heißen wir herzlich 
willkommen. Haben sich auch die Verhältnisse in unserem Vaterland so 
verändert, daß den Geistesarbeitern schwere Hindernisse in den Weg ge- 
legt werden, so hoffen wir doch, daß trotz der großen Steigerung der 
Ausgaben auf allen Gebieten Lehrer und Lehrerinnen aller Schul- 
gattungen, Freunde und Förderer des Erziehungs- und Bildungs- 


148 B. Mitteilungen. 














VI. Die Bestimmung des Menschen. 1. Evidenz und Gewissen. 
2. Freiheit und Verantwortlichkeit. 


Literatur 
Als allgemeine Literatur sei vorläufig verwiesen auf die Einleitungen (Ein- 
führungen) in die Philosophie von Herbart (neue Ausgabe mit Anm. von Flügel 
und Fritzsch; Leipzig, Klinkhardt, 1913), Külpe, Riehl, Wentscher (Sammlung 
Göschen), Eucken und Windelband (»Präludien«, 2 Bde.). Zum eigenen Stand- 
punkt vgl.: Fritz Münch, »Erlebnis u. Geltung«. Berlin, Reuther & Reichard, 1913. 


4. Einführung in die klassische Ästhetik 
Prof. Dr. Nohi - Göttingen 


(12 Stunden) 


Die Voraussetzungen für ihr Verständnis. 

Die rationale Ästhetik der Renaissance. Ihr Problem der äußeren 
Form. Die Grenze dieses Standpunktes. 

Die analytische Ästhetik der Engländer und ihre spätere Fortbildung 
bis zu Herbart und Fechner. Ausgang vom ästhetischen Eindruck. Grenze 
‚dieses Standpunktes. 

Die Ästhetik Kants. Seine synthetische Auffassung des Schönen als Ein- 
heit von Gegensätzen. Das Schöne als Symbol. Grenze seines Standpunktes. 

Die Ästhetik der inneren Form. Ihre geschichtliche Auffassung seit 
Herder. Goethe. Schiller. Romantik. 


5. Pädagogische Psychologie 
Prof. Lic. h. c. Dr. Sellmann -Hagen (Westf.) 
(12 Stunden) 


I. Einleitungsfragen. Das Verhältnis der Psychologie zu den 
Geisteswissenschaften, besonders zur Pädagogik. Aufgabe und Methode 
der Psychologie. Geschichtliche Orientierung. Die modernen psycho- 
logischen Systeme und ihre Bedeutung für die Pädagogik. 

II. Das Seelenleben des Menschen. Seele und Körper. Vom 
Sinnenleben der Seele. Vorsteilungs-, Gefühls- uud Willensleben der Seele. 

HI. Das vorschulpflichtige Kind. Das Erwachen des geistigen 
Lebens. Das Seelenleben des vorschulpflichtigen Kindes. Die Sprach- 
entwicklung. Das Spiel. Die Kindergartenfrage. 

IV. Das Schulkind. Das geistige Inventar der Schulrekruten. 
Ausbildung und Pflege der Sinnesorgane. Schülertypen. Das Prinzip der 
Anschauung, Intelligenzprüfungen. Die psychologische Formung des Unter- 
richtes.. Apperzeptiin. Die Aufmerksamkeit. Das Gedächtnis. Die 
geistige Ermüdung. 

V. Das schulentlassene Kind. Das Seelenleben der Jugendlichen 
während der Pubertätszeit. Die Jugendpflege und die Jugendbewegung. 
Die psychologischen Probleme der Pubertätszeit. 


1. Ferienkurse in Jena. 


149 





6. Physiologische Psychologie 
Mit Demonstrationen: Prof. Dr. Berger 
12—1 Uhr. Psychiatrische Klinik. 12 Stunden 


Die Peychologie als Erfahrungswissenschaft: rationelle und empirische 
Psychologie. Anschauungen über das Verhältnis von Leib und Seele. 
Dualistische Annahme: Lokalisation der geistigen Vorgänge. Monistische 
Theorien: materialistische Auffassung. Betrachtung des vom Materialismus 
angeführten Tatsachenmaterials. Sogenannte Zweiseitentheorie. Das Parallel- 
prinzip als heuristische Annahme. Partieller Parallelismus. Über physische 
und psychische Kausalität. Kurzes Eingehen auf die Hirnrindenvorgänge. — 

Die psychischen Elemente: Gegensatz zur Vermögenspsychologie. Die 
Empfindungen, Bedeutung der Sinnesorgane. Die kortikalen Sinnesflächen. 
Kurzer Überblick über die Sinnesgebiete. Verhältnis von Reiz und Emp- 
findung. Webersches Gesetz. Fechnersches Gesetz und dessen Auslegungen. 

Veränderungen in dep kortikalen Sinnesflächen durch den Reiz. Lehre 
von den sogenannten Erinnerungsbildern. Ganglienzellen und Neurofibrillen. 
Vorgang des Wiedererkennens. Seelenblindheit. — 

Lehre von den Gefühlsvorgängen: Einteilung der Gefühle. Die körper- 
lichen Begleiterscheinungen derselben. Die Gefühlstheorien. — 

Die Willenserscheinungen. Betrachtung der Reflexvorgänge und der 
Automatismen. Über den Instinkt. Menschliche Handlungen, Bedeutung 
der Gefühlsvorgänge für die Willenserscheinungen. Psychische Kausalität 
und Determinismus. — 

Über die Aufmerksamkeit, die Enge des Bewußtseins. Die Apper- 
zeptionstheorie. Schwankungen der Aufmerksamkeit. — 

Die Messung psychischer Vorgänge: Persönliche Gleichung. Ein- 
facher Reaktionsversuch. Physikalische, physiologische und psychologische 
Summanden. Elimination der physiologischen Faktoren. Messung einfacher 
und komplizierter psychischer Vorgänge. Beeinflussung der Reaktionszeit 
durch die Medikamente und Genußmittel. — 

Bedeutung der Sprache für das psychische Leben. Entwicklung der 
Sprache. Lokalisation der Sprachvorgänge. Lehre von den Aphasien. — 

Die Ideenassoziation: Assoziationsgesetze. Der Assoziationsversuch, 
Einteilung der Assoziationen. Beeinflussung des Assoziationsvorgangs durch 
Genußmittel, Höhere intellektuelle Vorgänge: Urteil und Schluß. Einheit 
des Bewußtseins. Ichvorstellung, Entwicklung der Vorstellung des körper- 
lichen und geistigen Ichs. — 


7. Die Psychologie der Berufsberatung 
Prof, Lic. h. c. Dr. Sellmann-Hagen (Westf.) 
(6 Stunden vom 4.—11. August) 
Die Wichtigkeit der Berufsberatung. Geschichtlicher Überblick. Das 
Ziel der Berufsberatung: Der rechte Mensch an den rechten Platz. 
Der Schüler muß in seiner Leistungsfähigkeit und in seiner Eigenart 
sicher erkannt werden. Wege dazu. Die verschiedenen Typen in körper- 
Zeitschrift für Kinderforschung. 26. Jahrgang. u 


150 B. Mitteilungen. 


licher und geistiger Beziehung, auf dem Gebiete des Vorstellungs-, Ge- 
fühls- und Willenslebens. 

Die Berufe müssen in ihren Anforderungen und in ihrer Eigenart 
sicher erkannt werden. Einteilung der Berufe nach psychologischen Ge- 
sichtspunkten. Die Feststellung der Eignung für einen Beruf. (Münster- 
berg, Piorkowski, Lipmann.) Das Taylorsystem. 

Die Berufsinstanzen. Kritik der psychologischen Berufsberatung. Die 
Ethik darf nicht außer acht gelassen werden. 


8. Die Philosophie in der Volkshochschule 
Dr. Flitner-Jena 


(6 Stunden vom 4.—11. August) 


1. Der philosophische Mensch im Volke. 

2. Die philosophische Formung der Wissenschaften und die Volks- 
hochschule. 

3. Die Fachphilosophie in der Volkshochschule: Methoden der philo- 
sophischen Arbeitsgemeinschaften. 

4. u. 5. Versuche zur Neuformung (Ethik, Geschichts-, Religions- 
philosophie, Logik). 

6. Die Frage der zentralen Methode. 


9. Naturphilosophie und Weltanschauung 
Prof. Dr. Detmer 
(Siehe Abt. V, Nr. 1) 


III. Religionswissenschaftliche Kurse 


1. Die Fragen der Welt- und Lebensanschauung 
Prof. Weinel-Jena 
(12 Stunden) 


I. Das Wesen der Religion. 1. Die geschichtlichen Erscheinungs- 
formen der Religion. Die niedersten Religionen. Die Religionen der 
Götter und Völker. Gesetzesreligionen. Erlösungsreligionen. 2. Die 
seelischen Erscheinungsformen der Religion. Der religiöse Genius und 
der Durchschnitt. Arten des religiösen Lebens. Religiöse Anlage und die 
Entwicklung des Durchschnittsreligiösen. Erziehung und Unterricht in 
der Religion. — Die Religion und die anderen Lebensgebiete: Sittlichkeit, 
Kunst und Wissenschaft. Die Religion und das Gemeinschaftsleben: 
Kirche, Staat (Recht), Gesellschaft und Wirtschaft. — Die Eigenart und 
das Wesen der Religion. 

I. Die Wahrheit der Religion. 1. Wert und Wahrheit der 
Religion im allgemeinen. 2. Die Wahrheit des Gottesglaubens und die 
Naturwissenschaft (»Moses und Darwin«. Schöpfung und Entwicklung. 
Wunder und Naturgesetze). Die Wahrheit des Gottesglaubens und die 
Geschichte (Die Frage der sittlichen Weltordnung. Religionsgeschichtliche 


1. Ferienkurse in Jena. 151 


Entwicklung und Offenbarung. Entwicklung des Gewissens und Wahrheit 
des Ideals; materialistische Geschichtstheorie). 3. Gottesglaube und Schick- 
sal (Der Sinn des Leidens und des Übels. Das Gebet). 4. Der Gottes- 
glaube und das Böse (Die Frage der Erbsünde und der Willensfreiheit). 
5. Das ewige Leben. Die jenseitige Welt. Ewigkeit der Persönlichkeit. 

Il. Das Ideal und das Leben. 1. Wirtschaftsordnung. 2. Recht 
und Staat. 

Literatur 

Hilfsmittel: Bousset, Das Wesen der Religion. — Tiele, Kompendium 
der Religionsgeschichte. — N. Soederblom, Die Religionen der Erde. Religions- 
geschichtl. Volksbücher. Tübingen 1905. -- Chantepie de la Saussaye, Lehr- 
buch der Religionsgeschichte. Ebenda. — A. Bertholet, Religionsgeschichtliches 
Lesebuch. Ebenda 1908. — R. Otto, Naturalistische und religiöse Weltansicht. 
2. Aufl. Ebenda 1909. — Wobbermin, Der christliche Gottesglaube in seinem 
Verhältnis zur gegenwärtigen Philosophie. 3. Aufl. Berlin 1912. — K. König, 
Gott. 1901., — Rud. Eucken, Hauptprobleme der Religionsphilosophie. 5 Aufl. 
1912. — Ders., Der Wahrheitsgehalt der Religion. 3. Aufl. 1912. — Mebhlis, 
Grundriß der Religionsphilosophie. — O. Pfleiderer, Religionsphilosophie. 


2. Meisterwerke hebräischer Erzählungskunst 
Prof. D. H. Gunkel 
(6 Stunden) 


Die Sunamitin. II. Könige 4, 8—37. 

Naeman. II. Könige 5. 

Die Belagerung Samariens. II. Könige 6, 24 bis 7, 26. 
Die Revolution Jehus. II. Könige 9, 10. 

Jona. 

Die Paradieses- Erzählung. 

Unter den Bildungsmitteln unseres Volkes werden die gedankenreichen, 
lebensprühenden und künstlerisch vollendeten Erzählungen des Alten Testa- 
ments mit an erster Stelle stehen müssen und daher auch an den Volks- 
hochschulen notwendig eine große Rolle spielen. Die gegenwärtige ge- 
schichtliche Forschung ist imstande, ihnen ihr einstiges Leben zurück- 
zugeben und unserm Volke nahezubringen, so daß sie aufs neue eine un- 
versiegbare Quelle der Erhebung und des Entzückens werden. 


P p o o 


Literatur 
Schriften des Alten Testaments. I.u. IL. Abteilung. Göttingen, Vandenhoeck 
& Ruprecht. — Gunkel. Meisterwerke hebräischer Erzählung (demnächst er- 


scheinend). 


3. Unsere drei ersten Evangelien 
Prof. D. W. Bousset 
(6 Stunden) 
1. Einleitung. 
2. Auslegung einzelner besonders geeigneter und charakteristischer 
Stücke. 
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152 B. Mitteilungen. 





a) Zur Technik des synoptischen Vergleiches: Parabel vom hochzeit- 
lichen Abendmahl, der Sabbatbruch Jesu. Mark. 2, 23—28. 

b) Heilungswunder und Wunderlegende Mark. 5, 1—20; 9, 1—8. 

c) Einzelne Worte Jesu. 

d) Das Gleichnis vom Säemann. 

e) Das Lehr- und Streitgespräch. Mark. 12, 13—40. 

f) Die Rede Jesu: Stücke der Bergpredigt. 


Literatur 
Hilfsmittel: Synopse von Koppelmann, Huck. — Religionsgesch. Volks- 
bücher: Wernle, Die Quellen des Lebens Jesu. — Die Schriften des Neuen Testa- 
ments von Bousset, Heitmüller (Joh. Weiß). I. Bd. 


4. Altprotestantismus und Neuprotestantismus in deutscher 
Frömmigkeit 
Prof. D. Dr. G. Krüger 
(6 Stunden) 


1. Grundsätzliches. 2. Das Luthertum. 3. Der Pietismus. 4. Die 
Aufklärung. 5. Der Idealismus. 6. Das neunzehnte Jahrhundert. Rück- 
bildung und Fortschritt. 

| Literatur 

Zu 1. Heinrich Hoffmann, Der neuere Protestantismus und die Refor- 
mation. Gießen, Töpelmann, 1919. — Karl Sapper, Der Werdegang des Prote- 
stantismus in vier Jahrhunderten. München, Beck, 1917. — Karl Aner, Das 
Luthervolk. Ein Gang durch die Geschichte seiner Frömmigkeit. Tübingen, Mohr, 
1917. — Horst Stephan, Luther in den Wandlungen seiner Kirche. Gießen, 
Töpelmann, 1907. — Karl Sell, Christentum und Weltgeschichte seit der Refor- 
mation. Aus Natur u. Geisteswelt. Nr. 298. Leipzig, Teubner, 1910. — W. Nelle, 
Geschichte des deutschen ev. Kirchenlieds. 1904. ’ 

Zu 2. Wilhelm Köpp, Joharn Arndt. Die Klassiker der Religion. 2. Bd. 
Berlin - Schöneberg, Protestantischer Schriftenverlag, 1912. — Paul Wernle, 
Paulus Gerhardt. Religionsgeschichtliche Volksbücher. 4. Reihe. 2. Heft. Tübingen, 
Mohr, 1907. — Herm. Petrich, Paul Gerhardt. Gütersloh, Bertelsmann, 1914. 

Zu 3. J. Jüngst, Pietisten, Religionsgeschichtliche Volksbücher. 4. Reihe. 
1. Heft. Tübingen. Mohr, 1906. — Samuel Eck, Zinzendorf und seine Nach- 
wirkung in der Gegenwart. Leipzig, Grunow, 1890. — Gerhard Reichel, Zinzen- 
dorfs Frömmigkeit im Lichte der Psychoanalyse. Tübingen, Mohr, 1911. 

Zu 4. Heinr. Hoffmann, Die Aufklärung. Religionsgeschichtliche Volks- 
bücher. 4. Reihe. 19. Heft. Tübingen, Mohr, 1912. — Karl Aner, Der Auf- 
klärer Nicolai. Gießen, Töpelmann, 1912. — Paul Wernle, Lessing und das 
Christentum. Tübingen, Mohr, 1912. 

Zu 5. Karl Sell, Die Religion unserer Klassiker. Lebensfragen. 1. Band. 
2. Aufl. Tübingen, Mohr, 1910. — Heinr. Hoffmann, Die Keligion des Goethe- 
schen Zeitalters. Ebenda 1917. — Otto Baumgarten, Herders Lebenswerk und 
die religiöse Frage der Gegenwart. Ebenda 1905. — Heinr. Weinel, Johann 
Gottlieb Fichte. Die Religion der Klassiker. 6. Band. Berlin-Schöneberg, Prote- 
stantischer Schriftenvertrieb, 1914. 


- 


1. Ferienkurse in Jena. 153 








Zu 6. Herm. Mulert, Schleiermacher. Religionsgeschichtliche Volksbücher. 
4. Reihe. 28./29. Heft. Tübingen, Mohr, 1918. — Nathanael Bonwetsch, Das 
religiöse Erlebnis führender Persönlichkeiten in der Erweckungszeit des 19. Jahrh. 
Gütersloh, Bertelsmann, 1917. — Theodor Brieger, Martin Luther und wir. 
Gotha, Perthes, 1916. — Karl Sell, Zukunftsaufgaben des deutschen Protestantis- 
mus im neuen Jahrhundert. Tübingen, Mohr, 1900. Im übrigen vergl. zu 1. 


5. Der unterrichtliche und erziehliche Wert der Religionsgeschichte 
Prof. D. Niebergall 
(6 Stunden) 


1. Stunde. Soll der Unterricht das Wesen einer Sache klar machen, 
so soll die Erziehung die Wertschätzung der Zöglinge im Sinne der nor- 
malen Wertung regeln. Ein gutes Mittel für beides ist der Vergleich, der 
durch Ähnlichkeit und Unterschied das Eigentümliche herausstellen und 
zum Vorziehen des Besseren veranlassen will. 

2. Stunde. In dem so verwickelten Gebilde der Religionen sind 
am ersten Geistes-Vorstellungen und Bräuche, Werte und Ideale; dienen 
jene im ganzen mehr dem unterrichtlichen Zweck, so diese mehr dem 
erziehlichen. 

3. Stunde. Die wichtigste Aufgabe des Religionsunterrichts ist es, 
das Christentum als ein Element unserer ganzen Kultur verständlich und 
das heutige evangelische Christentum als tragende Grundlage eines starken 
persönlichen und gemeinschaftlichen Lebens lieb und wert zu machen. 

4. Stunde. Das unterrichtliche Ziel wird durch Aufdeckung der 
geschichtlichen Zusammenhänge, das erziehliche durch Abhebung der wert- 
vollsten Erscheinung von den andern angebaknt. 

5. Stunde. So wird heutiges ev. Christentum im Unterschied vom 
Alten Testament, von seiner altchristlichen, mittelalterlichen und ortho- 
doxen Gestalt als die geistigste und sittlichste, als die freieste und tiefste 
Form des Christentums verstanden und angeboten. 

6. Stunde. Vom Christentum aus wird dann in demselben zwie- 
fachen Sinne der Vergleich auch auf die andern Religionen ausgedehnt; 
auch die altgermanische Grundlage unseres Volkslebens, auch Mohammedanis- 
mus, Buddhismus und die eine oder andere Religion, die Gegenstand der 
Mission bildet. So kann ein ehrfurchtsvoller Sinn für die ganze Welt der 
Religion und ein dankbares Verständnis für die eigne erzielt werden. 


Literatur 


H. Rickert, Handbuch für den Religionsunterricht. Leipzig 1911. — W. 
Koppelmann, Einführung in die Religionsgeschichte (Hilfsmittel zum ev. Reli- 
gionsunterricht). Berlin 1914. — P. Fiebig, Religionsgeschichte und Religions- 
philosophie (Diktathefte). Tübingen 1915. — G. Rothstein, Unterricht im Alten 
Testament; Unterricht im Neuen Testament (Hilfs- und Quellenbücher). Halle 1907 
und 1910. — Fr. Niebergall, Praktische Theologie. Band II. Tübingen 1920. 


154 B. Mitteilungen. 


6. Religion, Weltanschauung und Lebenskunde in der Volks- 
hochschule 


Prof. Weinel-Jena 


6 Stunden Besprechungen an der Hand meiner Schrift: Die Religion in 
der Volkshochschule (Langensalza, Hermann Beyer & Söhne [Beyer & Mann], 
1919), in der alle Hilfsmittel angegeben sind 


1. Stunde. Weltanschauung. Lebenskunde. Sittliche Lebensan- 
schauungen. Religiöse Bewegung der Gegenwart. 

2. Stunde. Jesus und die Lebensfragen der Gegenwart. Das 
Christentum im Urteil seiner Gegner. Christentum und Individualismus. 
Christentum und Sozialismus. 

3. Stunde. Die Weltreligionen. Die Religionsgeschichte des Alter- 
tums (als Vorgeschichte des Christentums). Das Alte Testament: Die Ent- 
stehung des A. T. Die alttestamtl. Sagen und Legenden. Die Propheten 
des A. T. Die poetischen Stücke und die Schönheit des A. T. Sprich- 
wort und Weisheit Israels. Palästina und seine Geschichte. 

4. Stunde. Das Neue Testament: Die Entstehung des N. T. Jesus, 
seine Geschichtlichkeit, seine Stellung in der Religionsgeschichte und seine 
Bedeutung für die Gegenwart. Paulus und die Entstehung des christ- 
lichen Dogmas und der Kirche. Die Poesie des N. T. Die Offenbarung 
Johannis und andere Prophezeiungen in der Bibel und in der alten Welt. 
Die Apokryphen des N. T. 

5. Stunde. Kirchengeschichte. Konfessionskunde. Staat und Kirche. 

6. Stunde. Deutsche Frömmigkeit. Deutsche Propheten. Die Reli- 
gion unserer Klassiker. Deutscher Glaube im deutschen Lied. 


IV. Pädagogische Kurse 


1. Das Bildungswesen Deutschlands in Vergangenheit und 
Gegenwart 
Prof. Dr. W. Rein-Jena 
(12 Stunden) 
1. Die Entwicklung des deutschen Bildungswesens in seinen Haupt- 
phasen bis zur Gegenwart. 
2. Volkshochschule. 
3. Einheitsschule. 
4. Unterrichtsprobleme: Religionsunterricht; Geschichtsunterricht ; 
Kunstunterricht. 


2. Der Arbeitskreis der Bildungspflege 
Überblick mit besonderer Berücksichtigung der Zusammenhänge 
Dr. Ladewig- Berlin 
(6 Stunden vom 4.—11. August) 


Die Bildungspflege. — Die Bücherei. — Die Kunst. — Die Unter- 
haltung. — Das Volkshaus, — Die Wirtschaftspolitik der Bildungspflege. 


1. Ferienkurse in Jena. 155 


3. Der Staatsbürger als pädagogisches Problem 
Prof. Dr. P. M. Rühlmann, Wissensch, Hilfsarbeiter im Auswärt. Amt in Berlin 


Der politische Hintergrund: Politische Unreife des deutschen 
Volkes: Anlage oder Unterlassungssünde? — Weltkrieg und staatsbürger- 
liche Erziehung. Innen- und außenpolitische Notwendigkeit der staats- 
bürgerlichen Erziehung: Demokratisierung und Völkerbundsidee: $ 148° 
der neuen Reichsverfassung. 

Die Träger der staatsbürgerlichen Bildungsarbeit: Die 
Stellung der Parteien, besonders der Sozialdemokratie und des Zentrums. 
— Die Presse und die freie Vereinsbildung. — Die Kirche. — Die 
»Volkshochschulen« (Dänische, schwedische und amerikanische Er- 
fahrungen). — Das Heer (»Vaterländischer Unterrichte). 

Das Wesen der staatsbürgerlichen Erziehung: Verhältnis von 


staatsbürgerlicher Belehrung und Erziehung. — Das Problem Kerschen- 
steiner. — DBerufsethik und Staatsgesinnung. — Selbstverwaltung der 
Schulen. 


Die Schule als Trägerin staatsbürgerlicher Erziehungs- 
arbeit: Lehrerfragen: Vor- und Fortbildung. (Universität und Lehrer- 
seminare): Juristische oder philosophisch-(historische) Fakultät? — Freie 
Hochschule für politische Wissenschaften. — Fortbildungskurse. — Der 
Lehrer und die Parteien. — Wissenschaftliche Hilfsmittel der Staats- 
bürgerkunde (Literaturbesprechung). 

Methodische Fragen: Disziplin oder Prinzip? Stundenzahl und 
Stoffanordnung. — Lehrmittel (Leitfaden oder Schülerzeitung?) — Ver- 
gleichender Blick auf die Erfahrungen in Frankreich, der Schweiz und 
Dänemark. 


4. Einführung in die Lehre vom erziehenden Unterricht 
Prof. Dr. Just- Altenburg 
(12 Stunden) 


Die Aufgabe des Unterrichts. 
Das Interesse und seine Hauptrichtungen. 
Die Anfänge des Interesses. Die Aufmerksamkeit. 
Die Auswahl und Anordnung des Unterrichtsstoffes. Der Lehrplan. 
Die Gliederung des Unterrichtsstoffes. Die Unterrichtseinheit. 
Das Lehrverfahren. Die Stufen des Unterrichts. 
. Die Formen des Unterrichts: 1. Der analytische Unterricht. 2. 
Der synthetische Unterricht: a) Der Erfahrungsunterricht. b) Der dar- 
stellende Unterricht. c) Der darbietend-erklärende Unterricht. d) Der 
entwickelnde Unterricht. 3. Der anwendend-übende Unterricht. 

8. Unterrichtsproben. 


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156 B. Mitteilungen. 


5. Bildung und Schule nach der Reichsverfassung 
Privatdozent Dr. G. Weiß 
(12 Stunden) 


6. Philosophische Propädeutik an höheren Schulen 
Prof. Dr. Friedrich Falbrecht-Wien 
(12 Stunden) 


Die Teilgebiete der Philosophie. — Besondere Stellung von Logik 
und Psychologie. — Geschichtliches über Ziel und Umfang philosophischer 
Unterweisungen im Unterricht. — Philosophie im Unterricht der ver- 
schiedenen Schulgegenstände. — Besonderer philosophischer Unterricht. 
— Lehrplan. und Lehrgang in Psychologie und Logik und verschiedenen 
Grundfragen aus Erkenntnislehre, Metaphysik, Ästhetik und Ethik, Welt- 
anschauung. 

Zur vorläufigen Übersicht werden empfohlen: Elsenhans, Psycho- 
logie und Logik (Sammlung Göschen. Wentscher, Einführung in die 
Philosophie (ebenda). 


7. Bedeutung und Stellung des Privatschulwesens 
Direktor J. Trüper-Jena 
(6 Stunden) 


1. Individualismus und Sozialismus in ihrer Bedeutung für Kultur 
und Wirtschaft im allgemeinen wie in Erziehung und Unterricht im be- 
sonderen. 

2. Die geschichtliche Bedeutung der freien (privaten) Schulen und 
Erziehungsanstalten für die Volkskultur im allgemeinen und für die Päda- 
gogik als Wissenschaft im besonderen. 

3. Die Aufgaben derselben für Gegenwart nnd Zukunft. 

4. Die Stellung der politischen, konfessionellen und sozialen Parteien 
zur Frage der Erziehungs- und Bildungsfreiheit. 

5. Die Gesetzgebung und die Privatschulen. 


8. Spezielle Methodik mit praktischen Übungen 
A. Böhm, Erster Lehrer a. d. Übungsschule des Päd. Univ.-Sem. 


(12 Stunden in der ersten Woche) 


9, Methodik des muttersprachlichen Unterrichts 
Seminar-Oberlehrer Fr. Lehmensick -Dresden 
6 Vorträge vom 4.—11. August 


1. Psychologische und didaktische Grundlegung des Sprach- 
Unterrichts. Wesen der Sprache. Die Frage nach ihrem Ursprung. Die 
3 Hauptmerkmale menschlicher Sprache. Gefahren beim Gebrauch der 
Sprache als Handwerkszeug des Unterrichts. Sprache als Unterrichtsstoff 
der Volksschule und der höhern Schule. Problemstellung. 


1. Ferienkurse in Jena. 157 


2. Die Prinzipien des Lese-Unterrichts. Das Wesen des 
Lese-Vorgangs. Schullektüre. Psychologie und Methodik des Lesenlernens. 
Freier Bildungserwerb aus Schriftzeichen. 

3. Das Problem der Erziehung zu selbständigem charakteristi- 
schem Ausdrucke von Gedanken, Stimmungen und Willensregungen. Not- 
wendigkeit. Die Darstellung: Frei oder gebunden? Naiv oder bewußt? 
Schmucklos oder blühend? Anschluß an ein Vorbild oder Kultus der Per- 
sönlichkeit. Stoffwahl und Themastellung: Einengung und Weitfassung 
des Themas. Die 3 Hauptmomente für die Methode: Freiheit, Bewegt- 
sein, Gestalten. Der Gedanke der Arbeitsschule. 

4. Sprachlehre und Sprachleben als Gegenstände des Unter- 
richts. Die Sprache als Werkzeug. Allgemeine Sprachpflege. Recht- 
schreibung als psychologisches und methodisches Problem. Die Sprache 
als Organismus. Grammatischer Unterricht. Formale Bildung als Vor- 
schule für fremdsprachlichen Unterricht. Die Frage des grammatischen 
Unterrichts in der Volksschule. Wissenschaftlicher Betrieb auf der höhern 
Schule. Erzeugnis des Verständnisses für Wesen und Werden der Mutter- 
sprache. 

5. Die Erschließung der Geistesschätze der nationalen 
Literatur. Volksbildung und höhere Bildung auf muttersprachlichem 
Gebiete. Ästhetische und historische Würdigung der Dichtwerke. Literatur- 
kunde. Lehrplanfragen. Dichterpersönlichkeit und Literatur-Entwicklung. 
Der Dichter als Erzieher. 

6. Dichtung und Kindesseele. Wesen der Dichtung. Die Dich- 
tung als Bild des Lebens. Die Dichtung, ein Spiegel des Herzens. Das 
Problem des Lehrverfahrens. Die Frage der Inhaltvermittlung. Dichtung 
als Form. Das Hauptgebot. Der Weg zum Herzen. 


10. Phonetik mit praktischen Übungen 
Oberlehrer A. Lorey -Frankfurt a. M. 
(6 Stunden) 


Wesen der Phonetik. Deutsche Phonetik: Was ist mustergültiges 
Deutsch? Dialekte und Bühnensprache. Erklärung der wichtigsten Sprach- 
organe. Die Sprachlaute: Verschlußlaute, Reibelaute, Nasale, Vokale. 
Stimmhafte und stimmlose Laute. Artikulation und phonetische Definition 
der einzelnen Laute. Regeln über die Aussprache schwieriger deutscher 
Laute, insbesondere ch, g. — 

Vergleichende Betrachtung des Unterschiedes in der Aus- 
sprache der wichtigsten deutschen, englischen und französi- 
schen Laute. — 

Bedeutung der Phonetik für den neusprachlichen Unter- 
richt, besonders den Anfangsunterricht. — 

Am Schluß jeder Stunde finden Übungen statt, in denen an der Hand 
von Viötors Lesebuch in Lautschrift, 1. Teil, phonetische Texte gelesen, 
erklärt und eingeübt werden. Zuletzt werden auch Texte nach Diktat in 
Lautschrift niedergeschrieben. 

(Literatur siehe unter Nr. 11.) 


155 B. Mitteilungen. 








11. Der fremdsprachliche Anfangsunterricht, 
mit besonderer Berücksichtigung der phonetischen Schulung 
Oberlehrer A. Lorey -Frankfurt a. M. 


(6 Stunden) 


Die lautliche Schulung in der Muttersprache als Vorbereitung für 
die lautliche Unterweisung in den Fremdsprachen. Die lautliche Schulung 
im französischen und englischen Anfangsunterricht. Erklärung und Ver- 
wendung der Viötorschen Lauttafeln. Erörterung der Frage, ob die Schüler 
auch die Lautschrift schreiben sollen, oder ob sie nur imstande sein sollen, 
phonetische Texte zu lesen. Vergleichende Betrachtung über die Ver- 
schiedenheit in der Aussprache einiger wichtiger deutscher, französischer 
und englischer Laute. Der Übergang zur gewöhnlichen Schrift. Übungen 
im Schließen vom Lautbild auf das Schriftbild. — Sprechübungen zur 
Befestigung der Aussprache. Die Handlung und ihre Entwicklung. Die 
Anschauungsmittel. Behandlung der Lesestücke. Die Behandlung der 
Grammatik im Rahmen der neuen Methode. Schriftliche Arbeiten. 


Literatur 

Allgemeine Phonetik: *P. Passy,') L’ecriture phonétique. 0,50 fr. — 
*W. Viëtor, Kleine Phonetik d. Deutschen, Englischen und Französischen. Leipzig, 
Reisland. — Vietor-Rippmann, Elements of Phonetics. London, Dent. 3 M. 
— *Passy, Petite Phonétique comparée. Leipzig, Teubner. 2,20 M. — *Kling- 
hardt, Artikulations- und Hörübungen. Cöthen. — *Lauttafeln für den deutschen, 
französischen und englischen Unterricht. System Viëtor. Größe 100 : 130 cm. 
Dreifarbiger Druck. 2 M, aufgezogen auf Leinen mit Stäben je 4 M. Jeder Tafel 
wird ein dreisprachiger Text: Erklärungen und Beispiele beigefügt. Dieselben in 
kleinem Format für die Hand des Schülers à 10 Pf. Marburg, Elwert. — Rausch, 
Lauttafeln für den Sprachunterricht. I. Teil: Deutsch. II. Teil: Franz. u. Engl. 
Ebenda. 

Deutsche Phonetik: Viëtor, Wie ist die Aussprache d. Deutschen zu 
lehren? Marburg, Elwert. 0,60 M. — *Ders., Aussprache d. Schriftdeutschen. 
Leipzig, Reisland. 1.60 M. — Ders., German Pronunciation. Ebenda. 1,50 M. 
— *Ders., Deutsches Lesebuch in Lautschrift. 1. u. 2. Teil. Leipzig, Teubner. 
3 M. — Ders., Deutsche Lauttafel s. o. — *Schnell, Tafel deutscher Lautzeichen, 
Ein phonet. Hilfsmittel für den Unterricht in der Aussprache, im Lesen und Recht- 
schreiben. Marburg. Elwert. 5 M. — Th. Siebs, Deutsche Bühnenaussprache. 
Berlin, A. Ahn. 

Französische Phonetik: Passy, Abrege de prononciation frangaise, 
Leipzig, Reisland. 1.50 M. — *Ders., Sons du Français. Paris 1,50 fr. — 
Ders., Petite phonétique comparée. Leipzig, Teubner. 2 M. — *Beyer, Franz. 
Phonetik für Lehrer u. Studierende. Cöthen, O. Schulze. 4 M. — Schumann, 
Franz. Lautlehre für Mitteldeutsche, insbesondere für Sachsen. Leipzig, Teubner. 
— *Quiehl, Franz. Aussprache und Sprachfertigkeit. Marburg, Elwert. 3,20 M. 
— Passy-Rambeau, Chrestomathie française. 5 M. 

Englische Phonetik: *Jones, Pronunciation of English. Cambridge, Univ. 


1) Die mit * bezeichneten phonetischen Werke sind jedem Neuphilologen be- 
sonders zu empfehlen. 


1. Ferienkurse in Jena. 159 





Press. 2 s. 6 d. — Wagner, Sprachlaute des Englischen. — Western, Engl. 
Lautlehre. Leipzig, Reisland. 

Methodische Schriften: Schnell, Wie lehre ich das Rechtschreiben auf 
phonet. Grundlage? Marburg, Elwert. 0,50 M. — Hess, Der deutsche Unterricht 
in den ersten Schuljahren auf phonetischer Grundlage. Frankfurt a. M., Diesterweg. 
— Alge-Hamburger-Rippmann, Leitfaden für den Unterricht im Deutschen. 
— Jespersen, How to teach a foreign language. -—- Walter, Zur Methodik des 
neusprachlichen Unterrichts. Marburg, Elwert. 1,60 M. — Ders., Der franz. 
Klassenunterricht auf der Unterstufe. Ebenda. 1,40 M. — Ders., Englisch nach 
dem Frankfurter Reformplan. Ebenda. 3,50 M. — Ders., Über die Aneignung und 
Verarbeitung des Wocrtschatzes. Ebenda.. 0,75 M. — Rippmann, Hints on 
Teaching French. — Ders., Hints on Teaching Germain. — Goldschmidt, 
Enseignement par images du francais. Kopenhagen. — Alge, Leitfaden für den 
Unterricht im Französischen. — Dörr u. Walter, Entwurf eines’ Lehrplans für 
den franz. Unterricht auf der Unterstufe nach Kühns Lehrbüchern. Marburg. — 
Eggert, Methodische Übungen zu Kühns franz. Lehrbüchern. Velhagen & Klasing. 
— Kron, Die Methode Gouin oder das Seriensystem, Marburg, Elwert, 2,80 M. 
— Klinghardt, Ein Jahr Erfahrungen mit der neuen Methode. Ebenda. 1,60 M. 
— Ders., Zwei weitere Jahre Erfahrungen mit der imitativen Methode. Ebenda. 
2,50 M. 

Zeitschriften: W. Viötor, D. neueren Sprachen. Zeitschrift f. d. neu- 
sprachl. Unterricht. Marburg, Elwert. — Le Maitre phonötique, organe de l’Asso- 
ciation phonétique internationale, herausgeg. von Passy u. Jones. Bourg-la-Reine, 
Seine. — Rippmann, Modern Language Teaching. London. 

Zur allgemeinen Orientierung über die phonetische Literatur dient: 
Breymann, D. phonetische Literatur von 1876—1895. Eine bibliogr.-kritische 
Übersicht. Leipzig. 


12. Turnunterricht 
Praktische Vorführungen, Vorträge und Besprechungen 
Praktischer Übungskursus für Teilnehmer: Gymn.-Turnlehrer Herbart-Jena 
Vom 4. bis 17. August 6—7 Uhr abends (Gymnasialturnballe) 


Freiübungen, Geräteturnen, volkstümliche Übungen und Spiele, Reigen 
und Volkstänze. 

Besondere Berücksichtigung in den Vorträgen und praktischen Bei- 
spielen: Turnen, Spiel und Sport und die Erziehungsaufgaben der Gegen- 
wart. — Turnen und Jugendpflege. — Das pflichtmäßige Fortbildungs- 
schulturnen. — Die körperliche Erziehung der Mädchen. — Empfehlens- 
werte Turn- und Spielbücher. — Einrichtung von Turnhallen und Spiel- 
plätzen im Anschluß an die Besichtigung der Jenaer Turnhallen und der 
Spiel- und Sportplätze an der Saale. — Besichtigung des Volksbades. — 
Die natürlichen Bewegungsformen als Grundlage für den turnerischen 


Übungsbetrieb. 

Die Schule des Laufs, Sprungs, Wurfs. — Die »täglichene Übungen 
(Haltungs- und Atmungsübungen). — Der Reigen, seine Gestaltung und 
Verwendbarkeit. 


Bem.: Zu den praktischen Übungen der Kursusteilnehmer ist ge- 
eignete Turnkleidung notwendig. 


160 B. Mitteilungen. 


— — - — -M — — - -s e e — 





13. Unterricht in plastischer Gestaltung 
zur Entwicklung des räumlichen Sehens und Vorstellens 
Marta Bergemann - Könitzer 
Kursus von 6 Doppelstunden 


1. Aufbau des menschlichen Körpers in seinen Teilungsverhältnissen 
vom plastisch-anatomischen Standpunkt aus. 

2. Bewegungs- und Ausdrucksstudien. 

3. Anleitung im Erkennen, wie weit die Vorliebe der Kinder für's 
Modellieren einer starken Konzentration auf Formvorstellungen und Ge- 
sichtseindrücke oder einer Vorliebe für die Betätigung der Hände ent- 


springt. 


14. Die Biologie im botanischen Schulunterricht 
Prof. Dr. Detmer 
(Siehe V, 2) 


V. Naturwissenschaftliche Kurse 


1. Naturphilosophie und Weltanschauung 
= Prof. Dr. Detmer 
.9—10 Uhr. 12 Stunden 


1. Einleitung. Naturwissenschaft, Naturphilosophie, Metaphysik. Vor- 
läufige Orientierung über das Wesen des Lebensprozesses. Biomechanismus 
und Vitalısmus. 

2. Grundanschauungen der Vitalisten. 

3. Die Zelle der Pflanzen und Tiere. Geschichte der Zellentheorie, 
Protoplasmatheorie. 

4. Biomechanismus und Vitalismus. Geschichte des Vitalismus von 
Aristoteles bis auf Reinke und C. v. Hartmann. Kritik des Vitalismus. 
Ablehnung des Vitalismus. Darwins Deszendenz- und Selektionstheorie. 
Evolutionistische Naturbetrachtung. 

5. Ursprung des Lebens auf der Erde. Urzeugung, Panspermie, 
Archigonie. 

6. Metaphysische Probleme. Das Seiensproblem. Materialismus, Dua- 
lismus, Psychomonismus. Das ethische und das teleologische Problem. 
Begründung einer idealistischen Weltanschauung. Ihr Verhältnis zur Natur- 
wissenschaft und zur Religion. 


2. Die Biologie im botanischen Schulunterricht 


Bau und Leben der Pflanzen; mit Anleitung zu pflanzenphysiologischen Schul- 
experimenten: Prof. Dr. Detmer 


3—4 Uhr (Botanisches Institut). 12 Stunden 
1. Einleitung. Der botanische Schulunterricht früher und jetzt: Auf- 
gabe der Biologie; Organe der Pflanzen. 
2. Das Blatt. Wasserkultur; Bau des Blattes; Assimilation; Tran- 
spiration; Methoden zum Nachweis derselben; Xerophyten, Hygrophyten, 


1. Ferienkurse in Jena, 161 


Tropophyten; Erfahrungen des Vortragenden über diese Pfiauzenformen 
auf seinen Reisen im tropischen Brasilien, Lappland, Turkestan, der Sahara 
und Java; Eiweißbildung im Blatt; metamorphosierte Blattformen. 

3. Die Wurzel; Bau der Wurzel; Wasser- und Salzaufnahme; Turgor; 
Wurzeldruck; Knöllchen der Papilionaceenwurzeln; Mycorrhiza. 

4. Die Stammgebildee Bau des Stammes; mechanisches Gewebe; 
neuere Theorien über Wasserleitung im Stamm; metamorphosierte Stamm- 
gebilde. 


3. Anleitung zu botanisch-mikroskopischen Untersuchungen 
Prof. Dr. Miehe-Berlin und Dr. Gerhardt 
10—12 Uhr im botanischen Institut 


Jedem Teilnehmer wird ein Mikroskop zur Verfügung gestellt. Rasier- 
messer zur Herstellung der Schnitte und Deckgläser sind mitzubringen 


Bau der Zelle (Plasma, Kern, Zellhaut, Zellsaft, Plasmabewegungen, 
Plasmolyse). Gewebe und Interzellularräume Epidermis, Haare, Spalt- 
öffnungen. Bau des Blattes, der Wurzel und des Stammes, Holzanatomie, 
Dickenwachstum. Keimung der Pollenkörner, Samenknospen. Lebens- 
zyklus der Moose und Farne. Einige Algen, Pilze und Bakterien. 


4. Bau und Leben der Bakterien 
Dr. Gerhardt 
4—5 Uhr (Botanisches Institut) 

Die Entdeckung der Bakterien. Kulturmethoden. Bau der Bakterien, 
ihre Systematik. Die allgemeinen Lebensbedingungen. Gewinnung des 
Stickstoffs (Fäulnisbakterien, Nitrifikation, Assimilation des freien N.) Die 
Atmung. Die Gärung. Bakterien als Krankheitserreger. 


5. Allgemeine Zoologie und Darwinismus 
Mit Demonstrationen und mit Führungen im Phyletischen Museum: 
Prof. Dr. Franz 
8—9 Uhr im Zoologischen Institut 


Überblick über das System der Tiere. Zellen und Gewebe. Die 
Organe und ihre Leistungen. Fortpflanzungsarten, Entwickelung. Be- 
gründung des Abstammungsgedankens. Darwins Lehre. Neolamarckismus, 
Neovitalismus.  Vererbungstatsachen. Gegenwärtiger Stand der Ab- 
stammungsprobleme. Was bedeutet die Abstammungslehre für Menschheits- 
geschichte, Psychologie und Weltanschauung’? 


6. Zoologisch-mikroskopische Untersuchungen 
Prof. Dr. Franz 
5—7 Uhr im Zoologischen Institut 


1. Protozoen (zahlreiche). 2. Mikroskopische Metazoen des Süß- 
wassers: Hydra, Kopepoden, Daphniden, Insektenlarven, Jungfische, Molch- 


162 B. Mitteilungen. 


—. — 


larven u. a. m. je nach Gelegenheit. 3. Präparate mikroskopischer Meeres- 
tiere. 4. Regenwurm. 5. Weinbergschnecke. 6. Tierische Gewebe im 
frischen Zustand. 7. Lanzettfisch. 8. Bau und Gewebe der Wirbeltiere. 

Objektträger und Deckgläschen, Zeichenheft und Bleistift mitbringen. 


7. Zoologie 
Prof. Dr. Plate 
(Thema vorbehalten) 


8. Grundzüge der Chemie mit Ausblicken auf das Wesen 
der Materie 


Darlegungen der wichtigsten chemischen Vorgänge in der Natur 
Soweit wie möglich durch Experimente und Demonstrationen erläutert: 
Prof. Dr. H. Immendorff 
10—11 Uhr im agrikulturchem. Institut, oberer Philosophenweg 2 


1. bis 6. Stunde. Allgemeine Chemie. Die Materie und ihr Wesen, 
7. Die Luft, ihre Bestandteile, Vorgänge in ihr und durch sie. 

8. Das Wasser, seine Bestandteile, Eigenschaften und Bedeutung. 

9. Die Gase, chemisches und physikalisches Verhalten, Verflüssigung. 


10. Der Boden, Zusammensetzung, Eigenschaften und Bedeutung für 
lebende Wesen. 


11. Die Pflanze und das Tier. Baustoffe und Ernährung. : 


12. Chemie der Nährstoffe für Pflanzen und Tiere. Kreisläufe der 
Nährstoffe in der Natur. Rückblicke. 


9. Allgemeine Geologie 
(Das Antlitz der Erde und seine geologische Entwicklung) 
Prof. Dr. von Seidlitz 
12—1 Uhr im mineralogischen Institut 
Entwicklung der Festländer und Meere (Palaeogeographie.. Lebens- 
bedingungen und Lebensgemeinschaften der Vorzeit (Palaeoklimatologie). 
Aufbau der Gebirge Europas. Die deutschen Mittelgebirge. Vulkanismus 


und Erdbeben. Abtragung und Einebnung der alten Festländer. Arbeit 
des Wassers und Eises. Cyclen der Abtragung und Aufrichtung. 


10. Übungen im Bestimmen von Mineralien und Gesteinen 
Dr. Spangenberg 
6—8 Uhr im mineralogischen Institut 


11. Populäre Astronomie 
Prof. Dr. Knopf 
11—12 Uhr 
Die Konstitution des Planeten- und des Fixsternsystems, sowie die 
Gesetze der Himmelsmechanik, welche den Bestand jener Systeme sichern. 


1. Ferienkurse in Jena. 163 


12. Zeit- und Ortsbestimmung mit praktischen Übungen 
Prof. Dr. Knopf 
2—4 Uhr, Sternwarte 
Unterweisung im Gebrauch des Sextanten und Theodoliten zur Be- 
stimmung der Zeit und der geographischen Lage des Beobachtungsortes. 
Numerische Ableitung der gesuchten Werte aus den Beobachtungen. 


13. Bau und Tätigkeit des Gehirns 
Mit Demonstrationen: Prof Dr. Noll 
(6 Stunden, Physiolog. Institut) 


Tier- und Menschenhirn. Entwicklung des Gehirns. Funktionelle 
Bedeutung seiner Teile. Das Großhirn. Die Lokalisationslehre. 


14. Unsere Sinnesfunktionen 
Mit Demonstrationen: Prof. Dr. Noll 
(6 Stunden) 
Hautsinne. Geruchs- und Geschmackssinn. Gesichtssinn. Gehörs- 
sinn (einschließlich Stimmen und Sprache). Lage und Bewegungssinn. 


15. Physiologische Psychologie 
Prof. Dr. Berger 
12—1 Uhr in der psychiatrischen Klinik (Oberer Philosophenweg 3) 
(S. Abt. Philosophie) 


VI. Nationalökonomische Kurse 


1. .Organisationslehre als Volksbildung. Prof. Dr. Plenge- Münster. 
12-stündig. 


2. Allgemeine Volkswirtschaftslehre. Prof. Dr. Plenge- Münster. 

12-stündig. 

3. Marxismus: Entstehung, Blüte, Zersetzung. Prof. Dr. Lensch- 

Berlin. 12-stündig. 

1. Die Entstehung des Kapitalismus. 2. Der vormarxistische Sozialis- 
mus. 3. Die philosophisch - naturwissenschaftlichen Voraussetzungen des 
Marxismus. 4. Das kommunistische Manifest. 5. u. 6. Das Kapital; die 
Schriften von Engels. 7. Die Internationale. 8. Die deutsche Sozial- 
demokratie. 9. Der Weltkrieg und die Parteispaltung. 10. Klassenkampf- 
dogma und Klassenkampfwirklichkeit. 11. Der historische Materialismus. 
12. Sozialismus und Marxismus. 


4. Einführung in die sozialen Probleme der Gegenwart. Dr. 
Damaschke-Berlin. 12-stündig. 

5. Geld und Valuta. Prof. Dr. Terhalle-Jena. 4-stündig. 

6. Steuerfragen der Gegenwart. Prof. Dr. Terhalle-Jena. 8-stündig. 


164 B. Mitteilungen. 


7. Einführung in die Wirtschaftsgeschichte. Wirkl. Geh. Ober-Reg.- 
Rat Dr. Elster-Jena. 6-stündig. 


8. Einführung in die Sozialpolitik. Prof. Dr. Kessler-Jena. 
6-stündig. 


VII. Geschiehtliche Kurse 


1. Geschichte der neueren Revolutionen 
(1642—1851) 
Prof. Dr. A. Cartellieri -Jena 
(12 Stunden) 


1. Einleitung. Die erste englische Revolution, 1642—1649. 2. Fort- 
setzung. Die zweite englische Revolution, 1688. 3. Die Ursachen der 
französischen Revolution. 4. Der Ausbruch der französischen Revolution, 
1789. 5. Konstituierende und gesetzgebende Versammlung, 1789—1792. 
6. Republik und Schreckensherrschaft, 1792—1795. 7. Direktorialregie- 
rung und Militärregiment, 1795—1799. 8. Die Pariser Julirevolution 
‘und ihre Folgen, 1830. 9. Die Pariser Februarrevolution und die Repu- 
blik bis zum Staatsstreich, 1848 —1851. 10. Die Revolution in Deutsch- 
land, Österreich und Ungarn, 1848—1851. 11. Fortsetzung. 12. Die 
Erhebung in Italien, 1848 und 1849. Rückblick. 


2. Geschichte Rußlands 
Prof. Dr. Stählin -Leipzig 
(12 Stunden) 


1. Urzeit und Kiewer Rus. 2. Mongolen- und Teilfürstenzeit mit den 
Anfängen Moskaus. 3. Das Moskauer Großfürstentum bis Iwan III. 4. 
Wasilij III. u. Iwan Grosny. 5. Smutnoe Wremja. 6. Die ersten Romanows. 
7. Peter d. Gr. 8. Die Kaiserinnen-Herrschaft bis zum Ende Peters II. 
9. Katharina II. 10. Von Paul bis zum Tod Nikolaus I. 11. Reform und 
Reaktion. 12. Die russische Revolution. 


3. Einführung in Geschichte und Politik der Vereinigten Staaten 
von Amerika 
Dr. G. A. Rein, Privatdozent an der Universität Hamburg 
(12 Stunden) 

Entstehung der Vereinigten Staaten. — Zusammensetzung der Be- 
völkerung. — Der republikanische Bundesstaat und das Zweiparteien- 
System. — Grundtendenzen, Charakter und Methoden der auswärtigen 
Politik. — Perioden der Ausdehnung und des Wachstums. — Die Sklaven- 


frage. — Monroe-Doctrin und Panamerikanismus. — Amerikanische Demo- 
kratie. — Gegenwartsfragen der auswärtigen Politik. 


1, Ferienkurse in Jena. 165 


— ~ -ĖS — — —— 


4. Politische Geschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert 
(1815—1914) 
Prof. Dr. Mentz-Jena 
(12 Stunden) 

1. Einleitung. Der Wiener Kongreß und die Anfänge des deutschen 
Bundes. 2. Die deutschen Einzelstaaten und ihre Verfassungen. 3. Preußen 
und der Zollverein. 4. 1848. 5. Union und Reaktion. 6. Die Anfänge 
Wilhelms I. und Bismarcks. Der Konflikt. 7. Schleswig-Holstein. 8. Der 
deutsche Krieg. Der norddeutsche Bund. 9. Der Krieg gegen Frankreich 
und die Gründung des Reiches. 10. Überblick über die Geschichte des 
Reiches. a) Inneres. 11. b) Auswärtiges. 12. Vorgeschichte des Weltkrieges. 


5. Vom Rococo zum Klassizismus 
Prof. Dr. Weber-Jena 
12 Stunden. 6 Doppelstunden (12 Vorlesungen in je 2 aufeinander- 
folgenden Stunden) in der ersten Kurswoche 
Mit Lichtbildern und einer Studienfahrt nach Weimar 

Einfluß- der französischen Revolution und der napoleonischen Kriege 
auf die Kunstgesinnung. — Goethe und Schiller als Führer zum Klassi- 
zısmus. -- Jena und Weimar als Bıennpunkte der Begeisterung für die 
Antike. (Hier Studienfatrt nach Weimar) — Heim und Garten des 
deutschen Bürgers während des Zusammenbruchs des Vaterlandes. — Die 
Befreiungskriege und der Umschwung zur Romantik. — Vollendung des 
Kölner Domes und gotisierende Baukunst. — Die religiöse Romantik: 
Cornelius und die Nazarener. -- Die geschichtliche Romantik: Lessing 
und die Düsseldorfer Malerschule. — Alfred Rethel der Geschichtsmaler. 
— Moritz von Schwind und Ludwig Richter. — Ausklingen in der 
Biedermeierzeit. 


VIII. Deutsche Literatur — Deutsche Sprache — Redekunst 


1. Einführung in die moderne Volkskunde 
(Methoden und Ergebnisse) 
Prof. Dr. Naumann -Jena 
' (12 Stunden) 

Was heißt Volkskunde? Einteilung. Hausbau und Dorfanlage. 
Trachten. Feste, Sitten und Gebräuche. Aberglaube Märchen und Sage. 
Rätsel und Sprichwort. Zauberspruch und Segen. Volksbuch und Volks- 
schauspiel. Volkslied. 


2. Einführung in Goethes Faust 
Prof. Dr. Lienhard - Weimar 
(6 Stunden) 
1. Goethes Gesamterscheinung. 2. Gedankengang der Dichtung. 1. Teil. 
3. Gedankengang. 2. Teil. 4. Die Arbeit am Faust. 5. Faust als Kunst- 
werk. 6. Faust als Erlösungswerk. 
Zeitschrift für Kinderforschung. 26. Jahrgang. 12 


166 B. Mitteilungen. 


3. Joh. Fr. Schiller 
A. von Gleichen -Rußwurm 
(6 Stunden) 

1. Der jugendliche Schiller. 2. Schiller als Historiker (inkl. Wallen- 
stein). 3. Die ästhetische Philosophie. 4. Die Dramen der letzten Zeit 
(Maria Stuart; Braut v. Messina). 5. Tell, Demetrius. 6. Schillers Welt- 
anschauung und unsre Zeit. 


4. Einführung in das deutsche Dichten der Gegenwart 
Mit Proben (Rezitationen): Prof. Dr. Geissler- Erlangen 
(6 Stunden) 

1. Der naturalistische Beginn: Liliencron, Revolution der Lyrik: 
Arno Holz. Impressionismus, Stimmungskunst: Hofmannstal, Flaischlen 
u. a. Stil und Weltanschauung: Dehmel, Rilke, George, Morgenstern. 

2. Der Expressionismus. Der neue Ausdruckswille, der neue 
Formwille, der neue Gehalt. Dichtertum, Literatentum und deutscher 
Ausblick. 


5. Rhetorik, Einführung in deutsche Sprach- und Redekunst, mit Übungen 


(Nur für Deutsche und solche Ausländer, die die deutsche Sprache 
grammatisch und stilistisch beherrschen) 


Prof. Dr. Geissler -Erlangen 
(12 Stunden) 


Die deutsche Rhetorik als Gegensatz zur antiken und romanischen. 

1. Sprechkunst. a) Technik: Der gesunde und klangvolle Ge- 
brauch des Organs. Der Atem. Stimmeinsatz und Stimmansatz. Die 
Resonanz. Die einzelnen Laute (angewandte Phonetik). Lautgruppen, 
Wörter, Sätze. Fließendes Sprechen. Die Stimmlagen. Satzmelodien und 
Betonung. Die Klangfarben. b) Vortragskunst: Unterschiede der Vor- 
tragskunst des Redners, des Rezitators, des Schauspielers. Die Schallform 
und ihre Auffindung. Prusa und Gedichte. 

2. Redekunst. Das Maß ihrer Lehrbarkeit. Ihre Grundlagen. Die 
fünf Stufen: Auffinden des Stoffes, Aufbau, Stil, Aneignen, Vortragen. Die 
Erregung der Gefühle. Die Psychologie der Massen. Die Arten der Rede. 
Die Diskussion und ihre Kunstgriffe. Rhetorik und Sittlichkeit. 


6. Friedrich Hebbels Leben und Werke 
Dr. phil. Elise Dosenheimer - München 
6 Vorträge, vom 4.—11. August 


1. Hebbels Leben. 

2. Seine Weltauffassung. Seine Auffassung von der Kunst und 
besonders seine tragische Theorie. Seine Geschichtsphilosophie, 
seine Auffassung vom Staat und seine politische Betätigung. Beziehung 
zur Philosophie seiner Zeit. 


1. Ferienkurse in Jena. 167 


3. Hebbels Werke: Judith, Genoveva, Maria Magdalena, Herodes 
und Marianne, Gyges und sein Ring, Agnes Bernauer, Die Nibelungen, 
Der Moloch. 


7. Deutsche Sprache!) 


Erster Kursus 
Fräulein L. Mentz-Jena, Lehrerin am städt. Lyceum 

Der Sprach-Kursus stellt sich als Aufgabe: Mündliche und schrift- 
liche Darstellung der Gedanken. Zahlreiche und planmäßig angeordnete 
Sprechübungen sind das Hauptmittel. Alle Stunden tragen daher Jen 
Charakter der fast ausschließlich deutschen Unterhaltung. Grammatische 
Übungen schließen sich an den gelesenen und besprochenen Stoff an. Ge- 
legenheiten zu schriftlichen Übungen. 

Benutzt wird: Aus Thüringens alter Zeit. Lesebuch. Leipzig, Hein- 
rich Bredt. 


Zweiter Kursus 
Seminar-Oberlehrer Fr. Lehmensick - Dresden 
Lektüre, Übungen, Nacherzählen, Vorlesen, Vortragen, Debattieren. 


1. Aus deutschen Märchen. 

2. Aus der deutschen Sagenwelt. 

3. Aus den Liedern deutscher Dichter. 
4. Ein deutsches Lustspiel. 


Anzuschaffen sind und benutzt werden: 1. Thüringer Sagen. Leipzig, 
Heinrich Bredt. — 2. Praktische deutsche Schulgrammatik. Ein kurz- 
gefaßtes Lehrbuch der Hauptschwierigkeiten im Deutschen. Mit zahlreichen 
Übungen. Von M. D. Berlitz. Berlin, S. Cronbach. — 3. Neue Lieder 
der besten neueren Dichter. Berlin. — 4. Fulda, Die wilde Jagd. Berlin. 





Dritter Kursus 
Übungen zur Stilistik, Wortkunde und Phonetik 
Oberlehrer Dr. Stölten-Jena 
Durch Lesung von Meisterwerken deutscher Prosa wird die Feinheit 
des Ausdrucks und der Satzbildung geübt; im Anschluß an die Lesung 
werden Phraseologie, .Synonymik behandelt nebst besonderen Fällen der 


Phonetik. 
Lesung: E. J. Groth, Die Kuhhaut. — Gottfried Keller, Kleider 


machen Leute. Deutsche Dichter-Gedächtnis-Stiftung. Hamburg - Groß- 
borstel, Volksbücher Nr. 21 und 34. 


1) Wenn Privatstunden in der deutschen Sprache außerhalb der angegebenen 
Kurse gewünscht werden, gibt das Sekretariat darüber Auskunft, 


12* 


168 B. Mitteilungen. 


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3. Die Sonderklasse für Stotterer in Breslau. 
Von O. Plevschinski, Rektor in Breslau. 


Nach der mühevollen Arbeit in den Sprachheilkursen bleiben die 
Stotterer sich selbst überlassen und verfallen mit geringen Ausnahmen 
trotz der am Ende der Kurse festgestellten Erreichung des glatten Rede- 
flusses schon nach einiger Zeit wieder ihrem alten Sprachfehler. Die 
Kursusarbeit erfährt weder durch die Schule, noch durch die Eltern und 
am allerwenigsten durch den Schüler selbst diejenige Unterstützung und 
Fortsetzung, wie es zur Befestigung des Heilerfolges durchaus nötig ist. 
Es wird durch die Kurse viel erfolglose Arbeit geleistet und viel Kraft 
unnötig verschwendet. 

Carrie-Hamburg veröffentlichte in dieser Zeitschrift eine Statistik 
vom Jahre 1917 über Hamburger Sprachheilkurse und Sonderklassen und 
begründete durch seine Zahlen eine Fortentwicklung der Sprachheilkurse 
zu Sonderklassen für Sprachkranke, Er weist an seiner Statistik zunächst 
nach, daß die Zahl der rückfälligen Stotterer sich fast genau mit der Zahl 
der vorjährigen Kursisten deckt, daß so 100°/, rückfällig geworden waren, 
Weiter zeigt er an seinen Tabellen, daß die Zahl der stotternden Kinder 
mit den steigenden Klassen nicht ab-, sondern zunimmt, daß z. B. mehr 
12jährige Stotterer festgestellt wurden als unter den 6- und 7jährigen 
Lernanfängern. 

(Tabelle I siehe S. 170.) 

Die Statistik Breslaus zeigt ein ähnliches Ergebnis. Am Ende der 
Stottererkurse mußten im Laufe der letzten 7 Jahre 38 bis 57°/, der 
Besucher entlassen werden, bei denen eine Wiederholung der Kursusarbeit 
im nächsten Schuljahre für nötig gehalten wurde. 1918 waren unter 
den Kursisten 60,5°/, Wiederholer. Davon wiederholten 29,3°/, die 
Kurse 1mal, 10°/, 2mal, 10,60%, 3mal, 3.80/ 4mal und 6,8°/, 5 oder 
6mal. Auch bei uns steigert sich die Zahl der Stotterer mit den auf- 
steigenden Klassen. Der Höhepunkt liegt in der 4. Klasse. Wenn in 
der 2. und 1. Klasse die Stotterer stark abnehmen, so kommt das mit 
daher, daß viele Stotterer nur bis in die Mittelstufe gelangen und daß 
die großen Schüler und Schülerinnen aus mancherlei Gründen — falsche 
Scham, wirtschaftliche Inanspruchnahme im Elternhause, Häufung der 
Schularbeiten — den Kursen fernbleiben. Die Statistik baut sich aber 
auf den Kursusanmeldungen auf. 

1918 konnten 83,6°/, der Stotterer am Schlusse der Kurse als 
»geheilt«e und gebessert entlassen werden. Aber die meisten werden 
rückfällig. Geschieht das doch auch nach einer recht teuren Privat- und 
Anstaltsbehandlung und den »Wunderkuren«. Carrie muß zugeben, dab 
selbst von den 76 Kindern, die aus den Sonderklassen Hamburgs als ge- 
heilt entlassen worden waren, 16 rückfällig wurden; aber 60 erwiesen 
sich als endgültig geheilt, und das ist ein großer und schöner Erfolg. 

In der Sonderklasse unterstehen die Sprachkranken dem Schulzwange 
und regelmäßigen Besuche. Jahrelang werden sie in allen Stunden und 
allen Fächern unter der kundigen Einwirkung ihres Lehrers unterrichtet, 


a a ŞŘŘŘŘŘ———. — u 


2. Die Sonderklasse für Stotterer in Breslau. 169 


der ihr Leiden genau kennen und behandeln lernt, zu welchem die Schüler 
Vertrauen gewinnen und an diesem Vertrauen erstarken. So erlangen 
die Schüler nach und nach nicht nur die änßere Heilung, die geläufige 
Sprache; sie werden auch von der inneren Ursache ihres Leidens, von 
dem seelischen Angstgefühl, der gedrückten Gemütsstimmung, dem Mangel 
an Selbstvertrauen und Lebensfreude geheilt. Die äußere Heilung, den 
glatten Redefluß, erreichen die Stottererkurse auch; die seelische Heilung 
können sie nicht leisten infolge der zu kurzen Behandlung, der Unter- 
brechung der Übungen zwischen den Wiederholungskursen, des Wechsels 
der Lehrer bei Wiederholungen und der falschen Behandlung und Ver- 
kennung des Leidens und Zustandes in Schule und Familie. Dem äußeren 
Erfolge fehlt das sichernde Fundament der seelischen Heilung. 

Durch die tatkräftige Förderung unseres Herrn Stadtschulrates Dr. 
Hacks hat nun auch Breslau am 19. Juni 1919 eine Sonderklasse mit 
22 Stotterern des 2. Schuljahres eröffnet. Die Schüler werden nach dem 
Plane der 6. Klasse der normalen Volksschule unterrichtet. Den Unter- 
richt begleiten anfangs sprachliche Übungen. Nach und nach werden 
diese besonderen Übungen weggelassen und in allen Stunden und Fächern 
wird der Hauptwert auf die mündliche Rede gelegt. Wenn nun nach 
frühestens 1!/, bis 2 Jahren der Lehrer die Gewißheit hat, daß bei einem 
Schüler die Heilung gesichert ist, so wird derselbe in die normale Volks- 
schule zunächst probeweise umgeschult und zwar in diejenige Klasse, die 
er auch soust erreicht hätte, da der Unterricht in den Sonderklassen genau 
so weiterschreitet wie in der gewöhnlichen Volksschule. Erweist sich 
der Schüler in der Probezeit als sicher geheilt, so wird die Umschulung 
zu einer endgültigen. Die Schüler verlieren durch den Besuch der 
Sonderklasse keine Zeit, sie bleiben nicht zurück; im Gegenteil, während 
sie sonst am Unterricht ihres Stotterns wegen sich nicht beteiligen konnten 
und vielfach sitzen blieben, lernen sie in der Sonderklasse Freude an der 
Arbeit gewinnen und tapfer vorwärts schreiten. Hier wird ihnen ver- 
trauensvoll von kundiger Hand über alle Schwierigkeiten der Rede hinweg- 
geholfen. Mit freudiger Sicherheit können sie in die normale Volksschule 
wieder zurückgehen. 

Während die gegründete Sonderklasse Ostern 1920 als 5. Klasse 
weitergeführt wird, tritt eine neue 6. Klasse an ihre Stelle. Durch Ab- 
gänge entstandene Lücken werden aus den zu den Kursen gemeldeten 
schweren Stotterern gleicher Jahrgänge gefüllt. So ist der Aufbau einer 
vollen Sonderschule für Stotterer das Ziel der neuen Einrichtung. Eine 
Hilfsschule ist die Sonderklasse nicht; Hilfsschüler werden nicht auf- 
genommen. — 

Da die Kinder der Sonderklasse allen Stadtteilen entstammen, er- 
halten sie bei Bedürftigkeit für die städt. Straßenbahn Freifahrtscheine, 
die ihnen an jedem Schultage eingehändigt werden. Der Unterricht be- 
giont eine Stunde später als in der Volksschule, da die Schulwege der 
meisten Kinder weit sind. Der Besuch der Sonderklasse ist kostenlos. 

Während die Stottererbehandlung nach Sonderklassen verlangt, genügt 
für Stammler die Kursusbehandlung. 

(Tabelle II siehe S. 170.) 


B. Mitteilungen. 


170 





Breslauer Statistik der stotternden Kinder. Tabelle I. 
EEE en nn nennen nn nenn 










































= 
Gemeldetel 2 Klassen, denen die stotternden Alter aller Kursusbesucher 
Stotterer |S g Volksschüler angehörten in vollendeten no BRERE dor Kane 
A a g5 a n eg 
E Ea | NR über| s | 5 |ge&$| € 
4|8|s2|3 |e|sla 3|/2lılr 11/12 Re 14| 2 | 3 selseı $ 
N | è |87 fs | | | gi Isa tE & 
a |a | | u ur | u | >= 
0,60 | 311 | 188 | 25 | 23 | 33 | 40 | 48 |44 a2 |4al42 116| 144| 51 |156 | 50.2 
1917 |385 | 0:56 | 339 |206 | 60,8 |41 | 18| 46 | 40 | 45 |55| 51 [60 3111| — |162 | 132 | 45 |132 | 38,9 
1916 |420| 0.60 | 370 |234| 63:21 28 | 51 | 64 | 61 | 51 52 | 20| 37 | 44 | 53 [56 82 161 sel ıg| — |167| 61| 42 |164 44,3 
1915 |479 | 0,60 | 409 |252 | 61,6 | 33 | 61 | 68 | 78 | 57 | 38 | 34 | 39 | 48 | 65 |76|54|55|42|48| 21196 | — | — |213 | 52.0 
1914 |450 |0,70| 338 | 199 |59.0| 27 | 51 | 66 | 63 | 49 | 34 | 26 | 38 | 35 | 66 146 44 a7 |38122| 2146, --| — |192|57,0 
1913 |469 0:60] 388 |223 575] 15 | 60 | 57 | v2 57| 41| 30|57 50 51 a5 ‚6053 |45|20| 4|219| — | — |159 | 43,6 
1912 |454 |0,60| 386 |216 | 56.0] 38 | 81 | 55 | 78 | 46 | 32 | 12| 51 | 64 | 46 (69 sı!5ılaslız, 2f211| — | — |175 |145,0 


Breslauer Statistik der stammelnden Kinder. Tabelle II. 






































[e] 
Gemeldeteļ £ Wieder- lasian, denen die FEUR NERS Alter aller Koransbäsucher Ms dor Kane 
Stammler E D holer Volksschüler angehörten in vollendeten Jahren i a 
' — 133 zen GE ee A | E | > | & èx 
a E e AEA A a A T A ha MEIRE 
di 8 |s8213| S|7|6|o| ee! 6 |7 |8 /sjimimıs 14] 3 | 5 lea s2 3 
SI e TESTS | E | | neh | 1.1812 kalte: 
ù |a | | | | | | | has Ah I O a | >| 
1918 |306 | 0,48] 274 | 59 |215 f198| 49 | 153 | 4 | 3 | — | — [134| sel 24 |13|12| 4l—] ıl — [173| 56 | 45 | 79 28,8 
1917 |338 | 0,50 | 312 | 39 | 12,5 |276| 34| 19| 5| 4| ı | — 1179| 77|32| 8| 8| 4|—| 3| —I2 | 72 | 39 | 87 28,0 
1916 {336 |0,50| 315 | 75 |23,8|216| 66 | 23| 5| 1, 2 | 1 {135| 98| 57 |10| 6| 3| £| 3| — [212| 80 | 23 | 89128,3 
1915 |411 |0,61 | 353 | 40 | 11,3 269 | 53 | 5 Een 1 |180| 98| 48 |10 | iei. gi 21 —:125071 8e S7 |103:129,2 
1914 |282 | 0.60 | 262 | 46 | 17,6 |202 | 39 | 12 A i: | na |—1143| 781 27110| S =P: = — 1196| - | — | 66 | 25,2 
1913 |465 | 0,67 | 414 | 76 | 18,3 |315| 74 | 18 | 3 2 | — | — | 224 126! 39 |16| 6| 3!—!—| — 1306| — | — ; 108 | 26,0 
1912 |442 | 0,70 | 414 | 7: 117,6 302| 76 | 23 | 7 4 | — | — | 225 | 116 | 37 |23| 7|— | 2 | 4| — [301 | — | — |113 | 27,5 





| 


1) Prozentsatz der gemeldeten stotternden Volksschulkinder von dem Gesamtschülerbestande der Volksschulen am 1. 5. jedes Jahres. 
?) Prozentsatz der gemeldeten stammelnden Volksschulkinder von dem Gesamtschülerbestande der Volksschulen am 1. 5. jedes Jahres. 


3. Neue Beschäftigungsmittel zur Förderung des Farbensinnes usw. 171 


— 0 _ 


Zunächst ist der Prozentsatz der Wiederholer ein geringer. Er 
schwankt zwischen 11,3 und 23,8°/,. Hier spielen meistens organische 
Fehler der Sprechwerkzeuge eine große Rolle, die jeder vollen Heilung 
eine Schranke setzen. Dann zeigen die stark fallenden Klassen- und 
Alterszahlen, daß das Stammeln als Folge einer schlechten sprachlichen 
Erziehung des Elternhauses in den Lernanfängern der Schularbeit ent- 
gegentritt, wie es aber durch Kursusbehandlung und Schule erfolgreich 
bekämpft wird und nur in einzelnen Fällen, denen organische Mißbildungen 
der Sprechwerkzeuge zugrunde liegen, in die oberen Klassen und Jahr- 
gänge vordringt. Eine Sonderklasse würde hier auch nicht mehr erreichen. 

Durch Erarbeitung der richtigen Lautbildung und die zur mechanisch- 
richtigen Gewöhnung erhobenen Sprechübungen im Kursus führen zur 
endgültigen Heilung des Stammelns. Rückfälle treten sehr selten ein. 
Wo psychische Ursachen — geringe geistige Fähigkeiten — das Stammeln 
hervorrufen, tritt die Hilfsschule ein. 

So scheiden die Stammler für die Sonderklasse aus. Die Unter- 
bringung aller sprachgebrechlichen Kinder in Sonderklassen würde auch 
ein großes finanzielles Opfer der großen Städte erfordern, ein Opfer, das 
dem gegenwärtigen wirtschaftlichen Niedergange unmöglich ist. Für die 
Sonderklasse bleiben zunächst die »schweren« Fälle des Stotterns. 

Was an Taubstummen, Blinden und Schwerhörigen getan wird, haben 
auch die sprachkranken Kinder zu fordern. Während dort reiche Mittel 
auf recht beschränkte Bildungsmöglichkeiten ausgegeben werden, wird hier 
auf Grund festgestellter Erfolge in den meisten Fällen die Heilung voll- 
wertiger Menschen erreicht und damit dem Einzelnen und dem ganzen 
Volke ein schuldiger Dienst erwiesen. Gerade jetzt in der Zeit der ent- 
setzlichen Menschenverluste durch Krieg und Frieden besitzt der Einzelne 
einen doppelten Wert für unser deutsches Volk, und diese Werte sorgsam 
zu erhalten, zu mehren und verstärken, ist doppelte Pflicht der Gegen- 
wart. Wir Schlesier müssen ganz besonders scharf und angestrengt 
Wacht über unsere teure, uns einigende Muttersprache halten; hat uns 
doch der Vernichtungswille der Feinde des Deutschtums zu einer Sprach- 
insel verstümmelt, an der von drei Seiten ein Meer slavischer Sprachen 
gierig brandet. 


3. Neue Beschäftigungsmittel zur Förderung des 
Farbensinnes und deren Anwendung bei normalen und 
taubstummen Kindern. 

Von Helene Goldbaum, Wien. 

Das Sinnesleben der vorschulpflichtigen Kinder hat schon zahlreiche 
Kinderforecher beschäftigt und sind es namentlich der Gesichts- und Ge- 
hörssinn, die einer eingehenden Untersuchung unterzogen wurden. Preyer, 
und in den letzten Jahren Meumann, Binet, Montessori und andere 


Gelehrte haben zu verschiedenen Versuchen angeregt. Es ist ein er- 
freulicher Fortschritt, daß man in der jetzigen Zeit in den Kindergärten 


172 B. Mitteilungen. 


der Sinnesentwicklung der Vorschulpflichtigen erhöhte Aufmerksamkeit 
zuwendet. 

Auf diese Weise konnten schon viele wertvolle Resultate gesawmelt 
und einer wissenschaftlichen Verwertung zugeführt werden. 

Vielfach hat man sich bereits mit der Erforschung des Farbensinnes 
bei normalen Kindern befaßt und ist über verschiedene interessante. Ver- 
suche wiederholt in dieser Zeitschrift berichtet worden, weshalb ich nicht 
näher darauf eingehen will. 

Auch mit dem Farbensinn der Schwachsinnigen hat man sich schon 
eingehend beschäftigt, doch wurden bisher noch keine Versuche unter- 
nommen, den Farbensinn taubstummer Kindergartenkinder zu untersuchen. 

Von diesem Standpunkte ausgehend, habe ich den Versuch gemacht, 
den Farhensinn kleiner Taubstummer zu prüfen und zwar habe ich zu 
diesem Zwecke nicht bloß die bereits bekannten Kindergartenbeschäftigungen 
angewendet, sondern auch neue von mir zusammengestellte Beschäftigungs- 
mittel erprobt, die ich hiermit eingehend charakterisieren will. Bei der 
Zusammenstellung der einzelnem Behelfe sowie auch bei Durchführung 
der Versuche habe ich an die in vieler Hinsicht so vortreffliche Methode 
Montessori angeknüpft und habe mich bemüht, dieselbe weiter aus- 
zugestalten. 

Die von mir vorgeschlagenen Mittel .sind in erster Linie nicht für 
die Masse berechnet, sondern zur Anwendung bei gruppenweiser Be- 
schäftigung bestimmt. 

Selbstverständlich habe ich alle Beschäftigungsmittel zuerst an Normal- 
kindern erprobt und konnte mich von deren Zweckmäßigkeit immer wieder 
überzeugen. 

Zum ersten Versuche wählte ich sechs offene Farbwürfel in ab- 
gestufter Größe (der größte mißt 14, der kleinste 4 cm Seitenlänge). 
Die Flächen dieser Würfel sind mit den Farben rot — grün — schwarz 
— gelb — blau überzogen. Das Kind hat nun die Aufgabe, die Würfel 
zunächst der Größe nach nebeneinander (vom kleinsten zum größten) und 
aufeinander (vom größten zum kleinsten) zu stellen und sie dann ein- 
zuschachteln, Dieser Versuch geschieht zunächst ohne Rücksichtnahme 
auf die Farben. Es handelt sich dabei vorerst um die Prüfung des Größen- 
sinnes. Erst wenn dieser Versuch wiederholt gut ausgeführt wurde, muß 
das Kind die Würfel in der Weise aufstellen, daß alle Würfel auf der ihm 
zugekehrten Fläche dieselbe Farbe aufweisen, ohne Rücksicht darauf, ob 
die offene Fläche auf den Tisch kommt oder nicht. Ein nächster Versuch 
besteht nun darin, daß das Kind auch darauf Rücksicht nehmen muß, 
daß ‚auch die Farbe der Oberfläche der Würfel überall die gleiche ist. Dies 
ist nur dann möglich, wenn die Würfel alle in derselben Weise auf- 
gestellt werden, also wenn sich die offene Fläche auf dem Tische befindet. 

Nach demselben Prinzip ließ ich einen Farbbaukasten herstellen. Es 
ist dies der bekannte Fröbel-Baukasten, dessen Flächen mit den erwähnten 
Farben und die sechste Fläche mit weiß überstrichen sind. Bei der Aus- 
führung der einzelnen Bauformen muß zunächst darauf geachtet werden, 
daß das Kind — nachdem es bereits einzelne Bauformen ohne Berück- 


3. Neue Beschäftigungsmittel zur Förderung des Farbensinnes usw. 173 


sichtigung der Farbseiten ausgeführt hat — nun in der Weise baut, daß 
die Vorderfläche eines jeden Würfels eine bestimmte, nämlich ein und 
dieselbe Farbe aufweise ohne Rücksicht auf die Farben der Seitenflächen. 

Es empfiehlt sich, hierbei von einer leichten Bauform auszugehen, 
2. B. Turm (die einzelnen Steine werden übereinander gestellt. Man muß 
sich anfangs damit begnügen, wenn das dreijährige normale Kind die 
gleichen Farben richtig herausfindet. Erst bei einiger Übung — also von 
4-—5 jährigen Normalkindern — wird gefordert, daß nicht bloß die Vorder- 
flächen, sondern auch die Oberfläche, resp. Seitenflächen eine bestimmte 
Farbe aufweisen. Die bereits erwähnte Form »Turm« wird nun nochmals 
in der Weise ausgeführt, daß zwei Flächen (z. B. Vorderfläche rot, Ober- 
fläche schwarz, Seitenfläche gelb usw.) übereinstimmen. Durch Wendung 
der Vorderflächen der Bauform »Turm« nach links oder rechts entsteht 
dieselbe Bauform in einer anderen Farbe. Dabei wird die Bauform nicht 
zerstört, sondern die einzelnen Würfel werden nur in der erwähnten 
Weise gewendet. In ähnlicher Weise lassen sich auch andere Bauformen 
ausführen. Die Würfel werden nicht übereinander sondern in der gleichen 
Weise nebeneinander gestellt, wobei durch Drehen derselben wieder eine 
andere Farbe erscheint (Vorderfläche rot, Oberfläche gelb). Die Würfel 
werden nun so gewendet, daß die Oberfläche nun zur Vorderfläche wird, 
die Bauform in roter Farbe wird nun zu einer Bauform in gelber Farbe 
umgewandelt usw. Es würde zu weit führen, hier näher darauf ein- 
zugehen, auch möchte ich an die bekannten Bauformen des ersten Fröbel- 
Baukastens erinnern, die zum größten Teil mit dem Farbbaukasten aus- 
geführt werden können. 

Diese Beschäftigung schärft die Beobachtungsgabe des Kindes und 
fördert ganz besonders die Entwicklung des Farbensinnes. Bemerken 
möchte ich noch, daß auch beim Ein- und Ausräumen des Baukastens 
auf die Farbseiten Rücksicht genommen werden muß. Dieser Baukasten 
gewährt der kindlichen Phantasie viel Spielraum, denn die dem Kinde 
bereits bekannten Bauformen können in den verschiedensten Farben- 
zusammenstellungen ausgeführt werden. 

Ebenso ließ ich auch den zweiten Fröbel-Baukasten mit Farben über- 
ziehen und ging in der gleichen Weise vor, wie beim ersten Baukasten. 
Dabei erscheint mir nur die Tatsache interessant, daß das Ordnen der 
Längentäfelchen des zweiten Farbbaukastens im allgemeinen den Kindern 
leichter fällt als das Ordnen der Würfel der Farbe nach. 

Schließlich möchte ich noch das nach meinen Angaben hergestellte 
Farbenspiel erwähnen, mit dem ich ebenfalls sehr gute Resultate erzielt 
habe. Dieses Farbenspiel, das von mir als Gesellschaftsspiel gedacht ist, 
wird nach den Regeln eines Tombola- oder Lottospieles gespielt. Es hat 
in erster Linie den Zweck, den Farbensinn unserer Vorschulpflichtigen 
zu üben und ist daher ebenfalls als Beschäftigungsmittel für das Kinder- 
gartenalter gedacht. Das Farbenspiel vereinigt strahlenförmig auf einer 
mit einem beweglichen Zeiger versehenen runden Scheibe von etwa 
20—25 cm Durchmesser 16 Farben und Farbenschattierungen und zwar 
weiß, grau, schwarz, hellgrün, dunkelgrün, blattgrün, hellgelb, dunkelgelb. 


174 A. Abhandlungen. 


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hellbraun, dunkelbraun, hellblau, dunkelblau, veilchenblau, hellrot, dunkel- 
rot und rosa. Bei Benennung einzelner Farben, die außer hell und dunkel 
noch eine andere Farbenschattierung aufweisen, empfiehlt es sich, dieselbe 
wie folgt, zu definieren: veilchenblau (dunkelste blaue Schattierung) blatt- 
grün (mittlere grüne Schattierung). An diesem Spiele sollen mindestens 
vier Kinder teilnehmen. Jedes Kind erhält eine Karte, auf welcher vier 
von den auf dem Farbenspiel befindlichen Farbenschattierungen vorhanden 
sind. Der Zeiger der Farbscheibe wird nun in Bewegung gesetzt und die 
Kinder beobachten, bei welcher Farbenschattierung die Spitze desselben 
stehen bleibt. 

Nun vergleichen die Kinder die betreffende Farbenschattierung der 
Farbscheibe mit den auf ihren Karten enthaltenen Schattierungen. Das 
Kind, das dieselbe Schattierung auf seiner Karte hat, belegt dieselbe mit 
einem Kärtchen, am besten einem kleinen Rahmen. Das Kind, das zunächst 
alle Farben bedeckt hat, ist der Gewinner. Selbstverständlich können an 
diesem Spiele mehrere Kinder teilnehmen. In diesem Falle enthalten die 
übrigen Karten dann dieselben Farben, nur in verschiedener Anordnung. 
Für Kindergärten möchte ich die Anregung geben, eine Farbscheibe von 
etwa 50 cm bis 1 m Durchmesser zu verwenden. Der Spielleiter (Kinder- 
gärtnerin) hat die Aufgabe, die Kinder zu einer genauen Beobachtung der 
Farben anzuleiten, um den Farbensinn der Kleinen zu entwickeln und zu 
fördern. 

Natürlich kann diese Farbscheibe — falls das Spiel für größere 
Kinder gedacht ist — 24 Farben und Farbschattierungen aufweisen und 
sollen die Karten je 6 Farben vereinigen. 

Zur Ergänzung meiner Beobachtungen an taubstummen Kindergarten- 
kindern habe ich außer den hiermit besprochenen Beschäftigungsmitteln 
auch noch andere Behelfe in Betracht gezogen und zwar Täfelchen, Stoff- 
reste in verschiedenen Schattierungen, ferner habe ich auch das bereits 
in Kindergärten vielfach verbreitete Farkenlotto angewendet. Dieses be- 
steht aus 4 Karten mit je 6 einfachen Abbildungen. Diese Abbildungen 
wiederholen sich auf jeder Karte, jedoch immer in einer anderen Farbe 
oder Farbenschattierung. Zum PBedecken der Karten werden wie beim 
gewöhnlichen Bilderlotto Blättchen verwendet, die dieselben Bilder wie die 
auf den Karten befindlichen aufweisen. Die Kinder vergleichen nun die 
einzelnen gezogenen Karten mit den auf ihren Tafeln enthaltenen Gegen- 
ständen und legen die Karte auf die betreffende Stelle. So enthält eine 
Karte z. B. einen roten Ball mit einem grünen Streifen, eine andere einen 
grünen Ball mit einem roten Streifen usw. Ein zweites Farbenlotto ver- 
einigt die Gegenstände in verschiedenen Farbenschattierungen, z. B. einen 
hellblauen und dunkelblauen Hut usw. 

Ich bin bei meinen Versuchen in folgender Weise vorgegangen: 
Zunächst forderte ich die Kleinen auf, gleichfarbige Täfelchen heraus- 
zusuchen, dann zwei bestimmte Farben richtig herauszufinden, ferner aus 
der Zahl der Stoffreste die verschiedenen Schattierungen einer Farbe zu 
kennen. Dann wandte ich die erwähnten Beschäftigungsmittel an. 


3. Neue Beschäftigungsmittel zur Förderung des Farbensinnes usw. 175 





Die Versuche wurden in folgender Reihenfolge ausgeführt: 


Ordnen von Täfelchen der Farbe nach. 
Ausführung von Farbenzusammenstellungen. 
Schattierungen einer Farbe herausfinden. 
Ordnen der Farbwürfel 
a) der Größe nach, b} der Farbe nach nebeneinander, c) übereinander. 
5. Bauen mit dem Farbbaukasten 
a) mit Berücksichtigung einer Farbseite, b) mit Berücksichtigung 
beider Farbseiten. 
6. Spielen mit der Farbscheibe. 
7. Spielen mit dem Bilderlotto. 


Geprüft wurden zehn taubstumme Kindergartenkinder im Durch- 
schnittsalter von 6 Jahren, davon 6 Knaben und 4 Mädchen. 


F. R., ein etwas beschränkter Junge, führt alle Versuche richtig aus 
mit Ausnahme von Nr. 2. Die Ausführung von Farbenzusammenstellungen 
scheint ihm einige Schwierigkeiten zu bereiten. 


J. L., ein sehr intelligenter, jedoch etwas fauler Junge, hat beim 
Ordnen der Farbwürfel einige Schwierigkeiten. Die anderen Versuche ge- 
lingen alle. 

J. G., ein sehr vernachlässigter Junge, reagiert wenig bei allen Ver- 
suchen. Farbenzusammenstellungen sowie Schattierungen werden nicht 
erfaßt, verhält sich auch beim Spiel mit der Farbscheibe und Bilderlotto 
vollständig passiv. Beim Ordnen der Farbwürfel zeigt er Größensinn, 
jedoch keinen Farbensinn. Beim Bauen mit dem Farbbaukasten gelingt 
nur Versuch a. 

F. F., ein sehr intelligenter Junge, zeigt beim Ordnen der Farbwürfel 
übereinander eine auffallende Raschheit und Sicherheit, während das Ordnen 
nebeneinander vom kleinsten zum größten einige Schwierigkeiten macht. 
Alle übrigen Versuche werden richtig ausgeführt. 


H. A., ein vernachlässigter Junge mit guten Anlagen, erfaßt Farben- 
zusammenstellungen wie schwarz, rot nicht, ebenso werden auch die 
Schattierungen einer Farbe nicht herausgefunden. Das Ordnen der Farb- 
würfel der Größe und Farbe nach bereitet Schwierigkeiten, während das 
Bauen und das Spiel mit der Farbscheibe und dem Farblotto gut erfaßt 
werden. 

R. M. ein intelligenter Junge, führt alle Versuche mit Ausnahme von 
Nr. 3 gut aus. 

G. G. ein intelligentes Mädchen mit rascher Auffassung, zeigt eine ge- 
wisse Unsicherheit beim Ordnen der Farbwürfel und findet erst nach 
einiger Prüfung die passenden Würfel. Alle übrigen Versuche gelingen. 

P. D. ein etwas faules Mädchen, zeigt beim Spiel mit der Farbscheibe 
und dem Farblotto wenig Interesse. Die übrigen Versuche werden gut 
ausgeführt. 

G. R. ein sehr verschüchtertes Mädchen, führt alle Versuche richtig 
aus, Das Ordnen der Farbwürfel gelingt jedoch erst nach einiger Prüfung. 

W. W. ein zerfahrenes unruhiges Kind, führt alle Versuche richtig aus. 


>69 Do pat 


176 B. Mitteilungen. 











Im allgemeinen konnte ich auf Grund dieser kleinen Prüfung die 
Überzeugung gewinnen, daß die taubstummen Kindergartenkinder einen 
gutentwickelten Farbensinn haben. Interessant erscheint dabei die Tat- 
sache, daß diese Kinder eine größere Sicherheit beim Auffinden und Ver- 
gleichen der Farben und Farbenschattierungen zeigen, was wohl darauf 
zurückzuführen ist, daß sie durch Schalleindrücke nicht abgelenkt werden. 
Ich möchte mit diesen Zeilen die Anregung geben. derartige Versuche an 
einer größeren Zahl von taubstummen Vorschulpflichtigen auszuführen, 
ferner auch ähnliche Versuche an jüngeren Taubstummen vorzunehmen, 
um auf diese Weise eine Übersicht über die Entwicklung des Farbensinnes 
bei Taubstummen zu bekommen. 

Solche Versuche könnten natürlich in der verschiedensten Weise aus- 
gestaltet und noch andere Mittel zur Erforschung des kindlichen Farben- 
sinnes gefunden werden. 


Zusammenfassend ergeben sich also folgende Resultate: 


+ == Versuch gelingt 
— = A „ teilweise oder nicht. 








; 





1. Ordnen von Täfelchen der Farbe nach . . . . + ps +++] ++ ++ 
2. Ausführung von Farbenzusammenstellungen . . . J- + + — ++ +++ 
3. Schattierungen einer Farbe herausfinden . . . . H+ — + - +14 H 
4. Ordnen der Farbwürfel: | | TA 
a) der Größe nach . En E a a lll ++ 
b) der Farbe nach nebeneinander . . 2... +4+— —- — i ++ H 
c) der Farbe nach übereinander. . . . 2... JF] + tele -}- ari a 
5. Bauen mit dem Farbbaukasten: p | | 
a) mit Berücksichtigung einer Farbseite . . . © j+ — ++ ++ -HHHH 
b) mit Berücksichtigung beider Farbseiten . . . [JH +- + HH HIHI 
6.-8piel mit der Farbscheibe n 4 ou. “u oe =: HHH ++ 
7. Spiel mit dem Bilderloto . . . 2 2.2.2000. HH pi Hit ih 
4. Ein Institut für Psychologie und Pädagogik 
an der Handelshochschule Mannheim — unter Leitung des Unter- 
zeichneten — ist im Entstehen. Das Institut soll die Hörer der Handels- 


hochschule, die sich dem Lehramt an Handelsschulen widmen und die in 
der Praxis stehende Lehrerschaft der Mannheimer Schulen aller Kategorien 
in die Probleme und Methoden der Psychologie und psychologischen 
Pädagogik einführen. Für die Zwecke des philosophischen Unterrichts 
wird dem Institut ein kleines philosophisches Seminar angegliedert. Die 
Forschungstätigkeit des neueu Instituts wird in der Hauptsache drei 
großen Problemen gewidmet sein: 

1. Der psychologischen Analyse der menschlichen Arbeit im ganzen 
Umfange. Es soll sich hierbei nicht etwa um Taylor-Untersuchungen 
handeln und nur nebenbei um die, wie mir scheint, neuerdings maßlos 
überschätzten Fragen der beruflichen Eignungsprüfung. Eine Psychologie 
der Arbeit, die zu einem Verständnis des Arbeitsvorgangs, seines Ver- 
laufes, seiner Wurzeln und der Faktoren, die ihn beeinflussen, gelangen 


5. Kampf gegen die Tuberkulose im Kleinkindesalter. — 6. Polnische Kultur. 177 


will, muß m. E. von den grundlegenden Untersuchungen Kraepelins 
und seiner Schüler ausgehen. 

2. Der psychologischen Untersuchung der geistigen Entwicklung, 
wobei den Fragen der Entwicklungsgesetze und der psychologischen Eigen- 
art des geistig Zurückgebliebenen, sonstwie abnormen Kindes besondere 
Anfmerksamkeit zugewandt werden soll. 

3. Der psychologischen Analyse der Begabungen. Ich möchte hier 
den Nachdruck auf das Wort »Analyse« gelegt wissen. Es soll sich 
nicht nur um Begabungsprüfungen für praktische Zwecke handeln, sondern 
vor allem um eine Förderung unseres Verständnisses der Begabungs- 
differenzen. 

In diesem Rahmen sind auch Untersuchungen über die Fragen ge- 
plant, die das System der Begabungsschule (Mannheimer Schulsystem) mit 
sich bringt. Das Institut wird bestrebt sein, nur zuverlässige, methodisch 
einwandfreie Untersuchungsergebnisse an die Öffentlichkeit zu bringen. 
Es soll nicht dazu beitragen, die Flut unzureichender Publikation auf dem 
Gebiet der psychologischen Pädagogik zu vergrößern. 

Neben der Lehr- und Forschungsarbeit wird das Institut Indi- 
vidnalitäts-, Intelligenz- und Begabungsprüfungen, soweit solche heute für 
praktische Zwecke nutzbar gemacht werden können, im Dienste der öffent- 
lichen Wohlfahrt. vornehmen. Es plant ferner die Einrichtung einer 
psychologisch-pädagogischen Sprechstunde für Lehrer aller Kategorien. 

Die Adresse des Instituts ist Mannheim C. 1. 4. 
W. Peters. 


5. Kampf gegen die Tuberkulose im Kleinkindesalter. 


Unter diesem Titel erscheint eine Neuauflage der »Tuberkulose- 
Nummer« des Nachrichtendienstes über Kleinkinderfürsorge in Form einer 
kleinen handlichen Broschüre. Die Tuberkulosenummer ist trotz vermehrter 
Auflage bereits vergriffen, ein Beweis, wie erwünscht eine Zusammen- 
stellung und Herausarbeitung der wichtigsten Probleme der Tuberkulose- 
bekämpfung im Kleinkindesalter aus dem Gesamtgebiet der Tuberkulose- 
bekämpfung war. Um noch weiteren Kreisen die Möglichkeit einer 
Orientierung über dieses Sondergebiet und zugleich Anregung zu praktischen 
Maßnahmen zu geben, hat sich der Deutsche Ausschuß für Kleinkinder- 
fürsorge zur Herausgabe einer Nenauflage entschlossen. Die Broschüre 
ist zu beziehen durch die Geschäftsstelle Frankfurt a. M., Stiftstraße 30. 
Preis 1 Stück 50 Pf., 50 Stück 20 M., 100 Stück 25 M. 

Deutscher Ausschuß für Kleinkinderfürsorge Frankfurt a. M. 


6. Polnische Kultur. 


Die polnische Regierung hat »die Einfuhr von Gebetbüchern, 
von pornographischen Büchern und Kinderbüchern« verboten 
und damit in geradezu beschimpfender Weise Schriften religiösen Inhalts 
mit gemeinen Schmutzschriften zusammengestellt. Außerdem kommt das 


178 C. Literatur. 


Verbot bezüglich der »Gebetbücher« einer religiösen Aushungerung der 
Evangelischen gleich. Während nämlich die gesamte polnische katholische 
Literatur im Lande gedruckt wird, besitzen die deutschen evangelischen 
Gemeinden weder eigene kirchliche Verlagsanstalten noch eine eigene 
theologische Fakultät. Somit sind sie nunmehr fast völlig von der reli- 
giösen Literatur Deutschlands abgeschnitten, zumal wenn man bedenkt, 
daß nach polnischem Sprachgebrauch unter »Gebetbüchern« auch Gesang- 
bücher verstanden werden. 


C. Literatur. 


Bühler, Karl, Die geistige Entwicklung des Kindes, Mit 26 Abbildungen 
im Text. Jena, Gustav Fischer, 1918. 378 S. Preis 10 M (Friedenspreis). 

Neben die wertvollen, zusammenfassenden Arbeiten über die Seele des Kindes 
in der frühen Kindheit von Karl Groos und William Stern, die wir seinerzeit 
bier empfahlen, tritt jetzt das umfangreiche Werk von Karl Bühler, o. Professor 
der Philosophie an der Technischen Hochschule in Dresden. Bühler ist einer der 
führenden Vertreter der Würzburger Schule (Külpe t), die die Denkpsychologie mit 
Recht ausbaut und damit die Erforschung des Seelenlebens auf eine höhere Stufe 
hebt, eine wesentliche Bereicherung der Untersuchungsweisen (psychische Experi- 
mente) und der positiven Erkenntnisse brachte und bringt, die Denkakte in den 
Mittelpunkt stellt und der experimentellen Selbstbeobachtung und Erforschung zu- 
gänglich macht. Das vorliegende Werk umfaßt die »geistige Entwicklung des 
Kindes«, in der aus wohlbeachtlichen Gründen das Gefühls- und Willensleben nur 
kurz referierend gestreift wird. Diese Arbeit Buhlers stellt eine außer- 
ordentlich wertvolle Bereicherung der kinderpsychologischen Lite- 
ratur dar, wertvoll besonders deshalb, weil der Verfasser als bekannter ernster 
Forscher vorsichtig sichere Schritte zur Weiterentwicklung der Kinderforschung 
und Erschließung des kindlichen Seelenlebens macht. In unserer Besprechung 
können wir, dem Aufbau des Buches folgend, nur wenige Punkte hervorheben, die 
uns als beachtenswert erscheinen, durch die sich das Buch auszeichnet. Darum sei 
es dringend jedem an der Kinderforschung Interessierten zum Studium zu empfehlen. 

Unter den verschiedenen Methoden der Kinderpsychologie zur Erforschung 
der kindlichen Seelenerlebnisse legt Bühler mit Recht großen Wert auf das von 
ihm als Leistungsexperiment bezeichnete Verfahren, das uns, was ich aus 
eigener Erfahrung bestätigen kann, sichere Erfolge und wesentliche Klärung so 
mancher Ungewißheit bringen wird. Ein anderer Vorzug des Buches liegt für die 
der Kinderpsychologie noch Fernstehenden darin, daß auch der kindliche Körper 
in seinen charakteristischen Abweichungen von dem Zustand der Erwachsenheit 
eingehend dargestellt wird und sich dadurch der Neuling richtig einstellt auf die 
Tatsache, daß das Kind »kein kleiner Erwachsener« ist und alle körperlichen und 
seelischen -geistigen Vorgänge anders zu bewerten sind. Auch die biologische 
Fundamentierung der Kinderpsychologie ($ 28 ff.) ist etwas, was Bühler noch 
weitgehender als Groos herausarbeitet. 

Wir finden in den Kapiteln über Wahrnehmungen z. B. Raum- und 
Zeitwahrnehmung, Zahl-, Relationswahrnehmung im Vergleiche mit den bestehenden 





C. Literatur. 179 


Theorien neue Gesichtspunkte nach denkpsychologischen Kriterien, 
Beziehungen zur Tierseele und zur Psychologie primitiver Völker erfolgreich auf- 
gestellt. Die gesicherten wertvollen Ergebnisse von K. Groos über die Phantasie 
des Kindes und das Spiel ergänzt Bühler durch die literarpsychologische Analyse 
des Märchens, was uns außerdem Neues über die Märchenphantasie des Kindes 
bringt. Dabei bezieht er sich auf die Arbeit seiner Frau (s. u.) Mit der ihm 
eigenen kritischen Vorsicht und Besonnenheit stützt Bühler sowohl historisch, als 
such psychologisch die Annahme, daß die Märchen den Fähigkeiten und Bedürfnissen 
der kindlichen Phantasie angepaßt sind und findet darin — als Parallele zu Groos’ 
Erkenntnissen über das Spiel der Tiere und Menschen und des Kindes — die 
Hauptübungsphasen der Vorstellungstätigkeit, der sich dann in der fol- 
genden literarischen Periode des Robinsonalters die natürliche Haupt- 
übungsphase des kritischen Denkens und zielbewußten Wollens an- 
schließ. Dann sei noch der fruchtbaren neuen Gesichtspunkte gedacht, die Bühler 
uns angibt, indem er im V. Kapitel die Entwicklung des Zeichnens in 
Parallele setzt zur Sprachentwicklung des Kindes und Beziehungen findet 
und ebensolche zu den prähistorischen Höhlenzeichnungen der Naturvölker zeigt 
und auswertet. Das sind Tatsachen, die neue Aufschlüsse bringen und vor allem 
ine Wertung der kindlichen Zeichnungen von anderen, wie bisher üblichen Ge- 
siehtspunkten aus verlangen. Von hieraus holt sich Bühler wieder eine Stütze 
seiner Behauptung, die er im »Abriß« (s. u.) weiter ausführt, die kindliche geistige 
Entwicklung als Fundgrube für die Urgeschichte der Menschheits- 
geschichte anzusehen ($ 17, 20). Einen anderen Wert sehen wir in Bühlers 
kritischen Stellungnahmen zu allen bisherigen Ergebnissen der Kinderforschung und 
in seiner vorsichtigen, aber weitgehenden Beziehung, die er zur generellen 
Psychologie knüpft, wobei auch erkenntnistheoretische Erörterungen und logische 
Abgrenzungen fruchtbringend für diese Wissenschaftszweige angeschlossen werden. 
Das sind positiv zu wertende Leistungen des Verfassers, die wir seinerzeit auch in 
Groos’ »Seelenleben des Kindes« schätzten. 

In den Mittelpunkt aller Untersuchungen und Erkenntnisse nach denkpsycho- 
logischen Kriterien treten aber die Kapitel über »die Entwicklung des kindlichen 
Denkense. Schon Groos nimmt in seinem Buche (2. Auflage) vom denkpsycho- 
logischen Standpunkte aus zu den Denkinhalten und Denkakten der kindlichen Seele 
Stellung. Bühler, als führender Vertreter dieser Denkpsychologie, geht diese Ge- 
dankengänge bis ans Ende durch. Um auch denen, die der Denkpsychologie ferne 
stehen, zum erfolgreichen Studium seines Buches zu verhelfen, vor allem, um seine 
Stellungnahmen zu anderen Psychologen zu modifizieren, gibt Bühler einen Exkurs 
über die Erinnerungsgewißheit, setzt sich mit G. E. Müller auseinander 
und gibt eine klare, psychologische und erkenntnistheoretische Darstellung seiner 
Ansicht über das Wissen von Sachverhalten, über stellungnehmendes Erfassen, 
Sachverhalt und Satz und logische Folgerungen. In den Denkakten, in dem Urteilen 
und Beurteilen, in dem Zustandekommen dieser logischen Prozesse ist geistig mehr 
als bloßer Assoziationsmechanismus zu suchen — das sind Denkakte, die Bühler 
auch schon im vorsprachlichen Alter primitiv konstatiert. Und hierbei würdigt 
Bühler in eingehender Weise das Werk von W. Köhler »Intelligenzprüfungen an 
Anthropoiden le, das er der Kinderpsychologie zur Beachtung empfiehlt, da an dem 
Auftreten der Erfindungsarten als vollwertige »Einsichten« oder als »Einfälle« 
(wie sie Bühler nur den Affen zuspricht) in der vorsprachlichen Denkperiode die 
Kriterien gegeben sind, von Denkakten zu sprechen oder nicht. Die Parallelisierung 


180 C. Literatur. 





zu den Anthropoiden läßt Bühler in früher Kindheit eine Periode abgrenzen, die 
nicht mit Unrecht als das »Schimpansenalter« zu bezeichnen wäre, ungefähr die Zeit 
von 0,1—1,0, wo die primitiven Denkvorgänge in »Einfällen« bestehen. 

Hier, in der denkpsychologischen und biologischen Wertung des 
kindlichen Seelenlebens, liegt Bühlers größtes Verdienst um die 
Kinderpsychologie. Wir waren in berechtigter, aber allzugroßer Vorsicht, 
nichts von uns aus in das kindliche Seelenleben hineinzutragen, in den Fehler ver- 
fallen, dem Assoziationsmechanismus zu viel zuzuschreiben und damit näherten wir 
uns einem toten Punkt, der die Forschung hätte unfruchtbar werden lassen. Da 
macht Bühler das, was sich bei Stern und Groos auf einzelne Probleme teil- 
weise angewandt findet, großzügig durchgehends zum Kriterium der wissenschaft- 
lichen Ausbeute der kindlichen Seelenerlebnisse. — Und damit zeigt er uns zahlreiche 
neue Probleme in all ihrer tiefen Schwierigkeit. Ebenfalls ein Vorzug ist es, daß 
Bühler am Ende oder im Laufe jedes Kapitels die noch zu lösenden Probleme 
scharf abgrenzt und dazu den Weg zeigt, der möglicherweise zu gehen ist, um 
Resultate zu erzielen. Wer also in der Kinderpsychologie mitarbeiten will, findet 
in Bühlers Buch eine Unmenge von Problemstellungen und Anregungen zur Ein- 
stellung. Mit einem Kapitel ȟber die Gesetze und Ursachen der geistigen Ent- 
wicklung«e, in dem die allgemeinen biologischen Entwicklungsregeln, weiter Stand 
und Ergebnisse der Vererbungslehre und endlich die Bedeutung des Spiels für die 
geistige Entwicklung des Kindes kritisch dargestellt worden, beschließt Bühler sein 
wertvolles Buch. Ein Wort besonderer Empfehlung erübrigt sich. Nur möchte 
ich, wie dies in dieser Zeitschrift seit ihrem Bestehen immer und immer wieder 
betont wird, wiederum dazu raten, daß sich Lehrer aller Schulgattungen dem 
Studium der Kindesseele in ihrer frühen Entwicklung zuwenden möchten, woraus 
der Pädagogik nur Nutzen erstünde. Zur Einführung empfehlen wir da: 


Bühler, Karl, Abriß der geistigen Entwicklung eines Kindes. Wissen- 
schaft und Bildung Nr. 156. Leipzig, Quelle & Meyer, 1919. 154 S. Preis 
3 M. ohne Teuerungszuschlag. 

Dieser Abriß ist aus einer Vorlesungsreihe entstanden, die Prof. Bühler im 
Januar 1914 vor Lehrern in Mühlheim a. d. Ruhr hielt. Ihnen ist auch das Buch 
gewidmet. Nach der eingehenden Besprechung des obigen Buches, heben wir aus 
diesem Abriß, der auf dem obigen Werke fußt, mit des Verfassers eigenen Worten 
nur das Neue hervor. »Neu ist die Gruppierung, neu der Versuch, die biologischen 
Fundamente der Kinderpsychologie klarer herauszustellen und von ihnen aus eine 
allgemeine Theorie des Entwicklungsganges zu gewinnen. Dies, scheint mir, ist 
zurzeit das Wichtigste, daß wir uns wieder einmal, wie vor 100 Jahren Pestalozzi, 
mit aller Kraft um den Sinn des Ganzen bemühen, ‘ Gelingt es, die biologischen 
Leistungen des Geistes und den inneren Rhythmus seiner Entwicklung zu verstehen, 
dann wird das Werk Pestalozzis auf dem Niveau unserer Zeit eine Auferstehung 
erleben.« Am Ende jedes Abschnittes bietet der Verfasser die Literatur, die er 
zum Weiterstudium empfiehlt. So wird dies Büchel für jeden, der sich in die 
Psychologie der frühen Kindheit einarbeiten will, e'n sicherer Führer, der ihn in 
vorbildlich klarer, scharfumrissener, kurzer Darstellung in die schwierige und doch 
»schöne Wissenschaft« einführt und ihm dort unentbehrlich werden wird. 


Meißen i/Sa. Kurt Walther Dix. 





Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 






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A. Abhandlungen. 


1. Die Entwicklung des Berufsproblems. !) 
Von 


Dr. phil. u. med. Erich Stern in Hamburg. 


Es liegt im Wesen des Menschen, daß er sich nicht damit be- 
gnügt, nach Einzelheiten zu forschen und sich still, des Erreichten 
froh, zu bescheiden, sondern daß er danach strebt, über das Gefundene 
hinauszubauen, es zu immer höheren Einheiten zu verknüpfen, um 
schließlich zu einer Welt- und Lebensanschauung zu gelangen, der 
sich alle Einzelheiten restlos und ohne Widerspruch einfügen lassen. 
So sehr nun dieses Gebäude auch auf der einen Seite das ureigenste 
Erzeugnis des Einzelnen darstellt, so wenig ist es auf der anderen 
Seite doch sein Eigen; denn jeder Mensch ist in seinem Fühlen, 
Denken und Wollen, in seinem Handeln ebenso wie in seinen Idealen 
abhängig von seiner Umgebung, er ist ein Kind seiner Zeit, von der 
er sich nicht losmachen kann, mit der ihn tausendfache Bande ver- 
knüpfen, in der er wurzelt und die seiner Persönlichkeit ihr Gepräge 
aufdrückt. 

Der Mensch ist kein Wesen, das in der Vereinsamung, allein, 
der Einzelne nur auf sich selbst gestellt, zu leben vermag. Überall 


1) Dieser Aufsatz wurde bereits im Sommer 1918 geschrieben. Er bildete 
das erste Kapitel einer größeren zusammenfassenderen Darstellung der pädagogischen 
Bewegung. Die damaligen Ausführungen sind heute bereits überholt. Der Druck 
dieses ersten Kapitels ließ sich nicht verhindern und dieses erscheint daher als selb- 
ständige Arbeit. 

Zeitschrift für Kinderforschung. 25. Jahrgang. 13 


182 A. ‘Abhandlungen. 








finden wir ihn als Glied einer Gemeinschaft, sei dies die primitive 
Horde, sei es der Stammesverband, die Sippschaft, der Staat. An 
Bedeutung überragt wohl diese letzte Form des Gemeinschaftslebens 
alle anderen, und beim Eintritt in die Geschichte hatte sich die 
Staatenbildung bei fast allen Völkern ‘bereits vollzogen. Schon in 
jenen Zeiten muß der Einfluß des Staates auf das Leben des Ein- 
zelnen ein ungeheurer gewesen sein; nicht nur, daß ihn die untere, 
von einer kleinen Oberschicht beherrschte Masse fühlte, daß sie den 
von jenen gegebenen Satzungen gehorchen mußte, Arbeit und Dienste 
obne große Gegendienste zu leisten hatte, auch der Angehörige der 
Herrscherklasse war in all seinem Denken und Handeln abhängig von 
dem Staatswesen, dem er zugehörte, und wenn er auch selbst seine 
Befehle zu Satzungen erhob und Gesetze erließ, er fühlte den Staat 
auch am eigenen Leibe, er war auch als Freier nicht frei. Sitten 
und Bräuche, Vorurteile banden ihn, beschränkten sein Tun. Mehr 
noch gilt dies natürlich von der Unterschicht; sie muß der Herrscher- 
klasse dienen, für sie arbeiten, ohne sich frei auswirken zu können. 
Wohl empfängt sie Schutz von der Herrscherklasse, aber doch nur 
Insoweit, als deren eigene Interessen es erfordern, sonst fühlt sie 
sich der Unterschicht gegenüber nicht gebunden. 

Das alles ändert sich im Laufe der Zeiten. Es kommt der Augen- 
blick, wo die Unterschicht, die Unterdrückten und Beherrschten, des 
Dienens überdrüssig werden und sich erheben; neue soziale Schich- 
tungen bilden sich aus. Und weiterhin kommt im Gange der Ent- 
wicklung ein Punkt, wo man allen staatlichen Lebens überhaupt 
genug hat, wo man die unumschränkte Freiheit aller zur Forderung 
erhebt. Der Mensch, der sich bis dahin nicht frei entfalten konnte, 
soll es nunmehr können; keine Macht der Welt soll mehr imstande 
sein, in sein Tun und Handeln regelnd einzugreifen. Man läßt ihn 
frei gewähren, freilich auch, ohne ihm eine hilfreiche Hand zu leihen. 
Und wieder vollzieht sich eine gewaltige Wandlung: von neuem er- 
starkt das staatliche Leben, wieder gewinnt es Leben und Bedeutung. 
Aber nichts geht in der Geschichte vorüber, ohne seine Spuren zu 
hinterlassen. Die Freiheit, die Möglichkeit der Entfaltung seiner 
Kräfte läßt sich nicht mehr bannen, der Staat soll nun fördernd in 
das Leben des Einzelnen eingreifen, ihm helfen, den Weg zu finden. 

So vollzieht sich alles staatliche Leben zwischen zwei entgegen- 
gesetzten Polen: betrachtet man das Verhältnis zwischen Individuum 
und Gesamtheit, so kann dies einmal von unten, von dem Individuum 
her geschehen, und zum anderen von oben, von der Gesamtheit her. 
Sucht man diesen Unterschied auf eine scharfe Formulierung zu 


Stern: Die Eutwicklung des Berufsproblems, ‘183 
bringen, so kann man sagen, in dem einen Fall herrscht die Auf- 
fassung, daß der Einzelne für den Staat da sei, im anderen, daß der 
Staat nur im Interesse des Einzelnen Berechtigung habe. Und 
zwischen beiden Anschauungen steht die des laisser aller, laisser faire. 
Natürlich finden sich diese Auffassungen im Leben nie rein. Die 
Wirklichkeit widerstrebt allem scharf Abgegrenzten, das Leben, das 
warme, ewig pulsierende Leben kennt nicht die Starrheit unserer Be- 
griffe, alles befindet sich ständig im Fluß, und so finden wir die 
mannigfaltigsten Abstufungen und Übergänge. 

Die Entwicklung hat nun dazu geführt, daß das Verhältnis des 
Staates zurzeit mehr von der Seite der Gesamtheit her gefaßt wird, 
daß aber dieses Überwiegen der Interessen der Gesellschaft über die 
Interessen des Einzelindividuums an den Grenzen des Staates halt 
macht. Alle international gerichteten Bestrebungen haben sich als 
irrig erwiesen. Die Gegensätze, die schon vor dem Krieg zwischen 
den einzelnen Nationgn bestanden haben, der Krieg hat sie noch ver- 
schärft, und sie werden auch in den nächsten Jahrzehnten nach dem 
Kriege in unverminderter Heftigkeit‘; weiter bestehen. Ein um so 
wichtigeres Erfordernis ist es daher, daß sich im Innern des Staates 
alle Gruppen und Schichten zu gemeinsamer staatlicher Betätigung 
zusammen schließen. Das Interesse am öffentlichen Leben, das bei 
uns in Deutschland vor dem Kriege nicht in allen Kreisen in gleichem 
Maße rege war, ist durch den Krieg geweckt und mächtig gefördert 
worden. Fragen der inneren Politik, der Reorganisierung unseres 
Staatswesens werden noch lange die Gemüter beschäftigen, ohne 
Kämpfe wird es nicht abgehen, denn immer werden die, welche im 
Besitz von Rechten und Vorrechten sind, Reformen Widerstand leisten. 
Daß unser Volk aber in seiner Mehrzahl reif ist, daran zweifelt nach 
den Erfahrungen der Kriegsjahre kein Mensch. Deshalb muß auch 
versucht werden, alle Bürger ohne Ausnahme, auch die der niedersten 
Schichten, dem Staatsganzen einzugliedern: der Staat soll nicht mehr 
Sache einzelner bevorzugter Kreise sein, der Staat sei Sache aller! 

Soll aber der Einzelne am Leben des Staates Anteil nehmen, 
dann muß auch der Staat am Leben des Einzelnen Anteil nehmen. 
Wir wollen heute ‚keine Politik des laisser aller, laisser faire mehr, 
die es beim Nichtstun bewenden läßt. Aber ebensowenig wollen wir 
im Staat jene alle bevormundende Macht sehen, die den Einzelnen 
in der freien Entfaltung seiner Kräfte behindert und beschränkt, ihn 
einengt, die jeden seiner Schritte mit Paragraphen und Vorschriften 
regelt, wir wollen mit anderen Worten nicht nur Gegenstand der 


Staatsgewalt sein, sondern deren Träger. Der Einzelne muß das Ge- 
13* 


184 A. Abhandlungen. 








fühl der tätigen Anteilnahme am Leben der Gesamtheit haben, der 
Gesamtheit, die ihn fördert. Interesse am Staat, an seinem Leben 
und Gedeihen kann aber nur derjenige haben, der im Staat etwas ist, 
etwas zu leisten vermag. Der Bettler auf der Landstraße, der keine 
Heimat hat, das Gefühl des Schaffens nicht kennt, was soll er für 
eine Liebe zum Staat haben? Und der Handlanger, der tagaus tagein, 
vom frühen Morgen bis zum späten Abend sein eintönig Werk voll- 
bringt, was kann ihm der Staat anders sein als eine Fessel und ein 
Quell der Erbitterung? Darum ist es nicht nur die Pflicht, sondern 
das ureigenste Interesse des Staates, die Bürger möglichst hoch herauf- 
zuheben, und das kann er nur, wenn er alle in ihnen liegenden 
Kräfte und Anlagen zu fördern und zu entfalten sucht. Jeder soll 
dazu gebracht werden, möglichst viel zu erreichen und das Beste, was 
er zu leisten vermag, auch wirklich zu leisten; was er dann an Werten 
schafft, das kommt ja dem Ganzen wieder zugute. 

Wer aber etwas leisten will, der muß geschult sein. Gilt dies schon 
von dem einfachen Handwerker, wieviel mehr gilt es von dem Techniker, 
von dem Gelehrten, von dem Künstler. Ein jeder kann nicht alles 
neu erfinden und entdecken, die Arbeit unzähliger Generationen hat 
sein Werk vorbereitet, und er hat die Fäden, die vergangene Ge- 
schlechter ihm in die Hand gaben, nicht achtlos beiseite zu werfen, 
sondern sie aufzunehmen und weiterzuspinnen. Der Weg zur Be- 
herrschung der Natur, zum Meistern der Materie führt über die Er- 
kenntnis der in ihr waltenden Zusammenhänge und Gesetze. Jede 
Leistung ist nur möglich auf den festen Fundamenten sicheren Wissens, 
auch der Künstler, der den Gestalten seiner Phantasie Leben geben, 
sie in den Stoff der Wirklichkeit umsetzen will, bedarf technischer 
Fertigkeiten, die er kennen, sich aneignen muß. Wissen ist eine 
durch nichts anderes zu ersetzende Lebensmacht, die ihren Träger 
weit emporhebt über die große Macht der Ungebildeten. Die zum 
Leben notwendigen Kenntnisse zu vermitteln, das aber ist in unserer 
Zeit Aufgabe der Schule. Der Weg zu höheren Kenntnissen führt 
nun über eine höhere Schulbildung, und da die dazu erforderlichen 
Anlagen und Fähigkeiten nicht ausschließlich Gut einer oder einzelner 
bevorzugter Kreise sind, sondern sich überall finden können und auch 
wirklich finden, so muß der Staat dafür sorgen, daß den Befähigten 
aller Klassen in ganz anderem Maße als dies vor dem Kriege der 
Fall war, Gelegenheit geboten wird, die in ihnen schlummernden Kräfte 
zur vollen Entfaltung zu bringen. 

Jeder Mensch wird dann dem Berufe zugeführt werden müssen, 
für den er besonders befähigt, für den er seiner ganzen körperlichen 





Stern: Die Entwicklung des Berufsproblems, 185 





p = pab = nn < nn En fe nn nn nn 








und seelischen Beschaffenheit nach am besten geeignet ist. Die Wahl 
des Berufes darf nicht länger der Willkür und dem Zufall überlassen 
bleiben; ein Mensch wird volle Arbeit nur in dem Berufe zu leisten 
vermögen, Befriedigung nur in der Arbeit finden, die seiner ganzen 
Veranlagung entspricht. Der junge Mensch aber, der die Schule 
verläßt, um den ersten Schritt ins Leben hinaus zu tun, wird sich 
nur in den seltensten Fällen klar darüber sein, wozu er besonders 
begabt ist. Wohl kommen oftmals Neigung und Interesse schon bei 
ihm zum Durchbruch und bringen ihn auf den richtigen Weg, aber 
noch öfter läßt er sich von den Wünschen und Ratschlägen seiner 
Angehörigen treiben, ob ihm diese förderlich sind oder nicht. Die 
Eltern, mögen sie es auch noch so gut mit dem Kinde meinen und 
tausendmal sein Bestes wollen, haben doch oft genug kein Urteil über 
die wirklichen Anlagen ihres Kindes. Wie viele Menschen fühlen 
sich in ihrem Berufe unzufrieden und unglücklich, bringen es zu 
nichts, und hätten doch in einem anderen Wirkungskreis viel, viel 
mehr leisten können! Wie viele ändern nicht noch nach Jahren ihren 
Beruf, nachdem sie schon viele Energien unnütz verbraucht und 
vielleicht ihre besten Jahre nutzlos vergeudet haben! Da fragt es sich 
doch, ob nicht mit Hilfe wissenschaftlicher Erfahrungen manches ge- 
ändert und gebessert werden kann, ob wir es nicht vermögen, mit 
Hilfe psychologischer Methoden Anlagen und Fähigkeiten des Ein- 
zelnen festzustellen und ihn auf Grund dieser Untersuchungen in der 
Wahl der Schule und des Berufes zu beraten. 

Aber mit dem Stellen dieser Frage tauchen auch bereits eine 
ganze Menge von Bedenken auf. Ist denn das überhaupt möglich, 
was wir soeben als wünschenswert hingestellt haben? Der Mensch 
steht im Leben, ist in seine Totalität fest verwurzelt, und die mannig- 
fachsten Einflüsse wirken auf ihn ein. Immer ist es der ganze 
Mensch, der auf sie reagiert, nie nur ein Teil von ihm. Daher ist 
auch nie eine besondere Fähigkeit für eine Leistung ausschlaggebend, 
sondern immer der ganze Mensch. Die Psychologie hat den Men- 
schen bisher zu sehr zerlegt, sie hat zu wenig den ganzen Menschen 
betrachtet, wie er im Leben steht und sich im Leben bewährt. Hier 
klafft noch eine Lücke, und bis sie ausgefüllt ist, wird allen Be- 
strebungen, die sich darauf richten, den Menschen, wie er im Leben 
steht, den Menschen von Fleisch und Blut zu beurteilen und zu be- 
handeln, etwas Willkürliches anhaften. Hier liegen die Grenzen 
unserer Versuche, die wir kennen müssen, wenn wir nicht zu viel 
von ihnen verlangen wollen. Dürfen wir aber darum die Hände in 
den Schoß legen und auf kommende Zeiten warten? Ich glaube nicht, 


186 A. Abhandlungen. 


denn die Zeit drängt und innerhalb der gezogenen Grenzen gibt es 
Arbeit genug. Die Ansprüche, die die einzelnen Berufe an den 
Menschen stellen, sind ganz verschieden, der eine verlangt mehr eine 
dauernde Aufmerksamkeit, der andere kann diese entbehren, der eine 
verlangt Einordnung in die gemeinsame Arbeit einer größeren Zahl, 
der andere darf darauf verzichten, beim einen handelt es sich darum, 
Befehle und Vorschriften gewissenhaft zu befolgen, beim anderen 
darum, selbst zu entscheiden und Befehle zu geben. Und hier muß 
es gelingen, mittelst psychologischer Methoden einen Unterschied unter 
den Menschen zu machen, ob sie für eine Verrichtung in dieser 
speziellen Hinsicht geeignet sind oder nicht. Wie sie sich dann be- 
währen, das hängt von ihrer ganzen Persönlichkeit mit ab und diese 
ist einer exakten Untersuchung heute kaum zugängig. Über die 
Eignung zu einem Berufe aber werden wir ein Urteil abzugeben 
vermögen. 

In diesem Zeichen steht die Bewegung, welche heute sich so 
mächtig entwickelt hat, man will Willkür und Zufall bei der Wahl 
von Schule und Beruf nach Möglichkeit ausschalten und an deren 
Stelle die in der Wissenschaft zum Ausdruck kommende Vernunft 
der Gesamtheit treten lassen und der Berufswahl die Ergebnisse der 
Forschung nutzbar machen. Sie gewinnt ihre Bedeutung, wenn wir 
sie im Zusammenhang betrachten mit dem Leben und Streben unserer 
Zeit, wenn wir sie einzuordnen vermögen in den allgemeinen ge- 
schichtlichen Prozeß. Aufgabe der folgenden Zeilen ist, es zu zeigen, 
wie sich das Berufsproblem überhaupt entwickelt hat, und wie es zu 
einer Berufsnot gekommen ist. 

Im Wesen der Kultur ist es begründet, daß die Wege, die der 
Mensch zur Erreichung seiner Ziele zurückzulegen hat, immer weiter, 
immer verschlungener und immer reicher an Zwischenstationen werden. 
Die Kompliziertheit des Lebens gestaltet innerhalb der Reihe Wunsch- 
Mittel-Zweck das Mittelglied zu einer Vielheit, in der das eigentlich 
wirksame Mittel immer erst durch weitere Mittel erreichbar wird, bis 
über dem Streben nach den Mitteln das eigentliche, letzte Ziel dem 
Auge entscheidet. Der primitive Mensch, der noch in völliger Ab- 
hängigkeit von der Natur lebt, kennt nur seine eigentlichen Zwecke; 
er verlangt vom Leben nichts als das Leben selbst. Die Natur bietet 
ihm alles, dessen er zum Leben bedarf: in ihr findet er seine Nahrung, 
Blätter dienen ihm zur Kleidung, und in den Höhlen findet er Unter- 
schlupf. Noch erfreut er sich nicht der Hilfe anderer, denn die Erde 
ist nur schwach besiedelt, und ein jeder hat genug mit sich selbst 
zu tun; aber er ist auch nicht auf die Mithilfe anderer Menschen 





Stern: Die Entwicklung des Berufsproblems. 187 
angewiesen, um sein Leben zu fristen. Was er braucht, verschafft 
er sich selbst. Noch gibt es keine raffinierte Technik, die Speisen 
zuzubereiten, noch gibt es keine komplizierten Maschinen, die ein- 
fachsten Mittel der Zubereitung, die einfachsten Werkzeuge dienen 
ihm zu seinen Zecken. 

Erst mit zunehmender Kultur wird das anders. Der Mensch 
entdeckt das Feuer, er erfindet Werkzeuge, um die Gegenstände der 
Natur zu bearbeiten, er weiß, sich von der Natur immer unabhängiger 
zu machen. Rasch wächst die Zahl der Menschen, denn je weiter 
die Kultur fortschreitet, um so mehr vermag die Erde zu ernähren. 
Der Mensch aber ist nun nicht mehr so einfach zu befriedigen, er 
stellt an das Leben höhere Ansprüche, damit aber steigen auch die 
Anforderungen, die das Leben an ihn stellt. Er benutzt nicht mehr 
unterschiedslos die Produkte der Natur, nicht, wie sie sie ihm dar- 
bietet, er beginnt auszuwählen und, was er benutzt, zu bearbeiten. 
Mit diesem Moment beginnen schon die Unterschiede, die wir auch 
zwischen den primitiven Menschen anzunehmen haben, sich geltend 
zu machen: auch auf dieser Stufe sind die Menschen nicht alle gleich, 
der eine ist gewandter, geschickter wie der andere, und dieser jenem 
vielleicht an Einsicht und Schnelligkeit des Erfassens überlegen. Wert 
aber für den Menschen besitzt meist nur das, was er nicht kann, was 
er nicht besitzt, und so wird in ihm das Verlangen nach dem Er- 
zeugnis und Besitz des Nachbarn wach. Im Anfang mag man ein- 
fach genommen haben, was einem gefällt; hat man den Mut und die 
Kraft hierzu nicht, nun so muß man eben verzichten. Aber im Laufe 
der Zeit kommt ein geordneter Verkehr auf; an die Stelle des Raubes 
tritt der Tausch, und das eigene Erzeugnis gewinnt damit einen neuen, 
bisher unbekannten Wert. Gegenstände werden gesammelt, hergestellt, 
nicht mehr nur, weil man ihrer bedarf, sondern weil sie einen Wert 
bedeuten, weil man hofft, anderes für sie eintauschen zu können, sie 
werden zum Mittel, seine Bedürfnisse, die man durch eigene Arbeit 
nicht zu befriedigen vermag, auf anderem Wege zu stillen. Tausch- 
handel finden wir bei allen primitiven Völkern, sobald sie sich auf 
eine gewisse Kulturstufe erhoben haben, und noch im klassischen 
Altertum spielt er eine bedeutende Rolle, er bildet die Vorstufe alles 
Handels überhaupt. 

Mit dem Augenblick aber, wo er eine gewisse Bedeutung ge- 
winnt, beginnt die berufliche Differenzierung. Die Arbeitsteilung 
bahnt sich an und bereitet sich vor, und je feiner die Mittel der Be- 
arbeitung werden, um so mehr gewinnt sie an Boden, und damit geht 
eine tiefgreifende Umwandlung der Gesellschaft vor sich. Es ist 


188 A. Abhandlungen. 

interessant, zu verfolgen, wie bei allen Völkerschaften sich zuerst die 
Berufe herausdifferenzieren, deren Ausübung bestimmte seelische 
Qualitäten zur Voraussetzung hat: der Schamane, der in jenen Zeiten 
meist Priester, Zauberer und Arzt zugleich ist, muß in der Lage sein, 
sich in einen Zustand der Exstase zu versetzen und in seinem Wesen 
etwas Unheimliches, Eigenartig- Geheimnisvolles zur Schau tragen, er 
muß verstehen, mit Menschen umzugehen, sie zu beurteilen und zu 
behandeln, muß somit Eigenschaften besitzen, die nicht allen Men- 
schen zukommen. Überall finden wir daher, daß seine Tätigkeit sich 
am ehesten zu einem festumschriebenen Wirkungskreis, zu einem 
Beruf gestaltet. Erst viel später lösen sich die anderen Berufe heraus, 
aber auch hier spielen noch auf lange Zeit hinaus psychische Ver- 
haltungsweisen die wichtigste Rolle. Der primitive Mensch will nicht 
nur eine Waffe erstehen, er will Ornamente, Verzierungen an ihr, 
und neben der manuellen Fähigkeit. spielt hier der Erfindungsgeist, 
die Phantasie und — sagen wir — der Geschmack des Verfertigers 
eine Rolle, ganz abgesehen davon, daß alle Neuerungen doch mehr 
durch psychische Faktoren als durch Momente der Geschicklichkeit 
mitbedingt sind. 

Mit dem Aufkommen der beruflichen Differenzierung tritt aber 
auch die zielbewußte Arbeit als Motiv in das Menschenleben ein. 
Freilich war es nur ein Teil der Menschen, der ihr nachging. Im 
wesentlichen wird die Arbeit von den Unterdrückten, von den Sklaven, 
Besiegten, von den niedergerungenen Völkerschaften geleistet. Der 
freie Mann verachtet die Arbeit, sie ist seiner nicht würdig, er liebt 
Spiel und Jagd, liebt den Krieg — aber nicht die Arbeit. Von hier 
aus scheint überhaupt die Wertung des fremden Menschenlebens ihren 
Ausgang zu nehmen. Im Anfang, wenn ein Stamm über den anderen 
den Sieg erringt, dann wird von dem Lande Besitz ergriffen, und 
alles, was nicht schon vorher in ehrlichem Kampfe gefallen oder was 
nicht vorher geflüchtet ist, wird niedergemacht, getötet. Erst mit 
dem Moment, wo das Herrenvolk sieht, daß es die Kräfte der Unter- 
worfenen nutzen kann, daß der Mensch einen Wert als Arbeitsmotor. 
darstellt, wird der gefangene Feind geschont, man läßt ihm das Leben, 
damit er arbeite, arbeite für den Sieger: ein ungeheurer Kultur- 
fortschritt, der sich hier abspielt. Aber von nun an rührt der An- 
gehörige der Oberschicht keinen Finger mehr zur Arbeit, die Wert- 
schätzung der Arbeit sinkt. Im Mittelalter gilt dies noch in fast un- 
verändertem Maße, an den Höfen der Fürsten und in den Schlössern 
der Ritter kennt man keine ernste Betätigung, die Zeit wird mit Spiel 
und Jagd, mit Liebe und Gelagen zugebracht. Reicht das, was der 


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Stern: Die Entwicklung des Berufsproblems. 189 


eigene Hof liefert, nicht aus, so macht man sich zum Raub auf. 
Allem Gelderwerb, dem Leben von seiner Hände Arbeit haftet ein 
Schein von Niedrigkeit, von Verächtlichkeit an; je mehr ein Beruf 
dem Gelderwerb dient, um so schlimmer, und um so leichter bringt 
man es über sich, dem Kaufmann auf der Landstraße aufzulauern 
und ihn auszuplündern. Noch heute finden wir in gewissen Kreisen 
im Osten Deutschlands eine sehr niedrige Ansicht vom Gelderwerb. 
Der Großgrundbesitzer, der — um ein Schlagwort zu gebrauchen — 
Junker will ein standesgemäßes Leben führen; die Mittel dazu will 
er aus seinen Gütern ziehen, deren Bearbeitung er dem Gutsverwalter 
überläßt. Und darum erfreut sich wohl auch in diesen Kreisen der 
Offiziersberuf noch einer so ungemein großen Wertschätzung und der 
Kaufmannsstand einer solchen Mißachtung. Im wesentlichen hat sich 
aber hier doch eine Wandlung vollzogen; nur langsam, allmählich 
hat die Wertschätzung der Arbeit zugenommen, und es waren wohl 
hauptsächlich die Einflüsse christlicher-puritanischer Ideenkreise, welche 
diese Änderung anbahnten. 

Arbeit also war im Anfang der Kultur Sache der Unterdrückten, 
sie ist auch im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit fast ausschließ- 
lich noch Sache des Bürgers und Bauers. Überspringen wir mit 
einem gewaltigen Schritt die Zeiten, und suchen wir uns ein Bild 
der Berufsgliederung und Berufsverfassung im achtzehnten und zu 
Beginn des 19. Jahrhunderts zu verschaffen, wobei wir vor allem die 
Frage in den Vordergrund stellen wollen, wie jemand zu seinem Beruf 
kommt, was ihn dazu veranlaßt, gerade diesen Beruf zu ergreifen. 
In dem Zeitraum, den wir hier betrachten, war die Gliederung der 
Gesellschaft eine durchaus ständische, wenigstens in Deutschland, das 
wir in erster Linie hier berücksichtigen. Die überwiegende Mehrzahl 
seiner Bewohner lebte noch von der Landwirtschaft, Ansätze zu einer 
Großindustrie fanden sich nur ganz vereinzelt — ich erinnere z. B. 
an die von Friedrich dem Großen sehr begünstigte Seidenfabrikation 
—, aber im wesentlichen vollzog sich die gesamte Produktion noch 
im Rahmen der handwerksmäßigen Produktion. Das Handwerk bildet 
einen in sich geschlossenen Stand, dem anzugehören eine Ehre ist, 
und dem man sich nur schwer neu anschließen kann. Das Prinzip 
des Handwerks ist nicht übermäßiger Gewinn, sondern der Broterwerb, 
das Handwerk soll seinen Mann nähren, und das tat es auch. Damit 
aber ein jeder zu leben hatte, mußte der Einzelne sich bescheiden, 
kein Meister durfte mehr als eine bestimmte Zahl von Gesellen und 
Lehrlingen halten, er durfte seinen Betrieb nicht nach Belieben er- 
weitern, in der Anschaffung der Produktionsmittel waren ihm Be- 


190 A. Abhandlungen. 





schränken auferlegt. Der Meister stellte ein Stück, z. B. ein Paar 
Schuhe, von Anfang bis zu Ende fertig her, er kannte den Kunden, 
für den er arbeitete, er war mit seinem Erzeugnis verbunden. Er 
war Produzent und Händler zugleich, er war am Werk selbst ebenso 
interessiert wie an seinem Verkauf, am Verdienst. Aber der Einfluß 
der Zunft erstreckte sich nicht nur auf die eigentliche Arbeit, in sein 
ganzes Leben griff sie regelnd ein, sie schrieb ihm vor, welches Wirts- 
haus er besuchen dürfte, aus welchem Kreise er seine Frau nehmen 
müßte und vieles andere noch. 

Wie kam nun der Handwerker zu seinem Beruf? Von einer 
Berufswahl im eigentlichen Sinne kann man bei ihm nicht sprechen. 
Nicht Neigungen und Fähigkeiten gaben den Ausschlag, sondern die 
Geburt: in der Hauptsache war der Beruf erblich. Das Kind wächst 
in den Beruf seines Vaters hinein und ist damit der Berufswahl über- 
hoben. Aber schon verlangen die einzelnen beruflichen Verrichtungen 
eine gewisse besondere Ausbildung, ein Können, und das erwirbt der 
Lehrling von seinem Meister, einen anderen Weg gibt es nicht. Ist 
der Lehrling anstellig und der Meister geschickt, dann wird er es zu 
einem brauchbaren, geschickten Handwerker in seinem Fache bringen. 
Noch beruht alles Können auf einem Übertragen von Person auf 
Person, noch werden gewisse Geheimnisse der Herstellung ängstlich 
gehütet, die Arbeit ist noch eine durchaus persönlich-individuelle. 

Der Mensch war also nicht frei in der Wahl seines Berufes, es 
war vielmehr von vornherein über ihn und sein Schicksal bestimmt. 
Aber dafür war auch seine Existenz eine gesicherte. Der Lehrling 
wußte, daß er nach ein paar Jahren Geselle und dereinst einmal 
Meister werden würde. Geselle und Meister standen auf der gleichen 
sozialen Stufe, die Kluft, welche heute Arbeiter und Unternehmer 
voneinander trennt, klaffte noch nicht zwischen ihnen. Damit war 
über die Möglichkeit des Fortkommens entschieden: es gab keinen 
Aufstieg in andere Schichten, dafür aber war das Emporkommen 
innerhalb des Standes, aus dem man herausgewachsen war, sicher. 

Da kam die große Revolution und räumte, zunächst in Frank- 
reich, mit allen Vorrechten auf, riß alle hemmenden Schranken nieder, 
jeder konnte sich dem Berufe zuwenden, dem er sich zuwenden 
wollte. Der einzelne Mensch wurde frei in seinen Enrtschließungen. 
Langsam verbreiteten sich die Ideen der Freiheit von Frankreich aus 
über das übrige Europa. In Deutschland bestanden diese Schranken 
noch um die Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert, 
und erst in diesem haben sich die großen Wandlungen vollzogen, die 
zur Freiheit in der Berufswahl führten. Noch im Beginn des neun- 


Stern: Die Entwicklung des Berufsproblems. 191 





zehnten Jahrhunderts war Deutschland vorwiegend ein agrarisches 
Land, etwa zwei Drittel der Bevölkerung lebten von der Landwirt- 
schaft. Von Großindustrie war kaum die Rede, die Produkte wurden 
fast ausschließlich von handwerksmäßigen Organisationen hergestellt. 
Noch war der Sohn durch das Gewerbe seines Vaters gebunden, noch 
gab es keine persönliche Freiheit. Über die Erziehung entschied der 
Beruf, über den im voraus schon die Geburt bestimmt hatte. Aber 
auch hier fielen die Schranken, doch mit diesen auch die Stützen 
und der Halt, den sie geboten hatten. Es gab keine Beschränkung 
mehr, wieviel Gesellen ein Meister halten, wieviel Webstücke er be- 
nutzen durfte; es gab keine Beschränkung mehr, in welchem Gewerbe 
jemand ausschließlich seinen Lebensunterhalt verdienen durfte. Der 
Einzelne konnte beginnen, was er wollte. 

Aber nicht nur der Bürger wurde frei, auch der Bauer bekam 
die Freiheit. War er bisher in Erbuntertänigkeit an den Gutsherrn 
gefesselt, mußte er einen großen Teil des Jahres ihm seine Dienste 
leihen, durfte er nicht die Scholle, an die er gebunden war, verlassen, 
wenn es ihm beliebte, ward er auch in seiner Eheschließung vom 
Gutsherrn bevormundet: jetzt wurde die Leibeigenschaft aufgehoben, 
den Bauer fesselte kein Gesetz mehr an den Boden, auf dem seine 
Väter gelebt und gewirtschaftet hatten, er bekam seine persönliche 
Freiheit. Aber für gar viele war es ein Danaergeschenk, das man 
ihnen bot. Wohl war auch dem Bauer die Möglichkeit der Entfaltung 
gegeben, allein mit der Lösung der Bindungen verlor er auch den 
Schutz und den Halt. Das bischen Land, was man ihm ließ, reichte 
nicht aus, nur ihn zu ernähren, Geld besaß er nicht, und so nahm 
er es willig vom Gutsherrn, dem er früher zu Eigen gehört hatte, 
und der ihn nun auskaufte. Damit gab er die letzten Fäden, die ihn 
banden, aus der Hand, aus dem Bauer wurde der Landarbeiter, der 
zwar frei wählen konnte, wem er dienen wollte, aber der dazu ver- 
urteilt war, ewig zu dienen. Viele trieb es vom Lande fort in die 
Stadt, wo die Löhne höher, die Arbeitsgelegenheit reichlicher war und 
Vergnügungen in größerer Menge sich boten. Aus dem Landarbeiter 
wurde der Fabrikarbeiter, wurde die industrielle Reservearmee. 

Auch der Bürger wurde ja nun frei. Der Zunftzwang bestand 
nicht mehr, es gab keine Beschränkungen mehr über die Ausdehnung 
der Betriebe. Damit wurde die Bahn frei für die Entwicklung der 
industriellen Unternehmungen. Das Handwerk verlor an Bedeutung 
und an Wertschätzung. Auch aus den Scharen der Handwerker 
strömten immer mehr der Fabrik zu, was wollte der Handwerker auch 
beginnen, die Fabrik lieferte die Produkte, die er ehedem in mühsamer 


192 A. Abhandlungen. 





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Handarbeit und langer Zeit verfertigt hatte, rascher und wesentlich: 
billiger als er. Die Fabrik sog ihn förmlich auf; die Lohnarbeiter- 
schaft wuchs an Zahl. War der Einzelne früher gezwungen gewesen, 
im Rahmen eines bestimmten Handwerks sein Brot zu verdienen, so 
wußte er doch, daß er es hierin vom Lehrling zum Gesellen, und 
vom Gesellen zum Meister bringen würde. Jetzt war der Mensch 
frei, aber diese Freiheit gab ihm nur die Möglichkeit, seine Arbeits- 
stätte zu wählen — doch er mußte Arbeiter bleiben. 

Nicht mehr standen Arbeiter und Unternehmer auf der gleichen 
sozialen Stufe wie ehedem Meister und Geselle, eine tiefe, unüber- 
brückbare Kluft trennte sie, die zu überspringen fast unmöglich war. 
Zum Unternehmertum gehörten Mittel, die dem Arbeiter fehlten. Was 
er verdiente, das verbrauchte er, um sein Leben fristen zu können, 
und selbst wenn er Ersparnisse machte, so waren diese doch viel zu 
gering, um ihm den Aufstieg zur Selbständigkeit zu ermöglichen. 
Aber auch psychisch sind die Ansprüche ganz verschieden. Zum 
Handwerker, zum selbständigen Meister gehört Geschicklichkeit und 
guter Wille, zum Unternehmer Gewandtheit, Kombinationsvermögen, 
Führergeist. 

Dazu kam die ständig zunehmende Differenzierung der Arbeit. 
Der Handwerker war Produzent und Händler zugleich, jetzt trat eine 
reinliche Scheidung ein zwischen dem Produzenten und dem Kauf- 
mann. Der Handwerker stellte noch das Erzeugnis vollständig her, 
er bearbeitete das Material mit der Hand und den wenigen Werk- 
zeugen, die ihm zur Verfügung standen. Die Arbeit hing von seinem 
persönlichen Können ab. Jetzt wird die Arbeit versachlicht, an die 
Stelle des Könnens, das jeder nur durch Erfahrung sich aneignen 
kann, tritt das Wissen, das erlernbar ist; an die Stelle der Hand und 
des Werkzeugs tritt die Maschine. Damit geht eine ungeheuere 
Wandlung vor sich. Einmal zerfällt nun die Arbeit in eine Summe 
von Teilprozessen, die der wechselnden, fortschreitenden Technik in 
immer höherem Maße angepaßt werden. Der biedere Schuhmacher 
von anno dazumal muß es sich gefallen lassen, wenn sein einziges 
Gewerbe heute in über 50 Teilberufe zerfällt. Damit verliert aber 
die Arbeit an Interesse und Reiz. War früher der Handwerker mit 
seiner ganzen Persönlichkeit an der Arbeit beteiligt, trug sie sein 
individuelles Gepräge, hauchte er ihr seine Seele ein, so wird heute 
das Erzeugnis zwar wesentlich exakter, aber unindividuell. War er 
früher mit der Arbeit und dem Produkt, das er aus dem Rohstoff 
erzeugt hatte, verbunden, so kennt der Arbeiter heute das fertige 
Produkt kaum mehr, und was kann den mit seiner Arbeit seelisch 


Stern: Die Entwicklung des Berufsproblems. 193 


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verknüpfen, der jahrelang nichts tut als immer wieder mit der 
»Allianzdoppelsteppstichsohlennähmaschine« Sohlen unter Stiefel näht? 

Aber ein anderes tritt dafür ins Spiel. So sehr dieser Teil der 
Arbeit entseelt, entgeistigt wird, so sehr werden andererseits geistige 
Energien wieder von einem anderen Teil der Arbeit gefordert und 
gebunden. Der Hand- und Maschinenarbeiter lebt und zehrt vom 
Geiste des Technikers, des Konstrukteurs, des disponierenden Groß- 
kaufmanns. Waren früher, weil es diese beruflichen und sozialen 
Unterschiede nicht gab, alle Menschen geistig mit ihrer Arbeit ver- 
bunden, so verschiebt sich dies nun, es bilden sich im wesentlichen 
2 große Gruppen: die einen leisten die geistige Arbeit, gleichsam in 
konzentriertester Form, denken über neue Möglichkeiten, entwerfen, 
konstruieren, sie bilden gleichsam das Gehirn des ganzen Arbeits- 
prozesses; die andern, das sind die Lohnarbeiter, verrichten mechanisch 
ihr Werk, im wesentlichen kommt es für sie darauf an, daß sie eine 
gewisse manuelle Geschicklichkeit und Anpassungsfähigkeit, eine be- 
stimmte Einstellung der Aufmerksamkeit mitbringen, der höheren 
geistigen Funktionen bedürfen sie nicht, und wenn sie ihnen von 
Haus aus verliehen sind, so liegen sie brach, veröden, lassen den 
Menschen das stumpfe, trostlose seiner Lage erkennen, aus der es 
kein Heraus, kein Empor ist. Schon diese Überlegung zeigt, und 
darauf werden wir dann später wieder zurückkommen müssen, daß 
es schon einen Aufstieg bedeutet, wenn es uns gelingt, die Zahl derer 
zu vermehren, die geistig am technischen und wirtschaftlichen Leben, 
an der Arbeit beteiligt sind. Und das sind nicht nur die Akademiker, 
die Juristen, Mediziner, Philologen, auch von dem Techniker gilt dies, 
und es wäre verfehlt, unter Aufstieg nur den Übergang in die aka- 
demischen Berufe zu verstehen. Was zu erstreben ist, ist nur, einer 
möglichst großen Zahl von Menschen, in denen geistige Anlagen 
schlummern, dazu zu verhelfen, daß sie von jener dumpfen, stumpfen 
Tätigkeit befreit werden und ihre Kräfte nutzen können. Wir wollen 
sie wieder mit ihrer Arbeit verbinden, sie ihnen geistig näher bringen, 
ihnen damit den Weg, nicht allein zu einem besseren wirtschaftlichen 
Dasein erschließen, sondern den Weg zu den höheren und höchsten 
Gütern der Kultur, an denen jene untere Schicht nur einen ganz 
geringen Anteil hat. 

Der Mensch hat die Freiheit gewonnen, aber er hat die Bindungen 
verloren. Das, was seinem Leben zuvor Inhalt und Form gegeben 
hat, was ihm Rückhalt geboten, besitzt er nun nicht mehr. Er ist 
frei, aber ungebunden. Der Handwerker hatte gearbeitet, hatte Freude 
erlebt am Schaffen und Vollbringen, am Werk — der Arbeiter kennt 


194 A. Abhandlungen. 


nicht mehr das Werk, nicht die Arbeit, nur noch das Arbeiten. Für 
ihn ist die Arbeit nicht mehr Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck, 
um leben zu können. Damit verliert aber das Leben seinen festen 
Punkt, die Arbeit wird zur seelenlosen Sache, während sie vorher 
vom Geiste des Menschen belebt war. Aber der Geist und die Seele 
lassen sich — glücklicherweise nicht unterdrücken, und so sucht der 
Mensch heute seine Zuflucht in anderem, und der Arbeiter findet 
sie in der sozialen Klasse. Der Beruf hat die gesellschaftbildende 
Kraft, die er ehedem gehabt hatte, verloren, an seine Stelle tritt die 
Klasse. 

Unter der Entgeistigung der Arbeit litt die Arbeit selbst. An 
die Stelle der Qualität trat die reine Quantität. Die Vorbedingung 
war die zunehmende Zerlegung des früher einheitlichen Arbeits- 
prozesses in eine immer größere Summe von Teilprozessen. Der 
Einzelne, der nur mehr eine bestimmte Verrichtung zu vollführen 
hat, kann diese rasch lernen, sich schnell einarbeiten, die Folge davon 
ist, daß er relativ leicht seine Arbeit zu wechseln imstande ist. Be- 
stimmte Voraussetzungen werden zumeist an ihn nicht mehr gestellt. 
So zieht er von einer Fabrik in die andere, wechselt oft mehrmals 
im Jahre die Stellung; und damit in Zusammenhang steht der Wechsel 
der Wohnung, der Arbeiter zieht von einem Haus ins andere, von 
einer Gegend in eine andere, er ist nicht mehr bodenständig; er ist 
heimxtlos und vereinsamt. Die Kinder leiden-darunter sehr, die ewige 
Umschulerei macht es ihnen unmöglich, sich an den Lehrer zu ge- 
wöhnen, sich in den Kreis der Klassengefährten einzuleben, sie finden 
keine Freunde, fühlen sich in der Schule nicht wohl, in ihrem Bil- 
dungsgang steckt keine Kontinuität mehr. 

Von einer eigentlichen Berufswahl ist hier meist nicht im ent- 
ferntesten die Rede. Kaum hat das Kind die Schule durchgemacht, 
oder besser gesagt, kaum ist es über das schulpflichtige Alter hinaus, 
so wird es in den Strudel des Erwerbslebens hineingezogen. Jeder 
höhere Beruf setzt eine gewisse Bildung, setzt bestimmte Vorkennt- 
nisse voraus. Diese sich anzueignen, erfordert nicht unerhebliche 
Mittel, und die besitzt der Arbeiter nicht, der von der Hand in den 
Mund lebt. Dazu kommt, daß die Ausbildung meist lange Zeit in 
Anspruch nimmt, so daß der Zeitpunkt, an dem die Kinder zum 
Unterhalt der Familie beizutragen imstande sind, nicht unerheblich 
hinausgezogen wird. So ist es im allgemeinen auch das Los des 
Kindes — trotz der Freiheit in der Berufswahl — wieder Arbeiter 
zu werden, weil die wirtschaftlichen Verhältnisse des Elternhauses es 
nicht gestatten, daß das Kind einen anderen Beruf wählt. 


Stern: Die Entwicklung des Berufsproblems. 195 


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Die Auflösung der alten Wirtschaftsformen hatte aber noch ein 
weiteres im Gefolge: die Auflösung der Familie, und damit das Frei- 
werden der Kräfte der Frau. Das Handwerk war noch ganz an das 
Haus gebunden, im Haus selbst befand sich nicht nur die Werkstatt, 
Lehrling und Geselle wohnten auch im Haus und waren in dessen 
Gefüge fest eingeordnet. Der Lehrling lernte nicht nur sein Gewerbe, 
er mußte auch im Hause helfen, mußte die Kinder warten. Die 
Meisterin besorgte das Haus, die Familie und Gesellen und Lehrlinge. 
Sie hatte den ganzen Tag über vollauf zu tun, wollte sie ihr Haus- 
wesen nur einigermaßen in Ordnung halten. Denn Arbeit gab es 
damals in Hülle und Fülle. Nicht nur, daß viele Lebensmittel selbst 
hergestellt, und die meisten im eigenen Hause bearbeitet wurden, es 
wurde selbst gesponnen und gewebt. Ins eigentliche Berufsleben 
griffen die Frauen kaum ein, das war Sache der Männer; es lag auch 
gar kein Anlaß dazu für die Frau vor. Der Mann verdiente genug 
zum Leben, Nahrungssorgen gab es nicht, jede heiratete, bekam Kinder, 
die sie zu erziehen hatte, besaß ein Haus, das ihre Kräfte voll in 
Anspruch nahm. Mit dem Zusammenbruch der alten Ordnung wurde 
das anders. Auf dem Lande, in der Bauernwirtschaft sind noch heute 
die Kräfte der Frau im Hause gebunden: die Mägde anzuleiten. das 
Haus zu besorgen, die Kinder zu erziehen, dem Manne zu helfen. 
Aber der Lohnarbeiter, der kein eigenes Haus mehr besitzt, der in 
einer kleinen Mietswohnung haust, der alles, was er braucht, fertig 
vom Kaufmann bezieht, was hat da die Frau noch viel zu tun? 

Die Tochter hatte früher Beschäftigung genug im Hause; vor 
allem galt es, die Aussteuer zu bereiten: die selbst gefertigte Wäsche 
bildete den Stolz des Mädchens. Heute gibt es im Hause keine Arbeit 
für das der Schule entwachsene Mädchen. Und gibt es sie, so muß 
es die jüngeren Geschwister bewachen, muß putzen und flicken, alles 
was sie nicht gern mag. Keinen Raum für sich, dabei sein, wenn 
Vater und Mutter, von der Arbeit heimkehrend, über die Not des 
Lebens klagen, einander zanken, im rauchgeschwängerten Zimmer 
sitzen oder gar der Küche, wenn das Zimmer Raum für Schlaf- 
burschen bietet; da drängt es sie fort, fort zur Arbeit, nur um den 
häuslichen Verhältnissen zu entgehen. Auch für sie gibt es nunmehr 
einen Beruf, eine Berufswahl. Die Tochter muß beitragen zum Unter- 
halt der Familie, muß verdienen helfen, und so geht sie ins Geschäft, 
in die Fabrik, in den Dienst. 

Dazu kommt, daß eine ständig wachsende Zahl von Frauen gar 
nicht zur Ehe gelangt. Auch hieran tragen die veränderten wirt- 
schaftlichen Verhältnisse zum mindesten einen Teil der Schuld. Früher, 


— [2 


196 A. Abhandlungen. 

wo der Mann innerhalb seines Kreises emporsteigen konnte und in 
der Regel emporstieg, konnte er von einem gewissen Alter an eine 
Frau ernähren. Heute vermag mancher nicht, die Mittel aufzubringen, 
um einen eigenen Hausstand zu gründen. Die Frauen leisten die 
Arbeit wie die Männer, zu billigeren Löhnen; dadurch drücken sie 
die Löhne und machen es einer Anzahl von Männern unmöglich, 
überhaupt passende Arbeit zu finden. Und so schließt sich der ver- 
hängnisvolle Kreis, einer immer steigenden Zahl von Männern wird 
das Eingehen einer Ehe unmöglich, wieder werden Frauen dadurch 
zur Arbeit und zum Erwerb gedrängt und erschweren den Männern 
das Leben. Aber selbst dann, wenn die Frauen heiraten, ist ihnen 
oft genug nicht ein ruhiges, stilles Leben am eigenen Herd beschieden. 
Der Verdienst des Mannes reicht nicht aus, das Haus nimmt die 
Kräfte der Frau nicht mehr in Anspruch, was ist da natürlicher, als 
daß die Frau mitarbeiten, mitverdienen muß. Früher waren ihre 
Kräfte ans Haus gebunden, das Haus war ihr Glück und ihr Stolz, 
jetzt wird sie ihm mehr und mehr entfremdet — ebenso wie der 
Mann seiner Arbeit. Schulter an Schulter wandern sie nun in die 
Fabrik. 

Darunter aber muß notgedrungen das Wesen der Frau leiden. 
Sie, die so gans anders, so viel feiner organisiert ist, muß nun die 
gleiche eintönige Arbeit leisten wie der Mann. Am gleichen Arbeits- 
tisch, hinter dem gleichen Schraubstock, an der gleichen Maschine 
steht die Frau, sie teilt seine Arbeit, hört seine rohen Scherze mit 
an. Wie andere, ihr fremde Motive treten da in ihr Leben ein, wie 
vieles an Edelem und Schönem wird da in ihr erstickt, um wieviel 
roher wird sie, und wieviel verliert sie an weiblichen Reizen! Die 
Ehe gilt ihr nur noch als Versorgung, die sie — wenn auch oft nur 
vorübergehend — aus dem Berufs- und Erwerbsleben herausreißt, die 
Kinder bilden nicht mehr ihre Freude, deren Erziehung nicht mehr 
den Inhalt ihres Lebens, sie sind oft genug eine Last für sie, die sie 
ungern trägt! 

Und damit, daß die Frau die gleiche Arbeit leistet, wie der 
Mann, taucht auch in ihr der Wunsch auf, es dem Manne in jeg- 
licher Hinsicht gleich zu tun, auf allen Gebieten das Gleiche zu 
leisten. Die seelischen Kräfte, die beim Manne frei wurden und bei 
ihm zur Bildung der Klasse führten, werden auch bei der Frau frei, 
und hier suchen sie nach anderen Auswegen. Stand beim Manne im 
Vordergrunde des Interesses der Kampf um die politische Gleich- 
berechtigung, um den Aufstieg der ganzen Klasse, weil dem einzelnen 
der Aufstieg unmöglich ward, so kämpft die Frau für die Gleich- 


Stern: Die Entwicklung des Berufsproblems. 197 
berechtigung ihres Geschlechtes.. Dadurch erfährt die Familie, die 
schon unter dem Einfluß der wirtschaftlichen Verhältnisse schwer ge- 
litten hatte, eine weitere Lockerung. Die Frau ist nun nicht mehr 
an das Haus gebunden, und sie will es auch nicht sein. Die Sorge 
für die Kinder sucht sie damit loszuwerden und auf den Staat ab- 
zuwälzen. Alle die Aufgaben, welche die Mutter früher zu erfüllen 
hatte, übernimmt in immer steigendem Maße die Gesamtheit; die Er- 
ziehung hat ihren Schwerpunkt nicht mehr im Hause. Und dadurch 
geschieht noch ein weiteres: die innerliche Loslösung der Kinder vom 
Elternhaus. 

Die alten Bindungen hatten sich gelockert, die Kräfte waren frei 
geworden zu neuen. Aber wie so oft: mit den Alten, Überlebten, war 
zugleich viel Wertvolles gefallen. Mit dem Moment, wo Mann und 
Frau gemeinsam arbeiteten, wo die Frau nicht mehr an das Haus 
gebunden war, mußte — genau wie mit der Loslösung von der Zunft 
und vom Handwerk die Achtung vor diesem sank — die Wert- 
schätzung des Hauses und der weiblichen Hausarbeit leiden, und mit 
der Lockerung des Gefüges des Hauses lockerten sich die Sitten. Und 
dann, genau so, wie früher der Sohn von frühester Jugend auf zu 
dem Berufe des Vaters erzogen worden war, genau so die Tochter 
zur Arbeit der Mutter, der Hausfrau. Und wie jetzt der Sohn frei 
war und für ihn kein Zwang mehr bestand, dem Vater zu folgen, in 
gleicher Weise bestand für die Tochter, die frei sein, dem Hause ent- 
wachsen wollte, keine Veranlassung mehr, sich mit den häuslichen 
Verrichtungen und Pflichten zu befassen. Heiratete sie, so stand sie 
oft genug vor Aufgaben, die ihr völlig fremd waren und die zu er- 
füllen sie nicht imstande war. 

Und anfangs nichts, was den Menschen so recht erfüllte, keine 
neuen Ideale, die er an Stelle der alten, gefallenen zu setzen hatte. 
Der Mensch hatte die Freude an der Arbeit verloren, er hatte sein 
Heim, sein Haus eingebüßt. Was ist das noch für ein Leben! Acht, 
neun Stunden im staubigen, heißen Arbeitssaal, hinter der Maschine, 
eintönig tagaus tagein, vom Morgen bis zum Abend immer den gleichen 
Handgriff, die gleiche Verrichtung. Und wenn der Tag zu Ende geht, 
und die Fabrik ihre Tore öffnet, wenn der Mann müde, matt, miß- 
mutig nach Haus kommt, dann begrüßt ihn nicht mehr die treusorgende 
Gattin, es umfängt ihn nicht des Hause Friede wie ehedem. 

Kein eigenes Haus mehr, nur eine kleine, enge Mietswohnung 
in übervölkerter Gegend. Man ist nicht mehr mit den Seinen allein, 
aus der Wohnung der Nachbarn dringt Stimmengewirt, dringt Zank 
und Streit, Schlafburschen teilen die eigenen Räume. Nur wenige 

Zeitschrift für Kinderforschung. 25. Jahrgang. 14 





198 A. Abhandlungen. 

Minuten vor dem Manne ist die Frau heimgekehrt, um das dürftige 
Essen zu richten. Nirgends fühlt sich der Mensch recht heimisch, 
ein Gefühl der Vereinsamung überkommt ihn inmitten der vielen 
Menschen. Arbeit und Elend; — und dabei keine Aussicht, daß es 
jemals im Leben anders wird, oder daß den Kindern ein besseres Los 
beschieden sein kann! Muß der Mensch da nicht verzweifeln! 

Aber schon mit dem Gedanken rinnt neues Leben durch seine 
Adern, es kann ja nicht so bleiben, es muß ja anders, besser werden. 

Was dem Einzelnen heute versagt ist, vielleicht kann es die Ge- 
samtheit aller Gleichen morgen erreichen! Und so kommt der Zu- 
sammenschluß der sozialen Klasse, die nun gesellschaftbildende Kraft 
von ungeahnter Mächtigkeit gewinnt. Die Schranken der personalen 
Bedingung und Abhängigkeit sind gefallen, auch die Wirtschaft und 
der Politik sollen es — Gleichheit — Gleichheit, das ist der Ruf, der 
sich erhebt und sich unzähligen Kehlen immer wieder entringt. Alle 
Unterschiede sollen schwinden, alle in gleichem Maße an den Produktiv- 
kräften beteiligt sein. Der Unterschied zwischen Arbeiter und Unter- 
nehmer soll fallen, alle sollen gleich sein, alle. Ja Gleichheit! 

Aber an dieser Stelle schon erhebt sich der Widerspruch. Ist 
denn so eine Gleichheit möglich? Da müßten erst die Menschen alle 
die gleiche Veranlagung haben, es dürfte nicht kluge und dumme, 
nicht fleißige und faule, nicht sparsame und verschwenderische geben. 
So lange es Menschen gab und solange es Menschen geben wird, 
haben sie sich, der eine vom anderen, unterschieden. Nicht ein 
Mensch gleicht dem anderen, wie ein Blatt nicht dem anderen gleicht. 
Und diese natürlichen Unterschiede kann keine Kunst, keine Be- 
wegung, und mag sie noch so gewaltig sein, auswischen. Darum ist 
alle Gleichmacherei eine Utopie! Wenn heute alle Menschen in 
die gleichen Bedingungen gebracht werden würden, morgen würde 
die Ungleichheit wieder da sein. 

Es wird immer so sein, daß die einen Handlangerdienste leisten 
müssen und nur leisten können, während die anderen Führer sind. 
Eine ganz andere Frage ist es, ob die Ungleichheit, die heute besteht 
durch die natürlichen Unterschiede der Veranlagung der Menschen 
bedingt ist, oder ob nicht andere, fremde Faktoren die Ursache sind. 
Und damit sind wir an dem Punkte angelangt, von dem die Bewegung, 
über die wir hier handeln wollen, ihren Ausgang nimmt. 

Die Ursachen für die bestehende Ungleichheit liegen in erster 
Linie in unserer Wirtschaftsorganisation. Waren früher in erster 
Linie die Vorrechte der Geburt maßgebend, so sind es — neben 
diesen, heute noch immer fortbestehenden — jetzt die der wirtschaft- 


Stern: Die Entwtcklung des Berufsproblems. 199 


lichen Lage. Höhere Berufe erfordern eine höhere Bildung, eine 
bessere, längere und gründliche Ausbildung. Und die setzen einmal 
Verständnis von seiten der Eltern voraus, dann aber vor allen die 
erforderlichen Mittel. An Stelle der alten Unterschiede sind neue 
getreten, aber gleich schwer zu überbrücken. Zwar sind die Grenzen 
keine absoluten mehr; immer gelingt es einigen, aus ihrer Schicht 
emporzusteigen und in die höhere und höchsten hinaufzurücken. Aber 
es sind doch immer nur einige wenige, denen dieser Aufstieg gelingt, 
nur um verschwindende Ausnahmen handelt es sich; die große Masse 
bleibt in ihrer Schicht, und es gelingt ihr nicht, sich daraus zu er- 
heben. 

Noch etwas anderes spricht mit: das ist die verschiedene Wertung 
der Berufe. Noch immer sieht der Offizier in dem Nichtoffizier etwas 
Minderwertiges, noch teilt er den alten Standesdünkel von vor hundert 
Jahren, noch sieht der Kaufmann im Offizier nur den Nichtstuer, der 
sich nicht selbst zu erhalten vermag und ewig dem Vater auf der 
Tasche liegt. Der Akademiker blickt herab auf den Kaufmann, der 
mit geschäftlichen Transaktionen sein Geld verdient, der Jurist dünkt 
sich vornehmer als der Mediziner. Vor allem aber wird jede Körper- 
arbeit verachtet. Sie gilt als etwas Geringes, etwas Unreines erscheint 
ihr anzuhaften. Vom Arbeiter meint daher der Mann der oberen 
Kreise sich fern halten zu müssen. Und er vergißt, daß die Arbeit 
notwendig ist, und daß es unsere Gesellschaftsform ist, die jene in 
ihrer Schicht hält und ihren Aufstieg hemmt. Und niemand überlegt 
und — selbst wenn er es weiß — richtet sein Handeln danach ein, 
daß alle Berufe gleich notwendig für das Leben und Gedeihen der 
Gesamtheit sind. Der Künstler blickt auf den Gelehrten, der Gelehrte 
auf den Künstler, der Theoretiker blickt herab von hoher Warte, auf 
den Praktiker, und der Praktiker auf den Mann der Theorie, und 
keiner überlegt, daß Theorie und Praxis verschiedene Arten sind, sich 
mit der Wirklichkeit abzufinden, ihr gegenüberzutreten, daß eine ohne 
die andere unmöglich ist, daß sich beide ergänzen. Die verschiedene 
Wertschätzung der Berufe ist noch ein Überbleibel längst ent- 
schwundener Zeiten, Damals, als Macht alles war und der Krieg die 
einzige des freien Mannes würdige Beschäftigung, damals mußte auch 
der Beruf des Kriegers als der erste und höchste gelten, und aus 
diesen Zeiten schreibt unser Offiziersberuf seine alles überragende 
Wertschätzung. Und wenn in katholischen Gegenden dem Pfarrer 
eine besondere Ehrfurcht entgegengebracht wird, so entstammt diese 
letzten Endes dem Mittelalter, der Zeit, wo die Kirche den denkbar 


gewaltigsten Einfluß hatte und unumschränkter Herr war, nicht über 
14* 


200 A. Abhandlungen. 





die Gemüter der Niedrigen, sondern auch über Könige und Fürsten. 
Der protestantische Theologe hat diese Wertschätzung seines Amtes 
in den Kreisen seiner Gläubigen nie gefunden, weil die Entwicklung, 
die Geschichte nicht hinter ihm steht. Für das Leben aber, das 
warme, ewig pulsierende Leben sind alle Berufe von gleichem Wert 
und von gleicher Bedeutung. 

Die Menschen sind verschieden veranlagt, nur wenige ragen 
durch ihre Begabung hervor, sind zu Führerstellen berufen, die breite 
Masse wird sich ihnen immer anvertrauen müssen. Und doch spielen 
auch in ihr die besonderen persönlichen Fähigkeiten eine große Rolle, 
was den einen reizt und anzieht, das läßt den andern kühl und stößt 
ihn ab: sein Bestes leisten, wahre Werte schaffen wird auch der Be- 
fähigte nur auf dem Gebiet können, für das er sich erwärmt, das ihn 
begeistert, anregt, für das er geschaffen ist. Dabei wird es sich beim 
Schaffen nicht nur darum handeln, daß einer die erforderlichen in- 
tellektuellen Fähigkeiten mitbringt, affektive Momente, Willens- und 
Charaktermomente spielen eine mindestens gleich große Rolle. Was 
sind die besten Geisteskräfte, wenn ihr Träger nicht die Energie und 
den Willen hat, sie zu nutzen und zu verwerten! Aber den indivi- 
duellen Verschiedenheiten muß in ganz anderer Weise wie bisher 
Rechnung getragen werden. Jedem, der die erforderlichen Eigen- 
schaften besitzt, muß — gleich ob er der Sohn eines Arbeiters und 
einer Magd oder der Sohn hochgestellter, begüterter Eltern ist, — 
Gelegenheit geboten werden, die in ihm schlummernden Anlagen zu 
entfalten. Nicht die Geburt, nicht das Vermögen der Eltern darf den 
Ausschlag geben, sondern die eigene Leistung, die zu fördern Aufgabe 
des Staates ist. Dabei muß sich immer mehr der Gedanke der Gleich- 
wertigkeit aller Anlagen, Kräfte, Betätigungen durchsetzen. Das erst 
ist wahre Gleichheit, die auf die natürlichen Unterschiede zwischen 
den Menschen Rücksicht nimmt, ihnen Rechnung trägt, die jedem 
das zumutet, was er zu leisten vermag. Dann wird sich auch die 
Überzeugung immer mehr durchsetzen, daß Anlagen und Fähigkeiten 
nicht nur Vorzüge sind, sondern auch ihren Trägern Pflichten auf- 
erlegen, ihre Kräfte zu nutzen und zum Wohle der Allgemeinheit zu 
entwickeln. 

Dabei kann es sich aber immer nur bei den ganz besonders Be- 
fähigten, die wirklich dazu berufen sind, dereinst Führer der Nation 
zu sein, um einen Aufstieg aus ihrer kleinen Klasse handeln; nur 
bei ihnen soll man den großen Sprung aus der Unterschicht un- 
mittelbar in die Oberschicht wagen. Die anderen hebe man nicht ohne 
weiteres aus ihrer Klasse heraus, sondern fördere den langsamen Auf- 


Stern: Die Entwicklung des Berufsproblems. 201 





‘O 


stieg, der sich in verschiedenen Generationen vollzieht, damit die An- 
passung eine vollkommene werde und wir kein geistiges Parvenutum 
züchten! Innerhalb jeder Klasse ist ein Empor möglich, auch hier 
sind die sozialen Unterschiede noch groß genug. Welche breite Kluft 
trennt zum Beispiel den Gelegenheitsarbeiter, der heute hier und 
morgen dort Handlangerdienste verrichtet, und gelegentlich wohl auch 
auf der Landstraße herumwalzt, von dem organisierten Facharbeiter, 
und diesen wieder von dem Meister, der doch auch aus dem Kreise 
der Arbeiter hervorgegangen ist. Also selbst im Rahmen der eigenen 
Klasse gibt es einen Aufstieg, und diesen zu verwirklichen, das muß 
das erste Ziel sein. Der Sohn findet dann gewiß leichter den Weg 
auf die nächste Sprosse, auf der dann schon der Enkel sich heimisch 
fühlt. 

Aber nicht nur um den sozialen, wirtschaftlichen Aufstieg handelt 
es sich, der kulturelle darf darüber nicht vergessen werden. Welchen 
Anteil haben heute die niederen Kreise an den Errungenschaften der 
Kultur, was wissen sie von Wissenschaft und Kunst? Hier gilt es 
vor allem, die Hebel anzusetzen, ihnen den Blick zu öffnen für das 
Erhabene und Schöne, dessen es im Leben genug gibt, ihnen zu 
zeigen, daß sich über der Welt des Alltags eine andere Welt erhebt, 
zu der es einen Zugang gibt für den, der ihn sucht. Wer die edelen 
Vergnügungen erst einmal schätzen gelernt hat, der wird für immer 
auf alles Niedrige und Gemeine mit Verachtung herabblicken, in dem 
wird selbst ein heißes Verlangen wach werden, aus diesem Quell zu 
schöpfen, aufzusteigen! Und er wird versuchen, in seinen Kindern 
seine Träume, sein Streben Wirklichkeit werden zu lassen. Langsamer, 
aber sicherer und ausgeglichener vollzieht sich dieser Aufstieg, er er- 
streckt sich über mehrere Generationen, aber die neue Generation ist 
in ihrem neuen Kreise nicht fremd, sondern in ihn hineingewachsen. 
Am empfänglichsten ist die Jugend, ist der werdende Mensch, der 
noch, die Brust voller Ideale, in die Welt hinausstürmt, das Alter ist 
kühl, ihm fehlt die Begeisterung. An der Jugend fange daher die 
Arbeit an, wenn sie etwas erreichen will. Nur in diesem Zusammen- 
hange gewinnen die Probleme der Jugendbildung und der Berufs- 
beratung Bedeutung und Wert. Nur dann, wenn sie an Stelle ver- 
lorener Ideale neue zu setzen vermögen, dem Menschen wieder einen 
festen Halt zu geben, wenn sie die Arbeit wieder in den Mittelpunkt 
des Lebens stellen, sie wieder mit neuem Geiste erfüllen können, 
dann, und nur dann werden sie zum Aufstieg der Menschheit führen. 


202 A. Abhandlungen. 


2. Pädagogische, didaktische und logopädische Winke 
für Lehrer an Sonderklassen für sprachkranke Kinder. 
Von 
Karl Cornelius Rothe, Volksschullehrer in Wien. 


I. Sonderklassen für sprachkranke Kinder. 


Da die Sprache unser wichtigstes Ausdrucks- und Bildungsmittel 
ist, so leidet das sprachkranke Schulkind ganz besonders durch seine 
Sprachstörung. Hohn und Spott treffen es seitens der Mitschüler. 
Vom Lehrer wird allzuleicht ein Schweigen aus Angst, sich sprach- 
lich zu »blamieren«, als Nichtwissen gedeutet. So nimmt es am 
Unterrichte nicht in dem Maße teil, als es könnte, erreicht daher 
nicht jene Bildungserfolge, die es durch seine Intelligenz, seinen 
Fleiß, seine Aufmerksamkeit erzielen könnte. Auch der sprachkranke 
Erwachsene ist vielfach geschädigt und steht selbst gegen minder- 
fähige Mitbewerber zurück. Die Schule hat daher auch die Pflicht, 
sich des sprachkranken Kindes anzunehmen. Sonderklassen für 
sprachkranke Kinder hat u.a. schon R. Denhardt!) befürwortet und 
verlangt, daß die Zahl der Schüler einer Klasse verhältnismäßig klein 
bemessen werde. O. Hausdörfer?) betont den Wert der Sonder- 
klassen für stotternde Kinder deshalb, weil sich das stotternde Kind 
unter Leidensgefährten ruhiger und freier fühle, weil es hier kein 
Zielpunkt des Spottes sei, dann weil das Stottern durch Nachahmung 
erworben werden kann, es also auch im hygienischen Interesse der 
gesunden Kinder liege, wenn beide getrennt werden. 

Sonderklassen für sprachkranke Kinder wurden neuerdings in 
Wien und in Hamburg gleichzeitig und unabhängig voneinander er- 
richtet.) Erfreulicherweise ist nun das Augenmerk der Schulbehörden 


1) R. Denhardt, Das Stottern, eine Psychose. Leipzig, E. Keils Nachfolger, 
1890. S. 274, 275. 

?) O. Hausdörfer, Durch Nacht zum Licht! Warum stottere ich, trotzdem 
meine Sprachorgane gesund sind? Breslau, Selbstverlag, 1905. S. 181. 

3) K. C. Rothe, Sonder-Elementarklassen für sprachkranke Kinder. München, 
F. Seybold, 1914. — Ders., Das erste Jahr in der Sonder-Elementarklasse für 
sprachkranke Kinder. Monatsschrift für Ohrenheilkunde und Laryngo - Rhinologie. 
Heft 2/3. Wien, Urban & Schwarzenberg, 1915. — W. Carrie, Die Bekämpfung 
des Stotterns in der Schule. Pädagog. Reform. Heft 15. 1914. — K.C. Rothe, 
Sonderschulen für sprachkranke Kinder. Österr. Schulzeitung. Wien, 6. Mai 1915, 
Nr. 9. — Ders., Zur plastischen Kunst des Kindes. Blätter für den Abteilungs- 
unterricht. Folge 134. Laibach 1915. — W. Carrie, Sonderklassen für sprach- 
kranke Schulkinder. Heft 131 der Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung. 


Rothe: Pädagogische, didaktische und logopädische Winke für Lehrer usw. 203 





und Schulerhalter in steigendem Maße für die Sonderklassen gewonnen 
und Aussicht vorhanden, daß in kürzerer Zeit an verschiedenen Orten 
Sonderklassen eingerichtet werden. Die Wiener Einrichtung beginnt 
mit der Elementarklasse, die Hamburger mit der Mittelstufe. 
Im Systeme der Sonderklassen ist und bleibt die Elementar- 
klasse die wichtigste. Und zwar aus folgenden Gründen: 

1. Jefrüher die Heilbehandlung einsetzt, desto günstiger 
sind die Erfolge. Kurse für Elementarschüler sind allerdings schwer 
durchführbar, daraus folgt aber nur die Notwendigkeit, Sonder- Ele- 
mentarklassen zu errichten. Jedes Jahr später, in dem die Heil- 
behandlung beginnt, gefährdet den Erfolg! Das Sprachgebrechen (ins- 
besondere Poltern, Stottern) setzt sich fest, Sprachangst und Menschen- 
scheu drücken die Seele des Elementarschülers noch nicht oder nur 
sehr selten nieder, anders aber, wenn während des Elementarjahres 
der Schüler durch sein Sprachleiden in dem Schulerfolge geschädigt 
wurde, 

2. In der Elementarklasse läßt sich Heilbehandlung (Therapie) 
und Unterricht so verbinden, daß das Kind nicht erkennt, was von 
den ergriffenen Maßnahmen Unterricht, Erziehung und was Therapie 
ist, insbesondere der Schreiblese-Unterricht bietet die beste 
Gelegenheit, die im Leben des Schulkindes überhaupt vor- 
kommt, die Sprache grundlegend zu beeinflussen. 

3. Die Zahl der sprachkranken Elementarschüler ist 
viel größer als gemeiniglich angenommen wird, da die An- 
fangsstadien verschiedener Sprachgebrechen nur vom Fach- 
manne erkannt werden können, so werden sie eben von den 
meisten Lehrern leicht übersehen. 


An die Sonderklassen des I. Schuljahres sind dann solche des 
II. Schuljahres anzuschließen. Die übrigen Schuljahre werden in der 
Weise angegliedert, daß auf mehrere Sonderklassen der Unterstufe je 
eine Sonderklasse der Mittelstufe, auf mehrere der Mittelstufe je eine 
der Oberstufe folgt. Wer geheilt und nicht mehr überwachungs- 
bedürftig ist, tritt in die Normalschule über, in die Hilfsschule werden 


Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1916. — K. C. Rothe, 
Sonderklassen für sprachkranke Kinder. Der Schulleiter. Wien 1916. — Ders., 
Sprachhygiene ist Volkshygiene. Österr. Schulzeitung. Wien, 26. Juni 1917, Nr. 12. 
— Ders., Über Fürsorge für sprachkranke Kinder. Zeitschrift f. das österr. Volks- 
schulwesen. Heft 5/7. Wien 1917. — Ders., Sprachkranke Schulkinder. Die 
Lehrerfortbildung. Heft 8. 2. Jahrg. Prag, A. Haase, 1917. — Ders., Die Für- 
sorge der Schule für sprachkranke Kinder. Der Schularzt. Heft 10/11. 15. Jahrg. 
Leipzig, E. Voß, 1918. 


204 A. Abhandlungen. 





jene sprachkranken Kinder abgegeben, die außer ihrem Sprachgebrechen 
auch hinreichende Intelligenzstörungen besitzen. Aus Normalklassen 
treten in die Sonderschule für sprachkranke Kinder 1. jene ein, die 
sprachkrank sind und bisher nicht in der Sonderschule waren, die 
also aus Orten zugesiedelt sind, wo keine Sonderschulen bestehen, 
2. Kinder, die rückfällig wurden, 3. jene, die ein Sprachgebrechen 


erst später erworben haben oder deren Sprachgebrechen bisher nicht 
erkannt worden ist. 


Schuljahr 1. Sprachkranke Kinder der 


y II. en Normalklassen, Hilfsschule usw. 


i A geheilt hilfsschul- 
N h 


Aus Normalklassen treten ein; 
1 
A 
3. 


Š; II. ZNicht geheilte Sprachkranke 
„ IV. fu. Überwachungsbedürftige 





= 


Nicht geheilte l 

3 VI. $Sprachkranke und x 
„ VIL | Überwachungs- 
m VHL bedürftige 


. Zugesiedelte Sprachkranke aus 
fremden Schulbezirken in denen 
Sonderklassen fehlen. 
Rückfällige Entlassene. 

Kinder mit neu erworbenen 
Sprachleiden. 


1 = 

Ein derartiges Schulsystem bürgt am besten dafür, daß die 
Sprachstörungen im Kindesalter gründlich beseitigt werden. 

Daß Kurse keinen entsprechenden Erfolg aufweisen, ist nicht 
Schuld der den Kurs haltenden Lehrer, sondern Schuld des mangel- 
haften Systemes. Bedenkt man, daß zahlreiche Kurse erst mit höherem 
Alter einsetzen — in Wien z. B. erst mit dem V. Schuljahr —, daß 
daher das Übel sich zunächst durch fünf Jahre festsetzen kann, daß 
es allerlei Schäden hervorruft (psychische Depressionen usw.), so be- 
greift man ferner, daß ein kurz befristeter Kurs nicht in 
wenigen Wochen beseitigen kann, was im Laufe der Jahre 
groß geworden. Die Hamburger Statistik!) weist ferner nach, daß 
unter 1664 im Januar in den Schulen gezählten sprachkranken Kindern 
244 waren, die bereits 1mal, 116 die bereits 2mal, 56 die 3 und 


1) W. Carrie, Statistik über sprachgebrechliche Kinder in den Hamburger 
Volksschulen (Aufgenommen im Januar 1917). Die Hilfsschule. X. Jahrg. Heft 9. 
1917. — Ders., Eine neue Statistik über sprachgebrechliche Kinder. Zeitschrift 
für Kinderforschung. 23. Jahrg. Heft 2/3. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne 
(Beyer & Mann), 1918. — Ders., Statistik über sprachgebrechliche Schulkinder in 
den Hamburger Volksschulen. (Januar 1917.) Monatsschrift f. Ohrenheilkunde und 
Laryngo-Rhinologie. 52. Jahrg. Nr. 3/4. 1918. 





Rothe: Pädagogische, didaktische und logopädische Winke für Lehrer usw. 205 
mehrmal einen Kurs besuchthatten und doch noch als sprach- 
krank gezählt werden mußten. Wenn also unter 1664 Kindern 
416 Kinder bereits erfolglos an einem Kurse teilgenommen haben 
(das sind genau 25°/, oder ein Viertel!), so ist damit doch wohl 
der Mißerfolg der Kurse eindeutig und unwiderleglich 
nachgewiesen. 

In die Sonder-Elementarklasse, die ich im Schuljahre 1913/14 in 
Wien XVII, Kartnergasse 29 (Direktor: H. Teufelsbauer) führte, 
nahm ich 30 Kinder auf, von denen während des Schuljahres 5 aus- 
schieden. Die verbliebenen 25 waren mit 41 Störungen behaftet. 


Erfolge: geheilt gebessert nicht geheilt 
Leiden: 24 14 3 
Prozent: 58,5 34,2 1,3 


Die Lernerfolge im Lesen stiegen von 
Noten: II. Quartal: III. Quartal: IV. Quartal: Proz. im IV. Quartal 


1 í 8 12 48 
2 4 6 2 8 
3 9 5 6 24 
4 2 3 1 4 
5 2 3 4 16 

241) 25 25 100 


Von diesen Sehülern befanden sich im Juni 1918 in derselben 
Schule in der 


Schüler Vorhandene Sprachstörungen 
III. Klasse 5 0 
We g 7 2 
Ye p 12 2 
in anderen Schulen 8 ? 


Von diesen vier mit Sprachgebrechen noch versehenen Schülern 
sind drei Stotterer, einer ist der seinerzeit unter Nr. 15 angeführte 
Rudolf Sch.?) Der Knabe war 1912/13 in die inoffizielle Sonder- 
klasse aufgenommen worden, machte damals durch seine überaus 
linkischen Bewegungen, durch den halbgeöffneten Mund einen imbe- 
zillen Eindruck. Er war wiederholt an Lungenentzündung erkrankt, 
hatte zweimal Masern, einmal Diphtheritis durchgemacht. Salzbäder 


1) Ein Schüler blieb ungeprüft. 
2) Vergl. K. C. Rothe, Das erste Jahr ... S. 171, 174. — Ders., Sonder- 
elementarklassen. S. 25. 


206 A. Abhandlungen. 


hoben seinen Kräftezustand. Im Jahre 1914 waren die schweren 
Atemstörungen noch immer vorhanden, am 16. Februar wurde die 
etwa walnußgroße hypertrophische Rachenmandel operativ entfernt. 
Speichelfluß und Schnarchen ließ jetzt nach. Häufige Katarrhe, später 
auch noch Keuchhusten. Trotz einer ganz bedeutenden Besse- 
rung im Gesamtzustande und auch in der Atemstörung (hier 
weniger bedeutend, aber doch deutlich vorhanden) kann dieser Knabe 
noch nicht als geheilt betrachtet werden. Der Schüler ist jetzt körper- 
lich ziemlich kräftig, lebhaft, lernt gut (Lesen im Schuljahr 1918, 
4. Quartal 1, Rechnen 1, Sprache 3, Schreiben 4). Die drei anderen 
sind die Stotterer Joh. N. (S. 171 = Nr. 14) (1918 1V. Schuljahr); 
Friedr. Hu. (S. 171 = Nr. 9) und Rud. Th. (S. 171 = Nr. 23) beide 
als sehr gute Schüler im V. Schuljahr. Joh. N. war im Schuljahre 
1913/14 als geheilt angesehen worden. Seine Rückfälligkeit ist durch 
ganz besonders ungünstige häusliche Verhältnisse hinreichend erklärt. 
Im IV. Schuljahr konnte der Schüler sowohl im I. als auch II. Quartale 
keine Beurteilung im Schulausweise erhalten, weil er fast immer ab- 
wesend war (Schulstürzer). 

Die beiden anderen Schüler waren 1914 als gebessert erklärt 
worden. Die Rückfälligkeit ist dadurch erklärt, daß sie in den fol- 
genden Schuljahren eben noch überwachungsbedürftig gewesen 
sind, der therapeutischen Überwachung aber infolge meiner Einrückung 
zum Militärdienste (1915—1918) entbehren mußten. 

Diese Erfahrungen ergeben folgendes: 

1. Stotternde Schüler bedürfen oft einer über ein Schul- 
jahr hinaus reichender therapeutischen Überwachung 
(Bestätigung der Hamburger Erfahrung). 

2. Stottern ist keinesfalls mit Intelligenzstörung regel- 
mäßig verbunden, im Gegenteil zeigen vielfach Stotterer 
eine gute und höhere Intelligenz (alte Beobachtung). 
Aber diese Beobachtungen widersprechen keineswegs 

der These, daß die Sonderklassen die derzeit beste Ein- 


richtung zur Bekämpfung der Sprachstörungen in der Schul- 
zeit sind. 


II. Der Lehrer in den Sonderklassen. 


Was nun die besondere sprachheilkundliche (logopädische) Fach- 
bildung des Lehrers für Sonderklassen betrifft, so sei nachdrücklichst 
davor gewarnt, eine oberflächliche Ausbildung als hinreichend anzu- 
sehen. Liest man manche Anleitungen zur Behandlung Stotterer, so 


Rothe: Pädagogische, didaktische und logopädische Winke für Lehrer usw. 207 


— — 


begreift man kaum, daß es überhaupt noch Stotterer gibt, denn diese 
Darstellungen lösen alle Fragen so einfach, ihnen ist die Therapie so 
einwandfrei erfolgreich — und damit beweisen sie bereits ihre geringe 
Sachkenntnis. Denn die Heilung der Sprachgebrechen ist keineswegs 
so einfach. Selbst dort, wo sie zunächst auch nach der wissenschaftlich 
einwandfreien Schilderung, wie z. B. beim Stammeln, ziemlich erfolg- 
sicher erscheint, bestehen Ausnahmen. Poltern, Stottern, Hörstummheit 
und Aphasie aber gehören zu den schwierigsten Störungen, sowohl in 
der Theorie, wie in der Therapie. Den Lehrer also mit oberflächlichem 
Wissen ausgerüstet in eine Sonderklasse stellen, heißt ihn den Miß- 
erfolgen ausliefern! Aber alle — und die beste und gründlichste — 
Vorbildung ist ohne Fort- und Weiterbildung ein Stillstand, der Rück- 
schritt bedeutet. Daher müßte es auch besondere Fürsorge der Schul- 
behörden seir, dem Lehrer durch die Einrichtung von Kursen, durch 
Bibliotheken und die Gewährung von Reisestipendien und Reise- 
urlauben zu ermöglichen, sich fortzubilden. Konferenzen und Be- 
ratungen mit Ärzten und Kollegen können viel Anregungen bieten 
auch sie seien daher empfohlen. 

Der Lehrer in der Sonderklasse fühle sich nicht nur als Erzieher 
und Belehrer, sondern vor allem als Heilpädagoge, als Helfer des 
leidenden, des kranken Kindes. 

Wenn nun diese Schrift es wagt, den noch wenig erfahrenen 
Lehrer der Sonderklassen bei seinem schwierigen Amte zu beraten, 
so geschieht es aus folgender Überlegung: Bei der Neueinrichtung 
von Sonderklassen läßt es sich oft nicht umgehen, auch Lehrer heran- 
zuziehen, die noch keineswegs jene Vorbildung in Theorie, Praxis 
und Therapie besitzen, die uns nötig erscheint. Sie — also die An- 
fänger — vor groben Fehlgriffen tunlichst im Interesse der Kinder 
zu bewahren, soweit dies durch eine kleine Schrift überhaupt möglich 
ist, erscheint daher als wünschenswert und wenn es der Verfasser 
wagt, diese Beratung zu übernehmen, nachdem er acht Jahre eifrigen 
Studiums und Forschens der Logopädie gewidmet hat,!) so geschieht 
dies nicht aus besonderer Einschätzung seiner Kenntnisse und Er- 
fahrungen, sondern aus der Erkenntnis, daß seine Erfahrungen, seine 
Wege und Irrwege anderen Nutzen bieten können. Und wenn dieser 
Nutzen auch noch so klein sei, wenn dadurch nur ein Kind vor 
falscher Behandlung bewahrt wird, wird niemand glücklicher sein als 
der Verfasser. 


1) Das Wiener Ambulatorium für Sprachstörungen (Doz. Dr. E. Fröschels) 
der Univ.-Ohrenklinik (Prof. Dr. H. Neumann) bildet Lehrer und Kindergärtne- 
rinnen unentgeltlich in der Logopädie aus, was hier dankbarst anerkannt werde. 


208 A. Abhandlungen. 


Fragen wir uns, welche Grundsätze den Lehrer in seinem 
schwierigen Amte am besten leiten werden, so muß als allererster 
die Liebe zum Kinde genannt werden. Jene menschenfreundliche 
Liebe, die helfen will, die bereit ist, dem leidenden Sprachkranken 
seine Last zu erleichtern, die langmülig, geduldig, stark und aus- 
dauernd ist, sie ist die erste Voraussetzung. Wer ungeduldig ist, 
»nervös«, wer üußerliche Erfolge anstrebt, der wende sich besser 
anderen Aufgaben zu. 

Sorgfältige Beobachtung, ruhiges Überlegen, Zurückhalten von 
voreiligen Schlüssen und Entschlüssen bezw. pädagogischen Maß- 
nahmen, aber doch kein ängstliches Schwanken, dies alles sind Eigen- 
schaften, die dem Lehrer sehr notwendig sind. Bei seiner Vorbereitung 
für seine Tätigkeit wird ihm das Einleben in den Gedankenkreis der 
Stoischen Philosophie wertvoll sein.!) Er lese daher die Haupt- 
werke der Stoa sowie verwandte ethische Literatur.?2) Sprachkranke 
bedürfen vielfach des Seelentrostes. Diesen kann nur geben, wer 
selbst ein Charakter ist, wer die Seele des Menschen versteht. Ein- 
gehende Kenntnisse aus der Psychologie sind daher ebenfalls un- 
erläßlich.®) Aber des Kindes Seele ist als eine noch werdende Seele 
anders geartet, daher ist die Jugendkunde oder Pädologie sowohl 
der normalen als anormalen Kinder kennen zu lernen.) Über die 

!) Vergl. K. C. Rothe, Die Stoische Philosophie als Mittel psychischer Be- 
einflussung Stotterer. Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. 
Bd. XXXVI. Heft 1/2. Berlin, Springer, 1917. — Ders., Die Bedeutung der 
Stoischen Philosophie für die Pädagogik der Gegenwart. Pädagogische Warte. 
XXV. Jahrg. Heft 4. Osterwieck i/H., Zickfeld, 1918. — Ders., Die pädagogische 
Behandlung sprachkranker Soldaten. Zeitschrift für pädagogische Psychologie und 
experimentelle Pädagogik. 18. Jahrg. Heft 7/8. Leipzig, Quelle & Meyer, 1917 

?) Seneca, Briefe an Lucilius. Leipzig, Reclam. — Ders., Vom glückseligen 
Leben. Berlin, Deutsche Bibliothek. — Epiktet, Unterredungen und Handbüchlein 
der Moral. Ebenda. — Mark Aurel, Selbstbetrachtungen. Ebenda. — P. Barth, 
Die Stoa. 2. Aufl. Stuttgart, Frommann, 1908. — K. C. Rothe, Die Bedeutung 
der Stoischen Philosophie für die Erziehung. Prag, A. Haase. (Erschienen als 
26. Beiheft der Zeitschrift für Lehrerbildung) — Xenophons Erinnerungen an 
Sokrates. Leipzig, Reclam. — Benjamin Franklin, Leben von ihm selbst 
erzählt. Ebenda. — G. Seume, Mein Leben. Ebenda. — Hufeland, Makrobiotik. 
Ebenda. — Feuchtersleben, Zur Diätetik der Seele. Ebenda. — P. Dubois, 
Selbsterziehung. Bern, A. Franke, 1912. 

») Ebbinghaus, Grundzüge der Psychologie. 2. Auflage von E. Dürr. 
Leipzig, Veit & Co., 1913. — A. Stöhr, Psychologie. Wien, Braumüller, 1917. 

t) Da die Kenntnis der Pädologie der normalen Kinder und deren Literatur in 
der Lehrerbildungsanstalt vermittelt wird, nenne ich nur als Ergänzung: K. Bühler, 
Die geistige Entwicklung des Kindes. Jena, G. Fischer, 1918. — W.Strohmayer, 
Vorlesungen über die Psychopatbologie des Kindesalters. Tübingen, Laupp, 1910. 


Rothe: Pädagogische, didaktische und logopädische Winke für Lehrer usw. 209 
logopädischen Fachwerke bieten die eingangs genannten Arbeiten 
und Aufsätze hinreichende Orientierung.) Vergleiche auch das Lite- 
raturverzeichnis am Schlusse der Arbeit. Der Lehrer der Sonder- 
Elementarklasse mache sich unbedingt mit dem neuesten Stande 
der Elementarmethodik wohl vertraut. 

Manchen Gewinn wird er finden, wenn er auch für die Nachbar- 
gebiete, insbesondere für die Hilfsschule Aufmerksamkeit übrig hat. 
Über das Studium der Heilpädagogik orientiert man sich gut in dem 
Buche Schulzes.?) 


III. Die Heilbehandlung (Therapie). 


Die Aufgabe der Sonderklassen ist eine doppelte, wenn wir nur 
die Heilpädagogik ins Auge fassen: 1. eine heilende, 2. eine vor- 
beugende. Das heißt, zunächst handelt es sich darum, bestehende Sprach- 
gebrechen therapeutisch bezw. pädagogisch zu beeinflussen, dann den 
Wiederausbruch bezw. die Verschlechterung geheilter oder gebesserter 
Leiden zu verhüten. Therapeutisch nimmt die Sonder-Elementarklasse 
eine besondere Stelle ein, sie wird daher auch gesondert betrachtet. Die 
Heilbehandlung ist eine direkte und eine indirekte. Die direkte 
Therapie wird vielfach Einzelbehandlung sein müssen. Schon 
das ist ein Grund, warum die Zahl der Schüler mit 25 eher zu hoch 
als zu niedrig angesetzt ist. Die Einzeltherapie werde aber auch 
nicht in Anwesenheit anderer Schüler vorgenommen, sondern 
jeder Schüler, der zur Einzeltherapie bestimmt wird, wird isoliert vor- 
genommen. Diese Einzeltherapie darf nie den Charakter der Strafe, 
des »Nachsitzense — unter welchen Decknamen auch immer — an- 
nehmen. Nur dort, wo es sich um wiederholendes Üben handelt, 
können Mitschüler im selben Raume belassen werden. Außerdem 
aber wird gelegentlich mit der ganzen Klasse diese eder jene thera- 
peutische Übung vorgenommen werden können. Dies gilt namentlich 
von der indirekten Therapie, dem Lese- und Sprechunterricht. 


') Von eigenen Aufsätzen greife ich nur einige allgemein orientierende heraus: 
K. C. Rothe, Die Sprachheilkunde eine neue Hilfswissenschaft der Pädonomie. 
Neue Bahnen. 25. Jahrg. Heft 9. Leipzig, Voigtländer (jetzt Dürr), 1914. — 
Ders, Die Bedeutung der Sprachheilkunde im Kriege. Neue Bahnen. 28. Jahrg. 
Heft 3. Ebenda 1917. — Ders., Über Kriegssprachstörungen. Die Lehrerfort- 
bildung. Heft 5/6. Prag, A. Haase, 1918. 

?) E. Schulze, Die Berufsbildung des Hilfsschullehrers. Ein Wegweiser 
durch die Vorarbeiten zur Hilfsschullehrer-Prüfung und durch die Literatur der 
Heilpädagogik und ihrer Grenzwissenschaften. Halle a. S., H. Schroedel, 1917. 


210 A. Abhandlungen. 


— — u 


Je mehr es der Lehrer versucht, die indirekte Therapie 
unauffällig mit dem Unterrichte zu verbinden, desto besser 
ist dies. 

Welche Therapie aber? Diese berechtigte Frage kann nicht 
so einfach beantwortet werden. Zunächst: Nie lege sich der 
Lehrer auf eine Therapie fest? Jede Therapie hat ihre Schwächen 
und ihre guten Seilen. Nicht jede Therapie eignet sich für jeden 
Zögling. Das Individualisieren bezieht sich darauf, für jeden 
Schüler seine geeignete Therapie auszuwählen. Kenntnis der 
wichtigsten Therapien ist daher unerläßliche Vorbedingung für den 
Lehrer der Sonderschulen. Das gilt besonders für die Therapie bei 
Poltern und Stottern. Es zeigt von Voreiligkeit und Dilettantismus, 
wenn eine Therapie als die Therapie, als die alleinige, erfolg- 
versprechende hingestellt wird.!) Die Schulbehörden seien nach- 
drücklichst davor gewarnt, die Anwendung einer bestimmten 
Heilbehandlung vorzuschreiben, denn auch nicht jeder 
Lehrer eignet sich für jede Therapie. 

Therapeutische Systeme zur Heilung von Poltern und Stottern, 
die logisch bezw. konsequent ausgebaut sind, sind oft psychologisch 
und heilpädagogisch inkonsequent. Die Persönlichkeit des Lehrers 
ist viel wichtiger als die ausgeklügeltste Therapie. Nur der Anfänger 
und der Charlatan schwört auf eine, nämlich seine Therapie Je 
mehr Erfahrung der Therapeut hat, desto mehr Mißerfolge 
hat er. Gewiß, auch desto mehr Erfolge, aber der von der eingangs 
geschilderten Liebe durchglühte Lehrer wird in den Mißerfolgen — 
die keinem erspart bleiben — den besten Ansporn zum Forschen 
sehen, die Mißerfolge werden für ihn persönlich wichtiger sein, als 
die Erfolge und nur Unehrlichkeit und Scheinheiligkeit wird über 
die Erfolge die Mißerfolge vergessen. 

Der Kampf gegen die Sprachleiden durch den Therapeuten ist 
ein immerdauernder und ein allseitiger. Gewiß, ungünstige Zustände 
der Umwelt und der Veranlagung begünstigen das Entstehen und 
Bestehen von Sprachleiden, aber trotzdem werden nie alle unter un- 
günstigen Faktoren lebende Menschen sprachkrank, ebensowenig alle 
mit bestimmten Veranlagungen. Manche Stotterer kommen zu einer 
Art von Selbstheilung, sie gewöhnen sich eine gedehnte Sprech- 


1) Wer in Inseraten und Prospekten Stotterern von vornherein Heilung 
»garantiert«, ist entweder ein Schwindler und Betrüger oder ein noch unerfahrner 
Anfänger; »versprechen« kann der Therapeut, ohne den Stotterer untersucht zu 
haben, höchstens eine Besserung! 


Rothe: Pädagogische, didaktische und logopädische Winke für Lehrer usw. 211 


weise an, die sie vor dem Stottern bewahrt.!) Andere Stotterer bleiben 
in ihrem Leiden stationär, sie behalten noch bis in die Mannesjahre 
den Initialzustand des Wiederholungsstotterns, welcher freilich häufig 
mit mangelhafter Intelligenz gepaart ist, aber keineswegs immer. 
Ich kenne einen Kollegen, der ein leichtes Wiederholungsstottern be- 
sitzt, das nicht sehr störend ist.2) Wer das Stottern verstehen will, 
kann dies nur auf konditionaler Basis tun.®) Nur derjenige ge- 
winnt einen sicheren Pfad in das Dickicht und den Irrgarten des 
Stotterns als Krankheitsbild, der von vornherein damit rechnet, daß 
eine einheitliche kausale Erfassung unmöglich ist, daß der Be- 
dingungen und auslösenden Momente sehr viele sind. 


IV. Die allgemeinpädagogische Behandlung. 


Die Behandlung des Stotterns — von organisch bedingtem ab- 
gesehen — ist eine vorwiegend pädagogische. Die Erziehung spielt 
aber bei allen Sprachleiden eine bald größere, bald kleinere Rolle. 
Aufgabe der Erziehung bei Sprachleiden ist nicht nur das Eingewöhnen 
in die neu erlernte Sprechart, sondern ist vor allem die Erziehung 
des ganzen Menschen! Im Rahmen dieser aufs Ganze gerichteten 
Erziehung haben wir dann die individuell angepaßte Erziehung aus- 
zuüben. Der Zaghafte ist aufzumuntern, aber möglichst wenig und 
selten durch viel »Hineinreden«. Der überhastende Polterer ist nicht 
nur in der Sprache, sondern in seinem ganzen Wesen zu gesetztem 
Benehmen, zu ruhigem Denken zu erziehen. Es ist auch falsch, an- 
zunehmen, der Stotterer stottere nur im Reden, er zeigt — nicht in 
jedem Einzelfalle und nicht in allen Fällen gleicherweise — Stottern 
im Handeln (Schreiben, Gehen), im Denken. Daher ist die S. 99 
des sonst sehr empfehlenswerten Buches: E. Schulze, Die Berufs- 
bildung des Hilfsschullehrers, Halle a. S., H. Schroedel, 1917 gestellte 
Frage: »Warum stottert der Stotterer nur beim Sprechen?« falsch. 


1) K. C. Rothe, Über einige Beziehungen von Sprechweise und Sprech- 
methode zum Stottern. Ärztliche Standeszeitung. Nr. 6. Wien 1916. 

2) Vergl. hierzu: Dr. E. Fröschels, Zur Differenzialdiagnose zwischen frischem 
traumatischen und veraltetem Stottern. Medizinische Klinik. Nr. 26. 1916. 

®) Über Konditionalismus vergl.: M. Verworn, Kausale und konditionale 
Weltanschauung. Jena, G. Fischer, 1912. — K. C. Rothe, Vorlesungen über all- 
gemeine Methodik des Naturgeschichtsunterrichts. München, F. Seybold, 1914. — 
4. Vorlesung. Daselbst weitere Literatur. Eine größere Darstellung wird von mir 
vorbereitet. 


12 A. Abhandlungen. 

Wie wichtig das Individualisieren ist, geht aus folgender Gegenüber- 
stellung hervor: Den verzagten, scheuen Stotterern stehen andere, 
übermütige, ja selbst »freche« gegenüber. Neben dem scheuen, ängst- 
lichen Muttersöhnchen sitzt ein echter, wilder Lausbub, der trotz 
seiner Frechheit und Wildheit stotter. Trotz — sage ich —, weil 
ja die Angst in der Entstehungsgeschichte des Stotterns eine besondere 
Rolle spielt. Wir finden alle Temperamente unter den 
Stotterern. Jedes verlangt seine ihm angepaßte Behandlung. 

Es gibt ein bestimmtes, in Worten nur schwer und sehr um- 
ständlich zu schilderndes Bild des Stotterers, des durch verkehrte 
Erziehung, namentlich durch aufregende Strafen, gequälten Kindes. 
Dasselbe zeigt ein frühzeitig bis zum Stadium der Mitbewegungen, Mit- 
handlungen, des Vokalstotterns gelangtes Stottern, man sieht dem Kinde 
die Angst schon aus den Augen. Es bedarf oft dann nur einiger — 
scheinbar unbefangener — Fragen an die Eltern und der Verdacht: 
schwere, aufregende Züchtigung durch die Eltern wird bestätigt. Mit- 
unter durch die ablehnende Antwort: »Ach nein, es geschieht ihm 
nicht viel, er verkriecht sich ohnehin gleich unters Bett und kommt 
nicht mehr raus.< Daß eine Therapie, d. h. daß jede Therapie er- 
folglos bleiben muß, insolange derartige psychische Aufregungen 
fortbestehen, dürfte wohl klar sein. 

Der Lehrer achte daher auch auf die häuslichen Verhältnisse 
des Kindes. Was einige Kinder an physischen und psychischen In- 
sulten — Gott sei Dank — ohne Schädigung ertragen, gibt uns noch 
lange nicht das Recht, für alle die gleiche Widerstandskraft anzu- 
nehmen. | 

Das entgegengesetzte Bild bietet der verzärtelte und verwöhnte 
Muttersohn, den Großmütter und Tanten verwöhnen helfen. »Um 
Gottes willen« schreit die ängstliche Mutter auf, wenn der Bub einer 
irgendwie theoretisch denkbaren Gefahr in die Nähe kommt. Jeder 
Regentropfen, der seine Nase trifft, kann einen Schnupfen oder Katarrh 
erzeugen, jeder Windhauch ist Träger des Diphtheriebakteriums, jeder 
ärmlich gekleidete Mensch Überbringer soundsovieler Infektionskrank- 
heiten! Daß in solcher Umgebung das Kind einerseits selber ängst- 
lich und um sein Leben besorgt wird, anderseits physisch und psy- 
chisch an Widerstandskraft einbüßt, das ahnen alle die »herzlosen« 
andern, nur nicht die ewig besorgte Mutter. 


Ohne Mühe ließen sich diese verschiedenen Bilder noch weiter 


ausmalen. Eine Frage von Wichtigkeit muß noch gestreift werden, 
das Sexualleben. Pessimisten und Optimisten gibt es auch hier. 


kothe: Pädagogische, didaktische und logopädische Winke für Lehrer usw. 213 


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Die einen wittern allüberall nicht nur sexuelle Regungen und Triebe, 
sondern auch Perversitäten und dergl., die anderen sind von der Un- 
schuld aller Kinder felsenfest überzeugt. Daß unter den verschiedenen 
Bedingungen des Stotterns auch sexuelle vorkommen, ist durch die 
Psychoanalytiker wohl zweifellos festgestellt, aber die generellen 
Schlüsse der Psychoanalytiker sind damit noch keineswegs bewiesen. 
Umgebung und Rasse, Vererbung nervöser Anlagen und verkehrte 
Erziehung, Reizuug durch Würmer, Kost usw. und Verführung spielen 
alle hinein. Wichtig zu wissen ist — was oft übersehen wird —, 
daß selbst in verseuchten Gebieten die Jahrgänge verschieden sind. 
Auf Altersklassen, die frühzeitig allerlei sexuellen Lüsten fröhnen, können 
andere Altersklassen unmittelbar folgen, die sich rein halten. Sache 
des Arztes ist es, auf geäußerten Verdacht des Lehrers einzugreifen. 
Zu warnen ist auch vor zu großer Bewertung der Geständnisse. 

Wo die Masturbation schwer schädigend und die Heilung des 
Stotterns hemmend einwirkt, ist es nicht Aufgabe des Lehrers, sondern 
des Arztes, heilend einzuwirken.!) 

Milde und doch Festigkeit, Ruhe und doch anregende 
Heiterkeit, Güte und doch Stetigkeit, Nachsicht und doch 
Gerechtigkeit soll der Lehrer dem sprachkranken Kinde gegenüber 
bezeigen. 


V. Didaktische Behandlung. 


Zunächst sei betont, daß Sprachstörungen sowohl bei intelligenten 
als auch bei minder intelligenten Kindern vorkommen, daß sie aber 
ebenso auch bei Intelligenzstörungen zu finden sind. Daher werden 
wir in den Sonderklassen, ähnlich wie in Normalklassen, alle Ab- 
stufungen der Intelligenz vorfinden, die Sonderklassen sind mithin 
nicht der Hilfsschule gleichzustellen. Dies zu betonen ist wegen des 
Vorurteiles mancher Eltern wichtig, welche durch die Aufnahme ihres 
Kindes in die Sonderklassen fürchten, ihr Kind zum minderwertigen zu 
stempeln. In den Unterklassen werden sich allerdings nicht selten Kinder 
finden, deren Intelligenzstörung nicht gleich erkannt wurde und die wegen 
der Sprachstörung zunächst Aufnahme in die Sonder-Elementarklasse 
fanden. Sie so bald, als die Diagnose Intelligenzdefekt sichergestellt 
wurde, an die Hilfsschule abgeben zu können, muß in der Organisation 
vorgesehen werden. Ob es notwendig sein wird, bei größeren Organi- 
sationen eine Teilung der Sonderklassen in solche mit intelligenten 


!) Vergl. auch: Dr. E. Fröschels, Ratschläge für Erziehung kleiner Kinder. 
Wien, Perles, 1916. 
Zeitschrift für Kinderforschung. 26. Jahrgang. 15 


214 ‚A. Abhandlungen. 

Schülern und solche mit nicht intelligenten vorzunehmen, muß der 
Zukunft überlassen werden. Sollten sich aber gelegentlich eine größere 
Anzahl hörstummer Kinder vorfinden, so wäre es vielleicht doch 
zweckmäßig, sie in eine Spezialklasse für Hörstumme zu sammeln. 

Stammeln findet sich bei älteren Schülern — wenn wir vom 
häufigen Sigmatismus absehen — eher bei minder begabten. Stottern 
kann bei intelligenten Kindern und bei minder intelligenten vor- 
‘ kommen. Von Sprachstörungen bei Geisteskrankheiten wird hier über- 
haupt nie gesprochen, da ja geisteskranke Kinder stets der besonderen 
Fürsorge zugeführt werden. 

Das Sprachleiden selbst kann also zunächst nicht als 
Symptom der Intelligenz für die Schüler der Sonderklassen 
bewertet werden. Daher werden die Sonderklassen im all- 
gemeinen den Normalklassen didaktisch gleichwertig sein. 
Aber keineswegs immer. Es werdeu Sonderklassen vorkommen, die 
in der Intelligenz ihrer Schüler den Normalklassen überwertig sein 
werden und es werden Sonderklassen vorkommen, die gegen die Normal- 
klassen in der Intelligenz der Klasse zurückstehen. Daraus ergibt 
sich, daß die didaktischen Erfolge einer Sonderklasse sehr 
schwanken können, je nachdem, ob der Schülerjahrgang 
prozentuell mehr gut oder mehr minder begabte Schüler 
enthält. Auf didaktisch »gute« Klassen, werden »schlechte« folgen: 

Der Lehrer und die Schulbehörden müssen daher ihre 
didaktischen Forderungen dem jeweiligen Schülermateriale 
anpassen. 

Daß der Sprachunterricht in allen seinen Zweigen hier ganz be- 
sonderer Pflege bedarf, leuchtet ohne weiteres ein. Da aber die Sprache 
am besten gefördert wird, wenn das Kind frühzeitig Realkenntnisse 
erwirbt, so ergibt sich ferner, daß der Anschauungsunterricht (Unter- 
stufe), die Realien (Naturkunde, Heimatkunde usw.) nach den besten 
Methoden erteilt werden müssen und so anschaulich als mög- 
lich. Der Arbeitsunterricht ist tunlichst und möglichst intensiv 
zu gestalten. 

Das gibt somit dem Lehrer eine Fülle von Mehrarbeit. Er muß 
sich nicht bloß auf dem Gebiete der Sprachheilkunde (Logopädie), 
nicht bloß in der Pädagogik, sondern auch in der Didaktik sorgfältig 
weiterbilden. 

Wünschenswert ist es, daß sich auch Lehrer, welche im Werk- 
und Werkstättenunterricht ausgebildet sind, in der Sonderklasse be- 
teiligen, also — nach entsprechender logopädischer Ausbildung — eine 
Sonderklasse übernehmen und den mit ihrem Spezialfache zusammen- 


Rothe: Pädagogische, didaktische und logopädische Winke für Lehrer usw. 215 


hängenden Problemen nachgehen. Inwieweit also dieses Gebiet aus- 
gestaltet werden kann und soll, das muß noch der Zukunft überlassen 
bleiben, jedenfalls aber sollen die Leiter der Sonderschulen und die 
Schulbehörden ihr Augenmerk auch auf diese Frage richten. 

In der Normalklasse werden häufig Stotterer in ihren Schul- 
leistungen falsch beurteilt. Stottern wird allzuleicht als ein psychischer 
Verrat für Nichtwissen aufgefaßt, weil ja tatsächlich das Verlegen- 
heitsstottern!) aus ähnlichen Gründen oft eintritt. 

Es kommt nicht selten vor, daß ein Stotterer lieber eine schlechte 
Note hinnimmt, als daß er durch seine gestotterte Antwort Anlaß zum 
Spott und Hohn gibt. Daraus folgt, daß das Beurteilen der Lern- 
erfolge in der Sonderklasse mit besonderer Vorsicht stattfinden muß. 
Da ja wenige Schüler in einer Sonderklasse vorhanden sind, wird 
aber diese Gefahr des Falsch-Beurteilens gemindert. Je mehr der 
Schüler zur Mitarbeit herangezogen wird, desto leichter ist schließlich 
das Klassifizieren oder Benotsen, das ja leider mit der deutschen 
Schule eine untrennbare Ehe eingegangen hat. 

Bei Beurteilung der Unterrichtssprache tritt die Frage an 
uns heran: Ist das Sprachgebrechen zu bewerten? Wenn der Schüler 
in seinem Sprachgebrechen Besserungen aufzeigt, die einen guten Er- 
folg versprechen, dann kann wohl von der Mitbewertung abgesehen 
werden, es sei denn, daß der Sprachfehler die Sprache noch immer 
wirklich stört. Wegen des Sprachleidens ist ja der Schüler in der 
Sonderklasse, es erübrigt sich daher im allgemeinen — von besonderen 
Einzelfällen abgesehen — die Note in Muttersprache bedeutend 
berabzusetzen. Hier sind eben zwei Möglichkeiten vorhanden Nehmen 
wir als Vergleich das Turnen. Ein Knabe, der durch seine Neigung zu 
Schwindelanfällen gewisse Übungen an den Geräten (Reck, Barren usw.) 
nicht ausführen kann und wegen der durch Schwindelanfälle ver- 
bundenen Lebensgefahr nicht ausführen darf, der aber die für ihn 
möglichen Übungen tadellos ausführt, verdient nach den Anschauungen 
der meisten Lehrer wohl die beste Turnnote. Aber jene Herren, die 
sagen, da er nicht allen Anforderungen gerecht werden kann, gebührt 
ihm nur die zweitbeste Note, werden auch Anhänger finden. 

Derselbe Zweiweg ist auch hier gegeben. Ich bin dafür, daß 
ein Schüler, der zwar ein Stotterer ist, aber in seinem Stotterleiden 
deutliche Fortschritte zeigt, der sonst den Wissensforderungen voll- 


1) K. C. Rothe, Über Verlegenheits-Sprachstörungen und ihre Beziehungen 
zum ausgebildeten Poltern und Stottern, Zentralblatt für Psychoanalyse und Psycho- 
therapie. III. Jahrg. Heft 10/11. Wiesbaden, J. F. Bergmann, 1913. 

15* 


216 A. Abhandlungen. 


kommen entspricht, die Note 1 erhalte, wenn seine Sprachstörung 
nicht zu sehr auffällt. Auch das muß beachtet werden: Durch 
bessere Noten bei deutlichen Fortschritten ermuntern wir den Knaben. 
Geben wir die beste Note gleich anfangs, so haben wir uns eines 
Aufmunterungsmittels enthoben. Wieviel unnütze Schwierigkeiten, 
Bedenken, wieviel überflüssige Pein und Sorge erzeugt doch diese 
unglückselige Notenleiter von 1—5! Beschränkte man sich auf drei 
Grade, der Unterricht würde bedeutend entlastet und die Erfolge 
würden eher besser werden! 

Die Hauptarbeit leistet die Sonderschule auf therapeutischem Ge- 
biete in der Unterstufe, insbesondere ist die Elementarklasse — 
das sei nochmals hervorgehoben — die günstigste Gelegenheit, die 
Sprachgebrechen zu heilen. | 

Der Lese-Schreibunterricht wird nach einer modernen 
Methode!) gegeben, die Normalwörtermethode — ohnehin veraltet — 
eignet sich nicht für die Sonderelementarklasse. 

Vor der Lautgewinnung werden einige Atemübungen vorgenommen, 
die als Turnen gelten. Man hüte sich aber 1. schwierigere Atem- 
übungen vorzunehmen, 2. die Aufmerksamkeit der Kinder in be- 
sonderer Weise auf die Atemübungen zu lenken. Je weniger auf- 
fällig die Atemübungen durchgeübt werden, je einfachere man aus- 
wählt, desto besser, denn kleine Kinder sind im allgemeinen bei 
Atemübungen recht ungeschickt. Verfehlt eingelernte Atem- 
übungen schädigen mehr, als sie nützen! Daher: strenge 
Einzelkontrolle! 

Eine einfache Übung, geeignet für Kindergarten und Elementar- 
klasse ist folgende:?) Die Kinder stehen auf, heben die gefalteten 
Hände langsam bis über den Kopf, atmen dabei leicht und tief ein 
und lassen die Hände, bezw. Arme langsam sinken, wobei langsa 
ausgeatmet wird. 

Drei- bis fünfmal geübt ist hinreichend. Öfters hintereinander 
vorgenommen, entzieht die Atmung dem Atmungsorgane zu viel Wasser. 


1) Vergl. für Österreich: H. Kolar, Das erste Schuljahr in Wochenbildern. 
Wien, Schulbücher-Verlag, 1909. — W. R. Richter, Das erste Schuljahr. Wien- 
Triest, M. Quidde, 1912. — Für Deutschland: Lay-Enderlin, Führer durch das 
erste Schuljahr als Grundlage der Tatschule. Leipzig, Quelle & Meyer, 1911. — 
G. Wiederkehr, Der Sach- und Sprachunterricht im ersten Schuljahr. Mannheim 
und Leipzig, J. Bensheimer, 1909. — K. Rödger, Freier Elementarunterricht. 
Leipzig, Dürr, 1919. U. a. m. 

?) K. C. Rothe, Atemübungen in Schule und Hort. Pestalozzizeitung. 
IX. Jahrgang. Heft 10, S. 139. Wien 1917. 


Rothe: Pädagogische, didaktische und logopädische Winke für Lehrer usw. 217 


Diese Übung ist einfach, ist natürlich und kann daher auch von 
jenen Lehrern angeordnet werden, die keine eingehenden Kenntnisse 
besitzen, sie läßt sich ebenso auch mit großen Kindern vornehmen. 

Der mit Atemübungen, mit der Physiologie der Atmung wirk- 
lich vertraute Lehrer kann zu anderen Ubungen übergehen, bei 
kleinen Kindern aber muß zur allergrößten Vorsicht geraten werden. 

Es muß betont werden, daß durch unrichtig durchgeführte Atem- 
übungen, namentlich bei suggestiv leicht beeinflußbaren Kindern, leicht 
geschadet werden kann. Wer etwa die Atemübungen damit beginnt, 
daß er den Kindern sagt, »Ihr könnt noch gar nicht atmen«, begeht 
schon einen Fehler. Sage einem Kinde, es kann nicht richtig gehen, 
so stolpert es sicher! Es sei denn, es fühlt sich so sicher, daß es 
den Gegenbeweis kühn und dann oft erfolgreich wagt. 

Als 2. Übung sei empfohlen: Seithochheben der Arme, die 
Hände berühren einander schließlich mit den Handrücken; Einatmen 
durch den Mund, und zwar mäßig rasch, ja nicht hastig, ruck- 
weise, sondern leicht, ungezwungen; Seitsenken der Arme und 
sehr langsames, gleichmäßiges, hörbares (Hauchen) Ausatmen. 
Zur leichteren Kontrolle kann statt des hauchenden Ausatmens ein ha 
gesprochen werden; dieses wird halblaut, gleichmäßig in Stärke und 
mittlerer Tonhöhe und sehr gedehnt gesprochen. Die Einatmung 
soll kürzer, bei Geübten sogar bedeutend kürzer als die Ausatmung 
sein. !) 

Fehler, die häufig vorkommen, sind: 1. Schluckende Einatmung. 
(Der Atem soll vielmehr langsam getrunken werden!) 2. Ruckweise 
Bewegungen in Brust- und Bauchmuskulatur. 3. Auspressen des 
Atems. 4. Ungleichmäßigkeit der Armbewegung und der Atem- 
bewegung. (Die Arme werden zu rasch oder zu langsam gesenkt, sie 
sollen aber erst dann die Ruhehaltung erreichen, wenn der Atem zu 
Ende ist) 5. Ungleichmäßiger Atemstrom (zuerst wird viel, dann 
wenig Luft ausgeatmet). 6. Regulierung des Atemstromes statt durch 
die Brust- und Bauchmuskulatur durch Schließen oder Verengen der 
Stimmritze. (Vielmehr soll die Ausatmung reguliert werden durch gleich- 
mäßiges Einsinken des Bauches und «der Brust. Es ist falsch, wenn 
vergleichsweise der Blasebalg rasch niedergedrückt und dann der Luft- 
strom durch Absperren des Ausströmventiles reguliert wird.) 7. Wird 
ein ha gesprochen, so ist es falsch, wenn der Ton höher oder tiefer, 
stärker oder schwächer wird. 


‘) Manche Atemtechniker verlangen bei tiefem Atmen das Atmen durch die 
Nase. Dies entspricht aber nicht den physiologischen Bedingungen der Atmung. 


218 A. Abhandlungen. 


Diese Beschreibung liest sich recht umständlich, aber 
sie zeigt zugleich, daß die ganze Sache nicht so einfach ist. 

Als 3., und zwar Gegenübung, bei der die Ausatmung be- 
tont wird, ist folgende zu nennen: Seitheben der Arme bis zur 
Schulterhöhe und Einatmen, dann werden mit beginnender Ausatmung 
bei leichtem Vorneigen die gestreckten und im Ellbogen versteiften 
Arme langsam nach vorne bewegt, bis sie sich etwa in der Ellbogen- 
gegend überkreuzen. Nur wenn die Ellbogen ungelenk bleiben, üben 
dann die Arme einen kräftigen Druck auf die Brust aus und er- 
zwingen ein tiefes Ausatmen. 

Sind die Vokale gewonnen, so werden sie nicht nur in ihrer 
Ausdrucksform (a = Erstaunen, o = Verwunderung, Schrecken usw.), 
sondern mit weichem und gehauchten Einsatz geübt. 

Die Konsonanten der Stammler werden nach der Therapie be- 
handelt (Einzelbehandlung), dann gelesen und in Verbindung mit Vokalen 


gebracht. Sinnlose Silbenverbindungen, wie ba be bi bo bu, aba 


Cbe ibi obo ubu, ab eb ib ob ub usw. haben großen Wert und 
zwar 1. als Therapie, 2. als Leseübung. Es wird die Verschmelzung 
der Einzellaute so am raschesten erlernt. Diese Übungen sind zwar 
oft aber niemals zu lange anzuwenden. 

Jeder neue Laut und Buchstabe wird in ähnlicher Weise geübt. 
Das Lesen dieser sinnlosen Silben geschieht stets mit weichem Einsatz. 

Beim Leseunterricht hat man also auf folgende Punkte sein be- 
sonderes Augenmerk zu richten: 

1. Gewinnung der Laute nach logopädisch-phonetischen 

Grundsätzen. i 

2. Üben mit weichem Einsatz, mit gehauchtem Einsatz. 

3. Vermeiden alles Schreiens! 

4. Verschmelzen des neuen Lautes mit bekannten 
Vokalen, mit gebräuchlichen Konsonanten (zu Doppel- 
konsonanten). 

Üben des simultanen Lesens.!) 

6. Lesen mit sinngemäßer Betonung. Der »Schulleseton« 
darf erst gar nicht aufkommen, verhütet ist er leichter als 
ausgerottet. 


a 


1) Vergl. auch die beachtenswerte Schrift: Nöll, Formale und materielle In- 
telligenzdefekte als Hemmungen im ersten Leseunterrichte der Schwachbegabten und 
eine diesen Defekten angepaßte Leselehrmethode. Beiträge z. Kinderf. Heft 125. 
Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1915. 





Rothe: Pädagogische, didaktische und logopädische Winke für Lehrer usw. 219 


T. Lesen mit verteilten Rollen kann bei verschiedenen Lied- 
chen und Gedichten angewendet werden, ebenso 

8. Aufsagen mit verteilten Rollen. Beides trägt sehr zum 
sinngemäßen Lesen bei. 

9. Genaue Artikulation muß nach und nach erzielt werden, 
die verschmierende, bequeme, »mundfaule« Artikulation ist 
unbedingt zu vermeiden, 

10. ebenso aber auch eine unnatürlich scharfe Artikulation. 
Letztere färdert das Stottern, das wir ja beseitigen wollen. 

Daß stotternde Schüler nicht kalt zu stellen sind, sondern recht 
fleißig herangezogen werden, wurde schon erwähnt. 

Schwerhörige Kinder sind durch Übungen nach Professor 
V. Urbantschitsch!) in der Perzeption und Apperzeption der Gehörs- 
eindrücke zu fördern. Weiter ist über die Behandlung von Schwer- 
hörigen das Buch Hartmanns?) nachzulesen. 

Hörstumme und Sprachscheue müssen oft zunächst durch 
Vorzeigen von Bildern befreundet werden. 

Auch in diesem Abschnitte sei darauf verwiesen, daß der An- 
schauungsunterricht möglichst mit direkter Anschauung 
arbeite, also auf Unterrichtsgängen die Umwelt selbst be- 
trachte und dann erst das Material der indirekten Anschauungen 
(Modelle, Bilder) heranziehe, daß durch Ausschneiden, Zeichnen, 
Formen, Basteln die Erfahrungswelt des Kindes bereichert, geklärt 
und verbessert werde. Denn Tatsachen sind und bleiben die Grund- 
lage aller Erfahrung, und da die Sprache unser wichtigstes Ausdrucks- 
mittel ist, so muß — soll die kindliche Sprache gefördert werden — 
auch die kindliche Erfahrung gefördert werden. 

Der Gesang werde eifrig, aber hygienisch gepflegt, der Stimm- 
umfang des Elementarschülers beachtet, damit nicht durch Über- 
schreitung des Stimmumfanges die Stimme geschädigt werde. Das 
Schreien ist unter allen Umständen zu verhüten. Die funktionelle 
Stimmschwäche wird ohuehin schon durch die Schule vielfach ge- 


1) Vergl. V. Urbantschitsch, Über den Einfluß methodischer Hörübungen 
auf den Hörsinn. Wiener medizinische Presse. Nr. 43. 1894. — Ders., Über 
die praktische Durchführung der methodischen Hörübungen in Taubstummen-Schulen. 
Zeitschrift f. Ohrenheilkunde XXXIII. Bd. Wiesbaden, Bergmann, 1898. — Ders., 
Über methodische Hörübungen. Die deutsche Klinik am Eingange des XX. Jahr- 
hunderts. Wien, Urban & Schwarzenberg, 1901. 

?) A. Hartmann, Die Schwerhörigen in der Schule und der Unterricht für 
hochgradig Schwerhörige in Deutschland. Stuttgart, Spemann, 1912. 


é 
220 % A. Abhandlungen. 


——— c [c 





fördert, die Sonderklasse für sprachkranke Kinder verfehlt ihren Zweck, 
wenn sie im Gesangsunterricht Stimmleiden erzeugt! 

Das Turnen pflege einfache Spiele, besonders das Ballspiel. 
Bedauerlicherweise ist das alte Spiel, einfach, aber die Geschicklich- 
keit der Hände sehr fördernd, vielfach vergessen worden. Zuwerfen 
und Auffangen des Balles — ist heute für viele ABC-Schützen eine 
fremde und schwere Kunst. Jeden Tag kann wenigstens einmal in 
einer Pause das sogenannte 2 Minuten-Turnen vorgenommen werden. 1) 


VI. Literatur-Übersicht. 


Zum Studium der Sprachheilkunde eignen sich insbesondere folgende Werke: 


1. Dr. E. Fröschels, Lehrbuch der Sprachheilkunde. Wien, F. Deuticke, 1912. 

2. Ders., Vorlesungen über Taubstumme und Hörstumme. Wien, Urban 
& Schwarzenberg, 1911. 

3. Dr. A. Liebmann, Vorlesungen über Sprachstörungen. Berlin, O. Coblentz, 
seit 1898. 

4. Dr. H. Gutzmann, Sprachheilkunde. Berlin, Fischer-Hornfeld, 1912. 

5. Dr. M. Nadoleczny, Die Sprach- und Stimmstörungen im Kindesalter. 
Leipzig, F. C. W. Vogel, 1912. 

6. Rud. Denhardt, Das Stottern. Eine Psychose. Leipzig, E. Keils Nach- 
folger. 1890. 

7. Dr. E. Barth, Einführung in Jie Physiologie, Pathologie und Hygiene der 
menschlichen Stimme. Leipzig, Thieme, 1911. 

8. Dr. Th. Flatau, Die funktionelle Stimmschwäche der Sänger, Sprecher und 
Kommandorufer. Charlottenburg, Bürkner, 1906. 


9. Dr. F. Kirchberg, Atemgymnastik u. Stimmungstherapie. Berlin, Springer, 
1913. 


10. Dr. H. Sachs, Gehirn und Sprache. Wiesbaden, Bergmann, 1905. 
Für Vorgeschrittene sei noch empfohlen: 
11. Dr. E. Fröschels, Kindersprache und Aphasie. Berlin, Karger, 1918. 
Zur Einführung in die Lautlehre und Phonetik: 
12. Dr. L. Sütterlin, Die Lehre von der Lautbildung. Leipzig, Quelle & Meyer, 
1917. 
13. Dr. E. Richter, Wie wir sprechen. Leipzig, B. G. Teubner, 1912. 
Zur Einführung in die Rhetorik: 
14. E. Geißler, Rhetorik. 2 Bde. Leipzig, B. G. Teubner, 1914. 
15. R. Wallaschek, Psychologie und Technik der Rede. Leipzig, J. A. Barth, 
1914. 
16. A. Damaschke, Volkstümliche Redekunst. 25.—27. Tausend. Jena, G. 
Fischer, 1918. 
1) Ranke u. Silberhorn, Tägliche Schulfreiübungen. München, Otto Gmelin, 
1914. 


1. Kommunistische Schuljugend. 29] 





B. Mitteilungen. 


1. Kommunistische Schuljugend. 


In dem Artikel »Die Jugend von heute« in Heft 2/3 wiesen wir 
auf die. sehr bedenkliche Entartung der Jugend hin. In Nr. 39 vom 
17. Februar bringt die »Tägliche Rundschau« eine Ergänzung unter obiger 
Überschrift. 

»Die Unterhaltungsbeilage der »Täglichen Rundschau« brachte in 
Nr. 34 vom 11. Februar 1920 unter der Überschrift »Rückständigkeit der 
höheren Schuljugend?« aus der Zeitschrift »Wir Jungen« einen Aufruf 
zum Abdruck, der seinerzeit zur Tagung der entschiedenen Jugend in Jena 
in Tausenden von Blättern an die höheren Schulen versandt worden war. 
In dem Aufruf war die deutsche Jugend zum Klassenkampf aufgefordert 
worden, zum Kampfe gegen Schule, Hochschule, Elternhaus, Staat, Religion 
und Erotik. Auf allen diesen Gebieten soll sie fortan nun das eigene 
Bestimmungsrecht besitzen. Der Aufruf war von dem Zentralrat der ent- 
schiedenen Jugend, hinter dem mehrere bekannte Kommunistenführer stehen, 
verfaßt worden. 

Welch ein ätzendes Gift inzwischen von diesem Zentralrat gegen 
Schule und Elternhaus verspritzt worden ist, dafür geben zwei neue Zeit- 
schriften der kommunistischen Jugend, die sich bereits eines großen Leser- 
kreises erfreuen, deutlich Zeugnis: »Der neue Anfang« und »Der Auf- 
baue. Mit einer beispiellosen Gemeinheit und Schamlosigkeit wird hier 
alles niedergerissen, was der Jugend bisher als hoch und heilig galt. Be- 
sonders wird in diesen Blättern der Kampf gegen das Elternhaus, gegen 
alle Erwachsenen, die die Jugend verkrüppeln lassen, gepredigt. Auch 
der Staat und alle seine Einrichtungen werden lächerlich gemacht. Von 
der Preußischen Landesversammlung, die Schulgesetze aufstellt, wird mit 
Hohn dargelegt, daß sie »von der Seele der Jugend weniger versteht als 
ein Nilpferd vom Walzer tanzene. (Anfang 1919, S. 315.) Welchen 
Geist diese Blätter atmen, dafür mögen einige Stellen Zeugnis ablegen. 
In einem Aufsatze »Die Jungen an die Alten,« der in Heft 21/22 des 
»Neuen Anfangs« erschienen ist, heißt es u. a.: 

>» Wohlschmeckend wollt ihr uns ein altes, steinhartes, rissiges und 
verschimmeltes Brot machen, das wir Schule nennen, und streicht uns 
Kunsthonig darauf, den ihr Schülerrat nennt, und streicht uns Marmelade 
darauf, die ihr Schulgemeinde nennt. Wir aber wollen diese eure alte, 
rissige, borkige und verschimmelte Schule gar nicht. Überhaupt nicht 
mehr! Wir hassen diese eure Schule, wie sie jetzt ist und wie ihr sie 
erhalten wollt. 

Schülerrat und Schulgemeinde sind die Schminke, die ihr der alten 
Vettel dick auflegt, damit sie aussieht wie die leibhaftige Jugend. Damit 
wir, die wahre Jugend denken sollen, sie sei unserer Art. 

Aber diese Schule hassen wir. Nichs als dies: hassen. 


222 B. Mitteilungen. 


I ee ee 


Oder meint ihr, wir sollen dieselbe Schule, die vor uns Millionen zu 
Puppen und Marionetten gemacht hat, und die heute nicht anders ist, 
lieben, nur weil wir die eventuelle Möglichkeit haben, allerbescheiden auch 
mal ein Wörtlein zu reden? 

Sollen wir diese Schule, die in ihrem Aufbau so sehr der Kaserne 
und dem Zuchthaus ähnelt, lieben, weil sie uns alle Tage ein Stück unserer 
Zukunft wegfrißt, und weil wir nicht mehr dumm genug sind, das nicht 
zu wissen und zu erkennen? 

Ihr Männer aus Knochen, Knorpeln, Verstand und Bierehrlichkeit, 
was wißt denn ihr, was uns nottut? Uns Jungen. 

Ihr seht gar nicht, daß diese Schule erst einmal fallen muß, ehe eine 
neue aufgebaut werden kann. 

Sie muß fallen, weil wir nicht wollen, daß die Pädagogik weiter das 
Eisen ist, mit dem man unseren Hirnen und Seelen die Geleise einbrennt, 
in denen wir sicher geölt und langweilig durch das Leben rutschen. 

Unser Jungsein mordet man uns täglich Stück für Stück in den 
Starenköpfen und Papageienkäfigen, in denen der Ruhm des Schülers darin 
besteht, ein — Grammophon zu werden .. «« 

In diesem Tonfall geht der Aufsatz weiter, indem zum Schlusse 
die Jugend aufgefordert wird, mit funkelnden Stirnen und tatfiebernden 
Händen alles niederzureißen. 

In demselben Hefte des »Neuen Anfanges« wird die allgemeine 
Bildung der Deutschen, wie folgt, geschildert: 

»Wie sieht die allgemeine Bildung aus! Weltgeschichte der Ausbeuterei 
und Rechtfertigung der Ausbeuterei. Dazu ein Sammelsurium von Wissen- 
schaften, die meist Luxus sind, solange man sie anwendet... Da studiert 
es emsig an den hohen Schulen, ein ganzes Volk im Volke, und bringt 
doch nicht einmal Wohlstand für alle zustande, guckt in die Sterne, glotzt 
in Mikroskope, schnüffelt in Altertümern, treibt Historie von Raubgesindel 
und seziert, was die Skribenten aller Zeiten von sich gegeben haben. 
Philosophen erzeugt es, deren Geschwätz die Ordnung der Herrschenden 
glorifizieren soll, Priester bildet er aus, die noch heute die Hölle predigen 
für unbotmäßige Proletarier, und ganze Scharen übler Rechtsverdreher 
leben nur davon, den Diebstahl am Volksgut, das private Eigentum, die 
Machenschaften des Kapitals zu verteidigen. Dieses Geschmeiß raubt 
dem Volke den Glauben an die Kultur, an das Kostbarste, das ihm bisher 
vorenthalten war, und verhindert so die proletarische Kultur, läßt geistig 
verhungern, was in der Profitwirtschaft nicht körperlich zugrunde ge- 
gangen ist. Und alles im Namen der Kultur, der Zivilisation, der 
Menschlichkeit — fort damit!«« 

In diesem Gassentone werden Theologen und Juristen als Volks- 
verderber und Volksaussauger hingestellt. 

Die Erwachsenen, die Eltern werden als die Henker der Jugend be- 
zeichnet. Aber jetzt steht die Jugend als eine trotzige Phalanx, wenn 
auch verzerrter, entstellter, krüppelhafter Kinder auf und schreit den 
Henkern die verzweifelte Anklage in das mitleidig und wohlmeinend 
lächeinde Gesicht: wir wollen frei sein. Die entschiedene Jugend will 


1. Kommunistische Schuljugend. 223 


gegen das Alter kämpfen; sie will vor allem das Selbstbestimmungsrecht 
in allen Fragen des Staates, der Religion und der Erotik. 

Man könnte, wenn man die vielen haßerfüllten Aufsätze in diesen 
Jngendzeitschriften liest, meinen, es mit einigen irregeleiteten, unreifen 
Menschen zu tun zu haben. Aber weit gefehlt, lieber Leser! Die höchste 
Stelle in unserem preußischen Kultusministerium, der Minister für Wissen- 
schaft, Kunst und Volksbildung, der für Universitätsprofessoren, Akademie- 
mitglieder oder Gymnasialdirektoren oft nicht zu sprechen ist, hat — man 
höre und staune — die beiden Leiter des Zentralrates der entschiedenen 
Jugendbewegung, zwei Studenten, wie auf S. 361 des »Neuen Anfangs« 
(Jahrgangs 1919) zu lesen ist, nach der Jenaer Tagung der kom- 
munistischen Jugend zu einer Besprechung nach Berlin geladen. Dort 
haben die beiden Herren ihre Forderungen entwickelt und begründet. Der 
Herr Minister hat ihnen dann in Gegenwart seines Freundes, des Provinzial- 
schulrats Blankenburg, entgegnet, daß das Finanzministerium für die Reform- 
gedanken der entschiedenen Jugendbewegung zwar kein Geld besitzt, daß 
aber Verhandlungen schweben, eine der freiwerdenden preußischen Kadetten- 
anstalten für eine neue Freie Schulgemeinde, wie die entschiedene 
Jugend sie wünscht, zu gewinnen. Auch will der Minister die Forderung 
der entschiedenen Jugend um Beteiligung an der Reichsschulkonferenz be- 
fürworten!! In einer längeren Aussprache einigte man sich auch, daß 
ein Ausschuß von drei sozialistischen Mitarbeitern des Ministers mit dem 
Zentralrat der entschiedenen Jugend Vorschläge ausarbeiten soll, wie be- 
sondere Sezessionsschulen, d. h. Schulen von entschiedenen Lehrern und 
Schülern in jeder Stadt gebildet werden können! 

Jeder Kommentar zu den Entschließungen des Ministers dürfte über- 
flüssig sein. Nur das eine sei betont. Der Minister ist über die Ziele 
der entschiedenen Jugend und ihres Zentralrates durchaus unterrichtet; 
denn in der Sitzung des Staatshaushaltausschusses in der verfassung- 
gebenden Preußischen Landesversammlung vom 9. Dezember 1919 hat ein 
Ausschußmitglied der Christlichen Volkspartei, wie der gedruckte Bericht 
Nr. 1356 des Staatshaushaltsausschusses beweist, in Gegenwart des Ministers 
die unglaublichen Vorgänge der »Entschiedenen Jugendbewegung« auf der 
Jenaer Tagung ausführlich besprochen und den Aufruf des Zentralrates 
verlesen, indem der Zentrumsabgeordnete dabei darlegte, daß sämtliche 
Kollegen seiner Partei diese Art von Jugendbewegung auf das entschiedenste 
ablehnen und mißbilligen. Der Minister antwortete, es sei viel Über- 
schäumendes und Gärendes in der Bewegung, »aber im allgemeinen sei 
ihm die freudige Bejahung, der Wille zur Reform, außerordentlich 
angenehm!« 

Erwähnt mag noch werden, daß der Zentralrat der entschiedenen 
Jugend in Deutschland überall seine Jugendvertrauensleute besitzt, »um 
die kämpfenden Kameraden und Kameradinnen mit allen Kräften in ihrem 
Suchen und Gestalten gegen blöde Vergewaltigungen zu schützen, 
um ihr Recht auf ihre Schule und ihre Jugend den alten Gewalten 
gegenüber zur Geltung zu bringen und ihren schweren Einzelkampf ge- 
schlossen zum Siege zu führen!« Mehr als 20 Zentralbuchhandlungen 


224 B. Mitteilungen. 





haben sich in Deutschland bereit erklärt, die Literatur der entschiedenen 
Jugend auf Lager zu nehmen und sie zu vertreiben !« Tr, 


2. Gedanken zur Reform der Lehrerbildung. 
Von Dr. H. Reh. 


Die Einheitsschulbewegung steht unter hemmenden Einflüssen. Den 
Rahmen für eine Neuarbeit in der Praxis zu schaffen, ist schwieriger als 
ihn theoretisch zu konstruieren. Jetzt rückt dazu noch die Frage der 
Reform der Lehrerbildung aus dem rein Theoretischen heraus und ver- 
quickt sich mit dem praktischen Volksschulaufbau zu einem schwer zu 
lösenden Knoten. Was der Deutsche Lehrerverein mit seinen Gefolgs- 
mannen an Ansprüchen für seinen Nachwuchs erhoben hat, muß jeder 
anerkennen — solange das Ganze als »Zielforderung« betrachtet wird. 
Es ist nicht zu bezweifeln, daß auch für den Volksschullehrer die beste 
Bildung gerade gut genug ist. Nur darf man unter dem Gewirr neu 
auftauchender Linien die eine nicht aus dem Auge verlieren, die, noch 
zurückreichend in »unreformierte« und »unreformatorische« Zeiten, in 
starker Betonung aus der Volksschule herauswuchs: die methodische 
Ausbildung. Einst die Königstochter der Volksschulpädagogik, scheint 
sie neben den modern angehauchten und glänzend ausgestatteten, mit 
tausend Ansprüchen auftretenden Reformgedanken allmählich in Aschen- 
brödelstellung hinabzugleiten. Unsere Lehrerzeitschriften kennen kaum 
noch methodische Abhandlungen, sondern füllen ihre Spalten mit Organi- 
sationsfragen, schulpolitischen Streitschriften und Gebaltsfragen. Daß wir 
aber einst methodisch zu erfreulichen Höhen aus den Niederungen des 
platten Schulmechanismus herausgestiegen waren, den Lehrer der höheren 
Schule in diesem Punkte sicherlich überragten, liegt weniger an der 
theoretischen methodischen Ausbildung im Seminar, sondern zu nicht ge- 
ringem Teile an der dreijährigen Hilfslehrerzeit, die den jungen Amts- 
genossen stracks in den Sattel setzte und es ihm überließ, welche Wege 
und Stege er mit seinem Schulpferde zu reiten gedachte. — Die Hilfs- 
lehrerzeit im Anschluß an die Seminarjahre soll nun wegfallen. Mit ihr 
gleitet ein gut Stück Romantik aus dem Lehrerleben dahin. 

Aber was hilft es? Reale Werte gilt es festzuhalten. Und wenn die 
deutsche Oberschule kommt, wenn sie — wie vorgesehen — »allgemein 
gebildete«, aber nicht fachlich vorbereitete neunzehnjährige Schüler aus 
ihren Pforten entläßt, dann freilich haben die Hilfslehrerjahre in der alten 
Gestalt ihre innere Berechtigung verloren. Sie wären dann ein Garten 
ohne Fruchtboden und keimende Pflänzlein, alles Vorteilv, welche die 
hisher geübte Organisation bot. Denn was das Seminar an Andeutungen 
und Grundlagen bot, das sollte in der Hilfslehrerzeit, zum ersten Male 
sich entwickeln können und eine spätere Reife vorbereiten. Aber letzten- 
endes ist nicht die Form, sondern der Inhalt entscheidend. Wenn die 
Reform die Vorteile des Überlieferten erhalten kann — gleichviel auf 
welche Weise — soll man es zufrieden sein. 


2. Gedanken zur Reform der Lehrerbildung. 295 


Um dieses Endziel nicht aus dem Auge zu lassen, bedarf es aber 
innerhalb der neuen Organisationspläne gewisser Überlegungen. Der 
künftige Lehrer, von der Oberschule entlassen, soll auf breiter Basis auf 
seinen künftigen Beruf vorbereitet werden. Aber beileibe nicht nur oder 
vorwiegend theoretisch! Die Praxis ist und bleibt die Hauptsache. 
Sie muß den Resonanzboden für alle Theorien bilden. Das Seminar hat 
diese Verquickung bisher geboten — die neue Lehrerbildung muß sie 
auf jeden Fall aufrecht erhalten, also Übungsschulen schaffen, die illustrieren, 
was der theoretische Unterricht bisher geboten hat. Unter diesem Ge- 
sichtswinkel aber fängt die Streitfrage: ob pädagogische Akademie oder 
Universität an in eindeutige Klarheit zu rücken. Die Universität kann in 
ihrer zurzeit bestehenden Form nicht leisten, was wir, wenn die Reform 
mit ihren sicher berechtigten Grundgedanken nun durchgeführt werden 
soll, fordern müssen. Selbst die besten pädagogischen Vorlesungen auf 
der Universität sind doch nur Einführungen und Grundlagen für das 
Bildungswesen, sie kreisen um die letzten und höchsten Fragen der 
Bildungslehre und hören dort auf, wo die praktische Lehrarbeit erst be- 
ginnt. 

Es soll das kein Vorwurf gegen die Universiätspädagogik sein. Sie 
hat mit ihren bisher dargebotenen Vorlesungen erfüllt, was man von ihr 
verlangen konnte. Die Anlage einer Lektion in der Elementarklasse ge- 
hört nicht zu ihrem Interessengebiete. Hier hat die Arbeit der Fach- 
schule einzusetzen. In dem neuerdings entbrannten Streit über die 
Reform der Lehrerbildung zwischen Prof. Spranger und Prof. Kühnel 
ist von letzerem der Vorschlag eingebracht worden, die Studenten der 
Pädagogik an den Volksschulen der Universitätsstadt während der Studien- 
zeit »nebenbei« praktisch arbeiten zu lassen. Welch ein Rückschritt! 
Wie falsch muß das Bild vom Schulleben werden — wie einseitig zum 
mindesten —, wenn der Lernende den Großstadt-Schulorganismus flüchtig 
sieht und dann nach vollendetem Studium in die pädagogische Praxis 
hinaustritt — als Dorfschullehrer. Er muß dann in seinen neuen 
Wirkungskreis mit überspannten und falschen Anschauungen treten, die 
kleinen Verhältnisse seiner neuen Heimat werden ihm die großstädtischen 
Ausmaße vermissen lassen, unü nur zu leicht kann es geschehen, daß er 
in Unmut über Fehlendes köstliche Sonderheiten des Dorfschullebens über- 
sieht und hoher innerer Wert verlustig geht, während er sich vergeblich 
bemüht, die köstliche Enge seines Dorfsschullebens in seinen Großstadt- 
rahmen hineinzudehnen. Es war wohl bedacht, daß man bisher die jungen 
Lehrer erst einmal hinaus aufs Land schickte, ehe man sie dem Groß- 
betriebe der Stadtschulen anvertraute. 


226 C. Literatur, 








C. Literatur. 


Roloff, Lexikon der Pädagogik. V. Band. Freiburg i. Br., Herder. 

Der letzte Band dieses Werkes. Wieder erweist sich dieser Band als ein 
Nachschlagewerk von großem Werte. Er enthält zahlreiche Artikel (Sulzer bis 
Zynismus), dann einige Nachträge und zum Schlusse ein Namen- und Sach- 
verzeichnis zu allen fünf Bänden. Im Vorwort teilt der Herausgeber den Plan 
mit, sein biographisches Material als »Handwörterbuch der Pädagogen und Schul- 
märner« erscheinen zu lassen. Es ist das zu begrüßen, denn schon die biographi- 
schen Teile dieses Lexikons sind sehr zahlreich und ausgedehnt. Es ist nur zu 
wünschen, daß auch die Gegenwart dabei möglichst miterfaßt wird. Läßt sich über 
die Lebenden zwar kein Endurteil noch fällen, so läßt sich doch bei biographischer 
Darstellung von Gegenwartspädagogen ein tieferer Einblick in die Strömungen und 
Leistungen unserer Zeit erzielen. Kenntnis der Vergangenheit ist nicht wichtiger 
als Kenntnis der Gegenwart. Es wäre sicher gut gewesen, wenn im Lexikon selbst 
schon einige Zeitgenossen zur Darstellung gekommen wären. Zu Lebzeiten kann 
biographisches Material am besten gesammelt werden. 

Wenn man nun das ganze Werk überblickt, so schaut man mit Erstaunen 
auf die Zeit vor unserem Zusammenbruche. Heute könnte ein solches Hilfsmittel 
in diesem Umfange, dieser Ausstattung und zu diesem Preise nicht mehr hergestellt 
werden. Unsere Umsturzzeit wird zwar rasch manches verändern, aber seinen, 
grundlegenden Wert wird dieses Werk auf lange Zeit hinaus behalten. 

Egenberger. 


Lic. Dr. Wilh. Erbt, Die deutsche Erziehung. Eine Geschichte der Lebens- 
werte unsers Volkes und ihrer Verwirklichung an seiner Jugend. Frankfurt a/M., 
Moritz Diesterweg, 1920. 213 S. Geh. 7,50 M, geb. 9,50 M. 

»Wer das Vergangene recht erkannt, wird auch das Zukünftige durchschauen, 
er wird getrost mit doppelt sichrer Hand am starken Bau der Zukunft bauen.« 
Diese Erkenntnis kommt einem zu Bewußtsein, wenn man Wilh. Erbts wertvollen 
Beitrag zur Geschichte der deutschen Erziehungswissenschaft liest. Der bekannte 
Pädagog und Theolog hat sich die dankenswerte Aufgabe gestellt, im Hinblick auf 
die Neugestalturg des deutschen Bıldungswesens, dessen Baugrund, Baustoff 
und Baugeschichte darzustellen. Nun liegt die gelungene, ihrer Form nach 
knappe Arbeit vor, die keiner ohne Nutzen aus der Hand legen wird, — mangelt 
es doch vielen unter uns, den Stürmern und Drängern sogar zumeist, an genügender 
Kenntnis des geschichtlich Gewordenen und an Ehrfurcht vor ihm. Nach dem ein- 
leitend von der Erziehung überhaupt gesprochen wird, behandeln die drei großen 
Abschnitte: A. Die Erziehung im Zeitalter geistiger Gebundenheit. B. Die Erziehung 
im Zeitalter geistiger Verselbständigung (1450—1800). C. Die Erziehung im Zeit- 
alter geistiger Verbundenheit (Zeit völkischen Erwachens, des jungen Deutschlands, 
der kleindeutschen Wirklichkeit, des neuen Reiches). Hier liegt keine landläufige 
Geschichte der Pädagngik in üblicher Seminarlehrbuchart vor, sondern eine von 
hoher Warte ausgeschaute Geschichte deutsch-völkischer Lebenswerte in ihrer Aus- 
wirkung auf erzieherischem Gebiete. Die angefügte Quellenkunde nennt eine große 
Auswahl geschichtlicher und pädagogischer Werke. 

Bautzen (Sa.) Jobannes Meyer. 


C. Literatur. 297 


au un nn nn. nn nen — 


Ludwig Suderow, Psychoanalyse und Erziehung. Berlin, Verlag des Ost- 
deutschen Jünglingsbundes. 35 S. Preis 1 M. 

Das kleine Heft will eine kurze Schilderung des psychoanalytischen Verfahrens 
und seiner Bedeutung für die Erziehung gaben. Ich gestehe: ich ging mit großem 
Mißtrauen an das Studium heran. Und ich wurde eigentlich angenehm enttäuscht. 
Der Verfasser bemüht sich, eine wirklich zutreffende Schilderung der Psychoanalyse 
zu geben. Er ist in der Literatur erfahren. Er erkennt ganz richtig, daß der 
Psychoanalytiker einen scharfen Verstand, ein seelisch feines Empfinden, ein reines 
Herz haben muß. Sonst ist die Psychoanalyse vom Übel! Noch befaßt sich die 
psychoanalytische Pädagogik vorwiegend mit abnormen Jugendlichen. »Es ist aber 
. zu erwarten, daß sie immer mehr auch für die Behandlung des normalen Seelen- 
lebens und für die Aufdeckung der auch hier vorliegenden vielen bisher rätselhaften 
Erscheinungen und damit auch für die Erziehung im allgemeinen Bedeutung ge- 
winnen wird.« Vielleicht kann die kleine Schrift nicht unwesentlich dazu beitragen, 
in Erzieberkreisen erst einmal überhaupt das Interesse für die Psychoanalyse zu 
erwecken und zur Beschäftigung mit ihr anzuregen. 

Berlin-Lichtenberg. Karl Wilker. 


Dr. Felisch, Wirkl. Geh. Admiralitätsrat, Abteilungschef im Reichs-Marineamt, 
Ein deutsches Jugendgesetz im Rahmen der »Neuordnung der 
Menschenliebe«. Berlin S. W., E. S. Mittler & Sohn. 68 S. 

Felisch ist auf diesem Gebiete kein Neuling und auch unseren Lesern nicht 
unbekannt. Ich verweise nur auf Heft 30 unserer Beiträge »Die Fürsorge für 
die schulentlassene Jugend«. Als langjahr'ger Vorsitzender des größten inter- 
koufessionellen Erziehungs- Vereins in Deutschland, des »freiwilligen Erziehungs- 
beirates für schulentlassene Waisen zu Berlin«, ist er ein hervorragender Sach- 
kenner auf dem ganzen Gebiete der Jugendfürsorge, insbesondere auch nach der 
organisatorischen und rechtlichen Seite hin. Wenn man ihn und seine Bestrebungen 
auf diesem Gebiete aber recht verstehen und bewerten will, dann muß man zuvor 
seine andere jüngst erschienene Schrift lesen: »Neuordnung der Menschenliebe« 
(Zweite Auflage. Berlin, E. S. Mittler & Sohn, 1918). Das halbdeutsche, von 
Bethmann-Hollweg geprägte Schlagwort, »Neuorientierung« hat Felisch hier ins 
volldeutsche und christliche oder doch allgemein ethische übersetzt und so die Frage 
nach einer Neuordnung der Menschenliebe aufgeworfen. Er hat darin Begriff und 
Wesen der Menschenliebe auf Grund des neuen Testamentes klar gelegt, hat ge- 
zeigt, welches die Urvorschriften sind, nach denen die Menschenliebe erwiesen 
werden soll. 

Es ist Dr. Felisch gelungen, auf einem knappen Raum erschöpfend alle Fragen 
zusammenzufassen, die vom wirtschaftlichen und rechtlichen, erzieherischen und 
kirchlichen, gesundheitlichen und politischen Gesichtspunkte aus im Gebiete der 
Jugendfürsorge der Lösung harren. Freilich konnte kein Berufenerer an diese Auf- 
gabe als Felisch herantreten, der in langjähriger erfolgreicher Arbeit als Richter 
und Verwaltungsbeamter, besonders als Leiter eines unserer größten Jugendfürsorge- 
vereine, die praktischen Erfahrungen sammeln konnte. Felisch schlägt ein 
Rahmengesetz vor, das auf allen einschlägigen Gebieten die besonderen Forde- 
rungen im Interesse der Jugendlichen festlegt, dagegen alle ihnen und den Er- 
wachsenen gemeinsamen Verhältnisse der allgemeinen Gesetzgebung überläßt. Er 
erwartet die Verwirklichung seines großen und umfassenden Planes von einem ein- 
heitlichen Erziehungsreichsgesetze. 

Die Revolution mit ihren »Neuordnungen« hat nach dieser Seite hin leider 


228 C. Literatur. 


völlig versagt. Die Verwilderung der Jugend und der Volksmasse ist ins Grauen- 
hafte gewachsen, wobei nicht selten die jetzt Führenden vorangehen. Auf alle 
Fälle duldet das jetzige Regiment in Kinos, Nachtlokalen, auf der Straße, in öffent- 
lichen Versammlungen das Unglauplichste. Und die Nationalversammlung wußte 
auch weiter nichts zu tun, als sich mit »Bildung und Schule« und damit im wesent- 
lichen mit den »gewerkschaftlichen« oder »Standes« -Problemen der Beteiligten ge- 
setzgeberisch zu befassen und einen nie dagewesenen Kulturkampf auf dem Schul- 
gebiete heraufzubeschwören. 

Möchte man doch die Felischsche Schrift sich einmal genau ansehen, ehe 
man irgendwie wieder mit »Einheitsschule« und anderen umfaßbaren Schlagwort- 
problemen sich gesetzgeberisch befaßt! Er 


Eingegangene Schriften. 


1. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge, herausgegeben von 
der Zentralstelle für Kinderschutz und Jugendfürsorge in Wien. XII. Jahrgang. 
Jährlich 12 M. Wien I, Kommissionsverlag: Moritz Perles. 


2. Blätter für Taubstummenbildung. Begründet von Schulrat Eduard 
Walther. Herausgegeben von Schulrat Gustav Wende, Direktor der staatl. 
Taubstummenanstalt zu Berlin- Neuköln. Berlin N. 35, Verlag Elwin Stauden. 
33. Jahrg. Erscheint am 1. u. 15. jeden Monats im Umfange von je 1 Druck- 
bogen. Preis viertelj. 4 M. 

3. Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger. Organ des Vereins 
für Erziehung, Unterricht und Pflege Geistesschwacher. Herausgegeben von 
Oberlehrer Reinh. Gürtler, Chemnitz-Altendorf, u. Medizinalrat Dr. Meltzer, 
Großhannersdorf i. S. Halle a. S., Verlag Carl Marhold. Jährlich 12 Nummern, 
je 1 Bogen. Preis 8 M. 39. Jahrg. 

4. Tijdschrift voor buitengewoon Onderwijs. Orgaan der Vereeniging van 
Onderwijzers en Arten, Werkzaam aan Inrichtingen voor Onderwijs aan achter- 
lijke en zenmozwakke Kinderen. Redactie: P. H. Schrender, G. J. Vos, 
Dr. E. de Vries. Uitgevers - Maatschappij »Het Klaverblad«, S. Gravenhaage. 
1. Jahrg. Nr. 1. Jährlich 9 Nummern zum Preise von 3 fl. 

5. Die neue Erziehung. Sozialistische Pädagogische Zweiwochenschrift. Heraus- 
geber: Dr. M. H. Baege. Berlin, Verlag Gesellschaft u. Erziehung G. m. b. H. 

6. Blätter für die Leipziger Armenpflege und Jugendfürsorge. Heraus- 
gegeben von der Geschäftsstelle des Armendirektoriums, Leipzig, Stadthaus. Bis 
Dezember 1919 erschienen 180 Nummern. 

7. Zeitschrift des deutsch-evangelischen Vereins zur Förderung der 
Sittlichkeit. Herausgegeben vom Vorstand unter Schriftleitung von General- 
sekretär P. Lic. Bohn, Plötzensee. 33 Jahrgänge. 

8. Pro Inventute. Schweizerische Zeitschrift f. Jugendfürsorge u. Jugendpflege 
(Fortsetzung der »Jugendwohlfahrt«). Herausgegeben im Auftrage der Stiftungs- 
kommission der Schweiz. Stiftung »Für die Jugeud« vom Zentralsekretariat Pro 
Inventute in Zürich (Zentralsekretär Dr. Hanselmann). Erscheint monatlich. 
Jährlich 7 Fr. 

9. Die Pflicht. Wochenschrift für alle Berufsstände Mitteldeuschlands. Heraus- 
gegeben vom Verein f. soziale Verständigung in dər Provinz Sachsen. 
1. Jahrg. Bisher 33 Hefte. Preis vierteljährlich 4 M. 





Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 


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FERLELELERERT 


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A. Abhandlungen. 


-—2 


Heilpädagogische Veranstaltungen für tuberkulöse und 
tuberkulose-gefährdete Kinder. 
Von 
Lehrer Karl Triebold, Senne I- Friedrichsdorf (Westf.). 


Wiederaufbau, innere und äußere Wiederaufrichtung und Wieder- 
erstarkung des deutschen Volkes sind Losungsworte für unsere Zukunft. 

Unbedingte Voraussetzung für alle jenen Zielen dienende Arbeit 
ist die Erhaltung und Stärkung der Volksgesundheit. 

In Anbetracht der großen Gefahr, welche die durch den Krieg 
verursachte geradezu erschreckende Steigerung der Tuberkulose für 
unsere Volksgesundheit, insbesondere für unsere Jugend bedeutet, ist 
die Tuberkulosebekämpfung ein Kapitel, das unter allen Umständen 
mit zu den brennendsten Gegenwartsfragen gehört. 

Der Zweck nachstehender Dailegungen soll nun sein, für Schule 
und Erziehung ein weiteres Arbeitsfeld in der Tuberkulosebekämpfung 
zu eröffnen, dem Tuberkulosearzt im Pädagogen einen Mitstreiter zu 
verbünden. 

Unser Ziel ist, die gesamte Tuberkulosebekämpfung auf heilpäda- 
gogischer Grundlage aufzubauen. Wir lassen uns dabei durch zwei 
Gesichtspunkte leiten: 

l. Geschichtliche Tatsachen erfordern diese Entwicklung. 

2. Die bei den Tuberkulösen vorliegenden typischen seelischen 
Schädigungen verlangen den Ausbau in Mapeo apan 
Richtung. 

Zum Zwecke einer diesbezüglichen Erfassung des ganzen Ge- 
bietes der Tuberkulosebekämpfung würden folgende Aufgaben zu 
lösen sein: a 

Zeitschrift für Kinderforschung. 25. Jahrgang. 16 


230 A. Abhandlungen. 
I. Ausbau der vorbeugenden Tuberkulosebekämpfung im heil- 
pädagogischen Sinne, 
a) für das Kindesalter, 
b) für das Erwachsenenalter. 
II. Ausbau der therapeutischen a EBIE im 
heilpädagogischen Sinne, 
a) für das Kindesalter, 
b) für das Erwachsenenalter. 

Demgemäß haben wir uns im Nachstehenden nur zu befassen mit 
der therapeutischen Tuberkulosebekämpfung im Kindesalter. 

Dieser Punkt ist herausgegriffen aus der Aufgabenreihe, weil er 
der dunkelste von allen ist, und weil ganz besonders hier schnelle und 
tatkräftige Hilfe dringend erforderlich ist. 

Mögen diese Darlegungen, die im Sonderdruck auch als besondere 
Denkschrift herausgegeben werden, unserer lungenkranken und tuber- 
kulose-gefährdeten Jugend dienen! Diese Kinder — die Ärmsten 
unter den Armen — haben ein Anrecht auf hilfreiche Unterstützung. 
Für zweckdienliche, die Sache fördernde Zuschriften aus Leserkreisen 
im voraus Dank! 


I, 


Motto: Unsere ganz besondere Fürsorge gebührt 
den lungenkranken und den blassen, hustenden 
Kindern, die später zum erheblichen Teil die große 
Armee der Tuberkulösen ausmachen. 

Als körperlich Minderwertige haben sie ein An- 
recht — ebenso wie die geistig Minderbegabten auf 
Hilfsschulen usw. — auf entsprechende Erziehungs- 
einrichtungen, die mithelfen können, ihnen die Ge- 
sundheit wiederzugeben. 


Die schon bei Kriegsausbruch vom Deutschen Zentralkomitee zur 
Bekämpfung der Tuberkulose zum Ausdruck gebrachte Befürchtung, 
daß die bis dahin günstig fortschreitende Tuberkulosebekämpfung unter 
den Kriegseinflüssen eine gewaltige Hemmung erleiden würde, ist in 
erschreckender Weise eingetroffen. 

Bei den durch die Hungerblockade und die gesamten Kriegs- 
verhältnisse verursachten Krankheiten steht die Tuberkulose und be- 
sonders die Kindertuberkulose naturgemäß an der Spitze. 

Die starke Zunahme der Sterblichkeit an Tuberkulose überhaupt 
geht aus folgender Zusammenstellung, die dem diesjährigen Geschäfts- 
bericht des Deutschen Zentralkomitees zur Bekämpfung der Tuber- 
kulose entnommen ist, hervor: 





Triebold: Heilpädagogische Veranstaltungen für taberkulöse Kinder. 231 


Danach starben von je 10000 Lebenden an Tuberkulose: 


Rückgang in der Tuber- 
1876 1913 1917  kulosebekämpfung 
L In den Stadt- und Land- auf das Jahr 
gemeinden Preußens, 
a) in Stadtgemeinden. . 38 15 24 1896 
b) in Landgemeinden. . 29 11 16 1905 
I. durchschniittl. in Preußen 32 13 20 1898 
IH, in Berlin... x & >» » %. 38 16 30 1887 


Über die Zunahme der Kindersterblichkeit an Tuberkulose gibt 
derselbe Geschäftsbericht folgendes erschreckende Bild: 

Die Tuberkulosesterblichkeit in Preußen nach Altersklassen und 
Geschlechtern in den Jahren 1876—1916 berechnet auf je 10000 in 
jeder Altersklasse Lebende: 

1 jährige 1—2 jährige 2—3 jährige 3—5 jährige 5—10 jährige 

männl. weibl. m. w. m. W. m. w. m. è w. 
1876 = 23,18 21,25 2022 20,66 11,54 12,09 639 6,62 3,60 4,75 
1913 = 20,59 16,33 13,66 12,19 761 7,04 5,72 558 382 4,64 
1916 = 11,36 9,61 1271 11,64 937 854 6,76 7,16 444 5,78 

Um den gewaltigen Rückgang in der Tuberkulosebekämpfung und 
zugleich das Anwachsen der Lungenkrankheiten durch den Krieg fest- 
zustellen, ist im Vorstehenden besonders auf die 2—10 jährigen Kinder 
zu achten. Während im Jahre 1913 gegen 1876 ein wesentlicher 
Rückgang der Volksseuche als Erfolg planmäßiger Bekämpfung zu 
verzeichnen war, ist bei den 2—3 jährigen schon im Jahre 1916 ein 
erheblicher Rückgang der Erfolge festzustellen, bei den 3—10 jährigen 
übersteigt die Tuberkulosesterblichkeit im Jahre 1916 bereits wesent- 
lich dieselbe des Jahres 1876. Die ersten Kriegsjahre bis 1916, die 
noch verhältnismäßig günstige Lebensbedingungen boten, haben somit 
den ganzen Erfolg der Tuberkulosebekämpfung seit 1876 in Frage gestellt. 

Wie mag es nun heute für diese Kinder aussehen, worüber noch 
kein Material vorliegt? Gewiß ist, daß die Folgen der Jahre 1916 
bis 1919 in dieser Hinsicht noch viel verheerender sind als die 
Zeit 1914—16. 

Ein annäherndes Bild, allerdings auch nur für die Zeit 1915 bis 
1917, über die Großstadtverhältnisse bietet die Schrift: »Die Wirkungen 
der englischen Hungerblockade auf die deutschen Kinder« von Lic. 
F. S. Schultze, Direktor des Berliner Jugendamtes. 

Da es nicht möglich ist, die Gesamtzahl der Erkrankungen über- 
haupt zu fassen, gibt er die betreffenden Sterbeziffern an. Nach 
seinen Angaben ist in Berlin die Lungentuberkulose allein als Todes- 


ursache in den Jahren 1915—17, wie folgt, gestiegen: 
16* 


232 A. Abhandlungen. 


1915 1916 1917 

Bei den 4— 5 jährigen Kindern 20 35 47 
kÉ) „ 6—10 3) „ 38 55 55 
„ „ 11—15 „ „ 59 94 133 
„ „ 16—20 1 „ 296 316 494 


»Die Zahl der in Berlin an Lungentuberkulose gestorbenen Kinder 
hat sich also in den Jahren 1915—17 für die Kleinkinder verdoppelt, 
für die älteren Schulkinder nahezu verdreifacht.« 

Über die Zeit nach 1917 schreibt Schultze: »Dauerndes Siech- 
tum als Folge der Erkrankungen wird immer von neuem festgestellt. 
Für die nächsten Jahre sind zahlreiche Sterbefälle, die auf Erkrankungen 
der Jahre 1916—19 zurückgehen, mit Sicherheit vorauszusagen.« 

Da die Kinder »doch nicht nur den status quo zu erhalten haben, 
sondern einen Teil der Nahrung für das Wachstum hergeben müssen, 
treten bei ihnen die Folgen des Hungers zeitiger und deutlicher auf. 

Im Anfang dieses Jahres haben eine Reihe namhafter Ärzte des 
neutralen Auslandes auf Wunsch der deutschen Ärzteschaft und medi- 
zinischen Fakultäten Eindrücke über die deutsche Hungersnot ge- 
sammelt. In ihrer Depesche an Präsident Wilson heißt es: »Die Be- 
völkerung der Großstädte befindet sich in einem Zustande unzwei- 
deutiger Unterernährung .... Die Tuberkulose steigt, namentlich 
auch bei den Kindern... .e« 

Während das vorstehende Material in der Hauptsache die Tuber- 
kulose-Sterblichkeit berücksichtigt, seien noch folgende, allerdings 
aus dem Frieden stammenden, Zahlen angeführt, die ein Bild geben 
wollen über die Häufigkeit der Tuberkulose-Erkrankungen im 
Kindesalter. Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Baginski stellte in der Sitzung 
des Deutschen Zentralkomitees zur Bekämpfung der Tuberkulose am 
10. 5. 10 fest: »Nach näheren Ermittelungen haben sich folgende 
Prozentzahlen über das Vorkommen der kindlichen Tuberkulos ergeben: 


Im Alter vn 0-1), Jahr = 5% 
„ n „ Hm l ,„ = 13, 
ans „  1— 2 Jahren = 17, 

1 1 13 ah „ 19 „ 
„ 1 p a= „ — 54 „ 
„ „ „ 6—10 „ = 51,3 %o 
„ E „ 10—15 „ en 639%, 


Im Anschluß daran kommt er zu der Auffassung, daß es fast so 
scheine, als ob es nur eine Krankheit gäbe: die Tuberkulose. Er 
weist dann darauf hin, welche Sisyphusarbeit es sei und welch großer 
Mittel es bedürfe, um der Tuberkulose des Kindesalters entgegen zuarbeiten. 


Triebold: Heilpädagogische Veranstaltungen für tuberkulöse Kinder. 233 


Nimmt man zu diesen Ermittelungen Prof. Baginskis die Fest- 
stellungen über die Steigerung der Tuberkulose durch den Krieg 
hinzu, so hat man in voller Deutlichkeit vor Augen, welche Gefahr 
die Tuberkulose für unsere Jugend, für Deutschlands Zukunft bedeutet. 

Wenn man bedenkt, daß neben der sittlichen und geistigen Er- 
neuerung der Jugend der Wiederaufbau Deutschlands im wesentlichen 
abhängt von der gesundheitlichen Ertüchtigung des gesamten Volkes 
und insbesondere von der gesundheitlichen Sicherung des heran- 
wachsenden Geschlechtes, dann ist durch das vorstehende Material ein 
Gebiet berührt, das des ernsten Interesses aller unbedingt bedarf und 
würdig ist. 

II. 


Schon in Friedenszeiten galt die Kindertuberkulose als der 
dunkelste Punkt in der gesamten Tuberkulosebekämpfung. Durch die 
gewaltige Zunahme grade der Kindertuberkulose infolge des Krieges 
dürfte die von Ministerialdirektor Prof. Dr. Kirchner schon vor dem 
Kriege ausgesprochene Forderung: »Der Kampf gegen die Tuber- 
kulose im Kindesalter muß mit verstärkten Kräften aufgenommen 
werden«, heute erhöhte Bedeutung erhalten haben. 

Ganz im Sinne jener Forderung glauben wir auf die Notwendig- 
keit heilpädagogischer Einrichtungen — Waldschulen für tuberkulose- 
gefährdete Kinder und Waldschulsanatorien für tuberkulöse Kinder 
— hinweisen zu sollen, durch die für Schule und Erziehung ein 
weiteres Arbeitsfeld in der Tuberkulosebekämpfung eröffnet wird. 

Für die Schule ist eine Mitarbeit in der Tuberkulosebekämpfung 
nach zwei Richtungen hin möglich, einmal, was die gesunde Jugend 
anbelangt; eine vorbeugende, und mit Rücksicht auf die bereits er- 
krankten und gefährdeten Kinder: eine therapeutische. 

Bei aller Anerkennung der durch die Schule im vorbeugenden 
Sinne bereits geleisteten Arbeit muß immer wieder darauf hingewiesen 
werden, daß eine wesentliche Verbesserung und wirksamere Aus- 
gestaltung der schulärztlichen Beaufsichtigung der Kinder unbedingt 
erforderlich ist, und daß — neben der planmäßigen Unterweisung — 
im gesamten Schulbetrieb in weit höherem Maße als bisher durch 
praktische Durchführung der Gesundheitsregeln zur gesundheitlichen 
Ertüchtigung der Jugend beigetragen wird. 

Eine ausführliche Behandlung dieser wichtigen Fragen soll in 
einer besonderen Arbeit geschehen. 

Der Zweck dieser Denkschrift soll sein, die therapeutische Mit- 
arbeit der Schule in der Tuberkulosebekämpfung auf heilpädagogischer 


234 A. Abhandlungen. 


Basis — durch Forderung heilpädagogischer Anstalten für tuberkulöse 
und tuberkulose-gefährdete Kinder — auszugestalten. 

Im folgenden soll diese Forderung durch zwei Gedankenreihen 
— eine mehr geschichtlicher und eine psychologischer Natur — be- 
gründet werden. 

Schon im Jahre 1910 hatten sich die auch dieser Abhandlung. 
zugrunde liegenden Erfahrungen soweit verdichtet, daß die Sach- 
verständigen-Kommission vom Roten Kreuz in ihrer Sitzung am 7. März 
das mit der hier erhobenen Forderung eng verwandte Thema: 

»Schul- und Arbeitsunterricht in Kinderheilstätten« 
zur Behandlung stellte. 

Prof. Kirchner fordert in dieser Sitzung — neben der vor- 
beugenden Bekämpfung der Tuberkulose durch die Schule — daß 
tuberkulose-verdächtige Kinder in besonders gesunde Verhältnisse 
(Walderholungsstätten, Seehospize, Waldschulen usw.) gebracht werden 
und mäglichst zahlreiche Anstalten dieser Art — Kinderheilstätten 
eingeschlossen — begründet und unterhalten werden. 

Wesentlich näher stehen Prof. Baginskis Leitsätze zu der Forde- 
rung der Denkschrift: »Man hat auseinander zu halten, die beiden 
sich wohl ergänzenden, aber nicht zu identifizierenden Einrichtungen: 
Waldschulen für schwächliche Kinder und Waldheilstätten für kranke, 
insbesondere tuberkulöse Kinder. Erstere sind Schulen mit einem 
Lehrplan, durch welche ein bestimmtes pädagogisches Ziel erreicht 
werden soll. Letztere sind Heilstätten mit lediglich demjenigen Zu- 
maß von Unterricht, welches geeignet ist, auch durch Fortbildung der 
psychischen Entwicklung der gefährdeten Kinder der körperlichen 
Heilpflege zur Hilfe zu kommen und die durch die Heilpflege auf- 
gezwungene Rückständigkeit der geistigen Entwicklung auf ein mög- 
lichstes Mindestmaß zu beschränken.« 

Über die hygienische Bedeutung des in den Heilplan einzu- 
gliedernden Schul- und Arbeitsunterrichts sagt Prof. Baginski: »Be- 
tätigung in der Arbeit, nach Art und Maß der in Heilpflege befind- 
lichen Kinder zugemessen, wird gleichfalls zum Heilfaktor selbst. ... 
Von diesem Standpunkte aus ist auch der Arbeitsunterricht den in 
Heilpflege befindlichen Kindern zugängig zu machen, anzupassen und 
zuzumessen.« 

Beinahe ganz auf dem Boden der Forderungen der Denkschrift 
steht Prof. Dr. G. Pannwitz, Generalsekretär der internationalen 
Vereinigung gegen die Tuberkulose, in seinen mehr praktischen Leit- 
sätzen, worin er die Entwicklung des Schul- und Arbeitsunterrichts 
in den Kinderheilstätten zu Hohenlychen zum Ausdruck bringt. 


Triebold: Heilpädagogische Veranstaltungen für tuberkulöse Kinder. 235 


Über das Ziel des Arbeitsunterrichts sagt Pastor Plaß, Erziehungs- 
direktor in Zehlendorf: »Der Arbeitsunterricht in den Heilstätten soll, 
soweit es sich um Kinder im schulpflichtigen Alter handelt, die Pfleg- 
linge zur Arbeitsgeschicklichkeit im allgemeinen erziehen, das empi- 
rische Wissen und produktive Können pflegen und die Auswahl des 
späteren zweckmäßigen Berufs auf Grund der gemeinsamen Beobach- 
tungen erleichtern helfen. Soweit es sich um Schulentlassene handelt, 
bezweckt er die Ausbildung zu einem bestimmten, den Anlagen und 
dem Gesundheitszustande entsprechenden Berufe. 

Die pädagogische Notwendigkeit der Einführung von Unterricht 
in den Heilstätten legt Rektor Hertel in der Diskussion dar, indem 
er folgendes ausführt: »Nach meinen Erfahrungen zeigen die Kinder, 
die längere Zeit in Heilstätten usw. gewesen sind, nach ihrer Rückkehr 
in den regelmäßigen Schulunterricht zum Teil sehr erhebliche Lücken 
in ihrem Bildungsgange, die eine gewisse Rückständigkeit gegenüber 
ihren Mitschülern verursachen. Wenn auch zugegeben werden kann, 
daß im allgemeinen infolge des bessern Gesundheitszustandes auch 
die geistige Leistungsfähigkeit eine größere geworden ist, so reicht 
diese doch in den meisten Fällen nicht aus, um das Kind entsprechend 
zu fördern. Denn das Kind hat jetzt eine doppelte Arbeit zu leisten: 
es muß dem fortschreitenden Unterricht folgen und außerdem die 
vorhandenen Lücken auszufüllen suchen. Die dadurch erforderte 
doppelte Anstrengung verursacht leicht einen neuen Schaden an der 
Gesundheit. Es ist darum wünschenswert, dem Elementarunterricht 
in den Heilstätten eine größere Bedeutung beizulegen.« 

Der Vertreter der Potsdamer Regierung, Reg.-Rat Großmann, 
forderte schon damals auf Grund der bereits vorliegenden Erfahrungen 
die Errichtung einer Musteranstalt, die in dieser Hinsicht vorbildlich 
wirken würde. 

Wahrscheinlich hat es der Krieg mitverschuldet, daß jene Pläne 
und Forderungen nicht Wirklichkeit geworden sind. Aber der Er- 
fahrungen wurden mehr auf diesem Gebiete, und die Zahl der An- 
hänger dieser Ideen wurde stärker. 

So entstand z. B. schon im Herbst 1915, gänzlich unabhängig 
von jenen Erfahrungen, an der Militärlungenheilstätte Lippspringe eine 
Kriegsbeschädigtenfortbildungsschule für Lungenkranke, die leider mit 
der Demobilmachung aufgelöst ist. Sie ist aus dem wirtschaftlichen 
Bedürfnis »den lungenkranken Kriegsbeschädigten ihrem Gesundheits- 
zustande entsprechende Erwerbsmöglichkeiten zu schaffen«, entstanden. 
Die Schule kann stolz sein, in den 3 Jahren ihres Bestehens durch 
Berufsum- bezw. -Weiterbildung — mit Hilfe von Elementar-, Fach- 


236 A. Abhandlungen. 


und Lehrwerkstättenunterricht — die Zukunft von etwa 3000 Lungen- 
kranken sichergestellt zu haben. Während der erste Teil des Heil- 
verfahrens der Ruhekur gewidmet war, wurde in der zweiten Hälfte 
der Schul- und Arbeitsunterricht im Sinne Prof. Baginskys in den 
Heilplan aufgenommen. Lungenheilstätte und Schule waren ein 
organisches Ganzes und arbeiteten durch Vermittelung der Berufs- 
beratungsstelle Hand in Hand. Vor allem zeigte das Lippspringer 
medizinisch - pädagogische Zusammenarbeiten in der Praxis, daß die 
Gefahr, die bei allen diesen Unternehmungen zu überwinden ist: das 
Ineinklangbringen der sich an und für sich widersprechenden Inter- 
essen des gesundheitlichen Prinzips, das die möglichste Rücksichtnahme 
auf den körperlichen Zustand fordert (Heilstätte), und des pädagogi- 
schen Prinzips, das einen möglichst umfassenden Unterricht verlangt 
(Schule), bei einträchtigem Hand-in-Hand-Arbeiten von Arzt und Heil- 
erziehern kein unüberwindliches Hindernis darstellt und die bereits 
vor dem Kriege geforderte Einführung von Schul- und Arbeitsunter- 
richt in Heilstätten durchaus möglich ist. 

Über die Einrichtungen der vorerwähnten schulmäßigen Fürsorge- 
maßnahmen ist ausführlich berichtet in dem Aufsatze: Kriegs- 
beschädigtenfürsorge in Lungenheilstätten, K. Triebold (Tuberkulose- 
fürsorgeblatt Nr. 2 und 4, 1917), dessen Verfasser, der pädagogische 
Begründer der Lippspringer Schuleinrichtungen, in seiner 3jährigen 
Unterrichtsarbeit an Lungenkranken immer wieder den pädagogisch 
wie gesundheitlich fördernden Einfluß planmäßiger Unterrichtsarbeit 
bestätigt gefunden hat. | 

Im Anschluß an Besichtigungen der Lippspringer Einrichtungen, 
die von Kommissionen der Badischen und Sächsischen Regierung vor- 
genommen wurden, wurden in beiden Staaten ähnliche schulmäßige 
Fürsorgeeinrichtungen nach Lippspringer Vorbild ins Leben gerufen. 
(In Sachsen unter Leitung von Oberstabsarzt Dr. Beschorner.) 

Diese vorgenannten Friedenserfahrungen in Hohenlychen und 
andern Kinderheilstätten und die Kriegserfahrungen in Lippspringe, 
Baden und Sachsen bestätigen, daß die Aufnahme eines planmäßigen 
Arbeitsunterrichts in das bisherige Heilverfahren, wofür ja der Volks- 
heilstättenverein vom Roten Kreuz in seiner hier angeführten Sitzung 
1910 bereits eintrat, durchführbar ist, daß die Erfüllung unserer 
Forderungen vom Standpunkte jener Erfahrungen aus nur einen kleinen, 
aber unbedingt notwendigen Schritt in derselben Richtung bedeutet. 

Im Sinne der weiteren Ausgestaltung der therapeutischen Tuber- 
kulosebekämpfung im Kindesalter halten wir deshalb folgende Ein- 
richtungen für erforderlich: 


Triebold: Heilpädagogische Veranstaltungen für tuberkulöse Kinder. 237 
1. Waldschulen für tuberkulose-gefährdete Kinder und 
2. Waldschulsanatorien für tuberkulöse Kinder. 

Eine alsbald vorzunehmende ärztliche Untersuchung aller schul- 
pflichtigen Kinder würde beweisen, wie reichlich das Schülermaterial 
für die geforderten Anstalten ist.!) Die Unterschiede beider Ein- 
richtungen sind keine wesentlichen, sondern Gradunterschiede. Doch 
muß, vorzugsweise aus medizinischen Erwägungen, eine Trennung der 
tuberkulose-gefährdeten und tuberkulösen Kinder unbedingt stattfinden. 
Diese Waldschulen müßten aber aus mancherlei Gründen (ungünstige 
häusliche Wohnungsverhältnisse, Anstrengungen während der täglichen 
Fahrten, erziehliche Rücksichten usw.) nicht nur für den Tagesbetrieb, 
sondern für einen Daueraufenthalt eingerichtet sein. Bezüglich des. 
Tagespianes (Wechsel von Ruhe und Arbeit) würden in der Wald- 
schule und dem Waldschulsanatorium nur Gradunterschiede vorliegen. 
Hinsichtlich der ärztlichen Fürsorge würde die Waldschule mit einer 
ärztlichen Überwachung, wie in den bestehenden, auskommen, während 
das Waldschulsanatorium direkte ärztliche Behandlung, wie in der 
Kinderheilstätte erfordert. Für den inneren Betrieb beider Ver- 
anstaltungen würden die Landerziehungsheime und die Kinderheil- 
stätten in der Hauptsache vorbildlich sein können. Aus dem Unter- 
richts- bezw. Beschäftigungsplan sei folgendes hervorgehoben: 

1. In beiden Anstalten ist — neben hygienischer Belehrung — 
die praktische Durchführung der Gesundheitsregeln in der 
Schule zu beachten, d. h. alles, was die Schule durch die Art 
und Weise des Unterrichts (Stundenplan, Pausen, Atemgymnastik, 
Schulspeisungen, Spiel und Sport, Turnen und Schwimmen) für 
die Gesundheit der Schüler tun kann. | 

2. Für die zukünftige Berufswahl der tuberkulösen bezw. ge- 
fährdeten Kinder ist eine dementsprechende Berufsberatung: 
bezw. Berufsvorbildung notwendig, um möglicherweise von 
vornherein diese Kinder Erwerbszweigen zuzuführen; die ihnen 
einen Lebensunterhalt unter gesundheitlich möglichst günstigen 
Bedingungen gewährleisten. 

3. Mit Rücksicht auf die Tatsache, daß man es mit kranken 
Kindern zu tun hat, ist das gesundheitliche Prinzip naturgemäß 
vorherrschend, und die pädagogischen Forderungen haben sich 
in der Hauptsache nach Art und Maß dem Gesundheitszustande- 
anzupassen. 








1) Thiele-Chemnitz schätzt die Zahl der unterernährten Kinder gegen 1913- 
auf das 4fache, der tuberkulose-gefährdeten auf das 2—3 fache. 


238 A. Abhandlungen. 

Zur Durchführung aller dieser Grundsätze ist die ärztlich-päda- 
gogische Arbeit eng miteinander zu verbinden, was ein inniges Hand- 
in-Hand-Arbeiten von Erzieher und Arzt erfordert. 

* * 
* 

Doch muß als Angelpunkt der pädagogischen und der ärztlichen 
Erziehungsarbeit in der Waldschule wie im Waldschulsanatorium fest- 
gehalten werden: die zielbewußte Willensbildung sei der Kern! 
Denn die Eigenart der Tuberkulose und ihres Krankheitsverlaufes 
bringt es mit sich, daß es unsern meisten Lungenkranken grade am 
festen Willen erheblich mangelt. Und wie bei allen Erfolgen im 
Leben ist besonders hier der feste Wille »zum Gesundwerdene die 
unbedingte Voraussetzung für die Heilung der Tuberkulose. 

Durch Hervorhebung dieses psychologischen Kerns der ganzen 
Frage ist eine neue Seite angeschnitten: Während bisher die Forde- 
rungen dieser Denkschrift mehr durch geschichtliche Erfahrungs- 
tatsachen begründet wurden, sollen jetzt Gedankengänge mehr psycho- 
logischer Natur die Notwendigkeit der Vorschläge und gleichzeitig 
auch ihren psychologischen Charakter dartun. 

In der Tuberkuloseforschung steht man heute auf dem Stand- 
punkte, daß >die Tuberkulose nicht nur eine Lokalkrankheit ist, son- 
dern eine allgemeine Toxikose, deren vergiftende Folgen sich im 
ganzen Körper und da nicht zum wenigsten im Nervensystem bemerk- 
lich machen.« (San.-Rat Dr. Liebe, Vorlesungen über Tuberkulose.) 

Nun liegen zahlreiche medizinische und auch pädagogische Be- 
obachtungsergebnisse vor, durch die eine typische krankhafte Beein- 
flussung der Psyche des Tuberkulösen nachgewiesen ist, so daß man 
grade bei der Tuberkulose im gewissen Sinne auch von psychischer 
Miterkrankung sprechen kann. Aus diesem umfangreichen medizini- 
schen Beobachtungsmaterial sei hier nur einiges hervorgehoben. 

Schon 1894 schreibt Dr. Heinzelmann in der Münchener Med. 
Wochenschrift (Nr. 5) über die »Psyche der Tuberkulösen«e, daß »die 
Veränderungen ganz beträchtlich sind, die die Gemütssphäre an 
Tuberkulose Erkrankter erfährt und daß in dieser Hinsicht die 
mangelnde geistige Gymnastik nachteilig auf die psychische Suffizienz 
wirke«. 

Weiter schreibt er: »Daß die Psyche der Tuberkulösen Ver- 
änderungen erleidet, darüber finden sich in den psychiatrischen Lehr- 
büchern Andeutungen. Prof. Kraepelin besonders hatte der Sache 
schon frühzeitig seine Aufmerksamkeit geschenkt. Unter den Phthisio- 
therapeuten haben Brehmer, Dettweiler, G. Cornet u.a. die Sache 
gestreift, doch hat sich meines Wissens niemand die Mühe gegeben, 


Triebold: Heilpädagogische Veranstaltungen für tuberkulöse Kinder. 239 


die Einzelheiten der Therapie dieser psychischen Seite der Tuberkulose 
nebeneinander hervorzuheben, was mir gerade von praktischer Be- 
deutung erscheint.« 

Bei dieser hohen Bedeutung, die Heinzelmann der Psyche in 
der Tuberkulosebehandlung beimißt, richtet sich nach seiner Auffassung 
die Qualität des Tuberkulosearztes in erster Linie mit nach seiner 
Fähigkeit, die Psyche seiner Kranken richtig zu erfassen und kon- 
sequent zu leiten. 

Schon hier ist die Gedankenrichtung auf die heilpädagogische 
Seite des Problems gegeben, wenn auch unter der Einschränkung, 
daß allein der Arzt für die Tuberkulosebekämpfung in Frage kommt. 

Dr. O. Hezel spricht sich in dem großen Schröder- Blumenfeld- 
schen Handbuch der Therapie der chronischen Lungenschwindsucht 
ähnlich aus. Er schreibt einleitend: »Im Verlaufe der chronischen 
Lungenschwindsucht wird das Nervensystem in sehr mannigfacher 
Weise in Mitleidenschaft gezogen.e Über die Behandlung dieser die 
Tuberkulose komplizierenden psychischen Veränderungen sagt er: 
»Der direkten Behandlung der allgemeinen nervösen Störungen und 
psychischen Abweichungen der Phthisiker kommt in der Therapie der 
chronischen Phthise eine große Wichtigkeit zu; sie ist vielfach die 
unerläßliche Vorbedingung für jede aussichtsvolle Phthisisbehandlung 
überhaupt. Die Behandlung der Schwindsüchtigen liegt nicht nur in 
den Händen des Arztes, sondern ganz wesentlich auch in den Händen 
des Kranken selbst, da ihm der Arzt während der jahrelangen Krank- 
heitsdauer nicht auf Schritt und Tritt folgen und ihn in seiner Lebens- 
führung überwachen kann. Der Kranke muß es allmählich lernen, 
sich selbst zu leiten. Es gehört aber zu einer erfolgreichen Selbst- 
führung eine gewisse Charakterfestigkeit, und gerade diese fehlt dem 
Phthisiker in der Regel. Die große Labilität der Stimmung und 
Willenstätigkeit erschwert eine konsequente Selbstführung außerordent- 
lich. Deshalb muß die psychische Schwäche in allererster Linie und 
mit aller Energie bekämpft werden. Die beste und aussichtsvollste 
Waffe dazu ist die psychische Beeinflussung, die Erziehung des 
Kranken durch den Arzt, welcher die weitgehende Suggestibilität des 
Phthisikers in glücklicher Weise entgegenkommt.« 

In diesen Ausführungen kommt der Leitgedanke der Denkschrift, 
der die Tuberkulosebekämpfung auch als heilpädagogisches Problem 
aufgefaßt wissen will, schon klarer zum Ausdruck. Von Hezels Stand- 
punkt, der in erster Linie die energische Bekämpfung der psychischen 
Schwäche durch psychische Beeinflussung, durch Erziehung des 
Kranken, wie er es schon direkt nennt, erreichen will, ist nur noch 


240 A. Abhandlungen. 


ein kleiner Schritt zu der Forderung: Die Heilpädagogik muß mit- 
helfen in der Tuberkulosebekämpfung. 

Über den spezifischen Einfluß der Tuberkulose auf das Geistes- 
leben schreibt Hezel weiter: »Man kann bei Tuberkulösen gewisse 
Wandlungen der Psyche besonders häufig beobachten, nämlich das 
ungenierte Hervorkehren der ursprünglichen Charakteranlage, worauf 
Engel mit Nachdruck hingewiesen hat. Man findet, wie dieser Autor 
sagt, unter den Tuberkulösen viel öfter als im täglichen Leben aus- 
gesprochene Charaktertypen (Pessimisten, Optimisten, Sanguiniker, 
Choleriker, Phlegmatiker) am häufigsten aber Sanguiniker. Das hängt 
ganz gewiß wesentlich damit zusammen, daß die psychische Energie 
überhaupt beim Phthisiker eine Abnahme erfährt. Infolgedessen er- 
leiden auch die psychischen Hemmungen, welche sich der Mensch 
unter dem Einfluß der Erziehung, der Schulbildung, der Berufstätig- 
keit, der Lebensstellung und weiterer Momente allmählich erwirbt, 
und welche seine Triebe, seine Instinkte, kurz seine angeborne Cha- 
rakteranlage korrigieren und modellieren, eine Abschwächung und 
damit schwindet ihre bisherige Einwirkung auf die angeborne psy- 
chische Anlage, welche nun wieder nackter zutage tritt.« 

Dettweiler nennt »eine bis ins kleinste gehende psychische 
Behandlung des Lungenkranken einen Grund- und Eckstein der 
Phthysiotherapie«. 

Weiter bietet Dr. Liebe zahlreiches Erfahrungsmaterial über das 
Seelenleben des Lungenkranken in seinen »Vorlesungen über mecha- 
nische und psychische Behandlung der Tuberkulösen«. 

Mit Rücksicht auf die gewaltige Bedeutung der seelischen Ver- 
fassung bei der Heilung körperlicher Leiden, leiten die vorliegenden 
Beobachtungsergebnisse unzweideutig auf nachstehende Schlußfolgerung 
hin: Da bei den Tuberkulösen neben der körperlichen Erkrankung 
typische Veränderungen des Seelenlebens vorliegen, muß bei dem 
Heilverfahren mit der medizinischen Heilweise die heilpädagogische 
Behandlung Hand-in-Hand gehen. 

Der Standpunkt, daß der Arzt diese Tätigkeit, die psychologisch- 
heilpädagogischer Natur ist, nebenher erledigen könnte, ist aus folgen- 
den Gründen unhaltbar: 

1. Diese heilerzieherische Seite der Tuberkulosebekämpfung als 
Neuland ist so wichtig, daß sie hauptamtliche Betätigung ver- 
langt. 

2. Der Arzt hat dazu nicht die entsprechende pädagogisch-psycho- 
logische Vorbildung. 

xk 


* 


Triebold: Heilpädagogische Veranstaltungen für tuberkulöse Kinder. 241 


Ergänzt seien diese meist medizinischen Beobachtungen durch 
pädagogische Erfahrungen, wie sie niedergelegt sind in der Schrift 
»Pädagogische Beiträge zur Beschäftigungstherapie für Lungenkranke« 
von K. Triebold, Beiheft zur Kinderforschung und Heilerziehung, 
Langensalza, Herm. Beyer & Söhne (Beyer & Mann). In seiner drei- 
jährigen Unterrichtstätigkeit bei den lungenkranken Kriegsbeschädigten 
drängte sich dem Verfasser, ohne daß er die vorgenannten medi- 
zinischen Erfahrungeu kannte, immer mehr und immer deutlicher der 
Gedanke auf, daß eine spezifische, ungünstige Beeinflussung des 
Geisteslebens durch die Tuberkulose stattfindet, deren eingehende 
Erforschung bei planmäßiger Beobachtung möglich ist. Gleichzeitig 
wurde aus diesen Zusammenhängen die praktische Folgerung gezogen, 
den gesamten Unterrichts- bezw. Beschäftigungsplan für die lungen- 
kranken Kriegsbeschädigten auf heilpädagogischer Basis aufzubauen. 

Im großen und ganzen gipfelten die eingehenden pädagogischen 
Beobachtungen in der Festlegung folgender Gesichtspunkte: 

1. Inwiefern die Tuberkulose auf Stimmungen, Entschließungen, 

Gedächtnis, Denken usw. einen schädigenden Einfluß ausübt. 

2. Wie andrerseits eine Verschlimmerung der Lungenkrankheit, bezw. 
eine Unterbindung des Heilprozesses eine Folgeerscheinung 
seelischer Vorgänge (seelischer Depressionen usw.) sein kann. 

3. Wie die Kur in Verbindung mit einer heilpädagogisch ge- 
richteten Beschäftigungstherapie unter Berücksichtigung jener 
unmittelbaren Wechselbeziehungen zwischen seelischem und 
leiblichem Leben sowohl gesundend auf den Körper wie auf 
den Geist einwirkt. 

4. Wie dadurch eine allmähliche Überführung in die frühere 
bezw. eine neue, dem Gesundheitsstande angepaßte Berufs- 
tätigkeit möglich ist. +) 

Im einzelnen zeigte sich bei der Beobachtung des Seelenlebens 
des Lungenkranken — verglichen mit Gesunden und Verwundeten — 
z. B. schädliche Beeinflussung der Gedächtnisleistungen: größere 
Vergeßlichkeit bei alten wie neuen Vorstellungen, schwerere und lang- 
samere Aneignung neuer Stoffe, recht fehlerhafte Reproduktion, zahl- 
reiche Erinnerungsentstellungen. 


1) Über die in Punkt 4 berührte Frage, wie die therapeutische Tuberkulose- 
bekämpfung für Erwachsene auf heilerzieherischer Basis auszugasstalten ist, darüber 
siehe die entsprechenden Ausführungen in der Einleitung. Ausführlich kommt diese 
Frage zur Behandlung in der Schrift: Erwerbsfürsorge für den Lunrenkranken und 
ihre psychologische Begründung, von Hauptmann Bünnings und K. Triebold. 
(Verlag: Fürsorge für Kriegsteilnehmer, Berlin SW. 68, Charlottenstr. 77.) 


242 A. Abhandlungen. 


In ähnlicher Weise machte sich die nachteilige Einwirkung auf 
die Aufmerksamkeitserlebnisse deutlich bemerkbar: größerer Mangel 
an Aufmerksamkeit beim Beginn der Unterrichtskurse, infolgedessen 
mangelhafte Denkfähigkeit, die sich vor allem in einer gewissen 
Schwerfälligkeit äußert beim Bilden logisch richtiger Begriffe, Urteile 
und Schlüsse; die herabgeminderte kritische Denkfähigkeit zeigte sich 
besonders bei der Beurteilung des eigenen Gesundheitszustandes. 

Am schärfsten traten die Störungen im Gemütsleben, bei den 
Gefühls- und Willenserregungen auf: typisch leichte Reizbarkeit, 
Neigung zu weichen rührseligen Stimmungen; durchweg geringere 
Energieentfaltung, in Einzelfällen unter völliger Verkennung der 
eigenen Kräfte Neigung zu impulsiven Handlungen. 

Grade bei der Feststellung der allgemeinen Willensschlaffheit der 
Tuberkulösen muß die Notwendigkeit einer sachgemäßen Heilerziehung 
zu zielbewußtem Willen hervorgehoben werden, die in weiser Ab- 
wägung des pädagogischen Taktes die Trägen anspornt und die Über- 
eifrigen zur Mäßigung ermahnt. Denn nach Dr. Liebe wird ein 
guter Kurerfolg erst zu einem Dauererfolg, wenn der gute Wille und 
der Charakter des Kranken dafür Gewähr geben. Diesen guten Willen 
durch planmäßige Erziehung zu angemessener Arbeit zu festigen und 
zu stärken, das sei — psychologisch ausgedrückt — die Aufgabe der 
geforderten heilpädagogischen Veranstaltungen. 

Allgemein ist zu allen diesen psychologischen Unterrichts- 
beobachtungen zu bemerken, daß jene seelischen Veränderungen bei 
den Tuberkulösen selbstverständlich — je nach der jeweiligen Be- 
gabung und dem Krankheitsbilde — verschieden auftraten. Trotzdem 
schon bei Gesunden Gedächtnis- usw. -Leistungen individuell sehr 
verschieden sind, war durch Vergleich der Tuberkulösen mit etwa 
gleichaltrigen Gesunden der nachteilige Einfluß dieser Krankheit auf 
das Geistesleben deutlich bemerkbar. 

Als wichtigstes pädagogisches Erlebnis der Beobachtungen war 
im Laufe des Unterrichts, bei manchem früher, bei manchem später, 
ein allmähliches Schwinden jener krankhaften Veränderungen des 
Seelenlebens und ein merklicher Übergang zum Normalen festzustellen. 

Wesentlich ergänzt und geklärt wurden die vorgenannten Unter- 
richtsbeobachtungen bei Lungenkranken durch Anwendung des psycho- 
logischen Experiments, durch Ermüdungsmessungen, die eine Fest- 
stellung der Grenzen der Leistungsfähigkeit zwecks Verhinderung 
einer Arbeitsüberlastung ermöglichen. Denn gerade bei Lungen- 
kranken muß eine Arbeitsüberbürdung im Interesse der noch wider- 
standsschwachen Gesundheit verhütet werden. Auch die Ermüdungs- 


Triebold: Heilpädagogische Veranstaltungen für tuberkulöse Kinder. 243: 


messungen, ebenfalls vergleichsweise an Gesunden und Verwundeten: 
vorgenommen, bestätigen deutlich den Einfluß der Tuberkulose auf 
das Geistesleben. 

In Anbetracht der Tatsache, daß vom frühzeitigen Erkennen 
durchweg der Erfolg jeglicher Tuberkulosebekämpfung abhängt, und 
daß schon die körperliche Ermüdung als Begleiterscheinung be- 
ginnender Lungenkrankheit für den Arzt von großer diagnostischer 
Bedeutung ist, schien es auch vom pädagogischen Standpunkte be- 
sonders wertvoll grade den Ermüdungserscheinungen nachzugehen. 

Am deutlichsten zeigte sich die vorschnelle Ermüdung des 
Lungenkranken im Rechenunterricht: Vorzeitiges Nachlassen der 
Güte der Arbeiten, schnelleres Eintreten von Fehlern und Ver- 
besserungen, große Abnahme der Quantität der geleisteten Arbeit, zu- 
nehmende Verringerung der anfänglichen Willensanspannung, steigende 
Schwankungen in der Aufmerksamkeit, übermäßige Zunahme der Ab- 
lenkbarkeit; spätere Wiederholungen zeigten, wie wenig fest und um- 
fassend die zuletzt aufgenommenen Vorstellungen eingeprägt waren usw. 

Ein Vergleich der ersten Ermüdungskurven mit denen, die etwa 
nach sechswöchiger unterrichtlicher Beschäftigung an denselben Per- 
sonen vorgenommen wurden, zeigte bei der großen Überzahl der Fälle 
eine, zwar persönlich verschiedene, aber wesentlich merkliche günstig 
Veränderung der Ermüdbarkeit. Daß der Arzt bei den regelmäßigen 
Untersuchungen sein besonderes Augenmerk auf die unterrichtlich 
Beschäftigten richtete, braucht wohl kaum erwähnt zu werden. 

Als pädagogisch wertvolles Ergebnis stellte sich bei den Er- 
müdungsmessungen folgendes heraus: 

1. Die Ermüdungserscheinungen treten bei Tuberkulösen schneller 

und stärker auf als bei Gesunden und Verwundeten. 

2. Eine planmäßig angewandte, heilpädagogisch gerichtete Be- 
schäftigungstherapie kann schon nach etwa 6 Wochen jene 
krankhafte Ermüdbarkeit wesentlich in der Richtung zum Nor- 
malen ausgleichen. 

Schon diese kurzen pädagogischen Gedankengänge lassen die große- 
Bedeutung ähnlicher Feststellungen grade für Lungenkranke er- 
kennen. Wenn schon die Schulhygiene, soweit es sich um gesunde 
Kinder handelt, Ermüdungsmessungen usw. für grundlegend erachtet, 
um unter besonderer Berücksichtigung der individuellen Veranlagung 
bei möglichst geringem Aufwande von Kraft und Zeit, Mittel und 
Wege zu gesteigerten Erfolgen zu finden, so sind derartige pädagogisch 
wertvolle Maßnahmen für Lungenkranke unbedingt notwendig, um bei 
der Tuberkulosebekämpfung heilpädagogisch eingreifen zu können, um. 


244 A. Abhandlungen. 


weiter für die Tuberkulösen auf diese Weise einen ihrem körperlichen 
wie seelischen Kräftezustand entsprechenden Arbeitsweg zu finden. 

Diese zahlreichen medizinischen wie pädagogischen Beobachtungen 
über das Seelenleben des Tuberkulösen, von denen nur ein Bruchteil 
hier herangezogen ist, sind größtenteils unabhängig voneinander ent- 
standen. Da sie als einzelne Schlaglichter nicht aus der Absicht 
heraus entstanden sind, ein umfassendes Bild über die Psyche des 
Lungenkranken zu geben, bedürfen sie der Sammlung, Ergänzung und 
wahrscheinlich auch der Berichtigung. Jedenfalls ist auf diesem bisher 
wenig erforschten Boden mit größter wissenschaftlicher Vorsicht vor- 
zugehen. So ist es beispielsweise notwendig, daß man sich bei der Fest- 
stellung der seelischen Eigenart der Tuberkulösen hüten muß, »allge- 
meine, neurasthenische Dinge als spezifisch tuberkulin-toxisch anzusehen«. 

Der außerdem möglicherweise entstehende Einwurf, daß bei der 
Deutung der ärztlichen wie pädagogischen Erfahrungen vielleicht 
manches als Folge der Giftwirkung der Tuberkulose aufgefaßt sei, das 
vielleicht als Folge vorangegangener Strapazen und allgemeiner Ent- 
kräftung angesehen werden könnte, ist nach Auffassung von Dr. Liebe, 
dem bekannten Vorkämpfer einer psychologisch fundierten Tuberkulose- 
bekämpfung, unbegründet, da Erfahrungen an andern Orten als Lungen- 
heilstätten (z. B. Sanatorien usw.) beweisen, daß dort die Strapazen- 
folgen nicht so auftreten wie bei den Lungenkranken. 

Unter allen Umständen ergeben die medizinischen und pädagogi- 
‚schen Erfahrungen bei Lungenkranken folgende Tatsachen: 

1. Bei den Tuberkulösen liegt neben ihrer körperlichen eine typisch 
ausgeprägte psychische Eigenart vor, deren Ursache in den 
dauernden schädigenden Einflüssen dieser Krankheit auf das 
Geistesleben zu suchen ist. 

2. In Anbetracht der Tatsache, daß die seelische Verfassung des 
Menschen bei der Heilung körperlicher Leiden von gewaltiger 
Bedeutung ist, ist dieser psychischen Eigenart bei der Tuber- 
kulosebekämpfung — ganz besonders bei Kindern — durch 
Einschaltung heilpädagogischer Veranstaltungen in das bisherige 
Heilverfahren Rechnung zu tragen. 

Während im ersten Teil der Denkschrift aus geschichtlichen Er- 
fahrungstatsachen die Zweckmäßigkeit der hier geforderten Wald- 
schulen und Waldschulsanatorien hergeleitet werden konnte, bringen 
die vorstehenden psychologischen Beobachtungsergebnisse ihre Not- 
wendigkeit deutlich zum Ausdruck. 

Gleichzeitig zwingt das zur Ergänzung und Vervollständigung auf- 
fordernde psychologische Material zu einer gewissen Einschränkung 


Triebold: Heilpädagogische Veranstaltungen für tuberkulöse Kinder. 245 


der Forderungen der Denkschrift: Es müssen zunächst heilpädagogische 
Versuchseinrichtungen geschaffen werden, die es ermöglichen, durch 
gemeinsame Arbeit von Arzt und Heilerzieher auf Grund der bereits 
gemachten erfolgreichen Versuche einen festen Plan zu geben für 
eine heilpädagogische Tuberkulosebekämpfung. Denn, wenn auch die 
zahlreichen bereits vorliegenden pädagogischen wie medizinischen Er- 
fahrungen die Notwendigkeit eines heilpädagogischen Eingreifens in 
der Tuberkulosebekämpfung beweisen, so fehlt doch sicher noch 
manches, bis auf Grund dieser psychologischen Unterlagen die heil- 
erzieherische Mitarbeit eine allseitige praktisch verwertbare wissen- 
schaftliche Ausbildung besitzt. 

Jedenfalls unterliegt es keinem Zweifel, daß man es mit kranken 
Kindern zu tun hat, die auf Grund ihrer körperlichen Defekte und 
der damit zusammenhängenden seelischen Schädigungen einer plan- 
mäßigen heilpädagogischen Einwirkung unterworfen werden müssen 
Dadurch soll die Lücke im bisherigen Heilplan ausgefüllt werden, daß 
man das hygienisch-diätetische Heilverfahren nur für den kranken Körper 
anwandte ohne wesentliche Berücksichtigung des seelischen Zustandes. 

Universitätsprofessor Wilmanns-Heidelberg, der die Lippspringer 
Schuleinrichtungen für Lungenkranke während ihrer Tätigkeit besucht 
hat, schreibt uns auf eine Anfrage zu der »bestehenden Lücke im 
bisherigen Heilverfahren«: »Der Behandlung der Insassen der Lungen- 
heilstätten haftet ein großer Mangel an. Sie nimmt bisher zu wenig 
Rücksicht auf das Seelenleben des Kranken.... Das Ergebnis dieser 
psychologisch durchaus verfehlten Behandlungsweise ist die Erziehung 
von zahlreichen Hypochondern und Rentenquenglern, die infolge ihrer 
Einstellung auf das vermeintlich drohende Leiden ganz auf die Er- 
haltung ihrer kostbaren Gesundheit zielen und trotz körperlicher 
Rüstigkeit dauernd halbe Arbeitskräfte bleiben.«e Weiter schreibt der- 
selbe über die Notwendigkeit der Errichtung der hier geforderten 
Einrichtuugen, daß nach allgemeinem Urteil die Tuberkulose unter 
den Kindern während des Krieges ungemein zugenommen hat und 
mit Rücksicht darauf und auf die Eigenart der Kindertuberkulose die 
Errichtung solcher heilpädagogischen Veranstaltungen »ein unbedingtes 
Erfordernis« ist. 

Ferner bieten die als Nachtrag beigefügten Geleitworte zu dieser 
Denkschrift Bestätigungen von berufener Seite für die Tatsache, daß 
im bisherigen Heilstättenwesen eine empfindliche Lücke vorliegt, und 
daß von diesem Punkte aus eine Eingliederung der hier geforderten 
heilpädagogischen Maßnahmen erfolgen muß. Die vorhandene Lücke 
besteht darin, daß die körperliche Besserung zu einseitig betrieben 

Zeitschrift für Kinderforschung. 26. Jahrgang. 17 


246 A. Abhandlungen. 


wird und im allgemeinen das Seelenleben des Kranken und seine hohe 
Bedeutung als eines Heilfaktors unberücksichtigt geblieben ist. 

Durch das heilerzieherische Eingreifen von Pädagoge und Arzt 
soll jener Mangel abgestellt werden, indem auch das nachteilig be- 
einflußte Seelenleben, die Anschauungsweise des Lungenkranken einer 
hygienisch-diätetischen Behandlung unterworfen wird, um auf diesem 
Wege die hemmenden psychologischen Momente einzudämmen und 
die fördernden Willenskräfte — dies kann nicht stark genug betont 
werden — zielbewußt zu stärken. 

Es soll durch diese psychologisch fundierte heilpädagogische Mit- 
arbeit der körperlichen Heilpflege zur Hilfe gekommen werden; es 
soll sich dem Arzt im Heilerzieher ein neuer Mitstreiter im Kampf 
gegen die gewaltig angewachsene Tuberkulose verbinden. Daß durch 
die in der Denkschrift geforderte Einflechtung der Schule in das be- 
stehende Heilstättenwesen ein neuer Heilfaktor gewonnen wird, braucht 
hier nicht mehr erörtert zu werden, da es zur Genüge aus den im 
ersten Teil der Schrift hervorgehobenen Forderungen medizinischer 
wie pädagogischer Autoritäten (Verhandlungen des Zentralkomitees 
vom Roten Kreuz) hervorgeht. Vor allem sei hier nochmals auf Prof. 
Baginski hingewiesen, der für die Heilstätten den Arbeitsunterricht 
fordert, da derselbe »richtig zugemessen, besonders in psychischer Be- 
ziehung förderlich ist und selbst zum Heilfaktor wird«. 

Als Weg für die Heilerziehung des tuberkulösen Kindes ist der 
bereits von Baginski und vielen andern geforderte Arbeitsunterricht 
einzuschlagen mit dem Ziele »Erziehung zur Arbeit durch Arbeit« 
— gegenüber der totalen Ruhe des bisherigen Heilverfahrens.. Es 
liegt diesem Vorgehen die Wertschätzung der Arbeit als eines Hilfs- 
faktors für die erkrankte Psyche, die Anerkennung der Arbeit als 
»souveränes Mittel«e der psychischen Therapie zugrunde. 

Für die geforderten Versuchseinrichtungen (Waldschule für tuber- 
kulose-gefährdete Kinder und Waldschulsanatorium für tuberkulöse 
Kinder) würde sich demnach als Aufgabe ergeben: 

Zweckmäßige Ausgestaltung der heilpädagogischen und medi- 
zinischen Arbeitsweise solcher Veranstaltungen, um Hand in Hand 
mit der medizinischen Heilbehandlung diese heilerzieherische Seite 
der Tuberkulosebekämpfung zu voller praktischer Geltung kommen 
zu lassen. 

x š x 

Im folgenden soll auf Grund der vorliegenden Erfahrungen versucht 
werden, in einigen Zügen auf den psychologischen Charakter der sich die 
den Versuchsanstalten ergebenden heilerzieherischen Arbeit einzugehen. 


Triebold: Heilpädagogische Veranstaltungen für tuberkulöse Kinder. 247 


Es ergibt sich auf den ersten Blick, daß hier ein Problem psycho- 
pathologischer Natur vorliegt, eine Aufgabe, die ihrer Lösung nur 
durch gemeinsame Arbeit von Heilerzieher und Arzt näher zu bringen 
ist. Denn es handelt sich doch zunächst darum, die schon päda- 
gogischerseits als auch äfrztlicherseits vielfach festgestellten Ab- 
weichungen im Seelenleben der tuberkulösen Kinder von der geistigen 
Normalität zu sammeln und zu ordnen und durch planmäßige Be- 
obachtung zu ergänzen und zu vervollständigen, um auf diesem Wege 
die psychopathologischen Unterlagen zu gewinnen für die Arbeit in 
den Versuchsstationen, d.h. für die Heilerziehung (Pädagoge) und für 
die Heilbehandlung (Arzt). 

Um aber auch die Frage des ursächlichen Zusammenhangs dieser 
seelischen Schädigungen mit der Tuberkulose zu klären, ist es not- 
wendig, das gesamte Beobachtungsmaterial mit der Psychologie in 
Zusammenhang zu bringen; denn nur so ist es möglich, sich ein 
klares Urteil zu bilden über die Anfangsursachen der krankhaften 
Seelenzustände und über die Art und Weise, wie sie in das seelische 
Geschehen eingreifen. Die Psychologie, die darstellt, was in der 
inneren Welt des Bewußtseins vorgeht und welchen Bedingungen 
und Gesetzmäßigkeiten dieses Geschehen unterliegt, muß also für den 
Pädagogen sowohl als für den Arzt der Führer sein. Heilpädagogische 
Schulung für den Erzieher nnd psychiatrische Vorbildung für den 
Arzt ist naturgemäß Voraussetzung. Zur sorgfältigen Beobachtung 
und Erschließung des Seelenlebens und zur sicheren Leitung der 
Pfleglinge sind zwei Erziehereigenschaften hier unbedingt notwendig: 
einmal liebevolles Sichhineinversenken in das Innenleben und andrer- 
seits konsequente, sichere Führerschaft. 

So bildet die Psychologie für Erzieher und Arzt in ihrer gemein- 
samen Arbeit den Ausgangspunkt; auch ist sie das Gebiet, auf dem 
sich beide immer wieder zusammenfinden. 

Das eigentliche Arbeitsfeld in den Versuchsstationen ist psycho- 
pathologischer Natur und liegt in der breiten Grenzzone zwischen 
geistiger Gesundheit und Krankheit; denn die meisten im Geistesleben 
des Tuberkulösen auftretenden Regelwidrigkeiten liegen auf diesem 
Grenzgebiet, zum größten Teil hart an der Grenze der seelischen Ge- 
sundheit. Wenn diese Abweichungen auch selbst in ihren schwereu 
Fällen keine Geisteskrankheit bedeuten, so kann aber auch in ihrer 
leichteren Erscheinung von völliger geistiger Gesundheit keine Rede 
sein. Jedenfalls stellen sie einen Faktor dar, der bei der gesamten 
hier in Frage stehenden Heilbehandlung und Heilerziehung von aus- 


schlaggebender Bedeutung ist. Ä 
Ir 


248 A. Abhandlungen. 





Während die pädagogische Pathologie im allgemeinen es als ihre 
Aufgabe betrachtet, die Kinder zu beobachten und alle in irgend 
welcher Hinsicht der Besserung bedürftigen Fehler zusammenzustellen, 
um auf Grund dieser Unterlagen die notwendigen therapeutischen 
Maßnahmen zu treffen, würde sich hier also folgende spezielle Auf- 
gabe ergeben: Das Geistesleben der tuberkulösen Kinder soll plan- 
mäßig beobachtet werden, um festzustellen, inwieweit es unter dem 
Einfluß der Tuberkulose steht, und alle fehlerhaften Zustände und 
Vorgänge, die in ursächlichem Zusammenhange mit der Krankheit 
stehen, sollen hervorgehoben werden. Von hier aus lassen sich dann 
diejenigen erzieherischen Maßnahmen treffen, durch deren Anwendung 
teils eine Verhütung, teils eine Beseitigung dieser durch die Tuber- 
kulose entstehenden Schädigungen möglich ist. Jedenfalls wird auf 
diese Weise das »hygienisch - diätetische behandelte Geistesleben des 
Kranken mit zur Bekämpfung des Leidens herangezogen. 

Die ganze Arbeit des Heilerziehers in der Tuberkulosebekämpfung 
beruht somit auf psychologischer Basis; denn es soll doch erreicht 
werden, daß die hemmenden psychologischen Momente eingedämmt 
und die fördernden Kräfte, besonders der Wille, zielbewußt gestärkt 
werden. Wenn nämlich schon beim normal veranlagten Schüler das 
Geheimnis pädagogischer Erfolge in der möglichsten Berücksichtigung 
der individuellen Eigenarten beruht, die entweder gefördert oder ein- 
gedämmt werden müssen, so gilt dies ganz besonders für die unter- 
richtliche und erziehliche Einwirkung auf die tuberkulösen Kinder, 
deren Seelenleben durch die Lungenerkrankung in typischer Weise 
in Mitleidenschaft gezogen ist. 

Die hier geforderte pädagogisch-therapeutische Arbeit ist — fußend 
auf dem Grundsatz, daß das geistige Leben auch den Körper wesent- 
lich beeinflußt — ähnlich jener pädagogischen Therapie, wie sie in | 
den Anstalten für Blinde, Taubstumme, Nervöse und Geisteskranke 
auf das psychische Leben der Patienten und hierdurch auch auf die 
körperlichen Vorgänge und Zustände heilend einwirkt. 

Zieht man weiter in Betracht, welche unheimliche Bedeutung 
die zunehmende Tuberkulosegefahr für unsere Volksgesundheit und 
somit auch für unser ganzes Volksleben bedeutet, so dürfte wohl diese 
tuberkulosebekämpfende Heilpädagogik — vorausgesetzt, daß die ge- 
forderten Versuchseinrichtungen ihre innere Notwendigkelt noch weiter 
dartun — mindestens dieselbe Daseinsberechtigung besitzen und ebenso 
Anspruch erheben dürfen auf kraftvolle Unterstützung von seiten der 
Allgemeinheit, wie die vorerwähnten heilpädagogischen Zweige. 

Das Grundproblem, von wo aus diese Fragen anzugreifen sind, 








Triebold: Heilpädagogische Veranstaltungen für tuberkulöse Kinder. 249 


ist das Verhältnis zwischen dem körperlichen und geistigen Leben. 
Daß der enge Zusammenhang zwischen Seele und Leib dem Erzieher 
kranker Kinder besonders deutlich vor Augen tritt, beweisen die zahl- 
reichen Erfahrungen in den verschiedenartigsten schon bestehenden 
Heilerziehungsheimen. Naturgemäß treten diese Wechselbeziehungen 
zwischen Körper und Geist bei Kindern häufiger und umfangreicher 
auf als bei Erwachsenen, weil der kindliche Körper, namentlich auch 
die für das Geistesleben wichtigen Teile (Gehirn und Nervensystem), 
selbst noch in der Entwicklung begriffen sind. »Aus diesem Grunde 
sind auch wohl die später erworbenen psychopathologischen Minder- 
wertigkeiten nicht selten schon in früher Kindheit entstanden.« Des- 
halb ist streng genommen der Erzieher verpflichtet, die psychische 
Beeinflussung für noch wichtiger und folgenschwerer zu halten, als 
die unter gewöhnlichen Verhältnissen vom Körper auf die Seele aus- 
gehenden, und er hat jene Beeinflussung um so mehr zu überwachen, 
da dieselbe wesentlich auch von demjenigen abhängt, was er selbst 
durch die Pflege und Gewöhnung, durch Erziehung und Unterricht 
mit dem Kinde während seiner Entwicklungsjahre vornimmt. 

Die auf diesem Wege entstehenden psychologischen Unterlagen 
würden den bereits vorliegenden an Erwachsenen gewonnenen gegen- 
über den Vorzug größerer Klarheit und schärferer Umrissenheit be- 
sitzen, da das kindliche Seelenleben weniger verwickelt und durch- 
sichtiger ist als das des Erwachsenen. 

So möge in wenigen Gedankengängen, die durchaus keinen An- 
spruch auf erschöpfende Behandlung dieser mannigfachen Fragen eı- 
heben, auf den psychologischen Charakter der heilerzieherischen Arbeit 
hingedeutet sein, wie sie in den Versuchsanstalten gedacht ist. 

Das hohe gemeinsame Ziel, unsere Jugend im Kampf gegen den 
gefährlichsten Feind unserer Volksgesundheit, die Tuberkulose, zu 
unterstützen, bietet dem Heilerzieher und dem Arzt ein gemeinsames, 
dankbares Arbeitsfeld, auf dem jegliche »Kompetenzstreitigkeiten« aus- 
geschaltet sind. Jeder hat sein selbständiges, umfangreiches Arbeits- 
gebiet, der Arzt: die medizinische Pathologie und die medizinische 
Therapie, der Pädagoge: die pädagogische Pathologie (gekennzeichnet 
durch die Frage »Welche spezifischen Schädigungen des Geisteslebens 
liegen bei tuberkulösen Kindern vor?«) und die pädagogische Therapie 
(gekennzeichnet durch die Frage » Welche besonderen heilerzieherischen 
Maßnahmen sind hier erforderlich?.. Trotz der augenscheinlichen 
Arbeitsteilung der Gebiete in zwei Felder liegt doch nur ein Ziel 
vor, dem beide, Arzt und Heilerzieher, dienen wollen: Die Unter- 
stützung der Jugend im Kampf gegen die Tuberkulose. Sie werden 


250 A. Abhandlungen. 





viel auf diesem Wege erreichen, wenn sich beide zum Wohle unserer 
bedrohten Jugend zu vereinter Arbeit die Hände reichen, wenn jeder 
nicht nur auf seine Arbeit sieht, sondern auch den Rat und die Mit- 
arbeit seines Mitarbeiters sucht und schätzt. 

Zusammengefaßt würden sich also in den Versuchsstationen für 
die gemeinsame Arbeit von Heilerzieher und AER folgende Richt- 
linien ergeben: 

1. Erforschung des körperlichen wie EEA Naturells ihrer 
Pfleglinge und neben den körperlichen Begleiterscheinungen 
Erforschung der spezifischen durch die Tuberkulose verursachten 
seelischen Schädigungen. 

Gewinnung eines psychotherapeutischen Arbeitsweges, um diesen 
geistigen Störungen, wo man sie befürchtet (Waldschule für 
tuberkulose -gefährdete Kinder) rechtzeitig und in geeigneter 
Weise zuvorzukommen, oder, wenn sie schon vorhanden sind 
(Waldschulsanatorium für tuberkulöse Kinder), sie mit den rich- 
tigen Mitteln und in zweckmäßiger Weise anzugreifen. 

* 


x 


x 


* 

Inwiefern sind nun die hier erhobenen Forderungen bezüglich 
einer heilerzieherischen Behandlung tuberkulose-gefährdeter und tuber- 
kulöser Kinder in besonderen Versuchseinrichtungen mit den Forde- 
rungen der allgemeinen Heilpädagogik zu vereinbaren ? 

Jedenfalls sind die körperlichen Schwächen und die Störungen 
im Seelenleben dieser Kinder derart, daß ihre Beteiligung am all- 
gemeinen Schulunterricht — abgesehen davon, daß das aus medi- 
zinischen Gründen überhaupt unstatthaft ist — für die Kinder selbst 
als auch für die Schule eine Last bedeuten würde. Das kranke und 
auch das genesende Kind würden nicht nur nicht vorwärts kommen 
in den öffentlichen Schulen, sondern durch Überanstrengung an ihrer 
Gesundheit weiteren Schaden leiden. Sie würden in dem allgemeinen 
Schulbetrieb, dessen Anforderungen sie weder körperlich noch geistig 
gewachsen sind, oft falsche, ungerechte Behandlung erleiden und 
neben den gesundheitlich erlittenen Schädigungen ihre Jugendfreude 
einbüßen. Deswegen bedürfen diese lungenkranken Kinder einer be- 
sonderen ärztlich als auch heilerzieherisch geleiteten Behandlung, die 
möglichst individuell auszugestalten ist. 

Daß schwerkranke Kinder, die dauernd krankenhauspflegebedürftig 
sind, für die Unterricht und Erziehung also fast gar nicht in Frage 
kommt, nicht als Pfleglinge für das Waldschulsanatorium in Betracht 
kommen, gilt hier naturgemäß ebenso wie in der allgemeinen Heil- 
erziehung. 


Triebold: Heilpädagogische Veranstaltungen für tuberkulöse Kinder. 251 


Das Ziel der Heilerziehung und Heilbehandlung für tuberkulöse 
Kinder würde ähnlich sein wie in der allgemeinen Heilpädagogik: 
Entweder sollen die Pfleglinge wieder für die Teilnahme am allge- 
meinen Schulunterricht befähigt werden, oder — was meistens der 
Fall sein wird — sie müssen an Leib und Seele soweit ertüchtigt 
werden, daß sie in der Lage sind, späterhin einer Beschäftigung nach- 
zugehen, die ihrer Veranlagung als auch ihren durch die Krankheit 
herabgesetzten Kräften angepaßt ist. 

Zu diesem Zwecke arbeiten Heilerzieher und Arzt Hand in Hand, 
um gemeinsam durch medizinisch-hygienische als auch heilpädagogische 
Behandlung die körperlichen wie seelischen Hemmnisse zu beseitigen, 
die der normalen Entwicklung im Wege stehen. 

Daß außer der medizinischen Behandlung, die meistens im hygie- 
nisch-diätetischen Heilverfahren zur Anwendung gelangt, die besonders 
für Lungenkranke nicht zu unterschätzende leibliche Pflege in den 
Händen des Arztes liegt, braucht wohl kaum erwähnt zu werden 
ebenso wie die Tatsache, daß er in erster Linie berufen ist, bei der 
Festlegung bezw. Änderung der Art und des Maßes der in den Unter- 
richts- bezw. Beschäftigungsplan der Waldschule und des Waldschul- 
sanatoriums für tuberkulöse Kinder einzugliedernden heilgymnastischen, 
atemgymnastischen usw. Übungen ausschlaggebend mitzuwirken. 

Allgemein sei hier eingeschaltet, daß trotz aller Hervorhebung 
der heilpädagogisch gerichteten Beschäftigung als Heilfaktor keines- 
wegs beabsichtigt ist, der grade für den Lungenkranken so hoch-. 
bedeutsame »Ruhe« weniger Sorgfalt zu widmen. Grade durch den 
angemessenen Wechsel zwischen der Ruhe und der heilerzieherisch 
geleiteten Beschäftigung unterscheidet sich der Tagesplan in den ge- 
forderten Versuchsanstalten von der bisherigen Heilweise, die im all- 
gemeinen nur die totale Ruhekur als Heilmittel anerkannte. 

Die neue hier geforderte heilerzieherische Seite der Tuberkulose- 
bekämpfung liegt in den Händen des Pädagogen. Erziehung, Unter- 
richt, naturgemäße Körperpflege und angemessene Beschäftigung helfen 
ihm sein Ziel erreichen. 

Um einen möglichst nachhaltigen erzieherischen Einfluß sicher- 
zustellen, muß von vornherein dahin gestrebt werden, sowohl der 
Waldschule als dem Waldschulsanatorium den Familiencharakter zu 
geben, zu welchem Zwecke eine Gruppeneinteilung der Pfleglinge 
nach Familien erforderlich ist, wie es z. B. in ähnlicher Weise in 
den Landerziehungsheimen der Fall ist. Daß hier bei der Familien- 
einteilung neben den erzieherischen Rücksichten ganz besonders 
psychologische Gesichtspunkte maßgebend sein müssen, ist aus der 
ganzen Auffassung dieser Arbeit zu erschließen. 


252 A. Abhandlungen. 


Anschaulichkeit und Selbsttätigkeit (Arbeitsunterricht) sind Voraus- 
setzungen für eine starke erziehliche Wirkung des Unterrichts. Die 
Forderungen nach Zeitgemäßheit und praktischer Verwendbarkeit lassen 
bei der Stoffauswahl die praktischen Fächer im Lehrplan in die 
vorderste Linie treten. 

Zur Erreichung der gesteckten Ziele müßte die Zahl der in den 
Versuchsanstalten untergebrachten Kinder so beschränkt sein, daß 
jedes Kind auf Grund seiner körperlichen wie geistigen Anlagen mög- 
lichst seine besondere Behandlung erhält. — 

Überblicken wir nochmals die gesamte heilerzieherische Arbeit, 
wie sie in der Waldschule für tuberkulose-gefährdete und im Wald- 
schulsanatorium für tuberkulöse Kinder zu leisten ist, um dies neue 
Arbeitsfeld in den Rahmen der allgemeinen Heilpädagogik einzufügen, 
so gelangen wir zu folgendem Schlußurteil: 

Die Mittelund Wege, deren sich hier der Erzieher zu bedienen hat, 
sind in der Hauptsache dieselben wie in der allgemeinen Heilerziehung. 

Die Richtlinien für die Auswahl der Pfleglinge sind neu, sie sind 

gegeben durch das Vorhandensein der Tuberkulose und begründeten 
Tuberkuloseverdachts, wie wir ihn bei den schwächlichen, blassen 
und hustenden Kindern annehmen dürfen. 

Das Ziel dieser heilpädagogischen Arbeit ist ebenfalls neu; es 
sollen für diese körperlich Minderwertigen entsprechende Erziehungs- 
einrichtungen geschaffen werden, die mithelfen können, ihnen ihre 
Gesundheit wiederzugeben oder sie wenigstens an Leib und Seele 
zu ertüchtigen zu einer ihrer Natur und ihren geschwächten Kräften 
angemessenen Beschäftigung. 

Und wer möchte behaupten, daß diese armen lungenkranken 
Wesen — und wieviele mag es in Zukunft wohl unter unsern 
Kindern geben — nicht ebenso ein Anrecht haben auf besondere 
heilpädagogische Behandlung, wie beispielsweise die geistig Minder- 
begabten ein Anrecht haben auf Hilfsschulen und ähnliche besondere 
Einrichtungen! 

Zum Schluß erhebt sich noch die Frage: Inwiefern reichen die 
schon zahlreich vorhandenen sozial- hygienischen Einrichtungen für 
kranke und schwächliche Kinder nicht aus zu einer heilpädagogischen 
Fürsorge für die Tuberkulösen ? 

Da bei fast allen diesen Maßnahmen die Lungenkranken schon 
von vornherein bestimmungsgemäß ausgeschlossen sind, ist hier tat- 
sächlich eine empfindliche Lücke vorhanden. Aber auch wenn dieser 
Ausschuß nicht bestände, würde die Lücke da sein; denn einmal 
können die bestehenden Einrichtungen dem zu fordernden heilpäda- 


Triebold: Heilpädagogische Veranstaltungen für tuberkulöse Kinder. 9253: 


gogischen Charakter nicht gerecht werden (z. B. siehe Walderholungs- 
stätten) und andererseits würden die gesundheitlichen Erfolge für die 
Lungenkranken geradezu illusorisch sein (z. B. siehe Ferienkolonien). 
Die besten Erfolge hat in dieser Hinsicht — von den Kinderheil- 
stätten naturgemäß abgesehen — die Waldschule, die sich allerdings 
nicht ausschließlich den Lungenkranken widmet und außerdem höchstens: 
tuberkulose-gefährdete, aber keine tuberkulösen Kinder aufnehmen kann.. 

Bei dieser Sachlage ist auch vom Standpunkte der bereits vor- 
handenen sozial-hygienischen Einrichtungen mit Rücksicht auf die 
Eigenart und die erschreckende Steigerung der Tuberkulose an den 
Forderungen der Denkschrift, die doch letztenendes darauf hinaus- 
gehen, die Heilwirkungen dieser beiden bewährtesten Faktoren — 
Kinderheilstätte und Waldschule — durch sinngemäße Verbindung 
noch wirksamer zu gestalten, festzuhalten. 

Neben diesen mehr auf den inneren Ausbau der geforderten heil- 
pädagogischen Veranstaltungen bezüglichen Ausführungen bleibt noch 
zu erwähnen: 

1. Daß die außerordentliche Steigerung der Tuberkulosesterblich- 
keit besonders in den Großstädten, den Bruthöhlen dieser Volks- 
krankheit, darauf hinweist, daß beide Einrichtungen am zweck- 
mäßigsten in der Nähe einer Großstadt geschaffen werden. 

2. Darf hier gleichzeitig kurz darauf hingewiesen werden, daß sich. 
sicher sowohl an Baulichkeiten, wie an Material zu der Innen- 
ausstattung recht viel in den überzählig gewordenen Gebäuden 
und Materialbeständen der Armee finden ließe. 

Abschließend seinochmals der Zweck der vorstehenden Ausführungen 

hervorgehoben: 

1l. Sie will durch Forderung einer Waldschule für tuber- 
kulose-gefährdete Kinder und eines Waldschulsana- 
toriums für tuberkulöse Kinder (beide als Versuchs- 
stationen gedacht) praktische Vorschläge machen, da- 
mit auf Grund der bei Tuberkulösen vorhandenen. 
psychischen Veränderungen Arzt und Heilerzieher, 
Heilpädagogik und Medizin Hand in Hand gehen 
sollen in der Tuberkulosebekämpfung. 

2. Sie will die Regierung bitten, zur Ermöglichung dieses. 
Ausbaues der Tuberkulosebekämpfung geeignete Ge- 
bäude und Gelände sowie Geldmittel für die Errich- 
tung und Unterhaltung der beiden heilpädagogischen 
Versuchsanstalten für lungenkranke Kinder zur Ver- 
fügung zu stellen. 


uw SANASI OSI EL LOL AG 


254 | B. Mitteilungen. 


B. Mitteilungen. 


— nm 


1. 7 Hilfsschuldirektor Johannes Delitsch. 


Am 24. April verschied infolge Schlaganfalles Johannes Delitsch, Hilfs- 
schuldirektor zu Plauen i. V. 

Johannes Delitsch war am 5. Dezember 1858 als Sohn des Uni- 
versitätsprofessors Delitsch zu Leipzig geboren, besuchte zunächst das Gymna- 
sium seiner Vaterstadt, entschloß sich aber auf Anraten des Arztes ins 
Gebirge zu übersiedeln und trat deshalb 1873 in das Lehrerseminar zu 
Plauen i. V. ein, das er 1878 mit der Reifeprüfung verließ. Ein Jahr 
war er Hauslehrer in Hannover, studierte ein Jahr an der Universität 
Leipzig und trat als Lehrer in den Volksschuldienst der Stadt Plauen i. V. 

Der Stadt Plauen hat Delitsch seine ganze Kraft gewidmet und zwar 
nach zwei Richtungen hin. Zunächst auf dem Gebiete des Hilfsschulwesens: 
Er war der erste Lehrer, der sich hier systematisch der Schwachen an Geist 
annahm. Da das im Rahmen des regelmäßigen Schulunterrichts nicht 
geschehen konnte, opferte er seine freie Zeit und erteilte den schwächsten 
Schülern seiner Klasse Privatunterricht, den er ganz der Anlage des 
Kindes anpassen konnte. Dabei zeigte es sich immer mehr, daß abnorme 
Kinder in den Normalunterricht einfach nicht hinein gehören, und Delitsch 
wußte es zu erreichen, daß die ersten Hilfsschulklassen gegründet und 
ihm übertragen wurden. Und somit hatte er den Grund zur jetzigen 
Hilfsschule gelegt. Von Jahr zu Jahr fügte sich eine Klasse nach der 
andern an und nach länger als 25 Jabren gestaltete sie sich zu einem 
wohlgefügten Baue aus und zählt gegenwärtig 6 Doppelklassen und 2 Vor- 
stufeklassen. Diese seine Hilfsschule durchdrang er vollständig mit seinem 
Geiste und begründete sie auf der Erforschung des Hilfsschulkindes. Was 
heute im Hilfsschulbetriebe selbstverständliche Selbstverständlichkeit ist, 
das mußte damals eıst erarbeitet und seine Richtigkeit mußte erst be- 
wiesen werden. Da konnte mit Schematismus nicht gearbeitet werden, 
das Kind selbst mußte den Kurs angeben, und um diesem Kurse folgen 
zu können, mußte das Hilfsschulkind in den Mittelpunkt der Beobachtung 
und Erforschung gestellt werden. Und was Delitsch erarbeitete, gab er 
seinen Mitarbeitern und wußte seine Amtsbrüder für diese Arbeit zu gewinnen. 
Aber auch über die Mauern Plauens hinaus trug er, was er gefunden. Des- 
halb schloß er die Hilfsschullehrer im Sächsischen Hilfsschulverband zu- 
sammen und übernahm anfangs den Vorsitz dieses Vereins. Auf den ver- 
schiedensten Hilfsschultagungen nahm er das Wort und gar manchen Hilfs- 
schullehrer und manche Hilfsschullehrerin im engeren und weiteren Vater- 
lande hat er aus dem reichen Born seiner Erfahrung und Kenntnisse schöpfen 
lassen. In der Fachpresse ist er in vielen Artikeln zu Worte gekommen. 

Als vom Sächsischen Kultusministerium Kurse zur Ausbildung von 
Hilfsschullebrern in Leipzig eingerichtet wurden, wurde er zum Dozenten 
berufen. Auch an der Landesschulkonferenz in Sachsen sollte er teil- 
nehmen und die Heilpädagogik vertreten. Seine Hauptforderung sollte 


1. + Hilfsschuldirektor Johannes Delitsch. 255 


gipfeln in dem Verlangen nach einem Lehrstuhle für »Schulmedizine. Der 
Lehrer soll sich zwar nicht unabhängig vom Arzte machen, er soll aber 
soweit medizinisch gebildet sein, daß er neben dem Arzte stehen 
kann, um so die Pädagogik zur rechten Heilpädagogik ausgestalten zu 
können. An der Tagung der Landesschulkonferenz konnte er leider nicht 
mehr teilnehmen. Er war schwer erkrankt. Krank war er ja schon 
jahrelang, doch hatte eiserner Wille sie stets überwunden. Diesmal war 
die Krankheit mächtiger, er unterlag ihr und mußte daheim bleiben. 

Seine letzte Arbeit galt seiner Zeitschrift »Kind und Jugend«. In ihr 
wollte er seine Gedanken verbreiten und die Heilpädagogik kräftig unter- 
stützen. Der Tod hat ihm die Feder aus der Hand genommen. 

Von der Hilfsschule aus wurde er in den Dienst der allgemeinen 
Jugendfürsorge gestellt. Die Nöte des Hilfsschulkindes ließen ihn die 
Nöte unserer gesamten Jugend sehen. Er begründete den Plauener Jugend- 
fürsorgeverein und war bemüht die Jugend vom 1. Tage ihres Lebens an 
bis zur Mündigkeit zu umfassen. Ein stattliches Werk schuf er, das sich 
bei seinem Tode in 5 Abteilungen gliederte: allgemeine Jugendfürsorge, 
Knaben- und Mädchenhorte (9 Horte), Erziehungsanstalt, Jugendgerichts- 
hilfe und Literarische Abteilung. Einen Überblick über das Wachsen 
des Vereins geben die Zahlen aus dem Haushaltsplan. Es wurden ge- 
braucht 1908 rund 3000 M, 1920 rund 50000 M. Über die Mauern 
der Stadt Plauen reichte seine Tätigkeit auf dem Gebiete der Jugend- 
fürsorge. Delitsch gründete den Sächsischen Jugendfürsorgeverband und 
übernahm den 1. Vorsitz, wurde in alle Teile seines engeren Vaterlandes 
gerufen, wenn Jugendfürsorgefragen zur Besprechung standen und viele, 
viele Vereine danken seiner Anregung ihr entstehen. Jährlich wurden 
ihm von Dresden gegen 10 Damen zugeführt, die sich von ihm in die 
soziale Arbeit einweihen ließen, um später als Sozialbeamtinnen zu wirken. 
Auch in den großen deutschen Verbänden Aurfte Delitsch Berater sein 
und sein Name hat in unserm weiteren Vaterlande gar guten Klang. 

Delitsch ist tot, er wird aber leben und unserer deutschen Jugend 
noch lange als treuer Eckehard zur Seite gehen. Bartsch. 

x x 


* 

P. S. Auch von der Schriftleitung sei noch ein Wort dem ver- 
storbenen Freunde gewidmet. 

Von Anfang an trat Delitsch in nahe Beziehungen zu unserer 
»Zeitschrift« und den »Beiträgen«. Eine Reihe wertvoller Arbeiten ver- 
danken wir seiner Feder und vor allem seinem Herzen. Auch an der 
Gründung des Vereins wie des Kongresses für Kinderforschung war 
Delitsch mit Eifer und Hingabe beteiligt. Die Ferienkurse in Jena (Lehrer- 
fortbildungskurse) lockten ihn nicht minder. So war er überall, wo es 
sich um Jugendwohl und um Sorge für alle Fürsorgebedürftigen handelte, 
aus innerem Bedürfnis dabei. Noch wenige Wochen vor seinem Tode, 
den er als länger zuckerleidend nahen sah, entwickelte er mir in einem 
längeren Schreiben seine weiten und warmherzigen Pläne. Er hat sie 
nicht mehr verwirklichen können. 

Möge aber die Saat, die er auf unserem von ihm mit urbargemachten 
Felde gesät, sufgehen und reiche Früchte tragen! Trüper. 


256 B. Mitteilungen. 


2. Der Kampf um die Reform der Lehrerbildung zur 
Zeit der deutschen Revolution 1848. 


Von Dr. H. Reh. 


Die deutschen Seminare haben keine eigenständige historische Ent- 
wicklung, können sie gar nicht haben. Denn ihr gesamter innerer Auf- 
bau war so eng mit der Geschichte der Volksschule schon vom ersten 
Auftauchen des Seminargedankens an verknüpft, daß in der Regel das 
Seminar als Nachläufer und Diener der Volksschulidee sich deren Formen 
anpassen und ihre Wege nachwandeln mußte. Dadurch aber ist es außer- 
ordentlich schwer, die Seminargeschichte im Zusammenhang mit der all- 
gemeinen Kulturentwicklung zu betrachten, wie man es methodisch von 
der Geschichte der Pädagogik im allgemeinen und jedem ihrer Teile im 
besonderen fordert. Diese Zusammenhänge mit dem allgemeinen kultur- 
und ideengeschichtlichen Ablauf sind deshalb um so schwieriger zu er- 
kennen, weil man dem Seminar von früh an den Charakter einer Fach- . 
und Berufsschule zu verleihen gedachte und ihm deshalb den Zusammen- 
hang mit allen Fragen der Bildung abschnitt, ja sogar lange Zeit die 
Meinung vertrat, das Seminar brauche an Bildungselementen überhaupt 
nicht mehr als die Volksschule selbst, sondern habe es nur mit der 
»Technik« des Schulmeisterns zu tun. Es war das eine Auffassung, die 
aus einer falschen Anschauung über das Verhältnis zwischen Methodik 
und Bildung hervorging, man meinte, die Methodik sei eine Art Jongleur- 
kunststück, dazu angetan, mit wenigen Elementen viele Effekte zu er- 
reichen. Dazu ein zweites, ebenfalls den allgemeinen Zusammenhang ver- 
schleierndes Moment: die Einstellung des Seminars auf den Küster- und 
Kirchendienst. Damit kam ein neuer, reiner Fachschulgedanke in die- 
Lehrerbildungsanstalt, der sie umklammerte, einengte und ihre Ausbildungs- 
formen und Fortschritte nach der Seite der Allgemeinbildung hin unter- 
drückte. Galt früher die Volksschule als Katechismusanstalt und £n- 
hängsel der Kirche, so wurde dieses Abhängigkeitsverhältnis bei der- 
Lehrervorbildung nur verstärkt und verbreitert. Erst als im Laufe des 
18. Jahrhunderts der Staat begann, seine Anrechte auf die Volksschule 
geltend zu machen, trat er auch der Frage näher, wie die Lehrervorbildung- 
zu gestalten sei und ob man bisher die rechten Wege eingeschlagen habe. 
Denn diese Wege hatten Führer von einer fast einheitlichen Geistesrichtung 
gewiesen, dieselben Männer, welche auch der Volksschule ihre Bahn 
brachen: Theologen. Es soll nie vergessen werden, daß ihrer privaten 
Initiative die ersten Anfänge der Lehrervorbildung zu verdanken sind. 
Natürlich schufen sie einen Rahmen, der aus Teilen ihrer Lebensauffassung, 
Vorbildung und Amtstätigkeit zusammengezimmert war und sich nach 
Jahrzehnten als unzulänglich erwies, das war ein Irrtum, aus historischen 
Verhältnissen verständlich. 

In den einzelnen Teilen des deutschen Vaterlandes war nun um 
1840 die Entwicklung der Seminare verschieden, was mit der Höhe der 
Kultur- und Wirtschaftsentwicklung, dem Zustande des Volksschulwesens 
und nicht zuletzt mit den persönlichen Anschauungen des regierenden 


2. Der Kampf um die Reform der Lehrerbildung usw. 257 


Fürsten über Bildungsfragen zusammenhing. Es gab Staaten, in denen 
jener von den Theologen und Kirchenfürsten gezimmerte Rahmen für die 
Lehrerbildung sich als ausreichend und zulänglich erwies, andere, in denen 
er durch neue Ideen längst zersprengt war, andere in denen man ihn 
noch gar nicht geschaffen hatte. Sachsen-Altenburg hatte 1851 noch kein 
eigentliches Seminar, sondern man bereitete die künftigen Volksschullehrer 
in Nebenkursen an Gymnasien und Bürgerschulen oder in Privatzirkeln 
bei Lehrern und Pfarrern vor. So entstanden zahlreiche Privatseminare, 
vor allem auf dem Lande, Anstalten, die oft besser waren als ihr Ruf, 
teilweise sogar neben ausreichender pädagogischer Praxis und theoretischer 
Pädagogik noch Realien und zwei fremde Sprachen lehrend. Sie halfen 
einem unbedingt notwendigen Bedürfnisse in einem Punkte ab, in dem 
der Staat versagte, und erhielten sich selbst noch lange in Ländern, die 
schon über zahlreiche staatliche Seminare verfügten. Der Staat »hat eine 
halb wohlwollende Neutralität ihnen gegenüber beobachtet. Er hat sie 
zuzeiten nicht ungern gesehen, hat sich das aber beileibe nicht merken 
lassen. Überhaupt haben sie ein sehr stilles, auch sonst der Öffentlichkeit 
fernes Dasein geführt. Als dann das staatliche Lehrerbildungswesen sich 
immer weiter entwickelte, ging ihnen der Atem aus. Sie konnten einfach 
nicht mehr mit fort ünd hörten so, soweit ihre Träger nicht alterswegen 
den Stab aus der Hand legten, eines nach dem andern von selbst auf.« 
Natürlich war von vornherein gar nicht daran zu denken, daß diese 
Privatseminare aus sich heraus die ins Große gehenden und vom Staate 
und der Öffentlichkeit getragenen modernen Formen des Seminars schaffen 
konnten, aber sie haben damals das noch junge Gebilde gehegt und ge- 
pflegt und ihm seine Lebensfähigkeit erhalten; besonders in Staaten, denen 
es bis weit in das 19. Jahrhundert an Lehrerseminaren überhaupt fehlte, 
so in Mecklenburg, Ostfriesland, Österreich, Hamburg. In Mecklenburg nahm 
die Ritterschaft ihre Lehrer, woher sie zu bekommen waren, gewöhnlich 
gaben sich dort erfahrene Dorfschulmeister und Geistliche mit der Vor- 
bereitung von Lehramtsaspiranten ab, der Superintendent prüfte und zwar 
nur den Volksschulstoff. Aus Ostfriesland wird berichtet, daß man dort 
den Bildungsgang des Lehrers ganz analog dem des Handwerkers gestaltete: 
die Knaben gingen erst zu einem Schulmeister in die Lehre, wurden 
dann Geselle und etablierten sich, nachdem sie ihr Meisterstück, d. h. die 
Probelektion, erledigt hatten, als Schulmeister. In Österreich beschränkte 
sich die Lehrerbildung »auf den halb- oder vierteljährigen pädagogischen 
Kursus an den Normalhauptschulen, deren in jeder Provinzhauptstadt eine 
ist, für die Trivialschullehrer, und auf den Vortrag der Pädagogik und 
Katechetik für den Geistlichen. 

Bedeutend besser und günstiger lagen natürlich die Verhältnisse in 
Ländern mit einem staatlichen Seminarwesen, so in Sachsen und Preußen. 
Dort bestanden einheitliche Lehrpläne und Prüfungsordnungen, es wirkten 
daselbst die hervorragendsten Pädagogen (Diesterweg, Harnisch usw.), 
denen durch ihre Anstellung als staatliche Beamte der Kampf ums Dasein 
erleichtert wurde, so daß sie Zeit und Raum zum Aufbau ihrer päda- 
gogischen Systeme gewannen. Aber selbst in den fortgeschrittensten 


258 B. Mitteilungen. 


Ländern war man amtlicherseits noch nicht über jenen kirchlich-theo- 
logischen Rahmen hinausgekommen, verwechselte immer noch die Religion 
und ihre konfessionell-kirchliche Sondergestaltung, begann das religiöse 
Empfinden der Menschen zu bürokratisieren und überhörte die Stimmen 
einer neuen Zeit. Und sie klangen lauter denn je. In dem Augenblicke, 
da man die Frage der »Emanzipation von Kirche und Schule« aufwarf, 
rückte auch das Problem der Lehrerbildung und Seminargestaltung in ein 
neues Stadium der Entwicklung. Es zeigte sich dies zunächst darin, daß 
man allenthalben begann, mit den Seminaren und ihren Früchten un- 
zufrieden zu werden, so der sächsische Landtag im Jahre 1845, die 
hrandenburgischen Provinzialstände, Eichhorn, Harkort, Wander, 
Preusker; in Sachsen beschäftigten sich gegen zehn Petitionen schon 
vor dem Jahre 1848 mit der Seminarreform, in Preußen sah sich Friedrich 
Wilhelm IV. veranlaßt, in einer besonderen Ordre der.Seminarbeit neue, 
auf religiöse Charakterbildung hinzielende Grundlinien ihrer Tätigkeit zu 
geben, sowie einen seiner Geheimen Räte zwecks Seminarinspektion nach. 
der Provinz Sachsen zu schicken. Er kehrte mit recht unbefriedigenden 
Ergebnissen zurück. Viel besprochen wurde ferner die Aufhebung des 
Breslauer Seminars durch die Regierung am 29. Januar 1846, ein Ge- 
waltakt, zu dem sich die Behörde infolge des dort herrschenden Geistes 
der Zuchtlosigkeit und Unordnung gezwungen sah. Diesterweg stellte 
selbst 1845 den Antrag auf Auflösung des von ihm geleiteten Berliner 
Stadtschullehrerseminar, falls das Ministerium keine Mittel und Wege zur 
Besserung der Lehrerbildung finde. Besonders scharf lauteten aber die 
Stimmen der Ablehnung aus den Kreisen der Volksschullehrer, die, damals 
schon in einem heftigen schulpolitischen Kampfe um die Ortsschulaufsicht 
der Geistlichen stehend, die Idee einer reinen Staatsschüule verfochten und 
deshalb auch die Bildungsstätte ihrer Jugend nach Form und Inhalt ablehnten. 

So schrieb der zu seiner Zeit radikale Führer der schlesischen Lehrer- 
schaft Wander in seiner » Volksschule als Staatsanstalt«: es gibt Seminare, 
die nur Schulmeister fabrizieren. Anstatt dem Lande Lehrer zu geben, 
die für ihren Beruf glühen, denen der Sinn und die Neigung für wissen- 
schaftliches Fortleben erschlossen ist, geben sie ihm eingebildete Narren, 
die ebenso fertig zu sein glauben wie die Anstalt, aus der sie kommen. 
Sie stoßen die Lehrer, die den Fortschritt wollen, zurück, verschreien 
deren Bestrebungen, wenn sie von den seminarhaften und den in der 
Anstalt als legal und orthodox geltenden Ansichten abweichen, als ketzerisch, 
fangen jede Welle, die sich auf dem Wasserspiegel der Pädagogik zeigt, 
mit frommer, theologischer Sorgfalt auf, zerlegen sie und marinieren die 
Elemente für gewisse, nicht eben erfreuliche Zwecke ein. Anstatt die 
Jünglinge in die Vorhallen der Wissenschaft einzuführen, den Sinn für 
das Fortstudieren zu wecken, lassen sie dieselbe eine A-B-C-Schulkarriöre 
machen, stopfen sie wie die Gänse und lassen sie sich an Heften die zu 
Fidibus gebraucht, noch einen üblen Geruch verbreiten, geistig und körper- 
lich totschreiben.« 

So geriet das Seminar in einen auf die Dauer nicht mehr haltbaren 
Schwebezustand hinein, und zuletzt wurde der Nutzen der Seminarbildung 





2. Der Kampf um die Reform der Lehrerbildung usw. 259 


von allen Seiten in Frage gestellt. Dabei waren den Gegnern die grund- 
sätzlichen Differenzen klar. Die Volksschullehrerschaft arbeitete vor allem 
gegen die »gemischte Ehe von Bildungsanstalt und Berufsschule«, gegen 
die »Kasernierung« der Seminaristen im Internat und gegen die ans Ende 
der Seminarzeit geschobene und nur oberflächlich durchgeführte fachliche 
Ausbildung. Den folgenschwersten Schluß aus diesen Anklagen zog be- 
reits 1847 Wunschli in seinen »Pädagogischen Briefen vom Rhein«, 
in denen er die Seminare ausnahmslos verwarf und die zukünftigen Lehrer 
auf Realschulen, Gymnasien und Universitäten vorgebildet wissen wollte. 
Freilich stand er damals mit seiner Forderung noch vereinzelt da, die 
anderen Fachschriftsteller sprechen sich unter Anerkennung der Reform- 
bedürftigkeit doch für Beibehaltung der Seminare aus, und zwar mit um 
so größerer Energie, je mehr man von anderer Seite darnach trachtete, 
die Seminare aufzulösen und sie unter total veränderter Form mit neuer 
Zielsetzung an anderen Orten wieder aufzurichten. 

Derartige Pläne wurden damals im preußischen Unterrichtsministerium 
erwogen. Minister Eichhorn erkannte, daß der liberale Geist seiner Tage 
selbst die dicken Seminarmauern überwunden hatte und Reformideen in 
den Köpfen der $ehrer und Schüler großzog, die darauf hinausgingen, 
das Seminar aus seiner Verkettung mit der Kirche und Volksschule zu 
lösen und es auf freiem Eigenland aufzubauen. 

Unter dem Einflusse jener unglückseligen Anschauung über die 
Verbindungen von Thron und Altar, Religion und Politik stehend (im 
Sinne Stahls, Novalis, Hengstenbergs), glaubte er, der neuen Ent- 
wicklung sich entgegenstellen zu müssen, warf Liberalismus, Atheismus 
und vaterlandsfremden Sinn unterschiedslos durcheinander und hoffte, die 
von ihm vermuteten und gefürchteten » Auswüchse« des Zeitgeistes zu über- 
winden, indem er die Seminare klerikalisierte und sie unter Einschränkung 
ihrer Größe und ihres Bildungswertes »strafweise« auf das vom Liberalis- 
mus noch nicht verseuchte platte Land »versetzte«. So berief er orthodoxe 
Geistliche als Seminarlehrer und Seminardirektoren, ohne zu fragen, ob 
sie pädagogisch vorgebildet waren und sich bewährt hatten, er löste das 
Stettiner Seminar auf und ging daran, in Pommern kleine Landseminare 
unter geistlicher Oberaufsicht auszubauen. 

Dieses Vorgehen des Ministers fand lebhafte Resonanz in der päda- 
gogischen Presse. Das Hallesche »Volksblatt«, die »Zeitung für Preußen«, 
die Berliner »Literarische Zeitunge und der »Janus« von Huber befür- 
worteten die Verlegung der Seminare auf das platte Land. Die Lehrer- 
bildungsanstalten sollten zu Ackerbauschulen umgewandelt werden. »So 
geschult, gingen aus diesem Seminar keine emanzipationslustigen und un- 
zufriedenen Schullehrer hervor, sondern eigentlich veredelte, praktisch- 
tüchtig durchgebildete Bauern, welche, durchweg vollkommene 
Gehilfen den Pfarrherrn mit klarer Anschauung und Kenntnis von 
den Verhältnissen ihrer künftigen Wirksamkeit, dem Bauern und seinen 
Kindern ein möglichst vollkommenes und nachahmenswertes Vorbild dar- 
stellen können.e Dann sei auch keine Gefahr mehr, daß die aus der 
Stadt aufs Land versetzten Lehrer daselbst mit ihrer »erbärmlichen Frei- 


260 B. Mitteilunzen. 


maurertoleranz«, ihrer seichten Moral und ihrer »trostlosen Aufgeklärtheit« 
Unheil anrichten könnten. Ähnliches verfocht ein Pastor Handel in 
seiner Schrift: »Die Volksschullehrerbildung ohne Seminare, auch der 
Psychologe Benecke, ebenso Harnisch. Aus einem Schreiben des 
Ministers Eichhorn an den Minister des Inneren sei folgende Stelle 
zitiert: »Wenn es weiter nur für zweckmäßig und wünschenswert ge- 
halten werden kann, daß die Seminarien für künftige Landschullehrer auf 
dem Lande befindlich und mit einer zur Führung eines eigenen Haus- 
haltes ausreichenden Landdotation versehen seien, so stehen doch leicht 
ersichtlich einer sofortigen und durchgreifenden Einrichtung dieser Art 
nicht zu beseitigende Hindernisse entgegen. Wo sich indessen solche 
Seminarien errichten lassen und ihre Ökonomie einem tüchtigen Landwirt... 
übertragen werden kann, läßt sich erwarten, daß die künftigen Schullehrer, 
mitten in einem ländlichen, wohleingerichteten Hauswesen stehend und an 
die leichten Arbeiten des Ackerbaues selbst mit Hand anlegend, nicht nur 
dem ‚landwirtschaftlichen Leben sich nicht entfremden, sondern durch die 
veredelte Form, in welcher sie dasselbe haben anschauen gelernt, geschickt 
und geneigt gemacht werden, in ihrem späteren Berufsleben dasselbe durch 
Unterricht und Beispiel fördern zu helfen«. Es waren das verwirrende 
Gedanken, die denn auch baid Abwehrschriften hervorriefen. »Und die 
jungen Männer, welche sich die hohe Aufgabe gestellt haben, als Priester 
des Wahren und Guten und Schönen eine göttliche Flamme in der Volks- 
jugend anzufachen und diese für den Eintritt in den Weltverkehr durch 
und durch tüchtig zu machen, die sollen verurteilt sein, nur von der ab- 
geschiedenen Seminarbank aus das bunte, wimmelnde Gebiet menschlicher 
Leistungen, wie Moses von einsamen Berge das gelobte Land zu schauen, 
ohne daß es ihrem Fuße gestattet wäre, selbst mitten drin sich zu er- 
gehen und eine anschauliche Erkenntnis davon zu Nutzen und Frommen 
ihrer Zöglinge mitzunehmen? Draußen das lebendige Leben muß dem 
toten Schulbuchstaben mit seinem starken, frischem Odem erst kräftigen 
‘Geist einhauchen und interessante Bedeutung.« 

Es ist notwendig, sich über diese vorrevolutionären Tendenzen und 
Stimmungen klar zu werden, denn in ihnen sind die Bahnen der kommenden 
Entwicklung schon vorgezeichnet, sowohl der Revolution als auch der 
Reaktion, und außerdem kommt man zur Gewißheit darüber, daß die 
Revolution selbst in ihrem Überschwang der Gefühle an sich nichts Neues 
schuf, sondern schon oft Gehörtes nur reklameartig betonte. Sie hat 
höchstens darin selbständig gearbeitet, daß sie die einzelnen schon vor- 
handenen Elemente anders betonte und anordnete und so in die Stimmen 
der reformierenden Geister qualitative Wertunterschiede brachte. Der Be- 
weis dazu läßt sich schon aus dem Tivoliprogramm der Berliner Lehrer- 
schaft vom 26. April 1848 erbringen. Denn darnach soll die Lehrer- 
bildungsanstalt ein Zweig der Universität sein und jeder sich zum Lehr- 
fach vorbereitende das Reifezeugnis einer höheren Bürgerschule oder eines 
Gymnasinms vorbringen. Das bedeutete also die Aufhebung des Seminars 
(natürlich auch des Privatseminares), die Loslösung der Lehrerbildung aus 
dem rein Fachtechnischen und ihre Verbindung mit den allgemeinen 


2. Der Kampf um die Reform der Lehrerbildung usw. 261 


Bildungsidealen schlechthin. Somit war das Tivoliprogramm das Bekennt- 
nis zu einer auf dem Humanitätsgedanken ruhenden idealistischen und 
intensiv wie extensiv erhobenen Bildungspolitik der Volksschullehrer. 
Diese Berliner Stimmen wurden maßgebend für das gesamte Land und 
die Beschlüsse der Provinzial-Lehrerkonferenzen standen in starker innerer 
Abhängigkeit von ihnen. Dadurch aber gewann die bisher ziemlich ver- 
einzelt erklingende Stimme Wutschlis an Resonanz und Bedeutung, freilich 
nicht auf der am 15. Januar 18.49 tagenden preußischen Seminarlehrer- 
konferenz, die im großen und ganzen alles beim Alten zu lassen gedachte. 
Diesterweg hat damals die aus allen Teilen des Landes einlaufenden 
Reformvorschläge gesammelt und sie jener Versammlung vorgelegt, ohne 
damit aber irgendwie großen Einfluß zu erzielen. 

Ähnlich wie in Preußen standen sich auch in Bayern die bisher 
immer wieder auftauchenden und aus der Vor-Revolutionszeit übernommenen 
Grundgedanken gegenüber: entweder Aufhebung des Seminars und An- 
schlug an die Universitätsbildung oder innere Umformung der in ihrer 
Existenz zu sichernden Lehrerbildungsanstalten. So dachte der Nürn- 
berger Lehrertag (7. August 1849) an eine grundlegende Real- oder 
Bürgerschulbildung mit angefügten pädagogischen Vorkursen und dann 
Weiterbildung der künftigen Lehrer an der Universität, die einen päda- 
gogischen Lehrstuhl errichten und praktische Übungen einführen sollte. 
Viel Aufsehen erregte damals in Bayern eine Schrift über die Reform 
der Lehrerbildung von Dr. Jakobi, die auch den Beratungen der amt- 
lichen Kreise zugrunde lag. Er befürwortete zwei- bis dreijährigen 
Präparandenbesuch, hierauf den Übergang der Studierenden zu einem 
internatslosen Pädagogium (17.—20. Lebensjahr), dann eine dreijährige 
Schulpraxis mit anschließendem Anstellungsexamen; wer diese mit Aus- 
zeichnung bestehe, solle das Recht zum Universitätsbesuch erlangen. 
Ähnliche Gedanken gewannen auch in Württemberg Grund und Boden. 
Auch dort hielt man in amtlichen Kreisen ebenfalls am Seminar fest und 
überwies diesem in einem dreijährigen Kursus einen ausgebreiteten päda- 
gogischen Lehrplan zur Erledigung. Sachsen ging ebenfalls in den 
schon angedeuteten zwei Bahnen vorwärts, nur der führende Gymnasial- 
lehrer Köchly vermochte dem schon oft erörterten Gegenstand eine neue 
Seite abzugewinnen, was dann auch von der Lehrerschaft aufgenommen 
wurde. Köchly ging über den Antrag Frickes auf der zweiten all- 
gemeinen sächsischen Lehrerversammlung (Verbindung von Seminar und 
Universität) zielbewußt hinaus und brachte den Einheitsschulgedanken auf 
den Plan. Ihm schwebte ein Gesamtseminar für alle Arten von Lehrern 
vor, daneben sollte es noch Bildungsanstalten für Gemeindeschullehrer 
geben, die in den Mittelpunkt des Unterrichtes nicht mehr die Religion, 
sondern die Pädagogik zu stellen hatter und sich durch einen selbst- 
gewählten Seminarausschuß unter Oberaufsicht des Staates selbst verwalteten. 
Als das große Sammelbecken für die in allen Teilen Deutschlands auf- 
schießenden Ideen zur Reform der Lehrerbildung erwies sich bald die 
Frankfurter Nationalversammlung samt ihren Deputationen, Ausschüssen 
und Kongressen. Freilich kam nicht allzuviel dabei heraus. Der sächsische 

Zeitschrift für Kinderforschung. 25. Jahrgang. 18 


262 B. Mitteilungen. 


Naturforscher Roßmäßler hielt eine beachtenswerte Parlamentsrede, in 
der er die bisher auf den Seminaren gepflegte einseitige kirchliche Richtung 
verurteilte und befürwortete, man solle bei der Bildung der Lehrer die 
übernatürliche Weltanschauung verlassen, zur natürlichen zurückkehren 
und sich freudig dem Bewußtsein der irdischen Heimatsangehörigkeit hin- 
geben. — Einen nicht unbedeutenden Einfluß auf die Parlamentsbeschlüsse 
gewann ferner der Kongreß der deutschen Volksschullehrer in Frankfurt, 
denn sein Beschluß ging fast unverändert in die Reichsverfassung über. 
Demnach solle es dem Lehrer gemäß der Grundrechte freistehen, sich für 
seinen Beruf vorzubereiten, wie und wo er wolle. Die höhere Ausbildung 
erstrebe der künftige Lehrer auf den Universitäten. 

Allen diesen Reden, Beschlüssen und Konferenzen parallel ging eine 
große Anzahl reformfreundlicher Schriften, die aber Neues nicht brachten, 
höchstens unannehmbare Sonderlichkeiten. Kaum eine versuchte, das 
Seminar in seiner überlieferten Gestalt zu retten oder gar die Gedanken 
des inzwischen abgegangenen Ministers Eichhorn zu verteidigen. Insofern 
lebte nur ein Teil der vormärzlichen Gedanken weiter, nämlich nur der 
auf Umgestaltung und Neubau hindrängende. Er trat, solange die Reaktion 
noch nicht offensichtlich erkennbar war, vorherrschend in die Erscheinung. 

In dem »Pädagogischen Jahresberichte von K. Nacke (1849) sind 
sämtliche Konferenzbeschlüsse aus dem Jahre 1848 zusammengestellt, die 
hier im Auszug wiedergegeben werden sollen (ohne Nennung der bei 
Nacke sich findenden Vereine). 


a) Vorbildung. 


1. Es steht dem Lehrer gemäß der Grundrechte frei, sich für den 
Lehrerberuf auszubilden, wie und wo er will. 

2. Jeder Schulamtsbewerber muß das Seminar besucht haben. 

3. Der Kirche soll auf die religiöse Bildung der Lehrer Einfluß ge- 
stattet sein. 

5. Freie Wahl der Vorbildung zum Seminar. 

6. Keine Präparanden-Anstalten mehr (8 Konferenzbeschlüsse). 

7. Die Präparandenschulen bleiben. 

8. Wer sich dem Lehrfache widmet, muß das Zeugnis der Reife aus 
der höheren Bürgerschule oder dem Gymnasium erlangt haben (18 Kon- 
ferenzbeschlüsse.) 

9. Bei der Aufnahmeprüfung in das Seminar werde eine Vorbildung- 
wie sie die Oberklasse einer guten Realschule, die lateinische und eng- 
lische Sprache ausgenommen, zu geben vermag, verlangt. 

10. Der Staat hat die Verpflichtung, die Real-, polytechnischen oder 
Gymnasialschulen so einzurichten, daß künftige Lehrer auf einem derselben 
die Vorbildung erreichen können, die sie zum Besuch der höhern Aus- 
bildungsanstalten berechtigt. 


b) Berufsbildung. 


1. Der Staat sorge für eine verbesserte und umfassendere Vorbildung 
der Lehrer und lasse eine diesem Bedürfnisse entsprechende Reorganisation 


2. Der Kampf um die Reform der Lehrerbildung usw. 263 


der Seminare eintreten (in der Rheinischen Provinzial-Konferenz mit 
38 gegen 17 Stimmen angenommen). 

2. Die Bildungsanstalten für Volksschullehrer erhalten eine solche 
Erweiterung, daß sie ihren Zöglingen eine ganze, freie und wissenschaft- 
liche Bildung und praktische Befähigung geben. 

3. Bei der gesetzlich bestimmten Unterrichtsfreiheit kann nur ge- 
wünscht werden, daß alle Schulstandszöglinge durch ein Staatsseminar 
gehen möchten. 

5. Dreijähriger Seminarkursus (9 Konferenzbeschlüsse). 

9. Wir halten die Trennung der Seminare in solche »für Stadt« und 
»für Land« für verwerflich, es bestehe eine vollständig organisierte ein- 
klassige Übungsschule unter einem gewiegten Lehrer neben der mehr- 
klassigen zur Übung der Seminaristen bestimmten Lehranstalt. Der 
Unterricht der Seminarzöglinge bewege sich mit dem in der Volksschule 
in gleichen Lehrgängen fort und gewähre wissenschaftlich überblickend, 
vornehmlich praktische Bildung ohne Gelehrsamkeit. 

10. Das Ziel der Seminarbildung sei die vollständige, theoretische 
und praktische Ausbildung der Lehrer für die neue Volksschule —. In 
Beziehung auf den Lehrstoff gebe das Seminar Anweisung zur methodischen 
Anwendung der bereits erworbenen Kenntnisse und füge die nötigen neuen 
Disziplinen hinzu. 

11. Zweck der Seminare: neben tüchtiger Leibesübung besonders 
gründliche Einführung in das zeither versäumte Studium der Seelenkunde, 
sowie der Erziehungs- und Unterrichtsiehre, um ein klares Bewußtsein 
über die Hauptaufgabe des Lehrerberufs zu erzeugen und die Lehrer vor 
Mißkennung und Mißhandlung der Menschennatur und ihrer Bestimmung 
möglichst sicher zu stellen. 

13. In den Seminarien werden Redeübungen und freie Vorträge ge- 
übt, auch wird Unterricht in der lateinischen und französischen Sprache 
fortgesetzt. 

14. Die Seminarien sind nur für praktische Befähigung bestimmt. 

16. Wir wünschen Simultan-Seminare, in welchen die methodische 
Behandlung des konfessionellen Religionsunterrichts eine geschiedene sei. 

18. Aufhebung der bisherigen Kasernierung der Seminaristen (8 Kon- 
ferenzbeschlüsse). 

19. Freies Wohnen der Seminaristen außerhalb des Lehrgebäudes, 
doch so, daß Bürgschaft für ihre sittliche Bewahrung gegeben, namentlich 
Kontrolle von Seiten der Seminarlehrer zu jeder Zeit möglich sei. 

20. Der Seminardirektor darf kein geistliches Amt bekleiden. 

21. Er muß sich als tüchtiger Seminarlehrer bewährt haben. 

22. Die Seminarlehrer müssen vorzugsweise praktisch und theoretisch 
durchgebildete Schullehrer sein. 

23. Besetzung des Direktoriums und der Hauptlehrerstellen, wie bis- 
her mit theologisch gebildeten, aber auch als Lehrer schon praktisch be- 
währten Männern. 

25. Zu allen Lehrerprüfungen wird eine von Lehrern gewählte 
Kommision von Lehrern hinzugezogen, die der Prüfung beiwohnen, Ein- 

18* 


264 i B. Mitteilungen. 


sicht in die schriftlichen Prüfungsarbeiten erhalten und am Schlusse des 
Examens ihr Urteil darüber abgeben, ob der Geprüfte Lehrer ist oder nicht. 

29. Die bisherigen Lehrerseminare und Privatseminare werden auf- 
gehoben. 

30. Die Seminare werden in große Städte verlegt und mit Uni- 
versitäten verbunden (6 Konferenzbeschlüsse). 

32. Gründung von Musterschulen an Universitäten. 

33. Behufs wissenschaftlicher philosophischer und pädagogischer Aus- 
bildung ist es am besten, den Besuch der Universität zu ermöglichen. 

34. Umbildung der Lehrerbildungsanstalt des Seminars zur reinen 
Fachschule (Halle). 

35. Umgestaltung der Lehrerseminare nach Art der Gymnasien. 

36. Erweiterung des Seminars zur Lehrer-Akademie. 

37. Der angehende Lehrer gewinne seine Fachbildung auf dem zur 
pädagogischen Akademie umzugestaltenden Seminare. 

38. Die Lehrerbildungsanstalt ist ein Zweig der Universität und gibt 
theoretische und praktische Ausbildung (6 Beschlüsse). 

Soweit die Konferenzbeschlüsse. Trotz des Vielerleis und Durch- 
einanders lassen sich aus ihnen die bisher gezeigten Grundstimmungen 
und Hanptrichtungen in Fragen der Lehrerbildung ohne weiteres erkennen. 
Die Ähnlichkeit mit modernen Forderungen aus allerneuester Zeit wirkt 
teilweise verblüffend. 

Die Revolution der achtundvierziger Jahre endete mit einem Mißerfolg. 
Es kam die »Reaktion«, die vielgeschmähte. Wer aber die hemmenden 
Einflüsse der Vormärzzeit, wie sie im ersten Teile dieser Abhandlung klar- 
gelegt wurden, mit dem vergleicht, was nach der Revolution in Lehrer- 
bildungsfragen getan worden ist, der wird erkennen, daß jener Kreuzzug 
ultrakonservativer Geister gegen den verpönten Geist des Liberalismus 
und Sozialismus keineswegs in das heilige Land vormärzlicher Institutionen 
führte. Vielmehr nahm man Fortbildungen und Umbildungen auf, die 
teilweise den Köpfen gemäßigter Fortschrittler entsprungen waren. 

Eine stark rückläufige Bewegung in der Frage der Seminarorganisation 
wünschte die »Neue Preußische Zeitung« durchgeführt: die Lehrerbildungs- 
anstalten sollten möglichst aufs Land verlegt werden, denn dort hoffte 
man den Zöglingen Einfachheit des Sinnes, bäuerliche Herzensbildung, 
wahren Christenglauben leicht einflößen zu können. Weg mit aller 
Methodenweisheit, leerem Schematismus, verwaschenen Begriffen. Nicht 
die Technik und Methodik sollen erziehen, sondern einzig und allein das 
lebendige Vorbild des Lehrers, wenig Unterricht, viel Übung und Praxis. 
Ähnlich eiferte Dr. Curtmann in seiner »Reform der Volksschule« : 
»Allerdings haben die Jahre 1848 und 1849, diese Gottesgerichte so vieler 
übertünchter Menschenwerke den Schleier von der geträumten Herrlichkeit 
des deutschen Schulwesens hinweggerissen, und das entschleierte Bild 
hat ein welkes, verzerrtes, ohnmächtiges Antlitz gezeigt. — Das Geständnis 
muß abgelegt werden: die deutsche Schule hat ihre Probe nicht bestanden. 
Was hatte diese Schule nicht alles verhießen durch den Mund ihrer Lob- 
preiser. Aber in den Revolutionsstürmen ist der Rausch der Bewunderung 


2. Der Kampf um die Reform der Lehrerbildung usw. 265 


verflogen, die unschöne Wirklichkeit liegt vor uns, wir stehen beschämt 
vor der Leiche des gefeierten Irrtums. Man gefiel sich in Redensarten 
von einem konfessionslosen Unterrichte, welchen zuletzt der Geistliche in 
der Vorbereitung zur Konfirmation noch mit einem konfessionellen An- 
strich versehen möchte, grade als wollte ein Gärtner zuerst einen all- 
gemeinen Obstbaum ziehen und dann denselben nach Belieben zum Apfel- 
baum oder Birnbaum umpfropfen. Wenigstens hat keiner dieser konfessions- 
losen Männer seine Ideen jemals so verkörpert, daß man Fleisch und 
Blut in ihnen hätte wahrnehmen können. Begeisterung, Anhänglichkeit, 
Treue für solche Schattenreligion ist jedenfalls unmöglich und bei ihren 
Urhebern am wenigsten zu finden. Deshalb ist eine Reform der Lehrer- 
bildung dringend notwendig, die künftigen Dorfschullehrer sollen »Be- 
zirksschulen« besuchen, das sind Fachschulen für Lehrer, analog den Fach- 
und Fortbildungsschulen für Klempner, Maurer, Schlosser usw. eingerichtet, 
nur im Sommer geöffnet. Künftige Stadtlehrer mögen ihre Vorbildung 
auf einer Real- oder Bürgerschule empfangen, darnach sollen sie gemein- 
sam mit den früheren Zöglingen der Bezirksschulen sechs Jahre als Soldat 
dienen, nebenbei die vom Militär-Fiskus für Heeresangehörige eingerichteten 
Fortbildungsschulen besuchen und dann einen für Stadt- oder Landschul- 
lehrer unterschiedenen einjährigen Seminarkursus absolvieren, der als 
»Presse« wirkend, alles bisher an Pädagogik Gelernte repetitorisch zu- 
sammenfassen und einprägen sollte.« 

Es erübrigt sich auf den »Wert« dieser Darlegungen einzugehen 
oder bei ihnen den ideengeschichtlichen Grund aufzudecken, denn das 
Ganze war eine ad hoc konstruierte und den Sinn historischer Entwicklung 
mit kindischer Einfalt übersehende Konstruktion, die nur insofern eine 
Bedeutung hat, als sie den übrigen »Reaktionären«, die auch ihrerseits 
gegen die »Überspannung« des Seminarzieles eiferten, mit Klarheit zeigte, 
wohin man nicht gehen durfte. So wurde Curtmanns Weg selbst von 
seinen Gesinnungsgenossen als bedenklich abgewiesen, weil er den Schul- 
meisterberuf als ein unter militärisch - polizeiliche Beaufsichtigung zu 
stellendes Handwerk auffaßte — Erinnerungen aus dem Polizeistaat des 
18. Jahrhunderts an falscher Stelle. 

Eine zweite Form der Reorganisation der Lehrerbildungsfragen legte 
man amtlich fest in den sogenannten Stiehlschen Regulativen, sie gingen 
aus einer romantisch-konservativ-streng-konfessionellen Weltauffassung 
hervor und versuchten unter Aufrechterhaltung der Verbindung von Schule 
und Kirche die Seminarbildung im Sinne einer christlichen Familien- 
erziehung auszubauen, wobei die Einschätzung des Seminares als Fach- 
bildungsanstalt bestehen blieb. Deshalb heißt es auch in den Regulativen, 
daß es der letzte Zweck des Seminarunterrichts sei, den Zögling zu einem 
Lehrer für evangelisch-christliche Schulen heranzubilden, welche die Auf- 
gabe haben, mitzuwirken, daß die Jugend erzogen werde in christlicher, 
vaterländischer Gesinnung und in häuslicher Tugend. Bedenklich war 
bei diesen Vorschlägen das zu geringe Maß der auf den Seminaren zu 
vermittelnden wissenschaftlichen Bildung. Denn es soll der Seminar- 
unterricht nach denselben Grundzügen und in seinen begründenden Ab- 


266 B. Mitteilungen. 


schnitten teilweise selbst in der Form gegeben werden, welche die Be- 
handlung desselben Gegenstandes in der Elementarschule erfordert. Dieses 
Mißtrauen gegen den Wert wissenschaftlicher Vorbereitung auf den Beruf 
erstreckt sich selbst auf die pädagogischen Fächer. Es heißt darüber in 
den Regulativen: »Was bisher an einzelnen Seminarien noch unter den 
Rubriken Pädagogik, Methodik, Didaktik, Katechetik, Anthropologie und 
Psychologie usw. etwa gelehrt sein sollte, ist von dem Lektionsplan zu 
entfernen und ist statt dessen für jeden Kursus in wöchentlich zwei 
Stunden »Schulkunde« anzusetzen. In dem Seminar ist kein System 
der Pädagogik zu lehren, auch nicht in populärer Form. Statt der Pä- 
dagogik wird nun Mittelpunkt des Seminarunterrichts die Religion, erteilt 
im Sinne des kirchlichen Dogmas, unterstützt durch eine große Anzahl 
zu lernender Bibelsprüche und Liederverse, praktisch angewandt im Internats- 
leben des Seminars, so daß sich — nach den Worten des Regulativs — 
das ganze Leben im Seminar unter die Zucht des Wortes und Geistes 
stellt, so daß aus der Fülle der Gnadenmittel von Lehrern und Schülern 
fleißig und treu geschöpft und im ganzen eine evangelisch-christliche 
Lebensgemeinschaft dargestellt wird. Die Grundgedanken dieses Regulativs 
werden am Schlusse folgendermaßen zusammengefaßt: »Unpraktische Re- 
flexionen, subjektives, für die Zwecke einfacher und gesunder Volksbildung 
erfolgloses Experimentieren wird ihnen fern bleiben. Unter Festhaltung 
des christlichen Grundes in Leben und Disziplin werden sie immer voll- 
ständiger zu dem sich ausbilden, was sie sein müssen, Pflanzstätten für 
fromme, treue, verständige, dem Leben des Volkes nahestehende Lehrer, 
die sich in Selbstverleugnung und um Gottes Willen der heranwachsenden 
Jugend in Liebe anzunehmen Lust, Beruf und Befähigung haben«. 

Da die Ausbildung im Seminar sich nur auf das 17. bis 20. Lebens- 
jahr beziehen sollte, wurde ein zweites Regulativ erlassen, in dem die 
Vorbildung des Seminar-Präparanden von der Regierung eine bedeutsame 
Regelung erfuhr, denn ohne Berücksichtigung der während der Revolutions- 
zeit gestellten Ansprüche setzte die Regierung fest, daß auch fernerhin 
keine geschlossenen Präparandenanstalten errichtet werden sollten. Viel- 
mehr gedachte man, die für den Lehrerberuf bestimmten 14 bis 17 jährigen 
Zöglinge in kleinen Gruppen christlichen und bewährten Volksschullehrern 
unter pfarrherrlicher Oberaufsicht zur weiteren Ausbildung zu übergeben, 
und zwar in Religion, Deutsch, Rechnen, Formenlehre, Zeichnen, Realien 
und Musik. Selbstverständlich sollten die Proseminare alle auf dem flachen 
Lande errichtet werden. 

Diese preußischen Bestimmungen fanden in weiten Teilen Deutsch- 
lands Nachahmung und wurden dadurch für die Geschichte der Lehrer- 
bildung außerordentlich bedeutungsvoll. Nur allzubald aber überflügelten 
sie die Ansprüche und Forderungen einer neuen Zeit, die gebieterisch ihre 
Rechte geltend machte. 


3. Was wird aus unserer Schule? 967 


3. Was wird aus unserer Schule? 


Gegenüber den idiologischen Plänen und Träumen weiter Kreise der 
Volksschullehrer- wie der Öberlehrerschaft schreibt der Herausgeber der 
»Deutschen Schule« im Aprilheft dieses Jahres unter dieser Überschrift 
seine bangen Sorgen vom Herzen, die ihn schon seit 1917 quälten. Jene 
haben Schulpläne, die, soweit sie wirklich von Bedeutung sind, man vor 
dem Kriege, als wir noch ein reiches Land waren, hätte fordern können. 
Jetzt werden wir ein Großes leisten, wenn wir die Schule so erhalten, 
wie sie im Laufe der Jahrzehnte bis zum Kriegsausbruch geworden ist. 
Pretzel ist ein Mann von Nachdenken und von Erfahrung, und er sieht 
darum die Wirklichkeit. So schreibt er u. a.: 

»Es ist weit schlimmer gekommen, als damals selbst wir Schwarz- 
seher befürchteten. Deutschland befindet sich heute politisch und wirt- 
schaftlich in einem Zustande, welcher es manchem, der nicht gewohnt 
ist, die Welt durch eine rosenrote Brille zu betrachten, fraglich er- 
scheinen lassen mag, ob es überhaupt die Kraft finden wird, sich noch 
einmal zu geordneten Verhältnissen hindurch- und hinaufzuarbeiten. 
Nur wir Leute von der Schule merken anscheinend nichts davon, legen 
dieselbe Hoffnungs- und Vertrauungsseligkeit an den Tag, die uns zu 
allen Zeiten ausgezeichnet, aber doch eigentlich bisher niemals so recht 
zum Ziel geführt hat. Wir begeistern uns für zukünftige Gestaltungen, 
geraten wohl auch gelegentlich in hitzigen Streit darüber und achten 
wenig darauf, ob uns nicht inzwischen die tatsächlichen Grundlagen 
für alle diese Neubildungen langsam unter den Füßen weggezogen 
werden.« 

Pretzel zeigt nun, was möglich und nicht möglich ist, und schließt 
dann: 

»Warum ich das alles schreibe? Nicht um Trübsal zu blasen 
oder Mutlosigkeit zu verbreiten. Als ich jung war, stand in vielen 
Schullesebüchern die Erzählung von Jean Paul ‚Die Neujahrsnacht 
eines Unglücklichen‘. Sie ist wohl allgemein bekannt, auch der Schluß 
der befreienden Wendung, daß der Alte, der sein Leben verloren glaubte, 
in Wirklichkeit noch ein Jüngling war, der das Leben noch vor sich 
hatte und das Fürchterliche, das ihm ein Traum gezeigt, vermeiden 
konnte. Der Vergleich zwischen uns Schulleuten und dem Helden in 
Jean Pauls Erzählung hinkt wie alle Vergleiche. Aber eins, meine ich, 
stimmt daran. Jenem Jüngling wurden die Gefahren, denen er in 
bezug auf seine sittliche Entwicklung ausgesetzt war, im Traum gezeigt, 


und er empfing daraus den Antrieb zur Umkehr. Wir — ich wende 
mich damit nicht nur an alle Lehrer und Lehrerinnen im weitesten 
Sinne, sondern an alle Volksgenossen — sollten die Gefahren, die der 


Entwicklung unseres Schulwesens von außen drohen, mit wachen Augen 
sehen und uns alle zusammenfinden, sie abzuwehren.« 
Ebenso merkt man Herrn J. Tews, der die »Umschau« schreibt, ar, 
daß er die idiologischen Träume der Mehrheit nicht mit durchmachen 
kann, so schreibt er u. a.: 


268 B. Mitteilungen. 


»Es kann dem Staate nicht zum Segen gereichen, wenn nur der 
Parteimann gilt und nicht der Sachverständigste und Leistungsfähigste, 
wenn die junge Verfassung in den grundlegenden Bestimmungen beiseite 
geschoben werden soll, wenn eine Volksvertretung, die ihre Aufgabe 
längst erledigt hat, sich nicht auflösen und einer gesetzmäßigen Ver- 
tretung Platz machen will, wenn vor allem auch da die kräftige Hand, 
die Ordnung schafft, vermißt wird, wo sie nicht vermißt werden dürfte, 
wenn Minderheiten — allerdings einflußlose — mit erbarmungsloser 
Rücksichtslosigkeit in ihren staatsbürgerlichen Rechten und wirtschaft- 
lichen Anliegen gekränkt und geschädigt werden, wenn offenbare Nicht- 
wisser auf Ministersesseln alles mögliche Unheil anrichten und mit 
einer Harthörigkeit sondergleichen über die begründetsten Beschwerden 
von Minderheiten hinweggehen, aber die Urheber jedes wilden und 
halbwilden Streiks und aller damit verbundenen Roheiten und Gewalt- 
tätigkeiten immer wieder verzeihende und duldende Nachgiebigkeit finden. 
Das und nichts anderes hat den Abenteurern, die hinter Kapp standen, 
den Mut gegeben, mit einer Hand voll Soldaten den Umsturz zu ver- 
suchen. 

Auch im Schulwesen bleibt vieles zu wünschen übrig.« Tr. 


4. Zum Kampf gegen Schund und Schmutz 
in Wort und Bild. 


Solange unsere Zeitschrift besteht, haben wir immer wieder nach- 
drücklich durch zahlreiche Abhandlungen (siehe das vom Verlage zu be- 
ziehende Verzeichnis der »Beiträge für Kinderforschung«) und Mitteilungen 
hingewiesen auf die die Jugend und damit auch das Volk nach Leib und 
Seele verderbende und zerstörende Schund- und Schmutzliteratur und vor 
allem auf die außergewöhnlichen Gefahren des Kinos. Aber vergebens. 
Nun kam der Krieg. Da hat erfreulicherweise der übelbeleumundete 
»Militarismus« durch die einzelnen Generalkommandos gründlich aufgeräumt 
und das vollbracht, was wir und andere sozialgesinnte und jugendfreund- 
liche Kreise vordem leider vergebens erstrebten. Dann kam die Revolution. 
Sie wollte ja vor allem sozial sein, den unteren und irgendwie notleidenden 
Volksmassen Erlösung, Heil, Frieden, Glück, Gesundheit, Bildung und 
Kultur bringen. Aber noch nie hat das Buch- und Kinogift unter der 
Jugend und unter der sozial tiefstehendsten Volksmasse so verheerend 
wirken können, wie seit dem 9. November 1918. Gegen den Kapitalismus 
wollten die neuen Herrschaften mit aller Macht kämpfen und gegen den 
nutzbringenden Kapitalismus hat man es ja auch immer wieder durch 
Streiks, Sozialisierungsversuche, Gesetzgebung usw. versucht. Die Kohlen- 
und Eisenbahnnöten neben anderen sind die Ergebnisse. Doch den un- 
sittlichen Kapitalismus, wie er sich im Schiebertum, an dem sich be- 
kauntlich hochgestellte Mitglieder der Regierungen und der Parlamente 
unter Ausnutzung ihrer Kenntnisse der Verhältnisse und den Möglichkeiten 
und ihres Einflusses ungetadelt beteiligten, und vor allem der Lichtspiel- 


4. Zum Kampf gegen Schund und Schmutz in Wort und Bild. 269 


und Schmutzliteraturunternehmungen haben alle die, welche sich mit 
Sozialismus und Demokratie, also mit Volksfreundlichkeit und Volksfürsorge, 
brüsten, unangetastet gelassen, ja ihre schützenden und segnenden Fittiche 
über ihn gebreitet, so daß sich ihrer Pflicht bewußte Eltern ihren Kindern 
wegen der unsittlichen Anzeigen kaum noch eine Tageszeitung in die Hand 
geben mögen und sie am liebsten nur mit verbundenen Augen durch die 
Straßen der Groß-, ja auch der Kleinstadt gehen lassen. Damit unsere Leser 
ein Bild bekommen, wie die einzelnen Parteien sich zu dieser sozialsten 
Frage der Jugend und des Volkes stellen, wollen wir nicht verfehlen, 
den Bericht aus der 100. Sitzung der Nationalversammlung hier zum 
Abdruck zu bringen: 


Präsident: Wir kommen zum zweiten Gegenstand der Tagesordnung, zur 


Interpellation der Abgeordneten Arnstadt. Dr. Heinze und Ge- 
nossen, betreffend gesetzliche Einführung der Zensur für Lichtspiele, 
gesetzliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Schund- und Schmutz- 
literatur sowie zum Schutze der Jugend bei öffentlichen Schau- 
stellungen und Darbietungen (Nr. 1092 der Drucksachen). 


Die Regierung hat sich bereit erklärt, die Interpellation heute zu beantworten. 

Zur Begründung der Interpellation erteile ich namens der Interpellanten das 
Wort dem Herrn Abgeordneten D. Mumm. 

D. Mumm, Abgeordneter, Interpellant: Meine Damen und Herren! Die 
Interpellation, die ich namens der Deutsch - Nationalen und namens der Deutschen 
Volkspartei hier vortragen darf, hat folgenden Wortlaut: 


Die Verfassung bestimmt in Art.119ff. die Reinerhaltung der Familie als 
Aufgabe des Staates und verspricht den Schutz der Jugend gegen sittliche Ver- 
wahrlosung; sie sieht in Art.118 gesetzliche Einführung der Zensur für 
Lichtspiele, gesetzliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Schund- und 
Schmutzliteratur sowie zum Schutze der Jugend bei öffentlichen Schau- 
stellungen und Darbietungen vor. 

Denkt die Reichsregierung angesichts der bestehenden schweren Mißstände 
ohne Verzug im Sinne der durch die Verfassung gegebenen Vollmachten gesetz- 
geberisch vorzugehen ? 

Es ist naturgemäß, daß hier in der Nationalversammlung und im Reichstag 
zumeist wirtschaftliche Fragen im Vordergrund der Arbeit stehen. Die Kulturtage 
können nicht sehr zahlreich sein. 

Wenn wir heute auf einen der schwersten Mißstände unseres kulturellen 
Lebens schauen, so erhebt sich die Frage, von welcher Grundlage aus man die Inter- 
pellation begründen soll. Es ist möglich, sie so zu begründen, daß die unter uns 
vorhandenen scharfen kulturellen Gegensätze in Erscheinung treten, daß der Gegen- 
satz der Weltanschauungen, der nun einmal im Volksleben vorhanden ist, der sich 
selbstverständlich auch in den gesetzgebenden Körperschaften spiegelt und der auch 
auf das sittliche Gebiet reflektiert, hier zum Ausdruck kommt. Ich würde dann 
von dem Grundgedanken ausgehen, daß eine religionslose Moral gleich einer dünnen 
Eisdecke zwar den einzelnen tragen kann, unter einer Menge aber zusammenbricht. 
Von dieser Grundlage aus würde indes, solange die gegenwärtigen Mehrheitsverhält- 


270 B. Mitteilungen. 


nisse andauern, 'auf eine Besseruug nicht gerechnet werden können. Die Mißstände 
sind nun aber so groß und so schwer, die Not so schreiend, daß nicht gewartet 
werden darf, bis der Umschwung im Volksleben eine andere Gestaltung der Mehr- 
heitsverhältnisse hier im Hause herbeiführt, sondern es ist notwendig, daß wir in 
der Gegenwart so schnell wie möglich und ohne Verzug diejenigen Mittel, die die 
Verfassung an die Hand gibt, ergreifen. Soll dies erreicht werden, so dürfen die 
Gegensätze, wie sie unter uns bestehen, nicht ın den Vordergrund gerückt werden, 
sondern dann ist es nötig, daß — darf ich einmal sagen — eine Partei der an- 
ständigen Menschen sich bildet, daß wir in so großem Umfang, wie es nur irgend 
möglich ist, zu einer Einheit der Auffassungen über die nächsten Schritte kommen. 
Hier darf nicht tatenlos zugesehen werden; zum mindesten nehmen diejenigen, die 
tatenlos zusehen, eine gewaltige Verantwortung gegenüber der Zukunft unseres 
Volkes auf sich. Denn mehr und mehr ist es die Überzeugung der weitesten 
Schichten unseres Volkes — man kann es in der »Frankfurter Zeitung« lesen, man 
kann es widerklingen hören in manchen Reden vom Ministertisch, nicht zuletzt in 
den Ausführungen des Reichskanzlers Bauer —, daß nur eine Hebung des sittlichen 
Verantwortlichkeitsgefühls und nur eine Änderung des gesamten sittlichen Status 
unseres Volkes uns zu retten vermag. 
(Sehr richtig! rechts.) 

Ist dies die Überzeugung immer weiterer Kreise, so ist es nötig, daß auch die 
entsprechenden Folgerungen gezogen werden, daß diejenigen Machtmittel, die die 
Mehrheit der gegenwärtigen Nationalversammlung in die Hände der Regierung gelegt 
hat, von dieser Regierung auch angewandt werden, damit nicht die Volksseele un- 
ausgesetzt verwüstet wird. Eine Reihe von Gesetzentwürfen sind aus dem Reichsamt 
des Innern angekündigt worden. Bisher war keiner darunter, der jene Artikel 119 ff. 
anlangt oder der auf gesetzliche Einführung der Zensur für Lichtspiele, auf gesetz- 
liche Maßnahmen zur Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur sowie zum 
Schutz der Jugend bei öffentlichen Schaustellungen und Darbietungen gemäß Art. 118 
eingeht. 

Meine Herren, wie sind die Zustände gegenwärtig in unserem Volks- 
leben? Ich würde mich nicht scheuen — das ist auch in früheren Zeiten ge- 
schehen —, wenn man mit dem Spotte des »Bußpredigers« kommt; daß Wort hat 
Herr Ledebour schon vor dem Kriege gegen mich angewendet. Aber ich will Ihnen 
zitieren, was in der sozialdemokratischen »Rheinischen Zeitung« zu lesen ist. 
Dort ist folgendes Bild gezeichnet: 

»Man will leben, leben und leben! Das Geld ist flüssig geworden wie noch 
nie. Der Kriegsgewinnler und Schieber gibt den Ton an. Sausende Autos, 
knisternde Seide! Pfropfen knallen! Wein, Gesang. Hunderttausende werden 
verdient, Zehntausende vergeudet. Die Kellner der »feinen« Restaurants wissen 
von Zechen von märchenhafter Höhe zu berichten. »Erzberger soll das Nach- 
sehen haben«, so höhnen die feisten Genußmenschen. Überall haben sich Spiel- 
höllen aufgetan, in denen fabelhafte Summen gewonnen und verloren werden.« 

Das sind Zustände, die alle Schichten unseres Volkes angehen, alle Schichten 
anseres Volkes durchseuchen. 

(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) 

Mitte November, nach der Revolution hatten wir noch eine letzte Sitzung des 

Bevölkerungsausschusses des zu Ende gegangenen Reichstages. Bereits dort durfte 


4. Zum Kampf gegen Schund und Schmutz in Wort und Bild. 271 


ich dasjenige, was zu erwarten steht, zur Sprache bringen, durfte die anwesenden 
Beamten des Reichsamts des Innern darauf aufmerksam machen, was angesichts 
der Aufhebung der Zensur bevorstünde, darauf aufmerksam machen, wie schnell 
die Auffassung kommen werde, daß nun bestehende Paragraphen des Strafgesetz- 
buches nicht würden zur Anwendung kommen, nicht mehr würden so streng durch- 
geführt werden, daß eine Schmutzwelle durch öffentliche Bälle, durch unsaubere 
Postkarten, durch Illustrationen, durch die Witzblätter, nicht zuletzt durch ihren 
Inseratenteil, würde durch unser Volksleben hindurchgehen. Es ist bis heute, ab- 
gesehen von den Vorschriften der Verfassung, nichts geschehen. Die Bestimmungen 
der Verfassung — darüber müssen wir uns doch klar sein — geben Möglichkeiten, 
geben aber noch keine wirksame Waffe. 
(Sehr richtig! rechts.) 

Wir hatten im alten Reichstag im Bevölkerungsausschuß — ich denke besonders 
an das zweite und dritte Gesetz, das uns vorgelegt war — doch in einigen Punkten 
eine Einigung der Parteien erzielt. Wäre es nicht möglich, daß mit diesen be- 
völkerungs - politisch so wichtigen Maßnahmen nun ohne jeden Vorzug vorgegangen 
werde? Die Mißbräuche beim Hausiererwesen, die Mißbräuche beim Inseraten- 
wesen sind schreiend.. Wäre nicht möglich, daß in denjenigen Punkten, in denen 
in den Ausschußverhandlungen ein Einvernehmen aller Parteien erzielt worden war 
— der gedruckte Bericht. von Dr. Struve verfaßt, liegt uns ja vor —, nun un- 
verzüglich eingegriffen werden könnte? Ich weiß sehr wohl: es gibt andere Punkte 
bei den drei Gesetzentwürfen, in denen tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten be- 
stehen; aber ich denke jetzt an diejenigen Dinge, in denen eine Übereinstimmung 
besteht. Man kann es doch auch in den Blättern der Linken lesen, daß der Inseratenteil 
eines großen Teils unserer Blätter als von Schmutz durchsetzt bezeichnet werden 
muß, daß hier ein Eingriff notwendig ist; man kann doch auch in den Blättern der 
Linken ein Empfinden dafür finden, daß der Kampf gegen den Schund und Schmutz 
eine unbedingte Notwendigkeit ist. In dem von Leixner gegründeten Bund sind 
doch nicht nur ein bis zwei Parteien vertreten, sind doch die verschiedensten Auf- 
fassungen, die sich zur Geltung gebracht haben, vorhanden, und es ist das doch, 
Gott sei Dank, Gemeinüberzeugung weiter Kreise unseres Volkes, was Hans Thoma 
sagt, der in seiner Schrift »Dem Herbste des J,ebens« schreibt: 

Die wahre Kunst beruht gerade auf höchster Sittlichkeit; ihr Ziel ist Ver- 
ehrung und Verklärung. Wenn sie nicht sittlich ist, so verliert sie von selbst 
das Recht zu bestehen. 

Und das Reichsgericht hat in seinem Urteil vom 15. Mai 1914 gesagt: 

Für die gesitteten Volkskreise heben technische Vorzüge nicht ohne weiteres 
die Wirkung des geschlechtlich Anstößigen auf. Diese kann durchaus das Vor- 
herrschende sein. 


Meine Herren! Wir wissen, wie die Zustände in unserem Volksleben sind. 
Darf ich einmal eine Ziffer nennen ? In dem einen Oberlandesgerichtsbezirk Hamm 
ist die Zahl der verurteilten Jugendlichen in den Jahren 1914 bis 1918 von 
4200 auf 24 600 gestiegen. 

(Hört! Hört! bei den Sozialdemokraten.) 

Wir können nicht im Zweifel sein, daß die langjährige Trennung von Mann 
und Frau, daß die Ungebundenheit manches Kriegslebens gewaltige sittliche Ver- 
#üstungen in unserem Volksleben heraufgeführt hat. Es sind die allerverschiedensten 


272 B. Mitteilungen. 


Gründe, die zu dem gegenwärtigen Notstand geführt haben. Um so nötiger ist es, 
daß eingegriffen wird, daß die öffentliche Leichtfertigkeit nicht noch unausgesetzt 
gefördert werde. Die gräßlichen Lustmorde an Lehrlingen, wie sie jetzt verübt 
werden, das spurlose Verschwinden von Knaben und Mädchen sind die Folgen der 
Laxheit, mit denen gegenwärtig in weitem Umfange die Dinge angesehen werden. 

Meine Herren! Es handelt sich nicht nur um eine Form; ich habe bereits 
verschiedene Formen, in denen das Unsittlichkeitskapital arbeitet, genannt. Aber 
es gibt auch manches, was nicht auf dem Gebiete des Schmutzes, sondern auf dem 
Gebiete des Schundes liegt, und dem gegenüber das Eingreifen des öffentlichen 
Bewußtseins nach allen Erfahrungen, die wir bisher durch viele Jahrzehnte hindurch 
gemacht haben, nicht ausreicht. Sehen Sie sich einmal das an, was in unseren 
Bahnhofsbuchhandlungen auszuliegen pflegt: es ist ein gewisser Prozentsatz 
einer geistig hochstehenden Literatur, es ist ein anderer Prozentsatz dessen, was 
man als leichte Eisenbahnlektüre, bei der man sich unterhalten, aber nicht anstrengen 
will, gelten lassen kann; aber es ist auch ein erheblicher Prozentsatz dessen dabei, 
was ohne Zweifel für unser Volk nicht fördernd, nicht aufstrebend wirken kann. 
Und darüber wollen wir doch auf der ganzen Fläche uns klar sein: es ist leichter, 
Volkssittlichkeit verwüsten, als Volkssittlichkeit aufbauen. 

(Sehr richtig! rechts und bei den Sozialdemokraten.) 


Es ist leichter, dasjenige, was wackere Lehrer, was treue Eltern in die Herzen 
der Jugend hineingepflanzt haben, niederzureißen, zu zerstören, als dann wiederum 
aufzubauen. Ich denke nicht nur an die Jugend und möchte, einem weitverbreiteten 
Mißverständnis entgegentretend, sagen: auch unsere Verfassung ist sich darüber 
klar, daß nicht nur die Jugend bis zum 14. oder bis zum 16. Lebensjahre eines. 
Schutzes durch die Öffentlichkeit, durch das Gesetz, durch die Verwaltung bedarf, 
sondern daß unser Volksleben als Ganzes — ich denke durchaus nicht nur an einen 
Stand — des gesetzlichen Schutzes gegen Schmutz und Schund bedarf. Ist es nicht 
etwas schier Unerträgliches, wenn vor wenigen Tagen hier ein Minister erklärt: 
der Inseratenteil des und des Blattes ist eine Schweinerei, aber ich kann 
nichts machen, ich habe keine Machtmittel in der Hand! Wenn das der eine 
Minister erklärt, dann ist das das Stichwort für den anderen Minister, dann muß 
eben der Minister des Innern diese Machtmittel von der Nationalversammlung an- 
fordern, dann muß der Nationalversammlung die Verantwortung dafür auferlegt 
werden, ob sie derartige Zustände, die ein Vertreter des heutigen Regimes als 
öffentliche Schweinerei bezeichnet, noch weiter dulden will oder nicht. 

(Sehr richtig! rechts.) 

Wenn man von Jiesen Fragen öffentlich redet, denkt man heutzutage in erster 
Linie an eine neue Form der öffentlichen Lustbarkeit, die unter dem Titel der 
Kinematographen in der ganzen Welt einen Siegeszug gehalten hat. Wer die 
Auffassung hegt, man müsse sämtliche Films, sämtliche Lichtbühnen verbieten, mag 
durch verständliche Erwägungen dazu geleitet sein. Möglich ist ein derartiger 
Radikalismus nicht, sondern dasjenige, was erreicht werden kann, ist lediglich dies, 
daß die heutigen Mißstände bekämpft werden. 

Nun würde ich in der Lage sein, Ihnen eine große Zahl von Einzelnachweisen. 
über dasjenige zu führen, was gegenwärtig an Mißständen besteht. Ich habe eine 
gewisse Sorge, das zu tun; denn irgendwelche Möglichkeit zu einem Eingreifen der 
Zensur ist in den nächsten Wochen ohne Zweifel nicht vorhanden. Es würde also- 


4. Zum Kampf gegen Schund und Schmutz in Wort und Bild. 273 


jedes derartige Einzelbeispiel, von dieser Stelle her genannt, von gewissen skrupel- 
losen Geschäftsleuten lediglich zur Reklame verwandt werden. 
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) 

Ich habe mir erlaubt, auf den Tisch dieses Hauses eine Zusammenstellung 
von vielen Filmen auszulegen, wie sie in einer Provinz — ich habe mit Absicht 
nicht die Reichshauptstadt genommen —, wie sie in Schleswig-Holstein gegenwärtig 
aufgeführt werden. Es soll nicht gegen jeden einzelnen Bedenken erhoben werden, 
ich bitte, die Liste nicht so zu verstehen. Aber wenn Sie die Liste in ihrer Totalität 
auf sich wirken lassen, dann werden Sie verstehen: das ist Volksverwüstung 
schlimmster Art. Ich habe auch ein paar Annoncenseiten einer süddeutschen Zeitung 
hinzugelegt. Es ist immer und immer das eine erotische Element, das in den Vorder- 
grund gestellt wird. 

Das Lichtspiel kann an sich durchaus fördersam wirken. Wir haben Natur- 
bilder, wir haben wissenschaftliche Bilder, haben Kunstfilms, die als erquicklich, 
als erfreulich, als besuchenswert bezeichnet werden können. Wir haben auch Ge- 
schichtsdarstellungen und Darstellungen aus dem Gegenwartsleben gesehen, die 
durchaus besuchenswert genannt werden dürfen. Aber betrachten Sie dasjenige, 
was die Lichtbühne in ihrer Totalität bietet, einmal unbefangen. Ich meine, hier 
kann kaum ein Zweifel sein: dasjenige, was im ganzen geboten wird, ist volksver- 
wüstend, ist eine Volksseuche schlimmster Art, 

(sehr richtig! im Zentrum) 
ist eine Quelle des Verderbens für weiteste Kreise unseres Volkes. 
(Sehr richtig! rechts und im Zentrum.) 


Nicht nur nach der geschlechtlichen Seite! Wenn man die Verzerrungen des 
Lebens, wie sie durchgängig im Kino geboten werden, sieht, diese vom Kino durchaus 
bewußt gepflegte Darstellung des Luxus, die Darstellung des Nichtstuens weiter 
Kreise, so kann für diejenigen, die des Wahnes sind, aus der Lichtbühne heraus 
das Leben kennen zu lernen, nur ein Zerrbild der Wirklichkeit daraus hervorgehen. 
Ich kann mir denken, daß für manche Kreise sogenannte Aufklärungsfilme 
fördersam wirken [können, Als der erste derartige Film erschien, haben wir im 
Bevölkerungsausschuß gesagt, daß solcher in gewissen Kreisen gut wirken könne. 
Ich habe mich selbst dafür eingesetzt, daß solcher auch im Heere gezeigt werde. 
Ich habe manches Dankschreiben dafür aus der beteiligten Industrie erhalten. Aber, 
meine Herren, wie ist es weiter gegangen ? Immer schärfer würzen, immer einer 
den anderen übertrumpfen, Gemeinheit auf Gemeinheit häufen, so daß schließlich 
nicht in einem, sondern in einer ganzen Reihe von Fällen das Publikum selbst sich 
dagegen gewehrt hat! Das ist die äußerste Form der Gegenwehr, aber sicher keine 
erwünschte, die des Tumults, und keinesfalls eine ausreichende Form. Wir müssen 
danach streben, daß das Gesetz dem Argen wehrt. Und dabei gilt es, neben den 
Films auch deren Plakate nicht zu vergessen. Seit manchem Jahre sind sich in 
der Industrie die Beteiligten selbst darüber klar, daß hier Wandel geschaffen 
werden muß. 

Bereits vor dem Kriege ist aus dem Kreise der Kinematographenbesitzer, die 
durchaus zu unterscheiden sind von den Verleihern oder gar von den Herstellern, 
eine Zensur begehrt worden. Aber, meine Herren, etwas Wirksames ist bisher 
noch nicht daraus geworden. Ich bin dem Gedanken durchaus geneigt, in den 
Formen einer beruflichen Zensur vorzugehen, ich halte den Gedanken auf der 


274 B. Mitteilungen. 


ganzen Fläche des öffentlichen Lebens für erwägenswert, daß die Beteiligten selbst 
eine gesunde Berufsehre durch Standesorganisationen, durch Standesehrengerichte 
auszubilden sich bemühen. Aber hinter der beruflichen Zensur muß die staat- 
liche Zensur stehen. Hier handelt es sich doch um einen so jungen Stand, 
handelt es sich insbesondere bei denen, die die betreffenden Films herstellen, um 
oft so einseitig kapitalistische Erwägungen, hinter denen alle anderen völlig zurück- 
treten, daß es nicht möglich ist, daß es ein völliger Abwez ist, die Dinge darauf 
zu schieben: die Herren sind untereinander selbst dabei, eine Filmzensur zu ge- 
stalten; dabei kann es sein Bewenden haben, nun braucht nichts weiter zu geschehen. 
Das ist das, was man in Arbeiterkreisen als eine weiße Salbe zu bezeichnen pflegt. 
In dem Augenblick, wo die Bewegung so allgemein geworden ist, wo die Zeitungen 
aller Richtungen widerhallen von Empörung über das, was jetzt über unser Volk 
dahingeht, soll jetzt eine solche Beruhigungspille gegeben werden. Nein, meine 
Herren! Ich stimme Herrn Dr. Arthur Landsberger zu, wenn er sagt: wenn die 
sogenannten Aufklärungsfilms, die seit Aufhebung der Zensur den Filmmarkt be- 
herrschen, uns über etwas aufgeklärt haben, dann über die Skrupellosigkeit und den 
Geschäftssinn der Fabrikanten, dio sie anregten, herstellten und vertrieben. 
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) 

— Ich danke Ihnen, daß gerade auch aus den Reihen der Mehrheitssozialisten 
ein »Sehr richtig!« gekommen ist. 
(Zuruf bei den Sozialdemokraten: Das ist selbstverständlich! Das haben wir immer 

vertreten!) 


— Ich freue mich dessen und kann Sie nur bitten, daß Sie die Macht, die 
Sie gegenwärtig haben und die auf die gegenwärtige Regierung unvergleichlich größer 
ist als unsere Macht, im Öffentlichen Leben auch anwenden, damit etwas geschieht. 
Jede Woche, jeder Monat, in denen nichts geschieht, ist eine Verantwortung für 
Sie. Dazu möchte ich aufrufen, daß diese Filme, diese Filmplakate, die das Scham- 
gefühl nicht nur verletzen, sondern geradezu tödlich treffen, auch von Ihnen mit 
aller Wucht bekämpft werden, daß die wirksamen Mittel dazu geschaffen werden, 
die notwendig sind. Ich sage noch einmal: ich denke nicht daran, alles, was von 
der Filmbühne geboten wird, ohne Unterschied zu verwerfen; ich weiß, wie un- 
endlich vielfach die Unterschiede sind. Da hat sich z. B. eine Vereinigung für 
vaterländisches Lichtspielwesen in Berlin-Friedenau gebildet: ein Urenkel Schillers, 
Alexander von Gleichen-Rußwurm, gehört zu dem vorläufigen Hauptausschuß. Es 
ist von München-Gladbach aus in der Lichtbildnerei manches geschehen. Es haben 
sich gemeinnützige Lichtspiele in manchen Orten gebildet. Aber alles das wirkt 
nicht, solange der Wettbewerb schrankenlos bleibt. Ich habe mit manchen Kino- 
besitzern gesprochen, die sagten: Ich suche auch Edles, Gutes, Fördersames, ästhetisch 
Hochstehendes zu bieten; mein Nachbar hat aber einen viel größeren Zulauf. Mit 
dieser Methode allein ist es nicht zu schaffen. 

Wir haben während des Krieges über die Frage verhandelt, ob nicht eine 
Konzessionieıung der Lichtspiele eingeführt werden solle. Zu meiner tiefen 
Betrübnis ist aus rein formalen Gründen die erste Verordnung der Regierung durch 
den Willen der damaligen Reichstagsmajorität wieder aufgehoben worden. Es ist 
dann seitens der Regierung ein Entwurf eingebracht worden, der aber nicht zur 
Verabschiedung gelangt ist. Wir schweben hinsichtlich der Konzessionierung der 
Lichtspiele — eine Frage, die nicht mit zwei Worten abzutun ist — noch völlig 


4. Zum Kaupf gegen Schund und Schmutz in Wort und Bild. 275 


in der Luft. Ich bin aber überzeugt: ehe wir nicht zu irgendeiner Form der 
Konzessionierung kommen, wird es nicht möglich sein, mit gemeinnützigen Licht- 
spielen irgend etwas Wirksames zu erreichen. Die Konzessionierung, die auch von 
seiten der Filmtheaterbesitzer vielfach gefordert worden ist, scheint mir nach wie 
vor dasjenige Mittel zu sein, das zunächst einmal angewandt werden muß, um 
vorwärts zu kommen, — außer der Zensur. 

Ein Drittes. Ich spreche hier nur für meine eigene Person; ich habe nicht 
Gelegenheit gehabt, mit meiner Fraktion darüber Rücksprache zu nehmen. Mir 
persönlich will es scheinen, daß gerade auf diesem Gebiet eine sehr gute Gelegen- 
heit zu einer wirksamen Sozialisierung gegeben sei, 

(sehr richtig! bei den Sozialdemokraten) 
daß hier einmal recht kräftig von seiten der Städte, von seiten der Öffentlichkeit, 
von seiten der gemeinnützigen Vereine, aber auch von seiten der Kreise, der 
Provinzen, der Staaten, des Reichs eingegriffen werden könnte. 

(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) 


Das könnte uns, allerdings nur im Zusammenhang mit der Konzessionspflicht,, 
wirksam vorwärts führen. 

Wenn wir nichts tun, dann wird es immer schlimmer und ärger. Ist es denn 
irgendwie ein Fortschritt zu nennen, wenn sich jetzt gewisse Filmhersteller, die- 
meinen, die Zeit der Aufklärungsfilms gehe zu Ende, dem Sensationsfilm zu- 
wenden, einem Sensationsfilm zum Teil so übler und niedriger Art, daß auch unsere 
heutige Regierung — ich denke an einen bestimmten Fall — zum Verbot hat 
schreiten müssen, um öffentlichen Unruhen vorzubeugen? Niemand sage, daß es. 
sich hier um Freiheit der Kunst handelt. Es handelt sich hier nicht um Dar- 
bietungen, die belehren, Herz und Gemüt veredeln, sondern es handelt sich hier 
nur darum, daß die niedersten Instinkte aufgerufen werden, daß man sucht, unser 
Volk zu verwüsten, nur damit die betreffenden Kinobesitzer oder Filmhersteller zu. 
großem Einkommen gelangen. 

Uns liegt ein sogenanntes Vergnügungssteuergesetz vor. Ich glaube, 
als Vorsitzender des 11. Ausschusses sagen zu können, daß es schwerlich in Kürze 
wird angenommen werden. Wenn es angenommen wird, scheint mir die Meinung 
dahin zu gehen, daß es wesentlich im Interesse der Städte soll genutzt werden. 
Jedenfalls möchte ich auch von dieser Stelle die Stadtverwaltungen darauf hinweisen, 
daß sie hier eine Möglichkeit haben, sich Einnahmen zu verschaffen, 

(sehr richtig! bei den Sozialdemokraten) 


wenn sie verständig dort vorgehen, und daß bei dem noch unausgesetzt stark steigenden: 
äußeren Umfang der vielen Tausende von Kinos, die wir in unserem deutschen 
Vaterlande haben, hier eine ergiebige Steuerquelle liegt, die meines Erachtens keinen. 
Monat unbenutzt bleiben darf. 

Es ist überhaupt eine Frage, ob nicht rein unter dem Gesichtswinkel der 
Kohlenersparnis einmal darüber gesprochen werden muß, wieviel Brennstoff 
dort zu einem Zwecke, der wesensnotwendig nicht ist, verwandt wird, 

(sehr richtig! rechts) 
ob nicht zum mindesten unter diesem Gesichtswinkel mancher Neuerrichtung von. 


Kinos entgegengetreten werden darf. 
(Sehr gut! rechts.) 


276 B. Mitteilungen. 

Jeder von diesen gewaltigen Sälen würde Hunderten von Familien, die sonst 

frieren müssen, die Möglichkeit einer geheizten Wohnung geben 
(sehr richtig! bei den Sozialdemokraten und rechts) 
und Licht desgleichen. 

Meine Herren! Ich vermeide es, irgendwie Einzelheiten herauszuheben, was 
nachher reklamehaft wirken kann; ich vermeide es, dasjenige herauszuheben, was 
unter uns feindselig trennend werden könnte. Aber ich muß sagen, daß ich mit 
‚großen Erwartungen der Antwort der Regierung entgegensehe, und daß es mir vor 
allem darauf ankommt, daß hier unverzüglich gearbeitet wird. Ich kann mir wohl 
‚denken, daß die Lebensdauer dieser Nationalversammlung nur ganz unwesentlich, 
gar nicht ins Gewicht fallend verlängert zu werden braucht, wenn auf diesem Ge- 
biete die dringendsten Gesetze uns vorgelegt werden möchten. Der Grund, daß wir 
Neuwahlen begehren, kann nicht dagegen sprechen. Es ist notwendig, daß hier 
‘ohne jeden Verzug gearbeitet wird. | 

Bereits am 6. Mai 1912 hat sich der Verein der Kinematographenbesitzer von 
‚Chemnitz und Umgegend nach einem Vortrag über die Unterstellung der Kine- 
matographie unter $ 33a der Gewerbeordnung einstimmig für die Konzessions- 
pflicht der Kinematographentheater ausgesprochen. Auch im übrigen sind 
gerade die Kinematographenbesitzer in weitem Umfang mit solchen Konzessionierungen 
‚einverstanden. Zum Beispiel hat der Verband der süddeutschen Kinematographen- 
vereine, die Lichtspieltheaterbesitzer von Bayern, Württemberg, Baden, Hessen, 
Hessen - Nassau, Elsaß - Lothringen und Hohenzollern, der Verband Hamburg, der 
Reichsverband deutscher Lichtspieltheaterbesitzer in Berlin am 5. Februar 1918 sich 
für ein Konzessionsgesetz entschieden, und zwar aus wirtschaftlichen Gründen. 
Man hat das Empfinden, daß sich nur gewisse sehr kapitalkräftige Kreise der Film- 
hersteller dagegen erklären. 

Meine Herren, ich habe die Frage des Lichtspiels in den Mittelpunkt des Ge- 
dankens gestellt, bin aber keineswegs der Meinung, daß dies das einzige ist, um 
das es sich handelt. Der Kampf gegen schmutzige Witzblätter — es sind in 
den letzten Monaten Witzblätter allein zur Propagierung der freien Liebe gegründet 
worden, solche, in denen man — ich nenne mit Absicht den Titel nicht — folgendes 
lesen kann: 

Wir Mädchen wollen unseren Geschlechtstrieb nicht verleugnen, den uns 
die Natur mitgegeben hat, wir Mädchen wollen voll und ganz dem Manne gehören 
dürfen, den wir lieben. Und willig wollen wir ihm unseren Körper darbieten. 
Sollen wir Mädchen dazu verdammt sein, unsere Jugend zu vertrauern, nur, 
damit wir später unserem Manne sagen können: wir sind noch unberührt. Frei 
und offen wollen wir alles bekennen, jedes Vorurteil muß zu Boden fallen. Das 
soll auch ein Erfolg der Revolution sein. 

(Hört! Hört! rechts.) 


Ich bin überzeugt, daß gerade diejenigen, die auf dem Boden der Revolution 
stehen, nicht die geringste Veranlassung haben, sich solcher Früchte zu freuen, 
(Zustimmung rechts. — Zurufe von den Sozialdemokraten) 
sondern im Gegenteil sie ganz entschieden ablehnen werden. 
(Zuruf von den Sozialdemokraten: Die Wiener Karikaturen sind vor der Revolution 
erschienen!) 








4. Zum Kampf gegen Schund und Schmutz in Wort und Bild. 277 


— Gewiß, ich möchte es ausdrücklich betonen: es hat vor der Revolution der 
Mißstände genug gegeben — ich habe das auch eingehend dargelegt —; aber ich 
wollte durch ein solches Beispiel zeigen, wie diese Kräfte gerade durch die Revolufion 
jetzt neu hervortreten dürfen, und wie sie verschärft hervortreten. 

(Sehr richtig! rechts.) 

Daß die Zustände in unserem Volksleben heute schlimmer sind als je, kann 
doch kaum bestritten werden. 

(Erneute Zustimmung rechts.) 

Man bralicht nur einmal im vorigen Frühjahr etwa über den Potsdamer Platz 
gegangen zu sein, man braucht nur einmal in Berlin zwischen Alexanderplatz und 
Hackescher Mark gegangen zu sein, wo die Bankhalter ihre Zelte aufschlagen und 
wo die Einsätze bis 100 Mark angenommen werden. Was sind das alles für Schäden ! 
Polizeibehörden und Staatsanwälte müßten die vorhandenen Gesetzesbestimmungen 
weit schärfer anwenden. 

Ich muß es auch sagen: ich habe mit den Vertretern der äußersten Linken 
mauches Jahr hindurch die Bordelle bekämpft. Sie sind auch gegenwärtig auch 
dort, wo Sie (zu den Unabhängigen) die Macht haben, wie in Hamburg, nicht auf- 
gehoben worden. 

Nach alledem meine ich: wir können uns wirklich auf diesem Gebiete zu- 
sammenfinden, und wir können es erreichen, daß hier schneller gearbeitet wird, 
als es sonst manchmal in den Ministerien der Fall ist. Die Not ist zu riesengroß. 

Ich bin heute morgen an dem Standbild einer edlen Frau im Tiergarten vorüber- 
gefahren. Sie weilt im Exil; aber das, was wir ihr danken, ist dies: daß sie uns 
das Vorbild einer deutschen Mutter gewesen ist, daß sie unermüdet bei den Be- 
strebungen zur Reinerhaltung der Familie gestanden hat. Möchte auch die Gegen- 
wart es erzielen — dann würde auch der heutige Tag nicht der Zerklüftung, sondern 
der Einigung nach schweren Kämpfen dienen —, daß wir wirksame durchgreifende 
Mittel gegen Schund und Schande in unserem Volke nun unverzüglich ergreifen. 
(Lebhafter Beifall rechts.) 

Präsident: Das Wort zur Beantwortung der Interpellation hat der Herr 
Reichsminister des Innern, 

Koch, Reichsminister des Innern: Meine Damen und Herren! Ich bin dem 
Herrn Vorredner dafür dankbar, daß er diese Angelegenheit fast durchweg nicht 
als politische, sondern als moralische behandelt hat. Ich bin der Anschauung, daß 
alle gesunden Kräfte unseres Volkes zusammenstehen müssen ım Kampfe gegen 
die Zersetzungserscheinungen, die er geschildert hat. (Sehr richtig! bei den Sozial- 
demokraten.) 

Was insbesondere die Kinozensur angeht, so habe ich die Absicht, in Aus- 
führung der Verfassung mit größter Beschleunigung eine Vorlage ausarbeiten zu 
lassen, die eine solche Zensur einführt. (Bravo!) Ich halte die Zustände auf dem 
Gebiet des Kinowesens, wie sie sich heute ausgebildet haben, für unerträglich. 
(Zustimmung bei den Sozialdemokraten, im Zentrum und rechts.) Es wird sich 
dabei nicht darum handeln können, den örtlichen Polizeiverwaltungen die Befugnis 
zuzuerkennen, Kinos zu verbieten, sondern gerade die Art der Kinofabrikation läßt 
es zu, daß an zwei oder drei Stellen in Deutschland allgemein für das ganze Reich 
eine Nachprüfung der zur Aufführung bestimmten Stücke vorgenommen werden 
kann. (Zustimmung.) Daß dabei Sachverständige zugezogen werden müssen, bedarf 

Zeitschrift für Kinderforschung. 25. Jahrgang. 19 


278 B. Mitteilungen. 


keiner weiteren Erörterung und liegt so im Sinne der Bestrebungen, die hier zu 
verfolgen sind, daß ich darauf nicht näher einzugehen brauche, 

Es ist richtig, daß es auch in Frage kommen kann, die Bedürfnisfrage 
für die Kinos einzuführen. Es unterliegt noch einer Prüfung, ob es sich empfiehlt. 
Jedenfalls aber wird auch das neue Kommunalisierungsgesetz den Gemeinden die 
Möglichkeit geben, ein Monopol für das Kinowesen bei sich aufzwichten (bravo! 
bei den Sozialdemokraten), und ich bin der Meinung, daß gerade dadurch, daß die 
Gemeinden dort, wo unerträgliche Übelstände hervorgetreten sind, das Kinowesen 
in die Hand nehmen, die Möglichkeit gegeben ist, nicht nur negativ, sondern auch 
positiv fruchtbringend zu wirken und das Kino in den Dienst der Volksbildung im 
besten Sinne des Wortes zu stellen. (Sehr richtig) Wir gehen also in dieser 
Hinsicht ganz einig. 

Auch die Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur muß in die 
Hand genommen werden. Hier liegt die Sache nicht ganz so einfach, und zwar 
deswegen, weil einmal die Grenzen zwischen der Schund- und Schmutzliteratur und 
der ernsten Literatur nicht so einfach zu ziehen sind wie im ersten Fall, und zum 
andern deswegen, weil heute hier die gesetzlichen Vorschriften bereits eine weiter- 
gehende Unterdrückung des Unsittlichen ermöglichen, als es beim Kinowesen der 
Fall ist. Wenn hier Übelstände hervorgetreten sind, so liegt es zum großen Teil 
auch daran, daß die Polizei von den ihr zustehenden Machtmitteln nicht überall den 
Gebrauch gemacht hat, den ich wünschen würde. Trotzdem glaube ich allerdings 
auch hier, daß es schwerlich möglich sein wird, lediglich mit polizeilichen Vor- 
schriften auszukommen, und daß voraussichtlich nichts anderes übrig bleiben wird, 
als auch hier im Wege der Gesetzgebung vorzugehen. Bevor ich mich aber dazu 
entschließe, wird es allerdings umfangreicherer Besprechungen mit den Männern 
von der Kunst und von der Feder bedürfen, damit hier ein Gesetz zustande kommt, 
das nicht mit dem Ungesunden auch Gesundes zerstört. 

Im ganzen also kann ich dem Herrn Interpellanten nur erklären, daß ich von 
dem Boden desjenigen, was er vorgetragen hat, nicht weit entfernt bin. Ich habe 
selbst bei der Verfassung daran mitgewirkt, daß die Vollmachten, auf diesem Gebiete 
vorzugehen, in die Verfassung hineingeschrieben worden sind, und ich werde mich 
nicht damit begnügen, daß die in der Verfassung gegebenen Vollmachten auf dem 
Papier stehen bleiben, sondern es als meine Pflicht betrachten, in meinem Amts- 
bereich möglichst bald dafür zu sorgen, daß diese Vollmachten auch ausgeführt 
werden und den unser Volksleben sehr verderblichen Erscheinungen gesteuert wird. 
(Lebhafter Beifall.) Tr. 


5. Steigende oder fallende Kriminalität. 


Durch die Tagespresse geht folgende Notiz, nachdem kurz zuvor eine 
andere betonte, daß Nordamerika das Alkoholverbot aufgehoben habe als 
Schutzmittel gegen — die Grippe. 

»Große Ereignisse, wie der Weltkrieg, müssen notwendig auf die 
moralische Anschauung Wirkungen von großer Tragweite ausüben. Hatte 
sich die Kriminalität während des Krieges gerade in den alten Grenzen 
bewegt, so stieg die Kurve der Straftaten nach der Zurückflutung des 
deutschen Heeres nicht unerheblich. Ahnliche Erscheinungen lassen sich 


6. Das Leipziger Institut für experimentelle Pädagogik und Psychologie. 279 


in allen Ländern feststellen. Das Anschwellen der Kriminalitätskurve 
wird von Leuten, die die Dinge nach der Oberflächenerscheinung zu be- 
trachten gewohnt sind, auf die stark um sich greifende Vergnügungssucht 
und den Hang zum Alkoholgenuß zurückgeführt. 

Es steht ohne Frage fest, daß namentlich in den Großstädten in 
dieser Beziehung schwer gesündigt wird, allerdings nur in Kreisen, die 
sich jede Tollheit leisten können. In den breiten Schichten herrscht 
bittere Not. Von einer extravaganten Lebensführung kann dort keine 
Rede sein; auch nicht von einer Unmäßigkeit im Alkoholgenuß. Kon- 
zentrierter Alkohol ist ohnehin seit Jahren im freien Handel kaum noch 
zu haben. Die Vereinigten Staaten und Kanada sind sogar gänzlich »aus- 
getrocknet«, und dennoch ist die Kriminalität in diesen Ländern nach 
der Feststellung des bekannten englischen Kriminalisten Mc Kenzie 
keineswegs gefallen. Im Gegenteil berichtet Mc Kenzie von einer Welle 
Verbrechen, die über diese Länder gegangen ist und in Toranto, wo das 
Alkolverbot ganz besonders streng gehandhabt wird, ihren Höhepunkt er- 
langt hat. „Nach den Schätzungen desselben Kriminalisten ist die Krimi- 
nalität in den Städten der Union um 12 v. H. gestiegen. 

Hieraus geht zur Evidenz hervor, daß der Alkohol nicht für eine 
Erscheinung, die in den Zeitverhältnissen wurzelt, verantwortlich gemacht 
werden kann. Die Kriminalität wird in dem Grade sinken, wie die 
Lebensbedingungen sich bessern werden. Mit Moralpredigten erreichen 
wir ebensowenig, wie mit der antialkoholischen Abschreckungstheorie. Nur 
ehrliche Arbeit kann uns aus dem großen Sumpfe, in den wir durch den 
Krieg geraten sind, erretten.« 

Ich möchte bei unsern Lesern anfragen, ob jemand in der Lage ist, 
das Gesagte auf seine mir sehr fragwürdig erscheinende Richtigkeit hin 
nachzuprüfen. Tr. 


6. Das Leipziger Institut für experimentelle Pädagogik 
und Psychologie. 
Bericht über das Jahr 1919. 


Das Psychologische Institut des Leipziger Lehrervereins 
(wissenschaftlicher Leiter: Lehrer Rudolf Schulze) hat sich im Jahre 1919 
in außerordentlich günstiger Weise entwickelt. Die Arbeit des »Ausschusses 
für Begabungsprüfungen« ist unter der Leitung von J. Schlag soweit ab- 
geschlossen worden, daß die Ergebnisse im 9. Bande der »Pädagogisch- 
Psychologischen Arbeiten« niedergelegt werden konnten.!) Die Nach- 
frage nach dieser Veröffentlichung war so stark, daß noch im Jahre 1919 


1) Pädagogisch-Psychologische Arbeiten, Band IX. 2. Aufl. Leipzig, 
Dürrsche Buchhandlung, 1920. 4.80 Mk. Für Mitglieder Vorzugspreise; näheres 
über den 9. Band und das übrige vom Institut herausgegebene Testmaterial (Lücken- 
texte, Wirre Gedanken, Rechenhefte, Buchstabentafeln, Gebrauchsanweisungen, Frage- 
bogen usw.) durch das Institut, Leipzig, Kramerstraße 4II. 

19* 


280 B. Mitteilungen. 


eine Neuauflage veranstaltet werden mußte. Der Ausschuß ist zurzeit damit 
beschäftigt, ähnliche Anweisungen zur Feststellung der Begabung Zehn- 
jähriger und Sechsjähriger auszuarbeiten; ebenso in Vorbereitung befindet 
sich ein Fragebogen für Elementaristen. Besonders stark war der Mitglieder- 
zuwachs. Das Institut zählt jetzt 1 Ehrenmitglied, Wilhelm Wundt, 
270 aktive und 260 passive Mitglieder. Für diese Mitglieder wurden 
veranstaltet: Eine Vortragsreihe von Rudolf Schulze: Ȇber die 
Wirkung des Antriebs auf die fortlaufende körperliche und geistige Arbeit 
und auf geistige Einzelleistungen« (mit Lichtbildern); ein Einführungs- 
kursus, geleitet vom Assistenten Dr. J. Handrick: Über die Grundbegriffe 
der Psychologie«; ein Aparatenkursus, geleitet von Rudolf Schulze, 
Dr. Handrick, Paul Schlager; ein Kursus: »Theorie der Begabungs- 
forschunge, mit besonderer Berücksichtigung der Verrechnungsmethoden, 
geleitet vom Assistenten Dr. J. Handrick. Besonders reichhaltig wurde 
die Institutsbücherei ausgestaltet. Von allen Veranstaltungen des Instituts 
wurden die Mitglieder durch gedruckte Rundschreiben benachrichtigt, die 
von der Firma Philipp Reclam jun. kostenlos hergestellt und versandt 
werden. Außer dem sogenannten Begabungsausschuß bestehen noch Aus- 
schüsse, die folgende Probleme bearbeiten: Auswahl der Kinder für den 
fremdsprachlichen Unterricht (Leitung Dr. Handrick), Kinder als Zeugen 
vor Gericht (Leitung Max Döring), Arbeitsgemeinschaft für Völker- 
psychologie (Leitung W. Frenzel), Ausschuß zur Untersuchuug der Be- 
griffsbildung (Leitung G. Schierack), Ausschuß zur Untersuchung der 
Kombinationsfähigkeit (Leitung F. Goerner), Ausschuß zur Untersuchung 
des Gedächtnisses (Leitung F. Schlotte). 

Die Anmeldungen für die»Psychologischen Übungen« während des 
Akademischen Ferienkurses Oktober 1919, geleitet von Rudolf Schulze, 
P. Schlager, Dr. J. Handrick, 18stündig, gingen so zahlreich ein, daß 
die Übungen dreimal hintereinander veranstaltet werden mußten. Sie 
waren von 215 Teilnehmern, meist Lehrern und Lehrerinnen aus ganz 
Deutschland besucht. Ebenfalls im Ferienkurse sprachen noch vom In- 
stitut: Dr. Handrick »Zur Theorie der Begabungsforschung«, sechs- 
stündig; J. Schlag »Praktikum über Begabungsforschung«, sechsstündig; 
O. Scheibner »Didaktik des Arbeitsunterrichts«, sechsstündig; P. Vogel 
und OÖ. Erler »Schulpraktische Probleme«, sechsstündig. Wegen Heiz- 
schwierigkeiten muß die im Herbst eingeführte Lesestunde vorläufig aus- 
fallen. Anfang des Jahres 1919 legte Privatdozent Dr. Max Brahn die 
wissenschaftliche Leitung des Instituts nieder, die er seit der Gründung des 
Instituts 1906 inne hatte. Zu seinem Nachfolger wurde Rudolf Schulze 
gewählt. 

Mit den Mitgliedern des Institutes wurden folgende Besichtigungen 
veranstaltet: Besichtigung des Reclamschen Verlages, der Augenheilanstalt 
der Universität, der Deutschen Bücherei, des Heilerziehungsheimes Klein- 
meusdorf, der Heil- und Pflegeanstalt Dösen. — Im Institut wurden 
Führungen gehalten für den Deutschen Verein für das Fortbildungsschul- 
wesen, die Schule für Frauenberufe, das Lehrerseminpar Grimma, für einen 
Hilfsschullehrer-Kursus. Am 20. Mai 1919 besuchte Kultusminister Buck 


7. Ein psychologischer Fragebogen für Schulneulinge. 281 


das Institut. Im Herbst setzte ein von den Herren Dr. Handrick und 
Schlag geleiteter Kursus für die Junglehrer ein. In den Diskussions- 
abenden wurden folgende Themen behandelt: Über die Arbeit des Aus- 
schusses zur Untersuchung der Begabten; Zur Technik der wirtschaftlichen 
Berufsberatung; Über die Frage der beidhändigen Ausbildung; Zur Unter- 
suchung der Schulneulinge; Der Einfluß des Krieges auf die Verwahr- 
losung der Jugend; Hypnose, Okkultismus, Spiritismus; Experimentelle 
Psychologie und reine Psychologie. Die Einnahmen des Institutes beliefen 
sich auf 24 747,34 M, die Ausgaben auf 23 863,16 M. 


7. Ein psychologischer Fragebogen für Schulneulinge. 


Die Einheitsschule will allen Kindern gerecht werden. Darum er- 
greift sie Sondermaßnahmen für jene Schüler, die sich von der Allgemein- 
heit aus irgend einem Grunde abheben, sei es durch die eigenartige 
Gerichtetheit ihrer Begabung, sei es auch durch ihre hervorragend hohe 
oder auch ihre besonders niedrige Begabung. Eine Auswahl der Schüler 
ist somit erforderlich, und die soll in Leipzig, wo von Ostern 1920 an 
Förderklassenzüge für Minderbegabte eingerichtet werden, schon 
am Ende des ersten Schuljahres vorgenommen werden. 

Jeder Elementarlehrer, weiß aber, daß auf der Unterstufe nicht nur 
die Minderbegabten die Hemmschuhe der Klasse sind, sondern daß noch 
gar viele Mächte, allen voran das Elternhaus, die Schultüchtigkeit des 
Kindes wesentlich herabsetzen. Es ist eine schwere Aufgabe, diese Kinder 
zu erforschen; mit exakten Tests sind sie gar schwer oder überhaupt 
nicht zu fassen. Da muß die Beobachtungstätigkeit des Elementarlehrers 
mit dem ersten Schultage der Kleinen einsetzen, um übers Jahr die 
Sorgenkinder auswählen zu können, die in der Förderklasse unter günstigere 
Entwicklungsbedingungen gestellt werden sollen. 

Auf welche einheitlichen Richtungen und welche bedeutsamen Tat- 
sachen die Beobachtung eingestellt sein soll, das zeigt der »Leipziger 
Bogen zur Beobachtung und Beurteilung von Schulneulingen am Ende 
des ersten Schuljahrese der vom Psychologischen Institut des Leipziger 
Lehrervereins in Gemeinschaft mit Elementarlehrern aufgestellt worden ist. 
Die beigegebenen »Anregungen zum Ausfüllen des Bogens« werden vielen 
die naturgemäß oft nur kurzen Fragen des Bogens beleuchten. 

Beide Drucksachen, der »Bogen« und die dazugehörigen »Anregungen«, 
sind für 50, bezw. 30 Pf vom Institut des Leipziger Lehrervereins Kramer- 
straße 4, II, zu beziehen. Mitglieder des Instituts, Schulen, Lehrervereine 
usw. erhalten beides zu einem Vorzugspreise von 30, bezw. 50 Pf (zu- 
züglich Porto und Verpackungsunkosten). Schlager. 


282 B. Mitteilungen. 


8. Begabtenauswahl durch psychologische Methoden.) 
Von Felix Schlotte. 


Der Lehrer wird durch die Neuordnung im Schulwesen vor Fragen 
gestellt, die ihm bisweilen Kopfzerbrechen bereiten. Er soll Kinder aus- 
wählen für einen Klassenzug besonders Befähigter, soll andere Kinder an- 
geben, die er für Fremdsprachenunterricht oder Werkunterricht empfehlen 
würde; auf der anderen Seite soll der Unterricht nicht unnötig gestört 
werden durch »Hemmschuhe«. Wie soll er diese Kinder aus seiner oder 
gar aus mehreren Klassen herausfinden? — 

Die Zensuren können zwar Hilfe leisten und scheinen objektive Ur- 
teile zu sein, sie geben ihm aber nicht die gewünschte Sicherheit; denn 
sie sind Urteile über Leistungen, aber meist nicht über Fähigkeiten. Außer- 
dem wird es jedem Lehrer beim Klassenwechsel des öfteren wieder klar, 
daß verschiedene Lehrer den Zensurenmaßstab verschieden streng anlegen. 
Einigermaßen sicher beurteilt sind die Leistungen eines Kindes durch 
Zensuren eigentlich nur im Vergleich zu seinen Klassengenossen. 

Viel lieber kleidet in solchen Fällen der Lehrer seine Beurteilung 
in einige Sätze: Urteile, die er aus seinen bisherigen Erfahrungen und 
aus Beobachtungen unter den Gesichtspunkten der Auslese zusammengefaßt 
hat. Die in den letzten Jahren geschaffenen verschiedenen Beobachtungs- 
bogen können dabei dem Lehrer wertvolle Hilfe leisten und manche 
Anregung bieten. 

Wenn es sich aber dann darum handelt, von mehreren Kindern, die 
alle mit gleichguten Zeugnissen von ihren Klassenlehrern aufwarten können, 
die Befähigsten herauszufinden, dann bleibt dem für die Auswahl Verant- 
wortlichen nichts anderes übrig, als durch eine Begabungsuntersuchung 
die Kinder zu scheiden. 

Eine Auswahl, die sich auf Zensur, Beobachtungsbogen und 
Begabungsuntersuchung stützt, bietet eine’ hohe Wahrscheinlichkeit 
dafür, daß man die würdigsten Schüler herausgefunden hat. 

An einem Beispiele soll hier gezeigt werden, in welcher Form solche 
Begabungsuntersuchungen angestellt werden. Wir wählen dazu einen 
Gedächtnisversuch. 

Der Zweck des Versuches ist, das unmittelbare Behalten drei- 
teiliger Wörterreihen, die in sich einen kausalen Zusammenhang haben, 
zu prüfen. Die Erfahrung zeigt, daß Versuchspersonen, die den Zusammen- 
hang erkennen, darin eine Gedächtnishilfe finden. Dabei muß betont 
werden, daß ein gutes Gedächtnis durchaus noch nicht ein Kennzeichen 


1) Dieser Versuch ist dem Buche »Anweisungen für die psychologische Auswahl 
der jugendlichen Begabten. Leipzig 1920. Verlag der Dürrschen Buchhandlung«, 
entnommen, das im Institut des Leipziger Lehrervereins entstanden ist und eben 
in 2. Auflage erscheint, Näheres über diesen Band und das übrige vom Institut 
herausgegebene Testmaterial (Lückentexte, Wirre Gedanken, Rechenhefte, Buchstaben- 
tafeln, Gebrauchsanweisungen, Fragebogen usw.) durch das Institut, Leipzig, Kramer- 
straße 4, II. 


8. Begabtenauswahl durch psychologische Methoden. 283 


für eine gute Begabung ist, sondern daß neben einer guten Begabung 
nur ein Durchschnittsgedächtnis für die meiste Schularbeit notwendig ist. 

Vorbereitung des Versuches. Es ist eine Gruppe von 12 drei- 
teiligen Wörterreihen zu bilden (Tauwetter — Dammbruch — Über- 
schwemmung). Beim Zusammenstellen einer Gruppe achte der Versuehs- 
leiter darauf, daß konkrete und abstrakte Reihen abwechseln. 

Der Versuch. Der VIl. (Versuchsleiter) sagt zu den Vpp. (Versuchs- 
personen): »Ich will euch jetzt 12 Wörterreihen sagen. Jede Reihe be- 
steht aus drei Wörtern, die zusammengehören. Diese drei Wörter sollt 
ihr euch jedesmal als Ganzes fest einprägen.<e Der Vl. liest die Wörter- 
gruppe langsam und deutlich vor. Nach jeder Reihe macht er eine 
Pause von etwa 4 Sek., in der die Vpp. die Reihe für sich nachsprechen 
können. Die Darbietung und Einprägung jeder Wörterreihe nimmt 
ungefähr 8 Sek. in Anspruch. Das Vorlesen der gesamten Wörtergruppe 
(12 Wörterreihen) dauert demnach reichlich anderthalbe Minute, Nachdem 
die ganze Gruppe einmal vorgelesen worden ist, folgt ein zweites Vor- 
lesen in demselben Zeitmaße. Für die Abnahme erhält jede Vp. einen 
Zettel. Der Vl. sagt: »Ich sage euch nun jedesmal nur die Nummer 
und das erste Wort einer Wörterreihe.e Nummer und Wort schreibt ihr 
sofort nieder und gleich die beiden anderen Wörter dazu, wie ihr sie 
euch gemerkt habt. Wenn ihr nur noch ein Wort wißt, so schreibt ihr 
eben nur das eine Wort hin. Bei jeder neuen Wörterreihe sollt ihr auch 
eine neue Zeile beginnen.«e Das Niederschreiben einer Wörterreihe er- 
fordert bei größeren Schülern 25—30 Sekunden, für die ganze Gruppe 
(12 Reihen) braucht man demnach etwa 6 Minuten. Die Abnahme erfolgt 
natürlich in anderer Reihenfolge als die Einprägung. Soll das dauernde 
Behalten geprüft werden, so erfolgt nach einer halben Stunde, die viel- 
leicht durch einen anderen Versuch ausgefüllt ist, eine zweite Abnahme 
in wieder veränderter Reihenfolge auf einen neuen Zettel. Die Zuverlässig- 
keit der Ergebnisse dieser 2. oder etwaiger weiterer Abnahme hängt da- 
von ab, ob man eine Aussprache der Vpp. untereinander verhindern kann, 

Wertung des Versuches. Jede vollständig und richtig wieder- 
gegebene Wörterreihe gilt 2 Punkte. Ein einzelnes richtig ergänztes 
Wort wird mit 1 P. berechnet. Zwei richtige Wörter in falscher Reihen- 
folge zählen 1!/, P. Diese Wertung geht nicht auf die Lernschwierigkeit 
der einzelnen Reihen ein. Man kann die Wertung durch Einbeziehung 
der Schwierigkeit, die in dem Inhalte und in dem Platz jeder Reihe 
steckt, noch feiner abstufen. Die Entwicklung dieser Wertung würde an 
dieser Stelle zu weit führen. Soweit der Versuch. 

Die Anwendung solcher Versuche setzt eine gewisse Einarbeitung 
voraus, wenn der Lehrer nicht durch unrichtige Ergebnisse sich oder 
andere enttäuschen will. Diese Arbeit ist aber außerordentlich reizvoll. 
Dem Lehrer ermöglicht sie oft überraschende Einblicke in das Seelenleben 
seiner Schüler. Dem Beispiele der größeren Städte folgend, sollten auch 
die Landlehrer psychologische Arbeitsgruppen bilden, in denen sie schrift- 
lich oder mündlich ihre Erfahrungen und Vorschläge austauschen. Ge- 
gebene Mittelpunkte solcher fachwissenschaftlicher Arbeit sind die psycho- 


284 B. Mitteilungen. 


logischen Arbeitsgemeinschaften, Seminare und Institute in den Großstädten, 
die stets dankbar sind für Mitteilung von Versuchsergebnissen und Er- 
fahrungen und bereitwillig Auskunft geben auf Anfragen. 


9. Ein Institut für Psychologie und Pädagogik 


wurde unter der Leitung von Prof. Dr. W. Peters an der Handels-Hoch- 
schule Mannheim eingerichtet. Die hauptsächlichen Arbeitsgebiete des 
neuen Instituts sind: die psychologische Erforschung der menschlichen 
Arbeit im ganzen Umfang‘ (nicht etwa einseitige Taylor - Untersuchungen) 
und die psychologische Erforschung der Begabungen und der geistigen 
Entwicklung des normalen und abnormen Kindes. Neben der Forschungs- 
und Lehrtätigkeit wird das Institut psychologische und psychologisch- 
pädagogische Individualitätsprüfungen, Intelligenz- und Begabungsprüfungen 
für praktische Zwecke im Dienst der öffentlichen Wohlfahrt vornehmen. 
Es wird auch eine psychologisch-pädagogische Beratungsstelle für Lehrer 
aller Kategorien einrichten. 


10. Bethel in Not! 


Pastor Fr. von Bodelschwingh veröffentlicht unter dieser Über- 
schrift folgenden unsere Zeit kennzeichnenden Aufruf: 

»Wenn der Sturmwind an der Meeresküste tobt und immer höhere 
Wellen gegen das Ufer wirft, dann hört man wohl den Ruf ertönen: 
»Schiff in Not!« Er treibt die Bewohner aus ihren schützenden Häusern. 
Er läßt sie die Gefahr vergessen, die ihnen selbst die Sturmflut bringen 
kann. Sie laufen zum Ufer und schauen aus nach dem Schiff, das draußen 
auf hoher See mühsam gegen die Wellen kämpft. Aber Stehen und 
Schauen, Jammern und Klagen genügt ihnen nicht. Bald springen be- 
herzte Männer in Rettungsboote und fahren, das eigene Leben nicht 
achtend, durch die Brandung, um den Bedrängten Hilfe zu bringen. 

So braust jetzt der Sturmwind der Not über unser armes Vaterland 
dahin; und die Fluten des Leides und der Sorge werden immer höher. 
Wer will sich wundern, daß auch die Stätten der Barmherzigkeit in Be- 
drängnis geraten? Sie gleichen einem schwer beladenen Schiff. Aber die 
Schätze, die sie tragen und in den sicheren Hafen bringen möchten, sind 
nicht Reichtümer der Welt, sondern kranke Kindlein, heimatlose Menschen, 
müde und leidende Leute aller Art. Bethel hat von ihnen mehr als 
4500 zu versorgen. Sie wollen täglich gespeist und gewärmt, gekleidet 
und gepflegt sein. Sie brauchen viele Helferinnen und Helfer und diese 
wiederum Unterhalt und Wohnung für sich und ihre Kinder. Woher soll 
man das alles in diesen teuren Zeiten nehmen? Die Vorräte an Kleidern, 
Wäsche und Schuhen sind erschöpft. Die Kassen sind leer. Die Schulden 
wachsen. Ihrer aus eigener Kraft Herr zu werden, ist uns nicht möglich. 
So sehr wir auch zu sparen und uns einzuschränken suchen, so sehr wir 
uns bemühen, die Einnahmen aus den Pflegegeldern zu vermehren, es 


11. Die Stellung der privaten Fürsorge im neuen Staat. 285- 


will nicht reichen. Viele Familien und Gemeinden sind ganz außerstande, 
uns das zu geben, was für den Unterhalt der Kranken nötig ist. Oft 
reicht das Kostgeld kaum aus, um die Ausgaben für Heizung zu be- 
streiten. Und wie viele sind in unseren Häusern, für die niemand etwas 
bezahlen kann! 

Sollen wir diese Ärmsten ihrem Schicksal überlassen? Sollen wir die 
Häuser des größten Elends aus Mangel an Mitteln schließen? Das muß 
vermieden werden, solange es irgend möglich ist. Gottes Freundlichkeit 
hat uns bisher so reich gesegnet und uns durch so manche Not hindurch- 
geholfen, daß wir sicher glauben, Er werde Bethel auch weiter erhalten 
und gebrauchen wollen. 

Darum lassen wir den Ruf »Bethel in Note hinausgehen zu allen 
unseren Freunden in der Nähe und in der Ferne. Sie leiden mit uns 
unter den Stürmen der schweren Zeit und sind selber hart bedrängt. 
Aber sie werden uns doch nicht im Stich lassen und den Leuten gleichen, 
die nur klagend und jammernd am Ufer stehen. In unserem Schiff des 
Elends und der Barmherzigkeit warten wir zuversichtlich auf die Rettungs- 
boote, die durch die Brandung fahren und uns zur rechten Stunde Hilfe- 
bringen. 

Wer mehr von unserer Arbeit und unseren Sorgen hören will, der 
lese den Boten von Bethel; und der benutze die eingelegte Zahlkarte. 
Wenn das jeder Leser dieses Blattes nach dem Maße seiner Kraft und 
seiner Liebe tut, dann wird auch diese Not zum Segen und dieses Bitten 
zum Danken werden. Gott aber helfe uns und allen unseren Freunden, 
daß wir im Dienen und Kämpfen, im Glauben und Hoffen nicht müde- 
werden bis ans Endel« 


11. Die Stellung der privaten Fürsorge im neuen Staat. 


Vertreter aller Kreise der freien Liebestätigkeit Deutschlands — der- 
religiösen und der humanitären —, in der Sorge um deren Stellung im 
neuen Staat im Herrenhause zu Berlin vor kurzem versammelt, haben die 
Unterzeichneten beauftragt, unsern deutschen Volksgenossen folgendes 
kund zu geben: 

Der schwerste Ernst der Zeit berührt auch die freie Liebestätigkeit. 
Die Verarmung unseres Volkes droht ihr die Mittel abzuschneiden. Eine 
in weiten Kreisen unseres Volks verbreitete Stimmung fordert statt Wohl- 
taten Rechte, den Ersatz der privaten durch die ausschließliche öffentliche 
Fürsorge und die Überführung der Betriebe der privaten Fürsorge in 
öffentliche Verwaltung. Demgegenüber erklären wir: Unveräußerlich ist 
das sittliche Recht und die heilige Pflicht der Menschenliebe. Ihre Werke 
waren durch Jahrhunderte der Ruhmestitel unseres Volkes. Sie heute- 
darin hindern, heißt die edelsten Güter unseres Volkslebens ver- 
kümmern. 

Auch der neue Staat kann sie nicht entbehren, nicht ihre Mittel,. . 
nicht ihre persönlichen Kräfte. Keine Umstellung der wirtschaftlichen: 


286 B. Mitteilungen. 


Verhältnisse wird je alle Quellen der Not verstopfen können. Öffentliche, 
durch beamtete Persönlichkeiten gübte Verwaltungsmaßregeln werden 
niemals den Tiefen und der Vielgestaltigkeit der Not gewachsen sein. 
An der Findigkeit, die Notstände mit offenen Augen und warmen Herzen 
zu entdecken, an hoffnungsfreudigem Wagemut, an den von Person zu 
Person wirkenden heilenden Kräften wird die freiwaltende Menschenliebe 
ihnen stets überlegen sein. 

Wenn die Entwicklung der Dinge dahin führt, bestimmte Zweige 
der bisherigen freien Liebestätigkeit in Öffentliche Verwaltung zu nehmen, 
darf das nicht nach parteipolitischen Gesichtspunkten und nicht unter all- 
gemeinen Schlagworten, sondern nur nach sorgfältiger sachlicher Erwägung, 
ob dadurch wirklich erhöhte Leistungen zu erzielen seien, geschehen. 

Das Beste hoffen wir von einem vertrauensvollen Zusammenarbeiten 
der öffentlichen und privaten Fürsorge, wozu wir auch den sogenannten 
gemischten Betrieben unsere Kräfte zur Verfügung stellen. 

Dafür erwartet die freie Liebestätigkeit von dem Staat alle Förderung, 
deren sie bedarf. Sie darf in Sonderheit auf den Schutz gegenüber wilden, 
oft unlauteren Gründungen und Veranstaltungen rechnen, die ihr Ansehen _ 
und ihre wirtschaftlichen Interessen und damit die Allgemeinheit schädigen. 
Die freie Liebestätigkeit ist bereit, auch aus der an ihr geübten Kritik zu 
lernen, selbst da, wo sie nicht völlig gerecht ist. In stets erneuter Selbst- 
prüfung wird sie bemüht sein, ihre Mängel zu erkennen und zu verbessern. 
Sie wird sich bestreben, den veränderten wirtschaftlichen und politischen 
Verhältnissen und den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen Rechnung 
zu tragen. Sie wird mehr als bisher die Mitarbeit aller Schichten unseres 
Volkes, besonders auch der organisierten Arbeiterschaft zu gewinnen suchen. 
An unsere Mitarbeiter und Freunde aber richten wir die herzliche und 
dringende Bitte, auch unter den Schwierigkeiten, die die neue Zeit bringt, 
nicht müde zu werden im Wirken. 

Wenn wir das Gefühl sozialer Verantwortlichkeit und die Fähigkeit, 
das Empfinden des Volkes immer besser zu verstehen und ihm immer 
völliger gerecht zu werden, unter uns pflegen und vertiefen, dann werden 
wir auch diese Schwierigkeiten überwinden zum Heil unseres Volkes. 


Fachausschuß für private Fürsorge des Deutschen Vereins für 
öffentliche und private Fürsorge. 


(Früher: Für Armenpflege und Wohltätigkeit) 


Vorsitzender: Dr. Albert Levy, Berlin (Vorsitzender der Zentrale 
für private Fürsorge, Berlin) 
= Stellvertr. Vorsitzende: Prälat Dr. Werthmann, Freiburg (Vor- 
sitzender des Caritasverbandes für das kath. Deutschland) — Direktor 
Lic. Füllkrug, Berlin (Geschäftsführer des Zentralausschusses für die 
Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche) 
Mitglieder: Professor Albrecht, Berlin (Geschäftsführer der 
Zentralstelle für Volkswohlfahrt Berlin) — Domkapitular Bartels, Pader- 
born (Präses des katholischen Erziehungsvereins, Sitz Paderborn, E. V.) 


12. Ausbildungskursus f. Leiterinnen von Hilfsschul- u. Sammelklassenhorten. 287 





— Dr. Marie Baum, M. d. N., Karlsruhe i. B. — Pastor Constantin Frick, 
Bremen (Vorstandsmitglied des Zentralhilfsausschusses vom Roten Kreuz) 
— Frau Stadtverordnete Hedwig Goetze, Braunschweig (Vorsitzende der 
Frauengruppe für soziale Arbeit) — Dr. Hog, Frankfurt a. M. (Geschäfts- 
führer des Deutschen Vereins für Öffentliche und private Fürsorge) — 
Dr. Karstedt, Berlin (Regierungsrat im Reichsarbeitsministerium) — 
Pastor Kießling, Hamburg (Direktor des Hamburgischen Landesaus- 
schusses für die Hinterbliebenen der im Kriege Gefallenen) — Pfarrer 
Dr. Lenn&, Happerschoß (Vorsitzendez des Centralverbandes katholischer 
Kinderhorte und Kleinkinderanstalten) — Geh. Konsistorialrat D. Mahling, 
Berlin (Vorstandsmitglied des Zentralausschusses für die Innere Mission der 
deutschen evangelischen Kirche) — Frau Amtsgerichtsrat Neuhaus, Dort- 
mund (M.d.N., Vorsitzende der Zentrale des katholischen Fürsorgevereins 
für Mädchen, Frauen und Kinder) — Bürgermeister Paul, Magdeburg (Leiter 
des städtischen Wohlfahrtsamtes) — Geh. Regierungsrat Pokrantz, Berlin 
(Referent im Preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt) — Dr. Polligkeit, 
Frankfurt a. M. (Leiter der Zentrale für private Fürsorge) — Geh. Kirchen- 
rat D. Schlosser, Frankfurt a. M. (Vorstandsmitglied des deutschen 
Vereins für öffentliche und private Fürsorge) — Direktor Dr. Weber, 
Neuendettelsau (Vorstandsmitglied des Reichsverbandes privater Unterrichts- 
und Erziehungsanstalten) — Frau S. Wronsky, Berlin (Vorstandsmitglied 
der Zentrale für private Fürsorge, Berlin). 


12. Ausbildungskursus für Leiterinnen von Hilfsschul- 
und Sammelklassenhorten in Berlin. 


Hilfsschul- und Sammelklassenhorte sind nicht nur Bewahr- und Be- 
schäftigungs-, sondern auch Erziehungsanstalten und zwar solche heil- 
pädagogischer Art. Sollen sie dieser ihrer wichtigen Aufgabe gerecht 
werden, so muß ihre Leitung in Händen von Personen liegen, die neben 
der Liebe zu schwachsinnigen Kindern über das nötige Rüstzeug zu ihrer 
Behandlung verfügen. Langjährige Erfahrungen unseres Vereins, der neben 
4 Hilfsschul-- 7 Sammelklassenhorte unterhält, haben gezeigt, daß das 
bloße Kindergärtnerinnen- oder Hortnerinnenexamen hierfür nicht ausreicht. 
Veranlaßt durch diese Erkenntnis, unterstützt durch das städt. Jugendamt 
in Berlin, veranstaltete der Erziehungs- und Fürsorgeverein für geistig 
zurückgebliebene (schwachsinnige) Kinder in der Zeit vom 10.—15. Nov. 
in der IX. Hilfsschule einen Ausbildungskursus für Leiterinnen von Hilfs- 
schul- und Sammelklassenhorten. Dem Pressehinweis folgten 54 Meldungen, 
von denen 8, da die Voraussetzungen, bestandenes Kindergärtnerinnen- 
oder Hortnerinnenexamen, nicht vorhanden waren, zurückgewiesen wurden. 
Wegen der inzwischen eingetretenen Verkehrssperre sahen sich die Teil- 
nehmer aus Altona, Hamburg, Brandenburg usw. gezwungen, im letzten 
Augenblicke ihre Anträge auf Zulassung zurückzuziehen, so daß der Kursus 
mit 38 Teilnehmern von dem Stadt- und Kreisschulinspektor Fuchs, dem 
2. Vorsitzenden des Vereins, eröffnet werden konnte. Da es sich bei 


288 B. Mitteilungen. 


dieser Veranstaltung nicht um das Erkennen des jugendlichen Schwach- 
sinns, sondern um die Erziehung bereits als schwachsinnig erkannter 
Kinder handelte, bewegten sich die Darbietungen nur in pädagogischen 
Bahnen. Die Anwesenden wurden mit der Charakteristik schwachsinniger 
Kinder, ihrer Erziehung und Beschäftigung, mit den Sammelklassen, mit 
den besonderen Aufgaben der Hilfsschul- und Sammelklassenhorte usw. 
bekannt gemacht und die theoretischen Ausführungen durch praktische 
Übungen und Hospitationen unterstützt. 

Hatte schon die Zahl der Meldungen erkennen lassen, daß hier einem 
fühlbaren Bedürfnis Rechnung getragen würde, so ließen die allseitigen 
herzlichen Dankesworte, die aufrichtige Freude über das neu erworbene 
Wissen, das lebhafte Bedauern über die Kürze des Kursus und die zum 
Ausdruck gebrachte Hoffnung, daß einem von den Teilnehmern gestellten 
Antrage auf Erweiterung der Veranstaltung Rechnung getragen werden 
wird, erkennen, daß durch diesen Kursus eine Einrichtung geschaffen 
worden ist, die den Hortnerinnen zum Nutzen und unseren schwach- 
sinnigen Kindern zum Segen gereichen wird. Guerlich. 


13. Ergebnis des Preisausschreibens der Dörpfeld- 
stiftung. 


Auf das im Oktober 1918 veröffentlichte Preisausschreiben der Dör- 
pfeldstiftung waren 4 Arbeiten eingereicht worden. Die Aufgabe, »Dör- 
pfelds Schulverfassung in ihrer Bedeutung für die Gegenwart« 
darzulegen, hat nach dem Urteil der Preisrichter nur eine derselben be- 
friedigend gelöst. Ihr Verfasser ist Lehrer F. W. Schmidt-Barmen 
(z. Z. zum Zweck weiterer Studien an der Universität Münster); er erhält 
den ausgesetzten ersten Preis im Betrage von 400 Mark. — Die Arbeit 
soll so bald wie möglich durch den Druck veröffentlicht werden. Indem 
sie die Hauptpunkte der Dörpfeldschen Schulverfassung darstellt, verbreitet 
sie ein helles Licht über die gegenwärtige verworrene schulpolitische Lage 
und gibt zugleich einen sicheren und gangbaren Weg an zu einer be- 
friedigenden Lösung. 


Barmen, den 30. März 1920. 
Der Vorstand der Dörpfeldstiftung. 


C. Literatur. 289 


C. Literatur. 





Hamburger Arbeiten zur Begabungsforschung. 


Heft 1: Rudolf Peter u. William Stern, Die Auslese befähigter Volks- 
schüler in Hamburg. Bericht über das psychologische Verfahren. In Ge- 
meinschaft mit Otto Bobertag, Lenore Heitsch, H. Meins, Martha Muchow, 
Anton Venkert, H. P. Roloff, Gustav Schober, Heinz Werner, Otto Wiegmann. 
18. Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie von William Stern 
u. Otto Lipmann. Leipzig, Johann Ambrosius Barth, 1919. X, 157 Seiten. 
10 M ohne Teuerungszuschlag. 

Die Begabtenauslese ist schon seit Jahren eine Forderung der Psychologen 
und Pädagogen. Sie ist wesentlich aktueller geworden seitdem die Einheitsschule 
eingeführt worden ist. William Stern war es, der von jeher für die Begabten- 
klassen, überhaupt Auslese der Begabten eintrat; nicht nur den Schwachen 
und Schwächsten solle besondere Fürsorge gewidmet werden, sondern auch den 
Kindern, die für die Kultur den Fortschritt bedeuten — den Begabten. Damit fand 
er Zustimmung in den Kreisen der Pädagogen, die auch von sich aus, als die Er- 
zieher, diesen Standpunkt eingenommen hatten, wohl nur mit wenig Ausnahmen. 
Ob es nun richtig ist, sogenannte »Begabtenklassen« zu bilden, ist eine Frage, die 
einer eingehenden Beantwortung bedarf, was hier natürlich nicht geschehen kann. 
Für diese Besprechung handelt es sich nur um Auswahl der Begabten, damit sie 
in eine höhere Schule treten können oder überhaupt als solche erkannt werden. 

Überall, so darf man wohl mit Recht sagen, ist man jetzt dabei, »Begabte zu 
suchen«, auszulesen. Man wendet dabei verschiedene Verfahren an, besonders die 
Tests. Für jeden psychologisch Geschulten erregt aber schwere Bedenken die 
Weise, in der man dies tut. Es ist oft ein toller Dilettantismus, der sich dabei 
bemerkbar macht. Denn ein Lehrer, der nicht psychologisch genügend geschult ist, 
kann durchaus nicht einwandfrei die Tests anwenden, und vor allem sind sie an 
sich noch lange nicht derartige Maßstäbe, daß sie sofort ohne genügende Vor- 
bereitung, Kenntnis der Verrechnungs - Methoden, kurz gesagt, ohne Studium der 
Psychologie, angewandt werden könnten. Es ist unbedingt davor zu warnen, und der 
Unfug. der sich in der »Berufsberatung nach psychologischen Methoden« bemerkbar 
macht, wo sich Laien der Sache bemächtigen, soll hier nur angedeutet werden. 
Natürlich wird der Lehrer!) mitarbeiten müssen, den Fachpsychologen als Berater 
zur Seite stehend oder — was das Ideal wäre — als psychologisch gründlich ge- 
schulter Lehrer allein. Aber auch in der Arbeitsgemeinschaft mit Fachpsychologen 
muß er auf diesem Gebiet vollkommen zu Hause sein. Es ist also zu begrüßen, daß 
William Stern sich der Sache annahm und eine Schriftenfolge herausgibt, die 
nicht nur über die Gefahren falscher Anwendung aufklärt, sondern auch zeigt, wie 
an anderen Orten ausgewählt wurde, die den Leser mit den wissenschaftlichen 
Methoden vertraut machen soll, kurz, wo der Lehrer und jeder Berufene, der 
sich mit dieser Sache befassen will, Aufklärung, Literatur usw. erfahren kann, 
Unter dem gemeinsamen Titel: 


1) Unter Lehrer verstehen wir Lehrer aller Schularten. 


290 C. Literatur. 


»Hamburger Arbeiten zur Begabungsforschung« wird William Stern 
mit seinen Mitarbeitern über die Forsehungsarbeiten des Hamburger psycho- 
logischen Laboratoriums und aller damit verbundenen Arbeitsgemeinschaften, die 
sich aus Psychologen, Lehrern aller Gattungen, Studierenden zusammensetzen, 
berichten. Damit erhalten wir wertvolle Veröffentlichungen, die der Sache in 
bester Weise dienen werden. Uns liegt hier das 1. Heft vor, in dem die oben- 
genannten Mitarbeiter über die Verfahren berichten, die sie anwandten, um aus 
einer größeren Anzahl von Kindern oder Jugendlichen die für bestimmte Schul- 
formen besonders geeigneten herauszusuchen. Es handelte sich zum Teil um die 
Auswahl von etwa 1000 10jährigen Kindern für einen neuen, höheren Zug der 
Volksschule, zum anderen Teil um die Aufnahme junger Mädchen von 14—16 Jahren 
in ein Lehrerinnenseminar, bei dem die Anmeldungen stets um ein Vielfaches 
die Zahl der Aufzunehmenden übertreffen. Über das Verfahren, das die Hamburger 
Pädagogen und Psychologen einschlugen, wird in diesem Buch berichtet: in vollster 
wissenschaftlicher Strenge, mit genauer Angabe der Methodik, mit objektiver Bericht- 
erstattung über gut Gelungenes und weniger Gelungenes, mit Vorschlägen für andere 
Prüfung, kurz in einer Weise, wie sie nur der Lösung des Problems der Begabten- 
auslese in bester Weise dienen kann und muß. Wir können natürlich im Rahmen 
einer jetzt notwendigen kurzen Besprechungen nicht auf Einzelheiten eingehen. 
Wir möchten aber jeden, der sich an die Lösung dieses Problems heranmacht, auf 
die Hamburger Schriften aufmerksam machen: er muß sie studieren. Und, was 
Stern über die Verantwortung der Prüfenden sagt, die sie tragen für das Kind 
und für die Allgemeinheit, was er sagt über die Möglichkeit, die ganze Struktur 
der menschlichen Psyche zu erfassen, wie er sachlich richtig die Anwendung der 
Tests feststellt und wie er vor allem für ein pädagogisch-psychologisches Ver- 
fahren der Auslese eintritt, findet unsere vollkommene Zustimmung. Es ist nicht 
richtig, dem Lehrer allein die Entscheidung zu überlassen, da der Pädagoge mehr 
nach Kenntnisleistung urteilt, da seine Maßstäbe keine feststehenden sind, es ist 
aber auch falsch, die Auslese nur auf Grund von Tests vorzunehmen, da man da- 
mit durchaus nicht die ganze Seele die Wertung aller ihrer Arbeit erfassen kann, 
sondern eine Verbindung aller Methoden, besonders auch die der dauernden 
psychologischen Beobachtung mit folgender Prüfung nach Tests wird die besten Er- 
folge zeitigen. 

In Verbindung mit den Urteilen der Lehrer, Eltern und Ärzte und anderer 
Sachverständiger, die noch heranzuziehen sind, ist auszuwählen; — kurz, eine plan- 
mäßig, wissenschaftlich begründete Arbeit vieler muß hier geleistet werden. Der 
Inhalt des 1. Hefts ist reich. Besonders möchten wir auf den Beobachtungs- 
bogen, der sich im Anhang findet und der auch im Verlag Barth einzeln zu 
erhalten ist, hinweisen. Das ist eine gute Arbeit, und es ist sehr zu empfehlen, 
sich mit seiner Verwendbarkeit in der Schule zu dem angegebenen Zweck vertraut 
zu machen. Diese Beobachtungen werden, wenn sie dann vor allem von Fach- 
psychologen oder einer Arbeitsgemeinschaft psychologisch geschulter Lehrer bewertet 
werden, nicht nur für die Kinder selbst, sondern auch der Wissenschaft über die 
Kinder Wertvolles bringen. 


Meißen, April 1920, Kurt Walther Dix. 


Heft II: Stern, William als Herausgeber. Untersuchungen über die In- 
telligenz von Kindern und Jugendlichen von Walther Minkus (t), 
William Stern, H. P. Roloff, Gustav und Ada Schober, Anton Penkert. Leipzig, 


C. Literatur. 29} 


Johann Ambrosius Barth, 1919. IV, 167 Seiten. 13 M. (19. Beiheft zur Zeit- 
schrift f. angew. Psych.) . 

Dieses 2. Heft der Hamburger Arbeiten zur Begabungsforschung enthält fol- 
gende Beiträge: 1. Die Methodik eines Massenversuchs zur Erforschung der geistigen 
Leistungsfähigkeit an Volks- und Fortbildungsschülern von Walter Minkus (t) und 
William Stern. 2. Die Bindewort-Anschauung von Walther Minkus (t) u. William 
Stern. 3. Intelligenzschätzung und Schulrangordnung von H. P. Roloff. 4. Über 
Bilderkennungs- und Unterscheidungsfähigkeit bei kleinen Kindern von Gustav und 
Ada Schober. 5. Über die Anwendung von Tests bei Aufnahmeprüfungen in ein 
Hamburger Lehrerinnenseminar von Anton Penkert. 

Die Sammlung dieser Arbeiten bedeutet eine wertvolle Bereicherung der 
Arbeiten über das schwere Problem der Untersuchung der Intelligenz und der 
Denkakte. 

Walter Ninkus war ein begabter Schüler William Sterns; er starb leider 
plötzlich am Herzschlag. Aus Pietätspflicht zum Teil und zum anderen, um die 
wertvolle Arbeit der Öffentlichkeit zu übergeben, legt uns der Herausgeber diese 
Arbeit seines Schülers vor. 

Fragen der differentiellen Psychologie und Probleme der Denkpsychologie- 
wollte Minkus beantworten und untersuchen. Dabei hielt er sich an die bekannten 
gegebenen Tests, die er aber in scharfsinniger Weise verfeinerte und vervoll- 
kommnete: Bilderbogentest, Textlückenergänzung und Themenversuch. Damit prüft 
er die Beobachtungsfähigkeit und kombinatorische Phantasie, die Fähigkeit zur 
sprachlich-logischen Verknüpfung und endlich durch den 3. die konstruktive Phan- 
tasie und ethischen Ideale der Prüflinge. 

Besondere Sorgfalt widmete Minkus der Auswahl und Gruppierung seiner 
Versuchspersonen: Weitgehende Vergleichbarkeit der psychologischen Ergebnisse: 
in Bezug auf Unterschied des Alters, des Geschlechts und der sozialen Schich- 
tung war ihm Hauptkriterium. Hier liegt etwas, auf das wir besonders hinweisen 
müssen. Minkus zog außer den 4 obersten Stufen der Volksschule auch 3 Jahr- 
gänge der Fortbildungsschule hinzu. Das ist ein unbedingtes Verdienst; denn bisher 
ist ja gerade dieses Alter von 14 bis 17 in den Schichten, die die Fortbildungs- 
schule besuchen, noch nicht exakt wissenschaftlich geprüft und erforscht worden. 
Und doch müssen wir versuchen, gerade diese Jahre zu erforschen, nicht nur aus: 
erzieherischen und unterrichtlichen Gründen, sondern auch wegen der Forderung, 
die die Gegenwart stellt: Der rechten Berufsberatung. Und noch ein differentiell- 
psychologischer Vorteil liegt in der Arbeit von Minkus: daß er sowohl männliche, 
als auch weibliche Fortbildungsschulen prüfte. Außerdem versuchte Minkus noch 
eine soziologisch -psychologische Frage durch seine Untersuchung zu beantworten: 
die Wirkung der sozialen Lage auf die geistige Leistung. Auch das ist eine Frage- 
stellung, die wieder in der Gegenwart wichtig ist, da ja die Einheitsschule von 
dieser Seite aus, in ihrer Möglichkeit zu bestehen, mit beurteilt werden muß, 

Leider konnte Minkus seine Versuche nicht selbst bis zum letzten Ergebnis 
auswerten; das haben Freunde, Seminarteilnehmer und schließlich W. Stern getan, 
und so bietet Stern auf S. 35/71 die differentiell-psychologischen Ergebnisse und 
die Ergebnisse für die Denkpsychologie, auf die wir besonders hinweisen. Sie be- 
stätigen z. B. die bereits früher durch ähnliche und andere Untersuchungen ge- 
wonnene Erkenntnis von der Differenzierung der Entwicklung des männlichen und 
weiblichen Geschlechts in den Jahren von 12 bis 16, wo das männliche zunächst: 
dem weiblichen vorauseilt, dann aber von diesem eingeholt, sogar oft über- 


292 C. Literatur. 


troffen wird. Einen besonderen Aufschwung nehmen die Mädchen im 15. Lebens- 
jahr, dem dann nach Ergebnis der Untersuchungen von Heymanns und Wiersma 
mit dem 17. Jahr ein ausgesprochener Niedergang folgen soll. 

Von den denkpsychologischen Ergebnissen sind auch solche für die Kinder- 
psychologie über die Entwicklung des kindlichen Denkens vorhanden, die die anderer 
Forscher bestätigen und stützen. Gewissen Kategorien von Denkverknüpfung ist 
ein immanenter Grad der Schwierigkeit oder Leichtigkeit eigen, wie sich dies ganz 
typisch bei jenen von logischem Charakter zeigt. Sprachliche Momente geben 
naturgemäß beim Ausfall der Leistung den größten Ausschlag; oft und leicht ver- 
laufende Gedankenverbindung im Denken schleifen sich besonders ab und schaffen 
einfache Ausdrucksweisen, wie z. B. die kausalen und temporalen. Die schwerste 
Verknüpfung ist die des kontrastierenden Denkens. Alles sind Ergebnisse, die schon 
-durch Stern und andere Kinderpsychologen bei ihren Untersuchungen über die kind- 
liche Sprachenentwickung und Entwicklung des Denkens gefunden wurden, nun aber 
eine willkommene Bestätigung durch diese feinen exakten Untersuchungen finden. 

Roloff untersucht das Problem der Aufstellung einer von allen Schulleistungen 
unabhängigen Intelligenzschätzungsweise durch den Lehrer. Ein reiches Material 
aus dem Hamburger Institut stand ihm zur Verfügung. »Die Intelligenzschätzung 
ist für die Begabungsforschung ein Hilfsmittel von hohem Wert — doch nur dann, 
‘wenn es mit genügender Vorsicht angewandt wird.« 

Die bekannte Heilbronner Methode wandten G. u. A. Schober an, indem sie 
enge Beziehung nahmen zu den Untersuchungen von van der Torren. Wann kann 
‘ein Kind aus einfachen, systematischen Umrißzeichnungen einen Gegenstand er- 
kennen und ihn durch hinzugefügte Merkmale unterscheiden? Untersucht wurden 
Kinder von 4 bis 8 Jahren. Es ergab sich zu v. d. Torren mancher Unterschied. 
Knaben übertreffen die Mädchen im Bilderkennen um 7°/,, im Unterschiedswahr- 
nehmen um 3°/,. Beide zeigen merklich Altersfortschritte und Geschlechtsdiffe- 
renzierung. 

Penkert gibt einen Bericht über die Testprüfungen, die bei der Aufnahme 
in das Hamburger Lehrerinnenseminar angewandt wurden. Sie zeigen eine Über- 
einstimmung mit den sonst angewandten Examenforderungen. Auch ethische Tests 
sind dabei ausprobiert worden. Hier steht man noch sehr im Anfange; doch wird 
sich wohl nach wiederholter Verfeinerung und gesammelter Erfahrung auch hier 
etwas Brauchbares herausschälen, wie dies z. B. Jacobsohn 1919 in seiner Arbeit 
»Gibt es eine brauchbare Methode, um Aufschluß über das sittliche Fühlen eines 
‚Jugendlichen zu bekommen ?« zeigt (vergl. auch die Besprechung von Erich Stern, 
Hamburg, in Zeitschr. f. angew. Psych., XV, H. 1/2). 

Das vorliegende 3. Heft weist einen Reichtum von wertvollen Methoden der 
Untersuchung und vorsichtig gewonnenen Erkenntnisse auf. Besonders wünschten 
wir es auch in die Hand von Lehrern, die an den Fortbildungsschulen arbeiten, die 
‚daraus viele Anregungen zu psychologischen Studien über die Seele der Jugendlichen 
erhielten. 


Meißen, April 1920. Kurt Walther Dix. 





Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 








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A, Abhandlungen, 


1. Wie habeich mich bemüht in die Eigenart der Kinder 
melancholischen Temperaments einzudringen und 
welche Folgerungen aus diesem Studium für die 

Behandlung solcher Kinder gezogen? 
Von 
P. Salzsieder, Lehrer in Pomellen. 


Verschieden sind die Kinder nach ihren Individualitäten und 
Temperamenten; es zog mich an, sie zu studieren. Besonders inter- 
essierten mich die melancholischen; denn obwohl sie zum Teil als 
recht begabt gelten konnten, so machten sie doch nicht einen ihrer 
Begabung entsprechenden gleichmäßigen Fortschritt, ihr Gesichts- 
ausdruck zeigte eine nicht zu verkennende Schwermut und ihr Ver- 
halten war oft nicht frei von Widersetzlichkeit. Nach langem Hin- 
und Herwägen glaubte ich den Grund gefunden zu haben: eine auf 
mangelhafter Kenntnis der Kinder basierende nicht genügende Indivi- 
dualisierung des Unterrichts. Daher ließ ich mich mahnen durch 
Rousseau: »Commencez done par mieux étudier vos élèves, car très 
assurément vous ne les connaissez point« (Rousseau, Emile, Préface VT). 
Ich legte Schülerindividualitäten an und notierte sorgältig alle Vor- 
kommnisse, die mir für das Seelenleben der Kinder als solches wie 
auch für gewisse Züge eines Temperaments charakteristisch schienen. 
Deshalb soll diese Arbeit den Weg skizzieren, den ich zurückgelegt 
habe, bis ich am Ziel, dem Herzen des melancholischen Kindes, nach 
mehr oder minder großen Verirrungen anlangte. Im Verfolg der- 


Zeitschrift für Kinderforschung. 25. Jahrgang. 20 


294 A. Abhandlungen. 


selben werde ich nicht jeden einzelnen Zug, der melancholischen Cha- 
rakter an sich trägt, aufführen und dessen Behandlungsweise darlegen, 
sondern in erster Linie die Haupteigentümlichkeiten des rein-melan- 
cholischen Temperaments. 

Um das melancholische Kind gründlich kennen zu lernen, habe 
ich dasselbe nach allen mir möglich und nützlich scheinenden Seiten 
beobachtet. Die erste Seite der Beobachtung erstreckte sich auf das 
Leben und Treiben im Elternhause; denn nirgends konnte ich das 
Temperament besser studieren als in seiner festesten Lebensgemein- 
schaft. Das Elternhaus ist nicht selten schuld am Ausbruch des ge- 
fährlichen Temperaments. Folgende Ausführungen werden diese Be- 
hauptung unterstützen. Häufig war das Temperament eines der Eltern 
dem des Kindes ähnlich oder beinahe gleich. Dann herrschte zwischen 
Eltern und Kindern kein natürliches Verhältnis; die Stimmung war 
mehr oder weniger gedrückt und läßt sich vergleichen der der Men- 
schen, die einen neuen Ausbruch eines heftigen Wetters befürchten, 
denen jedoch das vergangene noch bleiern in ihren Gliedern liegt. 
Der Vater verlangte einen dem Kindesalter fremden Ernst. Daher 
zogen die Eltern frühreife Kinder groß, die die Welt mit eben solchen 
trüben und argwöhnischen Augen ansahen wie sie selbst. Sie gaben 
den Kindern nicht genügende Gelegenheit mit ihren Altersgenossen 
zu spielen und so ihre Körperkräfte zur Entfaltung zu bringen. Daher 
wurden die Kinder an Einsamkeit gewöhnt und blieben in ihrer 
Körperentfaltung zurück. Beides aber sind ein Nährboden für unser 
Temperament. Das Kind hatte auch keine Gelegenheit Freunde zu 
erwerben und entbehrte so eines anziehenden Reizes der Jugend. 
Wenig Freude hat das melancholische Kind in solchem Hause. Der 
wohlhabende Vater versagte sie seinem Kinde, um einen Sohn zu er- 
ziehen, der haushalte mit seinem Gute und dasselbe dereinst vermehre, 
und der arme Vater dieser Gefühlsanlage in der Absicht, einen Nach- 
kommen zu haben, der sich einmal zu Wohlhabenheit aufschwinge. 

In einem Falle hatte ein melancholischer Knabe einen sangui- 
nischen Vater, was man sicherlich nicht vermuten würde. Aber was 
war der Grund? Trunksucht des Vaters. Abnorme Strenge des Vaters 
in betrunkenem Zustande und der darauffolgenden Stimmung sind 
wohl der Grund des Ausbruchs des melancholischen Temperaments 
gewesen. 

Einen noch schlimmern Grad nahm das Temperament des Kindes 
an, wenn auf der Temperamentsanlage beruhende geistige Krankheiten 
bei den Eltern vorgekommen waren. Ein Vater hatte im Irrsinn 
bezw. Schwermut Selbstmord begangen: alle Kinder haben ein fast 


Salzsieder: Wie habe ich mich bemüht in die Eigenart der Kinder usw. 295 
reinmelancholisches Temperament. Bei dem einen Mädchen sind die 
Gemütsdepressionen zeitweilig so stark, daß bei ihm schon, wie weiter 
unten ausgeführt werden wird, diejenige Form der Psychose aus- 
gebrochen ist, die man als die Melancholie im engern Sinne be- 
zeichnet. Die intellektuelle Bildung der Eltern war stets eine das 
Niveau eines Arbeiters oder Bauern überragende. Daher legte auch 
der Vater wieder großen Wert auf die geistige Vervollkommnung 
seiner Kinder. Er liebt es, bis spät in die Nacht die Arbeiten seiner 
Kinder zu überwachen und schon die frühe Jugend mit intellektueller 
Arbeit auszufüllen, damit sein Sohn oder seine Tochter ja den nötigen 
Grad geistiger Reife mit in die Schule bringe. So wurde ein Knabe 
in die Unterstufe meiner Halbtagsschule aufgenommen, der schon bis 
zum großen »F« fließend lesen konnte. Die Mutter dieses Kindes 
durfte sich im Auftrage ihres Mannes nicht damit begnügen, den Sohn 
nur zu ordnungsmäßiger Erledigung der häuslichen Arbeiten anzuhalten, 
nein, sie mußte auch darauf Bedacht nehmen, den Knaben neben dem 
Schulunterricht so zu fördern, daß er imstande wäre zu Weihnachten 
einen fehlerfreien Feldpostbriefe zu schreiben. Ein anderer Knabe 
las fließend bis »malen, reisen« der Hirtschen Fibel. Mit der Aus- 
führung dieser Aufgabe war seine dreizehnjährige Schwester betraut. 
Wie störend aber wirkte die zugemutete Mehrarbeit wieder auf den 
Gemütszustand dieses guten Mädchens! Wie konsequent die Eltern 
in der Durchführung dieser einmal gefaßten Aufgabe waren, geht 
auch daraus hervor, daß ich sehr häufig bei mangelhafter Anfertigung 
der Schularbeiten dieses Mädchens von ihm zu hören bekam: »Ich 
habe den ganzen Tag mit meinem Bruder schreiben müssen. Meine 
Mutter sagte, ich könnte abends noch lernen, aber da war ich so 
müde.«e So säten die Eltern bei bester Absicht schlimmen Samen. 
Weitsehend legten beide Eltern ein weitaus größeres Gewicht auf die 
geistige Ausbildung der Knaben vor der der Mädchen. 

Wir sahen mithin im Vorstehenden, daß die Beobachtung des 
Lebens und Treibens im Elternhause bei dem melancholischen Kinde 
von allergrößter Wichtigkeit ist, da der Lehrer durch Kenntnisnahme 
von den Vorgängen in ihm oft erst die Ursachen dieser Anlage be- 
greift. Doch auch die somatischen Anlagen des Kindes machen es 
als solehes manchmal hinreichend kenntlich. Die körperliche Grund- 
lage der meisten Kinder dieses Temperaments war in der Regel 
folgende: das Kind hat einen großen und schlanken Körper, ein 
blasses und mageres Gesicht. Die Augen liegen tiefer als bei den 
andern Kindern, der Blick ist stechend und lauernd, die Stimme 


hat einen wenig angenehmen‘ Klang, die einzelnen Laute werden 
20* 


296 A. Abhandlungen. 


langsam und scharf artikuliert hervorgebracht, sie klingen oft ab- 
gehackt und zusammenhangslos. Nach sympathischen Seelenzuständen 
ändert es den Klang der Worte fast niemals, dagegen sehr nach anti- 
pathetischen und affektiven. Die musikalische Begabung ist gering, 
das Gehör trotzdem aber sehr scharf. Der Körper leidet an Blut- 
armut und die dadurch bedingte geringe Nahrungsverwertuug hat eine 
Unterernährung des Nervensystems zur Folge, was sich häufig in 
nervösem Zucken der Stirnhaut und der Augen bekundet. Ebenso 
spielen nervöse Magen- und Herzleiden eine große Rolle als un- 
angenehme und deprimierende Zustände. Und wegen seiner schmäch- 
tigen und schwächlichen Anlage ist das Kind oft genötigt, von dem 
Spiel mit seinen Kameraden zu einer Zeit Abstand zu nehmen, in 
der es noch gern mitmachen möchte! Geschieht dies öfter, so bleibt 
die bedenkliche Folge nicht aus. Ein allzeit fröhliches Mädchen hatte 
eine schwere Lungenentzündung überstanden; die Körperkräfte hatten 
durch diese Krankheit sehr abgenommen. Das Kind konnte nach 
seiner Genesung nicht mehr so mit seinen Gespielinnen in Flur und 
Hain herumstreifen, wie dasselbe es früher getan hatte. Die jungen 
Mädchen nahmen nicht Rücksicht darauf — die bedenkliche Gefühls- 
anlage kam zum Ausbruch. 

Sehr häufig fügt es sich auch, daß besondere Fehler in der 
körperlichen Konstitution: einen sehr bedenklichen Einfluß auf die 
Gefühlsanlage des Kindes ausüben. So besteht das melancholische 
Temperament weniger oft auf ungünstiger Mischung der Säfte, um 
uns eines Ausdrucks der Alten zu bedienen, sondern meistens auf 
für die Kinder ungünstigen Bedingungen und unpassenden Erziehungs- 
maßnahmen und dem verderblichen Einfluß, den Eltern bewußt und 
unbewußt auf ihre Kinder ausüben. 

Lassen schon die ontogenetischen Anlagen des Kindes Licht- und 
Schattenseiten erkennen, so kommen dieselben, wenn man die er- 
worbenen Anlagen ins Auge faßt, in diesen noch viel deutlicher zum 
Vorschein. Unter der unter diesem Punkte abzuhandelnden objektiven 
— exopsychischen — Seite des Kindes verstehen wir das Verhalten 
desselben zu den Objekten, Menschen, Tieren, Pflanzen, Gegenständen. 
Ich habe diese Seite des Kindes vorangestellt, denn gerade sie gab 
mir Gelegenheit, die Kinder als melancholische zu erkennen. Kinder 
dieser Art sind oft, wie schon oben gesagt wurde, durch Körper- 
schwäche ausgezeichnet und werden daher oft von andern Kindern 
und sonstigen Personen in Zorn versetzt, in dem sie von der Körper- 
stärke gern Gebrauch machen würden, die sie nicht besitzen, um sich 
an den Personen zu rächen, die ihnen den Schaden zugefügt haben, 


Salzsieder: Wie habe ich mich bemüht in die Eigenart der Kinder usw. 297 


was ihnen aber nur selten gelingen kann. Daher erscheint diesen 
schwachen Kindern der erste beste Gegenstand geeignet, ihren Zorn 
an denselben auszulassen. Ich tadelte einst ein Mädchen, weil es 
einen häuslichen Aufsatz liederlich angefertigt und schlecht geschrieben 
hatte. Was war die Folge? Kaum hatte es das Heft in der Pause 
wieder in den Fingern, da lag es auch schon in Fetzen auf dem 
Fußboden und wurde zertreten. Ist das melancholische Kind durch 
jemand in Ärger versetzt, verbeißt es ihn, solange es geht, aber je 
weiter es sich von dem Urheber seiner Mißstimmung entfernt, desto 
mehr wird seine Selbstbesinnung von den Affekten beherrscht und so 
läßt sich dies sonst so willensstarke Kind hinreißen, seinen Zorn an 
toten Gegenständen auszulassen. In dieser Hinsicht erzählte mir ein 
Vater einmal recht bedrückt: Sein Sohn Fritz habe die von der 
Schwester geschenkte Uhr gebrauchsunfähig gemacht und sei deshalb 
von ihm getadelt und gestraft worden. Darauf habe der Knabe sich 
schweigend aber »blaß vor Wut« entfernt und durch eine Bemerkung 
des Bruders veranlaßt, sei der Zorn des gestraiten Knaben in geradezu 
fürchterlicher Weise ausgebrochen und der Knabe habe blind vor 
Erregung, die »schönen« Blumenbeete zerstampft. 

Ich bemühte mich in dem Verhalten des melancholischen Kindes 
zu seiner lebenden Umgebung dasselbe zu erkennen. Zu den Men- 
schen steht es in einem ganz besondern Verhältnis, was sich eines- 
teils in dem Verhalten des Kindes zur Umgebung, anderenteils in 
der Reaktion des Einflusses dieser Umgebung auf das Kind zeigt. 
Die nächsten Angehörigen machen hierbei leider keine Ausnahme. 
Je älter das Kind wird, desto mehr verschlimmert sich das Verhältnis 
mit seinem Vater. Beide leben eigentlich ohne jede Gemeinschaft. 
Der Vater hat beständig acht, ob das Kind sich auch nicht einer von 
ihm gestellten Aufgabe entzieht, läßt wohl dann und wann miß- 
billigende Worte fallen, die das Kind immer mehr verbittern. Und 
das Kind? Es erblickt in dem Vater nicht den väterlichen Freund 
und Berater, sondern den Plagegeist, der mit ernsten Mienen ihm die 
geringe Freude am Leben noch verkümmern will. Wildenbruch hat 
in einer seiner Erzählungen das Verhalten dieser Menschen ergreifend 
und wahrheitsgetreu geschildert. Es sind Mißtrauen, Argwohn und 
Vertrauenslosigkeit die ersten bösen Früchte, die das Erziehungssystem 
des melancholischen Vaters zeitigt, und die sich oft zwischen ihm 
und dem Kinde zuerst zeigen. Ein eingesegneter Sohn dieser Ge- 
fühlsanlage hatte seinen Vater im Zorn verlassen und kehrte erst 
zurück, als er des Vaters wieder bedurfte. Der cholerische Vater 
wird ebenso selten Zutrauen ernten wie der melancholische. Er 


298 A. Abhandlungen. 


fordert die Lösung der gestellten Aufgabe mit doppelter Heftigkeit, 
wenn dieselbe nicht eingebracht ist und wird, so können wir leicht 
erraten, damit weder guten Samen säen noch gute Früchte ernten. 
Der sanguinische Vater wird freilich sein melancholisches Mädchen 
oder seinen melancholischen Knaben gelegentlich zum Mittelpunkte 
eines Scherzes machen; aber bei dem allzeit gewinnenden Wesen 
dieses Vaters wird selten ein dauernder schädigender Einfluß auf das 
Kind ausgeübt werden. 

Wie verhält sich ein melancholisches Kind zu seinen Geschwistern 
und Klassengenossen? Den Geschwistern gegenüber hält es sich stets 
für den Benachteilten und Zurückgesetzten. Ich hatte Gelegenheit, 
einer Weihnachtsbescherung beizuwohnen. Es war interessant zu be- 
obachten, wie ein solches Kind seine neidischen Blicke erst über die 
Geschenke der andern schweifen ließ. Verteilt es Näschereien im Auf- 
trage der Eltern, so »verzählt« es sich oft und nicht zu seinem Schaden. 
Doch auch in dem Verhältnis dieses Schülers zu seinen Klassen- 
genossen spiegelt sich das Eigentümliche seiner Anlagen wieder. 
Freunde hat es wenig oder gar keine; denn Argwohn und Mißtrauen 
lassen es selten welche finden. Ein Knabe pflog keinen Verkehr mit 
den Schülern, weil sie ihn »so oft« bei seinem Kosenamen nannten, 
ein anderer, weil er glaubte, stets am meisten geschlagen zu werden, 
wenn die Kinder untereinander spielten. Ein Mädchen blieb für sich, 
weil es sich durch Fragen nach Aufgaben belästigt fühlte und dachte, 
die Fragenden »wollten immer abschreiben«. — Dem fernerstehenden 
Erwachsenen zeigt unser Kind sich gleichgültig oder starrköpfig. 

Wie steht es nun zum Lehrer? Ich stelle dies an den Schluß, 
da sich aus dem Vorhergegangenen schon einiges mit Gewißheit 
folgern läßt. Wie ein melancholisches Kind stets in heißen Kampf 
verwickelt ist für alles, was seine kleine Person angeht, studiert es 
unter den Gesichtspunkten des idiopathischen Prinzips auch seinen 
Lehrer und reiht ihn der Gruppe ein, die nach seiner Meinung für 
dasselbe von negativer oder positiver Bedeutung ist, trifft hiernach 
sein Verhalten und nüanciert seine Maßnahmen. Freundlichkeit wird 
oft als Hinterlist, berechtigte Strenge als beabsichtigte Härte gedeutet. 
Schon von Natur aus kommt es ihm mit größerer Kühle und Kälte 
entgegen als allen andern Personen. Erfüllt aber der Lehrer die 
Voraussetzungen, die das Kind an ihn stellt, wird es den Lehrer 
lieben und der Lehrer das Kind als den Träger seiner Klasse schätzen 
lernen. 

Das Verhalten unseres Schülers zu den Lebensnormen habe ich 
ins Auge gefaßt, um mich der Eigenart dieser Kinder zu vergewissern. 


Salzsieder: Wie habe ich mich bemüht in die Eigenart dor Kinder usw. 299 
Ich glaube nicht fehl zu gehen, wenn ich das melancholische Tempe- 
rament das Temperament des Rechts nenne. Damit will ich aber 
nicht die Seite herausgekehrt wissen, die vermöge großer Energie ein 
Recht gewaltsam fordert, also die rechthaberische, herrische — cho- 
lerische — Natur, sondern diejenige der emotionalen Sphäre, die, 
wenn sie nicht Schaden an ihrer seelischen Harmonie leiden soll, 
recht haben muß, wenn die dazu nötigen Unterlagen vorhanden sind, 
da ein so zartes und empfindsames Gemüt, wie das dieser Kinder, 
gerade in dieser Hinsicht so leicht zu verletzen ist, wodurch tief- 
gehende Schäden an Leib und Seele entstehen können. In den meisten 
Sachen, die das melancholische Kind angehen, ist es leicht zu Ver- 
allgemeinerungen geneigt, und aus zwei, drei Malen, in denen es nicht 
recht bekam, macht es wohl immer, und ein »Nicht-recht-behandelt« 
ist bei ihm gleichbedeutend mit »Nicht-recht-behandeln-wollen«. Dann 
wird solches Kind in seinem Pessimismus bestärkt und geht darin zu- 
grunde, es erhärtet sich gegen seinen Lehrer und wird ihn selten 
wieder lieb gewinnen. 

Nicht bei allen Sachen, das hat mich die Erfahrung gelehrt, muß 
man Eigensinn und Trotz wittern, wenn sich ein melancholisches Kind 
vergeht, als ich sein Verhalten zu den Höflichkeits- und Anstands- 
regeln ins Auge faßte. Ein Schüler wie der unsrige blickt, wenn er 
geht, weder rechts noch links, nicht nach hinten und nicht nach vorne, 
sondern hat die Augen meistens, seinem vorgebeugten Kopf ent- 
sprechend, zur Erde gekehrt; es entgeht ihm also nicht selten der zu 
Grüßende. Ich begegnete einst einem Knaben, ein andermal einem 
Mädchen: der Knabe sah mich erst als ich neben ihm ging — am 
plötzlichen Zusammenzucken merkte ich’s —, vor dem Mädchen kam 
ich ungesehen vorbei. Jedoch ist mir ein dritter Fall aus Äußerungen 
der Kinder selbst bekannt. Kin melancholisches Kind befindet sich 
oft in gedrückter Stimmung. Da ist ihm eine Begegnung mit Men- 
schen nicht nur äußerst unangenehm, sondern sogar lästig, und wenn 
dies Kind zu seinen guten Zeiten schon menschenscheu ist, so ist es 
solchen Zeiten und Augenblicken ein Menschenfeind und Menschen- 
verächter. Daher flieht es in Stunden solcher Seelendepression die 
Menschen, will nicht mit ihnen in Berührung und sucht, wenn irgend 
möglich, vor jedem unbemerkt vorbei zu kommen. Kinder sowohl 
als auch Erwachsene haben mir zuweilen geklagt, daß dieser Knabe 
oder jenes Mädchen nicht gegrüßt habe. Unter vier Augen zur Rede 
gestellt, haben mir diese Kinder einen tiefen Einblick in ihre jugend- 
lichen bedrückten Seelen weinend und klagend gewährt, und ich habe 
in vollstem Umfange an ihnen die Wahrheit des Wortes der geist- 


300 A. Abhandlungen. 

reichen Madame de Staël: »Tout comprendre c’est tout pardonner« 
würdigen gelernt. — Jedoch sind mir auch Fälle bekannt, in denen 
antimoralische Motive der Grund waren. 

Haben wir bisher die Ergebnisse der Beobachtungen der ob- 
jektiven Seite des melancholischen Kindes festgestellt, so ist nunmehr 
eine eingehende Analyse der inneren, subjektiven oder endopsychischen 
unsere Aufgabe. Ich hebe an mit dem Gedächtnis als der Vor- 
bedingung aller geistigen Anlagen und schicke das dem melancholischen 
Temperamente Eigenartige der dem Gedächtnis zugrunde liegenden 
Assoziations- und Apperzeptionsprozesse voran, wie es sich meiner 
Beobachtung bot. Ich fasse in diesem Betracht unser Temperament 
als das des Gegensatzes auf. Zur Begründung dieses Satzes diene 
folgendes: Man findet beim rein-melancholischen Temperamente nur 
einseitige Begabung, was aber nicht ausschließen soll, daß es in einem 
ihm ferner liegenden Gebiete sich doch zu einer Höhe emporschwingen 
kann, die die Schüler anderer Temperamente weit hinter sich läßt. 
So zeigt die intensive assoziativre Empfindungsverschmelzung der 
psychischen Elemente bei diesen Kindern eine auffallend geringe 
Intensität; manchmal kann von einer solchen überhaupt nicht die 
Rede sein. Bei polyphonen akustischen Reizen sind sie sich der 
Mehrheit der sie bildenden Töne nicht bewußt. Die extensive Emp- 
findungsverschmelzung dagegen, sofern sie unter aktiv-apperzeptivem 
Einflusse steht, als Vereinigung ungleichartiger Empfindungselemente 
geht eine ungleich festere Assoziation ein, im entgegengesetzten Falle 
aber bleibt sie meistens ganz aus. Dabei sind zur Aktivierung der- 
selben oft nicht nur bloß Bruchteile der ursprünglichen Reize fähig, 
sondern sogar schon entsprechende Erregungen. Bei der reproduktiven 
Assimilation fiel mir folgendes auf: Gegenüber der oft wenig genauen 
Assimilation der Vorstellungselemente, die ich bei den sechsjährigen 
und kaum sechsjährigen beobachtete, findet bei den älteren Kindern 
selten eine Inexaktheit statt, was als eine besondere Erscheinung den 
andern Kindern gegenüber hervorzuheben ist. Während die Kinder 
der andern Temperamente — das cholerische jedoch manchmal aus- 
geschlossen — z. B. undeutlich gehörte Worte sehr oft falsch oder 
gar nicht ergänzen, so tun ältere melancholische Kinder dies fast 
immer, Es beruht dies, wie weiter unten ausgeführt werden wird, 
auf der großen Stärke der willkürlich geistigen Aufmerksamkeit, also 
auf größerer Willensenergie. Auch hinsichtlich der Elimination der in 
den Assoziationsprodukten enthaltenen Elemente einzelner Vorstellungen 
nimmt das melancholische Temperament eine überragende Stellung 
ein. Das sanguinische Temperament eliminiert eine weitaus größere 


Salzsieder: Wie habe ich mich bemüht in die Eigenart der Kinder usw. 30%} 


Anzahl von Vorstellungen, manchmal sogar ganze Gruppen, und da 
auch das phlegmatische in dieser Hinsicht fast dem sanguinischen 
gleicht, ergibt sich für unsern Temperamentär ein sehr günstiges 
Resultat. Einer Beachtung verdienen auch die überspringenden Asso- 
ziationen. Ein sanguinisches Kind assoziiert in gewissen Fällen über- 
springend nie, obgleich es müßte, ein melancholisches dagegen eli- 
miniert die Mittelglieder oft schon bei den ersten Malen — dieselben 
Fälle angenommen. 

Haben wir bei den Assoziationsprozessen, die ganz ohne Einfluß: 
des Willens geschehen, schon einige dem melancholischen Tempe- 
ramente spezifische Prozesse vor uns, so tritt unter Mitwirkung der 
aktiren Apperzeption das Wesentliche dieser Kinder noch deutlicher 
zutage, das an Intensität und Qualität von denen der andern in ganz 
beträchtlichem Maße abweicht. Bei den intensiven assoziativen Emp- 
findungsverschmelzungen vermag freilich nicht die größte Anstrengung 
eine Veränderung hervorzurufen; ihre Vorstellungen bleiben an Klar- 
heit und Deutlichkeit weit hinter den der andern Temperamente 
zurück. Trifft einmal scheinbar das Gegenteil zu, hat man niemals 
ein reinmelancholisches Kind vor sich, vielleicht ein cholerisch-melan- 
cholisches oder ein sanguinisches mit gelegentlicher melancholischer 
Übertönung. Dagegen zeigen sich die schwarzgallischen Kinder in- 
folge ihres reizbaren Nervensystems sehr empfindlich gegen Geräusche 
jeder Art; aber bei diesen Vorstellungen treten seltsamerweise, wie 
bei denen der andern Temperamente die akzessorischen Elemente dem 
dominierenden gegenüber weniger in den Hintergrund. Auf die Frage: 
»Was hörst du noch?« wurden die Nebenelemente genannt. Ich 
glaube hierauf neben dem Hang zur Einsamkeit und der Bedeutung 
dieses angeführten Tatbestandes für den Jägerberuf die Vorliebe 
mancher melancholischer Kinder für denselben erklären zu können. 

Die aktive Apperzeption scheidet aus der großen Menge aller mög- 
lichen assoziativen Verbindungen diese oder jene aus und trifft hierbei 
fast immer die richtige. Woran liegt es? Die Seele des melancholischen 
Kindes befindet sich im Unterrichte in den ihm kongenialen Fächern 
fast dauernd im Zustande der Spannung oder der angestrengtesten 
Aufmerksamkeit. Durch die Frage des Lehrers wird der Vorstellungs- 
schatz, das Gedächtnis, in Erregung versetzt und es bieten sich eine 
große Anzahl der assoziativen Verbindungen dar. Bei Sanguinikern, 
Phlegmatikern, ja sogar Cholerikern stürmen diese Vorstellungen aus 
dem Blickfelde des Bewußtseins öfter ungeordnet in den Blickpunkt 
und sind weniger scharf umrissen. Dagegen erwägt das melancholische 
Kind vermöge größerer Konzentrationsenergie gewissenhafter und 


304 A. Abhandlungen. 


abstr. : konkr. 
ı Hit u: ; 
14 x 5 
12 >z 10 
35. + 29 
DH TR 
33. x 84 


Bei andern Mädchen und Knaben ergaben sich ähnliche Ver- 
hältnisse und die im mündlichen Verkehr gebrauchten ergaben im 
selben Begriffsverhältnis folgendes Resultat: 

a) bei mündlichen Unterhaltungen während der Pause an sechs 
verschiedenen Tagen: 


abstr. : konkr. 
14 37 
12 19 
5 4 
11 3 
25 6 
3 4 
b) im Unterrichte: 
abstr. : konkr. 
ee ' 
B.-5. 28 
Ki B 
#2: í 
gt d 


In demselben Verhältnisse etwa stehen auch die von den abstrakten 
Begriffen hergeleiteten Adjektiva zu den von den konkreten abgeleiteten. 
Jedoch trifft es auch zu, daß in dieser Hinsicht das umgekehrte Ver- 
hältnis in einigen Darstellungen stattfindet. Es mag ja immerhin das 
gerade zu behandelnde Thema nicht ohne Einfluß auf die Begriffs- 
verwertung und Begriffsgestaltung sein, aber das ist gewiß, daß die 
sachgemäße Anwendung von abstrakten Begriffen einen größeren Grad 
geistiger Anstrengung voraussetzt. Ich denke bei dieser Behauptung 
an Begriffe wie: »Störung, Bescheidenheit, Liebenswürdigkeit, Fried- 
fertigkeit« usw., die sich in den Aufsätzen eines Mädchen vorfanden. 
Bei der Begriffsverbindung überwiegt bei dem Melancholischen die 
Superordination, gegenüber dem Cholerischen, bei dem das Umgekehrte 
zutrifft. 

Eng zusammen mit den Begriffen gehört die Urteilsbildung; denn 
durch das Urteil löst das Kind seinen Gedanken auf, und daher kann 


Salzsieder: Wie habe ich mich bemüht in die Eigenart der Kinder usw. 305 


man auf Grund der Urteilsfärbung und Urteilsgestaltung wichtige 
Schlüsse auf die intellektuelle Erscheinungsform des Kindes machen. 
Es bildet das Urteil scheinbar das eigentliche Element dieses Kindes. 
Wie geht das Kind nun hierbei zu Werke und welches sind die 
Punkte, die auf ein melancholisches Kind hinweisen? Es wurde schon 
gesagt, daß die Intensität der intellektuellen Prozesse die aller andern 
Kinder übertrifft, sofern der wichtigste Faktor, die aktive Apperzeption, 
mitwirkt. Unter dem Bewußtsein der größtmöglichsten Anstrengung 
aller geistigen Kräfte ist dieses Kind geneigt, den dem Prädikatsbegriff 
in der Regel zukommenden variablen Charakter zu nehmen, was durch 
sprachliche Zusätze determinativer Art und, wenn auch seltener, dadurch 
geschieht, daß der verbale Modus durch Gegenstandsbegriffe ergänzt 
wird. Vor den analytischen Urteilen haben die synthetischen den 
Vorrang. Das abstrakte — singuläre — Urteil überwiegt in den Auf- 
sätzen und sonstigen Darstellungsweisen gegenüber den konkreten des 
gleichen Gebiets. Von den pluralen Urteilsformen überwiegen die 
kopulativen, von den Prädikatsformen des Urteils sind die explizierenden 
in größerer Mehrheit vorhanden. Bei der häufigen Anwendung dieser 
Urteilsformen unterläßt das melancholische Kind es nicht, in diesen 
Gedankengebilden eine Darstellungsform zu wählen, die seiner Be- 
hauptung nicht bloß den Charakter einer subjektiven, sondern einer 
objektiven, allgemeinen Gältigkeit verleiht. Es ist dies mit ein Grund, 
der seinen Altersgenossen den Verkehr mit ihm verleidet. Insbesondere 
verwandelt es auch die deskriptiven Urteile in solche. — Der Bau 
des Schlusses weist meistens noch eine große Einfachheit auf. Nur 
intellektuell sehr hochstehende Schüler machen hiervon eine Ausnahme. 
Analogieschlüsse werden mit weniger Genauigkeit erfaßt als die ent- 
gegengesetzten. Besonders erwähne ich noch ‚das kausale Denken. 
Auf diesem Gebiete vermag der Schüler eine große Gewandtheit und 
Sicherheit zu erringen, und es scheinen hierbei die Mädchen die 
Knaben zu übertreffen. Besonders zeichnen sich die Mädchen in der 
Erfassung des kausalen Prinzips in der Naturkunde und Geographie 
aus. Biologische Wahrheiten werden scharf und klar formuliert und 
Abstraktion und Übertragungen in der oben als der dem melancholischen 
Temperamente eigentümlichen angegebenen Weise erregen sichtlich ihr 
Interesse. Bei der schwierigsten Entwicklung sind diese Kinder oft 
die einzigen, die in dem angebahnten Gedankenkreise folgen können., 
Im Gegensatz zu den Mädchen haben die Knaben eine größere Vor- 
liebe für Raumlehre und Rechnen. Neben dem bisher behandelten 
theoretischen Denken erwähne ich noch das praktische als eine von 
der ersten völlig verschiedenen Seite des Kindes. Ich verstehe hierunter 


306 A. Abhandlungen. 


die Betätigung des Denkens im praktischen Leben, »wie es an den 
Schüler in allen möglichen Lagen herantritt, die Schule ausgenommen«. 
Der Gedankenverlauf vollzieht auch hier wie im theoretischen Denken 
meistens ohne jegliche fremde Suggestion. Aber hierbei haben die 
Urteile meistens einen subjektiven Charakter an sich, gegenüber der 
objektiven Färbung im theoretischen Denken. Die vorhin gerühmte 
Deutlichkeit der Begriffe im theoretischen fehlt im praktischen. Ich 
habe oft beobachtet, daß ein melancholischer Schüler zu jener List 
bei seinen sophistischen Beweisführungen im praktischen Denken greift, 
die einige der Untermerkmale des Begriffs als die bestimmenden 
hinstellt, die gerade für seine jetzige Lage von Vorteil sein können, 
gleichsam als müsse er mit den bitteren Verhältnissen des Lebens 
Rechnung tragen. Es mag mit dem fließenden Denkinhalt dieser Be- 
griffe die Unentschlossenheit des Kindes im gewöhnlichen Leben mit 
begründet sein, die es zu keiner eigentlichen Ruhe im Leben als dem 
Inbegriff des steten, unaufhörlichen Kampfes kommen läßt. 

Fassen wir die im Laufe eines Halbjahres erreichten Kenntnisse 
ins Auge, so ergibt sich: das melancholische Kind hat in den Fächern, 
in welchen es mit Lust und Liebe arbeitet, einen ungleich größeren 
Fortschritt gemacht, als seine Klassengenossen. Andere Gebiete freilich 
sind zurückgeblieben; und zwar sind die intraindividuellen Differenzen 
der intellektuellen Sphäre bei weitem größer als bei jedem anderen 
Schüler eines anderen Temperamentes. Dazu kommt, daß der Schüler 
sein Interesse oft Gebieten zuwendet, die noch außerhalb seiner 
Fassungskraft liegen, wozu eine übermäßige Anstrengung nötig ge- 
macht wird, die das körperliche und geistige Gleichgewicht stören 
können. Die angestrengte Geistesarbeit in seinen Lieblingsfächern 
aber hat den Vorteil, daß dem Schüler eine größere geistige Gewandt- 
heit eigen wird, wodurch auch die anderen Fächer indirekt in positivem 
Sinne beeinflußt werden. 

Mit dem Vorhergehenden haben wir die umfangreiche intellek- 
tuelle Sphäre abgeschlossen und ich lasse in der Betrachtung die 
emotionale folgen, da auch diese nicht frei von Besonderheiten ist, 
die zudem noch, dem Irradiationsgesetz zufolge, einen bedeutenden 
Einfluß auf das Vorstellungs- und’ Willensleben ausüben. 

Die Gefühlsaktivität der Kinder dieser melancholischen Gefühls- 
anlage ist düster. Diese düstere Gefühlsaktivität schließt zwar die 
negativen Gefühlsfaktoren als solche nicht immer bedingungslos ein, 
aber bei ihr ist die Möglichkeit solcher eher gegeben. Dadurch 
werden nun die ethischen Gefühle beeinträchtigt. Es ist eine tägliche 
Erfahrung, daß dieser Knabe oder jenes Mädchen sich nicht traut, 


Salzsieder: Wie habe ich mich bemüht in die Eigenart der Kinder usw. 307 


eine mündliche Zusammenfassung zu geben: sind aber die negativen 
Gefühlsfaktoren durch aufmunternde Worte des Lehrers in den Hinter- 
grund gedrängt, so kommt eine hübsche, fast fehlerfreie Leistung zum 
Vorschein. Durch diese düstere Gefühlsaktivität aber kann auch das 
Pflichtgefühl verletzt werden. Ich versuche dies aus dem häuslichen 
Leben zu erklären, wie es sich meiner Beobachtung und Über- 
legung bot. Meine hiesigen Kinder, die melancholischen mit ein- 
geschlossen, haben nicht recht eine bestimmte Arbeitszeit, in der sie 
sich zur Erledigung ihrer Schularbeiten «setzen. Ist nun der Zeit- 
punkt, den das Kind zum Arbeiten geeignet hält, gekommen, so trifft 
es zunächst die Vorbereitungen zur Arbeit: es holt die Bücher, säubert 
den Tisch, holt einen Stuhl, usw. Es folgt das Stadium der Sammlung. 
Hierauf erinnert sich das Kind der Aufgaben und konzentriert die 
Gedanken auf das Stoffgebiet, das es, schriftlich etwa bearbeiten will 
und soll. Hierbei drehen sich aktive und passive Lust- und Unlust- 
gefühle in munterem Wechsel in der kindlichen Seele. Die passiven 
beider müssen als die den Wert der Arbeit beeinträchtigenden Faktoren 
heruntergedrückt werden. Bei der düsteren Gefühlsaktivität aber sind 
diese Bestandteile meistens stärker, die Impression von größerer Nach- 
haltigkeit und die Gefühlsassoziation der negativen Faktoren intensiver, 
mithin auch die Einwirkung auf die aktiven eindrücklicher, was sich 
wieder in geringerer Widerstandsfähigkeit und Lebensfähigkeit dieser 
äußert. Einesteils sind daher zur Neutralisierung der negativen 
Faktoren stärkere Seelenkräfte und längere Zeit nötig, anderesteils 
müssen auch die positiven, um eine brauchbare Arbeit zu gewähr- 
leisten, wieder auf das vorige Niveau gebracht werden. Da aber die 
Kinder oft zu häuslichen und anderen Arbeiten herangezogen werden, 
nicht selten auch zu einer Zeit, in der sie mit der Bewältigung ihrer 
Schulaufgaben noch nicht zum Ziele gekommen sind, kann die in- 
tensive Durcharbeitung der Aufgaben, weil das melancholische Kind 
so mehr Zeit als unter normalen Umständen zur Einstellung der Arbeit 
nötig hat, beträchtlich leiden und geschieht dies öfter, so kann sich 
im Laufe der Zeit ein zweifelndes Schwanken in der Auffassung des 
Pflichtbegriffs geltend machen, was allmählich zur Verflachung des- 
selben führen kann. Freilich liegt auch, wenn der Lehrer das Kind 
wegen schlechter Anfertigung der Arbeiten ohne Anhörung der Gründe 
und genügender Prüfung derselben die Möglichkeit nahe, daß die 
elterlichen Maßnahmen wie auch die des Lehrers erheblich zur Ver- 
schlimmerung des Verhältnisses des Kindes zu diesen Personen beitragen. 

Die vorhin besprochene düstere Gefühlsaktivität kann aber auch 
zur Erhöhung der Energie mitwirken. Der melancholische Schüler 


308 A. Abhandlungen. 





gewinnt dem Leben selten die helle Seite ab, für ihn ist alles 
bitterster, schwerster Ernst. Er malt sich seine Zukunft in den 
düstersten Farben aus. Überall und in allem sieht er Hemmnisse 
und Hindernisse. Da er auch leben will und muß, so treibt ihn seine 
düstere Gefühlsaktivität an, seine Energie zu erhöhen, ja seine Kräfte 
zu verdoppeln, um sich eine hinreichende Existenz zu sichern; denn 
ein Mensch, der Schüler nicht ausgenommen, welcher alles im rosigsten 
Lichte sieht, wird selten nötig haben sich anzustrengen. Somit lebt 
der Melancholiker in der Zukunft auf Kosten düsterer Vergangenheit, 
der Sangniniker hingegen in der Gegenwart. 

Auch die Gefühlspassivität leidet unter ungeheurer Seelendepression, 
die auf das ganze Seelenleben des Kindes den allerbedenklichsten Ein- 
fluß ausübt. Die Willensaktivität wird oft in ganz kurzer Zeit ge- 
lähmt. Ich schildere im folgenden die Zustände des schon oben er- 
wähnten Mädchens. Daselbe verfällt oft im lebhaftesten Unterricht 
plötzlich in eine motivlose Traurigkeit, was sieh in träumendem Hin- 
starren und auch Weinen kundtut. Fragen werden dann fast niemals 
beantwortet, zum Aufstehen braucht es oft mehr als eine Minute. Die 
Dauer dieses krankhaften Zustandes ist von verschiedener Länge und 
Heftigkeit. Bei diesem Kinde treten diese Angstzustände auch Nachts 
im Traume auf, wie es mir gelegentlich erzählte. Noch schlimmer 
waren diese pathologischen Zustände bei einem Knaben. Dieser ver- 
fiel in der Schule in Angstzustände von erheblicher Heftigkeit. Dazu 
traten Angstschweiß und Zittern der Extremitäten, besonders der 
oberen ein. Die geringste Kleinigkeit konnte solche Angstzustände 
auslösen. Der Knabe konnte dann nicht die einfachsten Fragen aus 
dem Einmaleins beantworten. Manchmal antwortete das Kind gar 
nicht oder seine Antworten berührten ein ganz anderes Sachgebiet 
als das behandelte. So wurde beispielsweise auf die Frage: »Wer 
befreite die Kinder Israel von den Midianitern ?« geantwortet: 
»Napoleon.«e (Behandelt wurde die Geschichte Gideons.) Die Dis- 
position zu solchen Zuständen wird in dieser Familie durch regel- 
mäßigen Alkoholgenuß gestärkt; selbst die Kinder erhalten täglich 
Bier. Ja ich habe die verheerenden Folgen des Alkoholismus der 
Eltern an ihren nachfolgenden Generationen nie so überwältigend 
schädigend auf die ganze psychische Harmonie des Kindes einwirken 
sehen als gerade bei dem melancholischen Temperamente. Ein noch 
zu erwähnender Knabe litt an ähnlichen psychopathischen Zu- 
ständen. Bei diesem erstreckte sich der lähmende Einfluß solcher 
Anfälle in der Regel auf die vom Sprachzentrum ausgehenden moto- 
rischen Nerven und die Symptome, die sich in solchen Fällen meiner 


Salzsieder: Wie habe ich mich bemüht in die Eigenart der Kinder usw. 309 


Beobachtung boten, waren die der ataktischen Aphasie Die krank- 
haften Erscheinungen nahmen an Häufigkeit und Heftigkeit in den 
beiden letzten Schuljahren bei den Mädchen und bei den Knaben im 
letzten zu. Nach den Ferien waren diese Kinder mit Ausnahme des- 
jenigen, das Alkohol zu sich nahm, wie umgewandelt. Sie blieben 
nicht nur 14 Tage bis 3 Wochen von solchen Anfällen verschont, 
sondern ihr sonst oft so sprödes Verhalten zu den Klassengenossen 
war gemildert, und sie trugen ein viel freundlicheres Wesen zur Schau 
als sonst. Aus dem gänzlich umgewandelten Verhalten des Kindes 
nach den Ferien glaube ich schließen zu können, daß die mit der 
Gefühlsanlage zusammenhängenden anormalen Gefühlsäußerungen aber 
auch mit der auf Anämie basierenden geringeren Nahrungsverwertung 
beruhenden Unterernährung des Nervensystems in Zusammenhang 
stehen, also allgemeine nervöse Störungen sind, welche bei syste- 
matischer Bekämpfung der Neurasthenie gemildert werden könnten. 
Jedoch liegt bei depressivem Charakter dieser Gefühle, welchen Ur- 
sprungs sie auch sein mögen, die Gefahr nahe, daß sie zu völliger 
Umnachtung weniger des Kindes als vielmehr der erwachsenen Person 
führen können. Das alltägliche Leben sowohl als auch das der Denker, 
Dichter und Helden bietet hierfür hinreichende Belege. 

Die ethischen Gefühle der melancholischen Kinder sind sehr 
empfindsam. Jedoch muß man, will man ein hinreichendes Bild von 
ihnen haben, zwei Arten von diesen melancholischen Kindern scharf 
unterscheiden: die moralisch verdorbenen und die moralisch guten; 
denn dieses Temperament birgt die denkbar schlechtesten, aber auch 
die besten Kinder. So hatte ich einen Knaben in der Schule, wie 
ich ihn mir in seinen Leistungen nicht besser denken konnte; aber 
ich glaube auch kaum einen moralisch verderbteren jemals wieder zu 
bekommen. Er log, wo er nur konnte, er übervorteilte die Klassen- 
genossen, wo sich nur Gelegenheit bot; er widersetzte sich, wenn er 
gestraft werden sollte; er beraubte, plünderte und zerstörte alle Vogel- 
nester, die er nur erreichen konnte; er quälte die kleinen Tierchen 
auf entsetzliche Art zu Tode; er ließ fast keinen Durchreisenden un- 
behelligt und schließlich verleitete und verführte er seine Mitschüler 
zu denselben Unarten und Roheiten; er rauchte, wo es nur möglich 
war, er entzog sich dem Unterricht, wenn es ihm nicht zu kommen 
paßte usw. Ganz das Gegenteil von diesem bösartigen Knaben ist 
das Mädchen, welches zurzeit den ersten Platz in meiner Schule inne 
hat. Es hat ein reinmelancholisches Temperament und übertrifft in 
jeder Hinsicht — Gesang, Zeichnen, Turnen ausgenommen — alle 
Kinder. Sie ist das fleißigste und aufmerksamste Mädchen und in 

Zeitschrift für Kinderforschung. 25. Jahrgang. 21 


310 A. Abhandlungen. 

intellektueller Hinsicht das tüchtigste Mädchen; es hat meines Wissens 
nach niemals gelogen und ich glaube nicht, daß es jemals auf den 
Gedanken kommen wird, weder ihre Mitschüler noch ihren Lehrer 
zu betrügen. In bezug auf die sympathischen Gefühle ist dasselbe 
zu sagen. 

Auch das religiöse Leben der Kinder habe ich beobachtet, als 
ich mich bemühte, in die Eigenart der Kinder dieses Temperaments 
einzudringen. Ich weiß nicht, ob es nur eine zufällige traurige Er- 
fahrung ist, die ich in bezug auf das religiöse Leben der Kinder ge- 
macht habe. Keines dieser Kinder hat mir auf die Frage: »Betest 
du am Abende?« ein Ja geantwortet. Dabei fällt es schwer ins Ge- 
wicht, daß die ersten zarten Keime des religiösen Bewußtseins im 
Elternhause nicht geweckt, sondern noch roh vernachlässigt werden. 
So kannte der oben besagte Knabe, der schon bis zum großen F lesen 
konnte, als er zur Schule kam, noch nicht das Wort Gott und Jesus. 
Er verfügte über keine einzige Vorstellung aus der Religion. Das 
ganze Haus leidet unter einer schreienden Gottlosigkeit. Die Eltern 
der meisten melancholischen Kinder sind die ganzen zwei Jahre 
meines hiesigen Aufenthaltes auch nicht ein einziges Mal zur Kirche 
gekommen, besondere Fälle wie Beerdigung in ihrem Hause oder 
Konfirmation ausgenommen. In manchen Häusern wird überhaupt 
kein Unterschied zwischen Sonntag und Alltag gemacht. An beiden 
Tagen wird gleich viel gearbeitet, Hausarbeit und sogar Feldarbeit 
wird am Sonntag wie Werktag getrieben. Eine nähere Begründung 
dieses traurigen Tatbestandes gehört nicht in den Rahmen dieser 
Arbeit. Es braucht wohl kaum gesagt zu werden, daß solche MiB- 
stände die Kindesseele knicken müssen. 

Doch auch durch allerhand andere Einflüsse wird das religiöse 
Leben des Kindes beeinträchtigt. Da hat z. B. ein melancholisches Kind 
irgend etwas, was es gerade verwenden möchte, verloren, es sucht 
wohl stundenlang, ohne auch nur eine Miene zu verziehen, im Innern 
aber verändert sich der Zustand erheblich. Mit jeder Minute wird 
es mehr in Erregung versetzt, und wird der verlorene Gegenstand 
nicht gefunden, so kommt der langverhaltene Zorn des Kindes in 
geradezu fürchterlicher Weise zum Ausbruch. Die kleinste Sache 
steht ihm dann im Wege und die geringste Kleinigkeit kann seinen 
Zorn verdoppeln. Es verschwört sich gegen Himmel und Hölle, Eltern 
und Geschwister, und der kleine Trotzkopf kriegt es fertig, sich vor- 
zunehmen, solange nicht zu beten, bis der vermißte Gegenstand ge- 
funden ist. Er kann das ganze Haus in Bewegung bringen. 

Der größte Schaden aber, den sowohl die falsche Erziehung im 








Salzsieder: Wie habe ich mich bemüht in die Eigenart der Kinder usw. 311 





Elternhause als auch die zeitweilige religiöse Entartung zeitigen, besteht 
nicht in den gelegentlichen Trübungen des religiösen Bewußtseins, 
sondern darin, daß dieses in ein antireligiöses umschlagen kann. Doch 
glaube ich, daß die Schäden tiefgreifender sind, die durch oberfläch- 
liche religiöse Bildung entstehen, als die, die dadurch erwachsen, daß 
das Kind etwa bis zum 6. Jahre überhaupt nicht mit religiösen Dingen 
in Berührung kommt. Denn gerade bei diesen habe ich ein tiefes 
religiöses Bedürfnis gefunden. Schopenhauers sämtliche philosophische 
Schriften beweisen die äußerste Gefahr einer verflachten, an äußer- 
lichen Dingen kleben bleibenden religiösen Jugendbildung. 

Mit wenigen Worten gedenke ich auch noch des Einflusses der 
Gefühle auf die Assoziations- und Apperzeptionsprozesse. — Einen 
Einfluß haben die Gefühle bei allen Temperamenten, aber er ist recht 
verschieden groß. So hebt das sanguinische Kind schon den Finger, 
wenn es sich der richtigen Antwort noch nicht, wohl aber des be- 
glückenden Gefühls derselben bewußt ist. Es steht hier der Apper- 
zeptionswert der Vorstellung somit in gar keinem Verhältnis zu der 
Intensität des Gefühls. Dagegen erhebt sich beim melancholischen 
Temperament die Intensität des Gefühls wenig über den Indifferenz- 
punkt des Gefühlskontinuums, was seinen Grund zum Teil in der Über- 
täubung dieser Gefühle durch die depressiven hat und wodurch die 
Intensität der intellektuellen Prozesse nachteilig beeinflußt werden kann. 

Ich fand auch, als ich mich bemühte, in die Eigenart dieser 
Kinder einzudringen, daß die rechten melancholischen Knaben und 
Mädchen keine Musenkinder sind. Über die musikalische Begabung 
wurde schon gesprochen und ich bemerke nur noch, daß solch ein 
Kind in den extremsten Fällen nicht einmal Sinn für Rhythmik hat. 
"Das logische Lesen tritt bei diesen Kindern in Vordergrund gegen- 
über dem ästhetischen bei den sanguinischen Kindern. Gefühl für 
Symmetrie ist wenig vorhanden. Die Schrift ist zwar sorgfältig, aber 
sie entbehrt der gefälligen Formen, die meistens die Schriftzüge des 
sanguinischen Kindes aufweisen. Die steile Richtung der Buchstaben 
und die meist schlechte Form, die unkundige Personen für Nach- 
lässigkeit deuten mit den hänfig nicht fehlenden Zügen, in denen die 
Graphologie Selbstsucht und Eigenliebe zu erkennen meint, verleihen 
der Schrift ein gewisses trotziges Aussehen. 

Wie habe ich nun versucht, auch das Willensleben des melan- 
cholischen Kindes zu erforschen? Ich habe diese Seite meiner prak- 
tischen Beobachtung für den wichtigsten und schwierigsten Teil meiner 
Aufgabe gehalten. Für den schwierigsten, weil diese Kinder in dieser 
Hinsicht sehr wenig zugänglich sind: für den wichtigsten, weil einzig 

21* 


312 A. Abhandlungen. 


und allein der Wille einer moralischen Beurteilung unterliegen kann, 
den wirklichen Kern des Menschen bildet und somit den eigentlichen 
Wert des Schülers ausmacht. 

Von den niederen Trieben werden der Bewegungs- und Nahrungs- 
trieb sehr oft arg vernachlässigt. Das Kind sitzt lieber in der Stube 
und träumt, als daß es sich mit seinen Mitschülern herumtummelt. 
Es beschäftigt sich lieber mit geistiger Arbeit als mit den Klassen- 
genossen Spaziergänge und Ausflüge zu unternehmen. Es sitzt oft 
stundenlang über den Büchern und versäumt hierüber die Mahlzeiten, 
ißt dann schnell, um seinen Beschäftigungen wieder nachgehen zu 
können. Hierunter muß allmählich die physische Konstitution des 
Kindes leiden. 

Die höheren Triebe leiden unter zu großer Einseitigkeit. Bei der 
meist guten Begabung des melancholischen Kindes entwickelt sich bei 
ihm ein Wissensdurst, dem es einseitig nachgeht, worunter die Ent- 
wicklung der anderen Triebe, meist des Geselligkeitstriebes leidet. 

Die Aktivität des Willens leidet oft in bedenklichem Maße unter 
der Wucht der die Energie herabdrückenden Gefühle depressiven 
Charakters. Bei dem motivlosen plötzlichen Auftreten der Angst- 
und Traurigkeitszustände wird die Willensaktivität sehr bald gelähmt. 
Haben die düsteren Gefühle einen mehr gleichschwebenden Charakter, 
so ist die Einwirkung auf das Willensleben und die Beeinträchtigung 
chronisch. Über den positiven Wert auf die Aktivität des Willens 
wurde schon gesprochen. | 

Eine auffallende Verschiedenheit ergibt sich vor der der anderen 
Temperamente, wenn man die Stärke der gefaßten Schlüsse vergleicht. 
In diesem Betracht bildet das sanguinische Kind den lebhaftesten 
Gegensatz zum melancholischen: das eine entschließt sich so leicht 
als das andere sich schwer entschließt. Alle Motive und Gegenmotive 
werden vom melancholischen sorgsam. überdacht, und dabei spielt die 
jeweilige Gefühlslage oft, nicht immer, eine bedeutende Rolle und 
bewirkt bald ein Steigen, bald ein Sinken der Gegenmotive und Motive. 
Es überlegt alle Vorteile und Nachteile, die die Ausführung und 
Durchführung des Entschlusses mit sich bringt. Aber von dem ein- 
mal begonnenen Vorhaben läßt es sich durch nichts mehr abbringen. 
Die Durchführung solcher Willenshandlungen wird mit der ganzen 
Kraft bewerkstelligt, wobei dem Verstand als einem fördernden Faktor 
in der Entstehung und Fortführung dieser Handlungen eine überaus 
wichtige Rolle zuerteilt wird, die er aber nicht immer in Einklang 
mit den sittlichen Maximen löst. Manchmal führt es die einmal be- 
gonnenen Willenshandlungen auch dann durch, wenn es im Verlaufe 


Salzsieder: Wie habe ich mich bemüht in die Eigenart der Kinder usw. 313 


derselben von ihrer Wertlosigkeit überzeugt worden ist, also nur, um 
seinen Willen durchzusetzen. Diese große Intensität der gefaßten 
Entschlüsse läßt nun seine Willensaktivität oft zur Leidenschaft aus- 
arten und diese erreicht bei ihm eine Stärke, wie sie keinem anderen 
Temperamente eigen ist. Es achtet dann weder die Mitschüler und 
ihre Interessen noch alles, was sich bei ihm dabei in den Weg stellt, 
alles wird Mittel zum Zweck und nichts wird heilig gehalten. Sitt- 
liche und religiöse Grundsätze tritt das Kind dann mit Füßen und 
nicht einmal sein körperliches Wohl wird dann geachtet, auf welches 
es sonst so großen Wert legt. 

Alle Vorgänge, Gegenstände, Handlungen seiner selbst wie auch 
anderer werden unter dem Gesichtspunkt des idiopathischen Prinzips 
betrachtet; denn überall wittert unser kleiner Schüler Gefahr und 
dieser aus dem Wege zu gehen ist sein beständiger Grundsatz. 
Turnen und Freiübungen sind hierbei nicht ausgeschlossen. Im zag- 
haften Angreifen erkennt man sofort sein Kind. Es sind daher auch 
von den wirklich zur Wirksamkeit gelangenden Motiven die aus 
Egoismus geborenen die weitaus häufigsten; selbst bei den Kindern, 
die man für die sittlich besten hält, sind rein altruistische Motive 
selten. Hebung und Förderung des eignen Wohlergehens erscheint 
ihm als der erstrebenswerteste Zweck. 

Das melancholische Kind ist sehr schwer erregbar. Daher droht 
eine gewisse, oft sogar absolute Willenspassivität den Vorrang zu er- 
ringen, die durch die körperliche Grundlage des Temperaments noch 
unterstützt wird. So hatte ich einen Knaben in der Unterstufe, der 
im ersten Halbjahr des ersten schulpflichtigen Jahres nur sehr wenige 
Buchstaben lernte, dagegen im zweiten Halbjahr alles Versäumte 
nachholte und vom letzten Platz auf den zweiten kam. 

Bei besonderen Gelegenheiten habe ich diese Kinder schließlich 
beobachtet, um die Eigentümlichkeiten nach möglichst vielen Rich- 
tungen zu erfassen. Wie verhält sich das Kind in den Ferien? Es 
vertreibt die Zeit in ihnen meistens mit geistiger Arbeit, die stets 
streng individuellen Charakter an sich trägt. Es lernt ernste Ge- 
dichte, die ihm gefallen, fertigt Aufsätze an, von denen es vermutet, 
daß sie nach den-Ferien in Reinschrift abgeliefert werden, liest Bio- 
graphien usw. Wird es zu Haus- und Feldarbeit herangezogen, so 
bringt das melancholische Kind nicht selten Ärger in die Familie; 
denn es macht oft vieles verkehrt, da es auch bei körperlicher Arbeit 
meist seinen eigenen Gedanken nachgeht. So erzählte mir ein jetzt 
eingesegneter Knabe, daß er in den Ferien sehr getadelt worden sei, 
weil er ein Ackerstück sehr verkehrt gepflügt habe. Warum? Weil 


314 A. Abhandlungen. 

er hinter dem Pfluge sich eine eigene Anschauung über die Kant- 
Laplacesche Theorie gebildet habe, über die er in den Ferien gelesen 
hatte. Ein anderer erzählte mir, er habe schon oft gedacht, was ein 
Bauer wohl für Gedanken in seinem Kopfe habe, wenn er hinter dem 
Pfluge hergehe. Melancholische Kinder sind es auch, die dann so 
oft zu hören kriegen: »Ich möchte mal wissen, wie es wohl in deinem 
Schädel aussieht« und die der Unkundige für Schlafmützen und 
Träumer hält. Überall steht bei diesem Kinde das geistige Leben im 
Vordergrunde. 

Wie verhält sich das Kind bei der Strafe? Sie ist selten, meistens 
niemals nötig, alle acht Schuljahre mit einbegriffen. Sollte ausnahms- 
weise einmal körperliche Züchtigung sogar notwendig sein, so wird 
das Kind auch nicht die geringste Miene verziehen, auch keine Träne 
vergießen, so sehr es auch in seinem Innern kochen mag. 

Auch bei Ausflügen und Spaziergängen habe ich meine melan- 
cholischen Kinder beobachtet. Es war interessant zu sehen, wie die 
Kinder mit ihrem vom Vater zu solchen Zwecken bewilligtem Gelde 
wirtschafteten. Hatte derselbe, wenn er gleichen Temperaments war, 
seinen Kindern schon wenig mitgegeben, so brachten diese stets noch 
etwas mit nach Hause, um sich ein Lob zu erwerben, auf das sie 
freilich wohl lange genug warten mußten. Ein Mädchen hatte zu 
einem Ausfluge 90 Pfennig mitbekommen, von welchen es noch 
20 Pfennig wieder zurück brachte. Kaffee zu trinken hatte es auf 
Geheiß des Vaters abgelehnt, und 50 Pfennig allein schon kostete 
das Bahngeld. Gelegentlich beobachtete ich freilich auch, daß diesen 
Kindern von der Mutter noch ein kleiner Zuschuß bewilligt war; 
denn ich hörte hin und wieder, wenn ich ihnen einige ermahnende 
Worte zukommen lassen wollte: »Das habe ich ja von Muttern.« 
Auf solchen Ausflügen und Gängen sahen diese Kinder wenig, aber 
dieses wenige wurde aufs genaueste beobachtet und kritisiert. Es 
verlangte oft aufklärende Fragen und ich bin durch die tiefe und 
ernste Lebensauffassung dieser Kinder oft in Erstaunen, manchmal 
aber auch durch schwierige und sonderbare Fragen in Verlegenheit 


gebracht worden. 


* x 
* 


Mit dem Vorstehenden hahe ich den ersten Hauptteil meiner 
Arbeit erledigt und lasse die Folgerungen sich anschließen, die ich 
aus den Beobachtungen des Kindes für seine Behandlung gezogen 
habe. 

Der Born, in dem das Kind seine ganze äußere und innere Ge- 
staltung empfängt, ist das Elternhaus. Es bildet den gewaltigsten 


Salzsieder: Wie habe ich mich bemüht in die Eigenart der Kinder usw. 315 





Erziehungsfaktor, und eine segensreiche Arbeit von Erziehung und 
Unterricht von seiten der Schule ist nicht denkbar ohne dessen 
Mitarbeit; denn es ist der Urgrund aller Erziehung. Daher habe ich 
eine Hauptaufgabe meiner Erziehungsmaßnahmen darin gesehen, daß 
ich mich eins wußte mit ihm und mein Verkehr in den Elternhäusern, 
besonders aber in denen, in welchen ich melancholische Kinder ver- 
mutete, mußte ich die Mutter die wichtige Erziehung ihrer Kinder als 
eine Erhöhung der eigenen Lebenszwecke auffassen lehren und dem 
melancholischen Vater mußte zum Bewußtsein gebracht werden, daß 
die höchsten und herrlichsten Pflichten ihm seine eigenen Kinder 
auferlegen. Er mußte den Schwerpunkt aus sich selbst in seine 
Kinder und die Familie verlegen und sie selbst mußte an Lebendigkeit 
und Verinnerlichung gewinnen, denn »quand la famille est vivante et 
anim6Ge les soins domestiques font la plus chère occupation de la femme 
et le plus doux amusement du mari«: (Emile, Libre I, p. 15). 

Aber das Elternhaus eines melancholischen Kindes ist nicht frei 
von großer Einseitigkeit und daher galt es diese zu bekämpfen. Ich 
habe die Eltern auf die Gefahr der frühzeitigen Anstrengung ihrer 
Kinder hingewiesen und habe meine Worte auf konkrete Beispiele 
gestützt. Wenn eine Mutter so töricht war, ihren Sohn morgens um 
5 Uhr aufstehen zu lassen um das Gelernte wiederholen zu können, 
so war ein Einschreiten von seiten des Lehrers von Notwendigkeit, und 
wenn ein Vater sein Kind abends nach der Feldarbeit allein bis 10 
und 11 Uhr die Schularbeiten erledigen ließ, so war auch hier ein 
Eingreifen unerläßlich. Daraufhin habe ich mich den Eltern und 
Kindern gegenüber erboten, ihnen bei der Anfertigung ihrer Arbeiten 
behilflich zu sein, wenn sie dieselben nicht verständen und dadurch 
die Arbeitszeit über Gebühr verlängert würde. Die Kinder sind ge- 
kommen; sie haben mich um Rat gefragt und ich half ihnen, wodurch 
ich die weniger gute Anfertigung von häuslichen Arbeiten bekämpft, 
zu einem glücklicheren Verkehr zwischen Lehrer und Schüler bei- 
getragen und die Kluft, die oft zwischen Elternhaus und Schule gähnt, 
zu überbrücken versucht habe. 

Einen heikleren Punkt in der Ausprache zwischen Lehrer und 
Eltern bildete die Darlegung der Notwendigkeit des Verkehrs 
des Kindes mit Klassengenossen. Insbesondere der Vater wollte die 
Nötigung dieses nicht einsehen; er konnte nicht begreifen, daß 
ein Kind mit anderen verkehren muß damit sich die scharfen 
Kanten seines Temperaments in der Berührung mit der von Feuer 
und Leben sprühenden Kinderwelt abschleifen, daß sein Sohn oder 
seine Tochter erst lernen muß den Gesetzen der Kinderwelt zu ge- 


316 A. Abhandlungen. 


horchen, um den Rechtsnormen des Staates und den sozialen 
Forderungen gerecht werden zu können. Ich habe versucht, dem 
Vater den hohen Wert edler, aufrichtiger Jugendfreundschaften klar- 
zumachen und empfahl ihm seinen Sohn mit einem gleichaltrigen 
sanguinischen Knaben verkehren zu lassen; denn gerade ein sangu- 
inisches Kind kann ein melancholisches aufs beste beeinflussen. Aber 
es wurde mir geantwortet: »Mit solchem Windhund hat mein Sohn 
nichts gemein.« Derselbe hat aber trotzdem den trübsinnigen Klassen- 
bruder aufgesucht und sein Vater läßt es geschehen. Der Melan- 
choliker hat bedeutend an Lebhaftigkeit gewonnen. Während dieser 
Knabe vom 1. April bis 18. Juli auch nicht eine einzige Miene ver- 
zogen hatte, kein einziges Mal fröhlich, es nicht einmal gewesen war, 
wenn die ganze Klasse gelacht hatte, habe ich ihn jetzt sogar schon 
einmal »ausgelassen« gesehen. Ein melancholisches Kind muß sich 
ausleben, beim sanguinischen spricht man besser vom Sichein-leben. 

Ich habe die Eltern auf die äußerste Notwendigkeit einer reli- 
giösen Herzensbildung hinweisen müssen. Ich habe es getan, soweit 
es nicht über die Grenzen meines Berufs hinausging, um meinen 
Pflichten zu genügen. Die Aufgabe war nicht leicht. Wenn ein 
melancholischer Vater, der zudem noch materialistisch gesinnt ist, 
seinen Geist willkürlich gegen Erörterungen verschließt, ist es nicht 
leicht, zu bestimmen, für eine religiöse Herzensbildung seines Sohnes 
Sorge zu tragen. Seit einiger Zeit versichert jedoch der Knabe, zu 
beten, und ich habe keinen Grund anzunehmen, daß er lügt. 

Auch die Personen, die neben den elterlichen und geschwister- 
lichen noch Einfluß auf das Kind ausübten, habe ich auf die Ver- 
antwortlichkeit ihres Tuns aufmerksam machen müssen, wenn ich 
hörte, daß ein verderblicher Einfluß von ihrer Seite auf das Kind 
nicht ohne Folgen geblieben wäre. Nicht selten hat man mich mit 
der oberflächlichen Antwort abgespeist: »Kinder sind Kinder«, was in 
unserem Zusammenhange wohl soviel heißen sollte, daß ein die geistige 
und sittliche Vervollkommnung des Kindes hemmenden Einfluß kaum 
von ihnen ausgeübt werden konnte. Gerade hierdurch habe ich mich 
mancher Unannehmlichkeit ausgesetzt; aber um eine möglichst all- 
seitige Einwirkung auf das Kind auszuüben, durfte ich mich durch 
keine Schwierigkeit abschrecken lassen, und ich glaube auch auf 
diesem Wege das empfindsame melancholische Kind gegen Roheiten 
und Verderblichkeiten besonders von sich in den Flegeljahren be- 
findenden Personen geschützt zu haben. 

Auf das Kind selbst habe ich nach allen Richtungen, die im 
Bereiche meiner Möglichkeit lagen, einzuwirken versucht, um seine 


Salzsieder: Wie habe ich mich bemüht in die Eigenart der Kinder usw. 317 


schlechten Seiten zu bekämpfen und die guten besser ausbilden zu 
können. Da das Kind an ausgeprägter Einseitigkeit leidet, mußten 
Mittel und Wege auffindbar gemacht werden, die einseitigen Neigungen 
und Strebungen in vielseitige umwandeln. Nichts schien mir hierzu 
geeigneter als die Weckung und Hebung des Interesses für die dem 
Kinde weniger zusagenden Fächer; denn das Interesse allein ist die 
Grundbedingung für eine gedeihliche Fortentwicklung des Unterrichts 
und der Erziehung und ein Entfalten des Kindes zur Persönlichkeit 
nach den Schuljahren, da das Interesse fast ganz im Gefühl aufgeht 
und für das Wollen des Schülers von der allergrößten Tragweite ist, 
weil es die Wurzel des Willens ist, der allein das melancholische 
Individuum zu einer Größe reifen lassen kann, wie sie keinem 
anderen Temperamente beschieden ist; denn die besten Menschen als 
auch die, welche die größten Fähigkeiten haben, sind stets melan- 
cholische gewesen und werden es auch wohl immer wieder sein, daher 
schon Aristoteles gesagt hat: navres 0001 negırroi yeyovaoıy üvdgeg 7) xatà 
gıhoovoplar 7 nokırıxyv, 7 nolmow, ý) Texvas, yalvovrar uehuyyohixol Ovreg. 

Wie bin ich nun hierbei zu Wege gegangen’? 

Ich fand, daß ich beim melancholischen Kinde anfangs mittelbar 
zu Wege gehen mußte; daher benutzte ich die dem Kinde kongenialen 
Materialien als Ausgangspunkte, ich zeigte für die Neigungen des 
Kindes Interesse. Ich erkundigte mich zunächst nach der Lieblings- 
beschäftigung des Kindes, fragte nach dieser oder jenen Tätigkeit zu 
Hause usw. Und allmählich schmolz die harte Rinde, die um das Herz 
des kleinen Melancholikers gelegt war; aus den anfangs trockenen 
Antworten wie >ja«, »nein«, »ich weiß nicht« wurden bald kleine Sätzchen 
und es entspann sich während der Pause oder am Schluß des Unter- 
richts mit der Zeit eine fließende Unterhaltung, und aus dem wort- 
kargen, zurückhaltenden Knaben oder Mädchen wurde bald ein 
gesprächiges Kind, das bald selbst dieses oder jenes unaufgefordert 
erzählte. Ich wurde eingeweiht in ihre geheimsten Angelegenheiten 
und erfuhr viele Kleinigkeiten, die für mich von der größesten 
Wichtigkeit waren. So hatte das Kind Vertrauen zum Lehrer ge- 
wonnen und nun lag es an mir, das Vertrauen, das der Schüler mir 
entgegen brachte, weiter auszubauen, indem ich die Neigungen des 
Kindes durch geeignete Hilfsmittel unterstützte. In erster Linie erboten 
sich Bücher, um das Interesse regsam zu fördern. Eingehendere 
Abhandlungen über Sachgebiete, für die unser Schüler Vorliebe hat, 
erwiesen sich als lebensfördernd.. Nach eingehender Prüfung der 
Schulbibliothek fand ich, daß diese durch meine Bücher, wie ich sie 
noch aus der Jugend besaß aber auch eigens zu diesem Zwecke aus 


318 A. Abhandlungen. 








eigenen Mitteln anschaffte, ergänzt werden mußte, um das gewünschte 
Ziel zu erreichen. Dabei habe ich sorgfältig darauf geachtet, daß 
das Lesen neben der Zucht des Geistes auch eine Schulung des 
Willens sei, die dem melancholischen Kinde so überaus nottut, 
weshalb ich es als eine besondere Aufgabe betrachtete, genaue 
Anweisung zum erfolgreichen Lesen zu geben, also langsam und 
besonnen zu lesen, besonders schöne Stellen langsam und laut, den 
Geschwistern und Eltern vorzulesen, wodurch das schöne, ästhe- 
tische Lesen gebildet worden ist. Ich habe besonders aber diese 
Kinder nicht sich selbst beim Lesen überlassen, sondern mir Rechen- 
schaft, mündlich und schriftlich, von dem Gelesenen geben lassen 
und habe nach Möglichkeit die Lesewut, in die melancholische Schüler 
bei interessanten Gebieten nur allzuoft verfallen, zu bekämpfen 
versucht. 

Der Gesichtskreis des Schülers wurde hierdurch bedeutend er- 
weitert und ich durfte darauf und auf das auf Vertrauen zum Lehrer 
basierende Interesse die Hoffnung setzen, daß es nun auch den 
Fächern, für die er weniger Begabung hatte, weniger Widerstand 
entgegensetzte. Ich hatte mich darin nicht getäuscht. Jetzt war es 
freilich an mir, dieses aufkeimende neue Leben fortzuentwickeln. Es 
schien mir so, als ob melancholische Kinder besonderes Interesse für 
tiefere gründlichere Behandlung eines Sachgebietes haben, daher habe 
ich einige Stoffgebiete eingehender behandelt, als der Lehrplan es 
vorschrieb. Es bestätigte sich bei diesen Maßnahmen, was ich in den 
psychologischen Prämissen dargelegt habe: erst dann verschaffte sich 
das melancholische Kind bei diesen Operationen Geltung, wenn die 
meisten anderen Kinder versagten. Freilich mußte ich sorgfältig 
darauf achten, daß ich nicht in meinen Darbietungen über die Köpfe 
hinausging, um dadurch nicht eine diesem Temperamente besonders 
schädliche Abneigung gegen solch ein Sachgebiet zu zeitigen; daher 
hatte auch alles Tote in den Hintergrund, dagegen alles Lebendige 
in den Vordergrund zu treten. 

Mit am erfolgreichsten erwiesen sich auch diese Maßnahmen: 
Auf Grund der in dem Bewußtsein bereitliegenden Assoziationen und 
apperzipierenden Vorstellungen habe ich das Interesse des Kindes 
erweitert über das vorliegende, also das das Kind interessierende 
Vorgebiet hinaus auf Grund der Berührungspunkte, die die einzelnen 
Wissensgebiete miteinander gemeinsam haben. So habe ich die in 
den psychologischen Prämissen dargelegten intraindividuellen Diffe- 
renzen der intellektuellen Sphäre des melancholischen Schülers be- 
kämpft und auch teilweise beseitigt. 


Salzsieder: Wie habe ich mich bemüht in die Eigenart der Kinder usw. 319 








Eine Hauptaufgabe in der Behandlung der melancholischen Kinder 
war in der Bekämpfung der depressiven Gefühle zu sehen. Doch 
habe ich versucht, diesen Kindern das Leben in der Schule so an- 
genehm als möglich zu machen und seine Härten abzuschwächen. 
Heller und freudevoller war die Gegenwart dieses düsteren Kindes 
zu gestalten, die Schule mußte eine Stätte des regen Frohsinnes, die 
Stätte eines freudevollen Schaffens werden. Das bangende und 
zagende und mit der herben Seite des Lebens allzusehr rechnende 
Kind mußte fortgerissen werden von dem Strome eines glühenden 
und sprühenden Schullebens; denn »Heiterkeit und Frohsinn sind der 
Himmel, unter dem alles gedeiht, Gift ausgenommen« (J. Paul, 
Levana S. 76). Rousseaus schöne Worte dienten mir als Anregung: 
»Aimer l’enfance! Favorisez ses jeux, ses plaisirs, son aimable instinct. 
Pourquoi voulez-vous &tez à ces petits innocents la jouissance d’un 
temps si court qui leur échappe, et d’un bien si précieux dont ils 
ne sauraieut abuser? Pourquoi voulez-vous remplir d’amertune et de 
douleurs ces premiers ans si rapides, qui ne re viendront pas plus 
pour eux qu’ils ne peuveut revenir pour vous?e Die Schule und ihr 
Leben hatten diesen Kindern das Paradies zu ersetzen, das sie zu 
Hause so sehr oft nicht haben. Lob und Tadel spielen hierzu eine 
gar wichtige Rolle, das erste durch seine Anwesenheit, das letzte durch 
seine Abwesenheit. Selten brauchte ich zum Tadel zu greifen, »denn 
mit diesen Kindern umzugehen, ist wahrlich keine große Last, sie 
werden dich recht gut verstehen, wenn du sie nur zum besten hast« 
(Goethe, Paral. S. 356). Doch Tadel ist eine Strafe und bedarf der- 
selben Vorsicht wie diese in ihrer Handhabung. Die größte Ob- 
jektivität in ihrer Anwendung ist nötig, und mir ist es nicht schwer 
geworden, die Strafe auf das geringste Maß zu beschränken. Strafte 
ich einmal, so habe ich sorgsam darauf geachtet, daß das Kind die 
sittliche Überordnung des Lehrers als des Strafenden in jeder Hinsicht 
innerlich erfaßte und die Strafe selbst nicht eine bloß passiv hin- 
genommene Sühne bliebe, sondern daß das Kind den innern, positiven 
Wert derselben erfaßte, d. h. meine Strafmaßnahmen als einen ihm 
willkommenen Ausgleich seiner Schuld begriff, gleichzeitig aber auch 
den auf eine Besserung des Gestraften hinzielenden Wert der Strafe 
begriff. Sah nun das Kind, daß alles harmonisch auf sein Wohl 
abzielte, so konnte die positive Folge davon nicht ausbleiben. 
Folgende Aufstellung mag hier noch Platz finden: 


Von den melancholischen Kindern wurden gestraft 


322 A. Abhandlungen. 


die Seele zu vollerer Entwicklung und organischem Wachstum Raum 
verlangte. (Robertson.) 

Damit nicht die bei dem melancholischen Kinde oft nicht tief 
liegende Willenspassivität obsiegte, war eingehend zu berücksichtigen, 
daß das Kind in Aktivität gehalten werde. Als Mittel hierzu diente 
sowohl die entsprechende Gestaltung des Unterrichts wie auch des 
Spiels. Was das erstere anbelangt, so wurde hierüber schon gesprochen. 
Bei dem Spiel wurden Bewegungsspiele bevorzugt, die sich der 
körperlichen Natur und Leistungsfähigkeit anpaßten und mit vor- 
geschrittener Entwicklung der letzteren an Lebendigkeit und Leb- 
haftigkeit gewannen. Es sollte ein normales Bewegungsbedürfnis 
entstehen, das auch in der schulfreien Zeit, an freien Nachmittagen 
und Sonntagen eine regelmäßige Befriedigung verlangte. Das Kind 
sollte sich nicht mehr wohl fühlen hinter dem Ofen, um seinen trüben 
Gedanken nachzuhängen, sondern Lebenslust und Lebensfreude sollten 
einziehen in das Gemüt des Kindes, damit es selbst, aus eigenem 
Antriebe, seine Kameraden aufsuchte, um Ausflüge und Spazier- 
gänge mit ihnen zu unternehmen. 

Auch die Gesundheitslehre erhielt durch die Anwesenheit melan- 

cholischer Kinder nicht selten einen besonderen Charakter. Hier bot 
sich trefflich Gelegenheit, auf die Notwendigkeit auch der körperlichen 
Bewegung hinzuweisen, zu zeigen, daß Juvenals Wort: mens sana in 
corpere sano glänzend zu Recht besteht. Entsprechend solcher Lehre 
wurden die Unterrichtsgänge, Spaziergänge und Ausflüge gestaltet, die 
körperliche Bewegung geistigen Zwecken untergeordnet, wie das rege 
geistige Leben des Melancholikers forderte. 
-= Eine wichtige Handhabe in der Bekämpfung der üblen gefahr- 
drohenden Passivität unseres Schülers waren die Hausaufgaben. Diese, 
der Fassungskraft des Kindes entsprechend zugeschnitten, boten vor- 
treffende Gelegenheit, die geistige Regsamkeit des Kindes in passende 
Bahnen zu leiten. Aufgaben aus den Lieblingsgebieten des Kindes 
und der häuslichen Lektüre waren dazu angetan, das Kind vor dem 
Müßiggang zu bewahren. Algebraische Aufgaben dienten dazu, den 
Scharfsinn des Kindes länger in Anspruch zu nehmen, als es die ent- 
sprechenden Schularbeiten taten, und sicherten so tätige Beschäftigung 
und schützten vor Langeweile. 

Waren hin und wieder nicht passende oder (der Anzahl nach) 
genügende Aufgaben herauszufinden, so versuchte ich durch unter- 
haltende und belehrende Veranstaltungen die melancholischen Kinder 
gelegentlich an mich zu fesseln. In der Regel diente solche Zeit 
geistiger Beschäftigung. Nach gemeinsamer Übereinkunft wurde 


Salzsieder: Wie habe ich mich bemüht in die Eigenart der Kinder usw. 3923. 


Naturkunde als das Fach ausersehen, in dem wir uns gemeinsam 
weiter bilden wollten. Wir kauften uns Oktavhefte und trugen dort- 
hinein die Pflanzen, die wir gemeinsam und auf einsamen Spazier- 
gängen gefunden hatten, nach Nr., Namen, Standort und besonderen 
Merkmalen und Eigenschaften. Dabei habe ich durch Selbstaufsuchen, 
Selbstbestimmen und Selbsterkennen der Merkmale und Eigenschaften 
dem Prinzip der Selbständigkeit vollauf Rechnung getragen. Einblicke- 
in die Pflanzenphysiologie und Morphologie haben uns die Zweck- 
mäßigkeit der Natur und die Weisheit ihres Schöpfers erschlossen. 
Daneben erhöhten ernste und heitere Geschichten den Reiz solcher 
Veranstaltungen, und je nachdem das Bedürfnis von Schüler oder 
Lehrer war, wurden zwei Tage oder einer in der Woche ausgewählt. 
Vor allen Dingen mußten auch die leidenschaftlichen Regungen 
des Kindes bekämpft werden. Dies geschah teils durch unmittelbares. 
Eingreifen, teils durch Hebung und Stärkung des Willens. In erster 
Linie erbot sich auch hier wieder der Gesinnungsunterricht. Darüber- 
aber ist das in Frage kommende schon an anderer Stelle gesagt. 


Literatur. 
I. Ganze Bearbeitungen der Psychologie. 


Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie. 6. Aufl. Leipzig, Engelmann,. 
1908. 

Ders., Grundriß der Psychologie. 11. Aufl. Leipzig, Kröner, 1913. 

Ders., Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele. 5. Aufl. Hamburg und 
Leipzig, Leopold Voß, 1911. 

Ziehen, Leitfaden der physiologischen Psychologie. 10. Aufl. Jena, G. Fischer, 
1914. 

Ebbinghaus, Grundzüge der Psychologie. Begonnen von Herm. Ebbinghaus, fort- 
geführt von Ernst Dürr, Professor der Philosophie an der Universität Beın. 
Leipzig, Veit & Comp., 1913. 

James, Prof. an der Hervord-Universität, Psychologie. Übersetzt von Maria Dürr, 
mit Anmerk. von Prof. Dr. J. Dürr. Leipzig, Quelle & Meyer, 1909. 

Volkmann, Ritter von Volkmar, Lehrbuch der Psychologie vom Standpunkte des 
Realismus und nach genetischer Methode. 4. und sehr vermehrte Auflage- 
herausgeg. von Prof. Dr. Cornelius. Cöthen, Otto Schulze, 1895. 


II. Psychologische Monographien. 


Hellwig, Temperamente bei Kindern. Ihre Äußerung und ihre Behandlung in 
Erziehung und Schule. 13. Aufl. Paderborn, J. Esser. 

Ders., Die vier Temperamente bei Erwachsenen. Eine Anleitung zur Selbst- und 
Menschenkenntnis und ein praktischer Führer und Ratgeber im Umgange mit 
der Welt. 10. Aufl. Ebenda. 

Ach, Über den Willensakt und das Temperament. Eine experimentelle Untersuchung.. 
Leipzig, Quelle & Meyer, 1910. 


324 A. Abhandiungen, 


Weininger, Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. 14. Aufl. 
Wien u, Leipzig, Wilh. Braumüller, 1913. 

'Offner, Das Gedächtnis. 3. und teilweise umgearbeitete Auflage. Berlin, Reuter 
& Reichardt, 1913. 

Ders. Die geistige Ermüdung. Ebenda 1910. 

Dürr, Lehre von der Aufmerksamkeit. 2. völlig umgearbeitete Auflage. Leipzig, 
Quelle & Meyer, 1914. 

Meumann, Ökonomie und Technik des Gedächtnis, Dritte vermehrte Auflage der 
Schrift: Über Ökonomie und Technik des Lernens. Leipzig, Julius Klinkhardt, 
1912. 

Payot, Erziehung des Willens. Berechtigte Übersetzung von Dr. Titus Voelkel. 
4. Aufl. Leipzig, Voigtländer, 1910. 

Ostermann, Das Interesse. 2. Aufl. Oldenburg u. Leipzig, Schulzesche Hof- 
buchhandlung. 

Erdmann, Umrisse zur Psychologie des Denkens. 2. umgearbeitete Auflage. 
Tübingen, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen. 

Semon, Die Mneme als erhaltendes Prinzip des organischen Geschehens. Leipzig, 
Engelmann, 1908. 

Ders., Die mnemischen Empfindungen. Erste Fortsetzung der »Mneme«. Ebenda 
1909. 

Vaörting, Die Vernichtung der Intelligenz durch Gedächtnisarbeit. München, 
Reinhard, 1913. 

Stern, Dıfferentielle Psychologie. An Stelle der 2. Auflage des Buches: Über 
Psychologie der individuellen Differenzen. Leipzig, Ambrosius Barth, 1911. 

Sallwürk, Die Schule des Willens als Grundlage der gesamten Erziehung. Langen- 
salza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1915. 

Krukenberg, Der Gesichtsausdruck des Menschen. Stuttgart, Enke, 1913. 

Meumann, Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik. 2. um- 
gearbeitete und vermehrte Auflage. Leipzig, Engelmann, 1911. 

Paulsen, Moderne Erziehung und geschlechtliche Sittlichkeit. 


II. Pädagogische Schriften. 


Vogel, Philosophische Grundlagen der wissenschaftlichen Systeme der Pädagogik. 
4. revidierte Auflage. Langensalza, Schulbuchhandlung von Greßler, 1912. 

Dörpfeld, Gesammelte Schriften. 12. Aufl. Gütersloh, Bertelsmann, 1911. 

Scherer, Die Pädagogik als Wissenschaft von Pestalozzi bis zur Gegenwart in 
ihrer Entwicklung im Zusammenhange mit Kultur und Geistesleben dargestellt. 
Leipzig, Brandstetter, 1907. 

Weber, Ästhetik als pädagogische Grundwissenschaft. Leipzig, Wunderlich, 1907. 

Ellen Key, Das Jahrhundert des Kindes. 15. Aufl, Leipzig, Fischer, 1911. 

-Gurlitt, Erziehungslehre. 1.—3. Tausend 1909. 


1. Ein Seminar für Heilpädagogik ın Wien. 325 


— —— — DB_- — -—— — —_._._.. — aIamaaeaaasamamas EB 


B. Mitteilungen. 


1. Ein Seminar für Heilpädagogik in Wien. 
Von Karl Hilscher, Hilfsschulleiter in Wien. 


Vorbemerkung des Herausgebers. 


Als ich im Februar 1919 dem aus Straßburg wegen seiner deutschen 
Gesinnung geflüchteten Seminardirektor Schulrat König auf der Sophienhöhe 
zunächst ein Asyl gewährte, haben wir gemeinsam eine für die Gegenwart 
ganz besonders wichtige Frage überlegt: Was läßt sich tun, um die Lehrer- 
schaft für die heilerzieherischen und heilbildnerischen Aufgaben besser aus- 
zurüsten? Das Ergebnis unserer Erwägungen ist veröffentlicht worden in 
Heft 157 unserer Beiträge!) wie in unserer Zeitschrift 1919 Heft 7/8. 

Über Schulreform und Jugendpflegereform sind Tausende von Auf- 
sätzen und Schriften erschienen. Auf der Reichsschulkonferenz sind alle 
diese Fragen lang und breit erörtert worden. Aber auf das, was Schulrat 
König als Bezirksschulinspektor und Seminardirektor und ich als freier 
(privater) Schulmann als so unbedingt notwendig empfunden und in jener 
Schrift zum Ausdruck gebracht haben, darauf ist uns keine Zuschrift zu- 
gegangen und es hat keine pädagogische Zeitschrift des Deutschen Reiches 
die Königsche Arbeit m. W. besprochen. Sie ist totgeschwiegen worden, 
auch hier von der Universität Jena, an die sie besonders gerichtet war. 
Es ist eben eine Frage, die nicht auf den Ton der pädagogisch-politischen 
Parteibestrebung abgestimmt ist. Daß es sich um das Wohl von mehr als 
100000 deutschen Kindern und Jugendlichen handelt, für die kein ge- 
nügendes Verständnis vorhanden ist und von denen darum ein großer Teil 
zugrunde geht, die noch gerettet werden könnten, das ahnen die Hunderte 
von modernen Schulreformern kaum. Was man in der sog. Einheitsschul- 
frage davon erwogen hat im Rahmen des Mannheimer Schulsystems, auf 
dessen Einseitigkeit ich schon im Jahre 1899 im Dörpfeldschen Schulblatt 
unter Überschrift »Wider das moderne Schulkasernentums hingewiesen haben, 
das berührt diese ungeheuer weittragende Frage doch nur in der Haüptsache 
von ihrer intellektualistischen Seite. Aber der Intellektualismus wird 
unser Volk wie überhaupt das Abendland vor dem Untergang nicht retten, 
sondern, um mit Bismarck zu reden, nur das Volk wird vor dem Unter- 
gange bewahrt bleiben, das das höchste Maß sittlicher Kraft ent- 
faltet, oder wie Goethe sagt: »Die Gesinnung, die beständige, sie allein 
macht den Menschen dauerhafte, und ebenso ein Volk und einen Staat. 
Nicht Kenntnisse und Erkenntnisse, sondern nur Wille und Ehrfurcht 
tun der Gegenwart mehr not denn je. Darum forderten wir nicht ein 
Seminar für Heilbildung, sondern für Heilerziehung. 


1) Die Notwendigkeit eines Seminars für Heilerziehung und Jugendpflege von 
Schulrat Karl König. Beiträge zur Kinderforschung u, Heilerziehung. Heft 157. 
Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1919. 


Zeitschrift für Kinderforschung. 25. Jalırgang. 22 


326 B. Mitteilungen. 


— 


Was im Deutschen Reiche nicht beachtet worden, das haben nun zu 
unserer besonderen Freude die noch schwerer als wir notleidenden deutschen 
Brüder in Österreich, wenn auch zunächst nur nach der Seite der ab- 
normen Intelligenz und der Körper- und Sinnesdefekte, ins Auge gefaßt. 
Wir wünschen darum dem Heilpädagogischen Seminar in Wien als Bahn- 
brecher und Pfadfinder für die Entwicklung der Theorie und Praxis auch 
der Heilerziehung an unseren Lehrerseminaren, Lehrerakademien, Päda- 
gogischen Hochschulen oder Universitäten oder wo sonst in Zukunft die 
Lehrerbildung erfolgt, das beste. 

x x 
* 

Der 3. Februar 1920 wird in der Geschichte der Abnormenfürsorge 
Österreichs stets ein Gedenktag sein, denn an diesem Tage wurden mit 
den Vorlesungen an der Lehrerakademie in Wien, 3, Boerhavegasse 15 
auch jene des dieser Lehrerhochschule eingegliederten Seminars für Heil- 
pädagogik begonnen. 

Die rasche Entwicklung des Hilfsschulwesens in Wien, bedingt auch 
eine für diese Schulkategorie gut vorgebildete Lehrerschaft heranzubilden, 
für welche die in den Ministerialverordnungen vom 23. 3. 1901 und 
4. 5. 1903 vorgesehenen Fortbildungslehrkurse nicht mehr genügen und 
deshalb in der Lehrerschaft selbst der Wunsch gehegt wurde, eine Bildungs- 
stätte zu schaffen, die allen ihren diesbezüglichen Wünschen Rechnung trägt. 

Nun besitzt die Lehrerschaft die gewünschte Bildungsstätte und die 
nachfolgenden ‘Zeilen sollen eine kurze Geschichte bis zur Eröffnung der- 
selben bieten. 

Während der Kriegszeit konnte der Verein »Fürsorge für 
Schwachsinnige und Epileptische« weder die bekannten »Öster- 
reichischen Konferenzen für Schwachsinnigenfürsorge« fortsetzen 
noch weitere staatliche »Kurse zur Unterweisung von Lehrkräften in der 
Methode des Unterrichtes schwachsinniger Kinder« abhalten. 

Der Mangel an Fortbildungsmöglichkeiten machte sich bald schwer 
fühlbar. Am 13. April 1916 versammelten sich deshalb die Wiener Hilfs- 
schullehrkräfte und beschlossen, nach einem Referate des Hilfsschullehrers 
Leopold Miklas, die Gründung einer Sektion »Fortbildung« im 
Verein »Fürsorge für Schwachsinnige und Epileptische«. 

Zweck und Ziel derselben war die Förderung der wissenschaftlichen 
Fortbildung der Hilfsschullehrerschaft durch Referate und Wechselreden 
über literarische Neuerscheinungen auf dem Gebiete des Hilfsschulwesens 
und Bewertung solcher der Nachbargebiete der Hilfsschulpädagogik, ferner 
Erörterung einzelner methodischer und sozialpädagogischer Themen, Be- 
sichtigungen von Anstalten, die mit der Hilfsschule in Beziehung stehen 
u.a. m. 

Die Anregung des Vereines und die Ausführungen des Referenten 
wurden von der fast vollzählig anwesenden Hilfsschullehrerschaft freudigst 
begrüßt und die Gründung der Sektion »Fortbildung« beschlossen. 
Hilfsschullehrer Karl Hilscher wurde zum Obmann und Leopold 
Miklas zu dessem Stellvertreter gewählt. 


1. Ein Seminar für Heilpädagogik in Wien. 327 





Anschließend hielt Frl. Marie Sladek einen Vortrag über »Lehr- 
mittel für die Unterstufe der Hilfsschulee.. Am 24. Juni 1916 
versammelte sich die Sektion auf der Kinderklinik des Prof. Pirquet, 
um den Vortrag des Dozenten Dr. Erwin Lazar über »Intelligenz- 
prüfungen« zu hören. Am 2. Dezember 1916 sprach Frl. Karoline 
Hofmann über das »Schreiblesen in der Hilfsschule«; am 17. Mai 
1917 wurde die »Landespflege- und Beschäftigungsanstalt für 
schwachsinnige und epileptische Kinder in Gugging« besucht 
und am 13. Dezember 1917 erstattete Herr Direktor Hans Schiner 
ein Referat über den »Personalbogen für Hilfsschüler«. 

Hatten diese Vorträge und Besichtigungen viele Anregungen gegeben, 
so vermißte die Hilfsschullehrerschaft doch eine geregelte Fortbildung 
und deshalb beschloß am 25. November 1918 der Ausschuß des Vereins 
»Fürsorge« über Anregung Direktor Schiners aus der Sektion »Fort- 
bildung« ein »Heilpädagogium« zu schaffen. Schon am 30. November 
fand daselbst die erste Vorlesung statt. 

Der Besuch des »Heilpädagogiums« war auf 4 Semester festgesetzt 
worden und folgender Arbeitsplan zurechtgelegt: 


1. Semester: Einführung in die Heilpädagogik (Organisation); über 
Pathologie der Sinnesorgane; Methodik. 

Semester: Geschichte, Kongreßberichte, neue Lehrmittel, Einführung 

in die Literatur; Anatomie; Psychopathologie, Methodik. 

3. Semester: Über Entwicklung der Sprache; Behandlung von Sprach- 
gebrechen; Psychiatrie für Heilpädagogen. 

4. Semester: Behandlung schwieriger Fälle aus dem Taubstummen-, 
Blinden- und Schwachsinnigenwesen; Methodik; praktische Auf- 
tritte in der Taubstummen-, Blinden-, Schwachsinnigenschule und 
Vorschule. 


Für alle 4 Semester: Kursbesuch bei Dr. Kammel über »Experimentelle 
Pädagogik«. 

An den Bezirks- und Landesschulrat wurden Eingaben wegen An- 
erkennung dieser Institution zwecks Ausstellung giltiger Zeugnisse gerichtet, 
doch die Eingaben harren noch heute ihrer Erledigung. 

Mittlerweile wurde die n.-ö. Landeslehrerakademie neu umgestaltet. 
Dem Direktor derselben, Herrn Universitätsdozenten Prof. Dr. Wilibald 
Kammel, war es gelungen, dem »Heilpädagogium« eine Heimstätte an 
seiner Anstalt zu schaffen. 

Freilich gab es noch Kämpfe auszufechten, denn der eine Teil der 
Hilfschullehrerschaft wollte das Seminar auf medizinischer Grundlage auf- 
gebaut haben und deshalb an die Klinik verlegt wissen, der andere Teil 
verteidigte die Meinung, der Hilfsschullehrer habe dem Kinde auf in- 
tellektuellem Wege Förderung zu bringen, er müsse daher die Psyche des 
Kindes, seine pathologischen Eigenheiten studieren und dies könne er nur 
auf Grund einer eigenen wissenschaftlichen Pädagogik, der Heilpädagogik 
erreichen. Es soll jedoch damit nicht gesagt sein, daß sich der Spezial- 
lehrer hiezu nicht auch medizinische Kenntnisse anzueignen habe, sie 

99% 


ID 


328 B. Mitteilungen. 


sollen aber nicht in den Vordergrund des Studiums treten. Die medi- 
zinische Erforschung des Schwachsinns müsse dem Spezialarzte überlassen 
bleiben. 

Letztere Ansicht siegte und so haben wir endlich auch in Wien ein 
»Heilpädagogisches Seminar«, das allen Lehrern abnormer Kinder 
eine vorzügliche Fortbildungsstätte sein wird. 

Die feierliche Eröffnung desselben fand am 18. März 1920 statt, zu 
welcher außer der Speziallehrerschaft erschienen waren: Herr Magistrats- 
Sekretär Franz Marusch namens der Magistrats -Abteilung XV, Herr 
Landesgerichtsrat Dr. Höß namens der Zentralstelle für Kinderschutz und 
Jugendfürsorge und die Institutsvorsteher Dr. S. Krenberger, Guenschel 
und S. Heller. Herr Landesrat Karl Müller entschuldigte sein Fern- 
bleiben. 

Herr Akademiedirektor Dr. Kammel gab in seiner Ansprache einen 
kurzen Rückblick über die junge Geschichte des Heilpädagogiums und 
bezeichnete die seinerzeitige Gründung als »einen Markstein in der Ge- 
schichte der Erziehung und des Unterrichtes nicht vollsinniger oder 
schwachsinnige Kinder«. 

Als unmittelbaren Zweck des heilpädagogischen Seminars bezeichnete 
“er »die gründliche theoretische und zum Teil auch praktische Vor- 
bildung aller jener Lehrer, welche sich der Erziehung und dem Unter- 
richte nicht vollsinniger, schwachsinniger, sprachkranker, verwahrloster 
u. a. Kinder widmen, Mittelbar soll aber in diesem Seminar die Heil- 
pädagogik als Wissenschaft im besonderen und die psychologische Forschung 
im allgemeinen gefördert werden. Als ferneres Ziel schwebt die nach- 
schulische Erziehung dieser Sorgenkinder insbesondere bei der Berufswahl 
und Berufsausbildung vor«. 

Im heurigen Studienjahre werden in diesem Seminar folgende Vor- 
lesungen gehalten: 

1. Hovorka Oskar, Dr., Ordinarius an d. n.-ö. Landespflege- und 
Beschäftigungsanstalt für schwachsinnige und epileptische Kinder 
in Gugging: »Anatomie und Physiologie des Menschen mit 
besonderer Rücksicht auf das Kind,« 2 stüudig. 

2. Fröschels Emil, Dr., Universitäts-Dozent: »Logopädie« (Patho- 
logie und Therapie der Sprach- und Stimmstörungen); 2 stündig. 

3. Schiner Hans, Direktor der Hilfsschule, Wien, 18. Bez.: »Wesen 
und Bedeutung der Heilpädagogik,« 1stündig. 

4. Hilscher Karl, Hilfsschulleiter: »Geschichte des Hilfschul- 
und Anstaltswesens,« 1stündig. 

5. Bürklen Karl, Direktor der n.-ö. Blindenschule in Purkersdorf: 
»Psychologie des Blinden,« 2stündig. 

6. Gigerl Emmerich, Direktor der staatlichen Blindenanstalt in Wien: 
»Geschichtliche Entwicklung und gegenwärtiger Stand 
der Blindenbildung,« 1stündig. 

7. Biffl Fritz, Direktor des staatl. Taubstummeninstitutes in Wien: 
»Didaktik und Methodik des Taubstummen- und Schwer- 
hörigenunterrichtes,« 1stündig. 


1. Ein Seminar für Heilpädagogik in Wien. 329 


. 8. Freunthaller Adolf, Taubstummenlehrer: »Phonetik und prak- 
tische Artikulationsübungen,« 1stündig. 
Außerdem besuchen die Hörer noch die Vorlesungen von 

9. Battista Ludwig, Sem.-Prof.: »Einführung in die Kinder- 
psychologie,« 2stündig. 

10. Kammel Wilibald, Dr., Direktor der Lehrerakademie, Univ.- 
Dozent: »Einführung in die experimentelle Pädagogik,« 
2stündig, »Psychologische Versuche zum Begabungs- 
problem«, 1stündig. 


Außer diesen Vorträgen, welche im nächsten Studienjahre eine lehr- 
planmäßige Fortsetzung erfahren, wird eine Sammlung von Lehr- und 
Lernmitteln, von Büchern und Zeitschriften geschaffen, weiteres 
sollen Exkursionen in heilpädagogische Erziehungsanstalten, Spezial- 
lehrerkonferenzen und die Gründung einer Beobachtungsstation 
für praktische Individualitätsforschung auf dem Gebiete der Heilpädagogik 
Gen Hörern ermöglichen, ihre erworbenen Kenntnisse auch praktisch 
nutzbar zu machen. 

Schon die kleinen Anfänge des Seminars zeigen, wie umfangreich der 
Stoff ist, welchen die Speziallehrerschaft zu bewältigen hat. 

Bei der feierlichen Eröffnung dieser Bildungsstätte hielt der derzeitige 
Leiter derselben Herr Direktor Hans Schiner einen Vortrag über die 
Entwicklung des Fürsorgewesens in neuerer Zeit, Herr Direktor Bürklen 
einen solchen üter die Bedeutung des Seminars für die Blindenpädagogik 
und Herr Direktor Biffl über diese für Taubstummenpädagogik. 

Alle Redner dankten den maßgebenden Behörden für die Förderung 
bezw. Schaffung dieses Institutes. Hilfsschullehrer Otto Buchner wies 
auf die Notwendigkeit des engen Kontaktes zwischen Lehrer und Arzt bei 
der Fürsorge für das abnorme Kind hin. 

Da nach der geplanten neuen Prüfungsordnung für Spezialschulen 
der zweijährige Besuch des »Heilpädagogischen Seminars« obligat ist, so 
ist es nicht zu verwundern, daß dasselbe einen verhältnismäßig zahlreichen 
Besuch aufweist, und so wird auch der Wunsch Direktors Dr. Kammel 
in seiner Eröffnungsansprache in Erfüllung gehen, welcher lautete: Möge 
denn dem neugegründeten »Heilpädagogischen Semirar« an der n.-ö. Lehrer- 
akademie reicher Segen entströmen; sein allgemeinmenschlich, soziologisch 
und volkswirtschaftlich inspirierter Wahlspruch möge das Dichterwort sein: 


»Auf dem Wege zum Licht lasset keinen zurück. 
Führet jeden mit euch, der vergessen vom Glück. 
Dem die Ampel verlosch, dem die Glut nie gebrannt, 
Das Kind, das den leitenden Stern nie gekannt, 
Sie taumeln in Nacht und Verlassenheit. — 
Ihr begnadeten Pilger der Ewigkeit, 
Führt alle mit euch in Liebe und Pflicht. 
Lasset keinen zurück auf dem Wege zum Licht!« 
(Rosegger.) 


330 B. Mitteilungen. 


2. Zur Betonung des Positiven in der Erziehung. 


Die unlenkbaren Luftschiffe ohne Ziel und Steuer sind im allgemeinen 
kein Vorbild für unsere Schul- und Erziehungsarbeit. Aber die eine päda- 
gogische Losung haben sie uns doch gegeben: Wer in die Höhe will, muß 
Ballast auswerfen. Dieses Wort wird auf dem rein schulischen Gebiete 
für alle klar sein, welche in der Praxis stehen. Auch die Erziehung im 
engeren Sinne schleppt manchmal unnützen Ballast mit oder aber sie ver- 
steht es nicht immer, den hemmenden Ballast fallen zu lassen. 

»Man beachte unsere Schulen: Was wird hier an Unterrichtsstoffen, 
Experimenten und Sammlungen, lebendem und totem Inventar den armen 
Kindern unserer Jugend nicht alles geboten! Mit einem Wust von Viel- 
wisserei werden die jungen Wesen vollgepfropft, daß sie vor lauter Bäumen 
den Wald nicht sehen und in den elementarsten Unterrichtsfächern ganz 
erbärmlich versagen. Wille und Gemüt aber gehen leer aus oder werden 
nur mit schwindsüchtigen Körnern besät.«e (Moll, im Christlichen Pilger 
1919). Und wenn Moll mit Juvenal seinen Aufsatz schließt: »Maxima 
debet puero reverentia«, so steht er wohl auf demselben Boden wie 
W. Bellaire (Pfälzische Lehrerzeitung 1919, Nr. 25), wenn dieser in 
seinem Aufsatz »Über das Bildungsziele sagt: »Mit einem Wort: Wir 
müssen bei unserer Bildungsarbeit uns wieder mehr dem widmen, was 
man Erziehen nennt.« 

Was jeder Lehrer und Erzieher der öffentlichen Schule weiß und fühlt, 
die Betonung, die Notwendigkeit der Erziehung, das haben die Erziehungs- 
` heime längst praktisch durchgeführt. Nicht als ob nun deswegen die 
Erziehungsheime das einzig Richtige wären, gewissermaßen eine Norm für 
Erziehung oder als ob sie in diesem Punkte der öffentlichen Schule 
gegenüber absolut vorausgedacht und gehandelt hätten, als ob sie allein 
zuerst die Notwendigkeit der Erziehung erkannt und die Konsequenzen 
daraus gezogen hätten. Ganz und gar nicht. Auch aus der Stellung der 
Erziehungsheime im Ganzen der Erziehung spricht eine »Logik der Tat- 
sachen«, um mit Otto Liebmann zu reden, d. h. eben, daß die Tatsache 
als solche nicht gänzlich gottverlassen und vernunftfremd ist, sondern daß 
ihr der objektive Logos immanent ist. Es hieße Eulen nach Athen tragen, 
wenn ich öffentliche Schule und Erziehungsheime miteinander vergleichen 
würde, um zu Werturteilen zu gelangen, welche den einen Erziehungs- 
faktor dem anderen vor- oder nachsetzen würden. Ich will nur das eine 
herausgreifen, daß die Erziehung im Erziehungsheim Haupt- und Mittel- 
punkt des Ganzen der Behandlung ist und auch leichter sein kann als in 
der öffentlichen Schule. Gerade deswegen aber sollte eine gewisse Vor- 
eingeommenheit, die manchmal gegen Erziehungsheime besteht, fallen. 
Diese dürften vielmehr angesehen werden als die Träger bester Erziehung, 
als Quellen immer neu entströmender Heilkräfte für die Erziehung. 
Glaube niemand, daß Erziehungsgrundsätze, welche wir in unseren Er- 
ziehungsheimen auf der Sophienhöhe im Speziellen für gut befunden haben, 
welche für uns und die Hilfsschule gut sein mögen, für die öffentliche 
Schule dagegen nicht anwendbar seien. Welcher Pädagoge wäre so 


2. Zur Betonung des Positiven in der Erziehung. 331 


kleinlich und so arm, aus einem Speziellen ein Rezept machen zu wollen? 
Wir haben es in der Erziehung doch mit Menschen zu tun, mit leicht 
bewegten Seelen. Daß man neben großen leitenden Gesichtspunkten das 
Individualisieren nicht vergessen darf, weiß jeder Pädagoge, der in der 
Hilfsschule besonders. Der Vergleich des Pädagogen mit dem Arzt wird 
manchmal gezogen, für in der Hilfsschule wohl mit besonderer Be- 
rechtigung. Ob der Arzt, der es gewohnt ist, mit kranken Menschen 
umzugehen, nicht auch einen Gesunden zu behandeln weiß? Jch glaube, 
die sind meistens einfacher zu behandeln. So muß der Lehrer der Hilfs- 
schule im allgemeinen und jener der Erziehungsheime im besonderen dazu 
ausgerüstet sein, Seelsorger zu sein. Wer will mir widersprechen in 
der Behauptung, daß der junge Lehrer, welcher aus dem Seminar ent- 
lassen wird, wohl den besten Willen haben kann, Bestes in der Erziehung 
und im Unterricht zu leisten, daß es ihm jedoch an vielem gebricht? 

Wer würde ihn deswegen steinigen wollen? Gerade dazu möchte ich 
noch ein paar Worte sagen, weil sie auch ir den Rahmen meiner Be- 
trachtung passen und nicht nur mancher Junglehrer, ich glaube auch 
mancher Altlehrer wird das im Folgenden Angedeutete ohne weitere Er- 
läuterungen verstehen. Ich brauche nur die Worte: Konferenzen, Zensuren, 
Prüfungen auszusprechen, um den Blick auf ein Gebiet zu lenken, wo 
nicht immer das Positive wirklich positiv betont wird zur Förderung. 
Das Positive ist das zur Entstehung strebende Gute im Menschen. Wenn 
man sich doch daran gewöhnte, alles möglichst objektiv zu beurteilen zur 
wirklichen Hebung, zur Förderung der Erziehung, frei von allem Kleinlich- 
Persönchenhaften. Ich umgehe absichtlich das Wort »subjektive. Sub- 
jektive Gedanken und Handlungen können Segen stiften in der Erziehung, 
aber dann in der machtvoll sich durchringenden, gewordenen Persönlichkeit. 
Wird der wirklich zur Persönlichkeit herangereifte Pädagoge in dem Jünger 
verächtlich den »Stümper« sehen? Wie mag sich dann wohl ein solch 
»großer Pädagoge« freuen ob das Abstandes zwischen ihm und einem 
Baby: Unter den Blinden mag der Einäugige König sein. Jedoch Scherz 
beiseite! Kutten machen keine Mönche. Wahre Pädagogen müssen vor 
allem wahre Menschen sein. 

Es ist kein Zweifel, daß der junge Lehrer, welcher Gelegenheit hat, 
in einem Erziehungsheim tätig zu sein, seinen Kollegen manches voraus 
bat. Das ganze Leben des Erziehungsheims ist dazu angetan, ihm zu 
helfen in seinem Streben. Hier kann sich der wollende Pädagoge am 
besten als wahrer Pädagoge betätigen. Wenn ich zuvor sagte, daß der 
wahre Pädagoge auch ein wahrer Mensch sein muß, so ist dem werdenden, 
zur Entselbstung strebenden Menschen gerade auch im Erziehungsheim 
Gelegenheit geboten, in einem lebendigen Organismus »Gemeinschaft« sich 
einzufühblen und an ihm und mit ihm sich hinaufzuwinden. Gerade durch 
dieses Gemeinschaftsleben wird es dem Pädagogen aufgehen, wie viele 
sichtbare und unsichtbare Kräfte in der Erziehung am Werke sind, daß 
die Gemeinschaft als solche und an sich als lebendiger Faktor in der 
Erziehung wirkt. 

Wohl niemand, der auf der Sophienhöhe in der Erziehung gearbeitet 


332 B. Mitteilungen. 


hat, kann es entgangen sein, wie gerade hier mit dem Faktor der Betonung 
des Positiven in der Erziehung gearbeitet wird. Ein jeder wird diese 
Art und Weise zunächst mehr oder weniger lernen müssen. Diese beruht 
auf der einfachen Tatsache, daß durch die Betonung des zur Entstehung 
strebenden Guten, des Positiven, die formalen Gefühle der Kraft geweckt 
und gestärkt werden, während das Gegenteil leicht eine Einschüchterung 
und Entmutigung zur Folge haben kann. »Der Glaube macht selig.« 
Dieses Wort dürfen wir auch in dieser Hinsicht verstehen, wenn es gilt, 
an das Gute zu appellieren, an das Positive zu glauben. Damit begete 
ich mich auf das weite Gebiet des Gefühls und könnte allzu leicht einer 
Kritik enger Subjektivität begegnen. Obwohl ich die Beispiele gefühls- 
mäßiger Natur aus meiner jüngsten Erfahrung anführe, so schreibe ich 
diese Gedanken doch nur, weil ich kritisch die Betonung des Positiven 
in der Erziehung kurz beleuchten möchte, denn wir müssen bei der Be- 
tonung des Positiven differenzieren in der pädagogischen Behandlung. Es 
wird von vornherein einem jeden klar sein, daß gerade in der Pädagogik 
in allen und in den kleinsten Dingen die persönliche Welt- und Lebens- 
anschauung ihre Großmachtstellung behält und so ihren Einfluß zur 
Geltung bringt. Die Erziehung beruht eben nicht auf Erfahrung allein. 
Wir müssen bei aller Erfahrung stets bedenken, daß wir es mit Er- 
scheinungen zu tun haben und daß wir infolge einer logischen Tendenz 
gezwungen sind, letzte Ursachen in einer Reihe von Ursachen anzunehmen. 
Die Ursachen selbst sind nicht sichtbar, nur die Wirkungen ihrer Kraft. 
Daraus folgt, daß man vielfach genötigt ist, das Gegebene zu überschreiten 
und aus dem nicht sichtbar Gegebenen zu erklären, selbst auf die Gefahr 
hin, daß man »subjektive werden könnte. Es heißt dies ja keineswegs, 
daß man willkürlich konstruiere. 

Fall I: L., ein imbeziller Junge, hatte die Hausaufgabe nicht er- 
ledigt, worauf ich ihm sagte: »Aber hör mal, L., das betrübt mich sehr. 
Ich habe dich immer gern gehabt, nun mußt du aber doppelt fleißig sein, 
daß ich dich wieder lieb gewinne.« L., darob sehr niedergeschlagen, kam 
nach dem Mittagessen zu mir, legte seinen Arm auf meine Schulter und 
flüsterte mir unter Tränen zu, daß ich ihm verzeihen möchte. 

Fall II: Es sei kurz bemerkt, daß die 3 folgenden Schüler, um die 
es sich handelt, nicht schwachsinnig sind, sondern aus irgend welchen 
anderen seelischen Regelwidrigkeiten die Öffentliche Schule vorübergehend 
nicht besuchen können. 

L. hatte ©, mit einer Gerte gehauen. Während der Untersuchung, 
der mehrere Kinder beiwohnten, tat L. recht ängstlich und bat schließlich 
weinend um Verzeihung, worauf W. in ganz roher Weise gröhlte. In 
ruhiger Weise holte ich W. herbei und sagte ihm, daß ich ein solches 
Verhalten bei ihm nicht erwartet hätte. Er wäre mir stets ein lieber 
Junge gewesen, aber daß ich solch ein Gebahren von ihm hätte sehen 
müssen, täte mir sehr leid. Die Tränen stiegen W. bald in die Augen, 
und er ging ruhig seitwärts. Die Art und Weise der Behandlung hatte 
offenbar in beiden Fällen ihre Wirkung nicht verfehlt. Aber aus diesem 
Prinzip ein Rezept machen zu wollen, wäre verkehrt. Nur dann darf ich 


3. Beobachtungen über Zahlvorstellungen bei Kindern usw. 333 


mir einen wirklichen Erfolg nach dieser Art der Behandlung versprechen, 
wenn ich tatsächlich in der geäußerten Gefühlsbeziehung zu dem Kinde 
stehe. Im anderen Falle würde ich lügen und eine gewollte gute Wirkung 
könnte ich mir nicht versprechen, denn das Gute, das Wahre, wirkt wie 
ein Reales. Es können nur dann Fäden reißen, wenn zuvor welche ge- 
sponnen sind. Obwohl wir alle Kinder mit einer gleichen Liebe behandeln, 
so ist es doch menschlich, daß wir dem einen einmal mehr Liebe ent- 
gegenbringen als dem anderen. Grundfaktor bei allem bleibt ja die Liebe, 
Auch sie hat und verträgt verschiedene Grade. Nur wo eine besondere 
Art der gemütlichen Beziehung zum Kinde vorliegt, läßt sich die Betonung 
des Positiven in dieser Form mit wabrem Erfolge anwenden. 
Jena. Otto Dieden. 


8. Beobachtungen über Zahlvorstellungen bei Kindern 
im vorschulpflichtigen Alter. 
Von Chr. Künnemann, Nordenham (Oldbg.). 


Kleine Kinder kommen ganz anders zu Zahlvorstellungen, als wir all- 
gemein annebmen. Meine Tochter war damals erst 11/, Jahre alt, als ich 
die ersten Prüfungen dieser Art mit ihr anstellte.. Ich nahm blanke 
Nickelstücke und forderte sie auf, 1 Geldstück aus meiner Hand zu nehmen 
und auf den Tisch zu legen. Die Aufgabe wurde richtig gelöst. Wenn 
sie aber 2 oder 3 Geldstücke auf den Tisch legen sollte, versagte sie. 
Ich versuchte es dann mit andern Gegenständen, mit Streichhölzern und 
Pfefferminzbonbons. Sie legte 1 Streichholz oder 1 Pfefferminzbonbon 
richtig auf den Tisch, 2 oder 3 konnte sie jedoch nicht hinlegen. Mit 
1!/, Jahren hatte sie bereits die Zahlvorstellung eins, sie verstand auch das 
Zahlwort, wie wir es gebrauchen, aber selbst sprechen konnte sie es nicht. 

Legte ich Pfefferminzbonbons auf den Tisch, hier eine und dicht dabei 
mehrere und forderte sie auf, sich zu nehmen, so langte die kleine Hand 
ganz bescheiden dahin, wo eine Pfefferminzbonbon so ganz allein auf dem 
grünen Tischtuch lag. Wie kommt das? In der Pfefferminzbonbon, die 
da allein lag, erblickte sie etwas Bekanntes (die Zahlvorstelluug 1), und 
das Bekannte erregte ihre Aufmerksamkeit stärker, als der unbekannte 
Haufen dicht dabei. Er war ihr, was Zahl anbetraf, vollständig fremd. Daß 
man von dem Haufen größeren materiellen Nutzen hat, wußte sie noch nicht. 

Diese Beobachtungen veranlaßten mich, dieselben Versuche an andern 
Kindern im gleichen Alter zu wiederholen. Ich fand bei ihnen meine 
erste Beobachtung bestätigt. Sie nahmen 1 Geldstück, 1 Streichholz, 
1 Pfefferminzbonbon aus meiner Hand, versagten aber, wenn sie 2 oder 
3 Geldstücke usw. hinlegen sollten. Und ließ ich sie zwischen 1 und 
mehreren Pfefferminzbonbon wählen, sie langten alle dahin, wo die eine 
Bonbon ganz allein lag. 

Welchen Schluß darf man hieraus ziehen? Unter normalen Verhält- 
nissen hat das kleine Kind mit 1!/, Jahren oder etwas später die Zahl- 
vorstellung eins, es weiß, wie wir diesen Zustand benennen, es versteht 


334 B. Mitteilungen. 


auch das Zahlwort eins, aber sprechen kann es dasselbe noch nicht. Nach 
etwa 3 Monaten konnte meine Tochter das Wort eins auch sprechen und 
richtig anwenden. 

Bis zur Gewinnung der Zwei vergeht nun eine lange Zeit. Das Kind 
erkennt und benennt immer wieder den Zustand des Alleinseins, also die 
Eins. Inga sagte: Eine Ticktick, eine Bubbo (Butterbrot). Erst später, 
als zufällig erst ein Buch und gleich darauf noch ein Buch auf den Tisch 
gelegt wurde, sagte sie: Eine Buch — noch eine Buch. Nun hörte ich 
solches Zählen häufiger: Eine Plum — noch eine Plum, eine Bubbo — 
noch eine Bubbo. Da erkannte sie in der »Zwei«e den Zustand des Allein- 
seins zweimal, also 1 und 1, und da hatte sie die Zahlvorstellung »zwei«. 
Ihr fehlte nur noch das Zahlwort, und das holte sie sich aus dem Verkehr 
mit den Erwachsenen. Darüber vergeht allerdings längere Zeit, auch kommt 
das Kind nicht immer zu dem Zahlwort zwei, oft sogar zum Zahlwort »beide«. 

Die Schwierigkeit liegt in der Zusammenfassung. Als einem drei- 
jährigen Mädchen klar geworden war, daß es die 1 und 1 zusammenfassen 
sollte, gebrauchte es dafür das Wort »beide«. Liegt darin die Zusammen- 
fassung nicht in klarer Weise ausgedrückt, alle beide zusammen. Es 
unterschied nun auch: eine Hand, beide Hände, ein Bein, beide Beine, 
ein Apfel, beide Apfel, beide Augen, beide Ohren. 

Ein 31/,jähriges Mädchen brachte alles in Gegensatz zu 1. Die Eins 
hatte es klar erfaßt, alles andere hieß »mehr«, und alle Dinge ordnete es 
in »eins«e und »mehre«. 

Ein 3jähriges Mädchen hatte schon 3 Zahlvorstellungen. 4 Geld- 
stücke bezeichnete es als 3 + 1,5 waren 3+2,7 waren 3 + 3 +1. 
Bis 3 Dinge konnte es richtig benennen, über 3 hinaus gruppierte es, faßte 
immer 3 zusammen und bezeichnete den Rest durch die Zahlwörter 1 und 2. 

Ein 3jähriger Knabe wußte, wieviel Beine das Pferd hat, aber ihm 
fehlte das Zahlwort vier. Er sagte: »2 vorne und 2 hinten« und war 
ganz erstaunt, daß man dafür auch 4 sagen kann. Die charakteristischen 
Merkmale hatte er sich fest eingeprägt: 2 vorne und 2 hinten. Er er- 
kannte in dem Neuen auch 2 bekannte Zahlvorstellungen: 2 u. 2, be- 
nannte aber nur bis 3 Dinge mit dem richtigen Zahlwort. 

Wir sehen aus all diesen Beispielen: Das Kind kommt immer erst zur 
Zahlvorstellung und dann zum Zahlwort und nicht umgekehrt vom Zahlwort 
zur Zahlvorstellung. Dabei geht die Einprägung der Zahlwörter garnicht 
immer lückenlos nach der Reihe vor sich. Bei einem jährigen Knaben 
fand ich 4 Zahlvorstellungen, aber nur 3 Zahlwörter, 1, 2, Lücke, 4. 
Ihm fehlte das Zahlwort 3. 

3 Geldstücke und 3 Zündhölzer konnte er nicht durch das Zahlwort 3 
benennen, er behalf sich durch Gruppieren: 2 und 1. Schaltete ich aber 
die sinnliche Anschauung aus und sagte ihm: »Du hast 2 Stück Zucker. 
Nun gebe ich Dir noch 1 Stück Zucker«, dann half er sich anders: »Da 
ist 1 mehr.« Das Zahlwort 3 hatte er Eltern und Geschwistern noch nicht 
abgelauscht, weil Dinge mit der charakteristischen Dreizahl selten vor- 
kommen. Das Zahlwort 4 dagegen kannte er, und das wurde auch richtig 
angewandt. Auf das Bild vom Pferd zeigend und nach der Anzahl der 





3. Beobachtungen über Zahlvorstellungen bei Kindern usw. 335 





Beine fragend, sagte er: »Da 2 und da 2, sind 4 Stück.«e Diese charakte- 
ristische Gruppierung der 4 in 2 und 2 hatte er zu Hause oft gesehen 
bei den Pferden, Kühen, Schweinen, Hunden, Katzen, ferner beim Tisch 
und Stuhl und auch am Wagen, und immer wieder war von Eltern und 
Geschwistern diese Gruppierung als 4 bezeichnet worden. So kann man 
sich sehr wohl erklären, daß dieser Junge (Landwirtssohn) sich das Wort 4 
eher eingeprägt hat als 3 und sich bei 4 Zahlvorstellungen mit 3 Zahl- 
wörtern behelfen mußte. Die charakteristische Zweizahl kommt ebenso oft 
vor als 4: 2 Augen, 2 Ohren, 2 Hände, 2 Arme, 2 Füße, 2 Beine usw., 
aber Dinge mit der Dreizahl sind sehr selten, und das Zahlwort 3 wird 
infolgedessen auch seltener angewandt. 

Jede Mutter sieht ihren Stolz darin, wenn ihr kleines Kind möglichst 
früh und weit zählen kann. Konnten obige Kinder denn gar nicht zählen? 
Zum Teil ja. Der 5jährige Landwirtssohn zälte bis 9. Das hatte er von 
seinem älteren Bruder gelernt. Das 3jährige Mädchen, das immer zu 
dreien gruppierte, zählte sogar bis 20 und der 3jährige Knabe bis 12. 
Aber sie konnten mit diesen Zahlwörtern nichts anfangen. Wie kommt das? 

Nach der Lehre von der Großhirnlokalisation sprechen wir vom 
Sprechzentrum, vom Hörzentrum, Sprachzentrum usw. Um sich die Sache 
zu erklären, nehme man einmal für das Sprachzentrum Unterabteilungen 
an: Ein Zentrum für die durch Anschauung gefundenen Zahlvorstellungen 
und Zahlwörter, nennen wir es Rechenzentrum, ein anderes Zentrum für 
kleine Kirderreime, nennen wir es Zentrum für Gedichte. Eines Tages 
hört das Kind von der Mutter auch die Zahlwörter 1, 2 und 3. Sie 
werden ihm immer und immer wieder vorgesagt. Es sind Worte, die es 
nicht versteht, genau wie bei den Kinderreimen, und die Zahlwörter wandern 
auch in das Zentrum für Gedichte und werden da aufbewahrt. Kommen neue 
hinzu, so nehmen sie denselben Weg. Das Kind hebt also in zwei ganz ver- 
schiedenen Zentren Zahlwörter auf, im Rechenzentrum und Gedichtzentrum. 

Nur so kann man es sich erklären, daß der 5jährige Landwirtssohn 
3 Geldstücke und 3 Zündhölzer nicht benennen konnte. Im Rechenzentrum 
fehlte das Zahlwort 3. Es lag wohl ein Zahlwort 3 in dem Zentrum für 
Gedichte, aber da »sah« der Geist nicht nach. Ähnlich ist es mit dem 
3jährigen Mädchen. In seinem Rechenzentrum waren nur 3 Zahlwörter, 
1, 2 und 3, im Zentrum für Gedichte aber 20, aber weil sein Geist im 
Rechenzentrum das Zahlwort 4 nicht »fand« und im Gedichtzentrum nicht 
»nachschaute«, sagte das Kind für 4 »drei und eins«. Sagten wir ihm 
aber: »Zähle mal!«e Dann wurden die 20 Zahlwörter aus dem Gedicht- 
zentrum aufgesagt. 

Von 30 Abeschützen, die ich Ostern 1919 aufgenommen habe, zählten 
5 bis 9, alle andern weiter, 14 sogar über 20. Das waren Zahlwörter, 
»aufbewahrt« im Gedichtzentrum. Im Rechenzentrum sah es ganz anders 
aus. 3 Kinder hatten nur 3 Zahlvorstellungen. Mache ich eine Grenze 
bei 5, so baben 12 Kinder 5 und weniger und 18 dagegen 6 und mehr 
Zahlvorstellungen mit den richtigen Zahlwörtern. 

Es ist nun gar nicht einerlei, wie die Gegenstände auftreten, ob in 


der Reihe (e e e e) oder im Zahlbild ($ $). Viele Kinder von 4 und 


336 B. Mitteilungen. 


5 Jahren konnten 4 Geldstücke, in dieser Form ($ $) hingelegt, richtig 


benennen. Wenn ich dann aber vor ihren Augen unten 2 Geldstücke 
wegnahm und damit die Reihe so (ee e e) verlängerte, dann konnten 
sie mir die Zahl nicht angeben. 

Von meinen Abeschützen mit 5 und weniger Zahlvorstellungen konnten 
benennen: 


1 Schüler die Reihe bis 2, das Zahlbild bis 4, zählte bis 12, 

> A e Ivan z „ 3, 2 zählten bis 9, 1 bis 10, 
, zählte bis 20, 
1 bis 10, 1bis19, 1 bis 22, 
, zählte bis 12, 
‚1 bis 15, 1 bis 16, 
A „ 6, zählte bis 19. 


Bei den Prüfungen ließ ich den Kindern genügend Zeit, sich die 
Kugeln der Reihe und die Würfel der Zahlbilder genau anzusehen. (Zahl- 
bilder der Rechenmaschine von Künnemann u. Popken, Verlag O. Nem- 


nich- Leipzig. HH = 4. -|- — 3.) 


Wer ähnliche Beobachtungen an Kindern im vorschulpflichtigen Alter 
gemacht hat, bitte ich um Nachricht nach Nordenham, Hilfsschule an der 
Jahnstraße. 


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—. 
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P Ha co Co w 


4. Können bereits Sechsjährige psychologisch unter- 
sucht werden? 


Das Psychologische Iustiiut des Leipziger Lehrervereins hat ein 
»Hilfsmittel« geschaffen, mit dem die Ostern 1920 in die Schule ein- 
getretenen Kinder systematisch untersucht werden können auf ihre Hand- 
geschicklichkeit, anschauliche Kombinationsfähigkeit, Farbenkenntnis, Rechen- 
fähigkeit, Anstelligkeit, ihr Vorstellungsleben und Denken. Das »Hilfs- 
mittel« besteht aus einem Baukästchen, 2 Bauvorlagen, 4 Bildern, einer 
Farbentafel mit 14 farbigen Deckblättchen, 4 Kärtchen zum Zusammen- 
setzen und einem Arbeitsplan mit einer genauen Anleitung. 

Um die Schulneulinge während des ersten Schuljahres dauernd plan- 
mäßig beobachten zu können, hat das Institut in Gemeinschaft mit Ele- 
mentarlehrern einen Beobachtungsbogen und Anregungen zum Ausfüllen 
dieses Bogens herausgegeben. Wenn etwa Ostern 1921 eine Auswahl 
unter den Kleinen vorgenommen werden sollte, so wird diese Auslese 
durch das »Hilfsmittele und den »Leipziger Bogen« ganz bedeutend er- 
leichtert. »Hilfsmittele (7 M), »Leipziger Bogen« (0,50 M) und »An- 
regungen« (0,30 M) sind unmittelbar vom Psychologischen Institut des 
Leipziger Lehrervereins — Leipzig, Kramerstr. 4/II — zu beziehen. Bei 
Einzahlung auf das Postschekkonto des Institutes (Leipzig Nr. 51358) oder 
auf das Leipziger Girokonto (Nr. 1086) wolle man beim »Hifsmittel« 60 Pf., 
beim »Leipziger Bogen« 40 Pf. für Porto und Verpackung beifügen. 








5. Ein Stiefkind des Unterrichts. 337 





5. Ein Stiefkind des Unterrichts. 


Da all unser Schaffen in der darniederliegenden Gegenwart nicht nur 
im hastenden Treiben der Welt, sondern auch im Getriebe der Schule 
darauf gerichtet sein muß, neue Werte fürs Leben zu schaffen und aus- 
zubauen, alles zu tun, um unserem Volk die Kraft zu geben, sich aus 
der wirtschaftlichen Bedrängnis wieder emporzuarbeiten, haben die 
Regierungen aller deutschen Staaten unter anderen anspornenden Ver- 
fügungen in den letzten Jahren mit Recht auch die Schulen wiederholt 
ernstlich angewiesen, die praktische Pilzkunde in weitgehendem Maße 
zu pflegen. 

Wege zur Erfüllung dieser Forderung weist in der neuesten Nummer 
der Monatsschrift »Der Pilz- und Kräuterfreund« (Geschäftsstelle: Heil- 
bronn a. N.) Herr Seminarlehrer Brock-Dorsten i. W. in seinem Leit- 
aufsatz »Pilzkunde in der Schule einst und jetzt«. 

Er weist darauf hin, wie bis vor kurzem in fast allen Schulgattungen 
der naturkundliche Unterricht mit nur wenigen Ausnahmen der päda- 
gogischen Grundforschung: »Nicht für die Schule, sondern für das Leben«, 
so gut wie gar nicht gerecht wurde und so namentlich auch das Pilz- 
gebiet als Stiefkind behandelte. Er weist ferner nach, daß es nicht nur 
für die Volksschule, sondern auch für alle höheren Lehranstalten in Zu- 
kunft ernsteste Pflicht sein muß, die Pilzkenntnis und Pilzverwertung ein- 
gehend zu behandeln, entsprechen dem hohen Werte der Pilze für die 
Volksernährung und ihrer hohen Bedeutung im Haushalte der Natur über- 
haupt. Mit pädagogischem Geschick legt er eingehend einen von großer 
Erfahrung auf dem Gebiete der Pilzkunde zeugenden Lehrgang dar, nach 
dem die Pilze in der Volksschule, in Präparandenanstalten und im Seminar 
behandelt werden sollen und es wäre sehr erwünscht, wenn dieser Unter- 
richt überall in dieser Weise erteilt würde, auch in den Real- und Mittel- 
schulen wie in Gymnasien. 

Ich darf bei dieser Gelegenheit vielleicht gleichzeitig auf den weiteren 
reichen Inhalt dieses Heftes des »Pilz- und Kinderfreund« (»Über auf- 
gewärmte und gefrorene Pilze«, »Über verschiedene Arten der Gattung 
Boletus«e, »Pilzvergiftungen, Entbitterungen und Entgiftungen«, »Die Pilz- 
sprache« (Erläuterung aller Fachausdrücke durch Wort und Bild), »Heide- 
kraut als Futtermittel«e, »Drogensammelkalender für April-Mai« usw. usw.) 
und auf die Zeitschrift (von ihren Freunden kurz »PUK« genannt) hin- 
weisen; sie trägt meines Erachtens ihren Untertitel »Mykologische Rund- 
schau, Zentralblatt für Kryptogamenkunde, Illustrierte Zeitschrift für prak- 
tische und wissenschaftliche Pilz- und Kräuterkunde«e mit vollem Recht 
und dürfte allen Herren Kollegen und besonders den Botanikern unter 
uns reiche Anregung für den Unterricht sowohl als auch für die persön- 
liche Arbeit bieten, dabei aber auch eine Bereicherung der jetzt wohl 
überall gleich schmalen Kost ohne Belastung des Haushaltungsplanes er- 
möglichen. 


Stollberg i. E. | Oberlehrer Detlev Herrfurth. 


338 B. Mitteilungen. 


6. Zur Frage der Lehrerbildung. 


Unter den grundlegenden pädagogischen Fragen, welche gegenwärtig 
führende Politiker und Nichtpolitiker beschäftigen, nimmt die der Lehrer- 
bildung eine erste Stelle ein, und zwar nicht nur diejenige, ob Seminar- 
oder Hochschule, sondern vorab auch die der Vorbildung. Mit Außeracht- 
lassung der erstern seien hier nur folgende der Vorfragen behandelt: 


1. Wer soll, darf und will Lehrer werden? Antwort: Nur, 
wer eine innere Berufung zu diesem erhabenen Stande in sich fühlt, viel- 
leicht schon seit der Zeit, da er selbst noch auf der Volksschul - Bark 
saß. Eine andauernde intuitive Berufswahl ist die Quelle der Kraft, die 
später alle Hindernisse zu überwinden vermag. Vielleicht ist sie schon 
in frühester Jugend erzeugt worden im Beobachten des eigenen, muster- 
haft erziehenden Lehrers, vielleicht auch dank einer glücklichen mentalen 
Umgebung im Elternhaus, im pfarramtlichen Unterricht usw., überhaupt, wenn 
sie nur da ist, wenigstens vom 13.—14. Jahre an und sich bewährt hat 
im Gegensatz zu einem bloß sanguinischen Aufflackern, wie sich dies 
auch zugunsten — oder ungunsten — anderer Berufsarten gar oft zeigt. 

Genährt und bewährt wird diese intuitive Kraft schon frühe im Be- 
obachten von Altersgenossen und -Genossinnen, in der taktvollen »Be- 
handlung« jüngerer Geschwister und Spielkameraden, im Verhalten bei 
Ausschreitungen anderer, in der Vorliebe für gediegenen, dem Alter und 
dem reifenden Geist entsprechenden Lese- und Unterhaltungsstoff während 
der Vorbereitungs- oder Mittelschulzeit. 


2. Wer soll mitwirken und mitberaten in der endgültigen 
Wahl des Lehrerberufes, also ebenfalls schon möglichst früh, zur Zeit 
der erwachenden Urteilsfähigkeit, des sich bestimmter ausprägenden Cha- 
rakters und Gemütes? Antwort: Gewissenhafte Eltern und Lehrer, welche 
alle Gemüts- und Willensregungen des Kandidaten mehr oder weniger 
genau verfolgen und richtig zu beurteilen vermögen, also auch wissen, ob 
der sich beobachtet Wissende intellektuell harmonisch entwickelt ist, oder 
aber ganz individuell, vielleicht in irgend einer Richtung, die dennoch 
günstig ist für eine Spezial-Lehrerbildung, z. B. auf dem Gebiet der Hilfs- 
und Heilpädagogik oder für eine höhere Stufe der Lehrtätigkeit auf der 
Mittelschulstufe, als Sprach-, als Mathematiklehrer usw. Ist das Resultat 
auch dieser Vorprüfung — vielleicht mit Einschluß des Urteils eines er- 
fahrenen Fachmannes — Erfolg versprechend, so harrt nur noch eine dritte 
Frage der Beantwortung, die nämlich: 


3. Sind auch die äußeren Redingungen zueiner glücklichen 
Lösung erfüllt? Normale Familienverhältnisse, genügende Finanzkraft 
der Eltern (eventuelle Sicherung der Staatshilfe), berufliche, geschäftliche 
Stellung derselben, so daß ein verhängnisvoller Unter- oder Abbruch der 
Studien oder ein plötzlicher Berufswechsel ganz unwahrscheinlich ist — 
dann darf das Lehrerbildungsschiffchen ruhig in die weite See der Lebens- 
schicksale hinaussegeln und kann der Kandidat ohne Nahrungs- und 
lähmende anderweitige Sorgen sich ganz seinen wissenschaftlichen und 


C. Literatur. 339 


praktischen Aufgaben widmen. Letztere bedürfen aber jetzt schon volle 
Beachtung und Pflege, sowohl auf dem engen Pfad der Seminar- als 
auch auf dem der akademischen Bildung, sei es auf empirischem Weg 
oder in der glücklichen Lage einer Öfteren Gelegenheit zur Vertiefung in 
die verschiedenen Fragen der wissenschaftlichen Psychologie und Pädagogik. 
Jedenfalls aber sollten jetzt schon Schulbesuche auf ganz verschiedenen 
Stufen des Unterrichts einsetzen und die sich allmählich bildenden Urteile 
des angehenden Lehrers abklären und befestigen. Wieder dürften auch 
hier noch wohlwollende ehemalige Lehrer u. a. erfahrene Schulmänner 
beigezogen werden und wenn nötig, von ihrer früher schon führenden 
Stellung Gebrauch machen bis zum Beginn der praktischen Tätigkeit, selbst- 
verständlich als gute Freunde, also nicht in auffallender Weise. Diese 
ihre Wirksamkeit kann im günstigen Falle gekrönt werden mit dem Be- 
wußtsein, einem wackern, würdigen, jungen Lehrer zu wahrem Lebens- 
und Berufsglück die Wege geebnet zu haben. 
Zürich. G. Schmid. 


Tu u A iVm 


C. Literatur. 


Bühler, Charlotte, Das Märchen und die Phantasie des Kindes, 17. Bei- 
heft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. Herausgegeben von William 
Stern u. Otto Lipmann. Leipzig, Joh. Ambr. Barth, 1918. 82 &. 4 M. 

Die vorliegende Schrift sucht die Zusammenhänge zwischen der kindlichen 
Phantasie und dem Märchen aufzuhellen. Ausgehend von der Voraussetzung, daß 
die Grimmschen Märchen wohl am meisten bekannt sind, stützt sich die Verfasserin 
bei ihren Untersuchungen auf diese. Eine Statistik ergibt, daß die Zeit der Grimm- 
schen Märchen bei Kindern höherer Stände vom 4.—8. Jahr, bei Kindern unterer 
Volksklassen vom Beginn der Schulzeit bis zum 12.—13. Jahr währt. Diese Periode 
wird durch anderen, Lesestoff abgelöst, indem der heldenhafte Charakter eine be- 
sondere Betonung erfährt, der im Gegensatz zum Märchenhelden Gewandtheit und 
Weltklugheit aufweisen muß. Hier herrscht der Hang zum Abenteuerlichen vor, 
und man kann diese ganze Periode als »Robinsonzeit« bezeichnen. Das Märchen- 
alter selbst wird vorbereitet; die Mutter singt den Kleinen Lieder vor, erfindet 
auch selbst Geschichtchen, usw. (Struwelpeterzeit). Der Übergang von dieser Zeit 
zur Märchenperiode bringt die Loslösung des Interesses vom eigenen Ich mit sich 
und somit wird die Einstellung allmählich objektiver; Verquickung von Alltäglichem 
mit Wunderbarem kommt der kindlichen Weltauffassung nahe. 

Im Märchen sind die Hauptpersonen meist Kinder; aber auch Tiere und 
leblose Gegenstände erlangen Bedeutung; außerdem spielt das Fabelwesen eine 
Rolle. Die Charaktere sind einfach und typisiert und stehen als Extreme zuein- 
ander; derartige Gebilde stellen an abstraktes Denken die geringsten Anforderungen 
und sind den kindlichen Fähigkeiten dadurch am ehesten angepaßt. Von einer ge- 
rechten Moral ist keine Rede (Frau Holle, unbestrafte Faulheit). 

Die Tiermärchen zerfallen in 3 Gruppen: 1. Die Tiere im Verkehr mit Men- 
schen, wobei Treue und Hilfsbereitschaft der Tiere gelobt werden. 2. Die eigent- 
lichen Tiermärchen; diese interessieren durch die natürlichen Eigenschaften des 


340 C. Literatur, 


Tieres. 3. Die Tiere als verwandelte Menschen, wobei die Tiere ähnlich wie Men- 
schen handeln. An den Personen interessiert das Kind vor allem das merkwürdige 
Äußere, wie überhaupt die sichtbare Außenseite des Lebens im Vordergrunde seines 
Interesses steht. 

Die Neigung des Kindes zu Nachahmungen und Scheindeutungen und an den 
sprechenden, beseelten Tieren usw. usw. sichtbar; freie Kombination ist durchweg 
ausgeschaltet. Das Milieu des Märchens ist stets nur kurz angedeutet; dennoch 
bleibt der starke Eindruck der nun berührten Lebenslagen nicht aus; ein Beweis 
für die große Erregbarkeit und Intensität des kindlichen Gemütslebens. Soziale und 
kulturelle Trennung ist im Märchen aufgehoben; nähere Ortsbeschreibungen fehlen 
meist und finden sich nur beim Umschwung der Handlung. Der Kern des Märchens 
ist die Handlung, vor der alles andere zurücktritt. 

Den Kern der Handlungen bilden die vielartigen Taten des Helden; die Motive 
bleiben dabei konstant. Das Wunder spielt zweifellos die größte Rolle, ein Um- 
stand, der für die Kindes- und Volkspsyche bezeichnend ist. Für die Handlungen 
ist stets der Affekt maßgebend; intellektuelles, überlegtes Handeln fällt fort. Eine 
weitere Gruppe von Motiven bilden die die Handlung beeinflussenden Autoritäten; 
Gebote, Verbote, Prophezeiungen von Fabelwesen oder Tieren bestimmen die Hand- 
lung der Märchenmenschen. Die Handlung muß exemplifiziert, mit deutlichen Hin- 
weisen versehen sein und darf keine Anforderungen an die Kombinationsgabe 
stellen. Das Kind hat eine Freude an Wiederholungen, die ferner eine Stilisierung 
der Hardlung bedeuten. Als Elemente allgemeiner künstlerischer Gesetze beim 
Kinde meint die Verfasserin feststellen zu können, daß gedankliche Prozesse in die 
aus ihnen resultierenden anschaulichen Vorgänge umgesetzt werden. 

Das Märchen neigt zu einer Steigerung aller Begebenheiten, Eigenschaften usw. 
ins Ungemessene; diese Quantifizierung ersetzt die feinere Differenzierung. Weiterhin 
finden wir Übertragung von Merkmalen auf Gegenstände, Personen, Tiere usw., 
denen sie nicht zukommen. Die Verfasserin hebt hervor, daß es zum Verständnis 
dieser Übertragung keinerlei Kombinationsleistung bedarf, sondern daß sie in.ihren 
verschiedenen Formen als Analogiebildung hinreichend erklärt ist. Stoff und Form 
im Märchen sind gänzlich unabhängig voneinander. 

Das Volksmärchen ist die typische Anschauungsliteratur; der denkende In- 
tellekt tritt gänzlich zurück. Das Gedankliche des sichbewußten Handelns wird dem 
Kind in einer Art Umschreibung geboten, die es erst durch Übung zu enthüllen 
lernt. »Die wesentlichen schöpferischen Leistungen der denkenden Märchenphantasie 
lassen sich auf die Analogiebildungen zurückführen.« Dem Vorstellungsmechanismus 
ist der größte Spielraum gelassen; Veränderungen des Bildes, Verwandlung, Ver- 
kleidung usw. bedeuten wohl mit die Hauptfaktoren für die Freude des Kindes am 
Märchen. . 

Die Arbeit der Verfasserin steht zunächst im Dienste der Kinderpsychologie ; 
sie behandelt das bisher wenig bearbeitete Gebiet der kindlichen Phantasie und 
sucht zu einer Analyse derselben vorzudringen. Dahei geht sie durchaus selbst- 
ständig vor und gelangt zu wesentlichen Einsichten. Ihre Arbeit hat aber auch 
eine literaturpsychologische Bedeutung und zeigt, wie wissenschaftlich psychologische 
Untersuchungen hier fruchtbringend sind und wie der Zusammenhang mit der 
Psychologie für die Geisteswissenschaften anregend wirkt. 


Hamburg. Erich Stern. 


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Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Lungensalza. 


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| 





A. Abhandlungen, 





1, Die Reichsschulkonferenz in ihrer unterrichtlichen, 
erziehlichen, nationalen, sozialen und religiös-sittlichen 
Bedeutung. 

Von 
J. Trüper. 


Noch kurz vor Eröffnung der Reichsschulkonferenz, die ja schon 
ein paar Monate früher tagen sollte, ging auch mir eine Einladung 
zu für die Kommission »Jugendwohlfahrt und Schule«. Ich sollte 
neben Prof. Klumker und Dr. Polligkeit noch ein Referat über- 
nehmen, mußte dieses aber leider wegen der Kürze der Zeit, die zu- 
dem in anderer Beziehung voll mit unaufschiebbaren Pflichten aus- 
gefüllt war, ablehnen, erklärte mich aber bereit, nach Anhörung der 
übrigen Referate mich an der Mitarbeit in der Diskussion nach Mög- 
lichkeit zu beteiligen. Was ich nun dort etwa versäumt habe, oder 
wozu mir keine Gelegenheit geboten wurde, das möchte ich nun auf 
diesem Wege noch nachholen, um auch nach bestem Wissen und 
Können meine Pflicht gegenüber dem werdenden Volke zu erfüllen. 


L 
Es ist schwer, einen einigermaßen übersichtlichen und sachlich 
nützlichen Bericht über die Verhandlungen der Reichsschulkonferenz 
zu erstatten. Die Berichte, welche seinerzeit die Tageszeitungen, auch 
die bedeutendsten, gaben, waren ein trauriges Stückwerk. Ich habe 
daraus nur schließen können, wie unzuverlässig überhaupt die Bericht- 
erstattung ist, wohl deshalb, weil die Berichterstatter sachlich nicht 
auf der Höhe sind und Wesentliches vom Unwesentlichen nicht zu 
Zeitschrift für Kinderforschung. 25. Jahrgang 23 


342 A. Abhandlungen. 


unterscheiden wissen. Selbst Namen, die man doch im Teilnehmer- 
verzeichnis hätte lesen können, waren in der einen Zeitung so, in 
der anderen so verstümmelt. Beachtenswert wird es sein, was das 
amtliche Protokoll bringen wird. Es wird zusammengestellt durch den 
Hilfsarbeiter im Reichsschulamt, Dr. phil. et med. Walther Schwarz. 
Es wird allerdings ein sehr umfangreiches Werk werden, und dazu 
jetzt ein recht »kostbarese Sobald es erschienen ist, werden wir auf 
dasselbe im angedeuteten Sinne zurückkommen. 

In den meisten Auseinandersetzungen waren zwei Richtungen mit 
verschiedenen Nüancierungen zu unterscheiden, eine mehr konservativere, 
die Sinn und Verständnis für das historisch Gewordene hatte, die 
Fehler und Mängel beseitigen, also reformieren, aber nicht umstürzen 
wollte, und die andere Richtung, die bald mehr, bald weniger Neues 
an die Stelle des Alten setzen möchte, für das Historische keinen 
oder wenig Sinn bekundete, aber sehr oft als neu und neuzeitlich 
mit hellen Tönen anpries, was uns Alten doch schon seit 30 Jahren in 
Theorie und Praxis geläufig war. So will ich nur an den »Arbeits- 
unterricht«, die »Arbeitsschule«, die Familienvertretung und ä. m. 
erinnern. Das Neue war also nicht immer gut, und das Gute, was 
zutage kam, war durchaus nicht immer neu, vom Überradikalen aus 
der sozialistisch-kommunistisch freideutschen Jugend und geistes- 
verwandten Vereinigungen ganz zu schweigen. Einer von ihnen er- 
ging sich z. B. in lärmenden Deklamationen, wie die »Jugend von 
heutes auf ihrer Tagung in Jena im vorigen Jahre, worüber ich 
Näheres berichtet habe in Heft 11/12 des Jahrgangs 1919 unserer 
Zeitschrift. Und von dieser Schar der Jugendlichen waren recht viele 
vertreten, während man sich nach manchen bedeutenden, ja hervor- 
ragenden Männern vergebens umsah. Ich will z. B. nur erinnern an 
den Geh. Admiralitätsrat Dr. Felisch, der ein reiches Leben hindurch 
freiwillig an der Erziehung der Jugend, an der Jugendfürsorge, 
Jugendpflege, Fürsorgeerziehungsgesetzgebung usw. usw. erfolgreich 
und maßgebend gearbeitet hat und obendrein als Bürger von Berlin 
leicht zur Stelle gewesen wäre. Ebenso vermißten wir Männer wie 
Dietrich Schäfer, der als Schüler wie als Lehrer alle Schul- 
gattungen von der Volksschule bis zur Universität und die sozialisierte 
oder öffentliche wie die freie oder private Schule aus Erfahrung 
kennen und darum am sichersten über Einheitsschule und ähnliches 
urteilen kann; desgleichen Geheimrat Prof. Dr. Fries, Universitätsprof. 
und Direktor der Franckeschen Stiftungen in Halle, Herausgeber der 
»Lehrproben und Lehrgänge«, nicht minder eine Vertretung der welt- 
berühmten Anstalten von Bodelschwinghs in Bethel bei Bielefeld, des 


Trüper: Die Reichsschulkonferenz in ihrer unterrichtlichen Bedeutung. 343 


Rauhen Hauses in Hamburg u. a. m. Kinder und Jugendliche gehören 
in die Schule, auf den Spiel- und Turnplatz, an den Werktisch, auf die 
Wanderschaft, aber nicht in das erste und bedeutsame Reichsschul- 
parlament. Doch »die Alten zum Rat, und die Jungen zur Tat«, das 
ist ein Sprichwort nach dem Märchenanfang »Es war einmal«. Er- 
fahrung, tieferes Studium, opferfreudige selbstlose Hingabe sind Werte, 
die man im revolutionären Zeitalter weniger schätzt. Einer dieser 
Jugendlichen schlug denn auch wirklich mit Worten alles tot, was 
anderen alt und ehrwürdig und gedankentief erschien. Er suchte die 
Ideale einer Ausländerin, die ehelos geblieben, daher wohl selber 
keinem Kinde das Leben gegeben, wenn auch für »freie Liebe« werbend, 
zu verwirklichen; die Ellen Keys, die schon vor dem Kriege vom 
»Jahrhundert des Kindes« schwärmte, und deren überspannte Forde- 
rungen wir seinerzeit an dieser Stelle gebührend zurückgewiesen 
haben, in Gemeinschaft mit einem Manne, der über pädagogische 
Fragen auch urteilsreif war: Friedrich Paulsen, der aber jetzt 
gleich Männern wie Pestalozzi und Dörpfeld in das Meer deı Ver- 
gessenheit anscheinend absichtlich von vielen versenkt worden ist. 
»Nieder mit den Erwachsenen, den alten Lehrern, der alten Schule, 
dem alten Staat« usw., das war die Forderung der radikalen Jugend- 
vertretung auf der Reichsschulkonferenz, wie die des »Weltjugend- 
bundes«s mit ihrem »Klassenkampf gegen die Erwachsenen« vor einem 
Jahre hier in Jena. Ich habe an jener Stelle schon darauf hin- 
gewiesen, daß die Führer dieser Radikalen meistens Juden seien, die 
sich ihrer eigenen Eltern und Vorfahren schämen und darum sich 
hinter einem germanischen Namen verstecken, Juden der Entartung, 
die leider von der rechts-radikalen Seite nicht selten schlechthin 
identifiziert werden mit der Gesamtheit der Juden und ihren sittlichen 
und politischen Anschauungen.!) Ich habe damals schon darauf hin- 
gewiesen, daß ihr großer Führer Moses Jehova vom Sinai herunter- 
blitzen und donnern ließ: »Du sollst deinen Vater und deine Mutter 
ehren, auf daß es dir wohlgehe.« Und derselbe Moses sagt wieder 
an einer anderen Stelle: »Vor einem grauen Haupte sollst du auf- 
stehen und die Alten ehren.e Aber Ehrfurcht ist bei dieser Jugend 
von heute ein Wort, das in ihrem Lexikon gestrichen ist. 


1) Während der Korrektur verkündet die Tagespresse, daß die Millionen 
Germanen Berlins den Juden Löwenstein als Bildungsleiter bekommen haben. 
Wer das verstehen will, der lese die erklärenden Verse Kurt Eisners, geb. 
Gochulowsky, in meiner auf S. 343 erwähnten Schrift S. 161. 

23* 


344 A. Abhandlungen. 

Es war wohl Logau, der vor mehr als einem Jahrhundert gegen- 
über den Entartungen des Philanthropismus sagte: 

»Zu meiner Zeit zog man das Kind hinan zum Mann, 
Jetzt kauern die pädagogischen Männelein hernieder zu den Kindelein.« 

Dieses Wort gilt auch seit November 1918 für viele, auch in 
etwas für die Veranstalter der Reichsschulbehörde, die von diesen 
Unerfahrenen eine so große Schar geladen hatten, während die Er- 
fahrung auf gewissen Gebieten fehlte. 

Das sind die »Konzessionen«, welche Männer wie Konrad 
Haenisch, Heinrich Schulze und andere der revolutionären Jugend 
immer wieder glaubten machen zu müssen, wohl nicht ohne Grund, denn 
der ganze Revolutionsputsch ist ja im wesentlichen von solchen Jugend- 
lichen durchgeführt worden. Dabei darf aber nicht übersehen werden, 
daß die Radikalen unter den Alten, welche diese Jugendlichen auf- 
reizen, organisieren und suggerieren, keineswegs immer sozialgerichtete 
sind. Ihr Hauptführer Wyneken, der vor einem Jahr die Revolution 
der Jugend gegen die Schule in allen Städten Deutschlands durch- 
setzen wollte, ist Individualist extremster Richtung. Was er z. B. 
hier in Jena in einem Vortrage als Ziel der Erziehung aufstellte, war 
»der Mensch«, und der Mensch war nach seinem ganzen Vortrage 
nur er, dessen Ruhm, wie er selber zu seiner Verteidigung andeutete, 
gegenüber Sternen wie Comenius, Pestalozzi, Herbart und Dörpfeld 
nicht in Äonen untergehen werde.!) Für diese Jugendlichen und ihre 
Vertreter war auch hinreichend Zeit und Gelegenheit vorhanden, sie 
in der Plenarsitzung genügend zu Worte kommen zu lassen. Die 
gedruckten Abhandlungen und Thesen bevorzugten schon diesen 
Radikalismus. Noch mehr aber tat es die Rednerliste. Von den Ver- 
tretern der deutschen freien (privaten) Schulen und Erziehungsanstalten, 
wovon es im Deutschen Reiche mindestens 4000 gibt, die Werte von 
Milliarden in materieller Hinsicht und ideelle Werte von unschätz- 
barer Bedeutung repräsentieren, hatten sich‘’sechs in der Plenarsitzung 
zur Schulorganisationsfrage zu Worte gemeldet. Sie kamen nicht zu 
Worte. Als ich Beschwerde erhob, wurden mir 10 Minuten gewährt, 
während jene Jugend und ihre Anhänger 20 Minuten Redezeit hatten. 
Doch ich fragte nicht, damit ich zu Worte käme, und sage das 
nicht, um meine Ansichten hier durchzusetzen, sondern ich bin 
nur um der Sache willen dort wie hier dazu gezwungen worden. 


1) Näheres über diese neuzeitlichen Strömungen in meiner Schrift: »Die freien 
Erziehungs- und Bildungsansanstalten in ihrer Bedeutung für unser deutsches Volk 
der Gegenwart. (Beitr. z. Kdf., Heft 155.) Langensalza, Hermann Beyer & Söhne 
(Beyer & Mann.) S. 146 ff. 


Trüper: Die Reichsschulkonferenz in ihrer unterrichtlichen Bedeutung. 345 


Neun volle Tage war die Reichsschulkonferenz beisammen. An 
sieben Tagen waren Vollsitzungen, an zwei Ausschußsitzungen. Doch 
haben einige länger gearbeitet und tagten neben den Plenarsitzungen. 
Es waren Kommissionen eingesetzt für folgende Gegenstände: »Kinder- 
garten«, »>Schulaufbau«, »Berufs- und Fachschulen«, » Volkshochschulen und 
Bildung«, »Arbeitsunterricht«, »Staatsbürgerkunde«, » Kunsterziehung«, 
»Schule und Heimat«, »Lehrerbildung«, »Schulleitung und Verwaltung«, 
»Schüler«, »Eltern«, »Technische Vereinheitlichung«, »Verwaltunge«, 
»Privatschulen«, »Auslandsschulen«, »Jugendwohlfahrt«, »Schulhygiene«, 
»Körperliche Erziehung«, »Weltliche Schule« und »Schulfarm«. 

Die Referenten für die Vollsitzungen hatten ihre Ansichten und 
Leitsätze bereits vorher in Druck geben können. Sie gingen uns 
Teilnehmern längere Zeit vor der Tagung zu. Es waren folgende: 

.L Schularten, Schulziele und organisatorische Zusammenfassung 
zur Einheitsschule. 

1. Einrichtungen für das vorschulpflichtige Alter als Überleitung 
zur Schule. Kindergarten, Kinderhorte. 

2. Dauer der Grundschule. 

3. Verzweigung des Schulwesens von der Grundschule aus. Die 
Volksschule. Das mittlere Schulwesen (Aufbauschule, soge- 
nannte Mittelschule, sogenannte höhere Schulen, Fortbildungs- 
und Fachschulen). Hochschulen, Volkshochschulen und freies 
Volksbildungswesen. 

Der erste Berichterstatter war Prof. Dr. Binder- Stuttgart, als 
Vertreter des Philologenvereins. Als zweiter folgte Oberlehrer Dr. 
Karsen-Berlin, dann Oberstudienrat Dr. Kerschensteiner- Mün- 
chen, Lycealdirektor Dr. Voss-Köln. Auf der Tagung eingeschoben 
wurde dann noch das Referat von Generalsekretär J. Tews-Berlin 
über die deutsche Volksschule. Die Zahl der Debatteredner war eine 
sehr große. Es konnten nicht alle zu Worte kommen, aber wie schon 
gesagt; bewußt oder wohl unbewußt wurden Richtungen bevorzugt 
und andere zurückgedrängt. 

II. Die 2. Reihe betraf methodische Fragen und der Bedeutung ein- 
zelner Schulfächer für das gesamte Schulwesen. Insbesondere: Arbeits- 
unterricht, Werkunterricht (in welchem Umfang ist körperliche Arbeit 
zur Grundlage geistiger und sittlicher Bildung zu machen?), Staats- 
bürgerkunde, Kunsterziehung, Lern- und Unterrichtsmittel. Sie wurden 
wie die folgenden zuvor in Kommissionen beraten. Berichterstatter waren: 

1. Seminaroberlehrer Prof. Kühnel-Leipzig. 
2. Universitätsprofessor Dr. Natorp- Marburg. 
3. Privatdozent Dr. Seidel-Zürich. 


346 A. Abhandlungen. 


III. folgte das Kapitel über Lehrer (Lehrerinnen). Ausbildung 
der Lehrer(innen). Beteiligung der Lehrer(innen) an der Schulleitung 
und Schulverwaltung. Berichterstatter waren: 

1. Direktor Dr. Louis in Berlin. 

2. Schulrat Muthesius- Weimar. 

3. Oberlehrerin Pfennings-Berlin, zurzeit im Ministerium für 
Wissenschaft, Kunst und Volksbildung. 

4. Rektor Pretzel-Berlin. 

5. Universitätsprofessor Dr. Spranger-Leipzig. 

IV. Schüler (Schülerinnen). Auslese der Schüler für die einzelnen 
Schularten. Berufsberatung. Selbstregierung der Schüler. Schul- 
gemeinde, Schülerausschüsse Schülervereinee Gemeinschaftliche Er- 
ziehung der Geschlechter. Körperliche Erziehung. Berichterstatter 
waren: 

1. Dr. Andreesen, Schloß Bieberstein/Rhön. 
2. Dr. Gertrud Bäumer-Hamburg. 
3. Schulinspektor Götze-Hamburg. 
V. Eltern. Elternbeiräte. Berichterstatter waren: 
1. H. Köster-Hamburg. 
2. Rektorin Stoffels- Berlin. 
3. Oberlehrerin Dr. Hildegard Wegscheider-Bonn. 

VI. Technische Vereinheitlichung des Schulwesens im Reiche. 
Einheitlicher Beginn des Schuljahres, einheitliche Regelung der Ferien. 
Einheitliche Benennung der Schulen und Schulklassen. Gegenseitige 
Anerkennung der Prüfungen und Zeugnisse der Schüler. Reifeprüfung, 
Reifezeugnis. Berechtigungen. (Anerkennung der Unterrichtsanstalten 
der Militäranwärter und Kapitulanten.) Gegenseitge Anerkennung der 
Lehramtsprüfungen. Einheitliche Amtsbezeichnung der Lehrer. Be- 
richterstatter waren: 

1. Stadtschulrat Weigl-Amberg, Oberpfalz. 
2. Stadtschulrat W eiß-Nürnberg. 
3. Stadtrat Prof. Dr. Ziehen-Frankfurt a. Main. 

YII. Verwaltung des öffentlichen Schulwesens. 

1. Zuständigkeiten — Aufgaben und Befugnisse — von Reich, 
Ländern und Gemeinden hinsichtlich der Schulverwaltung und der 
Schulaufsicht. 

2. Geldliche Grundlagen des Schulwesens (Schulunterhaltungs- 
pflicht), Ausgaben, sächliche und persönliche, insbesondere Lehrmittel 
und Erziehungsbeihilfen, Einnahmen, Lastenverteilung, Schulgeld- 
erhebung. (Art. 143, 1, 144, 145, 146, 3 der Verfassung.) Bericht- 
erstatter waren: 


Trüper: Die Reichsschulkonferenz in ihrer unterrichtlichen Bedeutung. 347 


1. Geheimer Oberregierungsrat Loycke-Berlin. 
2. Schriftsteller Dr. Quarck-Frankfurt a. M. 
3. Senator Dr. Wespy-Hannover. 
‚VIII. Die Privatschulen in ihrem Verhältnis zum öffentlichen 
Schulwesen. Berichterstatter waren: 
1. Oberlycealdirektor Hafa-Gnadau. 
2. Direktorin Anna Schmidt-Düsseldorf. 
3. Hauptlehrer Winkle- Augsburg. 
IX. Deutsches Schulwesen im Ausland. Berichterstatter waren: 
1. Direktor Dr. Gaster-Kammin. 
2. Prof. Dr. Hartmann-Berlin. 

Ich habe zu vielen auf der Reichsschulkonferenz zur Geltung ge- 
kommenen Forderungen und Darlegungen von meinem nationalen, sozialen, 
psychologischen, pädagogischen und Weltanschauungsstandpunkt aus 
Fragen aufzuwerfen und Ergänzungen zu bieten, insbesondere aber aus 
meinen eigenen Lebenserfahrungen von Kindesbeinen an bis jetzt in mein 
66. Lebensjahr. Ich bin nicht nach Schema F »erzogen und geboren« 
worden, wie man in meiner niedersächsischen Heimat sich ausdrückt, 
und bin von meinem 15. Lebensjahre an im wesentlichen nur auf mich 
selbst angewiesen gewesen nach jeder Seite hin. Darum eben, weil 
ich so früh gelernt habe, die Bedeutung des Sprichwortes: »Selbst 
ist der Mann«, und des Schillerwortes im Reiterliede: »Auf sich selber 
steht er ganz allein« zu verstehen, ist es mir auch heute nicht mög- 
lich, herdenmäßig weder die Fragen des öffentlichen Lebens noch die 
der Erziehung und des Unterrichts zu betrachten und zu behandeln. 
Ohne darnach zu suchen und zu streben, sind alle die Fragen, an deren 
Lösung ich irgend mitgearbeitet habe, an mich herangetreten. Auch 
das Erziehungsheim Sophienhöhe oder eine heilerzieherische Anstalt 
schlechthin wollte ich nicht gründen. Es hat nur die Gelegenheit 
mich dazu bestimmt. Dasselbe gilt von meiner »Zeitschrift«, von den 
»Beiträgen« und von meinen einzelnen Arbeiten, die ich sonst ver- 
öffentlicht habe. Darum wolle der Leser auch entschuldigen, wenn 
ich an die Reichsschulkonferenz nicht mit dem Blick eines Schul- 
gewerkschaftlers oder eines Klassenkämpfers herangehe, sondern mit 
eigenen Augen die Dinge betrachte; das heißt aber nicht, daß meine 
persönliche Weisheit der Maßstab aller Dinge sein solle, denn ich bin 
doch nur ein Atom in der geschichtlichen Entwicklung aller dort ver- 
handelten Fragen. Und darum werde ich mich vor allem auch be- 
mühen, gegenüber allem Unhistorischen und A-Historischen, allem 
Unkonservativen und Unliberalen, Unsozialen und Unindividualen, 
gegenüber allem Subjektivismus und Radikalismus das historisch Ge- 


348 A. Abhandlungen. 


wordene und als daseinsberechtigt Erwiesene zu verteidigen, eben weil 
nur so wahrhaft liberal und sozial gehandelt werden kann, will aber 
dabei nicht verfehlen, auch auf andere freie Stimmen zu verweisen. 


II. 

Unter den Schriften, die für uns Teilnehmer im Flur des Reichs- 
tagsgebäudes ausgelegt waren, befand sich auch ein Blatt » Arbeiter- 
jugend«e. In demselben fand ich manches vortreffliche Wort für die 
Erwärmung und. Veredelung der Volksjugend, aber auch manches 
bedenkliche Wort wegen seiner Einseitigkeit und seiner demagogischen 
Ziele. Unter dem Strich erzählte z. B. Osterroth!) aus seinem eigenen 
Jugendleben allerlei, das mich eigentümlich berührte; das Denkmal, 
welches er dort seinem Dorflehrer, aber auch seinem Jugendseelsorger 
setzte, ist ein eigentümliches. Ich selbst habe bis zum 15. Jahre auch 
nur eine einklassige Dorfschule besucht, vom 12. Jahr ab noch dazu 
eine jetzt so berüchtigte einklassige Privatschule Aber mit meinem 
Jugendlehrer, dem Gründer und Leiter dieser Schule, bin ich bis zu 
seinem Tode vor etwa 15 Jahren in treugesinnter Verbindung ge- 
blieben. Und als er gestorben war, sind seine Schüler stundenweit 
mit der Bahn gefahren, um aus seinem Nachlasse sich Andenken zu 
kaufen. Und mir selbst macht es noch heute eine besondere Freude, 
daß sein Klavier von meinem Neffen, der auch sein Schüler wurde, 
erworben worden ist. Meine eigenen Kinder haben höhere Schulen 
besucht und standen in gutem Verhältnis zu ihren Lehrern. Aber 
vieles von dem, was ich in der einklassigen Schule gewonnen habe, 
möchte ich nicht vertauschen mit dem, was Gymnasium und Ober- 
realschule und Studienanstalt meinen Kindern geboten, so sehr ich 
auch diese Anstalten und ihre Leiter und Lehrer schätze. 

Gegenüber den Darstellungen von Osterroth möchte ich hin- 
weisen auf einen Denkstein der Dankbarkeit und Ehrfurcht, der 
einem alten Dorfschulmeister in dem schulberüchtigten Mecklenburg 
gesetzt worden ist durch zahllose Briefe, die ein mit 15 Jahren aus- 
gewanderter Schüler aus Amerika an ihn gerichtet hat, ja der auch 
noch seinen Sohn, als dieser schon Arzt in Amerika war, hinüber- 
schicken mußte über den Ozean zu seinem Dorflehrer. Ich möchte 
wünschen, daß dieses Denkmal eingehendst studiert werden möchte 
von allen Teilnehmern der Reichsschulkonferenz, aber auch von unseren 
Lesern und von solchen, die sich mit Erziehungs-Psychologie befassen. 
Denn was auf den 295 Seiten des bereits in einer Auflage von 140000 
erschienenen Buches, herausgegeben von dem Sohne jenes alten Dorf- 


‘) Wie ich in der Schule Polizeichef war. 


Trüper: Die Reichsschulkonferenz in ihrer unterrichtlichen Bedeutung. 349 


schulmeisters, dem Seminarlehrer Gillhoff, mitgeteilt ist, das. ist 
nach meinen Erkundigungen, von einigen Stilisierungen abgesehen, 
das zusammengetragene Material, welches Gillhoff!) bei seinem Vater, 
jenem Mecklenburger Lehrer, vorgefunden hat, wenn auch Namen 
usw. verändert worden sind. Kann der Einfluß irgend eines Volks-, 
Mittel- oder Hochschullehrers ein stärkerer oder schönerer werden, 
als er hier zum Ausdruck gekommen? Können alle Raffiniertheiten 
der Großstadt-Schulbestrebungen, etwa nach dem Mannheimer Schul- 
system, das ersetzen, was hier gesät worden ist? 

Was ich aber bei der Reichsschulkonferenz vermißte, das war 
die Vertretung von Schulmännern dieser Art. Freilich, sie bieten sich 
nicht an am Markte des Lebens; sie gleichen der Rose, die blüht, 
wie der Dichter sagt, »weil sie nicht anders kanne. Darum waren 
mir auch unter allen Glückwünschen und Ehrungen, als das Er- 
ziehungsheim Sophienhöhe 1915 sein 25jähriges Bestehen feierte, drei 
besonders wertvoll. Zwei kamen von mir ganz unbekannten Kollegen 
auf einsamen Dörfern; der eine von der Insel Rügen und der andere 
aus einer deutschen hundertjährigen Dorfschule in Polen, die beide 
betonten, wieviel Wertvolles unsere Zeitschrift ihnen für Herz und 
Beruf gebracht hatte. An dieser Stelle möchte ich beiden für diesen 
Glückwunsch noch einmal herzlich danken, hoffend, daß die deutsche 
Schule dort in Polen nicht vernichtet worden ist vom nationalen 
Haß. Und der dritte Glückwunsch, der erste, der mich an dem Fest- 
tage begrüßte, kam um 7 Uhr aus Norwegen an von dem Direktor 
einer dortigen Fürsorge-Erziehungsanstalt, mit dem Schlusse: »Deutsch- 
land in der Welt voran«. Ich wünsche, daß sich das auch weiter- 
hin bewahrheiten möge, und wenn jetzt. wo ich dies schreibe, ein 
zweiter Kurs schwedischer Schulmänner hier an einer deutschen Hoch- 
schule wissenschaftliche und berufliche Vertiefung und Fortbildung 
sucht, so möge das ein gutes Zeichen für die Zukunft der deutschen 
Schule als Einheit sein, und die Reichsschulkonferenz könnte auch 
in dieser Beziehung ihr Teil beitragen in einer Zeit, wo die Politik 
der Unmoralität und Verlogenheit und Heuchelei und des inneren 
Umsturzes durch selbstsüchtige Demagogen Deutschland zum Sklaven- 
volke seiner Feinde gemacht hat. 

Wenn ich nun zuerst auf die vernachlässigte Interessenvertretung 
der einklassigen Dorfschule hinweise, so geschieht das, weil ich der 
Überzeugung bin, daß nicht das moderne Schulkasernentum, auch 
wenn es mit den Schlagworten Einheitsschule, Mannheimer Schul- 


1) Gillhoff, Jürnjakob Swehn der Amerikafahrer. Berlin, Verlag der Tägl. 
Rundschau. 1. Aufl. 1918, 140. Tausend 1920. 


350 A. Abhandlungen. 

system usw. uns lockend entgegentritt, in erster Linie die Rettung 
unseres Vaterlandes sein wird, sondern die Volksschule in ihrer 
einfachsten Form. Hier liegen die Wurzeln der Kraft, und ich 
gehe in meiner Kritik der Reichsschulkonferenz zuerst auf diesen 
Punkt ein, weil der Aufsatz im letzten Heft,!) der mir ungesucht von 
einem Unbekannten schon vor längerer Zeit zugegangen ist, ein Zeug- 
nis davon ablegt, welche Bedeutung diese einklassige Schule für unser 
Volk und vor allen Dingen auch für die ganze Frage der Jugend- 
bildung und Erziehung hat. Man mag.an dieser Arbeit vielerlei 
auszusetzen haben, aber was in den Referaten auf der Reichsschul- 
konferenz als Schrei aus dem Munde der radikalen Jugendlichen nach 
Verständnis ihrer Eigenart erscholl, oder was andere von »Erlebnis- 
schulen«, »Lebensschulen«, » Arbeitsschulen« usw. mit tönenden Schlag- 
worten gefordert haben, das sehen wir in aller Schlichtheit und doch 
mit scharfem psychologischen Blick ungewollt dargestellt in dieser 
Arbeit. Und wenn auf der Reichsschulkonferenz von Elternrechten 
und Elternvertretungen in hochtönenden Worten geredet worden ist, 
kann mehr erreicht werden, als was dieser Dorflehrer in Pomellen, 
vielleicht auch angespornt durch Dörpfelds »Freie Schulgenteinde«, 
hier erstrebt und erreicht hat? 

Und eben darum muß ich bedauern, daß die einklassige Schule 
nicht als solche ihre Vertreter fand und nur gelegentlich in der De- 
batte über andere Fragen etwa von einen Notschrei gegen die gröbste 
Vernachlässigung der ländlichen Schule und insbesondere auch der 
ländlichen freien (privaten) Schule durch die Vertretungen in Reich, 
Staat und Gemeinde, aber auch durch die Reichsschulkonferenz. Seine 
vortrefflichen Ausführungen, denen ich voll zustimmen muß, wolle 
man später nachlesen in dem stenographischen Bericht der Reichs- 
schulkonferenz. Sie sind wie die Arbeit des Herrn Salzsieder nicht 
bloß von Wert für die Landschule, sondern erst recht auch für die 
höhere Schule und die Stadtschule. Otto Frick, der frühere Direktor 
der Franckeschen Stiftungen in Halle als Vertreter sämtlicher 
Schularten von der Volksschule bis zum Gymnasium in der Stiftung, 
also der hier längst verwirklichten »Einheitsschule«, und als Begründer 
und Herausgeber der vortrefflichen »Lehrproben und Lehrgänge« 
und als Dozent der Pädagogik in Halle, behält meines Erachtens auch 
gegenüber der Reichsschulkonferenz recht, wenn er auf dem Evangel. 
Schulkongreß 1884 in Stuttgart betonte: »Die Volksschule ist die 


1) Salzsieder, Die Eigenart der Kinder melancholischen Temperaments und 
ihre erziehliche Behandlung. Beitr. z. Kinderf, Heft 171. Langensalza, Hermann 
Beyer & Söhne (Beyer & Mann). 


Trüper: Die Reichsschulkonferenz in ihrer unterrichtlichen Bedeutung. 351 


Hochschule der höheren Schule. Und Dörpfelds umfangreiche 
Schrift aus dem Jahre 1863 »Die freie Schulgemeinde auf dem Boden 
der freien Kirche im freien Staate« wie seine nachfolgende sagen uns 
doch noch etwas anderes und bedeutungsvolleres als etwa Wynekens 
von Dörpfeld verschwiegen entlehntes und leider pädagogisch-historisch 
kritiklos von Haenisch und Genossen mit übernommenes und gesetz- 
lich schon fixiertes Schlagwort »freie Schulgemeinde«, das doch im 
Grunde nichts anderes ist als eine Egalisierung zwischen Schülern 
und Lehrern zur Begünstigung der Jugendrevolutionen, wie Wyneken 
das ja auch immer unverhohlen ausspricht. Wer über Schulorgani- 
sationsfragen mitreden will — so möchte ich noch heute mit dem 
liberalen und damals radikalen Diesterweg vom Jahre 1867 betonen 
— kann um eine Auseinandersetzung mit Dörpfelds »Freie Schul- 
gemeinde« nicht hinweg, und gegenüber dem moderen Schulkasernen- 
tum und der Vergroßstadtung des ganzen Schulwesens möchte ich 
ebenfalls nachdrücklich hinweisen auf Dörpfelds »Zwei pädagogische 
Gutachten«. über die vier- und achtklassige (mit Einschluß der ein- 
klassigen) Schule vom Jahre 1877, worin Dörpfeld auch die ein- 
klassige Schule für die wertvollste hinstellt, so schwierig auch vieles 
sein mag, und er der vierklassigen gegenüber der achtklassigen das 
Wort redet. In diesem Sinne habe ich mich schon im Jahre 1899 
auseinandergesetzt mit dem Mannheimer Schulsystem in einem Artikel 
» Wider das moderne Schulkasernentum« im Dörpfeldschen Schulblatt. 
Es hat mich gefreut, daß Sickinger wie seine Gegner meine da- 
maligen Ausführungen zustimmend aufnahmen. Wesentliches hätte 
ich auch heute noch nicht hinzuzufügen, soweit die Grundfrage hier 
in Betracht kommt. Im übrigen ist bereits im Jahre 1913 das ganze 
Problem nach allen Seiten hin von einem früberen Lehrer der 
Sophienhöhe beleuchtet worden, nämlich von Dr. Heinecker, in der 
Schrift: »Das Problem der Schulorganisation auf Grund der Begabung 
der Kinder.« (Beitr. z. Kdf. Heft 113.)!) 

Diese Frage stelle ich meinen Betrachtungen voran, weil wir in 
der Erziehung doch vom Einfachen zum Zusammengesetzten fort- 
schreiten sollten. Mit Recht sagt Salzsieder: »Der Born, in dem das 


t) Ein anderer Mitarbeiter auf der Sophienhöhe, Herr Dr. W. Höper, hat 
auf meine Anregung hin diese Untersuchung fortgesetzt in Heft 158: Ȇber den 
objektiven Wert der Intelligenzprüfungen.« Leider aber hat er, zu stark beeinflußt 
von William Stern, nicht das wichtigste und in der Reichsschulkonferenz auch 
ganz und gar vernachlässigte Problem entgegen meinen Wünschen weniger berück- 
sichtigt: die falsche Bewertung der Schülerpersönlichkeiten durch die einseitige 
Berücksichtigung der Intelligenz gegenüber dem Gefühls- und Willensleben. 


352 A. Abhandlungen. 


_ 


Kind seine ganze äußere und innere Gestaltung empfängt, ist das 
Elternhaus; es bildet den gewaltigsten Erziehungsfaktor, und eine 
segensreiche Arbeit von Erziehung und Unterricht ist von seiten der 
Schule nicht denkar ohne dessen Mitarbeit; denn es ist der Urgrund 
aller Erziehung.« Das war auch Pestalozzis und Dörpfelds Mei- 
nung, und darum hielt Dörpfeld die Schule, welche dem Elternhaus 
am nächsten kam, in Hinblick auf die Charakterbildung für die wert- 
vollste: die einklassige! 


III. Zur Frage der Lehrerbildung. 

Die Lehrerseminare sollen unter allen Umständen beseitigt werden. 
Aber wenn auch die Universitäten wohl in der Lage sind, die in- 
tellektuelle Seite des Lehrers und Erziehers im allgemeinen hin- 
reichend und gründlicher auszubilden als die alten Seminare, wenn in 
manchen Dingen auch unter geringerer Anpassung an die Erforder- 
nisse der Tätigkeit des Lehrers, so sind diese Hochschulen meines 
Erachtens doch sehr wenig oder gar nicht geeignet, dem praktischen 
Lehrer die wirksamste praktische Vorbildung für den Unterriebt zu 
übermitteln, geschweige denn die praktisch erzieherische, die ich 
für noch wichtiger halte. 

Das ist nicht nur beim Lehrerberuf so. Andere Berufe haben 
dieselben Erfahrungen gemacht. Die Ausbildung der Geistlichen wurde 
im Laufe der Geschichte je länger desto mehr auch von den ge- 
schlossenen Priesterseminaren in die Universität verlegt. Ohne Frage 
hat diese gründlich forschende Theologen herangebildet. Aber ohne 
Seminar kann selbst die evangelische Kirche nicht auskommen; denn 
der wissenschaftliche Theologe ist noch kein Seelsorger, kein religiöser 
Volkserzieher, kein erfolgreicher Prediger. Diese lassen sich nur im 
abgeschlosseneren, nur auf die eigene Aufgabe ausschließlich ein- 
gestellten Seminare mit natürlichen Übungsstätten für jede Art seel- 
sorgerischer Arbeit heranbilden. Neben den erhalten gebliebenen 
alten entstanden nach Überwindung des theologisch orthodoxen wie 
liberalistischen Intellektualismus darum wieder eine Reihe neuer 
evangelischer Seminare, hier liberalerer, dort konservativerer Richtung. 
Ein Theologe zählte mir jüngst folgende Predigerseminare im Deut- 
schen Reiche auf: 

Naumburg a/Gneiß, Loccum (Hannover), Preetz (Schleswig-Holstein), 
Altenburg (S. A.), München, Leipzig, Herborn, Friedberg (Hessen), Soest, 
Erichsburg, Hofgeismar, Wolfenbüttel, Wittenberg, Berlin (Domkandi- 
daten-Stift), Schwerin. 

Wenn die Lehrerbildung jetzt nun wirklich auch die intellek- 


Trüper: Die Reichsschulkonferenz in ihrer unterrichtlichen Bedeutung. 353 
tualistische Bahn einschlagen sollte, dann wird meines Erachtens hier 
noch früher als dort der Rückschlag kommen. Wenn man nicht vom 
»gewerkschaftlichen«e, sondern vom allgemeinen volkserzieherischen 
Standpunkt aus die ganze Bedürfnisfrage ruhig erwägt, dann kann 
man nur wünschen, daß die hergebrachten Seminare in vieler Hinsicht 
zwar gründlich reformiert, wissenschaftlich tiefer und praktisch sorg- 
fältiger ausgebaut werden, daß sie aber nicht ohne weiteres ver- 
schwinden mögen. Auch sollte jedem durch das Seminar ausgebildeten 
Lehrer das Recht zustehen, in allen Fächern, wofür er eine genügende 
Vorbildung nachweist, zum Universitätsstudium ohne weiteres zu- 
gelassen zu werden. Schon bisher hat auf diesem Wege die Volks- 
schule einen großen Stamm besonders tüchtiger Lehrer, Rektoren 
und Schulinspektoren gewonnen, die durch keinen Nur- Akademiker 
sich voll ersetzen lassen. Das wird aber noch mehr der Fall werden, 
wenn die Seminare reformiert werden und die Universität sich frei- 
heitlicher verhält, sich insbesondere von dem Vorurteil freimacht, daß 
nur die gymnasiale Abstempelung die Befähigung zu einem erfolg- 
und segensreichen Studium gewährleistet. Unbefangene Beobachtungen 
führen zu einer freieren, duldsameren Auffassung. 

Aber auch ein wirtschaftlicher Gesichtspunkt will erwogen sein, 
was meines Erachtens in der ganzen Erörterung der Frage nicht ge- 
schehen ist, weder von hüben noch von drüben. 

Die jetzt möglichen Wege, Lehrer zu werden, haben es manchem 
unbemittelten Bauersmann, Handwerker und kleinen Beamten er- 
möglicht, seinen Sohn Lehrer werden zu lassen, und die aus diesen 
Kreisen stammenden und emporringenden Lehrer sind für unser Volk 
von besonders segensreichem Einfluß gewesen, wie ja auch die 
katholische Kirche auf ähnlichem Wege ja seit je eine geradezu 
mustergültige » Auslese der Begabten« für die Hierarchie vorgenommen 
hat, stammte doch beispielsweise sogar der vorige Papst aus ärmlicher 
Familie. 

Aber jetzt kenne ich Lehrerfamilien, deren Söhne das begonnene 
Universitätsstudium wieder aufgeben müssen, weil der Vater nicht in 
der Lage ist, die hohen Kosten zu tragen. So werden dann vielfach 
nicht einmal die Lehrersöhne den Beruf des Vaters wieder ergreifen 
können und beruflich vielleicht auch abwandern müssen in das Heer 
der »Gewerkschaftler«e, und an ihre Stelle wie an die der Bauernsöhne 
werden dann Demagogen- und Schiebersöhne auf unser Volk los- 
gelassen. Sozial ist diese Forderung entschieden ungenügend durch- 
dacht, wenn sozial nicht gleichbedeutend sein soll mit lehrergewerk- 
schaftlich. 


354 A. Abhandlungen. 


Prof. Rein hat sich seit je mit warmem Herzen und lebhaftem 
Interesse für die Volksschullehrer und ihre zweckmäßigste Ausbildung 
eingesetzt und schon in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts 
die wohldurchdachten Forderungen Dörpfelds restlos übernommen und 
sie erfreulicherweise bis heute festgehalten, die Forderungen eines 
Führers im Kampfe um das Gedeihen der Volksschule und ihres 
Lehrerstandes, der darum auch zum Ehrenmitgliede des Deutschen 
Lehrervereins ernannt wurde, ohne daß er je Mitglied desselben war, 
sondern sogar vielfach zu manchen Forderungen desselben im Gegen- 
satze stand, eben weil sie ihm nicht liberal und sozial genug waren. 
Doch wer beachtet jetzt noch seine Kampfesschriften »Die Leidens- 
geschichte der Volksschule«e und den »Neuen Beitrag zur Leidens- 
geschichte der Volksschule?«!) Darin ist freilich ja auch so manches ge- 
sagt, was sich mit dem gewerkschaftlichen oder gar kommunistischen 
Denken der Neuzeit nicht deckt. So wird der Große, wenn nicht 
der Größte unter den Hunderttausenden des Deutschen Lehrerstandes 
in dieser wie in andern tief- und weitgreifenden Fragen in das Meer 
der Vergessenheit und von manchem an die tiefste Stelle versenkt, 
und sein Schüler, der Universitätsprofessor Rein, wird als Vertreter 
seiner Forderungen seit längerer Zeit auf das schärfste bekämpft. 
Und doch stand dieser unmittelbar nach der Revolution im Kampfe 
für die Volksschule und ihren Lehrerstand mit einem Vortrage in 
einer von einem Sozialdemokraten geleiteten Versammlung in Jena 
als erster auf dem Plane. Auch die Entschließungen des »Vereins 
der Freunde Herbartscher Pädagogik in Thüringen«, eines noch freien 
und freiheitlichen Vereins, frei von staatlich-bürokratischer wie schul- 
sozialistisch-gewerkschaftlicher Bevormundung, eines Vereins mit Mit- 
gliedern aus allen Lehrerkreisen vom Universitätslehrer bis zum 
Lehrer der einklassigen Dorfschule, also seit 29 Jahren die erste Vor- 
bedingung für die Vereinheitlichung des Schulwesens, fälschlich 
»Einheitsschule« genannt, darstellend —, Entschließungen im Sinne 
Dörpfelds und Reins, mit großer Mehrheit von freien Lehrern ge- 
faßt, sind hiuterdrein von den »Organisierten« heftig und zum Teil 
weniger sachlich bekämpft und verworfen worden und eine ganze 
Anzahl organisierter Lehrer haben infolge dieser Entschließungen ihren 
Austritt erklärt. Auch eine neuzeitliche Erläuterung zu der schon im 
monarchischen Staate verfassungsmäßig garantierten Forderung: »Die 
Wissenschaft und ihre Lehre (auch die über die Schulorganisation 
und die Lehrerbildung?) ist — freie! 


1) Band IX der Ges. Schriften, 4. Aufl. Gütersloh, C. Bertelsmann, 1899. 


Jolly: Ursachen u. ärztliche Behandlung d. psychopathischen Konstitutionen. 355 


Gegen die andere Gruppe der organisierten Lehrer im Philologen- 
verein, die sich ihres Lehrertitels und ihrer deutschen Benennung 
zu schämen anfingen und sich in »Referendare«, »Assessoren« und 
»Studien« -Räte bürokratisch umtaufen ließen, habe ich früher an 
diesem Orte meine Meinung gesagt. Ihre Ablehnung der Volksschul- 
lehrerbildung an der Hochschule hat darum für mich auch wenigstens 
einen sehr starken standesegoistischen oder »gewerkschaftlichen« Bei- 
geschmack. Aber was ergraute und führende Männer wie Adolf 
von Harnack, Rein u. a. auf der Reichsschulkonferenz sagten, das 
hat uns Älteren wohl alle wenigstens mit Ehrfurcht erfüllt. Die Jugend 
yon heute freilich kennt so etwas nicht mehr, und Geschichte und Er- 
fahrung müssen hinter den Forderungen der Organisierten zurücktreten. 

Gewiß betrachten die Universitätsprofessoren die Frage von einer 
anderen Seite als der ihnen noch nicht koordinierte Professor einer 
Grundschule im Alter von 20 bis 30 Jahren. Aber erwägenswert, 
sehr eıwägenswert ist doch wohl, was die genauesten Kenner der 
Universität über diese nach vielen Seiten hin so tief in das Werden 
und Sein nicht bloß der künftigen Volksjugendlehrer, sondern auch 
in das Kulturleben der großen Volksmassen schlechthin einschneidenden 
Frage nach bestem Wissen und Gewissen erklären, und darum sei 
auf diese, wohl allen Lesern schon bekannt gewordene Erklärung als 
bedeutsames Dokument in dem Kampfe um die Lehrerbildung der 
Vergessenheit nachdrücklich verwiesen. (Forts. folgt.) 


2. Die Ursachen und die ärztliche Behandlung der 
psychopathischen Konstitutionen. 
Von 
Privatdozent Dr. Jolly, Oberarzt der Universitäts-Nervenklinik Halle a. S. 


L 

Der Begriff der Psychopathien, der psychopathischen Kon- 
stitutionen wird verschieden weit gefaßt. Im folgenden wollen wir, 
um zunächst etwas Negatives zu erwähnen, nicht dazu rechnen die- 
jenigen Zustände, bei denen das ganze Seelenleben in der Entwick- 
lung zurückgeblieben ist, damit also ausschließen die verschiedenen 
Formen des angeborenen Schwachsinns ohne weitere dazu kommende 
Krankheitserscheinungen, d. h. die als Debilität, Imbezillität und 
Idiotie bezeichneten Abstufungen des in der Keimanlage vorgebildeten, 
im Mutterleib oder in frühester Kindheit erworbenen Schwachsinns. 

Zu den Psychopathien zählen wir, um das Positive zu nennen, 


356 A. Abhandlungen. 


diejenigen Zustände an der Grenze zwischen psychischer Gesundheit 
und psychischer Krankheit, welche im wesentlichen durch eine un- 
genügende oder krankhafte Entwicklung des Gemüts- und des Willens- 
lebens charakterisiert werden. Um die Ursachen, das Thema des 
heutigen Vortrags systematisch besprechen zu können, richtet sich die 
folgende kurze Schilderung der einzelnen Formen nach der üblichen 
klinischen Einteilung, während die besonders bei Fürsorgezöglingen 
aber auch sonst vorgenommenen mehr pädagogischen, bezw. prognosti- 
schen Gruppierungen außer acht gelassen werden müssen. 

Es gehören zu den Psychopathien zunächst — bei den für uns 
hier in Frage kommenden Persönlichkeiten handelt es sich ja um 
kindliche und jugendliche Individuen — um die Grundlagen oder 
Vorstufen verschiedener schon in der Anlage vorhandener und häufig 
in der. Jugend schon angedeuteter Geisteskrankheiten und zwar 
zunächst des sogenannten manisch-depressiven Irreseins, der- 
jenigen geistigen Erkrankung, bei der das Affektleben betroffen ist. 
Es sind das solche konstitutionell verstimmte Persönlichkeiten, welche 
schon als Kinder entweder schon sehr weich veranlagt sind, zu 
trauriger Stimmung neigen, alles schwer nehmen, leicht weinen, oder 
solche, welche im Gegensatz dazu immer guter Laune sind, dabei 
vielgeschäftig und durch ihren Tätigkeitsdrang einerseits unter ihren 
Kameraden in den Vordergrund treten, andererseits auch sehr leicht 
zu Konflikten kommen. Bei einer dritten Kategorie derartiger Per- 
sönlichkeiten, die mit einem griechischen Wort als Cyklothyme be- 
zeichnet werden, wechseln diese Zustände miteinander, die Anlage 
zeigt eine ausgesprochene Neigung zu Schwankungen der Stimmung, 
zwischen die längere Perioden einer mittleren Stimmung eingeschoben 
sind. Nicht selten bleibt es im späteren Verlauf des Lebens bei den 
geschilderten Veränderungen des Gemütslebens, ohne daß eine eigent- 
liche Geisteskrankheit auftritt. 

Auch sogenannte paranoide Persönlichkeiten, d. h. Leute, welche 
späterhin an einer sogenannten Verrücktheit, einer mit ausgebildeten 
und systematischen Wahnideen verbundenen Geistesstörung erkranken, 
oder Zeit ihres Lebens nur gewissermaßen eine Vorstufe davon zeigen, 
schon als Kinder mißtrauisch und sonderbar sind, sind hier auf- 
zuführen. 

Zu den Geisteskrankheiten, deren Wetterleuchten man schon in 
der Kindheit häufig beobachten kann, gehört ferner das Jugend- 
irresein, die mit einem griechischen Ausdruck als Schizophrenie, 
lateinisch als Dementia praecox bezeichnete Geisteskrankheit. Solche 
Personen sind oft schon in der Kindheit auffällig und eigenartig, 


Jolly: Ursachen u. ärztliche Behandlung d. psychopathischen Konstitutionen. 357 


machen den Eltern durch ihre Gleichgültigkeit, ihre sonderbaren Hand- 
lungen und dergl. großen Kummer. 

So erinnere ich mich aus meiner Jugend eines Sohns einer befreundeten 
Familie, der auch auf mich als Kind einen merkwürdigen Eindruck machte, sonder- 
bare Einfälle hatte, in der Schule nicht vorwärts kam, da er und durch ihn sein 
Vater dauernde Konflikte mit den Lehrern hatte, indem der Sohn sich besonders 
in die Schulordnung absolut nicht fügen konnte, Einige Jahre später, in der Zeit 
der Geschlechtsreife war er zum Studium an einer technischen Hochschule, besuchte 
dann eines Tages eine sozialdemokratische Versammlung und trat hier unter wirren 
Reden in der Diskussion auf. Der Erfolg war, daß er sofort einer Irrenanstalt zu- 
geführt wurde, wo er heute noch als verblödeter Kranker sitzt. 

Hinweisen möchte ich, hierbei auf die Angaben amerikanischer 
Schriftsteller,!) die für das Jugendirresein rückwärtsschauend beim 
Studium des psychischen Verhaltens ihrer Kranken in der Jugend 
und im Kindesalter in einem großen Prozentsatz eine von jeher ab- 
norme Persönlichkeit feststellten, und zwar fanden sie besonders Zurück- 
gezogenheit, Sonderbarkeit, Verschrobenkeit und Verschlossenheit. 

Von den Geisteskrankheiten wenden wir uns nun zur Hysterie, 
welche unter den psychopathischen Persönlichkeiten eine nicht un- 
wichtige Rolle spielt, entweder mit anderen psychopathischen Ver- 
änderungen oder auch ohne weitere Störungen; wie wir später sehen 
werden, bestehen da natürlich wie bei allen diesen Einteilungen 
fließende Übergänge. Die gerade im "Kindesalter häufige Hysterie 
pflegt gegenüber der Hysterie der Erwachsenen gewisse Besonder- 
heiten darzubieten. Kinder zeigen häufig ein einzelnes, besonders 
hervorstechendes Symptom, wie z. B. eine Unfähigkeit des Gehens 
und Stehens, Tonlosigkeit der Stimme, veitstanzähnliche Zuckungen, 
delirante Zustände, Schlafwandeln oder dergl. Außer den körperlichen 
Symptomen ist auf psychischem Gebiet eine sehr wechselnde Stim- 
mung, Launenhaftigkeit, Unfolgsamkeit und Eigensinn, starke Phantasie- 
tätigkeit und geziertes Wesen zu erwähnen. Vielfach sind es schwäch- 
liche und kränkliche, in ihrer Entwicklung körperlich und geistig 
etwas zurückgebliebene, andererseits gerade geistig sehr regsame und 
über ihr Alter hinaus interessierte Kinder. 

Hinweisen möchte ich darauf, daß die Hysterischen sehr häufig 
demjenigen Typus sich nähern, den wir als Infantilismus bezeichnen, 
also als ein Kindgebliebensein. Dieselben bleiben nach Anton meist 
unselbständig, auffällig für Befehl und Nachahmung empfänglich, meist 
besteht rasches Aufnehmen und rasches Vergessen; die Gemüts- 


1) Bond u. Abbot, A comparison of personal characteristics in dementia 
praechx and manic-depressive psychosis. Am. J. of Ins. 1912. 
Zeitschrift für Kinderforschung. 25, Jahrgang. 24 


358 A. Abhandlungen. 

stimmung ist auffällig schwankend und übermäßig beeinflußbar; im 
praktischen Leben sind sie unselbständig und hilflos. Die Angst bei 
neuen, wenn auch leichten Aufgaben begleitet sie durch das Leben; 
sie stellen gewissermaßen eine Miniatur der voll entwickelten Psyche 
dar, aber in harmonischer Weise. Es ist nicht nötig, daß sowohl der 
Körper als auch die Psyche auf einem kindlichen Zustand stehen 
geblieben sind, sondern es kann auch allein die Seele seit dem Kindes- 
alter keine größere Entwicklung mehr erfahren haben. Zu erwähnen 
ist auch, daß bei den Hysterischen ein großer Prozentsatz einen 
leichteren bis schwereren Grad angeborenen Schwachsinns zeigt. Unter 
den hysterischen Soldaten meines Lazaretts konnte ich bei 317, welche 
wegen ihrer Hysterie dienstunbrauchbar wurden und auf ihre Intelli- 
genz eingehend geprüft wurden, in 44,2°/, mindestens einen leichteren 
Grad von Schwachsinn, eine sogenannte Debilität feststellen. 

Weiter zur Gruppe der Psychopathen im weitesten Sinn gehören 
solche Persönlichkeiten, die wir als endogen nervös oder als an- 
geboren nervös bezeichnen. In der Kindheit zeigen solche Leute 
häufig ein ängstliches und scheues Wesen, oder sie sind reizbar, 
empfindlich und unverträglich. In der Schule sind sie zerstreut, 
träumen viel, ihre Schulleistungen sind dementsprechend gering, 
manche auch zeigen sich gut, und zwar öfter einseitig begabt. In 
den Entwicklungsjahren kommt es zu trüben Stimmungen, wo die 
Willensstärke und die Selbstbeherrschung versagt, das innere Gleich- 
gewicht fehlt. Die Haupterscheinungen zeigen sich dann in einer 
gesteigerten Ermüdbarkeit, einer erhöhten Ablenkbarkeit, starker Ein- 
bildungskraft und Selbstüberschätzung bei starker gemütlicher Be- 
oinflußbarkeit und Reizbarkeit, sowie Neigung zu hypochondrischen 
Gedankengängen. Von der Hysterie sind derartige Formen oft schwer 
zu trennen. 

Auch diejenigen Persönlichkeiten, welche später an einer aus- 
gesprochenen Zwangsneurose erkranken, zeigen häufig die ersten 
Erscheinungen in den Entwicklungsjahren, ab und zu auch schon in 
der Kindheit. Dieselben treten oft zunächst andeutungsweise auf als 
übertriebene Pünktlichkeit und Skrupulosität, als Grübelsucht nicht 
selten auf dem Boden von Angstgefühlen. 

Wichtiger sind Störungen, welche man unter dem Begriff des 
impulsiven Irreseins zusammenfaßt. Hierbei zeigen sich einzelne 
krankhafte Neigungen und Triebe, z. B. die Neigung zur Brand- 
stiftung, meist handelt es sich um weibliche Personen in der Zeit der 
Entwicklungsjahre oder schon vorher, bei denen durch Heimweh, das 
Gefühl der Vereinsamung und dergl. der Gedanke erzeugt wird, aus 


Jolly: Ursachen u. ärztliche Behandlung d. psychopathischen Konstitutionen. 359 


den Verhältnissen durch irgend eine Tat herauszukommen, oder bei 
denen überhaupt kein derartiges Motiv festzustellen ist. Anzureihen 
sind eigentümliche Neigungen junger Dienstmädchen, das Leben der 
ihnen anvertrauten Kinder zu schädigen, wie z. B. eine mir bekannte 
Kranke einen Säugling mit der Hutnadel durch die sogenannte Fonta- 
nelle, im Volksmund »das Leben«, stach. Auch ein krankhafter Stehl- 
trieb, die sogenannte Kleptomanie, ist eine ab und zu schon in der 
Kindheit oder in den Entwicklungsjahren vorkommende Störung, von 
der besonders Frauen, und zwar zur Zeit der Monatsregel, betroffen 
werden. 

Auf die geschlechtlichen Verirrungen möchte ich nur kurz 
hindeuten, und zwar zunächst auf die Homosexualität, die Liebe zum 
gleichen Geschlecht, auf die hier nicht weiter eingegangen werden _ 
soll, auch nicht auf die anderen Verirrungen des Geschlechtslebens, 
wie der sogenannte Exhibitionismus, Fetischismus und die durch Er- 
dulden oder Hervorrufen von Schmerzen gekennzeichneten Geschlechts- 
triebe. 

Die psychopathischen Persönlichkeiten im engeren Sinn lassen 
bei den Erwachsenen eine Reihe von Gruppen unterscheiden, welche 
man auch schon in der Kindheit und in den Entwicklungsjahren an- 
deutungsweise finden kann, aber doch meist erst beim Rückschauen, 
d. h. solange die Störungen noch nicht so ausgebildet sind und so- 
lange man noch keinen längeren Lebenslauf überblicken kann, ist 
eine Unterscheidung im einzelnen schwer, während späterhin die in 
der Jugend beobachteten Züge sich wesentlich leichter einreihen lassen. 

Man unterscheidet zunächst sogenannte epileptoide Persön- 
lichkeiten, d. h. es findet sich keine ausgebildete Epilepsie mit 
Krempfanfällen, Verstimmungen, Erregbarkeit, Abnahme der Intelli- 
genz usw., sondern diese psychischen Symptome sind nur andeutungs- 
weise in gider auffallenden Reizbarkeit, in Umständlichkeit, Pedanterie, 
Empfindlichkeit und leicht schwankender Stimmung angedeutet. 

Als besondere Kategorie nennt man dann die sogenannten Er- 
regbaren, die durch eine auffallende gemütliche Erregbarkeit ge- 
kennzeichnet sind und besonders zu Selbstmordversuchen und Wut- 
anfällen neigen, und zu denen viele derjenigen Psychopathen gehörten, 
zu deren Beurteilung wir während des Krieges vor den Kriegsgerichten 
als Sachverständige erscheinen mußten; es handelte sich meist um 
tätlichen Angriff auf Vorgesetzte, Körperverletzungen, Bedrohungen und 
dergleichen. Meist war bei einer genauen Erhebung der Vorgeschichte 
bei diesen Erregbaren nachzuweisen, daß sie schon zu Hause und in 


der Schule zu schweren Konflikten geneigt hatten; waren sie schon 
24* 


360 A. Abhandlungen. 
verheiratet, so war die Frau häufig froh, daß ihr Mann ins Feld ge- 
kommen war. 

Eine andere Gruppe sind die sogenannten Haltlosen, die sich 
durch eine große Einbildungskraft, starke Beeinflußbarkeit des Willens, 
durch innere und äußere Einflüsse bei guter Stimmung und großer 
Eitelkeit, sowie Arbeitsscheu auszeichnen. Auch hier findet man 
schon frühzeitig Andeutungen dieser Anlagen, es kommt zu Dieb- 
stählen, Betrug und Unterschlagung. 

Als Triebmenschen werden Persönlichkeiten bezeichnet, deren 
Handlungen vielfach triebhaft bedingt sind. Man rechnet dazu solche 
Persönlichkeiten, bei denen gewisse auch sonst vorkommende ab- 
norme Triebe im Vordergrund stehen, und zwar Neigung zum Ver- 
schwenden oder zum planlosen Wandern und Fortlaufen: Bei einigen 
kommt es periodisch zu sehr starkem Alkoholgenuß, es sind dies die 
sogenannten Dipsomanen. 

Die konstitutionell Verschrobenen sind eine zu kleine 
Gruppe, um hier näher erwähnt zu werden. Dagegen sind wichtig die 
an einer sogenannten Pseudologia phantastica leidenden Persönlich- 
keiten, d.h. die Lügner und Schwindler. Die Bezeichnung dürfte 
genug sagen, die Störungen finden sich schon in der frühesten 
Jugend. 

Auch die sogenannten Antisozialen, d. h. die Gesellschafts- 
feinde, sind unter den jugendlichen Psychopathen sehr häufig; ein 
großer Teil derjenigen, welche wegen ihrer verbrecherischen Neigungen 
vor die Gerichte kommen, gehören hierzu, also ein großer Prozentsatz 
der psychopathischen Fürsorgezöglinge, deren nähere Charakteristik 
ich hier nicht zu geben brauche. 

Diese Übersicht über die verschiedenen Gruppen der psycho- 
pathischen Konstitutionen erschien mir notwendig, um bei dem 
Schwanken dieses Begriffs darzutun, was im folgenden darunter ver- 
standen wird. Es wurden dabei absichtlich nicht nur diejenigen 
Störungen berücksichtigt, welche bei den Fürsorgezöglingen eine Rolle 
spielen, sondern auch jene, bei denen eine Fürsorgeerziehung nie in 
Anwendung kommen wird, — 

Kommen wir nun auf das eigentliche Thema des heutigen Vor- 
trags, so möchte ich zunächst die allgemeinen Ursachen der psycho- 
pathischen Konstitutionen besprechen und unter diesen zuerst die 
Erblichkeit. | 

Ererbt ist dasjenige, was die Nachkommen von den Vorfahren 
durch die Keimzellen erhalten haben. Während es im strengen Sinn 
des Worts keine ererbten Krankheiten gibt, so kennen wir doch einer- 


Jolly: Ursachen u. ärztliche Behandlung d. psychopathischen Konstitutionen. 361 


seits eine Reihe von erblich übertragbaren Anomalien und Miß- 
bildungen, z. B. die Sechsfingrigkeit und andererseits nehmen wir in 
vielen Fällen eine Erblichkeit der Krankheitsanlage an. 

Diese ererbte Krankheitsanlage kann entweder derart sein, daß 
zur Entwicklung einer Krankheit zu der Anlage sich noch ein äußeres 
Moment gesellen muß, oder daß die Krankheit selbst sich ohne äußeres 
Moment im Laufe des Lebens ausbildet. 

Während es sich bei den genannten Erscheinungen um solche 
handelt, die bei den Vorfahren ebenso vorhanden waren, wie sie 
bei den Nachkommen festgestellt werden, gibt es außerdem noch 
Faktoren, die zwar auch schon in den Keimzellen vorhanden sind, 
die aber auf Veränderungen beruhen, welche das sogenannte Keim- 
plasma in den Eltern durch äußere Schädigungen erlitten hat, z. B. 
durch Alkohol oder Syphilis. Auf diese sogenannten Keimschädi- 
gungen wird später noch zurückzukommen sein. | 

Im gewöhnlichen Sprachgebrauch pflegt man keine genauen 
Unterscheidungen zu machen und alle derartigen Krankheiten, also 
auch die durch Keimschädigungen erworbenen, als ererbt und erblich 
zu bezeichnen. Dies hat wohl hauptsächlich seinen Grund darin, daß 
es oft schwer ist, hier genau zu unterscheiden und daß vielfach 
mehrere Momente zusammenwirken. 

Zu den eigentlichen erblichen Krankheiten gehört auch ein großer 
Teil der Geisteskrankheiten mit Ausnahme der meisten Fälle von 
Schwachsinn und Idiotie, die ja häufig auf Schädigung der Keimzellen 
oder Schädigung des werdenden Kindes in der Gebärmutter beruhen. 

Wie schon erwähnt wurde, ist es häufig schwer oder unmöglich, 
genau zwischen einer wirklich ererbten und einer durch Keimschädi- 
gung erworbenen Störung zu unterscheiden. Es trifft dies besonders 
auch für die Psychopathien zu. Nicht selten findet man, daß in der 
Familie eines Psychopathen, also bei seinen Eltern oder seinen Ge- 
schwistern oder weiteren Verwandten ebenfalls ähnliche oder die- 
selben Psychopathien vorgekommen sind, wie dies z. B. in der be- 
rühmten Familie Zero, welche von dem Schweizer Arzt Jörger!) 
mit großer Sorgfalt verfolgt wurde, in ausgeprägtem Maß der Fall 
ist. Durch Heirat mit einem Vagabunden entstand hier eine große 
Reihe von vagabundierenden Psychopathen, die sich durch Heirat in 
ähnliche Familien sehr weit ausdehnte. 

Derselbe Psychiater?) studierte eine mit dieser Familie Zero 


1) Jörger, Die Familie Zero. Archiv f. Rassen- u. Ges.-Biol. 1905. 
2) Jörger, Die Familie Markus. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie. 1918. 


362 A. Abhandlungen. 


verwandte Familie Markus. Aus seinen interessanten Feststellungen 
sei angeführt, daß bei der ersten Gruppe dieser Familie der Wander- 
trieb und der Alkoholismus der Eltern besonders in die Augen springt. 
Letzterer steigert sich bei den Söhnen zu abnormen psychopathischen 
Charakteren. Die Töchter sind intellektuell und moralisch minder- 
wertig. Alle heiraten ins eigene Geschlecht oder in ähnliche Sippen 
hinein. Von den Enkeln sind manche im Kindesalter gestorben. Die 
lebenden sind in der Überzahl intellektuell und moralisch entartet. 
An verschiedenen Orten treten verbrecherische Neigungen auf. In 
einer anderen Gruppe der Familie hat sich ein intelligenter, aber 
sittlich-moralisch tiefstehender Trinker mit einer psychopathischen 
Familie verbunden. Mit einer einzigen Ausnahme, wo eine ordent- 
liche Heirat im Sinne einer Besserung bestimmend gewirkt hat, ist 
die Nachkommenschaft minderwertig, neigt zum Umherstrolchen und 
ist teilweise schwachsinnig, Es treten Geistesstörungen und ver- 
brecherische Neigungen auf. In einer anderen Gruppe scheint der 
gute Charakter des Großvaters da und dort zur Geltung gelangt zu 
sein, während Trunksucht und Minderwertigkeit der Eltern in den 
Nachkommen geistige Schwäche und körperliche Abnormitäten hervor- 
brachten. In einer letzten Linie hat die Ehe eines Trinkers mit 
einer Schwachsinnigen eine zum großen Teil schwachsinnige und 
trinkende Nachkommenschaft ergeben. 

Ich ging etwas näher auf diese Familie ein, weil dieselbe sehr 
gut die Folgen psychopathischer Belastung sowie der Keimschädi- 
gungen durch Alkohol zu illustrieren geeignet ist. 

Diesen individuellen Methoden, wenn man so sagen darf, die Erb- 
lichkeit zu verfolgen, steht die schon lange geübte statistische 
Methode gegenüber. Dieselbe ist in den letzten Jahren häufig, und 
zwar mit vollem Recht, sehr angegriffen worden. Als belastende 
Momente waren eine Zeitlang fast alle Krankheiten aufgefaßt worden, 
die sich in der Ascendenz fanden, so daß man schließlich bei den 
Psychosen eine Heredität von 95°/, festzustellen glaubte. Nachdem 
man die Unhaltbarkeit dieser Ansichten eingesehen hatte, schränkte 
man die als belastend angesehenen Momente bedeutend ein, doch 
wurden für Geisteskrankheiten und auch für Psychopathien im all- 
gemeinen alle Nerven- und Geisteskrankheiten und die damit ver- 
wandten Erscheinungen, wie auffallende Charaktere, Selbstmord und 
Trunksucht als belastende Faktoren angesehen. Man fand jedoch bei 
dem Vergleich zwischen Geisteskranken und Geistesgesunden, daß 
auch letztere derartige Momente in großem Prozentsatz aufweisen, so 
konnte ich bei einer Gegenüberstellung von 200 Geisteskranken und 


Jolly: Ursachen u. ärztliche Behandlung d. psychopathischen Konstitutionen. 363 





ebensovielen Geistesgesunden feststellen,!) daß die Anzahl der Be- 
lasteten unter den Geisteskranken mit 64,5 °/, gegen 46,5 °/, nicht 
sehr viel höher war wie bei den Geistesgesunden. Auf den Geistes- 
kranken trafen 2 Belastungsmomente gegen 1,6 auf den belasteten 
Gesunden. Es ergab sich ferner, daß nur wirklich psychische Ver- 
änderungen der Blutsverwandten erblich belastend wirken. 

Bei der Frage der Erblichkeit ließe sich daran denken, daß die 
Psychopathien vielleicht teilweise nicht als solche, sondern als so- 
genannte Zwischenformen vererbt werden, wie wir sie bei dem 
Studium der sogenannten Mendelschen Vererbungsregeln finden können 
und wie sie in der Natur sehr häufig sind. Genauer auf diese Mendel- 
schen Regeln hier einzugehen, fehlt die Zeit, so interessant auch die 
Versuche sind, dieselben auf die Vererbung bei Menschen und be- 
sonders auf die Vererbung der geistigen Störungen anzuwenden. 
Es besteht die Vermutung, daß bestimmte Geisteskrankheiten, das so- 
genannte manisch-depressive Irresein, und die sogenannte Schizophrenie 
oder Jugendirresein vielleicht wenigstens in ihrer Anlage durch die 
genannten Regeln geführt werden. Über die Psychopathien liegen 
noch keine ins einzelne gehende Untersuchungen vor, ob dieselben 
Aussicht auf Erfolg hätten, steht auch dahin, weil ja die Übergänge 
zwischen Psychopathie und geistiger Gesundheit oft sehr fließende 
sind. Die genannte Annahme, daß es sich vielleicht bei den Psycho- 
pathien, also den Grenzzuständen zwischen geistiger Gesundheit und 
geistiger Krankheit um Zwischenformen im Mendelschen Sinn?) 
handelt, möge durch das Beispiel erläutert werden, daß es z. B. 
Pflanzen gibt, die bei Vermischung von rotblühenden mit weißblühen- 
den Pflanzen in der nächsten Generation rosablühende Pflanzen her- 
vorbringen, oder Pflanzen, welche in allen Farben von weiß bis rot 
variieren. Daß ferner die wechselnde Kombination der Erbfaktoren 
ein Merkmal äußerlich abstufen kann, wie z. B. bei den Farbenrassen 
der Hausmaus, daß besondere Intensitätsfaktoren anzunehmen sind, 
wie z. B. bei den Mulatten. Auch Schwankungen der Lebenslage 
oder äußere Verhältnisse könnten derartige Zwischenform hervorrufen, 
wie wir z. B. bei Pflanzen mit gleichen ererbten Qualitäten Fluktua- 
tionen der verschiedensten Merkmale beobachten können, welche durch 
die Gunst oder Ungunst der äußeren Verhältnisse hervorgerufen 
wurden. Auf weitere derartige Zwischenformen der Natur hier ein- 
zugehen würde zu weit führen. 

1) Ph. Jolly, Über Heredität bei Geistesgesunden und Geisteskranken. Medi- 


zinische Klinik 1913. 
?) L. Plate, Vererbungslehre. Leipzig 1913. S. 453. 


364 A. Abhandlungen. 


Eine wichtige Ursache der Psychopathien ist die Keimschädi- 
gung, wenn also das Ei oder die Samenzelle im mütterlichen, bezw. 
väterlichen Organismus geschädigt wird. Auch die Schädigungen im 
Mutterleib sind hier gleich anzureihen, da dieselben von der Keim- 
schädigung praktisch häufig nicht zu trennen sind. 

Derartige Schädigungen können zunächst durch körperliche Krank- 
heiten erfolgen, durch Tuberkulose, durch Gicht u. a. sogenannte kon- 
stitutionelle Krankheiten, vor allem aber durch den Erreger der 
Syphilis, die Spirochaeta pallida. Wieweit durch die Syphilis ganze 
Familien geschädigt werden, haben besonders die Untersuchungen 
von Angehörigen der Paralytiker gelehrt, also derjenigen Kranken, 
bei denen die Syphilis zu einer Paralyse, einer Gehirnerweichung, 
geführt hat. Bekannt ist ja, daß in solchen Familien Kinderlosigkeit, 
Fehl- und Frühgeburten, sowie große Kindersterblichkeit sehr ver- 
breitet sind. So waren bei eingehenden Untersuchungen !) über die 
Nachkommenschaft der Paralytiker unter deren Kindern besonders 
häufig Schwachsinn verschiedenen Grades, ferner abnorme Charaktere, 
sogenannte moral insanity, Neigung zu Selbstmord, schwere Nervosität, 
Psychopathen aller Art. Auch die Untersuchungen des Bluts auf die 
sogenannte Wassermannsche Reaktion ergaben in den Familien der 
Syphilitischen sehr große Prozentsätze von Syphilis. Gerade jetzt, 
infolge des Krieges durch das unsolide Leben in der Etappe und die 
in Frankreich, Belgien, Rumänien usw. von jeher stark verbreitete 
Syphilis ist dieses Leiden auch bei uns in Deutschland immer mehr 
verbreitet worden, und bei der zurzeit herrschenden Vergnügungs- 
sucht und Unmoral sind die trübsten Folgen für die Zukunft zu er- 
warten, und zwar auf psychiatrischem Gebiet nicht nur eine starke 
Zunahme der Paralysen, sondern voraussichtlich auch der Psycho- 
pathien. 

Keimschädigung wird auch hervorgerufen durch Gifte, so durch 
Blei, und zwar bei Arbeitern und Arbeiterinnen, welche in der blei- 
verarbeitenden Industrie beschäftigt sind. Trotz mannigfacher gewerbe- 
hygienischer Schutzmaßregeln treten Schädigungen in Form von Früh- 
und Fehlgeburten und minderwertiger Entwicklung der Kinder öfter 
auf, praktisch fallen diese Störungen aber zahlenmäßig nicht ins Ge- 
wicht. Von den Giften ist das Wichtigste der Alkohol. Zunächst 
sei erwähnt, daß der Zeugung im Rausch ein schwer schädigender 
Einfluß zugeschrieben wird, der allerdings noch nicht ganz sicher zu 


1) Junius u. Arndt, Über die Deszendenz der Paralytiker. Zeitschr. f. d. 
ges. Neurol. u. Psychiatrie 1913. 


Jolly: Ursachen u. ärztliche Behandlung d. psychopathischen Konstitutionen. 365 


sein scheint. Jedenfalls aber wirkt chronischer Alkoholismus des 
Vaters oder der Mutter sehr schädigend auf die Nachkommenschaft 
ein. Wie die Vorgänge im einzelnen vor sich gehen, ist.nicht be- 
kannt. Es stellte eine Bearbeitung der Stammbäume aus 2 badischen 
Weinorten mit ca. 1000 und 200 Einwohnern u. a. fest,!) daß ein 
großer Teil der Kinder in den ersten Lebensjahren an allgemeiner 
Schwäche oder infolge mangelhafter Widerstandskraft gegenüber In- 
fektionskrankheiten starb. Vielfach waren die Kinder aus Trinkerfamilien 
angeboren schwachsinnig oder psychopathisch, neigten zu Trunksucht 
und Geisteskrankheiten. Gerade unter unseren Psychopathen finden 
wir Alkoholismus des Vaters sehr häufig angegeben, seltener der 
Mutter, da ja bei uns in Deutschland der Alkoholmißbrauch der 
Frauen nicht häufig ist. Natürlich ist hierbei auch zu berücksichtigen, 
wie weit nicht etwa der Alkoholismus des Vaters schon ein Ausdruck 
einer Psychopathie war, so daß also eine direkte gleichartige Ver- 
erbung vorliegen würde. 

Auch Morphium und Cocain’'sind Gifte, die bei längerem 
Gebrauch und Gewöhnung keimschädigend wirken, auch hier ist je- 
doch zu berücksichtigen, daß der Mißbrauch dieser Gifte auf eine 
gewisse Psychopathie hinzudeuten pflegen. Eine vortreffliche Schutz- 
maßregel der Natur ist übrigens, daß alle diese Gifte bei starkem 
und lange fortgesetztem Gebrauch schließlich die Fortpflanzungsfähig- 
keit aufheben. 

Wir kämen nun zu den Schädigungen in der Kindheit, 
welche eine Psychopathie hervorrufen können — die Schädigung im 
Mutterleib wurde schon erwähnt. In der Kindheit kann das Gehirn 
durch Unfälle stark geschädigt werden, doch ist dasselbe bekanntlich 
sehr elastisch und nachgiebig, — viele von uns sind ja in der ersten 
Kindheit auf den Kopf gefallen, ohne daß eine Schädigung zurück- 
geblieben ist. Durch Krankheiten, besonders Infektionskrankheiten, 
kann es zu Gehirnentzündungen und anderen organischen Störungen 
des Gehirns kommen, welche aber in der Regel entweder gar keine 
` Folgen hinterlassen oder schwerere Folgen in der Form von Schwach- 
sinn, Idiotie, Lähmungen u. dergl. Auch Alkoholgenuß in der Kind- 
heit kann im Gehirn schweren Schaden bringen. Es ist ja bekannt, 
daß in Schnapsgegenden die Säuglinge nicht selten Schnaps bekommen, 
damit sie nicht soviel schreien. Eine Statistik stellte fest, daß von 
591 Kindern nur 134 keine geistigeu Getränke genossen hatten, 
während 219 täglich, 74 sogar mehrmals täglich Alkohol zu sich 


1) Gruber u. Rüdin, Fortpflanzung, Vererbung, Rassenhygiene. München 1911. 


366 A. Abhandlungen. 


nahmen. Dabei zeigte sich unzweideutig, daß jene ersteren die Besten, 
diese dagegen die Schlechtesten in der Schule waren. 

Den bis jetzt besprochenen, gewissermaßen organischen Ursachen 
der Psychopathie gegenüber stehen die psychischen Ursachen, 
die Einflüsse der Umgebung, der Erziehung, oder vielmehr der fehlen- 
den Erziehung usw., auf die ich wohl nicht länger einzugehen brauche. 
Allein werden diese Einflüsse selten wirksam sein, faßt immer wird 
eine Anlage der Psychopathie vorhanden sein müssen. Freilich wird 
es ohne äußere ungünstige Verhältnisse nicht zu einer ausgebildeten 
Psychopathie kommen. Daß der Krieg und seine Nachwehen, die 
Verwahrlosung der Jugend, das schlechte Beispiel auch der Er- 
wachsenen, die allgemeine Unmoral und die ungünstigen pekuniären 
Verhältnisse, in die viele Familien geraten sind, den günstigen Boden 
für die Weckung und Ausbildung psychopathischer Anlagen darbieten, 
braucht nur angedeutet zu werden. 

Die speziellen Ursachen der einzelnen Formen der Psycho- 
pathien bedürfen noch einer gesonderten Besprechung. Diejenigen 
Psychopathien, welche sich als Vorstufen einer später zur Entwick- 
lung kommenden Geisteskrankheit erweisen oder ohne daß es tatsäch- 
lich zum Ausbruch einer solchen kommt, die entsprechende Ver- 
anlagung erkennen lassen, werden durch dieselben Ursachen be- 
dingt, welche die Anlage zu der betreffenden Geisteskrankheit hervor- 
rufen. Für die manisch-depressiv veranlagten Persönlichkeiten, 
also die von jeher depressiv oder besonders heiter oder ausgesprochen 
wechselnd gearteten Individuen finden wir demnach sehr häufig eine 
gleichartige Vererbung, da in derartigen Fällen sehr häufig bei einem 
der Eltern oder bei etwas entfernter Verwandten eine entsprechende 
Gemütsverfassung nachzuweisen ist oder berichtet wird. Nach ein- 
gehenden Studien gilt dies besonders für die Depressiven, also die 
traurigen Veranlagungen. 

Auch die von jeher paranoiden Persönlichkeiten zeigen bei 
ihren Blutsverwandten sehr häufig ähnliche Gestaltung des Charakters. 

Die Familien der später an Jugendirresein erkrankenden Per- 
sonen haben häufig einzelne verschrobene, eigenartige, sonderbare 
Mitglieder, die auf eine ausgesprochene Erblichkeit dieser Erkran- 
kungen hinweisen. Oft ist allerdings auch nichts in der Familie 
nachzuweisen, was aber vielfach daran liegen kann, daß unsere Kennt- 
nisse schon über die nächsten Verwandten auf psychischem Gebiet 
sehr gering zu sein pflegen, während die Vererbung bei dieser 
Störung offensichtlich mehrere Generationen überspringen kann, was 
dann also nicht nachzuweisen ist. Auch dem Alkohol des Vaters 


Jolly: Ursachen u. ärztliche Behandlung d. psychopathischen Konstitutionen. 367 


oder beider Eltern wird bei dem Jugendirresein eine wichtige Rolle 
zugeschrieben, doch konnte ich bei Erblichkeitsuntersuchungen diese 
Angaben für meine Kranken nicht bestätigen. Auch sonst dürfte der 
Einfluß keimschädigender und anderer äußerer, exogener Momente, 
auch des Milieus auf diese Formen der Psychopathien sehr gering 
zu veranlagen sein. 

Hysterische Störungen treten besonders früh bei Kindern auf, 
die allerlei Entwicklungsschädigungen aufweisen. Man kann dann 
eine Reihe von sogenannten Degenerationszeichen nachweisen, wie 
Deformationen des Schädels, Riefung der Zähne, sehr schmaler und 
steiler Gaumen, angewachsene Ohrläppchen usw., die aber nur bei 
gehäuftem Auftreten und im Verein mit anderen Symptomen einen 
Wert besitzen. Die Angaben über die erbliche Belastung der hysteri- 
schen Kinder betonen die Bedeutung derselben, jedenfalls wird sehr 
häufig eine gleichartige Bedeutung durch die Eltern berichtet. Be- 
sonders eine hysterische Mutter wird sehr häufig genannt, wobei aber 
natürlich auch außer der erblichen Belastung die psychische Ein- 
wirkung bei der Erziehung eine große Rolle spielt. Dasselbe gilt 
für andere psychopathische Zustände, die man nicht selten findet; 
nicht unwichtig scheint auch Alkoholismus der Eltern zu sein. Zu 
bemerken ist, daß man öfter Hysterie bei Geschwistern findet, was 
ja natürlich auch auf dem gegenseitigen Einfluß der Kinder auf- 
einander beruhen kann. Häufig sind Hysterische einzige Kinder oder 
die einzigen ihres Geschlechts unter den übrigen Kindern. Früher 
war man häufig der Ansicht, daß hysterische Störungen fast aus- 
schließlich bei weiblichen Patienten vorkommen, woraus sich ja auch 
der von dem griechischen Wort für Gebärmutter abgeleitete Name 
der Krankheit herleitet. Wir sehen aber auch bei männlichen Kin- 
dern nicht selten hysterische Erscheinungen. Bei den Erwachsenen 
hat uns der Krieg bekanntlich unter unseren Soldaten eine ungeheuere 
Anzahl von hysterischen Störungen gebracht, welche eine eingehende 
Organisation zur Behandlung und Bekämpfung dieses Leidens not- 
wendig machten. Auch im Frieden waren ja unter den Soldaten, 
wie ich mich von meiner Tätigkeit an der Kieler Nervenklinik er- 
innere, und zwar besonders unter den Marineangehörigen, die ja immer 
eine größere Anzahl von Psychopathen aufwiesen, hysterische Er- 
krankungen kein seltenes Vorkommnis. Bei der kindlichen Hysterie, 
welche wie schon erwähnt vorzugsweise monosymptomatisch auftritt, 
d. h. ein Symptom in den Vordergrund treten läßt, spielt sicher der 
bei den Kindern besonders stark entwickelte Nachahmungstrieb eine 
große Rolle. Daß ein großer Prozentsatz der Hysteriker auch auf 


368 A. Abhandlungen. 


intellektuellem Gebiet weniger leistungsfähig ist, wurde schon erwähnt. 
Einen großen Einfluß auf das Auftreten hysterischer Krankheitsbilder 
üben Gemütsbewegungen aus. Irgend welche Ereignisse in der Fa- 
milie oder in der Schule, ein Schreck oder dergl. führen bei den 
dazu veranlagten Individuen sehr leicht zu hysterischen Erscheinungen. 
Bei unseren Soldaten war es die Furcht vor dem Dienst, und be- 
sonders dem Felddienst, welche bei den oft durch körperliche und 
vor allem durch psychische Strapazen in ihrer Widerstandskraft ge- 
schwächten Persönlichkeiten das Leiden zum Ausbruch brachte. Ähn- 
lich sehen wir das ja bei anderen Erwachsenen, und zwar bei den 
nach entschädigungspflichtigen Unfällen hysterisch erkrankenden Per- 
sönlichkeiten, auch in der Haft treten erfahrungsgemäß durch die 
psychischen Einflüsse des ganzen Verfahrens nicht selten hysterische 
Krankheitsbilder auf. Körperliche Erkrankungen dürften bei der Ent- 
stehung einer Hysterie kaum eine Rolle spielen. 

Die Ursachen der als endogene Nervosität bezeichneten Formen 
der Psychopathie liegen im wesentlichen in einer angeborenen psycho- 
pathischen Veranlagung. Ebenso wie bei der Hysterie wird hier sehr 
häufig eine gleichartige Belastung durch Eltern angegeben. Geistes- 
krankheiten und Alkoholismus spielen keine Rolle, dagegen sonstige 
psychopathische Zustände der Eltern. Äußere Einflüsse, wie körper- 
liche Krankheiten oder psychische Erregungen, wirken offenbar kaum 
mit, wenn auch vielleicht z. B. das Milieu großer Städte eine vor- 
handene Anlage leichter zur Entwicklung bringt, wie das ruhige Leben 
auf dem Land. | 

Auch bei den relativ seltenen als Zwangsneurotiker be- 
zeichneten Psychopathen ist die erbliche Belastung von besonderer 
Bedeutung. Nicht selten kann man ähnliche Störungen unter Bluts- 
verwandten nachweisen. Erbliche Belastung im weiteren Sinn wird 
meist gemeldet. Die Bedeutung geschlechtlicher Ereignisse und Ge- 
dankengänge für die Entstehung dieser Störungen ist vielfach über- 
schätzt worden. 

Die geschlechtlichen Verirrungen, und zwar besonders die 
gleichgeschlechtliche Liebe, also die Homosexualität, beruht ebenfalls 
meist auf einer kranken Anlage. Sehr oft wird eine allgemeine erb- 
liche persönliche Belastung, und zwar besonders durch die Eltern, an- 
gegeben, die auf eine ausgesprochene Entartung hinweist. Schon in 
der Kindheit, besonders aber dann in der Zeit der Geschlechtsreife, 
pflegen sich dann die Störungen auszubilden, wobei äußere Einflüsse 
wie schlechtes Beispiel usw., nicht selten eine Rolle spielen. Auch 
Alkoholgenuß ist in einer Reihe von Fällen für die Bahnung dieser 


Jolly: Ursachen u. ärztliche Behandlung d. psychopathischen Konstitutionen. 369 


krankhaften Triebe verantwortlich zu machen, jedoch wohl nur bei 
etwas älteren, nicht mehr in der ersten Jünglingszeit stehenden Per- 
sonen, wie wir es bei unseren Soldaten mehrfach sahen, wo unter 
Alkoholwirkung die sonst die gleichgeschlechtliche Neigung zurück- 
haltenden Hemmungen aufgehoben waren. Jedenfalls scheinen bei 
dieser Form der Psychopathie äußere Umstände eine wesentlichere 
Bedeutung zu besitzen. 

Die Ursachen, welche das Auftreten der als Erregbare be- 
zeichneten psychopathischen Persönlichkeiten bewirken, liegen haupt- 
sächlich auf dem Gebiet der Vererbung, und zwar sowohl allgemeiner 
psychopathischer Belastung, als auch ähnlich gerichteter Entartung, 
Geisteskrankheiten der Eltern und der Familie sind auch hier so gut 
wie nicht zu verzeichnen; öfter findet sich Alkoholismus der Erzeuger. 
Häufig sind es schwächliche, auch körperlich minderwertige Persönlich- 
keiten, welche nicht selten spät laufen und sprechen lernten, lange 
Zeit an Bettnässen litten, später spielt als verschlechterndes Element 
öfter Alkoholismus eine nicht unwesentliche Rolle. 

Auch bei den als Haltlose abgetrennten psychopathischen Per- 
sönlichkeiten sind, wie das für alle Psychopathien gilt, genaue Fest- 
stellungen über die Erblichkeit noch nicht vorliegend. Immerhin ist 
anzugeben, daß allgemeine nervöse Belastung, sowie besondere Be- 
lastung durch die Eltern oft vorliegt. Auch hier ist nicht selten die 
körperliche Entwicklung ebenfalls zurückgeblieben. Von äußeren Mo- 
menten, die zum weiteren Fortschreiten der Störungen führen, muß 
ungünstiger Einfluß der Eltern, Geschwister und der sonstigen Um- 
gebung angeführt werden, besonders Verkommenheit und Armut der 
häuslichen Umgebung sind bei haltlosen Persönlichkeiten sicher von 
größtem Einfluß. 

Die Lügner und Schwindler weisen ebenfalls eine große Be- 
lastung von seiten der Eltern durch nervöse Störungen, besonders 
durch Psychopathie auf. Alkoholismus ist unwesentlich. Manchmal 
sind die Kinder zunächst schlecht körperlich entwickelt. 

Sehr hoch sind die festgestellten Belastungszahlen bei den Anti- 
sozialen, den Gesellschaftsfeinden, und zwar vielfach durch Alkoholis- 
mus oder Psychopathie der Eltern. Geisteskrankheiten waren belang- 
los. Oft sind kriminelle Neigungen in der Verwandtschaft anzutreffen, 
manchmal allerdings ist in der Familie über die wir aber, wie schon 
mehrfach erwähnt,. natürlich nur einen beschränkten Überblick haben, 
absolut nichts nachzuweisen, die Kinder sind völlig aus der Art ge- 
schlagen. Zur Erklärung dieser Tatsache könnten wir bei dem un- 
befriedigenden Zustand unserer Kenntnisse auf diesem Gebiet nur 


370 A. Abhandlungen. 


Hypothesen heranziehen. Körperlich ist ein nicht unbedeutender Teil 
dieser Kinder zurückgeblieben, besonders Bettnässen ist nicht selten. 
Auch Krämpfe in der Kindheit werden öfter angegeben. Die so- 
genannten Entartungszeichen sind schon vorhin erwähnt worden, 
werden bei statistischen Untersuchungen bei diesen Personen in be- 
sonderer Häufigkeit nachgewiesen. Auch äußere Einflüsse, also das 
Milieu, ist sicher von großer Bedeutung, wenn auch die Ansichten 
über diese Bedeutung ziemlich auseinandergehen. Die Verwahrlosung 
durch mangelhafte Erziehung, die nicht selten auf unehelicher Geburt 
beruht, ist hier vor allem zu erwähnen. Auch Trinkerfamilien ge- 
fährden ihre Nachkommen in dieser Richtung nicht nur durch Keim- 
schädigung, sondern auch durch die verlotterten häuslichen Verhält- 
nisse, Öfter findet sich Bestrafung der Eltern. Das Auftreten der 
krankhaften Störungen erfolgt oft in der Zeit der Geschlechtsreife, 
wenn die Kinder aus dem Verband der Familie in das Erwerbsleben 
hinaus treten. 

Als Ergebnis dieser kurzen Betrachtung der Ursachen der psycho- 
pathischen Konstitutionen läßt sich zum Schluß feststellen, daß wir 
zwar im großen und ganzen die Ursachen der Psychopathien erkennen 
können, daß im einzelnen aber noch sehr vieles unerforscht ist, dessen 
Aufklärung auch zur Behandlung der Psychopathien, dem Thema des 
morgigen Vortrags, von großem Nutzen wäre. 


JI. 

Während wir gestern die Ursachen der psychopathischen Kon- 
stitutionen zu erörtern hatten, ist das Thema des heutigen Vortrags 
die ärztliche Behandlung der psychopathischen Konstitutionen. Die Be- 
sprechung der pädagogischen Behandlung und besonders die Fürsorge- 
erziehung scheidet also für mich aus. 

Die eigentliche direkte ärztliche Behandlung nun nimmt einen 
geringeren Raum ein gegenüber der indirekten Behandlung, oder viel- 
mehr der Verhütung, der sogenannten Prophylaxe. Auf diesem 
Gebiet kann der Arzt sowohl durch sein persönliches Wirken bei 
seinen Patienten in der Sprechstunde und in der Familie viel Segen 
stiften, andererseits kann sein Einfluß auch im öffentlichen Leben, in 
Vereinen, in den Gemeindeverwaltungen und den übrigen Vertretungen 
des Volks bis zur Nationalversammlung von größtem Nutzen sein. 
Leider ist die früher so verbreitete Gewohnheit mit einem Hausarzt 
alle Familienangelegenheiten zu besprechen und seinen Rat einzuholen, 
immer mehr in Abnahme gekommen. Der Arzt kennt dadurch die 
Familien viel weniger wie früher und hat auch weniger Interesse 


Jolly: Ursachen u. ärztliche Behandlung d. psychopathischen Konstitutionen. 371} 


daran, deren Gestaltung günstig zu beeinflussen. Leider haben auch 
die meisten Ärzte wenig Neigung und wenig Zeit, in der Öffentlich- 
keit die Forderungen der sozialen Hygiene zu verbreiten und zu ver- 
treten. Im unseren Parlamenten ist eine verschwindend geringe An- 
zahl von Ärzten; in der Deutschen Nationalversammlung sind es, soviel 
ich weiß, nur zwei. Dazu ist natürlich auch nicht jeder Arzt in der 
Lage, die für die Volksgesundheit besonders wichtigen Wünsche auf 
unserem, dem psychiatrischen Gebiet zu vertreten, da die Lehren der 
sozialen Psychiatrie noch wenig in weitere Kreise gedrungen sind. 

Die Verhütung der Entstehung psychopathischer Konstitutionen 
hat sich zunächst gegen die durch Erblichkeit gegebenen Möglich- 
keiten zu wenden. Leider muß man hier nun bekennen, daß unser 
Wissen auf dem Gebiet der Vererbung dieser Störungen noch ziem- 
lich unsicher ist. Daß mit den üblichen Belastungsprozenten garnichts 
anzufangen ist, wurde schon gestern erwähnt. Im allgemeinen wissen 
wir zwar, daß Erblichkeit eine große Rolle spielt, aber in dem ein- 
zelnen Fall, wenn man z. B. einen schweren Psychopathen vor sich 
hat, ist absolut nicht gesagt, daß eines seiner Kinder oder gar alle 
auch psychopathisch werden. Es ist deshalb kaum angängig, solchen 
Leuten, wenn es überhaupt möglich wäre, unbedingt die Ehe zu ver- 
bieten. In Nord-Amerika ist der Versuch gemacht worden!) durch 
die Kastration, also die Verhinderung der Fortpflanzung psycho- 
pathischer Verbrecher im Sinn der Rassenhygiene oder Eugenik, das 
heißt der Verbesserung der Rasse durch Verhütung minderwertigen 
Nachwuchses vorzugehen. Diese Versuche blieben aber vereinzelt — 
es wurden etwas über 800 Verbrecher kastriert — und dürften bei 
der Unsicherheit der Vererbungsregeln keine Nachfolge finden; bei 
uns würde ja auch jede gesetzliche Handhabe dazu fehlen, und ein 
derartiges Gesetz keine Aussicht auf Annahme haben. — Auch in 
der Schweiz?) wurden übrigens einige Kastrationen aus eugenischen 
Gründen ausgeführt. Eine alte psychiatrische Erfahrung ist, daß sich 
Psychopathen immer finden, daß also auch als Ehepartner häufig 
Psychopathen sich für das Leben vereinigen. Nicht nur die Ehe, 
sondern auch der außereheliche Geschlechtsverkehr kann nicht ver- 
hindert werden. 

Immerhin wäre doch auch in Hinsicht auf erbliche Belastung 


1) Wilhelm, Beseitigung der Zeugungsfähigkeit und Körperverletzung de lege 
lata u. delege ferenda. Halle, Marhold, 1911. — Hoffmann, Die Rassenhygiene 
in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. München, Lehmann, 1913. 

2) Gruber u. Rüdin, Fortpflanzung, Vererbung, Rassenhygiene. München 
1911. S. 88. 


372 A. Abhandlungen. 


der viel erörterte Gedanke von Ehezeugnissen!) der Ausführung 
wert. Schon wenn man durch ein solches Zeugnis, also durch die 
Tatsache, daß überhaupt ein Arzt bei der Ehe mitzusprechen hat, die 
Ehekandidaten auf die große Wichtigkeit der Gesundheit hinweist, 
die ja bei der Eheschließung gegenüber dem Geld, der äußeren 
Stellung usw. meist vernachlässigt zu werden pflegt, würde sicher von 
Nutzen sein. Auf dem Gebiet der psychischen Störungen würde man 
sich hierbei natürlich bei der Unsicherheit unserer Kenntnisse sehr 
vorsichtig ausdrücken müssen, doch würde ausgesprochene vererbbare 
Geisteskrankheit eines und besonders beider Eltern, auch Trunksucht 
und sonstige psychopathische Artung vom Eingehen einer Ehe dringend 
abraten lassen. Verwandtenehen halte ich an und für sich nicht für 
ungünstig, sondern nur dann, wenn von beiden Seiten tatsächlich be- 
lastende Momente sich häufen, wie ja auch sonst gerade eine beider- 
seitige gleichsinnige Belastung sehr zu fürchten ist. 

Bei der Bekämpfung der Keimschädigung dient zur Verhütung 
der Psychopathien besonders der Kampf gegen den Alkohol. Am 
idealsten wäre natürlich, wenn man den Alkohol, der ja von vielen 
Millionen Muhamedanern, Buddhisten sowie vielen anderen völlig ge- 
mieden wird, gänzlich ausschalten könnte. Eine der wenigen guten 
Folgen dieses Krieges ist es ja, daß wir auf diesem Gebiet etwas 
voran gekommen sind. In Rußland wurde der Alkoholgenuß, der ja 
dort besonders schwere Schädigungen in allen Kreisen des Volks an- 
gerichtet hatte, völlig verboten. Wie weit dies bei der russischen 
Korruption tatsächlich in Wirksamkeit getreten ist, entzieht sich unserer 
genaueren Kenntnis. Man hört aber auch, daß außerdem der Alkohol 
in Rußland jetzt so unerschwinglich teuer ist, daß sein Genuß zu den 
Seltenheiten gehören würde. In jüngster Zeit haben die Vereinigten 
Staaten von Nord-Amerika, die schon zu einem kleinen Teil ein 
Alkoholverbot hatten, für den ganzen Bereich ihrer Staaten den Ver- 
kauf von Alkohol verboten. Diese großzügige Maßnahme hat, wie 
aus einem Zeitungsbericht zu ersehen ist, schon sehr gute Folgen ge- 
habt. Besonders die Zahl der Verbrechen und Vergehen hat sehr 
abgenommen. Es war ja schon lange statistisch nachgewiesen, daß ein 
großer Teil der Delikte auf die Tage des größten Alkoholgenusses ge- 
fallen war, also auf Sonnabend und Sonntag, und zwar besonders 
Roheitsdelikte, grober Unfug u. dergl. 

Auch auf die Entstehung von Psychopathien wird diese Alkohol- 
abstinenz sicher vermindernd einwirken, doch wird man zahlenmäßige 


1) Schallmayer, Vererbung und Auslese. Jena 1910. 


Jolly: Ursachen u. ärztliche Behandlung d. psychopathischen Konstitutionen. 373 


Angaben erst nach längeren Jahren machen können. Bei uns in 
Deutschland hat glücklicherweise durch die enorme Steigerung der 
Preise für Alkohol und die starke Einschränkung von dessen Her- 
stellung, und zwar auch der Herstellung leichterer alkoholischer Ge- 
tränke, der Alkoholismus eine sehr große Abnahme erfahren. Bei uns 
hier in Halle war nach meinen Erfahrungen gegenüber meinen Er- 
fahrungen in Kiel mit seiner schnapstrinkenden Bevölkerung und 
der Marine der Alkoholmißbrauch nie besonders groß. Jetzt nach 
dem Krieg ist es für uns aber eine große Seltenheit, einen Alkohol- 
deliranten zu sehen, während er doch früher nicht allzu selten einen 
solchen den Studenten zeigen konnten. Um einige Zahlen über die 
Abnahme des Alkoholismus zn bringen, so wurde von einem Autor!) 
festgestellt, daß die Jahreszugänge einer großen Anzahl von Alkohol- 
fürsorgestellen, die zusammen vor dem Krieg etwas mehr als 6000 
betrugen, auf 500, also um etwa 90°/, zurückgegangen sind. In der 
Berliner Charité nahm die Zahl der Aufnahmen wegen Alkoholismus 
von 12°/, auf 0,6°, im Jahre 1918 ab. Auch für ändere Bezirke 
wurde eine sehr große Abnahme des Alkoholismus statistisch fest- 
gestell. So wurde berechnet, daß in Schlesien eine Ersparnis von 
jährlich 112000 Mark an Krankenhausbehandlung von Alkoholikern 
erzielt wurde. Die Renienausgaben der Landesversicherungsanstalt be- 
trugen dort für Alkoholiker 1913 noch 125000 Mark, fielen 1917 über- 
haupt völlig weg. Auch die Kriminalität infolge Alkoholismus war 
ganz außerordentlich zurückgegangen. 

Im Gegensatz zum Alkohol ist das andere für die Schädigung 
der Keime sowie des werdenden Kindes im Mutterleib besonders 
wichtige Moment, nämlich die Lues oder Syphilis, sehr in Zunahme 
begriffen. Von einsichtigen Ärzten und Verwaltungsbeamten wurde 
dies schon zu Beginn des Krieges bald erkannt, allmählich sind ein- 
gehende Maßnahmen dagegen ergriffen worden und sind noch in der 
Ausbildung. So sind überall kostenlose Beratungsstellen für Ge- 
schlechtskranke eingerichtet, eine Reihe von Spezialärzten für Ge- 
schlechtskrankheiten sind von den Gemeinden angestellt worden. Nach 
einer neueren Verordnung macht sich jeder Arzt strafbar, der einen 
in seine Behandlung kommenden Geschlechtskranken nicht darauf auf- 
merksam macht, daß er ein ansteckendes Leiden hat und mit ihm 
nicht die Art und Weise der Verhütung einer Übertretung klarlegt, 
und wer dann wissentlich denn noch seine Geschlechtskrankheit über- 
trägt, kann wegen Körperverletzung verurteilt werden. 


1) Bonhoeffer, Einige Schlußfolgerungen aus der psychiatrischen Kranken- 
bewegung während des Krieges. Archiv f. Psychiatrie 1919. 
Zeitschrift für Kinderforschung. 25. Jahrgang. 25 


374 A. Abhandlungen. 


Die genannte Verordnung, die für Preußen am 9. Juli 1919 erlassen wurde, 
lautet folgendermaßen: 

8 1. Die Belehrung einer Person, die an einer mit Ansteckungsgefahr ver- 
bundenen Geschlechtskrankheit leidet, hat seitens desjenigen, der sie ärztlich unter- 
sucht oder behandelt, in jedem Falle mündlich zu erfolgen. 

$ 2. Die Belehrung hat sich zu erstrecken auf die Bedeutung der Krankheit 
für den Kranken auf die Umgebung sowie auf die Bedeutung ihrer Folgen, ferner 
auf die Übertragbarkeit der Krankheit und deren Dauer und auf das 

in $ 3 der Verordnung ausgesprochene Verbot während der Dauer der Über- 
tragbarkeit der Krankheit den Beischlaf auszuüben. 

§ 3. Es ist zweckmäßig, diese mündliche Belehrung durch Aushändigung 
einer schriftlichen oder gedruckten kurzen und leichtfaßlichen Belehrung nach- 
haltiger zu gestalten. 

Zur Verhütung der Schädigung im Mutterleib dienen die 
in den letzten Jahren immer mehr ausgebauten Fürsorgeeinrichtungen 
für Schwangere, die Unterstützung in den letzten Monaten der 
Schwangerschaft durch Geld und Nahrungsmittel usw. Auch die 
Krankenkassen werden hierzu ja in weitgehendem Maße herangezogen. 

Unter den Schädigungen in der Kindheit ist besonders der 
Alkoholgenuß der Kinder zu bekämpfen. Kinder dürfen unter keinen 
Umständen Alkohol bekommen, sei es auch in schwacher Form. Hier 
kann nur Aufklärung des Publikums und gutes Beispiel die oft tief 
eingewurzelten Sitten bekämpfen. 

Die Arbeit Jugendlicher, besonders in den Nachtstunden ist bei 
uns in Deutschland seit längerer Zeit eingeschränkt, bezw. verboten 
gewesen, — unter dem Einfluß des Krieges hatten diese Bestimmungen 
leider durchbrochen werden müssen. Es ist klar, daß die Einspannung 
des kindlichen Gehirns und Körpers in tägliche Fronarbeit sehr 
schädigend wirken muß. 

Dies führt uns auf die Bekämpfung der psychischen und 
Milieu-Ursachen, wie dieselben gestern erörtert wurden. Auch 
der Arzt kann dabei mitwirken, daß die kindliche Psyche nicht durch 
ungünstige häusliche Verhältnisse beeinflußt wird, daß z. B. ein der- 
artig bedrohtes Kind zu Verwandten auf das Land gegeben wird, 
kann den Besuch von Kinos, Theatern und anderen für die kindliche 
Psyche noch nicht geeigneten Öffentlichen Darbietungen verbieten, 
kann seinen Einfluß dahin geltend machen, daß besonders die einzigen 
Kinder nicht zu sehr verwöhnt werden, nicht zu weichlich erzogen 
werden, daß ein Verkehr mit geeigneten Altersgenossen angestrebt 
wird. 

Nach dieser Erörterung der allgemeinen Verhütung der psycho- 
pathischen Konstitutionen komme ich zur Verhütung und Behandlung 
ihrer einzelnen Formen, wobei aber die weniger wichtigen der- 


Jolly: Ursachen u. ärztliche Behandlung d. psychopathischen Konstitutionen. 375 


selben unberücksichtigt bleiben, um mich nicht in hier nicht inter- 
essierende Einzelheiten zu verlieren. 

Diejenigen psychopathischen Kinder, welche wir als Vorstufen 
oder nur andeutungsweise entwickelte geistige Erkrankung anzu- 
sehen haben, bedürfen zwar einer je nach der betreffenden Form ver- 
schiedenen Behandlung, doch dürfte bei dem ausgesprochen endogenen, 
ererbten Charakter dieser Veränderungen dadurch wenig erreicht 
werden, da unser geringes Wissen auf diesem Gebiet eine wirklich 
ursächliche Behandlung noch nicht ermöglicht. Wenn man auch z. B. 
von jeher weich und träumerisch, schwermütig veranlagte Kinder 
durch entsprechende Maßnahmen lebensfroher und regsamer zu ge- 
stalten versucht, so wird man doch einen etwaigen Erfolg weniger 
sich selbst zuschreiben dürfen, als Schwankungen, die von selbst in 
dem Gemütsleben derartiger Personen auftreten. Auch schon immer 
sehr lebhaft und heiter geartete Kinder, welche dadurch leichter zu 
Konflikten neigen, kann man nur schwer beeinflussen, höchstens durch 
Schaffung eines geeigneten Verkehrs in die richtigen Bahnen lenken. 
Immer schon mißtrauische und empfindliche Kinder werden ebenfalls 
weniger durch ärztliche, als durch pädagogische Maßnahmen vor 
Schädigungen bewahrt werden können, dasselbe gilt für verschroben 
und bizarr geartete Persönlichkeiten. 

Die Hysterie der Kinder läßt sich durch eine einfache und 
gesundheitsmäßige Erziehung manchmal bei solchen Kindern welche 
für ihr Auftreten disponiert sind, verhüten. Gerade die Eltern sind 
aber sehr oft zu dieser Erziehung am ungeeignetsten, da sie selbst 
ihre Kinder, und zwar vor allem die Mutter nur verweichlichen und 
verhätscheln, ihnen selbst durch eigene hysterische Charakteranomalien 
und sonstige Erscheinungen das schlechteste Beispiel geben. Auch 
die Großstadt wirkt erfahrungsgemäß ungünstig. Die körperliche Ent- 
wicklung muß eingehend überwacht werden, der Schlaf verdient 
größte Aufmerksamkeit. Die eigentlichen Behandlungsmethoden, welche 
uns Ärzten zur Verfügung stehen sind bei der psychischen Natur des 
Leidens rein psychischer Natur. Wie schon erwähnt, sind die Sym- 
ptome bei Kindern häufig isoliert, d. h. es tritt ein Symptom, wie 
z. B. hysterische Stummheit oder dergl. auf. Die Behandlung richtet 
sich vielfach nach den äußeren Umständen und nach den Neigungen 
des Arztes. Der eine Arzt beschränkt sich auf freundliches Zureden 
und die Versicherung, daß die Störung sehr bald wieder vorbeigeht, 
ein anderer verordnet irgend welche Medikamente, indem er gleich- 
zeitig die Suggestion gibt, daß das Medikament unbedingt hilft, ein 
dritter Arzt ght schroff gegen den Kranken vor und erreicht damit 

25* 


376 A. Abhandlungen. 


dasselbe. œ Auch die zielbewußte Vernachlässigung ist gerade bei Kin- 
dern besonders empfohlen worden. Man legt dieselben allein, ver- 
bietet Aufstehen, stellt einen Schirm um das Bett und entzieht unter 
Darreichung einfacher Kost alle Beschäftigungsmittel, geht auch auf 
die hysterischen Erscheinungen nicht weiter sein, so daß dies bei dem 
Kranken bald derartige Unlustgefühle hervorruft, daß dadurch die 
Motive der hysterischen Symptome überwunden werden. Bei unseren 
Soldaten wurde mit besonderem Erfolg gegen die hysterischen Er- 
scheinungen die längere Jahre etwas in Vergessenheit geratene Hypnose 
angewendet, welche nach meinen Erfahrungen als relativ harmlose 
und nicht brüske Behandlungsmethode große Erfolge zeitigte. Auch 
bei Kindern, welche im allgemeinen sehr leicht zu hypnotisieren sind, 
kann man damit rasch zum Ziel kommen, immerhin dürfen eine 
solche Behandlung nur solche Ärzte und zwar nur Ärzte ausüben, 
welche in derselben ausgedehntere Erfahrungen besitzen. Die übrigen 
genannten ärztlichen Behandlungsweisen stehen dagegen jedem Arzt 
zur Verfügung. Nicht zu vergessen ist schließlich die Behandlung 
mit dem elektrischen Strom, die darauf beruht, daß besonders bei 
Kindern und sonstigen nicht sachverständigen Personen der Elektri- 
zität ein geheimnisvoller Nimbus innewohnt, der sich zu suggestiven 
Zwecken sehr gut ausnützen läßt. Stärkere elektrische Ströme wird 
man jedoch bei Kindern vermeiden, weil dieselben für diese einen zu 
großen psychischen Schock darstellen, der das Leiden leicht ver- 
schlimmern und fixieren kann. 

Die Behandlung der als Nervosität bezeichneten psychopathi- 
schen Konstitutionen ist zunächst eine vorbeugende In dieser Be- 
ziehung erblich belastete oder selbst erkrankte Personen müssen 
möglichst davon abgehalten werden, eine Ehe miteinander einzugehen. 
Auch die Bekämpfung des Alkoholmißbrauchs und der Lues ist bei 
den vorbeugenden Maßnahmen zu erwähnen. Die Kinder selbst, welche 
die Zeichen einer Nervosität darbieten, bedürfen einer sorgfältigen 
Erziehung, bei der vor allem auf eine Kräftigung des Körpers zu 
sehen ist. Geistige Anregung ist diesen nervösen Kindern, welche 
wir besonders häufig in großen Städten und auch nicht selten als 
einzige Kinder finden, eher vorzuenthalten. Man muß suchen, ihnen 
einen frischen Verkehr mit gesunden Kindern zu verschaffen, statt 
Lektüre praktische Tätigkeit zuweisen, die Kinder früh ins Bett bringen 
und früh aufstehen lassen und den Besuch von Vergnügen, Kinos 
und Wirtschaften mit ihnen vermeiden. Auch Verwöhnung und Ver- 
weichlichung ist zu unterlassen, der Wille zu stärken, besonders gut 
ist ländliche Umgebung. Beim Erwachen geschlechtlicher Neigungen 


Jolly: Ursachen u. ärztliche Behandlung d. psychopathischen Konstitutionen. 377 


sind die Kinder in vernünftiger Weise aufzuklären. Alkoholgenuß 
ist, wie ja überhaupt bei allen Kindern, völlig zu verbieten. Von 
längerer ärztlicher Behandlung ist abzusehen, viel besser ist es, wenn 
der Arzt nur ab und zu den Eltern Ratschläge für eine gesunde 
Lebensweise erteilt, und außerdem gelegentlich mit den Kranken 
selbst ihre Beschwerden und Pläne bespricht. Durch Arbeit ist das 
Selbstvertrauen der Kinder zu heben und zwar am besten durch eine 
möglichst praktische Arbeit. 

Die Behandlung derjenigen Psychopathen, welche eine Neigung 
zu Triebhandlungen, zu impulsiven Handlungen besitzen, ist im 
wesentlichen eine pädagogische. Eigentlich ärztliche Maßnahmen 
kommen nicht in Frage, dagegen kann der Psychiater durch seinen 
Rat die Wege andeuten, auf denen es gelingen soll, aus den Indi- 
viduen eine gefestigte Persönlichkeit zu machen. 

Die Behandlung oder vielmehr die Vorbeugung der geschlecht- 
lichen Verirrungen und besonders der gleichgeschlechtlichen Liebe, 
der Homosexualität, folgt den Regeln, welche für die Erziehung aller 
psychopathischen Kinder maßgebend sind. Die körperliche Entwick- 
lung ist möglichst zu fördern, die geistige Entwicklung eher ein- 
zudämmen, Verzärtelung und Verweichlichlung ist zu vermeiden, 
durch sportliche Betätigung und geeigneten Verkehr mit Altersgenossen 
ist ein gesunder Ehrgeiz zu wecken und der Wille zu stärken. Dabei 
ist alles zu vermeiden, was die geschlechtliche Regung frühzeitig 
hervorrufen könnte, die geschlechtlichen Dinge sind als etwas Natür- 
liches zu behandeln, die sehr häufige Onanie ist zu bekämpfen. 
Sehr wichtig ist auch, daß gefährdete Persönlichkeiten vor der Ver- 
führung durch Altersgenossen oder durch Ältere zu bewahren sind. 
Besonders in den Großstädten wirkt die oft kaum verhüllte Propa- 
ganda für die Homosexualität in Wort und Schrift, sogar im Kino, 
sehr verderblich. Die eigentliche Behandlung besteht in einer ver- 
traulichen Aussprache mit dem Arzt, Regelung der ganzen Lebens- 
führung, des Verkehrs und der Lektüre. 

Die Behandlung der als Erregbare gekennzeichneten psycho- 
pathischen Konstitutionen beruht ebenfalls in der Vorbeugung, und 
zwar darin, daß Heiraten in diesem Sinn gearteter Persönlichkeiten 
möglichst widerraten werden, ferner ist auch wieder auf die Bekämp- 
fung des Alkoholismus und der Syphilis hinzuweisen. Die Psycho- 
pathen selbst sind nach Möglichkeit in eine von Konfliktstoffen arme 
Umgebung zu bringen, ihren Neigungen zur Erregung ist mit Be- 
stimmtheit, aber doch mit einer gewissen Güte zu begegnen. Bei 
Perioden längerer Erregungen kommen auch medikamentöse Be- 


378 A. Abhandlungen. 


ruhigungsmittel in geringen Dosen in Betracht. Häufig zeigen diese 
Persönlichkeiten ja auch hysterische Züge, welche nach den oben bei 
Besprechung der Behandlung der hysterischen Erscheinungen zu be- 
kämpfen sind. Die Selbstmordversuche, die allerdings im kindlichen 
Alter seltener vorkommen, sind im allgemeinen nicht sehr schwer zu 
bewerten, d. h. nach Abklingen des äußeren Moments, welches den 
vorliegenden Versuch ausgelöst hatte, ist zunächst nicht so leicht eine 
Wiederholung dieses Versuchs wieder zu erwarten. 

Auch für die Haltlosen gelten zur Vorbeugung die schon mehr- 
fach erwähnten Ratschläge der Vermeidung ungünstiger Ehen, Be- 
kämpfung der verschiedenen Keimschädigungen usw. Die eigentliche 
Behandlung solcher Kinder, bei denen die Psychopathie sich aus- 
gebildet hat, ist auch im wesentlichen eine pädagogische. Der Wille 
ist zu stärken, die Beeinflußbarkeit, besonders durch schlechte Ele- 
mente, ist möglichst zu bekämpfen, Verweichlichung und Nachgeben 
gegenüber den eigenen Launen ist zu vermeiden: zu empfehlen ist 
einfaches und regelmäßiges Leben, ohne komplizierte geistige Genüsse, 
aber mit gesunder körperlicher Betätigung. Hierbei ist zu vermeiden, 
daß bei Sport und dergl., wie das nicht selten vorkommt, Über- 
treibungen ausbleiben. Das Wesentliche ist überhaupt, daß die durch 
die Erziehung eingepflanzten sittlichen Regeln der Maßstab für das 
Handeln werden, ungünstige äußere Einflüsse und Ratschläge als 
solche erkannt und nicht befolgt werden. Vor allem ist der Alkohol 
zu meiden, da durch denselben bei schwachen Naturen die inneren 
Grundsätze gelockert werden und die Beeinflußbarkeit durch ungünstige 
äußere Momente erhöht wird, die Willenskraft schwindet. Jedenfalls 
ist auch den Eltern zu raten, bei den ersten schlimmen Streichen 
ihres Sprößlings, diesen oder diese nicht sofort aus der Familie aus- 
zuschließen und sich selbst und ihren Trieben zu überlassen, sondern 
gerade die Eltern oder die sonstigen nahen Verwandten sind es, welche 
die Pflicht haben, ihre Kinder zu stützen, und ihnen einen Rück- 
halt zu geben. Andererseits ist es auch falsch, alle Vergehen, wie 
dies öfter, besonders von seiten der Mütter geschieht, zuzudecken 
und immer Entschuldigungen zu suchen, ohne danach zu handeln, 
daß die Schuld in der Persönlichkeit des Kindes selbst und in seiner 
Erziehung liegt. 

Die als Triebmenschen bezeichneten psychopathischen Per- 
sönlichkeiten, also diejenigen, welche zu Verschwendung neigen, an 
Wandertrieb leiden, oder als sogenannte Dipsomane sich periodisch 
sinnlos dem Alkoholgenuß hingeben, beruhen wie wir oben sahen, 
ebenfalls im wesentlichen, soweit man nach dem jetzigen Stand unserer 


Jolly: Ursachen u. ärztliche Behandlung d. psychopathischen Konstitutionen. 379 


Kenntnisse sagen kann, auf erblichen und keimschädigenden Faktoren, 
deren Bekämpfung die vorbeugende Behandlung bildet. Eine eigentliche 
ärztliche Behandlung kann hauptsächlich in der Veranlassung völliger 
Abstinenz von Alkohol und anderen derartigen Giften bestehen. Ge- 
rade bei diesen Individuen ist aber die Erziehung zur Enthaltsamkeit 
besonders schwierig. Die Neigung zum Weglaufen, die oft ohne jeden 
äußeren Anlaß ganz inpulsiv auftritt, ist sehr schwer zu bekämpfen, 
verliert sich aber nicht selten in späteren Jahren allmählich von 
selbst, bietet also eine günstigere Prognose wie die anderen krank- 
haften Triebe. 

Lügner und Schwindler, wie eine weitere Gruppe der Psycho- 
pathen bezeichnet wird, sind ärztlich nur durch Ratschläge an die 
Eltern und Erzieher zu behandeln. Wesentlich ist die Bekämpfung 
der Schundlektüre, wie sie durch Detektiv- und Indianergeschichten, 
durch Hintertreppenromane für billiges Geld der Jugend dargeboten 
werden. In neuester Zeit wirken in diesem Sinn besonders ungünstig 
die schundmäßigen Kinostücke mit ihrer, wenn auch indirekten Ver- 
herrlichung schlauer und raffinierter Diebstähle und anderer Ver- 
brechen, mit ihrer äußerst raffinierten Aufreizung der Phantasie und 
dadurch, daß sich in den Kinotheatern gleichgesinnte Jugendliche 
treffen, gegenseitig im schlechtesten Sinn beeinflussen. Neben der 
Bekämpfung dieser ungünstigen Einwirkungen ist in positivem Sinn 
auf regelmäßige, gesunde Arbeit und guten Verkehr hinzuarbeiten, 
die Möglichkeit zum Bummeln so gut es geht auszuschalten. Hierauf 
ist auch besonders bei der Berufswahl Rücksicht zu nehmen. 

Die antisozialen Psychopathen, die sogenannten Gesellschafts- 
feinde, über deren vorbeugende Behandlung schon berichtet wurde, 
sind, wenn das überhaupt die äußeren Verhältnisse zulassen, schon 
in der frühesten Kindheit durch geeignete erzieherische Maßnahmen 
zu beeinflussen, deren Besprechung nicht meine Aufgabe ist. Schroffe 
Behandlung pflegt im allgemeinen wenig zu wirken, während eine 
milde, aber dabei völlig zielbewußte Führung noch Erfolge zeitigen 
kann. Die oft schon wegen des Hasses gegen die Eltern notwendige 
Entfernung von denselben, die Versetzung in eine psychisch gesunde 
Umgebung, die Sorge für geeigneten Verkehr, für körperliche Be- 
tätigung, für Stetigkeit der Arbeit ist wie bei den übrigen verwandten 
Psychopathien in den Vordergrund zu stellen. Sehr häufig muß Für- 
sorgeerziehung eintreten. Daß man in Nord-Amerika in einigen 
Staaten dazu übergegangen ist, erwachsene derartige Individuen 
durch Kastration von der Fortpflanzung auszuschalten, wurde schon 
erwähnt. 


380 A. Abhandlungen. 


Nach dieser Erörterung der speziellen Behandlung der einzelnen 
Psychopathien möchte ich kurz noch die Behandlung einiger bei den 
meisten Psychopathen nicht selten vorkommender Symptome an- 
schließen. 

Die Onanie ist bekanntlich, und zwar nicht nur unter Psycho- 
pathen eine besonders bei der männlichen Jugend sehr verbreitete 
Angewohnheit. Die meisten kommen jedoch über dieselbe nach den 
Entwicklungsjahren bald wieder hinweg, treiben dieselbe auch nicht 
in so hohem Grad wie dies bei Psychopathen der Fall zu sein pflegt. 
Es tritt ja auch die Onanie der Psychopathen sehr häufig wesentlich 
früher auf, wie bei ihren gesunden Altersgenossen, da sie früher ge- 
schlechtliche Empfindungen zeigen. Die ärztliche Bekämpfung der- 
selben besteht zunächst in der Vorbeugung, die Kinder müssen sich 
am Tag reichlich körperlich ausarbeiten, damit sie abends müde sind 
und sofort einschlafen, am Morgen ist zu vermeiden, daß dieselben 
nach dem Erwachen noch längere Zeit im Bett liegen, um ihnen die 
naheliegende Gelegenheit zur Onanie zu unterbinden. Die Ernährung 
muß eine einfache sein, die Blase ist iramer zeitig zu entleeren. Der 
Verkehr mit auf Onanie verdächtigen Kindern ist zu vermeiden, 
ebenso natürlich auch das Schlafen mehrerer derartiger Kinder in 
einem Bett und überhaupt ein zu sehr verweichlichendes Lager. Zu 
bekämpfen ist der Einfluß schlechter Lektüre und solcher Bilder oder 
sonstiger Darstellungen, welche auf ein kindliches und in der Ge- 
schlechtsentwicklung befindliches Gemüt sinnlich aufreizend wirken 
können. Über geschlechtliche Dinge ist eine vorsichtige Aufklärung 
notwendig, jedoch muß dabei selbstverständlich möglichst individuali- 
siert werden. Die Dinge sind als etwas natürliches hinzustellen, alles 
Geheimnisvolle und dunkle Andeutungen sind zu vermeiden. Zwischen 
den beiden Geschlechtern ist ein ungezwungener, wenn auch natür- 
lich beaufsichtigter Verkehr zu begünstigen. 

Ein anderes sehr häufiges Symptom der Psychopathen ist Bett- 
nässen. Um einige Zahlen anzuführen, so fand ein Untersucher 
(Mönkemöller) unter seinen Zwangszöglingen 22,6 °/, Bettnässer, 
ein anderer (Gruhle) 18,1°/,. Bei einem kleinen Teil beruht es auf 
organischen Entwicklungsstörungen des Rückenmarks, die man durch 
Röntgenaufnahme der Wirbelsäule mit dem Nachweis einer sogenannten 
Spina bifida, d. h. einer Spaltbildung in der Wirbelsäule, erklärt. Die 
Behandlung des Bettnässens besteht zunächst in der Vermeidung 
abendlicher Flüssigkeitseinnahme, und zwar nicht nur von Getränken 
sondern auch stark wasserhaltiger Nahrung. Die Bettnässer sind dann 
nachts regelmäßig in gewissen Zwischenzeiten zu wecken und zum 


Jolly: Ursachen u. ärztliche Behandlung d. psychopathischen Konstitutionen. 381 


Wasserlassen anzuhalten. Bei unseren psychopathischen Soldaten, 
welche in großer Zahl an Bettnässen litten, wurden ganze Säle mit 
Bettnässern eingerichtet, welche regelmäßig auf diese Art und Weise 
zum Wasserlassen angehalten wurden. Es wurde von einem Arzt 
sogar ein Apparat konstruiert, welcher beim Einnässen sofort durch 
die Einwirkung der Feuchtigkeit einen elektrischen Strom auslöste 
und das Wecken des Patienten veranlaßte. Wichtig war auch eine 
Änderung der Kost; unsere Kriegskost hat ja bekanntlich bei den 
meisten Menschen den Urindrang sehr gesteigert. Als eigentlich ärzt- 
liche aktive Behandlung wurden bei unseren Soldaten gute Erfolge 
mit Hypnose erzielt, andere bedienten sich der suggestiven Kraft der 
Elektrizität, freilich trat die alte Störung meist wieder auf, sowie es 
wieder in den Schützengraben ging, und zwar durch psychischen Ein- 
fluß. Auch bei Kindern ist Hypnose gerade bei Bettnässen mit sehr 
gutem Erfolg angewendet worden; so kann ich z. B. von einem mir 
bekannten Arzt berichten, dessen etwa 10jähriger, auch sonst etwas 
psychopathischer Sohn von Kindheit an an Bettnässen litt, welches 
durch den Vater durch hypnotische Beeinflussüng schnell und dauernd 
‚beseitigt wurde. 

Freilich ist das Bettnässen bei Kindern oft sehr hartnäckig und 
man kommt öfter mit keiner der genannten Behandlungsmethoden 
zum Ziel. Man muß sich dann damit trösten, daß bei fast allen all- 
mählich im Laufe der Jahre mit der Stärkung des Willens und der 
sonstigen weiteren Entwicklung von selbst Heilung eintritt. 

Ein Symptom möchte ich noch kurz besprechen, .nänilich die bei 
Psychopathen nicht seltenen Erregungszustände. Häufig treten 
dieselben ganz plötzlich auf ganz geringfügige Anlässe hin auf, manch- 
mal war auch schon längere Zeit eine gesteigerte Reizbarkeit vor- 
handen gewesen. Bei den Erregungszuständen, gewissermaßen als 
Abschluß derselben, kommt es öfter zu hysterischen Krampfanfällen, 
wie wir das vielfach bei unseren psychopathischen Soldaten im Lazarett 
beobachten konnten. Die Behandlung besteht zunächst darin, daß 
man, wenn eine gesteigerte Erregbarkeit bemerkt wird, die bei den 
einzelnen Individuen nach den Erfahrungen bei denselben zu Explo- 
sionen zu führen pflegt, dieselben möglichst vor irgend welchen An- 
lässen behütet und so den tatsächlichen Affektausbruch zu vermeiden 
sucht, bis die Zeit stärkerer Erregbarkeit wieder abgeklungen ist. 
Sehr gut wirkt oft Bettruhe. Im Erregungszustand selbst muß man 
die Kranken möglichst isolieren, d. h. ihre Kameraden von ihnen ent- 
fernen, damit nicht einerseits das schlechte Beispiel auf diese an- 
steckend wirkt, und damit andererseits nicht der durch Zuschauer in 


382 A. Abhandlungen. 


dem Kranken gesetzte Reiz die häufig vorhandene Neigung zum 
Theaterspielen, zu einem gewissen Stolz auf die Erregungszustände 
unterstützt wird. Rein ärztliche Maßnahmen sind ferner feuchte Ein- 
packungen des ganzen Körpers, lauwarme, längere Zeit fortgesetzte 
Bäder, sowie ev. Beruhigungsmittel, z. B. Brom. Eine gewisse Ver- 
nachlässigung oder Nichtbeachtung der Erregungszustände wirkt auf 
alle Fälle günstig. 

Zur Behandlung der Psychopathien von ärztlicher Seite gehört 
schließlich auch die Beurteilung der kriminell gewordenen Psycho- 
pathen vor Gericht. Meist werden Jugendliche heutzutage Jugend- 
gerichten überwiesen werden, andererseits wird den Richtern in 
kleineren Bezirken das Verständnis für die Eigenart der Psychopathen 
infolge fehlender Ausbildung oft noch mangeln. Es empfiehlt sich 
in schwierigeren Fällen jedesmal einen psychiatrisch gebildeten Arzt 
hinzuzuzieben, ev. Kliniks- oder Anstaltsbeobachtung zu beantragen. 
Sehr wichtig für jede ärztliche Beurteilung eines Psychopathen ist 
eine ausführliche Mitteilung der Vorgeschichte, welche möglichst viele 
Tatsachen anführen, Urteile dagegen vermeiden soll, da nach dem 
Augenblicksbild bei der Untersuchung eine nähere Diagnose ohne 
Kenntnis der Vorgeschichte häufig nicht gestellt werden kann. 

Die ärztliche Beratung der Psychopathen oder vielmehr von 
deren Eltern und Erziehern, die für jeden einzelnen Fall als richtung- 
gebend gefordert werden muß, erfolgt für Unbemittelte vielfach in 
psychiatrisch geleiteten Polikliniken, Beratungsstellen und dergl. Die 
hiesige Beratungsstelle, die unter Leitung von Herrn Geh. Rat Anton 
steht, befindet sich in fortschreitender Entwicklung; es sind schon 
340 Familien, die in der Beratungsstelle oder in Heilerziehungsheimen 
Rat und Hilfe gefunden haben. Ich möchte mich dem gestrigen 
Appell anschließen, daß eine weitere Ausdehnung dieser bescheidenen 
Einrichtungen als äußerst dringend zu bezeichnen ist. 

Zum Schluß möchte ich noch ganz kurz darauf hinweisen, daß 
die Prognose für die jugendlichen Psychopathen doch nicht gar so 
schlecht ist, wie öfter angenommen wird. Nach Studien, die Pach- 
antoni!) an unserer Klinik anstellte, kommen sogar bei den Anti- 
sozialen Fälle vor, die bei weiterer Verfolgung Besserung und ge- 
wissermaßen soziale Heilung feststellen lassen. 


1) Pachantoni, Über die Prognose der Moral insanity (mit Katamnesen) 
Archiv f. Psychiatrie 1910. 





Knauthe: Die erzieherische Behandlung der psychopathischen Konstitutionen. 383 


3. Die erzieherische Behandlung der psychopathischen 
Konstitutionen. !) 
Vortrag, gehalten auf der Versanmlung der Leiter der Erziehungsanstalten 
der Provinz Sachsen in Halle a. S. am 29. April 1920. 
Von 
Anstaltsdirektor Fr. Knauthe. 
Vorbemerkung. 

Die Schaffung von Sondereinrichtungen und die Gewinnung und 
der Ausbau besonderer Methoden für die Psychopathenbehandlung 
sind jetzt mehr denn je dringende Notwendigkeit geworden. Daß 
dabei ein gesundes Maß eingehalten wird, dazu zwingen schon die 
äußeren Verhältnisse im Deutschland von heute. Der Aufforderung, 
über die erziehliche Behandlung der Psychopathen zu sprechen, bin 
ich darum gern gefolgt. Es ist mit Freude zu begrüßen, daß die 
Provinz Sachsen in der Psychopathenfürsorge einen energischen Schritt 
vorwärts getan hat und daß auch die Versammlung in Halle das Be- 
dürfnis nach besonderen Veranstaltungen und Behandlungsweisen ein- 
mütig anerkannte. Das Ergebnis, das in der anregenden Aussprache 
gewonnen wurde, dürfte etwa wie folgt zusammenzufassen sein: 

1. Schwere Psychopathen gehören nicht in die Irren- oder Für- 
sorgeerziehungsanstalt, auch in der Volksschule können sie nicht 
bleiben. Die Gründung von Sonderanstalten für schwere, von Sonder- 
abteilungen für mittlere Psychopathen ist notwendig. 

2. Es ist zu warnen vor allzuviel Sonderbehandlung, Reibungs- 
flächen sind sogar erwünscht. Pflegebedürftige und leichterziehbare 
Psychopathen können in der Schule und in der Erziehungsanstalt be- 
lassen werden, nur ist auf rechtzeitige Erkennung der Psychopathie, 
insbesondere ihrer Frühsymptome, auf Beobachtung ihres weiteren 
Verlaufs und auf sorgfältige Behandlung dieser »Fälle« zu achten, 
wobei — nötigenfalls nur — die Zuweisung an eine Sonderabteilung 
oder Sonderanstalt, andererseits auch ihre Rücknahme in den Kreis 
normaler Zöglinge zu erwägen ist. 

3. Psychopathen und Schwachsinnige sind grundsätzlich getrennt 
zu halten. 

4, Bei der Anwendung der psychoanalytischen Methode ist 
größte Vorsicht geboten, die Hypnose ist dem Arzte zu überlassen 
und auch von diesem nur selten anzuwenden. 

1) Der Herr Landeshauptmann der Provinz Sachsen ersachte mich wiederholt, 
diesen Vortrag zu halten. Leider mußte ich wegen Mangel an Zeit ablehnen. Auf 
meinen Vorschlag hin ist Herr Knauthe für mich eingesprungen. Was ich zu 


der ganzen Psychopathenf aber noch zu sagen habe, hoffe ich im nächsten Jahr- 
gange dieser Zeitschrift nachholen zu können. Trüper. 


384 A. Abhandlungen. 


5. Bei der Psychopathenbehandlung muß der Facharzt den Päda- 
gogen eingehend beraten, die Zöglinge sind von ihm in kürzeren Zeit- 
räumen zu untersuchen. 

6. Die Kosten für Fürsorgeerziehung und Psychopathenbehand- 
lung sind heute hoch. Will man jene abbauen, diese unterlassen, so 
werden bald größere Ausgaben die Allgemeinheit belasten. 

In der Aussprache wurde wiederholt auch die Frage berührt, 
was wohl die Schule tun könne, vor allem, ob sie die Psychopathen 
in Sonderunterricht nehmen solle. Es konnte darauf eine ausführliche 
Antwort weder in Halle noch im Druckbericht gegeben werden. Das 
Thema »Schule und Psychopathie« wird aber demnächst in einem be- 
sonderen Vortrage eingehend behandelt werden. 

Die vorliegende Abhandlung wird ergänzt durch einen Vortrag, den 
ich bereits früher gehalten. Er ist betitelt »Die Pädagogik im Heil- 
erziehungsheim« und erschienen in Heft 159 der Beiträge zur Kinder- 
forschung und Heilerziehung, herausgegeben von J. Trüper. Langen- 
salza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann). Was ich in Halle 
daraus wörtlich zitierte, bitte ich dort nachzulesen. Auch auf die 
Literaturanguben, die jenem Vortrage beigegeben sind, sei hingewiesen. 

* x 


* 

Nach den Beobachtungen im Heilerziehungsheim Kleinmeusdorf 
in den 6 Jahren seines Bestehens waren von allen Fürsorgezöglingen 
des Leipziger Kreises — es kamen bis Ende 1919 2680 zur Beobachtung 
— 45—48°/, Psychopathen, nur etwa 21—26°/, (Durchschnitt der 
Jahre 1913—18) waren psychisch intakt. Die Statistik über die Diagnosen 
an den. schulpflichtigen und schulentlassenen Knaben und Mädchen 
der Jahrgänge 1914—16 ist enthalten in meinem Vortrag »Die Päda- 
gogik im Heilerziehungsheim«.!) Die Ergebnisse sind darum besonders 
wertvoll, weil sie nach dem Grundsatz der Einweisungspflicht aller 
Zöglinge, der mit Errichtung der Anstalt aufgestellt und auch durch- 
geführt wurde, gewonnen sind aus dem Gesamtmaterial eines größern 
Bezirks, der ganzen Kreishauptmannschaft Leipzig. Sie bestätigen 
übrigens zum mindesten die Ziffern, die bei den periodischen psychi- 
atrischen Untersuchungen der Fürsorgezöglinge in einzelnen Kommunal- 
verbänden Preußens früher bereits ermittelt wurden. Wenn Herr 
Geheimrat Prof. Dr. Ziehen in seinem Vortrage die Zahl der Psycho- 
pathen mit 4—5°/, angab, so ist dabei zu bedenken, daß sie hervor- 
gegangen aus den Beobachtungen in der Klinik und Poliklinik für 
Nerven- und Geisteskrankheiten in der Berliner Charité, keineswegs 





1)a.a. 0.8. 14. 


Knauthe: Die erzieherische Behandlung der psychopathischen Konstitutionen, 385 


also einem normalen und gesunden Material gegenübersteht. Der 
scheinbare Widerspruch zwischen ihr und den Ergebnissen in Klein- 
meusdorf ist damit ohne weiteres aufgeklärt. Die von der Fürsorge- 
erziehung nicht erfaßten Kinder und Jugendlichen würden, könnten 
sie einer fachkundigen Beobachtung ebenfalls zugeführt werden, ungefähr 
die gleichen Zahlen aufweisen. Und mindestens die gleichen Prozent- 
Ziffern dürften für die Eltern der F. Z. und der übrigen gelten, ins- 
besondere wenn man bedenkt, daß Psychopathie durchaus nicht immer 
mit einer Minderwertigkeit verbunden ist, daß es auch höherwertige 
Psychopathen gibt und daß vor allem in vielen Menschen Psycho- 
pathie gleichsam schlummert oder nur nicht erkennbar wird, weil sie 
in einfachen und günstigen Verhältnissen dahinleben und größere 
Anforderungen an die seelische Leistungsfähigkeit, insbesondere schwere 
Konflikte ihnen erspart bleiben. Erwägt man aber, daß örtliche Ver- 
hältnisse, so die Zusammenballung der Menschen in der Großstadt, 
wie die Einsamkeit abgelegener und dünnbevölkerter Landschaften, 
und das ganze Volksleben schwer erschütternde Zeitereignisse, wie 
der verlorene Weltkrieg, die Entwicklung und Verbreitung der Psycho- 
pathie und der seelischen Abnormität außerordentlich begünstigen, so 
ist die Behauptung durchaus gerechtfertigt, daß der weitaus größte 
Teil unseres Volkes psychisch nicht mehr intakt, Psychopathie mithin 
eine Massenerscheinung geworden ist. Dieser Massenerscheinung kann 
nicht anders mehr begegnet werden, als durch Massenbewegungen, 
als durch volkserzieherische Maßnahmen großen Stils, die ohne Auf- 
wendung großer Mittel — solche sind bekanntlich in Deutschland 
nicht vorhanden — aber mit starkem Willen, einem von den breitesten 
Schichten getragenen und auf sie gerichteten Willen, Besserung, 
Heilung, Gesundung erhoffen lassen. Es war darum nur zu begrüßen, 
daß die Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge zu einer Tagung über 
Psychopathen-Fürsorge im Oktober 1918 alle an dieser Frage inter- 
essierten Kreise zusammenrief,!) und es ist wiederum nur verdienst- 
lich, daß auf einer Versammlung der Anstaltsleiter aus der Provinz 
Sachsen diese Frage zum Gegenstande eingehender Beratungen ge- 
macht worden ist. 

Wenn wir nun daran gehen, die hier als Thema gestellte Frage 
nach der erziehlichen Behandlung der psychopathischen Konstitutionen 
zu beantworten, so müssen wir zunächst vom Standpunkt des Päda- 
gogen aus zu dem Begriff der Psychopathie Stellung nehmen. 


1) Vergl. den ausführlichen Bericht über diese Tagung in der Zeitschrift für 
Kinderforschung. 25. Jahrg. Heft 1 u. 2. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne 
(Beyer & Mann). 


386 A. Abhandlungen. 


Es sind, wie Ihnen bereits dargelegt worden ist, die psychopathischen 
Konstitütionen Abweichungen von der seelischen Normalität, die hart 
an der Grenzlinie oder doch in der Grenzzone geistiger Gesundheit 
und Krankheit liegen und die Anlage oder doch die Neigung haben 
zu geistiger Erkrankung. Sie liegen vornehmlich auf dem Gebiete des 
Fühlens und Wollens, weniger auf dem Gebiete des Intellekts. Psycho- 
pathie deckt sich keineswegs völlig mit dem Begriff der Kinderfehler, 
der immer nur einen Mangel an Leistungs- oder Bildungsfähigkeit 
bezeichnet, also durchaus nicht etwas ohne weiteres im Grenzgebiet 
geistiger Gesundheit und Krankheit Liegendes. Selbst Charakterfehler, 
die scheinbar ins Pathologische übergehen, sind nur natürliche Begleit- 
erscheinungen kindlicher Entwicklungsstufen oder ganz normale Wir- 
kungen einseitiger oder noch nicht abgeschlossener Erziehung. 

Die Symptome der Psychopathie sind so mannigfaltig wie die 
Äußerungen des körperlichen und seelischen Lebens überhaupt. Was 
bei dem einen Kinde als krankhaft bezeichnet werden muß, kann bei 
dem anderen noch durchaus als gesund gelten. Gewisse Rückstände, 
Unebenheiten, Unfertigkeiten in der körperlichen und seelischen Ent- 
wicklung und auffällige Eigenschaften sind zunächst durchaus kindes- 
gemäß, etwas Natürliches und Gesundes, können auch Krankheits- 
zeichen sein. Darum ist dem ärztlichen Laien, und dazu gehört auch 
der Pädagog, bei der Verwendung des Wortes Psychopath, das leider 
beinahe zum Schlagwort, zur Mode geworden, größte Vorsicht anzu- 
raten. Auch die Psychiater sind mit uns darin einig, daß nicht jeder 
von der Norm abweichende Zug als Ausdruck einer anormalen oder 
psychopathischen Veranlagung gelten darf. Die Psychopathien lassen 
sich qualitativ gliedern in leichte und schwere Abarten, in Milieu- 
und Anlagefälle, in vorübergehend auftretende psychopathische Re- 
aktionen und in konstitutionelle Psychopathie. Die Gruppen decken 
sich wiederum nicht völlig, haben nur das eine gemeinsam, daß jene 
immer an erster Stelle genannten erziehlicher Behandlung leichter 
zugänglich, jene an zweiter Stelle aufgeführten in der Regel nur mit 
geringerer Aussicht auf Erfolg bebandelt werden können. Nach den 
Erfahrungen im Heilerziehungsheim Kleinmeusdorf waren Erziehbarkeit 
und Bildsamkeit bei Psychopathen nur selten auszuschließen. Rück- 
ständigkeiten und Ungleichheiten waren auf allen Gebieten psychi- 
schen Lebens festzustellen. 

Nicht jeder sogenannte schwere Psychopath ist ohne weiteres 
schwer erziehbar oder reagiert immer krankhaft auf Erziehungsreize. 
Die große Mehrzahl der Psychopathen ist einer maßvollen pädagogi- 
schen Behandlung allgemeiner Art nicht nur zugänglich, sie ist ihnen 





Knauthe: Die erzieherische Behandlung der psychopathischen Konstitutionen. 387 


sogar sehr heilsam. Das gilt besonders für jene gewiß ernst zu 
nehmenden Psychopathen, die daran gehindert werden müssen, sich 
kränker zu fühlen als sie sind, die Gefahr laufen, eingebildete 
Kranke zu werden. Psychopathie, die zeitweise oder dauernd in 
geistige Störung oder gar geistige Erkrankung übergeht, bleibt von 
erziehlicher Behandlung ausgeschlosen, diese Fälle gehören vorüber- 
gehend oder ganz dem Facharzt und damit der Irrenanstalt. 

Es muß weiter vorausgeschickt werden, daß die erziehliche Be- 
handlung der Psychopathen nur dann erfolgreich sein kann, wenn mit 
Hilfe durchgreifender Maßnahmen die Ursachen beseitigt werden, 
die das Auftreten der Psychopathie verschulden und begünstigen. 
Hierauf näher einzugehen, erübrigt sich, da diesem Gegenstande ein 
besonderer Vortrag gewidmet war. Ergänzend sei nur hinzugefügt, 
daß hierzu vor allen Dingen auch die pädagogischen Mängel und 
Fehler zu rechnen sind, die der Haus- und Schulerziehung, der 
Jugendfürsorge aller Art und der Fürsorgeerziehung, insonderheit der 
Anstaltserziehung, aber auch der Ausbildung zu gewissen Berufen 
zum Soldaten, Handwerker, Künstler anhaften. Sie sind nur zu be- 
seitigen und zu vermeiden, indem man immer wieder das pädagogische 
Gewissen wachruft und endlich vom Reden zum pädagogischen Handeln 
übergeht. Auch vor der Gefahr einer Überspannung der neuen 
Theorien kann nicht genug gewarnt werden. 

Das Ziel für die pädagogische Behandlung der Psychopathen 
kann, nach dem was über das Wesen der Psychopathie bekannt ge- 
worden ist, nur heißen Überwindung der Sensibilität, der psycho- 
pathischen Reizempfindlichkeit, Minderung der psychopathischen An- 
lage oder Konstitution (Degeneration), Ausgleich der physiologischen 
und pädagogischen Mängel der bisherigen Entwicklung und Erziehung, 
Auflösung der Disharmonien. Durch heilpädagogische Behandlung 
soll gewonnen werden mit Hilfe der gesunden Bestandteile der jugend- 
lichen Psyche eine harmonisch ausgeglichene, charakterfeste und 
lebenstüchtige Persönlichkeit. Das ist, wohlverstanden, das letzte und 
höchste Ziel, dem der Heilpädagog zustrebt. Ausdrücklich sei be- 
tont, daß es zunächst wesentlich herunterzusetzen, in niedere Teilziele 
aufzulösen ist, die stufenweise bestenfalls nur zu erreichen sind. Die 
Rücksicht auf die seelische Verfassung des Psychopathen und die 
langsam oder stürmisch verlaufende Entwicklung fordert gebieterisch, 
nicht zu hohe Anforderungen zu stellen. 

Voraussetzungen: Zur Erreichung dieses Zieles ist erste und 
unerläßliche Voraussetzung, die Erkennung der Psychopathie. »Die 
Erkennung der Eigenart eines Kindes bedeutet zumeist der Anfang zur 


388 A. Abhandlungen. 


richtigen Erziehung.« (Dr. Dietrich.!) Aus diesem Gedanken heraus 
ist das Heilerziehungsheim Kleinmeusdorf für alle Fürsorgezöglinge 
des Leipziger Kreises geschaffen worden. Dabei ist der Grundsatz 
der Einweisungspflicht aller aufgestellt und als richtig, weil durch die 
Erfahrung bewährt, beibehalten worden. Nicht überall, insbesondere 
nach dem Zusammenbruch Deutschlands, wird die Errichtung einer 
solchen Sonderanstalt möglich sein. Notwendig aber und durchaus 
erreichbar erscheint mir, daß jede Erziehungsanstalt 1—2 Beobachtungs- 
abteilungen einrichtet, in der, wie in Meusdorf für den ganzen Be- 
zirk, dort aus allen der Anstalt zugewiesenen Zöglingen, die Psycho- 
pathen ausgesondert werden. Zur Erkennung der Psychopathie sind 
überdies ähnliche Einrichtungen zu treffen für die Kinder der Volks- 
schule, für alle Kinder und Jugendlichen der freien und amtlichen 
Jugendfürsorge, für das Elternhaus (Jugendklinik) und bei den .Be- 
ratungsstellen für Berufseignung. Die Diagnose »Psychopathie« stellt 
der Psychiater oder der psychiatrisch besonders vorgebildete Anstalts- 
arzt unter Verwendung der Ergebnisse besonderer pädagogischer Be- 
obachtung. Nur?) der Arzt kann feststellen, ob die Äußerungen der 
kindlichen Psyche als Psychopathien anzusprechen sind, ob die Kinder- 
fehler der Ausdruck krankhafter seelischer Veranlagung sind, ob leichte 
oder schwere Störungen zu erwarten sind oder sich bereits entwickeln. 

Da der Pädagoge für die Erziehbarkeit und Bildsamkeit der 
Psychopathen allein zuständig bleibt, hat auch er neben dem Arzt 
seine Beobachtungen und Beurteilungen selbständig vorzunehmen, mit 
Hilfe der Psychologie die kindliche Eigenart zu ergründen, die In- 
telligenz zu prüfen, Gefühls- und Triebleben zu erforschen, das Wollen 
und Handeln genau zu untersuchen, die Vorgeschichte, sowie die 
Anamnese (Herkunft und Entwicklung) mit in Rechnung zu ziehen 
und zur ärztlichen Diagnose Stellung zu nehmen, sich vom Facharzt 
beraten zu lassen und diesen wiederum anzuregen, Teildiagnosen zu 
stellen, den Fall noch weiter zu klären. Dringend notwendig ist dies 
friedliche Zusammenarbeiten von Psychiater und Pädagog. Ausgangs- 
punkt für beide ist die Psyche des Jugendlichen, Zielpunkt seine Hei- 
lung und Besserung, Kompetenzstreitigkeiten kann es dabei nicht geben. 

Eine weitere wichtige Voraussetzung für das Gelingen der Psycho- 
pathen-Erziehung ist die Gewinnung geeigneter pädagugischer Kräfte. 
Der Erzieher muß gleichsam das Gegenstück zum psychopathischen 
Fürsorgezögling bilden, d. h.: er muß der krankhaften Psyche des 

+) In seinem Vortrage: »Das Beobachtungshaus.« Zentralbl. f. Vormundschafts- 


wesen, Jugendgerichte und Fürsorgeerziehung. 8. Jg. Nr. 24. Berlin, Heymann. 
2) ? ? Die Schriftleitung. 


Knauthe: Die erzieherische Behandlung der psychopathischen Konstitutionen. 389 
Zöglings die Gesundheit seines Wesens, dem Triebhaften seine Geistig- 
keit entgegensetzen, er muß das, was dem Zögling fehlt, voll besitzen, 
also körperliche Rüstigkeit, seelische Gesundheit, Intelligenz und Fein- 
gefühl, Kinderfreundlichkeit, psychologischen Blick und pädagogische 
Intuition, Takt und Erfahrung, Ruhe, Gleichmut und Geduld, innere 
Harmonie, einen festen Willen, Charakterstärke. Daß derartige Er- 
zieherpersönlichkeiten nicht allzu häufig sind, liegt auf der Hand, 
aber sie sind nötig bei der Psychopathenerziehung. Man gewinnt sie 
mitunter mit glücklichem Griff, trotzdem ist notwendig eingehende 
ärztliche Untersuchung, längere Erprobung auf ihre besondere Eignung 
und systematische theoretische und praktische Ausbildung. 

Als 3. Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung der Psycho- 
pathen möchte ich die Fernhaltung aller störenden Einflüsse von außen 
her nennen. Besuche unverständiger Eltern, Jammerbriefe, allzu große 
Liebespakete, aber auch schlimme Kameraden, die der Zögling von 
früher kennt und die nun ebenfalls in der Anstalt auftauchen, ge- 
fährden die Erziehung der Psychopathen. Andererseits darf man sie 
auch nicht zu weltfremd und lebensfern halten. Damit sind wir be- 
reits übergegangen zur Besprechung der Methoden der Heilerziehung. 

Es gilt im Heilerziehungsheim Kleinmeusdorf, das durchaus nicht 
nur Beobachtungsanstalt, sondern zugleich Erziehungshaus für aus- 
gesprochene Psychopathen sein soll und auch wirklich ist, der Grund- 
satz: die heilpädagogischen Maßnahmen bestimmt der Pädagog, soweit 
nötig, mit Unterstützung des Arztes. Beide gründen ihre Arbeit auf 
die Psychologie und Psychopathologie. Alle heilpädagogischen Me- 
thoden haben sich einzustellen auf die Eigenart des Psychopathen 
und auf. das heilpädagogische Ziel. Wie schon oben angedeutet, 
können dabei die erprobten Grundsätze einer guten Allgemeinpäda- 
gogik Verwendung finden. Sie ausführlich zu besprechen, erübrigt 
sich. Was für die Erziehung der psychopathischen Zöglinge im be- 
sonderen zu beachten ist, das wollen Sie nun hören. Da ist zunächst 
von größter Wichtigkeit die Gruppierung nach psychologischen 
Gesichtspunkten.!) 

Die Zöglinge sind zu trennen in Pflege- und in Erziehungs- 
abteilungen, d. h. in solche, in denen eine mehr pflegerische und in 
solche, in denen eine intensivere erziehliche Behandlung vorherrscht. 
Auf die Schaffung besonderer »geschlossener« Anstalten wird man 


1) Weitere Ausführungen hierzu siehe in meinem Vortrage »Die Pädagogik 
im Heilerziehungsheime.. Heft 159 der Beiträge zur Kinderforschung und Heil- 
erziehung. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1919. 8.20 u. 21. 


Zeitschrift für Kinderforschung. 25. Jahrgang. 26 


390 A. Abhandlungen. 


nicht ganz verzichten können. Psychisch Kranke, pathologisch Schwach- 
sinnige, völlig Asoziale sind auszuschließen und besonderen Anstalten 
zuzuweisen. Nach der moralischen Qualität, dem Verwahrlosungs- 
typus, den Arten der Psychopathie zu gruppieren, empfiehlt sich nicht. 

Damit soll indessen nur die grundsätzliche und für alle Fälle 
und Zeiten festgelegte Trennung der Zöglinge nach ihrer geistigen 
und moralischen Artung abgelehnt sein. Daß die schulpflichtigen 
und schulentlassenen, die männlichen und weiblichen Zöglinge im 
allgemeinen gesondert gehalten werden, ist selbstverständlich. Man 
kann aber nach beiden Seiten hin übertreiben, und das sollte man. 
vermeiden und vermeidet man am besten, wenn man bewußt nach 
psychologischen und pädagogischen Gesichtspunkten die Zöglinge 
sondert und auch zusammenführt, gute Vorbereitungen und die nötigen 
Sicherungen trifft, vor allem für die genügende Aufsicht sorgt. Dann 
ist unseres Erachtens nichts einzuwenden dagegen, daß schulpflichtige 
psychopathische Mädchen und Knaben gemeinsam unterrichtet, ge- 
meinsam spazieren geführt werden, und das schulentlassene männ- 
liche und weibliche Zöglinge gemeinsam Theater spielen, bei Wett- 
spielen einander beobachten oder hier und da einander unter den 
Augen der Erzieher sich begegnen. Es findet dabei ein ganz natür- 
licher und darum heilsamer Ausgleich der Geschlechter statt, während 
bei klösterlicher Abtrennung die sexuelle Phantasie nur gesteigert 
oder gar auf Abwege geführt wird. Daß man Burschen und Mädchen 
nach Art der freien Wandervögel paarweise auf Ausflügen ohne jede 
Aufsicht sich selbst überläßt, verbietet sich für eine Anstalt und für 
Psychopathenerziehung von selbst. 

Die Behandlung der Psychopathen muß soviel als möglich die 
individuelle Eigenart berücksichtigen.!) Bei der Heilerziehung 
ist besonders zu achten auf eine gute Körper- und Seelenpflege.?) 

Um an einem Beispiele zu zeigen, was pflegerische Behandlung 
leisten kann, möchte ich an dieser Stelle auf das Bettnässen näher 
` eingehen, ich komme damit zugleich einem Wunsche ihres Herrn 
Vorsitzenden nach. 

Bettnässen hat wohl in den meisten Fällen seine Ursache in 
einer erziehlichen Vernachlässigung der Mutter und Pflegemutter 
in der früheren Kindheit ihrer Schutzbefohlenen. Ist sie nicht allzu 
gröblich gewesen, so verschwindet das Übel bald infolge der Ge- 
wöhnung an Ordnung und Sauberkeit, die in der Anstalt geübt wird. 


1) Vergl. hierzu Knauthe, »Die Pädagogik im Heilerziehungsheim«. 8. 21. 
?) Hierzu a. a. 0. S. 22. 


Knauthe: Die erzieherische Behandlung der psychopathischen Konstitutionen. 391 


War sie von längerer Dauer und reicht sie recht weit zurück, 
so sind nach unserer Meinung physische Veränderungen ein- 
getreten, die nur schwer zu beheben sind. Hier hilft nichts mehr, 
der Zögling muß sich auf die veränderten Verhältnisse einstellen, er 
kann dem Einnässen nur vorbeugen und muß in diesem Sinne be- 
lehrt und gewöhnt werden. Er muß also des öfteren austreten, 
flüssige Nahrung möglichst in beschränktem Maße einnehmen oder 
ganz zum mindesten unmittelbar vor dem Zubettgehen meiden, nachts 
öfter aufstehen oder sich wecken lassen, insonderheit nach den ersten 
Stunden des Schlafs. Hochstellen des Fußendes des Bettes ist ein 
wertvolles Mittel der Vorbeugung.!) 

Ist das Übel eine Begleiterscheinung eines körperlichen Leidens, 
einer Nervenschwäche oder eines Rückenmarkleidens, der Zucker- 
krankheit oder des Nierenleidens, so wird vielleicht der Arzt helfen 
können. Von verschiedenen Seiten werden Wucherungen im Nasen- 
rachenraum als Ursache für das Bettnässen angesprochen. Die Mei- 
nungen darüber sind geteilt. Hier und da soll mit Entfernung dieser 
Gewächse auch das Bettnässen verschwunden sein, andernorts soll 
diese Wirkung ausgeblieben sein. | 

Psychopathie ist beim Bettnässen im Spiele, wenn der Zög- 
ling aus Furcht vor dem nächtlichen Dunkel nicht aufzustehen ver- 
mag, wenn er an einer krankhaften Willensschwäche leidet. Tat- 
sächlich sind auch nach unseren Erfahrungen die stark Abnormen 
die unverbesserlichsten. Bettnässer. In diesen Fällen ist wiederum 
der Arzt und zwar der Facharzt zu Rate zu ziehen. Auch von der 
erziehlichen Beeinflussung des Willens, vor allem durch Suggestion, 
ist Erfolg zu erwarten. Elektrisieren hilft wohl ebenfalls mehr auf 
dem Umwege über den Willen, also als Abschreckungsmittel. Wir 
haben im Heilerziehungsheim mit der vorbeugenden, mehr pflegerischen 
Behandlung und der erziehlichen immer noch die besten Wirkungen 
erzielt. 

Schroffe Behandlung, Einschüchterung, Bestrafung der Bettnässer 
unter den Psychopathen, alles das ist unvereinbar mit den Grund- 
sätzen der Heilpädagogik und darum abzulehnen. 

Die Intelligenz psychopathischer Zöglinge wird am besten ge- 
hoben durch einen guten psychologisch gegliederten Schulunterricht. ?) 
»In ganz besonderem Grade soll zur Heilung krankhafter Kinder- 


i 1) Vergl. Dr. Hermann, Zur Frage des Bettnässens. Beitr. z. Kdf. Heft 15. 
Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann). Die Schriftleitung. 
2) Weiteres a. a. 0., 8. 23. 
/ 26* 


392 A. Abhandlungen. 


naturen vor allem auch die Wunderkraft eines echten in das Innere 
dringenden Unterrichts aufgerufen werden.« (Stoy, Enzykl. d. Päd.) 

Das Gefühlsleben der Psychopathen bedarf des Nachreifens 
und der Emporbildung. !) 

Der Wille wird durch Übungen und Prüfungen gekräftigt, be- 
festigt und veredelt. ?) 

Das Willensleben der Psychopathen braucht zunächst ein größeres 
Maß von freier Bewegung und Rücksichtnahme. Es war eine allzu 
bequeme und darum längst überholte Pädagogik, die den Zögling auf 
Schritt und Tritt einengte und gängelte, unter harten Zwang hielt, 
um ihn dadurch zu gewöhnen an Zucht und Selbstzucht. Eine der- 
artige veraltete Erziehungsmethode hat noch immer Bankrott erlitten. 

Bei der »Willensgymnastik« ist vor allem die Autosuggestion zu 
Hilfe zu nehmen. Sich Schweigen auferlegen, zu straffer Haltung zu 
zwingen, auf gewisse Bequemlichkeiten zu verzichten usw., das sind 
Übungen, die der Jugendliche selbst vornehmen und auf Merktafeln 
oder in Merkheften selbst kontrollieren kann. 

Der Erfolg ist sicher zu stellen, durch die rechte Nachbehand- 
lung nach der Entlassung aus der Anstalt. 

Mehr als bei normalen Fürsorgezöglingen muß man leider bei 
Psychopathen erfahren, daß ihr Verhalten nach der Beurlaubung in 
die »halbe Freiheit« in argem Mißverhältnis steht zu der guten Füh- 
rung in der Anstalt. Auch die beste Anstaltserziehung, mag sie sich 
dem Leben draußen noch so sehr anpassen oder möglichst viel davon 
schon vorausgenommen haben, kann zu einem völligen und ab- 
geschlossenen Erfolg nicht kommen. Der Zögling kann nicht in allen 
Stücken fertig sein, die Erziehung beginnt vielmehr nochmals aufs 
neue oder muß besser gesagt weiter fortgesetzt werden, am besten 
im Geiste und nach den Grundsätzen der Anstalt selbst. Störende 
Einflüsse, ungeeignete Arbeitgeber, allzuviel Freiheit, wirtschaftliche 
Schwierigkeiten können den Erfolg der .Anstaltserziehung vernichten 
oder doch stark gefährden. Es gilt für den Psychopathen, einen 
milden Übergang zu schaffen aus der Gebundenheit und Annehmlich- 
keit, aus dem Schutz und dem Halt des Anstaltslebens in die Ge- 
fahren und Unbequemlichkeiten, in die Freiheit des wirklichen Lebens. 
Hierzu bedarf es gerade bei Psychopathen eingehender Berufsberatung 
und Vorbereitung und sorgfältigste Auswahl der Dienst- oder Lehr- 
stellen und schonende Nachpflege nach der Entlassung. 


1) Weiteres a. a. O., S. 24. 
”) Weiteres a. a. 0O., S. 24 ff. 


1. + Zum Tode Wilhelm Wundts. 393 


Ich bin am Ende meiner Ausführungen und hoffe Sie überzeugt 
zu haben, daß die erziehliche Behandlung der psychopathischen Kon- 
stitution auch für den Pädagogen ein dankbares, wenn auch schwieriges 
Feld der Betätigung bietet. Es kam mir darauf an, Ihnen zu zeigen, 
daß zunächst der Psychopath einer allgemeinen pädagogischen Be- 
handlung durchaus zugänglich ist, ja, daß man sich hüten muß, immer 
und für alle eine Art Kranken- oder Abnormenpädagogik zu treiben, 
daß die heilpädagogische Sonderbehandlung vielmehr zeitweise und 
mehr an Einzelfällen betrieben werden muß. Dies sollte aber und 
kann auch in mäßigem Umfange und bis zu einem gewissen Grade 
in jeder Anstalt geschehen. Wir stehen in der Psychopathenbehand- 
lung noch immer in den Anfängen, aber wir sehen doch jetzt klar 
die Wege, die wir zu beschreiten haben, und darum werden sich all- 
mählich auch Methoden der Heilerziehung herausbilden. Darf ich das 
Bewußtsein mit fortnehmen, dazu heute einen Beitrag geliefert zu 
haben und für die Richtung, die ich eingeschlagen, im wesentlichen 
Ihre Zustimmung zu finden, so werde ich mich glücklich schätzen. 

Uns allen aber soll es ein Trost sein, daß in der Not unserer 
Zeit, die gerade auch wir in unserer Arbeit stark empfinden, wie nach 
allen großen Erschütterungen der Erziehungsgedanke hell aufleuchtet. 
Lassen Sie uns hoffen, daß die Psychopathie der breiten Massen durch 
eine großzügige Volkserziehung geheilt wird, damit der Psychiater 
recht behalte, der dem Heilerziebungsheim bei seiner Grundstein- 
legung den Wunsch mitgab: 

»Durch Volkserziehung zur Volksgesundheit.« 


B. Mitteilungen. 


1. t Zum Tode Wilhelm Wundts. 


In der großen weiten Halle des Südfriedhofes zu Leipzig hatte sich 
am 4. September 1920 eine wenig zahlreiche Trauergemeinde versammelt, 
um dem großen Psychologen, dem Begründer der modernen Seelenkunde 
Wilhelm Wundt die letzte Ehre zu erweisen. Feierliche Ansprachen 
wurden gehalten, Kranzspenden, begleitet von Worten höchster Verehrung 
und Anerkennung, legte man am Sarge nieder. Eine Reihe von umflorten 
Fahnen neigten sich über den Sarg, als er in die Tiefe sank. Und doch 
hatte der Zuschauer nicht das Gefühl, das man sonst wohl meistens an 
einem Grabe zu empfinden pflegt. Mochte es daran liegen, daß der Ver- 
storbene ein so ehrwürdiges Alter erreicht hatte, daß er der Mitwelt 
größtenteils entfremdet, daß er einsam geworden war, daß sein Werk, von 


394 B. Mitteilungen. 


der Mitwelt schon vor langer Zeit aufgegriffen und verwertet, schon über ihn 
hinaus gebildet worden war? Jedenfalls atmeten die vortrefflichen Reden, die 
über den Dahingegangenen am Sarge gesprochen wurden, große Verehrung, 
hohe Anerkennung des Werkes und der Persönlichkeit, aber weniger 
Herzlichkeit und Trauer um den Menschen Wilhelm Wundt. Und doch 
werden gerade die rein menschlichen Eigenschaften von denen gerühmt, 
die die Ehre genießen konnten, in persönlichem Verkehre mit dem Ver- 
storbenen zu stehen. 

Bei der Feier war dagegen alles auf den großen Menschen, den Bahn- 
brecher, den vielumfassenden Gelehrten und Forscher, den Bringer neuer 
Gedanken und des rüstigen Fortschrittes eingestellt. Man reihte ihn ein 
neben Aristoteles, Leibniz, Hegel. Mit Worten der reinsten Bewunderung 
sprach man von seinem Lebensgange, von seinem Wege über die Physio- 
logie zur Philosophie zur Psychologie. Man rühmte seinen Blick in die 
Tiefe und in die Weite. Alles, was dieser große Mann erfaßte, gestaltete 
sich in seiner Hand zu etwas Neuem, zu lebendiger Form. Seine schier 
unermüdliche Arbeitskraft, sein unerschöpflich scheinendes Wissen, die 
bewundernswürdige Art, wie er auch im hohen Alter Neues aufnahm und 
. verarbeitete, alle diese seltenen Züge eines hervorragenden Mannes, wurden 
lebhaft gewürdigt. 

An seinem Sarge steht aber auch die deutsche Lehrerschaft mit den 
Gefühlen vollster Verehrung. Er stand zwar nicht in ihren Reihen, doch 
hat er ihr etwas gegeben, was sie nicht hoch genug einschätzen kann: 
Einen neuen, sicheren Weg zur Seele des Kindes. Die experimentelle 
Erforschung der Kinderseele und daneben die experimentelle Pädagogik, 
die Möglichkeit, auch die Erziehung wissenschaftlich zu betreiben, zu 
begründen, zu erproben, sind ja Abzweigungen oder Fortsetzungen von 
seinem Wege der Psychologie des Erwachsenen. Wie weit sein Geist 
schon in die Reihen der Erzieher eingedrungen ist, kann man allenthalben 
beobachten. Nicht nur die Institute und Arbeitsgemeinschaften für ex- 
perimentelle Pädagogik und Psychologie, die von Lehrern oder für Lehrer 
in vielen Städten Deutschlands begründet worden sind, die in seinem 
Sinne forschen und suchen und seine Gedanken zu verbreiten und aus- 
zubauen sich bemühen, sind Zeugen davon. Schon bis in die Schulstuben 
weht der Hauch seines Geistes. Überall, wo der Lehrer bewußt seine 
Maßnahmen vor allen Dingen auf dem Willen seiner Zöglinge aufbaut, 
wo man Arbeitsschule, Tatschule, Erlebnisschule treibt, ist er zu spüren. 
Es wird wohl der Arbeit vieler Jahre bedürfen, um sein Werk und seine 
Gedanken auszuschöpfen. Johannes Schlag. 


2. Der Aufbau der Schulgemeinde. 


Der Westdeutsche Verein für wissenschaftliche Pädagogik 
beschäftigte sich bei der am 31. Juli in Elberfeld abgehaltenen Haupt- 
versammlung mit der Frage der Schulgemeinde und des Eltern- 
beirats. Der Verlauf der Versammlung bewies, daß der Gegenstand 
einem wirklichen Zeitbedürfnis entgegenkam. Der Unterzeichnete hielt 


2. Der Aufbau der Schulgemeinde. 395 


— — 


einen einleitenden Vortrag über den Aufbau der Schulgemeinde. 
Weite Kreise der Lehrerschaft, sogar viele der Führenden wissen immer 
noch nicht, welch große Bedeutung die Frage der Schulverwaltung, wie 
sie Dörpfeld und seine Freunde verstanden haben, hat für die Stellung der 
Schule zum Staat und zur Politik, ferner für das Verhältnis der Schule 
zur Kirche, zu den Eltern, für die Geltung und das Ansehen der Pädagogik 
und des Schulamtes, für den Erfolg der Schularbeit, für die Erzeugung 
und Verbreitung des erzieherischen Geistes im ganzen Öffentlichen Leben. 

Der Inhalt des Vortrages war in der Hauptsache folgender: Die 
Schulgemeinde ist früher einmal im Bergischen Lande Wirklichkeit ge- 
wesen, die alten Bergischen Schulen waren von Hausvätergemeinschaften 
gegründet und wurden von ibnen unterhalten. Sie waren im eigentlichen 
Sinne bloße Hilfsanstalten der Familie. Aber im Verlauf der Entwicklung 
wuchs die Schule über dieses Verhältnis hinaus; zu den Hausvätern sind 
als weitere Teilhaber (»Interessenten« Dörpfeld) getreten: Der Staat, die 
bürgerliche Gemeinde, die Kirche. Jeder von ihnen hat besondere An- 
sprüche, aber sie alle sind zugleich Träger besonderer geistig - sittlicher 
Inhalte (Otto Willmann), sie pflegen in: ihren Gemeinschaften ein be- 
sonderes Kulturerbe. Damit geben sie der Schule besondere Werte und 
stellen ihr besondere Aufgaben. So ist die Schule reicher geworden. 
Aber zugleich auch ärmer: die Familie ist in den Hintergrund gedrängt 
worden. Der Anteil des Hauses ist infolge der Ausschaltung aus der 
Schulverwaltung so gering geworden, daß daraus vielfach völlige Gleich- 
gültigkeit, ja Widerwille und Feindschaft geworden ist. Die Schulgemeinde 
muß so geordnet werden, daß alle bei der Schule beteiligten Kreise sich 
erzieherisch auswirken können. Wie kann das geschehen? 

Die Schulgemeinde ist der geordnete Verband aller derer, 
die zur Erziehung der Kinder einer Einzelschule berufen sind, 
in erster Linie der Eltern. Während die Schule bisher lediglich ein 
Gegenstand des Streites zwischen Staat und Kirche war, während an das 
Recht der Eltern überhaupt niemand dachte, sollen nun alle Beteiligten 
in ihr Recht eingesetzt und nach dem Maß ihrer Fähigkeiten betätigt 
werden. Nachdem bisher die Öffentlichkeit, auch die Lehrerschaft selbst, 
über diese Forderungen der Pädagogik, des Elternrechts, der Gewissens- 
freiheit, der Selbstverwaltung als über Nichtigkeiten hinweggegangen ist, 
scheint es jetzt, daß wir tatsächlich auf dem Wege zur Schul- 
gemeinde sind. 1. Der Elternbeirat ist wenigstens der Anfang einer 
Mitbeteiligung des Hauses bei der Schulverwaltung, wenngleich er in 
seiner gegenwärtigen Form noch sehr unzulänglich ist. Hier ist zum 
ersten Male in der neueren Schulgeschichte die Elternschaft in ihrer Ge- 
samtheit zur Ausübung ihres Rechtes berufen worden. 2. Die von der 
Reichsverfassung in Art. 146 vorgesehene Bildung von Schulen be- 
sonderen Bekenntnisses oder besonderer Weltanschauung führt 
notwendig zu einem Zusammenschluß der Eltern und damit zu »ge- 
wissenseinigen« Schulgemeinden. 

Das jetzt Vorhandene ist noch sehr unvollkommer; die Schul- 
gemeinde muß ausgebaut werden. Wenn der Staat jetzt der Familie 


396 B. Mitteilungen. 


Zugeständnisse gemacht hat, so ist das nicht geschehen aus dem Er- 
ziehungsgedanken heraus, sondern aus politischen Erwägungen. Der 
Staat war dabei der von gewissen Parteien Geschobene. !) 

Es ist für den Ausbau der Schulgemeinde folgendes zu 
fordern: 1, Die Schulgemeinde muß durch Gesetz oder Verordnung 
förmlich festgelegt werden. Die Elternschaft wählt'eine Vertretung, 
etwa den Elternbeirat (früher der Schulvorstand). Aber es müssen als 
Gleichberechtigte noch hinzukommen Vertreter des Schulamts, der bürger- 
lichen Gemeinde, des Staates und der Bekenntnisgemeinschaften (letzteres 
gilt natürlich auch für die Schulen der »Freireligiösen«e). Der jetzige 
Elternbeirat ist eben ein bloßes Bruchstück. 2. Damit religiöser und 
politischer Hader ferngehalten, damit Erziehung im vollen Sinne mög- 
lich werde, muß die Schulgemeinde auf den Boden der Gewissens- 
einigkeit gebracht werden. Wer dann in der Schule wirklich zu seinem 
vollen Recht gekommen ist, wird wenig Neigung haben, andern in ihre 
Rechte hineinzufahren. Die Schule und der Elternbeirat müssen »ent- 
politisierte werden. Das ist sehr schwierig, nachdem man alles getan 
hat, um sie als politische Kampfmittel zu mißbrauchen. Aber doch ist 
der Weg zum Besseren sehr einfach: je bestimmter man die rein er- 
zieherischen Aufgaben in den Vordergrund rückt, um so mehr wird 
das Dichten und Trachten von dem bloßen Unfugmachen, worin sich jetzt 
hie und da der Eilternrat gefällt, abgelenkt. 3. Dazu ist notwendig, daß 
die Rechte und Befugnisse des Elternbeirates schärfer bestimmt 
werden, daß man die Pflichten stärker betont als die Rechte und sie 
erweitert auf den ganzen Bereich des öffentlichen Lebens. So kommen wir 
zu einer »Öffentlichen Erziehung«, die auch der Schulerziehung den festen 
Halt gibt. Auch eine Mitbeteiligung bei der Lehrerwahl müßte zugestanden 
werden, etwa in der Form eines Einspruchsrechtes, mag dies manchem 
auch etwas sonderbar vorkommen, Dies folgt mit Notwendigkeit aus dem 
Grundsatz der Gewissenseinigkeit der Schulgemeinde. Wie sollte anders 
die Elternschaft die Gewähr für eine ihren Überzeugungen angemessene 
Schulerziehung haben??) 4. Entsprechend dem für die unterste Stufe der 
Schulverwaltung vorgesehenen Schulvorstand müssen ähnliche Ausschüsse 


1) In der »Ntl. Ztg.« veröffentlicht Konrad Haenisch, Minister für Wissen- 
schaft, Kunst und Volksbildung, einen in der Thür. Lehrerztg. (Nr. 34 v. 26. Aug. 
1920) nachgedruckten Artikel über »Schulstreiks«, den ich der besonderen Be- 
achtung der Leser empfehlen möchte. Er zeigt uns, in welchen Abgrund die 
demagogische Politisierung der Schule diese führt. Sie ist zum wichtigsten Kampf- 
platz geworden zwischen dem römischen Katholizismus und dem sozialdemokratischen 
materialistischen Marxismus. Dabei werden dann die Reformationsgüter zerrieben 
und zu den bitteren Klassen- und Rassenkämpfen wird nun auch noch ein heftiger 
Kulturkampf ins Volk getragen, wobei man wie zum Hohne von »Völkerfrieden« 
und »Völkerversöhnung« redet. Soeben bringen schon die Zeitungen die Nachricht, 
daß 4000 Eltern in Elberfeld aus solchen Ursachen in den Schulstreik getreten sind. 
Dieser Zustand lehrt uns, wie sehr Dörpfeld recht hatte und wie weitblickend 
er war und wie allein seine Vorschläge uns aus diesem Schul- und Kulturübel er- 
lösen können. Die Schriftleitung. 

?) Sonst ist man doch so entschieden für ein radikales Wahlrecht. Warum 
wünscht die Lehrergewerkschaft es hier nicht? Die Schriftleitung. 


2. Der Aufbau der Schulgemeinde. 397 





als beratende Körperschaften auch den oberen Stufen der Schul- 
verwaltung bis zum Ministerium hin beigegeben werden; also ein Gesamt- 
elternrat in jedem Ort, und weiter ein Kreis-, Bezirks- (oder Provinzial-), 
ein Landesschulausschuß. So wird der erzieherische Geist nach oben hin 
getragen. Aber zugleich wird auch der untersten Stelle der Blick für 
das Notwendige und Mögliche erweitert, wird das Verantwortlichkeitsgefühl 
gestärkt. 5. Damit auch die breitere Öffentlichkeit erzieherisch beseelt 
werde, muß nach Möglichkeit vom Schulvorstand aus die gesamte Eltern- 
schaft (Schulgemeinde) herangezogen werden. Das kann geschehen durch 
die auch im Min.-Erlaß geforderte Elternversammlung. Die ganze 
Gemeinde muß durch ihren Ausschuß fortgehend an ihre Erziehungspflicht 
erinnert werden. 

Einsolcher Ausbau derSchulgemeindeist von höchstem Werte. 

1. Während durch die jetzt von der Regierung beliebte Einrichtung 
der Vertretungen für die einzelnen Kreise der Eltern, der Lehrer, der 
Schüler die einen gegen die andern zum Zweck der Überwachung und 
Befehdung in Bewegung gesetzt werden, müssen die verschiedenen 
Kräfte vereinigt und auf ein Ziel hingelenkt werden, wie es durch 
eine Schulpflegschaft geschieht, in der alle Erziehungsteilhaber vollberechtigt 
vertreten sind. Zersplitterung der Kräfte dürfen wir angesichts der ge- 
waltigen Aufgaben, der ungeheuren sittlichen Nöte der Jugend und des 
ganzen Volkes, nicht aufkommen lassen, sondern wir müssen so sorgfältig 
wie möglich mit den sittlichen Kräften wirtschaften. 2. Durch die hier 
vorgeschlagene Ordnung kommen endlich auch die Eltern, die wahren 
»Vollinteressenten«e (Dörpfeld) bei der Schulerziehung, zu ihrem Recht. 
So ist die Schulgemeinde ein Hort des Eltern- und Familienrechts. 
Die sittlich stark geschwächte Familie kann nur gesunden, wenn man sie 
voll in ihre Rechte und Pflichten einsetzt. 3, Die rechte Schulgemeinde 
ist ein Hort der erziehlichen Gewissensfreiheit. Bis jetzt bestand 
Gewissensfreiheit für den Einzelnen wie für die Gemeinschaften, es be- 
stand auch die erzieherische Gewissensfreiheit innerhalb der Familie; aber 
es fehlte die Gewissensfreiheit für die Gemeinerziehung. Diese 
wird auf dem Boden der gewissenseinigen Schulgemeinde möglich. 4. Die 
rechte Schulgemeinde ist auch ein Hort des Friedens auf dem Schul- 
gebiet. Einmal werden die politischen und religiösen Gegensätze fern- 
gehalten durch den Grundsatz der Gewissenseinigkeit, und zum andern 
werden die verschiedenen Beteiligten, die sonst leicht in Mißverständnisse 
geraten und gegeneinander arbeiten würden, auf einen gemeinsamen Boden 
zur gegenseitigen Aussprache und Verständigung zusammengebracht. 5. Die 
rechte Schulgemeinde ermöglicht auch erst eine wahre Selbstverwaltung. 
Wer ist das Selbst? Nicht ist es die Kirche, oder die Lehrerschaft, son- 
dern das Selbst ist die in der Schulgemeinde gesetzte Vereinigung der 
Elternschaft mit den übrigen Erziehungsberechtigten. Dieser Gesichtspunkt 
ist um so wichtiger, als gerade die Schule der Gegenwart in Gefahr steht, 
in Abhängigkeit vom Staat und in die Wechselfälle des politi- 
schen Kampfes hineinzugeraten. 6. Die rechte Schulgemeinde trägt 
die erzieherische Tätigkeit über Familie und Schule hinaus auf das Ganze 


398 B. Mitteilungen. 


des Öffentlichen Lebens (»öffentliche Sittenaufsicht der Jugende). Es 
werden nicht allein die sittlichen Kräfte des Hauses neu belebt und ge- 
stärkt, sondern auch die übrigen Gemeinschaften werden mit erzieherischem 
Geiste, mit neuer Verantwortlichkeit erfüllt. An die Stelle des Kampfes 
und des Niederreißens tritt Friede und Wiederaufbauen. 

Es handelt sich um organisatorischen und sittlichen Aufbau 
der Schulgemeinde; das zweite ist wichtiger als das erste, aber das eine 
ist bedingt durch das andere. Mehr als je steht bei der Schulfrage die 
Erziehung an der Spitze, sie ist zur eigentlichen Lebensfrage ge- 
worden. Darum sittliche Erneuerung durch die Schule! Wo finden 
wir hierfür einen neuen Boden? Im Staate, wie vor 100 Jahren Fichte 
meinte? Nein! Am wenigsten in dem Staat von heute! Auch nicht in 
der Familie allein; sie ist krank und schwach geworden. — Wir müssen 
alle die glimmenden Kohlen zusammenscharren, daß ein Feuer daraus 
werde; nur durch die enge Vereinigung aller sittlichen Gemeinschaften, 
wie sie in der rechten Schulgemeinde möglich ist, kann — unter Gottes 
Beistand — eine sittliche Wiedergeburt zustande kommen. 

In der Besprechung trat besonders die Frage des Elternbeirats in 
den Vordergrund. Es ergab sich, daß fast allgemein diese neue Ver- 
tretung der Elternschaft nicht recht weiß, wozu sie da ist, und daß es 
dringend notwendig sei, sie gemäß den im Vortrage gemachten Vorschlägen 
auszugestalten und ihr für eine fruchtbringende Tätigkeit die Wege zu 
weisen. Es erschien als eine dringliche Aufgabe, für den Gedanken der 
Schulgemeinde in dem dargelegten Sinne die ganze Öffentlichkeit, vor 
allem die maßgebenden Stellen zu gewinnen. 

Elberfeld-Hahnerberg. Achinger. 


3. Die psychopathisch Minderwertigen in der 
Strafrechtspflege. 


Zeitungsmeldungen zufolge soll der neue Strafgesetzentwurf demnächst 
veröffentlicht werden, um der Beurteilung durch die Allgemeinheit unter- 
breitet zu werden. Die bereits vor dem Kriege auf dem Gebiete der 
Strafrechtspflege in Angriff genommenen Reformen sind erneut einer 
Revision unterzogen worden. Die Vertreter der Heilpädagogik, denen u. a. 
auch die Aufgabe zufällt, als Anwälte ihrer Zöglinge Für- und Vorsorge- 
maßnahmen für die psychopathisch Minderwertigen in die Wege zu leiten, 
haben sicherlich allen Grund, diesem Entwurf ihr Interesse zuzuwenden. 
Bereits im Novemberheft des Jahres 1909 dieser Zeitschrift konnte ich au 
einer Abhandlung: »Die psychopathisch Minderwertigen in der Strafrecht- 
pflege« berichten, daß meine Vorschläge betreffs der ehemaligen »Hilfs- 
schüler« beim damaligen Reichsjustizamt auf fruchtbaren Boden gefallen 
waren. Es wurde mir damals vom damaligen Staatssekretär im Reichs- 
justizamt Nieberding durch ein Schreiben vom 9. Januar 1909 mitgeteilt, 
daß die von mir in Vorschlag gebrachten Maßnahmen bei der bevorstehenden 
Reform die Strafprozeßordnung in Erwägung gezogen werden sollen. Der 
vor dem Kriege entstandene Vorentwurf, als auch der damals bereits fertig 


3. Die psychopathisch Minderwertigen in der Strafrechtspflege. 399 


gestellte Entwurf eines neuen deutschen Strafgesetzbuches berücksichtigte 
die von mir dem Reichsjustizamt vorgeschlagenen Maßnahmen betreffs der 
»Hilfsschüler«e in weitgehendstem Maße. Doch nicht allein für die ehe- 
maligen »Hilfsschüler«, sondern für alle Psychopatischen muß das 
künftige Strafrecht geeignete Bestimmungen enthalten. Die hierfür in 
Betracht kommenden Forderungen habe ich in der oben erwähnten Ab- 
handlung zum Ausdruck gebracht und diese am 16. Januar 1910 dem 
Reichsjustizamt als Ergänzung zu meiner dort bereits yorliegenaen Eingabe 
übersandt. Sie sind damals auch im Entwurf zum Strafgesetzbuch 
berücksichtigt worden. Es ist zwar nicht anzunehmen, daß der demnächst 
erscheinende Entwurf eine Verschlechterung gegenüber dem früheren Ent- 
wurf enthalten wird, jedoch ist es unsere Pflicht, die künftige Fassung 
des Strafgesetzbuches sofort nach Erscheinen einer gründlichen Durchprüfung 
zu unterziehen. Leider hindert mich mein z. Zt. sehr stark angegriffener 
Gesundheitszustand daran, diese umfangreiche, aber durchaus notwendige 
Arbeit zu übernehmen. Wer sich für die Materie interessiert, lese die 
oben angeführte Abhandlung dieser Zeitschrift nach. Vielleicht können 
jetzt über das damals Erreichte hinaus noch Verbesserungen und Er- 
gänzungen in Vorschlag gebracht werden. 
Hamburg. W. Carrie. 


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Auf Wunsch von Herrn Carrie füge ich gern noch ein paar Be- 
merkungen hinzu. 

In den 25 Jahrgängen unserer Zeitschrift wie in den fast 200 Bei- 
trägen haben wir uns von Anfang an wiederholt und eingehend mit diesen 
Fragen beschäftigt. In dem ersten Heft unserer Beiträge schrieb Prof. 
Schinz über »Die Sittlichkeit des Kindes«e In Heft 5 lieferte ich 
unter dem Titel »Zur Frage der Erziehung unserer sittlich ge- 
fährdeten Jugend« eine Kritik des damaligen preußischen Entwurfes eines 
Zwangserziehungsgesetzes, welcher Name dann durch einen reinen Zufall in 
»Fürsorgeerziehung« umgetauft wurde, eine Beurteilung, die auch noch 
heute gilt. Wiederum in Heft 8 beschäftigte ich mich mit den »psycho- 
pathischen Minderwertigkeiten als Ursache von Gesetzes- 
verletzung Jugendlicher.« Es folgten dann eine Reihe von Ab- 
handlungen verschiedenster Autoren, bis hin zu dem letzten Heft unserer 
Beiträge von Frl. Dr. Moses über die »Verw'ahrlosung«. Aber die alte 
Bürokratie nebst der Volksvertretung in den monarchischen Staaten hat 
unseren psychologischen, psychopathologischen und pädagogischen Er- 
örterungen, Betrachtungen und Warnungen nicht allzuviel Aufmerksamkeit 
gewidmet. Ob es im neuen Staate anders werden wird? Ich fürchte, die 
freie und freiwillige Arbeit auf diesem Gebiete wird jetzt hinter der 
politischen Demagogie erst recht zurückgedrängt werden. Die Anstalten, 
die freiwillig aus innerem Drange sich all diesen Aufgaben gewidmet haben, 
werden ja schon durch diese parteipolitische Unduldsamkeit in -ihrer 
Existenz bedroht, Vielleicht aber gelingt es den Sachverständigen und mit 
warmem Herzen sich der bedauernswerten Jugend Hingebenden durch die 


400 B. Mitteilungen. 


Tagung in Jena mehr Gehör zu schaffen auch für die beabsichtigte Gesetz- 
gebung auf diesem Gebiete. Das würde uns herzlich freuen. Trüper. 


4. Echo aus der Schweiz. 


Ihre auch in der Schweiz sehr geschätzte Zeitschrift für Kinder- 
forschung vereinigt heute, in ihrem 25. Jahrgang, dem Jubiläumsjahr, das 
lebhafteste Interesse aller derjenigen, die als gute Nachbarn deutsche 
Kultur und Wissenschaft hochschätzen. Außer den gediegenen Abhand- 
lungen sind es besonders die »Mitteilungen« und Literatur - Abschnitte, 
welche hier erfolgreich Anspruch machen auf volle Beachtung und Be- 
herzigung, warfen ja doch z. B. die dort charakterisierten Umtriebe der 
kommunistischen Schuljugend ihre dunkeln Schlagschatten auch in unser 
friedliches Land. Allein, wie ein blendendes Meteor sind sie am Horizont 
verschwunden. Doch fragt man sich auch hier mit Recht: »Was können 
und müssen auch wir tun, ohne den Weizen des bestehenden Gnten mit- 
samt dem Unkraut des Überflüssigen, Hemmenden, Gefährlichen auszureuten. 
Vor allem gilt auch für uns die Mahnung: Abrüstung, Wertschätzung des 
erziehenden Unterrichtsstoffes gegenüber dem Scheinwissen, dem einseitigen 
Intellektkultus, Vertiefung in der Charakter- und Gemütsbildung; praktische 
Betätigung des Gelernten, Ausgewählten in nützlicher, froher Arbeit und 
stiller, möglichst selbständiger Pflichterfüllung im Tat- statt im bloßen 
Wort- oder Phrasen- und Dogmachristentum. — Alles und viel anderes 
nach dem bewährten Grundsatz Augustins: 

Im Notwendigen Einheit, 
Im Zweifelhaften Freiheit, 
In allem aber die Liebe — zur Menschheit, 
zum Beruf und zur genaueren Erforschung des kindlichen und jugendlichen 
‘Geistes in seiner harmonischen Entwicklung bis zur Reife des Verstandes, 
‚Charakters und Gemütes. 
Zürich. G. Schmid. 


Fünfundzwanzig Jahrgänge 


dieser Zeitschrift werden hiermit abgeschlossen. Es sollte 
noch ein geschichtlicher Rückblick folgen. Aber Notwendigeres 
und Dringlicheres beanspruchten meine Zeit und Kraft. Doch 
werden wir das Versäumte noch nachholen. Es wird in kurzem 
ein Heft erscheinen, das nach sachlichen Gesichtspunkten wie 
auch in alphabetischer Form alles zusammenstellen wird, was 
die 25 Jahrgänge wie die 199 Hefte unserer »Beiträge« ge- 
bracht haben. Es wird als Heft 200 unserer »Beiträge« er- 
scheinen und dürfte wohl zu einem der wertvollsten Nach- 
schlagebücher (enceyklopädischem Handbuche) der Heilerziehung 
werden. Trüper. 


Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 











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Verlag von Heräfänn Beyer & Söhn®@®Beyer & Mann) in Langensalza. 
* » ' ô A 
+ ~” +®r. med. et phil. Hermann Lemke, 


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